Project Description
379. Nacht
Wir wollen nun Ali Baba seines neu beginnenden Glücks
genießen lassen und von den vierzig Räubern reden. Diese kehrten nach der
bestimmten Frist in ihren waldigen Schlupfwinkel zurück. Doch wie groß war ihr
Erstaunen, als sie die Leiche Kassims nicht mehr fanden, und ihr Erstaunen
stieg, als sie die Verminderung ihrer Goldschätze bemerkten.
„Wir sind entdeckt und verloren, wenn wir uns hier
nicht sehr in Acht nehmen. Und wenn wir nicht schnell Maßregeln dagegen zu
ergreifen suchen, so werden wir allmählich viel von jenen Reichtümern
verlieren, welche von unseren Vorfahren und von uns selber mit so viel Mühe und
Beschwerden gesammelt wurden. Alles, was wir aus dem Schaden, der uns
angerichtet worden, abnehmen können, ist, dass der Dieb, den wir ertappten, das
Geheimnis die Tür zu öffnen, gewusst hat, und dass wir glücklicherweise in
dem Augenblick dazu kamen, als er wieder herauszugehen im Begriff war. Aber er
war es nicht allein, sondern noch ein anderer muss ebenfalls darum wissen. Das
Fortschaffen seiner Leiche und die Verminderung unseres Schatzes sind die
augenscheinlichsten Beweise davon. Und da es nun den Anschein hat, dass mehr als
zwei Personen um das Geheimnis wüssten, so müssen wir, nachdem wir den ersten
umgebracht, auch noch den andern ebenfalls aus dem Weg räumen. Was sagt ihr
dazu, brave Leute, seid ihr nicht derselben Meinung?“
Der Vorschlag des Hauptmanns wurde von der ganzen Bande so
vernünftig gefunden, das sie ihn alle billigten und darüber eins wurden, man
müsse vor der Hand jede andere Unternehmung bei Seite setzen, um sich bloß mit
dieser beschäftigen zu können, und nicht eher davon abgehen, bis man den Zweck
erreicht habe.
„Ich erwartete in der Tat nichts geringeres von eurem
Mut und eurer Tapferkeit,“ fuhr der Hauptmann jetzt fort, „doch vor
allen Dingen muss einer von euch, der kühn, gewandt und unternehmend ist, ohne
Waffen und in der Tracht eines Reisenden und Fremden nach der Stadt gehen und
seine ganze Geschicklichkeit aufbieten, um auszumitteln, ob man da nicht von dem
seltsamen Tod dessen spricht, den wir verdienterweise umgebracht haben, ferner,
wer er gewesen sei und in welchem Haus er gewohnt habe. Dies zu wissen, ist uns
vor allen Dingen von Wichtigkeit, damit wir nichts tun, das wir jemals zu
bereuen Ursache hätten, oder uns wohl gar in einem Land verraten, worin wir
seit so langer Zeit ungekannt gewesen, und es auch noch fernerhin um unseres
eigenen Interesses willen zu bleiben suchen müssen. Indessen um denjenigen von
euch, der sich zu dieser Sendung erbieten wird, anzufeuern und zu verhindern,
dass er uns nicht etwa täuscht, und uns statt eines wahrhaften Berichts einen
falschen, der unser aller Verderben nach sich ziehen könnte, abstattet, so
frage ich euch, ob ihr es nicht für angemessen haltet, dass er sich in diesem
Fall der Todesstrafe unterwerfe.“
Ohne erst das Abstimmen der übrigen abzuwarten, sagte
einer von den Räubern: „Ich unterwerfe mich dieser Bedingung und setze
eine Ehre darein, durch übernahme dieser Sendung mein Leben aufs Spiel zu
setzen. Wenn es mir nicht gelingen sollte, so werdet ihr wenigstens glauben,
dass ich es weder an gutem Willen, noch an Mut für das gemeinsame Beste unseres
Vereins habe mangeln lassen.“
Dieser Räuber, nachdem er die größten Lobsprüche von
dem Hauptmann und seinen Spießgesellen erhalten hatte, verkleidete sich so, das
ihn niemand dafür halten konnte, was er wirklich war. Bei seinem Abgang brach
er des Nachts auf, und nahm seine Maßregeln so gut, dass er gerade um die Zeit,
wo der Tag zu grauen anfängt, in der Stadt ankam. Er ging vor, bis auf den
großen Platz, wo er nur einen einzigen Laden offen sah, nämlich den des Baba
Mustafa.
Baba Mustafa saß auf seinem Sessel, den Schusterriemen in
der Hand, und bereit, in seinem Gewerbe zu arbeiten. Der Räuber redete ihn an,
indem er ihm einen guten Morgen bot, und da er sein hohes Alter bemerkte, fügte
er hinzu: „Guter Alter, ihr fangt sehr früh an zu arbeiten. Es ist nicht
möglich, dass ihr zu eurer Arbeit bei euren Jahren noch klar sehen könnt, und
wenn es auch noch heller wäre, so zweifle ich dennoch, das eure Augen zum
Flicken noch scharf genug sind.“
„Wer ihr auch immer sein mögt,“ erwiderte Baba
Mustafa, „ihr müsst mich wahrscheinlich nicht kennen. So alt ich auch
schon bin, so habe ich doch noch sehr gute Augen, und ihr werdet daran nicht
mehr zweifeln, wenn ich euch sage, dass ich vor noch nicht gar langer Zeit einen
Toten an einem Ort zusammengeflickt habe, wo es um nichts heller war, als es
jetzt hier ist.“
Der Räuber freute sich außerordentlich, dass er sich bei
seiner Ankunft an einen Mann gewendet hatte, der ihm gleich vorn herein und ohne
darum befragt zu sein, von selber darüber Auskunft gäbe, um dessentwillen er
eigentlich hergekommen war.
„Einen Toten?“, fragte er ganz verwundert, und
um ihm zum Sprechen zu bringen, fügte er hinzu: „Wozu denn einen Toten
zusammenflicken? Ihr habt offenbar sagen wollen, das Leichentuch, worin er
eingehüllt war.“
„Nein, nein!“, erwiderte Baba Mustafa, „ich
weiß recht gut, was ich habe sagen wollen. Ihr möchtet mich gern aushorchen,
aber ihr sollt nichts weiter erfahren.“
Der Räuber bedurfte keiner Aufklärung weiter, um
überzeugt zu sein, dass er denjenigen entdeckt habe, um dessentwillen er
abgesendet war. Er zog daher ein Goldstück heraus, drückte es dem Baba Mustafa
in die Hand, und sagte zu ihm:
„Ich bin gar nicht Willens, in euer Geheimnis
einzudringen, obwohl ich euch versichern kann, dass ich es nicht weiter
verbreiten würde, wenn ihr mir es auch anvertrautet. Das einzige, um was ich
euch bitte, ist, dass ihr so gefällig sein mögt, mir das Haus zu bezeichnen,
oder wohl selber mich bis dahin zu begleiten, wo ihr die Leiche zusammengenäht
habt.“
„Wenn ich auch Lust hätte, euch dieses Verlangen zu
erfüllen,“ erwiderte Baba Mustafa, indem er Miene machte, ihm das
Goldstück wieder zurückzugeben, „so versichere ich euch gleichwohl, dass
ich es nicht imstande sein würde. Ihr könnt mir es auf mein Wort glauben. Der
Grund davon ist der, dass man mich bis auf einen gewissen Ort führte, mir da
die Augen verband, mich sodann bis in das Haus hinein geleitete, und mich von
da, nach Vollendung meines Geschäfts, auf dieselbe Weise bis an denselben Ort
wieder zurückführte. Ihr seht also, wie unmöglich es mir ist, euch diesen
Dienst zu erzeugen.“
„Zum wenigsten,“ begann der Räuber von neuem,
„müsst ihr euch doch ungefähr des Weges erinnern, den man euch mit
verbundenen Augen geführt hat. Kommt daher, ich bitte euch, mit mir. Ich werde
euch an derselben Stelle die Augen verbinden, und wir wollen dann miteinander
denselben Weg und dieselben Kreuz- und Querwege gehen, die ihr euch damals
gegangen zu sein erinnert. Da jede Mühe ihres Lohnes wert ist, so habt ihr hier
noch ein zweites Goldstück. Kommt nun und erzeigt mir den Gefallen, um welchen
ich euch bitte. Mit diesen Worten drückte er ihm abermals ein Goldstück in die
Hand.
Die beiden Goldstücke reizten Baba Mustafa. Er
betrachtete sie eine Zeit lang stillschweigend in seiner Hand, gleichsam als
überlegte er, was er tun solle. Endlich zog er seinen Geldbeutel aus dem Busen,
steckte sie hinein, und sagte dann zu dem Räuber: „Ich kann euch nicht
dafür stehen, dass ich mich noch ganz genau auf den Weg erinnere, den man mich
damals führte. Doch, weil ihr es einmal so wollt, wohlan, so werde ich mein
möglichstes tun, um mich darauf zu besinnen.“