Project Description

286. Nacht

Geschichte
Chodadads und seiner Brüder

Die Geschichtsschreiber des Königreichs Dyarbekir
erzählen von einem sehr mächtigen und reichen König, welcher in der Stadt
Harran herrschte. Er liebte seine Untertanen nicht weniger, als er von ihnen
geliebt wurde. Er besaß tausend Tugenden, und es fehlte ihm nichts zu seinem
vollkommenen Glück, als ein Erbe.

Obwohl er in seinem Seraï1)
die schönsten Weiber von der Welt hatte, so konnte er doch keine Kinder von
ihnen erhalten. Er bat unaufhörlich den Himmel darum. Endlich, in einer Nacht,
da er im süßen Schlaf lag, erschien ihm ein freundlicher Mann, oder vielmehr
ein Prophet, und sprach zu ihm:

„Deine Bitte ist erhört. Dir ist endlich gewährt,
was du verlangst. Sobald du erwachst, steh auf, verrichte dein Gebet und mache
zwei Kniebeugen. Hierauf geh in den Garten deines Palastes, rufe deinem
Gärtner, und lass dir von ihm eine Granate bringen: Iss davon so viele Körner,
als dir beliebt, und deine Wünsche werden erfüllt werden.“

Der König erinnerte sich beim Erwachen dieses Traumes,
und dankte dem Himmel dafür. Er stand auf, verrichtete sein Gebet, und machte
zwei Kniebeugen, dann ging er in den Garten, wo er von einer Granate fünfzig
Körner genau abzählte und dieselben aß.

Er hatte fünfzig Weiber, die sein Bett teilten, und alle
wurden schwanger. Nur eine war darunter, Namens Pirusé, deren Schwangerschaft
nicht sichtbar wurde. Der König hatte deshalb einen solchen Abscheu vor ihr,
dass er sie lassen töten wollte.

„Ihre Unfruchtbarkeit,“ sprach er, „ist ein
sicheres Zeichen, dass der Himmel sie nicht für würdig achtet, Mutter eines
Prinzen zu werden. Ich muss die Welt von einem dem Herrn so verhassten Wesen
reinigen.“

Er hatte schon diesen grausamen Entschluss gefasst. Aber
sein Wesir lenkte ihn davon ab, indem er ihm vorstellte, dass nicht alle Frauen
gleich geartet wären, und dass Pirusé doch wohl schwanger sein könnte, wenn
ihre Schwangerschaft sich auch nicht deutlich zeigte.

„Nun wohl,“ erwiderte der König, „so mag sie leben: Aber sie
soll sogleich meinen Hof verlassen, denn ich kann sie hier nicht länger
dulden.“

„Euer Majestät könnte sie,“ versetzte der
Wesir, „zu dem Prinzen Samer, eurem Vetter, schicken.“

Dem König gefiel dieser Rat, und er sandte Pirusé nach
Samarien mit einen Brief, worin er seinem Vetter befahl, sie gut zu behandeln,
und wenn sie schwanger wäre, ihm von ihrer Niederkunft Nachricht zu geben.

Kaum war Pirusé in diesem Land angekommen, als sie ihre
Schwangerschaft spürte, und am Ende derselben gebar sie einen Prinzen, schöner
als der Tag.

Der Fürst von Samarien schrieb sogleich an den König von
Harran, meldete ihm die glückliche Geburt dieses Sohnes und wünschte ihm
Glück dazu.

Der König hatte große Freude darüber, und antwortete
dem Fürsten Samer folgendermaßen:

„Lieber Vetter, alle meine anderen Frauen haben
ebenfalls einen Prinzen geboren, so dass ich hier eine große Menge Kinder habe.
Ich bitte euch, den Sohn der Pirusé aufzuziehen, ihn Chodadad2)
zu nennen, und ihn mir zu senden, wenn ich ihn von euch fordere.“

Der Fürst von Samarien sparte nichts bei der Erziehung
seines Neffen. Er ließ ihn reiten lernen, mit dem Bogen schießen, und alle
andere, einem Königssohn angemessene Dinge so vollkommen, dass Chodadad im
achtzehnjährigen Alter für ein Wunder gelten konnte.

Dieser junge Prinz, im Gefühl eines seiner Geburt
würdigen Mutes, sprach eines Tages zu seiner Mutter: „Ich fange an, mich
in Samarien zu langweilen. Ich fühle Begierde nach Ruhm in mir, erlaubt mir
also, auszuziehen und Gelegenheit aufzusuchen, ihn in den Gefahren des Krieges
zu erwerben. Der König von Harran, mein Vater, hat Feinde. Einige benachbarte
Fürsten wollen seine Ruhe stören. Warum ruft er mich nicht zu Hilfe? Warum
lässt er mich so lange in der Kindheit? Sollte ich nicht jetzt schon an seinem
Hofe sein? Während alle meine Brüder das Glück haben, an seiner Seite zu
fechten, soll ich hier mein Leben in Müßiggang verbringen?“

„Mein Sohn,“ antwortete ihm Pirusé, „ich
habe nicht weniger Ungeduld als du, deinen Namen berühmt zu sehen. Ich wollte,
dass du dich schon gegen die Feinde deines Vaters ausgezeichnet hättest: Aber
du musst abwarten, bis er dich auffordert.“

„Nein, Frau Mutter,“ erwiderte Chodadad,
„ich habe nur zu lange gewartet. Ich brenne vor Begierde, den König zu
sehen, und ich bin in Versuchung, hinzuziehen, und als ein junger Unbekannter
ihm meine Dienste anzubieten. Er wird sie ohne Zweifel annehmen, und ich werde
mich nicht eher zu erkennen geben, als bis ich tausend ruhmvolle Taten
vollbracht habe. Ich will seine Hochachtung erwerben, bevor er mich
erkennt.“

Pirusé billigte diesen hochherzigen Entschluss. Aus
Furcht, dass der Fürst von Samarien sich dem widersetzen möchte, verließ
Chodadad, ohne ihm denselben mitzuteilen, eines Tages Samarien, wie wenn er auf
die Jagd reiten wollte.

Er ritt ein weißes Ross mit goldenem Zügel und
Hufbeschlag, Sattel und Schabracke von blauem Atlas mit Perlen besät. Der Griff
von Sandelholz, ganz mit Smaragden und Rubinen besetzt. über seine Schultern
hing ein Köcher und sein Bogen. In diesem Aufzug, welcher seine herrliche
Bildung wunderbar erhöhte, kam er in der Stadt Harran an.

Er fand bald Mittel, sich dem König vorstellen zu lassen,
welcher, entzückt von seiner Schönheit, seinem stattlichen Wuchs, oder
vielleicht auch von der Macht des Blutes hingezogen, ihn sehr huldreich empfing,
und ihn nach seinem Namen und Stand fragte.

„Herr,“ antwortete Chodadad, „ich bin der
Sohn eines Emirs von Kairo. Die Lust zu reisen trieb mich aus meinem Vaterland,
und da ich auf der Fahrt durch unsere Staaten vernahm, dass ihr mit einigen
eurer Nachbarn im Krieg wärt, so bin ich an euren Hof gekommen, um Euer
Majestät meinen Arm anzubieten.“

Der König überschüttete ihn hierauf mit Liebkosungen,
und gab ihm eine Anstellung in seinem Heer.

Der junge Prinz säumte nicht, seine Tapferkeit zu zeigen. Er erwarb sich die
Hochachtung der Offiziere und erregte die Bewunderung der Soldaten. Da er nicht
weniger Einsicht als Mut besaß, so gewann er so sehr die Gnade des Königs,
dass er bald sein Günstling ward. Die Minister und andere Hofleute versäumten
nicht, täglich Chodadad zu besuchen. Sie bewarben sich ebenso eifrig um seine
Freundschaft, als sie die übrigen Söhne des Königs vernachlässigten.

Diese jungen Prinzen konnten solches nicht ohne Verdruss
bemerken, und da sie dem Fremdling die Schuld gaben, so hatten sie einen
heftigen Hass auf ihn.

Unterdessen gewann der König ihn je länger je lieber,
und wurde nicht müde, ihm Beweise seiner Zuneigung zu geben. Er wollte ihn
stets um sich haben. Er bewunderte seine geistvollen und klugen Reden und um zu
zeigen, in welchem Grad er ihn für weise und verständig hielt, so vertraute er
ihm die Aufsicht der übrigen Prinzen, obwohl er mit ihnen nur von gleichem
Alter war, so dass Chodadad der Hofmeister seiner Brüder wurde.

Dies reizte nur noch mehr ihren Hass. „Wie!“,
sprachen sie, „der König begnügt sich nicht, einen Fremdling mehr zu
lieben als uns, er macht ihn auch noch zu unserem Hofmeister, so dass wir nichts
ohne seine Erlaubnis tun sollen? Das dürfen wir nicht leiden. Wir müssen uns
von diesem Fremdling befreien.“

„Wir brauchen nur,“ sprach einer von ihnen,
„allesamt über ihn herzufallen, und ihn unter unseren Streichen zu Boden
zu schlagen.“

„Nein, nein,“ sprach ein anderer, „hüten
wir uns wohl, ihn selber umzubringen. Sein Mord würde uns dem König verhasst
machen, welcher uns, zur Strafe dafür, alle der Nachfolge für unwürdig
erklären würde. Lasst uns den Fremdling mit List aus dem Weg räumen. Bitten
wir ihn um die Erlaubnis, auf die Jagd zu reiten. Wenn wir weit genug vom Palast
sind, so nehmen wir den Weg nach einer andern Stadt, wo wir uns einige Zeit
versteckt halten wollen. Unsere Abwesenheit wird den König verwundern, wenn er
uns nicht wiederkommen sieht, er wird die Geduld verlieren, und den Fremdling
vielleicht töten lassen. Wenigstens wird er ihn von seinem Hof verbannen, weil
er uns erlaubt hat, allein den Palast zu verlassen.“

Alle die Prinzen stimmten diesem Anschlag bei. Sie gingen
zu Chodadad, und baten ihn um die Erlaubnis zu einer Jagdlust, mit dem
Versprechen, denselben Tag noch zurückzukommen.

Der Sohn der Pirusé ging in die Schlinge: Er gab seinen
Brüdern die erbetene Erlaubnis. Sie ritten weg, und kamen nicht wieder.

Schon drei Tage waren sie abwesend, als der König
Chodadad fragte: „Wo sind denn die Prinzen? Ich habe sie ja lange nicht
gesehen.“

„Herr,“ antwortete Chodadad mit einer tiefen
Verneigung, „sie sind drei Tage auf der Jagd. Sie hatten mir indessen
versprochen, eher zurückzukommen.“

Der König wurde unruhig, und seine Unruhe vermehrte sich,
als auch am folgenden Tag die Prinzen noch nicht erschienen. Er konnte seinen
Zorn nicht mehr zurückhalten. „Unvorsichtiger Fremdling,“ sprach er
zu Chodadad, „wie konntest du meine Söhne weg reiten lassen, ohne sie zu
begleiten? Verstehst du so das Amt, welches ich dir aufgetragen habe? Geh auf
der Stelle, sie zu suchen, und bringe sie mir her, oder dein Tod ist
gewiss.“

Diese Worte erfüllten den unglücklichen Sohn der Pirusé
mit Entsetzen. Er legte seine Rüstung an, und bestieg schleunig sein Ross.

Er verließ die Stadt, und wie ein Hirte, der seine Herde
verloren hat, sucht er überall im Land seine Brüder. Er erkundigt sich in
allen Dörfern, ob man sie nirgends gesehen hat. Da er keine Kunde von ihnen
bekommen kann, so gibt er sich dem heftigsten Schmerz hin. „Ach, meine
Brüder,“ ruft er aus, „was ist aus euch geworden? Solltet ihr unserm
Feind in die Hände gefallen sein? Sollte ich nur deshalb an den Hof zu Harran
gekommen sein, um den König ein so grausames Herzleid zu bereiten?“

Er war untröstlich, den Prinzen die Jagd erlaubt, oder
sie nicht begleitet zu haben.

Nach einigen Tagen vergeblicher Nachforschung, gelangte er
in eine ungeheuer weite Ebene, in deren Mitte ein Palast aus schwarzem Marmor
stand. Er näherte sich demselben, und sieht an einem Fenster ein wunderschönes
Fräulein, aber bloß mit ihrer Schönheit geschmückt, denn ihre Haare waren
zerstreut und ihre Kleider zerrissen, und man bemerkte auf ihrem Gesicht den
Ausdruck der tiefsten Betrübnis.

Sobald sie Chodadad erblickte, und meinte, dass er sie
wohl hören könnte, so redete sie ihn mit folgenden Worten an: „Oh,
Jüngling! Entferne dich von diesem unseligen Palast, wo du dich alsbald in der
Gewalt des Ungeheuers sehen wirst, welches ihn bewohnt. Ein Schwarzer, der sich
von Menschenblut ernährt, haust hier. Er ergreift alle Leute, welche ihr böses
Glück durch diese Ebene führt, und versperrt sie in dunkle Löcher, aus
welchen er sie nur hervorzieht, um sie zu verschlingen.“

„Schönes Fräulein,“ antwortete ihn Chodadad,
„sagt mir, wer ihr seid, und seid wegen des übrigen unbesorgt.“

„Ich bin aus Kairo gebürtig, von vornehmen
Geschlecht,“ antwortete das Fräulein, „und kam auf der Reise nach
Bagdad nahe an diesem Palast vorbei, wo mir der Schwarze begegnete, alle meine
Leute tötete und mich hierher führte. Ich glaubte nichts anders befürchten zu
dürfen, als den Tod: Aber zum übermaß des Unglücks, verlangte dieses
Ungeheuer gar Gefälligkeit von mir. Wenn ich morgen mich nicht gutwillig seiner
viehischen Lust preisgebe, so muss ich auf die äußerste Gewalttat gefasst
sein. Noch einmal,“ fuhr sie fort, „rette dich, der Schwarze wird bald
zurückkommen. Er ist ausgegangen, um einige Reisende zu verfolgen, welche er in
der Ferne auf der Ebene bemerkt hat. Du hast keine Zeit zu verlieren, und ich
weiß selbst nicht, ob du noch durch eine schleunige Flucht ihm entrinnen
kannst.“

Sie hatte diese Worte noch nicht ausgesprochen, als der
Schwarze erschien. Es war ein Kerl von ungeheurer Größe und furchtbarem
Ansehen. Er ritt ein großes tatarisches Pferd, und führte ein so breites und
so schweres Schwert, dass er es nur allein handhaben konnte.

Als der Prinz ihn erblickte, verwunderte er sich über die ungeheure Gestalt. Er
empfahl sich dem Himmel, und bat ihn um seinen Schutz, dann zog er den Säbel,
und erwartete festen Fußes den Schwarzen, welcher, einen so schwachen Feind
verachtend, ihn aufforderte, sich ohne Schwertschlag zu ergeben.


1)
Seraï (französisch Sérail) nennen die Morgenländer jeden Palast oder großes
Wohngebäude. Der Ort darin, wo die Frauen versperrt sind (das Frauenzimmer),
heißt Harem. Harem kommt von harema, abgesondert sein.
­

2)
Chodadad ist persisch, und zusammengesetzt aus Choda, Gott, und dadan, geben.
Entsprechend dem französischen Vornamen Dieudonné. (Dem griechischen Theodor,
umgekehrt Dorotheus, nachgebildet.)
­