V.
Von unsern ferneren Abenteuern auf der Insel ist nicht viel zu melden, denn unser Leben spann sich jetzt mit einer gewissen Einförmigkeit weiter. Dass Adolf von nun ab jeden Abend auf den Anstand ging, um auch einen Hasen zu schiessen, ist selbstverständlich. Ich hätte ihm wohl gegönnt, dass es ihm geglückt wäre, und doch war es keine unangenehme Empfindung für mich, wenn er Abend für Abend verdriesslich und mit leeren Händen zurückkam. Am Donnerstagabend trat Regenwetter ein, und wir fanden es sehr behaglich in unserm engen Häuschen, als wir frühzeitig in unsre Betten gekrochen waren und ich Adolf beim Scheine eines Talglichtes aus den mitgebrachten Büchern vorlas, während ein unablässig strömender Regen auf dem Dache und auf den Blättern trommelnd herniederging und allerlei Wassermusik, Plätschern, Rauschen, Gurgeln und klingendes Tropfen um uns war. Wir liessen uns dann von dieser Musik in den Schlaf singen, schliefen auch herrlich, bis ich plötzlich davon aufwachte, dass mir ein dicker Wassertropfen gerade auf die Nase fiel. Ich rückte beiseite und horchte. Das Geräusch des draussen unablässig strömenden Regens war noch ebenso, aber neue Töne hatten sich dazu gesellt, die nicht von draussen, sondern aus dem Innern der Hütte kamen. Hie und da ging es: »Tapp, tapp, tapp!« und zuweilen »Pirrr!« wie von schnell fallenden Tropfen, und dann wieder: »Tapp, tapp, tapp!« an verschiedenen Stellen, zum Beispiel auf meiner Bettdecke. Ich griff dorthin und fand sie schon ziemlich nass. Zugleich fiel ein Tropfen klatschend auf meine Hand. Unser so mühsam und kunstvoll konstruiertes Dach schien solchen Naturereignissen doch nicht gewachsen zu sein. Unterdes rührte es sich auch schon im Nachbarsbett, und Adolf fragte: »Du, regnet es bei dir auch durch?«
»Sehr!« sagte ich.
Ich schlug nun Feuer und machte Licht und wir besahen den Schaden. Bei Adolf war es nur eine Stelle, die leckte, bei mir zwei; die übrigen thaten uns keinen Schaden, da der Tropfenfall unsere Betten nicht traf. Adolf, findig wie immer, sprang plötzlich heraus, holte sich den Tisch, lehnte ihn schräg gegen die Wand, so dass er ein Schutzdach für ihn bildete, und das Wasser unschädlich ablaufen konnte. Dann kroch er behaglich wieder unter und blinzelte unbeschreiblich schlau auf mich hin.
Ja, er war nun schön heraus, was sollte ich aber machen mit meinen zwei Leckstellen, die unablässig weitertropften? Plötzlich kam es mir wie eine Erleuchtung. Ich stellte unsere zwei Stühle mit der Lehne gegen mein Bett. Dann riss ich die Leinwand, mit der die Seitenwand benagelt war, unten und an den Seiten los, liess sie nur oben an der Decke fest und spannte sie wie ein Zelt über mein Bett, indem ich sie mit einigen Steinen auf den Stühlen festlegte. Diese beschwerte ich dann mit unserm Koffer und rückte sie ein wenig ab, dass sich die Leinwand recht stramm spannte, und kroch dann mit vergnügtem Schmunzeln, von Adolfs bewundernden Blicken verfolgt, unter mein improvisiertes Zelt. Wir schliefen bald ein und verbrachten den Rest der Nacht ungestört.
Der andre Tag war recht trübselig, denn es regnete unablässig weiter, und unser Dach leckte wie ein Sieb. Zwar verstärkten wir den Schutz über den Betten, so gut wir konnten, doch eröffneten sich neue Tropfstellen, und wenn es so weiter regnete, konnte die Nacht lieblich werden. Am nächsten Tage, am Sonnabend, war unsre Zeit abgelaufen, aber wegen des bischen Regens heute schon zurückzukehren, war gegen unsre Ehre. Wir streiften trotz des Wetters ziemlich trübselig auf der Insel herum. Das hohe, nasse Gras liess seine tropfenbeschwerten Rispen hängen, auf allen Blättern trommelte es unablässig, und alle Zweige weinten dicke Thränen. Im Uferrohr raschelte der endlose Regen, der graue See war ein einziges wimmelndes Gehüpfe, und jede Fernsicht war im Regenschleier verschwunden; nur blass und verschwommen waren die waldbedeckten Uferberge noch sichtbar. Gegen Nachmittag liess der Regen nach und hörte schliesslich ganz auf, doch düstre Wolkenberge im Westen zeigten, dass dies nur eine Gnadenfrist war und für den Abend und die Nacht neuer Regen zu erwarten stand. Wir waren zu dieser Zeit gerade im Walde, in der Nähe des Ufers, wo wir bemüht waren, möglichst trockenes Holz für unser Abendfeuer zu lesen, als es heller wurde und sogar die Sonne für einen Augenblick hervorbrach. Wo wir waren, öffnete sich eine Waldlücke auf den See, und in diesem lag gerade an dieser Stelle die kleine Insel mit der alten, verfallenen Fischerhütte, die wir immer das Hexenhaus nannten. Wir sahen in einem Rahmen von Waldwipfeln das kleine Eiland mit seiner Umrandung von Schilf und Buschwerk, mit seinem mächtigen Weidenbaum und dem alten, grauen Häuschen darunter wie ein Bild in hellem Sonnenscheine daliegen. Dahinter erhob sich dunkel der Uhlenberg. Da hatte ich plötzlich einen Einfall.
»Du«, sagte ich zu Adolf, »der Regen kommt doch noch wieder, und dann weichen wir ganz auf in der Nacht. Ich weiss was. Wir machen eine Entdeckungsreise nach der Fischerinsel, und wenn wir sie gehörig entdeckt haben, da gehen wir in das Hexenhaus und machen uns ein Feuer an und essen unser Abendbrot. Und nachher steigen wir auf den Heuboden und schlafen dort die Nacht. Da regnet es nicht durch, denn das Dach ist im vorigen Jahre erst geflickt worden.
»Feine Idee,« antwortete Adolf.
Da wir nun kein Holz mehr brauchten, liessen wir es liegen, gingen nach unsrer Hütte, verproviantierten uns aus den Resten unsrer Vorräte, steckten Stein und Stahl und Zunder zu uns, setzten uns in unser Kanoe und ruderten an dem Schilfstreifen entlang, der die beiden Inseln fast verband und nur in der Nähe der Fischerinsel durch einen Kanal tiefern Wassers unterbrochen war. Als wir die Insel nahe vor uns sahen, wollte Adolf in diesen Kanal einbiegen, um den freien Landungsplatz zu gewinnen, der an der andern Seite der Insel vor dem Hexenhause lag; ich aber sagte: »Wo denkst du hin? Dies ist ja eine geheimnisvolle Expedition in ein unbekanntes Land. Hast du je gelesen, dass die Wilden oder die Waldleute und Jäger ihre Kanoes offen liegen lassen bei solcher Gelegenheit? Nein, sie verstecken sie unter überhängendem Gebüsch, in geheimnisvollen Felsenhöhlen oder in hohlen Bäumen.«
Das leuchtete Adolf ein, und wir fuhren nun langsam um die Insel herum und suchten nach einem geeigneten Platz. Fast überall aber wuchs das Rohr weit in den See hinaus, bis endlich eine Stelle kam, wo das Ufer wohl steiler abfiel und nur ein schmaler Rohrstreifen das Inselchen umsäumte. Dahinter erhob sich ein stattlicher Weidenbusch. Dieser Ort erschien uns geeignet, wir trieben unser schmales Fahrzeug ins Rohr und suchten es durch Fortstossen mit den Rudern am Grunde so nahe als möglich an Land zu schieben. Da es nun durch das Rohr festgehalten und zugleich nach unsrer Ansicht genügend verborgen war, so sprangen wir an das Land und fingen an, es zu entdecken. Von seiner geliebten Flinte hatte sich Adolf heute zu seinem Leidwesen trennen müssen, da wir fremdes Jagdgebiet betraten, denn die Insel gehörte zu einem anderen Dorfe, und so waren wir nur mit Bogen und Pfeilen bewaffnet und trugen unsre hölzernen Tomahawks im Gürtel.
Die kleine Insel war bald erforscht; sie bestand nur aus einer nicht zu grossen Wiese, am Rande von einzelnem Buschwerk und einem breiten Rohrgürtel umgeben. An ihrem höchsten Punkte erhob sie sich etwa zwei Meter über den Wasserspiegel, und dort lag ganz in der Nähe des hier von Rohr befreiten Ufers die alte, verlassene Fischerhütte.
Es war unbeschreiblich nass auf der Wiese, allein wir hatten die Buschrangerhosen in unsre wasserdichten Schmierstiefel gesteckt und machten uns wenig daraus. Schliesslich fing es aber ganz sachte wieder an zu regnen, und da wir oberwärts schon ziemlich durchfeuchtet waren, so suchten wir unter Dach zu kommen. Die Hütte war prachtvoll, und wir bedauerten eigentlich, dass wir nicht eher auf die Idee gekommen waren, ihr einen Besuch abzustatten. Wie sie so dalag, unter der alten, mächtigen Weide, mit ihrem geflickten Rohrdach, das mit Moos und andern Pflanzen bewachsen war, und wie sie mit zwei kleinen, schwarzen, scheibenlosen Fenstern tückisch auf uns hinstarrte! Die alte schiefe Thür, die nicht mehr zu schliessen war, hatte etwas von einem bösen, zahnlosen Grinsen an sich, das zu sagen schien: »Kommt nur herein, ihr feinen Knaben; hier könnt ihr was erleben, wenn der Menschenfresser nach Hause kommt um Mitternacht.« Neben der Thür stand ein mächtiger Holunderbaum, über und über bedeckt mit grossen Beerentellern, die sich schon zu schwärzen anfingen. Auch er hatte etwas Düsteres und Geheimnisvolles an sich, als sei sein üppiger Wuchs aus blutgedüngtem Boden aufgeschossen. Ringsum war eine dichte Wildnis von Kälberkropf, Kletten, Disteln und mannshohen Nesseln. Inwendig hatte die Hütte nur einen einzigen Raum. In einer Ecke war ein aus Ziegeln roh gemauerter Herd mit einem Rauchfang darüber, daneben lehnte eine Leiter, die durch ein Loch in der Decke auf den Heuboden führte. Bei dem Herde war etwas trockenes Holz aufgestapelt, da die Leute beim Heumachen sich hier ihr Essen zu wärmen pflegten; sonst war ausser einer ganz roh gezimmerten Bank, einer leeren Kiste und einem Haublock nichts in diesem Raume als eine Anzahl von Flaschenkorken, die sich hier im Laufe der Jahre angesammelt hatten und bei wechselndem Luftzuge auf dem morschen Fussboden bald hierhin, bald dorthin rollten. Solche Hütten waren es, die in den Geschichten vorkamen, die wir gelesen hatten, solche Hütten waren es, in denen immer die seltsamsten und aufregendsten Abenteuer stattfanden. Man wurde darin entweder von den Wilden belagert, oder wenn man dort vor einem Unwetter Schutz suchte, fanden sich zu gleichem Zwecke einige bis an die Zähne bewaffnete unheimliche Gesellen ein, mit denen nicht gut zu verkehren war. Diese Hütten bildeten die gelegentlichen Unterschlupfe von Räubern, Mördern, kinderstehlenden Zigeunern, entlaufenen Sträflingen und ähnlichen interessanten Persönlichkeiten aus den Randgebieten der menschlichen Gesellschaft.
Wir versuchten nun zunächst ein Feuer auf dem Herde zu entzünden, um uns den Raum, in dem es schon dunkelte, behaglicher zu gestalten. Bei den Abenteuern der letzten Nacht aber war unser Zunder nass geworden, was wir bis jetzt nicht gemerkt hatten, und obwohl wir fast eine halbe Stunde abwechselnd Feuer pinkten, das Zeug wollte nicht Funken fangen. Das war betrübend, denn wir hatten es uns sehr romantisch vorgestellt, in der alten, verlassenen Hütte um das Feuer zu sitzen, unsre mitgebrachten Vorräte zu verzehren und uns Jagdgeschichten und Abenteuer zu erzählen. So assen wir denn unser Abendbrot trübselig im Dunkeln, auf den Regen horchend, der draussen unablässig niederrieselte, und zum ersten Male ward uns klar, wie unvollkommen das menschliche Leben ist, wenn man Feuer und Licht entbehren muss.
Bis gegen acht Uhr hockten wir dort noch zusammen, und in unsern Herzen entbrannte eine Sehnsucht nach den Segnungen der Zivilisation, ein Heimweh nach guten Betten, warmen, erleuchteten Stuben, geregelten Mahlzeiten und freundlichen Menschengesichtern. Unsre Heimat stand uns in einem neuen, schönen Lichte da, und wir freuten uns, dass wir morgen dahin zurückkehren würden, wir freuten uns auf alles, auf das Wiedersehen mit unsern Eltern, auf Haus und Garten, ja sogar ein ganz klein wenig auf die Schule.
Gegen acht nahmen wir unsre mitgebrachten Sachen zusammen und stiegen auf den Heuboden. Wir bereuten, dass wir uns dort nicht umgesehen hatten, als es noch hell war, denn nun war es stockfinster, und wir mussten uns mühsam dort oben zurechttappen. Doch entdeckten wir, auf den Knieen herumkriechend, bald, dass nach vorne zu der Raum fast bis zum First mit Heu gefüllt war, während es um die Öffnung herum nur wenige Fuss hoch lag, Als wir dies festgestellt hatten, machte ich mich daran, die Leiter hochzuziehen, und forderte Adolf auf, mir dabei zu helfen. Er erklärte dies für Unsinn, ich aber sagte: »Was? Du willst ein echter Waldläufer sein und vernachlässigst die einfachsten Vorsichtsmassregeln? In den Geschichten wird immer die Leiter hochgezogen in solchem Falle; das gehört sich einfach so.«
Als wir die Leiter nach oben genommen hatten, legten wir sie hochkantig, indem wir sie in das aufgeschichtete Heu fest einbohrten, neben die Einsteigöffnung, so dass sie gleichsam ein Geländer bildete und zwischen diesem und dem schrägen Dache ein abgegrenzter Schlafraum für uns entstand. Dann wühlten wir uns mollig in das Heu ein und versuchten zu schlafen. Es war aber noch früh, und die Müdigkeit wollte nicht kommen. Die ungewohnte Situation und der starke Heuduft mochten auch wohl das Ihrige thun, und obwohl der Regen sanft und eintönig auf dem Rohrdache trommelte und wir warm, trocken und weich dalagen, wollte der Schlaf doch nicht kommen. Wir unterhielten uns davon, was wir alles thun würden, wenn wir wieder nach Hause kämen, wir schwiegen eine Weile und fingen wieder an zu reden, wir gähnten umschichtig mit Kraft und Hingebung, aber wenn eben einer glaubte, der andre sei eingeschlafen, da fing der wieder an zu sprechen.
Da endlich – es mochte wohl etwas nach neun Uhr sein – war mir, als höre ich vom See her das Rucksen eines Ruders. Ich richtete mich auf und lauschte. Ich vernahm den Ton deutlich noch ein paarmal, dann war es still. Doch nach einer Weile wurde der Ton schwerer Schritte vernehmlich. Ich drückte Adolf den Arm und flüsterte: »Still, da kommt jemand«. Er lauschte nun mit mir. Jetzt knarrte die Thür und sang eine deutliche Melodie; tappende Schritte suchten unten den Weg im Dunkel, dann gab es einen Ruck. Der da unten musste sich an der Bank gestossen haben, die vor dem Herde stand, denn man hörte einen halb unterdrückten Fluch. Nach einer kleinen Weile vernahmen wir das Pinken von Stahl und Stein und sahen, wie den Schimmer ferner Blitze, den schwachen Wiederschein der springenden Funken. Endlich hörten wir starkes Blasen, und dann flammte es auf, wie wenn man einen Schwefelspan entzündet. Es ward wieder dunkler, doch nach einer Weile stand in der Bodenöffnung ein gleichmässiges schwaches Licht und man hörte, wie etwas mit blechernem Klange auf die Steine des Herdes gesetzt wurde.
Dann vernahmen wir ein Schurren, wie wenn eine Bank zurechtgerückt wird, und ein Geräusch, als wenn sich jemand schwerfällig niedersetzt, dann den Ton eines Korkes, der aus einer Flasche gezogen wird, und hinterher mehrfaches Glucksen. Als der Mensch dort unten getrunken hatte, schüttelte er sich, und man hörte, wie er die Flasche mit spitzem Ton auf den steinernen Herd setzte. Wir sprachen natürlich kein Wort, hatten aber unsre Hände gefasst und drückten sie kräftig.
Ich war der Öffnung zunächst, und wenn ich mich etwas höher aufrichtete, musste ich hinunterblicken können, denn jetzt sah ich nur den Schein des Lichtes auf dem oberen Teil der Wand. Ich fürchtete mich nur, dass die Schleete, die den Boden bildeten, knarren würden, doch war zum Glück die Schicht Heu, auf der wir lagen, einige Fuss dick, und so gelang es mir mit grosser Vorsicht, mich ohne jedes Geräusch umzudrehen und mich auf die Kniee zu erheben. Was ich nun sah, erfüllte mich mit nicht geringem Schreck, denn vor dem Herde sass, das Kinn in die Hand des aufs Knie gestützten Armes geschmiegt und scheinbar mit finsteren Gedanken in das Licht der Laterne starrend, ein Mensch, den ich wohl kannte.
Ich beugte mich zu Adolfs Ohr nieder, und meinen Mund ganz dicht daran legend flüsterte ich fast lautlos das eine Wort: »Driebenkiel.«
Wir hatten aber keine Zeit, uns der Verwunderung über diese Thatsache hinzugeben oder Vermutungen zu hegen, was der Mensch an diesem Orte vorhabe, denn neue Schritte wurden vernehmlich; Driebenkiel drehte sich auf seiner Bank und wandte sein Gesicht dem Eingange zu.
Die Thür knarrte wieder und spielte dieselbe Melodie wie vorhin, und Driebenkiel sagte: »Na, Jochen, gaud, dat du dor büst; ick dacht‘ all, du keemst nich. Büst natt? Na, ick heww ut ‚e Stadt ’ne grote Buddel von Kopmann Bauchen an ’n Lowisenplatz sinen Blagen mitbröcht, do warm di man ierst ’n beten mit up.«
Jochen Nehls trat nun in den Schein der Laterne, ergriff sachgemäss und kenntnisreich die Flasche und gluckste eine Weile mit Hingebung. Dann schüttelte er sich und sagte: »Dei Blag‘ is gaud.«
Er setzte sich, sah eine Weile nachdenklich auf die Schnapsflasche hin, räusperte sich, als würde es ihm sauer, den Satz herauszubringen, und sagte dann: »Je, je, dat is nu so ’n Saak!«
»Ick will di seggen«, rief Driebenkiel, »wat mit dei Saak los is! Dei Saak is riep! Morgen inne Nacht föllt dei Appel von ’n Bom!«
»Kannst du nich ’n annern tau Hülp nehmen?« fragte Jochen Nehls und starrte wieder auf die Flasche hin, die offenbar den einzigen interessanten Gegenstand für ihn in diesem Raume bildete.
»Wo sall ick woll einen finnen?« fragte Driebenkiel; »dei annern sünd jo all olle Nuschen. Du büst dei einzigste Kierl in dei ganze Gegend. Du hest di den Wind von dei ganze Welt ümme Näs‘ weihn laten. Du hest kein’n Anhang, du kannst dauhn un laten, wat du wist. Szü, dei Gelegenheit, so as morgen inne Nacht, kümmt so licht nich werre. Wahmkow ut Barnin, dei nu jo dei ganz‘ Woch‘ dor is un min Arbeit makt, dei führt jeden Sünnabend tau Hus na sin Fru un kümmt ierst Mandag früh werre. Stina ehr Oellern wahnen in min Dörp. Dor heww ick nu hürt, dat Stina ehr Sünndag besäuken will. Wahmkow bringt ehr, wenn hei na Hus führt, räwer un nimmt ehr Mandag werre mit. In ’n Dorp is Austköst, un dor will sei eins danzen. Dei Oll un dei Ollsch sünd denn ganz allein, un up den ganzen Uhlenbarg is wiere kein Minsch.«
»Aewer dei Hund!« knurrte Jochen Nehls.
»Kümmst all werre mit dinen dämlichen Hund«, sagte Driebenkiel; »den Hund nehm‘ ick up mi. Kiek mal her, weisst, wat dat is?«
Er knisterte mit Papier, wickelte einen kleinen Gegenstand aus und hielt ihn Jochen Nehls unter die Nase. »Weisst, wat dat is? Dat sünd so ’n Pillen, wo Föster Dankwart dei Vöss un dei Fixköters mit vergeben deiht. Strickenin seggen s‘ dortau, un ward inne Aftehk blot up ’n Giftschien verköfft. Heww ick mi muust, as ick nielich bi ’n Föster int Holt up Arbeit wäst bün. Von ein so ’n Pill is dei gröttste Hund in fiew Minuten dodt.«
Jochen Nehls starrte nachdenklich auf die Pille und dann wieder auf die Flasche: »Je, je, dat is nu äwer doch so ’n Saak«, sagte er.
»Na, drink man ierst noch mal eins«, sagte Driebenkiel, »dat du mihr Kraasch krigst.«
Jochen Nehls that das gern und gluckste wieder eine ganze Weile. »Dei Blag‘ is sihr gaud«, sagte er dann, als er die Flasche niedersetzte.
»Wist ’n bäten uppe Zigarr‘ smöken?« sagte Driebenkiel dann; »ick heww ’n poor mitbröcht von Kopmann Bauchen, von dei ganzen finen, wo ‚t man twei för ’n Schilling (6-1/4 Pfennig) von gift.«
Sie brannten sich nun beide eine Zigarre an, damals ein noch ganz ungewöhnlicher Genuss für Leute ihrer Art, und pafften eine Weile, um die Dinger gehörig in Gang zu bringen. Der Geruch des Knellers verbreitete sich in dem dämmerigen Raume und zog auch lieblich zu uns herauf. »Hier kann ’n doch ’n Wurt snaken«, sagte Driebenkiel; »dor in dei Gaststuw wir ümmer dei infamtige Jung un makte lange Uhren. Ore dor keemen anner Lür. Nu hür mal ollig tau, dei Saak is ganz enfach. Din sündagsch Tüg treckst du an, un ’n poor Hemden und Strümp binnst du in ’n Dauk; din annern poor Plünnen lettst du dor, dei brukst du nich mihr, wenn wi ierst dat väle Geld hebben. Un vertellst morgen jedwerein, dei dat hüren will, dat du Sündag dinen Braure besäuken willst in dei Wismeer. Ick heww hüt all in min Dörp rümsnakt, dat ick na Güstrow wanken wull, wo minen Vadder sin Swesterdochter wahnen deit.«
»Klock tein, denn führst mit dinen Kahn af, un wi drapen uns hier. Klock elm führen wi räwer, un ick besorg‘ dat ierst mit den Hund. Du bliewst so lang in den Kahn. Wenn dei Hund bi Siet is, denn gahn wi up Söcken na dat Hus. In den Keller sünd an ein Finster dei isern Traljen intwei, dei ein kann ’n rutnehmen, dat weit keiner as ick, un is von binnen un buten gor nieh tau seihn. Dor kän’n wi ganz licht dörch, un dei Keller, wat so ’ne Ort Vörkeller is, dei is nich tauhlaten, hett ok gor kein Slott. Ick gah denn mit dei Lücht vöran und du ümmer dicht achter mi. Dei Oll slütt sick nich in, ne, dei ein Dör na dei Nebenstuw steiht ümmer up, un dor is ’n Babenfinster apen von wegen dei frische Luft. Wenn wi an disse Dör sünd, denn weit ick ganz genau, wo sin Bett steiht. Ich stell ganz sachten minen Kauhfot bi Siet, un mit einen Satz rin un krieg em mit ein Hand anne Gördel, un mit dei anner holl ick em wiss. Wat ick för Kraasch heww, dat weisst du jo. Denn büst du mit den Knebel fix bei dei Hand un steckst em denn‘ in ‚t Mul, un denn bin’n wi em. Nahst känen wi mit den Kauhfot ganz gemütlich dat Wandschapp upbreken inne anner Stuw. Dat is inne Muer inlaten un hett man ’ne gewöhnliche iserne Dör, un dor is ’n Bild äwerhängt, dat keiner dat Slätellock seihn sall, un dat dor inne Tapet ’ne Dör is. Denn nehmt wi uns dat boor Geld un, wat dei Hauptsaak is, dei Diamanten un Rubins, dei sünd Hunnertdusende wihrt. Wenn allens gaud geiht, denn hett dei Ollsch gor nix hürt; sei slöppt jo in ‚t Nebenhus, wo dei Käk is und dei annern Wirtschaftsrüm. Dei möt nu ok bunnen und knebelt warden, dat sei kein’n Larm sleit, wenn t‘ Morgen ward un sei markt, wat äwer Nacht los wäst is. Sei hett sick ok ’n gadlichen Hümpel Geld spoort, dat hett s‘ in ’n groten Strump in ehr Bett verstäken, dit bäten Fett tappen wi ehr ok noch af, anner Fett behöllt sei jo so noch naug. Un denn up Deubel hal äwern See, un dor gahn wi an Land dicht bi Hageböken, wo dei Scheseh vörbilöppt, dor hewwt wi man twei Stunn‘ scharp tau gahn na dei Iserbahn, na dei Statschon, wo dei Nachttog höllt. Sünndag morns ganz früh sünd wi denn all in Hamborg. Un wenn wie dor ierst sünd, denn will’n wi woll na Engelland un na Lonnen kamen. Dor gähn alle Dag Dampers hen. Bet Mandag morgn weit kein Minsch wat von dei Geschicht, un denn: ihre sei dor achter kamen, dat wi dat wäst sünd, un dat Gericht achter uns her is, dor känen wie all lang up hoge See sin.«
»Dei Oll un dei Ollsch kennen di doch!« sagte Jochen Nehls zweifelhaft.
»Bi dei ganze Geschicht«, erwiderte Driebenkiel eifrig, »ward kein Wurt snackt, un swarte Däuker mit Löcker in för dei Oogen heww ick ok all trecht makt, dei binn‘ wi uns för ‚t Gesicht, – wen sall uns denn woll kennen?«
Es entstand eine Weile Schweigen, bis Jochen Nehls endlich wieder zögernd sagte: »Je, je, je, dat is nu doch so ’n Saak!«
»Jochen Nehls, du büst ’n Hamel!« rief Driebenkiel entrüstet. »Du möst jewoll ümmer ierst fiew Toll hoch Snaps inne Maag‘ hebben, wenn du ’n Kierl warden sast. Hest mi nich all wer weit wo oft dei Hand up geben, dat’e mit bi sin wist? Da sup noch mal ierst, dat’e Kraasch kriegst. Wo kannst woll so nählig sin!«
Jochen Nehls that einige mächtige Züge aus der Flasche, und schien sie nur ungern wieder abzusetzen.
»Dat is doch einen ganzen moigen Blagen!« sagte er dann.
»Je szü,« rief Driebenkiel ermunternd, »wenn wi nu ierst säker in Lonnen sünd, denn sünd wi rieke Lür, und du kannst supen, soväl as du wist. Dor hebben s‘ doch woll feinen Snaps?«
»Tau den einen seggen sei Whisky«, erwiderte Jochen Nehls; »dei is bannig stark un duhnt ossig. Un scharpen Rum hebben s‘ dor. Un ok dat Beir is nich sonne Plürr as uns‘ Lüttjedünn hier. Dat ein süht gäl ut, dor seggen s‘ Aehl tau, un dat anner swart, dat heit Poarter. Dor sitt bannige Kraasch in.«
»Ja«, sagte Driebenkiel, »denn kannst alle Dag so väl Whisky un Rum un Aehl un Poarter drinken, as du jichtens wist, un kannst Oeusters äten, wenn du dei Dinger magst, – mi sünd sei gräsig.«
»Oeusters sünd fein«, erwiderte Jochen Nehls, und der Stolz auf seine überlegene Weltkenntnis kam zum Durchbruch, »äwer wat dei Buer nich kennt, dat frett hei nich. As wi eins in Jujork in ’n Haben liggen dehren, dor hebben Klas Brathiering un ick uns ’n ganzen Emmer vull von ’n Fischer köfft, dei dor grar vörbikeem – dei kosten dor gor kein Geld – un wi hebben nich ihrer uphürt, as bet dei Emmer lerrig wir.«
»Dat ’s jo gräsig,« sagte Driebenkiel, »dor kann ‚k noch ihrer begriepen, dat dei Adbor Poggen frett. Na, is egal, wer ‚t mag, dei mag ‚t, un wenn sei di man smekken. Wenn w‘ ierst in Lonnen sünd, kannst di alle Dag so ’n Emmer vull köpen, denn hewwt wi Drüttels naug. Du hest dor, glöw ick, ümmer noch gor kein Insicht von, wat bi den Ollen tau halen is. Boor Geld ward hei woll man bloss ’n poor dusend Daler tau liggen hebben, denn sin Geld, dat steiht in Hamborg up Tinsen, un dor reist hei um Johanni rüm alle Johr hen un bringt sick denn von sinen Bankjeh so väl mit, as hei dat Johr äwer bruken deiht, un taugliek köfft hei dor allerhand utlandsch Vagels un Beisters un Muschels un wat süss för Kram. Dat is ümmer ’n olligen Upstand, wenn dat Veihtüg von ’n Bahnhof afhalt ward. Aewer wat dei Hauptsaak is, dat sünd dei Stein, dei Diamanten und dei Rubins, dei hei sick von Merika mitbröcht hett von dei Brunsilien, as sei dortau seggen. Dei meisten hett hei all lang verköfft, un dorvon stammt sin grotes Vermägen. Denk di doch man, as hei Borna köpen dehr, wo nu sin Swiegersöhn wirtschaft‘, dor hett hei dat Gaud boor betahlt, un sünd doch äwer viertig Last von den besten Acker. Aewer weck von dei besten Stein hett hei behollen, dor hett hei sin’n Spass an. Dei meisten hett hei sick in Amsterdam sliepen laten, weck sünd äwer ok noch so, as sei funnen warden, wo sei gor nich recht na wat utseihn dauhn. Aewer dat segg ick di, dei hei hett sliepen laten, dei glummern di as Füer un Sünnenschien un as dei Däu’s Morns up dei Wischen in ’n Junimand. Ick heww dat all jo gor nich wüst, bet dat eins verläden Johr dei grote Jubelierer ut Hamborg kamen dehr, dei em weck von dei Dinger afköpen wull. Dor hebben s‘ den ganzen Dag tausamen säten bi dei Stein, un dat Wunnerwarken von den Jubelierer harrst du mal hüren süllt. Dat wir jo ’n Schatz, hett hei seggt, dor müsst dei Oll mit na Paris un Lonnen reisen, dor wir dor dei Mark för. Dei ein Stein, dei harr jo binah viertig Grad, Karat. dei gellte jo allein äwer hunnertdusend Daler. Un för teindusend Daler hett hei em afköfft, twei Stein von fief Grad un noch ’n Dutz anner, dei lütter wiren, – denk di blot, so ’n lütten Hümpel blanke Stein in dei holle Hand un denn teindusend Daler! Un as ick den Jubelierer ’n annern Morgen wedder äwer den See führen dehr, dor wir hei idel vergnäugt un süng un quinkeliert ümmer för sick hen, as wenn hei mit sin teindusend Dalers einen ganzen finen Rebbes makt harr.
»Sühst du, Jochen Nehls, dat hett mi bannig in dei Ogen stäken un is mi nich werre ut ’n Sinn gahn. Dei Oll is jo so riek, hei weit jewoll gor nich mal, woväl Geld hei eigentlich hett, un denn noch dei Stein, dei so bi em rümliggen. Hei bliwwt jo noch ümmer ’n rieken Mann, wenn wi em dei afknöpen. Wat? Un mit dat Dorig-rümliggen hett dat denn ’n Enn‘, dei will’n wi woll labennig maken, wenn dat ierst Pund Sparlings worden sünd. Dei Sparlings will’n wi fleigen laten, wat, Jochen Nehls?! Szü, denn kannst du ki ’n Bedeinten hollen, un inne Glaskutsch führen, un Schampanni supen, un Tabak smöken dat Pund tau ’n Daler. Und du büst doch min Fründ, Jochen Nehls! Wo oft heww ick di nich friehollen, un wo oft heww ick nich seggt, du wirst dei einzigste Kierl in ‚t ganz Dörp. Un du wist mi in ’n Stich laten un hest mi doch dei Hand up geben, dat’e mit bi sin wist? Szü, un du kannst engelsch un du weisst Bescheid in Lonnen; wat süll ick dor woll anfangen, wenn du nich bi mi büst un ick von dat utlandsch Gesnater kein Wurt verstah? Un wenn s‘ mi fragen: ›Hau du ju du?‹ wat sall ick ehr för ne Antwurt geben? Wenn ich denn segg: ›Hau du di sülwst‹, denn boxen s‘ mi jewoll gliek, un boxen kann ick nich. Den dänschen Kuss, denn‘ kann ick, un dei kann einen jo ’ne schöne Hülp sin, wenn ‚t Iernst ward, äwer mit dei Juden un dei Jubelierers kann ick mi up dei Ort doch nich verkloaren.«
Jochen Nehls lachte, teils belustigt, teils geschmeichelt; es war eine Art dumpfen Gegnuckers, das aus den geheimnisvollsten Tiefen seines Innern zu kommen schien. Dann sagte er:
»Ja, Driebenkiel, ick will jo ok, äwer so ’n Saak is dat doch!«
»Na, dat ’s doch ’n vernünftiges Wurt!« rief Driebenkiel, »dorfür kannst du di ok mal weder düchtig wat mit den Blagen verteilen.«
Das liess sich Jochen Nehls nicht zweimal sagen und sprach ein ernstes und eindringliches Wort mit der Flasche. Als er sie wieder hinsetzte, fiel sein Blick auf einen Gegenstand, der auf dem Feuerherde lag und ihm bis dahin entgangen war. »Hest du hier Mettwust äten?« fragte er.
»Ne!« antwortete Driebenkiel.
»Wo kümmt denn dei Wustpell hierher?« fragte Jochen Nehls weiter und hob einen breiten Streifen Wursthaut auf, der von unserm Abendessen dort liegen geblieben war.
War unsre Stimmung dort oben in unserm Lauscherversteck schon immer ziemlich unbehaglich gewesen, so schlug mir jetzt das Herz so, dass ich meinte, man müsste es in der ganzen Hütte deutlich hören, und ich glaube, es ging Adolf, der neben mir kniete und meine Hand krampfhaft drückte, ebenso. »Dei Fischers un dei Heumakers«, sagte Driebenkiel, »’äten hier mennigmal Frühstück, dor brukst du di doch nich äwer Wustpell tau wunnern.«
»Dat is äwer kein Pell von ’ne Daglöhnerwust«, sagte Jochen Nehls, »dei is von dei fine Mettwust, dei up ’n Steinhüser Hoff makt ward; wo kümmt dei hier blot her?«
»Na, dei Mulapen von Jungs, dei up ’n Rosenwierer Robinsöhn spelen, dei drieben sick jo den ganzen Dag hier inne Gegend rüm, worum süllen dei hier nich mal wat äten hebben?«
»Un Brot liggt dor ok«, sagte Jochen Nehls, »dat is mi doch grar so, as wenn hier hüt all wen wäst is.«
Das Brot rührte von Adolf her, er hatte ein Stück liegen lassen, weil es zu sehr verschimmelt war. Er drückte mir die Hand, dass es mich schmerzte.
Driebenkiel nahm das Brot auf und lachte: »Wo du di blot hest!« sagte er, »dat Brot liegt hier all lang, dat is jo ganz verschimmelt.« Jochen Nehls schien sich hierbei zu beruhigen, und eine ungeheure Last wälzte sich von unsern Herzen.
Regen und Wind hatten sich unterdes vermehrt, draussen sauste es in der alten Weide, und auf dem Dach und gegen die Bretterwand des Heubodengiebels trommelten die schweren Tropfen, so dass es uns nicht mehr möglich war, alles zu verstehen, was unten gesprochen wurde. Driebenkiel schien, nach dem, was uns vernehmlich war, dem andern eindringlich und ausführlich noch einmal seine Verhaltungsmassregeln zu wiederholen, und schliesslich nahm er ein altes, schmieriges Gesangbuch hervor, wahrscheinlich den letzten und einzigen Rest seiner Bibliothek geistlichen Inhalts, und liess Jochen Nehls darauf schwören, dass er in diesem Unternehmen treu zu ihm stehen wolle. Es hörte sich grausig an, wie Driebenkiel dem andern die gotteslästerlichen Worte vorbetete und dieser sie mit heiserer Stimme wiederholte. Dies alles dauerte wohl eine Viertelstunde, und dann hörten wir beide mit schweren Tritten an die Thür gehen. Wir atmeten auf, doch war es noch zu früh, wie sich bald zeigte, denn die Schritte kehrten zurück, und wir hörten, wie Jochen Nehls sagte: »Dat is jo gruglich buten, dat rägent jo junge Hunn‘, will’n wi nich leiwer dei Nacht hier up ’n Heubähn krupen, dor bliwt’n doch drög.«
»Dauh, wat du wist!« antwortete Driebenkiel, »ick möt na Hus, Aewer dat süll einer doch gor nich glöben von so ’n seebifohrnen Minschen, dei sick dei Teifuns un dei Monsuhns, ore wo dei Dinger heiten, hett ümme Näs‘ weihn laten, dat süll doch keiner glöben, dat dei sick för so ’n poor Druppens grugen dauhn deiht. Du hest doch woll all tau lang‘ hier mang dei Nuschen wahnt. Dei hebben all up die affarwt.«
»Den Dunner!« rief Jochen Nehls dann, »hier wir doch süss ’ne Lerre!«
»Wat brukt denn ’n Matteros‘ ’ne Lerre«, sagte Driebenkiel, »dor kam ick jo noch rup, wenn ick will. Du settst dei Benk up den Füerhierd, denn kannst du baben anlangen, na, un denn dor rin tau kamen in dei Luk, dat ’s doch kein Kunst.«
Die Hammerwerke unsrer Herzen arbeiteten zum Erbarmen.
»Ja, wenn ‚k den ollen Schaden an ‚t Bein nich harr«, sagte Jochen Nehls, »denn wir ‚k all baben. Aewer dat is nich mihr. Wo man blot dei Lerre blähen is?«
»Versäuken kannst jo doch mal«, sagte Driebenkiel, »ick will die lüchten.«
Unsre Angst stieg aufs höchste, denn wenn Jochen Nehls diesen Versuch machte und der andre ihm dazu leuchtete, so musste, auch wenn der Kletterversuch nicht gelang, unbedingt die hinaufgezogene Leiter gesehen werden. Das bedeutete, dass jemand oben war, und dann waren wir verloren.
Jochen Nehls aber konnte sich über die Leiter nicht beruhigen. »Driebenkiel, du möst mi mal lüchten, wat dei Lerre nich hinnen steiht anne Butenluk, mäglich, dat sei ehr dor brukt hebben.«
Die schweren Schritte entfernten sich nun wieder, und der schwache Lichtschein der Laterne verschwand. Ohne dass einer von uns ein Wort gesagt hätte, griffen wir gleichzeitig nach der neben der Einsteigöffnung hochkantig liegenden Leiter, zogen ihr Ende sachte aus dem hochgestapelten Heu und legten sie geräuschlos nieder. Mit ein wenig erleichtertem Herzen horchten wir dann. Das Unwetter schien nachzulassen, das Sausen in der alten Weide hatte sich vermindert, und der Regen trommelte sachter auf der Giebelwand. Weiter vernahmen wir nichts, nur einmal war es uns, als hörten wir Stimmen und knirschende Schritte auf dem Kiese des nahen Ufers und bald darauf das Rucksen von Rudern. Dann ward es ganz still, Regen und Wind hatten sich gelegt, und nur zuweilen hörte man das Fallen einzelner schwerer Tropfen. Wie lange wir so sassen, Hand in Hand, ohne dass wir uns zu rühren wagten, wie lange wir in das grausige Schweigen der schwarzen Finsternis hinaushorchten, wir wissen es beide nicht. Zuweilen glaubten wir Schritte zu vernehmen, schleichende Schritte, die sich um das Haus herum bewegten, zuweilen ein Seufzen oder lautes Atmen unter uns oder ein leises Knarren der Dielen, sonst blieb alles ruhig. O diese finstere, grausige, durch keinen Lichtstrahl erhellte, von Schrecken erfüllte Nacht, die endlos vor uns lag! Wir konnten schliesslich diesen Zustand nicht länger ertragen. Da alles ruhig blieb bis auf die eingebildeten oder missverstandenen Geräusche, die wir vorhin vernommen oder zu vernehmen geglaubt hatten, und da, wie wir uns durch fast lautloses Flüstern verständigten, es ganz sicher war, dass keiner von den beiden Männern die Hütte wieder betreten hatte, es auch vollständig unwahrscheinlich war, dass einer von ihnen sich auf der sonst obdachlosen Insel noch aufhielte, so fassten wir nach langem Warten endlich wieder Mut, und dieser wurde gestärkt durch eine Erscheinung, die sich an der bretternen Giebelwand der Hütte bemerklich machte. In einer Fuge zwischen zwei Brettern zeigte sich dort in der schwarzen Finsternis ein feiner silberner Streifen, und zugleich war die Einsteigöffnung von einem matten Licht erhellt, so dass sich ihr längliches Viereck deutlich aus dem Dunkel schnitt. Ich kroch leise nach der Wand hin und schaute durch die Fuge hinaus. Gott, wie tröstlich und labend war der Anblick, den ich dort hatte nach aller Angst der Finsternis! Der Halbmond war aus den Wolken hervorgetreten, und freundliche Sterne leuchteten am dunkelblauen Himmel. Adolf hatte ein benachbartes Astloch aufgesucht und konnte sich, wie ich, nicht satt sehen an dieser freundlichen Himmelslampe. Dann lugten wir in den unteren Raum, der durch ein kleines Hinterfenster von einem schmalen Lichtstreifen erhellt wurde. Aber obwohl wir nichts Verdächtiges bemerken konnten und uns fortwährend flüsternd gegenseitig die Versicherung gaben, es sei ganz unmöglich, dass noch eine Gefahr vorhanden wäre, so wagten wir doch noch lange nicht, laut zu sprechen oder unsere Lage wesentlich zu verändern. Doch da alles still blieb und das friedliche Licht des höher steigenden Mondes immer mehr Mut in unsere Herzen goss, so fassten wir uns schliesslich ein Herz und liessen leise und vorsichtig die Leiter hinunter. Ich glaube, es dauerte fast fünf Minuten, bis wir mit diesem Geschäfte fertig waren. Dann stiegen wir hinab, langsam, Stufe für Stufe, die Tritte vorsichtig und geräuschlos setzend. Dann ging’s zur Thür, und nach jedem Knarren der Dielen horchten wir eine ganze Weile stumm wie das Grab und mit verhaltenem Atem. Die Thür öffneten wir langsam und vorsichtig nur so weit, dass wir uns eben hindurchschieben konnten, und endlich waren wir draussen, der Falle, in der wir gefangen sassen, glücklich entronnen.
Wir horchten nun über den See hinaus, der, noch von dem vorhergehenden Winde erregt, taktmässig ans Ufer plätscherte, und dessen Fläche von den Mondstrahlen weithin erleuchtet war. Nichts war zu hören und zu sehen. Wie priesen wir jetzt meinen Einfall, nicht an dem gewohnten Anlegeplatz zu landen, und eilig stapften wir im Mondschein über die nasse Wiese zu dem Orte hin, wo unser Kanoe im Rohr verborgen lag. Wir stiegen ein und ruderten vorsichtig zu unsrer Insel, denn an dem Orte zu bleiben, wo wir so Unheimliches erlebt und so herzbewegende Angst ausgestanden hatten, war uns nicht möglich.
An Schlaf war überhaupt nicht zu denken, und so wollten wir den Rest der Nacht mit Beratungen verbringen über das, was nun weiter zu thun sei. In der Gegend, wo wir am Nachmittage Holz gesammelt hatten, legten wir an, fanden auch glücklich beim Schein des Mondes den kleinen Vorrat, luden ihn in das Kanoe und fuhren nach dem Anlegeplatz bei unserer Hütte. Dort hatten wir noch in einer sogenannten Feuerlade ein wenig trockenen Zunder, und so gelang es uns denn nach einiger Mühe, ein mächtiges Feuer zu entzünden, das wir mit allem uns zur Verfügung stehenden Holze im Gange hielten. Das war nötig, denn die Nacht war empfindlich kühl. Wir setzten uns auf unsere Stühle, die wir nahe an das Feuer rückten, und da wir uns zum Ueberfluss noch in die allerdings etwas feuchten Wolldecken wickelten, so befanden wir uns ganz komfortabel, denn wir rückten so nahe heran, dass von den Decken ein warmer Dampf aufstieg. Dann folgte natürlich eine endlose Beratung, deren Schluss nach vielem Hin- und Herreden endlich war, dass einer von uns so bald als möglich Herrn Wohland zu warnen habe, während der andre nach Steinhusen fuhr, damit auch dort womöglich Massregeln zur Ergreifung der Einbrecher getroffen würden. Das musste mit Vorsicht geschehen, damit niemand Verdacht schöpfe oder die Sache nicht vorzeitig unter die Leute käme.
Je mehr wir uns in diese Frage vertieften, desto mehr Schwierigkeiten zeigten sich, doch deren Erörterung hatte wenigstens das Gute, dass die Zeit darüber hinging. So beschlossen wir denn schliesslich, darum zu losen, wer Herrn Wohland zu benachrichtigen habe, denn dies war, wenn auch die interessantere, so doch die gefährlichere Aufgabe wegen des bösen Hundes, der nachts von der Kette losgelassen wurde und dann niemand an das Haus heranliess, ohne ihn zu stellen oder noch Schlimmeres an ihm auszuüben. Der, den das Los traf, sollte mit dem Gewehre ausgerüstet werden, um ein Verteidigungsmittel zu haben oder sich im Notfall durch einen Schuss den Leuten auf dem Uhlenberge bemerklich machen zu können. Das Los traf mich, und wir verabredeten nun weiter unsre Pläne. Adolf sollte sich noch in der Dunkelheit in dem Kanoe nach Steinhusen begeben und bei Onkel Philipps Garten anlegen. Dann sollte er versuchen, sich diesem, der in einem Zimmer zu ebener Erde nach dem Garten hinaus schlief, so unauffällig wie möglich bemerklich zu machen, ihn dann in unser Geheimnis einweihen und ihm das weitere überlassen.
Ich sollte mich etwas später, gegen Sonnenaufgang, in der Jolle am Anlegesteg des Uhlenberges einfinden und dort mein Heil versuchen. Herr Wohland war ein Frühaufsteher, und es war zu vermuten, dass er um die Zeit des Sonnenaufganges, eine Viertelstunde vor sechs Uhr, schon auf und nach seiner Gewohnheit im Freien sein würde. Das hätte mir meine Aufgabe bedeutend erleichtert. Dieser Teil des Sees war einsam und abgelegen, am Ufer gegenüber der Insel lag an dieser Seite kein Dorf, sondern ein ausgedehnter Wald, und so war nicht zu vermuten, dass meine Landung dort bemerkt werden würde, auch wenn sie mit einigem Geräusch verknüpft sein sollte.
So verging bei diesen Beratungen die Nacht schneller, als wir dachten. Bald nach vier Uhr machte sich Adolf auf die Reise, während ich noch über eine Stunde wartete und dann, während sich schon im Osten eine leichte Dämmerung zeigte, mit etwas bänglichem Herzen meine Fahrt begann. Als ich bei der kleinen Insel vorbeikam, war es schon heller geworden, so dass ich die Fischerhütte deutlich erkennen konnte. Es schien mir, als starre sie mit den kleinen, schwarzen Fensteraugen besonders tückisch auf mich hin, und um das schiefe Maul ihrer Thür schien ein ironisches Grinsen zu liegen. Der Uhlenberg, den ich dann nach einer Weile zur Seite hatte, lag ohne Licht und Schatten im Morgendämmer geheimnisvoll da, über ihm schwammen einige rosige Wölkchen, und zuweilen tönte aus dem tiefen Schweigen seines Waldes der rauhe Schrei eines fremdländischen Vogels.
Der Wind war ganz eingeschlafen und der See ringsum einsam und glatt wie ein Spiegel; in den hohen Buchenwipfeln der Bucht, wo wir damals die Krebse gefangen hatten, lag ein rötlicher Schimmer.
Kurz vor Sonnenaufgang langte ich am Stege an und wusste nun nicht recht, was ich anfangen sollte. Ans Land zu gehen wagte ich nicht wegen des Hundes, und da der Landungsplatz in einiger Entfernung vom Hause lag, so wusste ich nicht, ob der Laut meiner Stimme bis dahin dringen würde. Endlich verfiel ich darauf, mit dem Ruder drei mächtige Fehmgerichtsschläge auf die Bretter des Steges zu thun, und dann stiess ich jenen weitklingenden Ruf aus, mit dem unsere Landleute sich aus weiter Ferne anzurufen pflegen: »Wool, wool!« rief ich, »wool, wool!«
So gut wie der Vater meines Freundes Adolf Martens verstand ich das allerdings nicht. Von dem sagte man, dass, wenn er auf seinem Hofe diesen Ruf ausstiesse, die Fensterscheiben im ganzen Dorfe klirrten und die Glocken im Kirchturm zu klingen anfingen, allein einen Erfolg hatte ich doch, denn plötzlich brach am Ufer etwas durch das Gebüsch, und unter furchtbarem Gebell stürzte Wasser, der Kettenhund, auf die kleine Landungsbrücke und benahm sich dort so sinnlos wütig, dass ich unwillkürlich ein wenig zurückruderte, denn er gab sich den Anschein, als würde er plötzlich mit einem mächtigen Satz in die Jolle springen und mich zum ersten Frühstück verzehren. Ich dachte unwillkürlich, das Buschrangerzeug, das ich anhatte, müsste ihm dann doch einige Schwierigkeiten bei der Verdauung machen.
So bellte denn der Hund und wütete mit aller Hingebung und jener Meisterschaft, zu der ihn eine langjährige Uebung befähigte, und ich schrie von Zeit zu Zeit: »Wool, wool!« aber niemand kam trotz des erbärmlichen Lärms, den wir beide vollführten. Da versuchte ich mein letztes Mittel, hielt das mitgebrachte Gewehr über den See hinaus und drückte ab. Ich weiss nicht, ob Adolf eine Extraladung hineingethan hatte, aber es knallte furchtbar, und wie ein lang nachhallender Schrei der Entrüstung, dass ich es gewagt hatte, diesen heiligen Morgenfrieden zu stören, kam aus den Waldbuchten des Seeufers der donnernde Wiederhall. Der Hund war anfangs ganz verblüfft, er wuffte ein paarmal vor sich hin, dann aber war er der Sache wieder gewachsen und geriet in eine ganz neue Sorte von Wut, die er wahrscheinlich nur für ganz besondere Fälle in Reserve hatte. Wie ein wahnsinniger Teufel sprang er auf der Brücke hin und her, und in sein wütiges Bellen kam ein Beigeschmack von heiserer Blutgier. Wahrlich, jetzt konnte ich mir den berühmten Höllenhund vorstellen – diesem Scheusal auf der Brücke fehlte dazu nichts als zwei lumpige Köpfe.
In diesem Augenblick trat Herr Wohland hinter dem Gebüsch hervor und rief: »Unfug! Was willst du hier?«
Er sah nicht gerade so aus, als würde er mich freundlichst einladen, näher zu treten, und rief auch nicht den Hund zurück, der mich, durch das Verhalten und den rauhen Ton seines Herrn aufgemuntert, mit erneuter Wut anbellte.
»Herr Wohland, ich weiss was von Driebenkiel!« rief ich.
»Driebenkiel?« fragte er, und man sah, wie sich seine Augen unter den mächtigen, buschigen Brauen verfinsterten. »Den Lumpen hab‘ ich weggejagt. Aus für immer!«
»Herr Wohland!« rief ich, »lassen Sie mich doch an Land. Bei Ihnen soll eingebrochen werden! Diese Nacht noch! Ich kann ja nicht gegen den Hund anschreien, wenn er immer so fürchterlich bellt.«
»Eingebrochen?« fragte Herr Wohland, doch etwas überrascht. »Wasser, hierher!« rief er und zeigte energisch mit der Hand hinter sich. Der Hund schwieg sofort, liess seinen Schwanz sinken und schlich gehorsam hinter seinen Herrn, wo er mit nachdenklichem Knurren auf mich hinblickte. Herr Wohland kraute ihm den Nacken und klopfte ihm den Rücken, wozu der Hund ganz manierlich mit dem Schwanze wedelte, dann hob er den Arm auf und rief, indem er nach der Richtung des Hauses deutete: »Will’e na Hus‘!«
Gehorsam trottete der Hund davon. Ich hatte unterdes meine Jolle festgelegt und stieg aus. Herr Wohland reichte mir die Hand und sah mich durchdringend an. Dann ging er schweigend, und ohne irgendwelche Aufregung oder Neugier zu verraten, mit mir dem Hause zu. Dort war in dem grossen Wohnzimmer ein Tisch gedeckt, auf dem ein Theekessel summte, und der mit den Bestandteilen eines konsistenten englischen ersten Frühstücks besetzt war. »Hungrig?« fragte Herr Wohland.
»Ach ja«, antwortete ich, »hab‘ die ganze Nacht nicht geschlafen.« Dann wollte ich sofort beginnen zu erzählen von dem, das mir auf der Seele lag, und wovon mir der Mund überfliessen wollte, jedoch Herr Wohland verhinderte mich daran. »Mund halten! Erst essen!« sagte er.
Dann, nachdem meine durchgefrorenen Glieder durch den köstlichen Thee wieder erwärmt waren und Eier, gekochter Speck und kaltes Fleisch mein Gemüt genügend gestärkt hatten, gab er mir mit einer Handbewegung die Erlaubnis zum Sprechen.
»Nun los!« sagte er.