Reinhard Flemmings Abenteuer zu Wasser und zu Lande

V.

Von unsern ferneren Abenteuern auf der Insel ist nicht viel zu melden, denn unser Leben spann sich jetzt mit einer gewissen Einförmigkeit weiter. Dass Adolf von nun ab jeden Abend auf den Anstand ging, um auch einen Hasen zu schiessen, ist selbstverständlich. Ich hätte ihm wohl gegönnt, dass es ihm geglückt wäre, und doch war es keine unangenehme Empfindung für mich, wenn er Abend für Abend verdriesslich und mit leeren Händen zurückkam. Am Donnerstagabend trat Regenwetter ein, und wir fanden es sehr behaglich in unserm engen Häuschen, als wir frühzeitig in unsre Betten gekrochen waren und ich Adolf beim Scheine eines Talglichtes aus den mitgebrachten Büchern vorlas, während ein unablässig strömender Regen auf dem Dache und auf den Blättern trommelnd herniederging und allerlei Wassermusik, Plätschern, Rauschen, Gurgeln und klingendes Tropfen um uns war. Wir liessen uns dann von dieser Musik in den Schlaf singen, schliefen auch herrlich, bis ich plötzlich davon aufwachte, dass mir ein dicker Wassertropfen gerade auf die Nase fiel. Ich rückte beiseite und horchte. Das Geräusch des draussen unablässig strömenden Regens war noch ebenso, aber neue Töne hatten sich dazu gesellt, die nicht von draussen, sondern aus dem Innern der Hütte kamen. Hie und da ging es: »Tapp, tapp, tapp!« und zuweilen »Pirrr!« wie von schnell fallenden Tropfen, und dann wieder: »Tapp, tapp, tapp!« an verschiedenen Stellen, zum Beispiel auf meiner Bettdecke. Ich griff dorthin und fand sie schon ziemlich nass. Zugleich fiel ein Tropfen klatschend auf meine Hand. Unser so mühsam und kunstvoll konstruiertes Dach schien solchen Naturereignissen doch nicht gewachsen zu sein. Unterdes rührte es sich auch schon im Nachbarsbett, und Adolf fragte: »Du, regnet es bei dir auch durch?«

»Sehr!« sagte ich.

Ich schlug nun Feuer und machte Licht und wir besahen den Schaden. Bei Adolf war es nur eine Stelle, die leckte, bei mir zwei; die übrigen thaten uns keinen Schaden, da der Tropfenfall unsere Betten nicht traf. Adolf, findig wie immer, sprang plötzlich heraus, holte sich den Tisch, lehnte ihn schräg gegen die Wand, so dass er ein Schutzdach für ihn bildete, und das Wasser unschädlich ablaufen konnte. Dann kroch er behaglich wieder unter und blinzelte unbeschreiblich schlau auf mich hin.

Ja, er war nun schön heraus, was sollte ich aber machen mit meinen zwei Leckstellen, die unablässig weitertropften? Plötzlich kam es mir wie eine Erleuchtung. Ich stellte unsere zwei Stühle mit der Lehne gegen mein Bett. Dann riss ich die Leinwand, mit der die Seitenwand benagelt war, unten und an den Seiten los, liess sie nur oben an der Decke fest und spannte sie wie ein Zelt über mein Bett, indem ich sie mit einigen Steinen auf den Stühlen festlegte. Diese beschwerte ich dann mit unserm Koffer und rückte sie ein wenig ab, dass sich die Leinwand recht stramm spannte, und kroch dann mit vergnügtem Schmunzeln, von Adolfs bewundernden Blicken verfolgt, unter mein improvisiertes Zelt. Wir schliefen bald ein und verbrachten den Rest der Nacht ungestört.

Der andre Tag war recht trübselig, denn es regnete unablässig weiter, und unser Dach leckte wie ein Sieb. Zwar verstärkten wir den Schutz über den Betten, so gut wir konnten, doch eröffneten sich neue Tropfstellen, und wenn es so weiter regnete, konnte die Nacht lieblich werden. Am nächsten Tage, am Sonnabend, war unsre Zeit abgelaufen, aber wegen des bischen Regens heute schon zurückzukehren, war gegen unsre Ehre. Wir streiften trotz des Wetters ziemlich trübselig auf der Insel herum. Das hohe, nasse Gras liess seine tropfenbeschwerten Rispen hängen, auf allen Blättern trommelte es unablässig, und alle Zweige weinten dicke Thränen. Im Uferrohr raschelte der endlose Regen, der graue See war ein einziges wimmelndes Gehüpfe, und jede Fernsicht war im Regenschleier verschwunden; nur blass und verschwommen waren die waldbedeckten Uferberge noch sichtbar. Gegen Nachmittag liess der Regen nach und hörte schliesslich ganz auf, doch düstre Wolkenberge im Westen zeigten, dass dies nur eine Gnadenfrist war und für den Abend und die Nacht neuer Regen zu erwarten stand. Wir waren zu dieser Zeit gerade im Walde, in der Nähe des Ufers, wo wir bemüht waren, möglichst trockenes Holz für unser Abendfeuer zu lesen, als es heller wurde und sogar die Sonne für einen Augenblick hervorbrach. Wo wir waren, öffnete sich eine Waldlücke auf den See, und in diesem lag gerade an dieser Stelle die kleine Insel mit der alten, verfallenen Fischerhütte, die wir immer das Hexenhaus nannten. Wir sahen in einem Rahmen von Waldwipfeln das kleine Eiland mit seiner Umrandung von Schilf und Buschwerk, mit seinem mächtigen Weidenbaum und dem alten, grauen Häuschen darunter wie ein Bild in hellem Sonnenscheine daliegen. Dahinter erhob sich dunkel der Uhlenberg. Da hatte ich plötzlich einen Einfall.

»Du«, sagte ich zu Adolf, »der Regen kommt doch noch wieder, und dann weichen wir ganz auf in der Nacht. Ich weiss was. Wir machen eine Entdeckungsreise nach der Fischerinsel, und wenn wir sie gehörig entdeckt haben, da gehen wir in das Hexenhaus und machen uns ein Feuer an und essen unser Abendbrot. Und nachher steigen wir auf den Heuboden und schlafen dort die Nacht. Da regnet es nicht durch, denn das Dach ist im vorigen Jahre erst geflickt worden.

»Feine Idee,« antwortete Adolf.

Da wir nun kein Holz mehr brauchten, liessen wir es liegen, gingen nach unsrer Hütte, verproviantierten uns aus den Resten unsrer Vorräte, steckten Stein und Stahl und Zunder zu uns, setzten uns in unser Kanoe und ruderten an dem Schilfstreifen entlang, der die beiden Inseln fast verband und nur in der Nähe der Fischerinsel durch einen Kanal tiefern Wassers unterbrochen war. Als wir die Insel nahe vor uns sahen, wollte Adolf in diesen Kanal einbiegen, um den freien Landungsplatz zu gewinnen, der an der andern Seite der Insel vor dem Hexenhause lag; ich aber sagte: »Wo denkst du hin? Dies ist ja eine geheimnisvolle Expedition in ein unbekanntes Land. Hast du je gelesen, dass die Wilden oder die Waldleute und Jäger ihre Kanoes offen liegen lassen bei solcher Gelegenheit? Nein, sie verstecken sie unter überhängendem Gebüsch, in geheimnisvollen Felsenhöhlen oder in hohlen Bäumen.«

Das leuchtete Adolf ein, und wir fuhren nun langsam um die Insel herum und suchten nach einem geeigneten Platz. Fast überall aber wuchs das Rohr weit in den See hinaus, bis endlich eine Stelle kam, wo das Ufer wohl steiler abfiel und nur ein schmaler Rohrstreifen das Inselchen umsäumte. Dahinter erhob sich ein stattlicher Weidenbusch. Dieser Ort erschien uns geeignet, wir trieben unser schmales Fahrzeug ins Rohr und suchten es durch Fortstossen mit den Rudern am Grunde so nahe als möglich an Land zu schieben. Da es nun durch das Rohr festgehalten und zugleich nach unsrer Ansicht genügend verborgen war, so sprangen wir an das Land und fingen an, es zu entdecken. Von seiner geliebten Flinte hatte sich Adolf heute zu seinem Leidwesen trennen müssen, da wir fremdes Jagdgebiet betraten, denn die Insel gehörte zu einem anderen Dorfe, und so waren wir nur mit Bogen und Pfeilen bewaffnet und trugen unsre hölzernen Tomahawks im Gürtel.

Die kleine Insel war bald erforscht; sie bestand nur aus einer nicht zu grossen Wiese, am Rande von einzelnem Buschwerk und einem breiten Rohrgürtel umgeben. An ihrem höchsten Punkte erhob sie sich etwa zwei Meter über den Wasserspiegel, und dort lag ganz in der Nähe des hier von Rohr befreiten Ufers die alte, verlassene Fischerhütte.

Es war unbeschreiblich nass auf der Wiese, allein wir hatten die Buschrangerhosen in unsre wasserdichten Schmierstiefel gesteckt und machten uns wenig daraus. Schliesslich fing es aber ganz sachte wieder an zu regnen, und da wir oberwärts schon ziemlich durchfeuchtet waren, so suchten wir unter Dach zu kommen. Die Hütte war prachtvoll, und wir bedauerten eigentlich, dass wir nicht eher auf die Idee gekommen waren, ihr einen Besuch abzustatten. Wie sie so dalag, unter der alten, mächtigen Weide, mit ihrem geflickten Rohrdach, das mit Moos und andern Pflanzen bewachsen war, und wie sie mit zwei kleinen, schwarzen, scheibenlosen Fenstern tückisch auf uns hinstarrte! Die alte schiefe Thür, die nicht mehr zu schliessen war, hatte etwas von einem bösen, zahnlosen Grinsen an sich, das zu sagen schien: »Kommt nur herein, ihr feinen Knaben; hier könnt ihr was erleben, wenn der Menschenfresser nach Hause kommt um Mitternacht.« Neben der Thür stand ein mächtiger Holunderbaum, über und über bedeckt mit grossen Beerentellern, die sich schon zu schwärzen anfingen. Auch er hatte etwas Düsteres und Geheimnisvolles an sich, als sei sein üppiger Wuchs aus blutgedüngtem Boden aufgeschossen. Ringsum war eine dichte Wildnis von Kälberkropf, Kletten, Disteln und mannshohen Nesseln. Inwendig hatte die Hütte nur einen einzigen Raum. In einer Ecke war ein aus Ziegeln roh gemauerter Herd mit einem Rauchfang darüber, daneben lehnte eine Leiter, die durch ein Loch in der Decke auf den Heuboden führte. Bei dem Herde war etwas trockenes Holz aufgestapelt, da die Leute beim Heumachen sich hier ihr Essen zu wärmen pflegten; sonst war ausser einer ganz roh gezimmerten Bank, einer leeren Kiste und einem Haublock nichts in diesem Raume als eine Anzahl von Flaschenkorken, die sich hier im Laufe der Jahre angesammelt hatten und bei wechselndem Luftzuge auf dem morschen Fussboden bald hierhin, bald dorthin rollten. Solche Hütten waren es, die in den Geschichten vorkamen, die wir gelesen hatten, solche Hütten waren es, in denen immer die seltsamsten und aufregendsten Abenteuer stattfanden. Man wurde darin entweder von den Wilden belagert, oder wenn man dort vor einem Unwetter Schutz suchte, fanden sich zu gleichem Zwecke einige bis an die Zähne bewaffnete unheimliche Gesellen ein, mit denen nicht gut zu verkehren war. Diese Hütten bildeten die gelegentlichen Unterschlupfe von Räubern, Mördern, kinderstehlenden Zigeunern, entlaufenen Sträflingen und ähnlichen interessanten Persönlichkeiten aus den Randgebieten der menschlichen Gesellschaft.

Wir versuchten nun zunächst ein Feuer auf dem Herde zu entzünden, um uns den Raum, in dem es schon dunkelte, behaglicher zu gestalten. Bei den Abenteuern der letzten Nacht aber war unser Zunder nass geworden, was wir bis jetzt nicht gemerkt hatten, und obwohl wir fast eine halbe Stunde abwechselnd Feuer pinkten, das Zeug wollte nicht Funken fangen. Das war betrübend, denn wir hatten es uns sehr romantisch vorgestellt, in der alten, verlassenen Hütte um das Feuer zu sitzen, unsre mitgebrachten Vorräte zu verzehren und uns Jagdgeschichten und Abenteuer zu erzählen. So assen wir denn unser Abendbrot trübselig im Dunkeln, auf den Regen horchend, der draussen unablässig niederrieselte, und zum ersten Male ward uns klar, wie unvollkommen das menschliche Leben ist, wenn man Feuer und Licht entbehren muss.

Bis gegen acht Uhr hockten wir dort noch zusammen, und in unsern Herzen entbrannte eine Sehnsucht nach den Segnungen der Zivilisation, ein Heimweh nach guten Betten, warmen, erleuchteten Stuben, geregelten Mahlzeiten und freundlichen Menschengesichtern. Unsre Heimat stand uns in einem neuen, schönen Lichte da, und wir freuten uns, dass wir morgen dahin zurückkehren würden, wir freuten uns auf alles, auf das Wiedersehen mit unsern Eltern, auf Haus und Garten, ja sogar ein ganz klein wenig auf die Schule.

Gegen acht nahmen wir unsre mitgebrachten Sachen zusammen und stiegen auf den Heuboden. Wir bereuten, dass wir uns dort nicht umgesehen hatten, als es noch hell war, denn nun war es stockfinster, und wir mussten uns mühsam dort oben zurechttappen. Doch entdeckten wir, auf den Knieen herumkriechend, bald, dass nach vorne zu der Raum fast bis zum First mit Heu gefüllt war, während es um die Öffnung herum nur wenige Fuss hoch lag, Als wir dies festgestellt hatten, machte ich mich daran, die Leiter hochzuziehen, und forderte Adolf auf, mir dabei zu helfen. Er erklärte dies für Unsinn, ich aber sagte: »Was? Du willst ein echter Waldläufer sein und vernachlässigst die einfachsten Vorsichtsmassregeln? In den Geschichten wird immer die Leiter hochgezogen in solchem Falle; das gehört sich einfach so.«

Als wir die Leiter nach oben genommen hatten, legten wir sie hochkantig, indem wir sie in das aufgeschichtete Heu fest einbohrten, neben die Einsteigöffnung, so dass sie gleichsam ein Geländer bildete und zwischen diesem und dem schrägen Dache ein abgegrenzter Schlafraum für uns entstand. Dann wühlten wir uns mollig in das Heu ein und versuchten zu schlafen. Es war aber noch früh, und die Müdigkeit wollte nicht kommen. Die ungewohnte Situation und der starke Heuduft mochten auch wohl das Ihrige thun, und obwohl der Regen sanft und eintönig auf dem Rohrdache trommelte und wir warm, trocken und weich dalagen, wollte der Schlaf doch nicht kommen. Wir unterhielten uns davon, was wir alles thun würden, wenn wir wieder nach Hause kämen, wir schwiegen eine Weile und fingen wieder an zu reden, wir gähnten umschichtig mit Kraft und Hingebung, aber wenn eben einer glaubte, der andre sei eingeschlafen, da fing der wieder an zu sprechen.

Da endlich – es mochte wohl etwas nach neun Uhr sein – war mir, als höre ich vom See her das Rucksen eines Ruders. Ich richtete mich auf und lauschte. Ich vernahm den Ton deutlich noch ein paarmal, dann war es still. Doch nach einer Weile wurde der Ton schwerer Schritte vernehmlich. Ich drückte Adolf den Arm und flüsterte: »Still, da kommt jemand«. Er lauschte nun mit mir. Jetzt knarrte die Thür und sang eine deutliche Melodie; tappende Schritte suchten unten den Weg im Dunkel, dann gab es einen Ruck. Der da unten musste sich an der Bank gestossen haben, die vor dem Herde stand, denn man hörte einen halb unterdrückten Fluch. Nach einer kleinen Weile vernahmen wir das Pinken von Stahl und Stein und sahen, wie den Schimmer ferner Blitze, den schwachen Wiederschein der springenden Funken. Endlich hörten wir starkes Blasen, und dann flammte es auf, wie wenn man einen Schwefelspan entzündet. Es ward wieder dunkler, doch nach einer Weile stand in der Bodenöffnung ein gleichmässiges schwaches Licht und man hörte, wie etwas mit blechernem Klange auf die Steine des Herdes gesetzt wurde.

Dann vernahmen wir ein Schurren, wie wenn eine Bank zurechtgerückt wird, und ein Geräusch, als wenn sich jemand schwerfällig niedersetzt, dann den Ton eines Korkes, der aus einer Flasche gezogen wird, und hinterher mehrfaches Glucksen. Als der Mensch dort unten getrunken hatte, schüttelte er sich, und man hörte, wie er die Flasche mit spitzem Ton auf den steinernen Herd setzte. Wir sprachen natürlich kein Wort, hatten aber unsre Hände gefasst und drückten sie kräftig.

Ich war der Öffnung zunächst, und wenn ich mich etwas höher aufrichtete, musste ich hinunterblicken können, denn jetzt sah ich nur den Schein des Lichtes auf dem oberen Teil der Wand. Ich fürchtete mich nur, dass die Schleete, die den Boden bildeten, knarren würden, doch war zum Glück die Schicht Heu, auf der wir lagen, einige Fuss dick, und so gelang es mir mit grosser Vorsicht, mich ohne jedes Geräusch umzudrehen und mich auf die Kniee zu erheben. Was ich nun sah, erfüllte mich mit nicht geringem Schreck, denn vor dem Herde sass, das Kinn in die Hand des aufs Knie gestützten Armes geschmiegt und scheinbar mit finsteren Gedanken in das Licht der Laterne starrend, ein Mensch, den ich wohl kannte.

Ich beugte mich zu Adolfs Ohr nieder, und meinen Mund ganz dicht daran legend flüsterte ich fast lautlos das eine Wort: »Driebenkiel.«

Wir hatten aber keine Zeit, uns der Verwunderung über diese Thatsache hinzugeben oder Vermutungen zu hegen, was der Mensch an diesem Orte vorhabe, denn neue Schritte wurden vernehmlich; Driebenkiel drehte sich auf seiner Bank und wandte sein Gesicht dem Eingange zu.

Die Thür knarrte wieder und spielte dieselbe Melodie wie vorhin, und Driebenkiel sagte: »Na, Jochen, gaud, dat du dor büst; ick dacht‘ all, du keemst nich. Büst natt? Na, ick heww ut ‚e Stadt ’ne grote Buddel von Kopmann Bauchen an ’n Lowisenplatz sinen Blagen mitbröcht, do warm di man ierst ’n beten mit up.«

Jochen Nehls trat nun in den Schein der Laterne, ergriff sachgemäss und kenntnisreich die Flasche und gluckste eine Weile mit Hingebung. Dann schüttelte er sich und sagte: »Dei Blag‘ is gaud.«

Er setzte sich, sah eine Weile nachdenklich auf die Schnapsflasche hin, räusperte sich, als würde es ihm sauer, den Satz herauszubringen, und sagte dann: »Je, je, dat is nu so ’n Saak!«

»Ick will di seggen«, rief Driebenkiel, »wat mit dei Saak los is! Dei Saak is riep! Morgen inne Nacht föllt dei Appel von ’n Bom!«

»Kannst du nich ’n annern tau Hülp nehmen?« fragte Jochen Nehls und starrte wieder auf die Flasche hin, die offenbar den einzigen interessanten Gegenstand für ihn in diesem Raume bildete.

»Wo sall ick woll einen finnen?« fragte Driebenkiel; »dei annern sünd jo all olle Nuschen. Du büst dei einzigste Kierl in dei ganze Gegend. Du hest di den Wind von dei ganze Welt ümme Näs‘ weihn laten. Du hest kein’n Anhang, du kannst dauhn un laten, wat du wist. Szü, dei Gelegenheit, so as morgen inne Nacht, kümmt so licht nich werre. Wahmkow ut Barnin, dei nu jo dei ganz‘ Woch‘ dor is un min Arbeit makt, dei führt jeden Sünnabend tau Hus na sin Fru un kümmt ierst Mandag früh werre. Stina ehr Oellern wahnen in min Dörp. Dor heww ick nu hürt, dat Stina ehr Sünndag besäuken will. Wahmkow bringt ehr, wenn hei na Hus führt, räwer un nimmt ehr Mandag werre mit. In ’n Dorp is Austköst, un dor will sei eins danzen. Dei Oll un dei Ollsch sünd denn ganz allein, un up den ganzen Uhlenbarg is wiere kein Minsch.«

»Aewer dei Hund!« knurrte Jochen Nehls.

»Kümmst all werre mit dinen dämlichen Hund«, sagte Driebenkiel; »den Hund nehm‘ ick up mi. Kiek mal her, weisst, wat dat is?«

Er knisterte mit Papier, wickelte einen kleinen Gegenstand aus und hielt ihn Jochen Nehls unter die Nase. »Weisst, wat dat is? Dat sünd so ’n Pillen, wo Föster Dankwart dei Vöss un dei Fixköters mit vergeben deiht. Strickenin seggen s‘ dortau, un ward inne Aftehk blot up ’n Giftschien verköfft. Heww ick mi muust, as ick nielich bi ’n Föster int Holt up Arbeit wäst bün. Von ein so ’n Pill is dei gröttste Hund in fiew Minuten dodt.«

Jochen Nehls starrte nachdenklich auf die Pille und dann wieder auf die Flasche: »Je, je, dat is nu äwer doch so ’n Saak«, sagte er.

»Na, drink man ierst noch mal eins«, sagte Driebenkiel, »dat du mihr Kraasch krigst.«

Jochen Nehls that das gern und gluckste wieder eine ganze Weile. »Dei Blag‘ is sihr gaud«, sagte er dann, als er die Flasche niedersetzte.

»Wist ’n bäten uppe Zigarr‘ smöken?« sagte Driebenkiel dann; »ick heww ’n poor mitbröcht von Kopmann Bauchen, von dei ganzen finen, wo ‚t man twei för ’n Schilling (6-1/4 Pfennig) von gift.«

Sie brannten sich nun beide eine Zigarre an, damals ein noch ganz ungewöhnlicher Genuss für Leute ihrer Art, und pafften eine Weile, um die Dinger gehörig in Gang zu bringen. Der Geruch des Knellers verbreitete sich in dem dämmerigen Raume und zog auch lieblich zu uns herauf. »Hier kann ’n doch ’n Wurt snaken«, sagte Driebenkiel; »dor in dei Gaststuw wir ümmer dei infamtige Jung un makte lange Uhren. Ore dor keemen anner Lür. Nu hür mal ollig tau, dei Saak is ganz enfach. Din sündagsch Tüg treckst du an, un ’n poor Hemden und Strümp binnst du in ’n Dauk; din annern poor Plünnen lettst du dor, dei brukst du nich mihr, wenn wi ierst dat väle Geld hebben. Un vertellst morgen jedwerein, dei dat hüren will, dat du Sündag dinen Braure besäuken willst in dei Wismeer. Ick heww hüt all in min Dörp rümsnakt, dat ick na Güstrow wanken wull, wo minen Vadder sin Swesterdochter wahnen deit.«

»Klock tein, denn führst mit dinen Kahn af, un wi drapen uns hier. Klock elm führen wi räwer, un ick besorg‘ dat ierst mit den Hund. Du bliewst so lang in den Kahn. Wenn dei Hund bi Siet is, denn gahn wi up Söcken na dat Hus. In den Keller sünd an ein Finster dei isern Traljen intwei, dei ein kann ’n rutnehmen, dat weit keiner as ick, un is von binnen un buten gor nieh tau seihn. Dor kän’n wi ganz licht dörch, un dei Keller, wat so ’ne Ort Vörkeller is, dei is nich tauhlaten, hett ok gor kein Slott. Ick gah denn mit dei Lücht vöran und du ümmer dicht achter mi. Dei Oll slütt sick nich in, ne, dei ein Dör na dei Nebenstuw steiht ümmer up, un dor is ’n Babenfinster apen von wegen dei frische Luft. Wenn wi an disse Dör sünd, denn weit ick ganz genau, wo sin Bett steiht. Ich stell ganz sachten minen Kauhfot bi Siet, un mit einen Satz rin un krieg em mit ein Hand anne Gördel, un mit dei anner holl ick em wiss. Wat ick för Kraasch heww, dat weisst du jo. Denn büst du mit den Knebel fix bei dei Hand un steckst em denn‘ in ‚t Mul, un denn bin’n wi em. Nahst känen wi mit den Kauhfot ganz gemütlich dat Wandschapp upbreken inne anner Stuw. Dat is inne Muer inlaten un hett man ’ne gewöhnliche iserne Dör, un dor is ’n Bild äwerhängt, dat keiner dat Slätellock seihn sall, un dat dor inne Tapet ’ne Dör is. Denn nehmt wi uns dat boor Geld un, wat dei Hauptsaak is, dei Diamanten un Rubins, dei sünd Hunnertdusende wihrt. Wenn allens gaud geiht, denn hett dei Ollsch gor nix hürt; sei slöppt jo in ‚t Nebenhus, wo dei Käk is und dei annern Wirtschaftsrüm. Dei möt nu ok bunnen und knebelt warden, dat sei kein’n Larm sleit, wenn t‘ Morgen ward un sei markt, wat äwer Nacht los wäst is. Sei hett sick ok ’n gadlichen Hümpel Geld spoort, dat hett s‘ in ’n groten Strump in ehr Bett verstäken, dit bäten Fett tappen wi ehr ok noch af, anner Fett behöllt sei jo so noch naug. Un denn up Deubel hal äwern See, un dor gahn wi an Land dicht bi Hageböken, wo dei Scheseh vörbilöppt, dor hewwt wi man twei Stunn‘ scharp tau gahn na dei Iserbahn, na dei Statschon, wo dei Nachttog höllt. Sünndag morns ganz früh sünd wi denn all in Hamborg. Un wenn wie dor ierst sünd, denn will’n wi woll na Engelland un na Lonnen kamen. Dor gähn alle Dag Dampers hen. Bet Mandag morgn weit kein Minsch wat von dei Geschicht, un denn: ihre sei dor achter kamen, dat wi dat wäst sünd, un dat Gericht achter uns her is, dor känen wie all lang up hoge See sin.«

»Dei Oll un dei Ollsch kennen di doch!« sagte Jochen Nehls zweifelhaft.

»Bi dei ganze Geschicht«, erwiderte Driebenkiel eifrig, »ward kein Wurt snackt, un swarte Däuker mit Löcker in för dei Oogen heww ick ok all trecht makt, dei binn‘ wi uns för ‚t Gesicht, – wen sall uns denn woll kennen?«

Es entstand eine Weile Schweigen, bis Jochen Nehls endlich wieder zögernd sagte: »Je, je, je, dat is nu doch so ’n Saak!«

»Jochen Nehls, du büst ’n Hamel!« rief Driebenkiel entrüstet. »Du möst jewoll ümmer ierst fiew Toll hoch Snaps inne Maag‘ hebben, wenn du ’n Kierl warden sast. Hest mi nich all wer weit wo oft dei Hand up geben, dat’e mit bi sin wist? Da sup noch mal ierst, dat’e Kraasch kriegst. Wo kannst woll so nählig sin!«

Jochen Nehls that einige mächtige Züge aus der Flasche, und schien sie nur ungern wieder abzusetzen.

»Dat is doch einen ganzen moigen Blagen!« sagte er dann.

»Je szü,« rief Driebenkiel ermunternd, »wenn wi nu ierst säker in Lonnen sünd, denn sünd wi rieke Lür, und du kannst supen, soväl as du wist. Dor hebben s‘ doch woll feinen Snaps?«

»Tau den einen seggen sei Whisky«, erwiderte Jochen Nehls; »dei is bannig stark un duhnt ossig. Un scharpen Rum hebben s‘ dor. Un ok dat Beir is nich sonne Plürr as uns‘ Lüttjedünn hier. Dat ein süht gäl ut, dor seggen s‘ Aehl tau, un dat anner swart, dat heit Poarter. Dor sitt bannige Kraasch in.«

»Ja«, sagte Driebenkiel, »denn kannst alle Dag so väl Whisky un Rum un Aehl un Poarter drinken, as du jichtens wist, un kannst Oeusters äten, wenn du dei Dinger magst, – mi sünd sei gräsig.«

»Oeusters sünd fein«, erwiderte Jochen Nehls, und der Stolz auf seine überlegene Weltkenntnis kam zum Durchbruch, »äwer wat dei Buer nich kennt, dat frett hei nich. As wi eins in Jujork in ’n Haben liggen dehren, dor hebben Klas Brathiering un ick uns ’n ganzen Emmer vull von ’n Fischer köfft, dei dor grar vörbikeem – dei kosten dor gor kein Geld – un wi hebben nich ihrer uphürt, as bet dei Emmer lerrig wir.«

»Dat ’s jo gräsig,« sagte Driebenkiel, »dor kann ‚k noch ihrer begriepen, dat dei Adbor Poggen frett. Na, is egal, wer ‚t mag, dei mag ‚t, un wenn sei di man smekken. Wenn w‘ ierst in Lonnen sünd, kannst di alle Dag so ’n Emmer vull köpen, denn hewwt wi Drüttels naug. Du hest dor, glöw ick, ümmer noch gor kein Insicht von, wat bi den Ollen tau halen is. Boor Geld ward hei woll man bloss ’n poor dusend Daler tau liggen hebben, denn sin Geld, dat steiht in Hamborg up Tinsen, un dor reist hei um Johanni rüm alle Johr hen un bringt sick denn von sinen Bankjeh so väl mit, as hei dat Johr äwer bruken deiht, un taugliek köfft hei dor allerhand utlandsch Vagels un Beisters un Muschels un wat süss för Kram. Dat is ümmer ’n olligen Upstand, wenn dat Veihtüg von ’n Bahnhof afhalt ward. Aewer wat dei Hauptsaak is, dat sünd dei Stein, dei Diamanten und dei Rubins, dei hei sick von Merika mitbröcht hett von dei Brunsilien, as sei dortau seggen. Dei meisten hett hei all lang verköfft, un dorvon stammt sin grotes Vermägen. Denk di doch man, as hei Borna köpen dehr, wo nu sin Swiegersöhn wirtschaft‘, dor hett hei dat Gaud boor betahlt, un sünd doch äwer viertig Last von den besten Acker. Aewer weck von dei besten Stein hett hei behollen, dor hett hei sin’n Spass an. Dei meisten hett hei sick in Amsterdam sliepen laten, weck sünd äwer ok noch so, as sei funnen warden, wo sei gor nich recht na wat utseihn dauhn. Aewer dat segg ick di, dei hei hett sliepen laten, dei glummern di as Füer un Sünnenschien un as dei Däu’s Morns up dei Wischen in ’n Junimand. Ick heww dat all jo gor nich wüst, bet dat eins verläden Johr dei grote Jubelierer ut Hamborg kamen dehr, dei em weck von dei Dinger afköpen wull. Dor hebben s‘ den ganzen Dag tausamen säten bi dei Stein, un dat Wunnerwarken von den Jubelierer harrst du mal hüren süllt. Dat wir jo ’n Schatz, hett hei seggt, dor müsst dei Oll mit na Paris un Lonnen reisen, dor wir dor dei Mark för. Dei ein Stein, dei harr jo binah viertig Grad, Karat. dei gellte jo allein äwer hunnertdusend Daler. Un för teindusend Daler hett hei em afköfft, twei Stein von fief Grad un noch ’n Dutz anner, dei lütter wiren, – denk di blot, so ’n lütten Hümpel blanke Stein in dei holle Hand un denn teindusend Daler! Un as ick den Jubelierer ’n annern Morgen wedder äwer den See führen dehr, dor wir hei idel vergnäugt un süng un quinkeliert ümmer för sick hen, as wenn hei mit sin teindusend Dalers einen ganzen finen Rebbes makt harr.

»Sühst du, Jochen Nehls, dat hett mi bannig in dei Ogen stäken un is mi nich werre ut ’n Sinn gahn. Dei Oll is jo so riek, hei weit jewoll gor nich mal, woväl Geld hei eigentlich hett, un denn noch dei Stein, dei so bi em rümliggen. Hei bliwwt jo noch ümmer ’n rieken Mann, wenn wi em dei afknöpen. Wat? Un mit dat Dorig-rümliggen hett dat denn ’n Enn‘, dei will’n wi woll labennig maken, wenn dat ierst Pund Sparlings worden sünd. Dei Sparlings will’n wi fleigen laten, wat, Jochen Nehls?! Szü, denn kannst du ki ’n Bedeinten hollen, un inne Glaskutsch führen, un Schampanni supen, un Tabak smöken dat Pund tau ’n Daler. Und du büst doch min Fründ, Jochen Nehls! Wo oft heww ick di nich friehollen, un wo oft heww ick nich seggt, du wirst dei einzigste Kierl in ‚t ganz Dörp. Un du wist mi in ’n Stich laten un hest mi doch dei Hand up geben, dat’e mit bi sin wist? Szü, un du kannst engelsch un du weisst Bescheid in Lonnen; wat süll ick dor woll anfangen, wenn du nich bi mi büst un ick von dat utlandsch Gesnater kein Wurt verstah? Un wenn s‘ mi fragen: ›Hau du ju du?‹ wat sall ick ehr för ne Antwurt geben? Wenn ich denn segg: ›Hau du di sülwst‹, denn boxen s‘ mi jewoll gliek, un boxen kann ick nich. Den dänschen Kuss, denn‘ kann ick, un dei kann einen jo ’ne schöne Hülp sin, wenn ‚t Iernst ward, äwer mit dei Juden un dei Jubelierers kann ick mi up dei Ort doch nich verkloaren.«

Jochen Nehls lachte, teils belustigt, teils geschmeichelt; es war eine Art dumpfen Gegnuckers, das aus den geheimnisvollsten Tiefen seines Innern zu kommen schien. Dann sagte er:

»Ja, Driebenkiel, ick will jo ok, äwer so ’n Saak is dat doch!«

»Na, dat ’s doch ’n vernünftiges Wurt!« rief Driebenkiel, »dorfür kannst du di ok mal weder düchtig wat mit den Blagen verteilen.«

Das liess sich Jochen Nehls nicht zweimal sagen und sprach ein ernstes und eindringliches Wort mit der Flasche. Als er sie wieder hinsetzte, fiel sein Blick auf einen Gegenstand, der auf dem Feuerherde lag und ihm bis dahin entgangen war. »Hest du hier Mettwust äten?« fragte er.

»Ne!« antwortete Driebenkiel.

»Wo kümmt denn dei Wustpell hierher?« fragte Jochen Nehls weiter und hob einen breiten Streifen Wursthaut auf, der von unserm Abendessen dort liegen geblieben war.

War unsre Stimmung dort oben in unserm Lauscherversteck schon immer ziemlich unbehaglich gewesen, so schlug mir jetzt das Herz so, dass ich meinte, man müsste es in der ganzen Hütte deutlich hören, und ich glaube, es ging Adolf, der neben mir kniete und meine Hand krampfhaft drückte, ebenso. »Dei Fischers un dei Heumakers«, sagte Driebenkiel, »’äten hier mennigmal Frühstück, dor brukst du di doch nich äwer Wustpell tau wunnern.«

»Dat is äwer kein Pell von ’ne Daglöhnerwust«, sagte Jochen Nehls, »dei is von dei fine Mettwust, dei up ’n Steinhüser Hoff makt ward; wo kümmt dei hier blot her?«

»Na, dei Mulapen von Jungs, dei up ’n Rosenwierer Robinsöhn spelen, dei drieben sick jo den ganzen Dag hier inne Gegend rüm, worum süllen dei hier nich mal wat äten hebben?«

»Un Brot liggt dor ok«, sagte Jochen Nehls, »dat is mi doch grar so, as wenn hier hüt all wen wäst is.«

Das Brot rührte von Adolf her, er hatte ein Stück liegen lassen, weil es zu sehr verschimmelt war. Er drückte mir die Hand, dass es mich schmerzte.

Driebenkiel nahm das Brot auf und lachte: »Wo du di blot hest!« sagte er, »dat Brot liegt hier all lang, dat is jo ganz verschimmelt.« Jochen Nehls schien sich hierbei zu beruhigen, und eine ungeheure Last wälzte sich von unsern Herzen.

Regen und Wind hatten sich unterdes vermehrt, draussen sauste es in der alten Weide, und auf dem Dach und gegen die Bretterwand des Heubodengiebels trommelten die schweren Tropfen, so dass es uns nicht mehr möglich war, alles zu verstehen, was unten gesprochen wurde. Driebenkiel schien, nach dem, was uns vernehmlich war, dem andern eindringlich und ausführlich noch einmal seine Verhaltungsmassregeln zu wiederholen, und schliesslich nahm er ein altes, schmieriges Gesangbuch hervor, wahrscheinlich den letzten und einzigen Rest seiner Bibliothek geistlichen Inhalts, und liess Jochen Nehls darauf schwören, dass er in diesem Unternehmen treu zu ihm stehen wolle. Es hörte sich grausig an, wie Driebenkiel dem andern die gotteslästerlichen Worte vorbetete und dieser sie mit heiserer Stimme wiederholte. Dies alles dauerte wohl eine Viertelstunde, und dann hörten wir beide mit schweren Tritten an die Thür gehen. Wir atmeten auf, doch war es noch zu früh, wie sich bald zeigte, denn die Schritte kehrten zurück, und wir hörten, wie Jochen Nehls sagte: »Dat is jo gruglich buten, dat rägent jo junge Hunn‘, will’n wi nich leiwer dei Nacht hier up ’n Heubähn krupen, dor bliwt’n doch drög.«

»Dauh, wat du wist!« antwortete Driebenkiel, »ick möt na Hus, Aewer dat süll einer doch gor nich glöben von so ’n seebifohrnen Minschen, dei sick dei Teifuns un dei Monsuhns, ore wo dei Dinger heiten, hett ümme Näs‘ weihn laten, dat süll doch keiner glöben, dat dei sick för so ’n poor Druppens grugen dauhn deiht. Du hest doch woll all tau lang‘ hier mang dei Nuschen wahnt. Dei hebben all up die affarwt.«

»Den Dunner!« rief Jochen Nehls dann, »hier wir doch süss ’ne Lerre!«

»Wat brukt denn ’n Matteros‘ ’ne Lerre«, sagte Driebenkiel, »dor kam ick jo noch rup, wenn ick will. Du settst dei Benk up den Füerhierd, denn kannst du baben anlangen, na, un denn dor rin tau kamen in dei Luk, dat ’s doch kein Kunst.«

Die Hammerwerke unsrer Herzen arbeiteten zum Erbarmen.

»Ja, wenn ‚k den ollen Schaden an ‚t Bein nich harr«, sagte Jochen Nehls, »denn wir ‚k all baben. Aewer dat is nich mihr. Wo man blot dei Lerre blähen is?«

»Versäuken kannst jo doch mal«, sagte Driebenkiel, »ick will die lüchten.«

Unsre Angst stieg aufs höchste, denn wenn Jochen Nehls diesen Versuch machte und der andre ihm dazu leuchtete, so musste, auch wenn der Kletterversuch nicht gelang, unbedingt die hinaufgezogene Leiter gesehen werden. Das bedeutete, dass jemand oben war, und dann waren wir verloren.

Jochen Nehls aber konnte sich über die Leiter nicht beruhigen. »Driebenkiel, du möst mi mal lüchten, wat dei Lerre nich hinnen steiht anne Butenluk, mäglich, dat sei ehr dor brukt hebben.«

Die schweren Schritte entfernten sich nun wieder, und der schwache Lichtschein der Laterne verschwand. Ohne dass einer von uns ein Wort gesagt hätte, griffen wir gleichzeitig nach der neben der Einsteigöffnung hochkantig liegenden Leiter, zogen ihr Ende sachte aus dem hochgestapelten Heu und legten sie geräuschlos nieder. Mit ein wenig erleichtertem Herzen horchten wir dann. Das Unwetter schien nachzulassen, das Sausen in der alten Weide hatte sich vermindert, und der Regen trommelte sachter auf der Giebelwand. Weiter vernahmen wir nichts, nur einmal war es uns, als hörten wir Stimmen und knirschende Schritte auf dem Kiese des nahen Ufers und bald darauf das Rucksen von Rudern. Dann ward es ganz still, Regen und Wind hatten sich gelegt, und nur zuweilen hörte man das Fallen einzelner schwerer Tropfen. Wie lange wir so sassen, Hand in Hand, ohne dass wir uns zu rühren wagten, wie lange wir in das grausige Schweigen der schwarzen Finsternis hinaushorchten, wir wissen es beide nicht. Zuweilen glaubten wir Schritte zu vernehmen, schleichende Schritte, die sich um das Haus herum bewegten, zuweilen ein Seufzen oder lautes Atmen unter uns oder ein leises Knarren der Dielen, sonst blieb alles ruhig. O diese finstere, grausige, durch keinen Lichtstrahl erhellte, von Schrecken erfüllte Nacht, die endlos vor uns lag! Wir konnten schliesslich diesen Zustand nicht länger ertragen. Da alles ruhig blieb bis auf die eingebildeten oder missverstandenen Geräusche, die wir vorhin vernommen oder zu vernehmen geglaubt hatten, und da, wie wir uns durch fast lautloses Flüstern verständigten, es ganz sicher war, dass keiner von den beiden Männern die Hütte wieder betreten hatte, es auch vollständig unwahrscheinlich war, dass einer von ihnen sich auf der sonst obdachlosen Insel noch aufhielte, so fassten wir nach langem Warten endlich wieder Mut, und dieser wurde gestärkt durch eine Erscheinung, die sich an der bretternen Giebelwand der Hütte bemerklich machte. In einer Fuge zwischen zwei Brettern zeigte sich dort in der schwarzen Finsternis ein feiner silberner Streifen, und zugleich war die Einsteigöffnung von einem matten Licht erhellt, so dass sich ihr längliches Viereck deutlich aus dem Dunkel schnitt. Ich kroch leise nach der Wand hin und schaute durch die Fuge hinaus. Gott, wie tröstlich und labend war der Anblick, den ich dort hatte nach aller Angst der Finsternis! Der Halbmond war aus den Wolken hervorgetreten, und freundliche Sterne leuchteten am dunkelblauen Himmel. Adolf hatte ein benachbartes Astloch aufgesucht und konnte sich, wie ich, nicht satt sehen an dieser freundlichen Himmelslampe. Dann lugten wir in den unteren Raum, der durch ein kleines Hinterfenster von einem schmalen Lichtstreifen erhellt wurde. Aber obwohl wir nichts Verdächtiges bemerken konnten und uns fortwährend flüsternd gegenseitig die Versicherung gaben, es sei ganz unmöglich, dass noch eine Gefahr vorhanden wäre, so wagten wir doch noch lange nicht, laut zu sprechen oder unsere Lage wesentlich zu verändern. Doch da alles still blieb und das friedliche Licht des höher steigenden Mondes immer mehr Mut in unsere Herzen goss, so fassten wir uns schliesslich ein Herz und liessen leise und vorsichtig die Leiter hinunter. Ich glaube, es dauerte fast fünf Minuten, bis wir mit diesem Geschäfte fertig waren. Dann stiegen wir hinab, langsam, Stufe für Stufe, die Tritte vorsichtig und geräuschlos setzend. Dann ging’s zur Thür, und nach jedem Knarren der Dielen horchten wir eine ganze Weile stumm wie das Grab und mit verhaltenem Atem. Die Thür öffneten wir langsam und vorsichtig nur so weit, dass wir uns eben hindurchschieben konnten, und endlich waren wir draussen, der Falle, in der wir gefangen sassen, glücklich entronnen.

Wir horchten nun über den See hinaus, der, noch von dem vorhergehenden Winde erregt, taktmässig ans Ufer plätscherte, und dessen Fläche von den Mondstrahlen weithin erleuchtet war. Nichts war zu hören und zu sehen. Wie priesen wir jetzt meinen Einfall, nicht an dem gewohnten Anlegeplatz zu landen, und eilig stapften wir im Mondschein über die nasse Wiese zu dem Orte hin, wo unser Kanoe im Rohr verborgen lag. Wir stiegen ein und ruderten vorsichtig zu unsrer Insel, denn an dem Orte zu bleiben, wo wir so Unheimliches erlebt und so herzbewegende Angst ausgestanden hatten, war uns nicht möglich.

An Schlaf war überhaupt nicht zu denken, und so wollten wir den Rest der Nacht mit Beratungen verbringen über das, was nun weiter zu thun sei. In der Gegend, wo wir am Nachmittage Holz gesammelt hatten, legten wir an, fanden auch glücklich beim Schein des Mondes den kleinen Vorrat, luden ihn in das Kanoe und fuhren nach dem Anlegeplatz bei unserer Hütte. Dort hatten wir noch in einer sogenannten Feuerlade ein wenig trockenen Zunder, und so gelang es uns denn nach einiger Mühe, ein mächtiges Feuer zu entzünden, das wir mit allem uns zur Verfügung stehenden Holze im Gange hielten. Das war nötig, denn die Nacht war empfindlich kühl. Wir setzten uns auf unsere Stühle, die wir nahe an das Feuer rückten, und da wir uns zum Ueberfluss noch in die allerdings etwas feuchten Wolldecken wickelten, so befanden wir uns ganz komfortabel, denn wir rückten so nahe heran, dass von den Decken ein warmer Dampf aufstieg. Dann folgte natürlich eine endlose Beratung, deren Schluss nach vielem Hin- und Herreden endlich war, dass einer von uns so bald als möglich Herrn Wohland zu warnen habe, während der andre nach Steinhusen fuhr, damit auch dort womöglich Massregeln zur Ergreifung der Einbrecher getroffen würden. Das musste mit Vorsicht geschehen, damit niemand Verdacht schöpfe oder die Sache nicht vorzeitig unter die Leute käme.

Je mehr wir uns in diese Frage vertieften, desto mehr Schwierigkeiten zeigten sich, doch deren Erörterung hatte wenigstens das Gute, dass die Zeit darüber hinging. So beschlossen wir denn schliesslich, darum zu losen, wer Herrn Wohland zu benachrichtigen habe, denn dies war, wenn auch die interessantere, so doch die gefährlichere Aufgabe wegen des bösen Hundes, der nachts von der Kette losgelassen wurde und dann niemand an das Haus heranliess, ohne ihn zu stellen oder noch Schlimmeres an ihm auszuüben. Der, den das Los traf, sollte mit dem Gewehre ausgerüstet werden, um ein Verteidigungsmittel zu haben oder sich im Notfall durch einen Schuss den Leuten auf dem Uhlenberge bemerklich machen zu können. Das Los traf mich, und wir verabredeten nun weiter unsre Pläne. Adolf sollte sich noch in der Dunkelheit in dem Kanoe nach Steinhusen begeben und bei Onkel Philipps Garten anlegen. Dann sollte er versuchen, sich diesem, der in einem Zimmer zu ebener Erde nach dem Garten hinaus schlief, so unauffällig wie möglich bemerklich zu machen, ihn dann in unser Geheimnis einweihen und ihm das weitere überlassen.

Ich sollte mich etwas später, gegen Sonnenaufgang, in der Jolle am Anlegesteg des Uhlenberges einfinden und dort mein Heil versuchen. Herr Wohland war ein Frühaufsteher, und es war zu vermuten, dass er um die Zeit des Sonnenaufganges, eine Viertelstunde vor sechs Uhr, schon auf und nach seiner Gewohnheit im Freien sein würde. Das hätte mir meine Aufgabe bedeutend erleichtert. Dieser Teil des Sees war einsam und abgelegen, am Ufer gegenüber der Insel lag an dieser Seite kein Dorf, sondern ein ausgedehnter Wald, und so war nicht zu vermuten, dass meine Landung dort bemerkt werden würde, auch wenn sie mit einigem Geräusch verknüpft sein sollte.

So verging bei diesen Beratungen die Nacht schneller, als wir dachten. Bald nach vier Uhr machte sich Adolf auf die Reise, während ich noch über eine Stunde wartete und dann, während sich schon im Osten eine leichte Dämmerung zeigte, mit etwas bänglichem Herzen meine Fahrt begann. Als ich bei der kleinen Insel vorbeikam, war es schon heller geworden, so dass ich die Fischerhütte deutlich erkennen konnte. Es schien mir, als starre sie mit den kleinen, schwarzen Fensteraugen besonders tückisch auf mich hin, und um das schiefe Maul ihrer Thür schien ein ironisches Grinsen zu liegen. Der Uhlenberg, den ich dann nach einer Weile zur Seite hatte, lag ohne Licht und Schatten im Morgendämmer geheimnisvoll da, über ihm schwammen einige rosige Wölkchen, und zuweilen tönte aus dem tiefen Schweigen seines Waldes der rauhe Schrei eines fremdländischen Vogels.

Der Wind war ganz eingeschlafen und der See ringsum einsam und glatt wie ein Spiegel; in den hohen Buchenwipfeln der Bucht, wo wir damals die Krebse gefangen hatten, lag ein rötlicher Schimmer.

Kurz vor Sonnenaufgang langte ich am Stege an und wusste nun nicht recht, was ich anfangen sollte. Ans Land zu gehen wagte ich nicht wegen des Hundes, und da der Landungsplatz in einiger Entfernung vom Hause lag, so wusste ich nicht, ob der Laut meiner Stimme bis dahin dringen würde. Endlich verfiel ich darauf, mit dem Ruder drei mächtige Fehmgerichtsschläge auf die Bretter des Steges zu thun, und dann stiess ich jenen weitklingenden Ruf aus, mit dem unsere Landleute sich aus weiter Ferne anzurufen pflegen: »Wool, wool!« rief ich, »wool, wool!«

So gut wie der Vater meines Freundes Adolf Martens verstand ich das allerdings nicht. Von dem sagte man, dass, wenn er auf seinem Hofe diesen Ruf ausstiesse, die Fensterscheiben im ganzen Dorfe klirrten und die Glocken im Kirchturm zu klingen anfingen, allein einen Erfolg hatte ich doch, denn plötzlich brach am Ufer etwas durch das Gebüsch, und unter furchtbarem Gebell stürzte Wasser, der Kettenhund, auf die kleine Landungsbrücke und benahm sich dort so sinnlos wütig, dass ich unwillkürlich ein wenig zurückruderte, denn er gab sich den Anschein, als würde er plötzlich mit einem mächtigen Satz in die Jolle springen und mich zum ersten Frühstück verzehren. Ich dachte unwillkürlich, das Buschrangerzeug, das ich anhatte, müsste ihm dann doch einige Schwierigkeiten bei der Verdauung machen.

So bellte denn der Hund und wütete mit aller Hingebung und jener Meisterschaft, zu der ihn eine langjährige Uebung befähigte, und ich schrie von Zeit zu Zeit: »Wool, wool!« aber niemand kam trotz des erbärmlichen Lärms, den wir beide vollführten. Da versuchte ich mein letztes Mittel, hielt das mitgebrachte Gewehr über den See hinaus und drückte ab. Ich weiss nicht, ob Adolf eine Extraladung hineingethan hatte, aber es knallte furchtbar, und wie ein lang nachhallender Schrei der Entrüstung, dass ich es gewagt hatte, diesen heiligen Morgenfrieden zu stören, kam aus den Waldbuchten des Seeufers der donnernde Wiederhall. Der Hund war anfangs ganz verblüfft, er wuffte ein paarmal vor sich hin, dann aber war er der Sache wieder gewachsen und geriet in eine ganz neue Sorte von Wut, die er wahrscheinlich nur für ganz besondere Fälle in Reserve hatte. Wie ein wahnsinniger Teufel sprang er auf der Brücke hin und her, und in sein wütiges Bellen kam ein Beigeschmack von heiserer Blutgier. Wahrlich, jetzt konnte ich mir den berühmten Höllenhund vorstellen – diesem Scheusal auf der Brücke fehlte dazu nichts als zwei lumpige Köpfe.

In diesem Augenblick trat Herr Wohland hinter dem Gebüsch hervor und rief: »Unfug! Was willst du hier?«

Er sah nicht gerade so aus, als würde er mich freundlichst einladen, näher zu treten, und rief auch nicht den Hund zurück, der mich, durch das Verhalten und den rauhen Ton seines Herrn aufgemuntert, mit erneuter Wut anbellte.

»Herr Wohland, ich weiss was von Driebenkiel!« rief ich.

»Driebenkiel?« fragte er, und man sah, wie sich seine Augen unter den mächtigen, buschigen Brauen verfinsterten. »Den Lumpen hab‘ ich weggejagt. Aus für immer!«

»Herr Wohland!« rief ich, »lassen Sie mich doch an Land. Bei Ihnen soll eingebrochen werden! Diese Nacht noch! Ich kann ja nicht gegen den Hund anschreien, wenn er immer so fürchterlich bellt.«

»Eingebrochen?« fragte Herr Wohland, doch etwas überrascht. »Wasser, hierher!« rief er und zeigte energisch mit der Hand hinter sich. Der Hund schwieg sofort, liess seinen Schwanz sinken und schlich gehorsam hinter seinen Herrn, wo er mit nachdenklichem Knurren auf mich hinblickte. Herr Wohland kraute ihm den Nacken und klopfte ihm den Rücken, wozu der Hund ganz manierlich mit dem Schwanze wedelte, dann hob er den Arm auf und rief, indem er nach der Richtung des Hauses deutete: »Will’e na Hus‘!«

Gehorsam trottete der Hund davon. Ich hatte unterdes meine Jolle festgelegt und stieg aus. Herr Wohland reichte mir die Hand und sah mich durchdringend an. Dann ging er schweigend, und ohne irgendwelche Aufregung oder Neugier zu verraten, mit mir dem Hause zu. Dort war in dem grossen Wohnzimmer ein Tisch gedeckt, auf dem ein Theekessel summte, und der mit den Bestandteilen eines konsistenten englischen ersten Frühstücks besetzt war. »Hungrig?« fragte Herr Wohland.

»Ach ja«, antwortete ich, »hab‘ die ganze Nacht nicht geschlafen.« Dann wollte ich sofort beginnen zu erzählen von dem, das mir auf der Seele lag, und wovon mir der Mund überfliessen wollte, jedoch Herr Wohland verhinderte mich daran. »Mund halten! Erst essen!« sagte er.

Dann, nachdem meine durchgefrorenen Glieder durch den köstlichen Thee wieder erwärmt waren und Eier, gekochter Speck und kaltes Fleisch mein Gemüt genügend gestärkt hatten, gab er mir mit einer Handbewegung die Erlaubnis zum Sprechen.

»Nun los!« sagte er.

VI.

Ich berichtete Herrn Wohland eine ganze Weile von unsern nächtlichen Erlebnissen auf der Fischerinsel, ohne dass er mich im geringsten dabei unterbrach, nur ab und an gab er durch ein dumpfes innerliches Knurren seine Aufmerksamkeit und Teilnahme zu erkennen. Ich glaube wohl, dass ich von der Unterhaltung der beiden Schufte nichts Wesentliches verschwieg und manches fast wörtlich zu wiederholen im stande war, denn die Erlebnisse dieser Angststunden hatten sich in mein Gedächtnis wie in Marmor eingegraben. Als ich schliesslich nichts mehr wusste und schwieg, sass Herr Wohland eine ganze Weile und starrte vor sich hin. Dann knurrte er in gemessenen Zwischenräumen den verdichteten Inhalt seiner Gedanken von sich:

»Schleicher!« sagte er, »Schnüffler! … Spion! … Dieb! … Saufaus! … Einbrecher! … Schuft! … Danke, mein Sohn!« rief er dann ganz unvermittelt und legte mir die Hand auf den Scheitel. »Guter Junge! … tapferer Junge! … nie vergessen! … Nie!«

Dann versank er in Nachdenken, denn es fragte sich, was nun zu thun sei, um die Einbrecher abzufangen, ohne dass sie vorher Witterung davon bekamen, dass ihr Plan verraten sei. Das war nicht so leicht, und vieles gab es dabei zu bedenken. Es musste auf unauffällige Weise in die Stadt geschickt werden, die etwa eine Meile entfernt war, damit von dort zwei Gerichtsdiener zur Stelle kämen. Der Arbeiter Wahmkow, der die ganze Woche auf der Insel war und jeden Sonnabend zu seiner Frau nach Hause fuhr, durfte das auch diesmal nicht versäumen, weil das Verdacht erregt hätte; auch musste er aus denselben Gründen Stina mitnehmen, die in ihrem Dorfe erwartet wurde; denn es war vorauszusehen, dass Driebenkiel sich durch den Augenschein davon überzeugen und wahrscheinlich auch versuchen würde, sie anzureden, um sich zu vergewissern, dass auf der Insel nur Herr Wohland und seine Wirtschafterin zurückgeblieben wären. Nun war es aber nicht sicher, ob nicht Stina eine gewisse Zuneigung zu Driebenkiel hegte, was sie veranlassen könnte, ihn zu warnen. Sie hatte sich früher seine plumpen Galanterien gefallen lassen und war weniger zurückhaltend gegen ihn gewesen, als es mit Mamsell Kallmorgens hohen sittlichen Anschauungen zu vereinigen gewesen war. Man konnte gar nicht wissen, ob nicht noch jetzt eine Art Verhältnis zwischen diesen beiden Leuten bestand, und deshalb war hier grosse Vorsicht geboten.

Ich entnahm alle diese Überlegungen aus abgerissenen Wörtern, die Herr Wohland zuweilen vor sich hinsprach; zuletzt sprang er auf und ging, indes er mit der Hand in seinem Barte wühlte, ruhelos im Zimmer auf und ab. Um diese Zeit hörte ich vom Ufer her einen wohlbekannten Pfiff, der sich dreimal wiederholte: »Pickperwick!« wie ein Wachtelruf. Das war Onkel Simonis, der uns auf seiner Stockkrücke also zusammenzupfeifen pflegte, wenn wir im Walde beim Botanisieren uns zu weit voneinander zerstreut hatten. Zum zweiten Male wiederholte sich dieser dreifache Pfiff. Herr Wohland beachtete ihn nicht, ich aber rief:

»Herr Simonis ist da!«

»Wer?« fragte Wohland.

»Mein Onkel Simonis aus Steinhusen, er weiss alles, Adolf Martens hat ihm zuerst alles gesagt.«

»Holen!« sagte Herr Wohland.

»Ist der Hund fest?« fragte ich etwas zaghaft.

Herr Wohland lächelte.

»Selbst angelegt!« sagte er, »geh!«

Ich lief, so schnell ich konnte, zum Ufer und fand dort Onkel Philipp, der, in sichtlich übertriebener Weise zum Angeln ausgerüstet, hinten in unsrer Jolle sass und eine sehr respektvolle Entfernung vom Ufer innehielt. Da es zuweilen vorkam, dass er zum Angeln oder auch nur, um Wasserpflanzen nachzustellen, ausfuhr, so hatte er wohl gedacht, auf diese Art sein Unternehmen so unauffällig wie möglich zu machen. Vor ihm sass isern Hinrich, der ihn hergerudert hatte und mich mit einem wohlgefälligen Grinsen begrüsste. Augen machte er dazu, die ihm vor Neugier fasst aus dem Kopfe sprangen.

Er ruderte nun heran, Onkel Philipp stieg aus, und wir beide eilten so schnell als möglich zu Herrn Wohland. Unterwegs sagte er: »Ich stelle mich Herrn Wohland zur Verfügung, vollständig zur Verfügung in dieser Notsache. Das muss er annehmen, er kann gar nicht anders. Habe schon meinen Plan, – genial, sage ich dir, ich komme mir wie ein kriminelles Licht vor, ein Lumen!«

Herr Wohland kam uns entgegen und reichte meinem Onkel die Hand,

»Freue mich!« sagte er. »Ihr Wunsch?«

»Ohne Umschweife grad darauf los«, sagte Onkel Philipp. »Auf der Chaussee im Walde hinter der Krebsbucht hält jetzt wahrscheinlich schon der Wagen des Herrn Martens und wartet auf mich. Wartet, bis ich komme. Sobald Sie es wünschen, lasse ich mich übersetzen und fahre zur Stadt und bringe die Sache mit dem Gericht in Ordnung. Zwei Gerichtsdiener müssen wir haben, und natürlich, Mudrach muss dabei sein – Sie wissen natürlich, Mudrach, der damals den berühmten Einbrecher Puttfarken festgenommen hat. Ein sehr tüchtiger Mann in seinem Fach, ganz ungemein tüchtig.«

Herrn Wohland war diese Lösung der Frage sehr angenehm, und er stimmte mit Dank zu, obwohl man wohl merkte, wie sauer es dem einsiedlerischen Manne wurde, fremde Hilfe anzunehmen; Onkel Philipp aber fuhr fort wie folgt:

»Was denken Sie, Herr Wohland: wollen Sie den Hund opfern?«

»Was?« fragte dieser, verwundert auffahrend.

»Die Sache ist die: die beiden Kerls haben sich verabredet, dass Driebenkiel zuerst den Hund beseitigen soll. Mit Strychnin. Unterdes wartet Jochen Nehls in sicherer Entfernung auf dem Wasser. Lassen Sie nun Driebenkiel, wenn er den Hund sucht, allein festnehmen, so macht das Lärm, geht nicht ohne Geräusch ab, und dann merkt Jochen Nehls Verrat und ritscht aus. Nein, er muss mit an Land, dass wir sie beide kriegen. Der Hund ist ein grosses Hindernis. Ich aber hab‘ mir schon was ausgedacht: Stina muss ihn umbringen!«

»Was?« rief Herr Wohland wieder mit grosser Entrüstung.

»Nur mit ihrer Zunge!« rief Onkel Philipp, »mit ihrer glatten Weiberzunge. Wenn Stina nun mit Wahmkow in ihrem Dorfe ankommt, da ist es doch ganz gewiss, dass Driebenkiel ihr auflauern, und wohl sicher, dass er sie anreden wird. Er wird sie etwa fragen, wie es auf dem Uhlenberge geht, oder dergleichen. Ja, das wird er. Dann macht sie ein wehleidiges Gesicht und sagt etwa: ›Ach Gott, ach Gott, Herr Wohland is so trurig, uns‘ Wasser is dodt bläben, hett sick ’n Knaken in ’n Hals slaken un is stickt, hüt morn Klock teihn!‹ Dann wird Driebenkiel denken, die Götter seien mit ihm im Bunde und wollten ihm wohl, und er wird äusserlich salbungsvolle Trauer heucheln, innerlich aber grifflachen, und die beiden Kerls werden nachher ohne weitere Vorsichtsmassregeln an Land gehen, und in Mudrachs und seines Kollegen siegreiche Greifarme fallen.«

»Lässt sich hören!« sagte Herr Wohland.

»Und wenn Sie erlauben«, rief Onkel Philipp, »so lassen wir Stina gleich ‚reinrufen, und wenn Sie nichts dagegen haben so mach‘ ich ihr den Standpunkt klar, denn ich versteh‘ mit solchen Leuten umzugehen. Ich werd‘ ihr so sanft andeuten, dass sie auch gleich mit ins Zuchthaus kommt, wenn sie es Driebenkiel merken lässt, was gegen ihn ins Werk gesetzt wird, und dass sie ein dem Teufel verfallener Höllenbraten ist, wenn sie ihre Sache nicht ordentlich macht.«

Herr Wohland ging nach dem Glockenzuge, um Stina herbeizurufen, und Onkel Philipp sagte zu mir: »Du kannst hinausgehen und dich mal nach Hinrich umsehen, ob der auch keinen Unsinn macht, und sag ihm, ’ne Stunde müsst‘ er wohl noch warten, bis ich käme.«

Unterdes kam Stina schon herein, und ich entfernte mich ziemlich widerwillig, da ich mir von dieser Instruktion einige dramatische Ergötzung versprach.

Auf dem Flur wälzte sich mir Mamsell Kallmorgen entgegen, – wie es schien, in ziemlicher Aufregung: »Na, da büst du ja, mein Jung«, rief sie, »nu sag mal bloss, was is denn eigentlich los? Was hast du hier bei nachtschlafende Zeit anzukommen und mit ‚e Flint zu ballern? Ich hab‘ mir so verschrocken, dass mir beinah die Huk versackt is. Überhaupt, sonne Jungs wie du, die müssen noch gar kein Schiessgewehr inne Hand kriegen, da stiften sie bloss was mit an, so as Hans Bernitt in Kalbow. Das war auch so ’n Jung in dein Alter, un wie nu sonne Jungs sind, nimmt er das Gewehr von sein’n Vater un weiss nich, dass es geladen is, un sagt zu das Stubenmädchen Trina: ›Soll ich dir mal totschiessen?‹ Un drückt ab un jagt ihr die ganze Ladung Hühnerschrot ins Bein. Na, sie hatt‘ ja ’n so ’n rechten deftigen eigengemachten Rock an un da auch noch düchtig was unter, un das hat ihr gerett’t, aber sechs Wochen hat sie ins Krankenhaus liegen müssen un humpelt heut noch, un wenn ’n Gewitter inne Luft is, kriegt sie das Reissent. Dein lieb Mudding kenn‘ ich ganz gut; sie war ümmer so sanft un so solide un so furchtbar gemütvoll – dass sie dir das aber ümmer erlaubt mit das Schiessent und das Wasserfahrent, das kleid’t ihr gar nich. Un nu habt ihr jawoll all vierzehn Tag‘ lang Robinsohn gespielt auf ’n Rosenwerder – ich hab‘ das Ballern von eure Flint woll gehört – wo kann das nu woll einen vernünftigen Menschen Spass machen!«

Mit einem Male fasste sie mich näher ins Auge und schob mich vor sich her an ein Fenster ins Licht. »Mein Gott,« rief sie, »wo sühst du einmal aus! As so ’n Räuberhauptmann, der sich in ’n Rönnstein umgedreht hat. Un Smierstiefel an, die acht Tag lang nich reingemacht sünd. Un Blut an die Hosen un allens voll Lehm – dir mag man ja nich mal mit’e Feuerzang‘ anfassen. Wenn dein lieb Mudding das wüsst‘, dass du dir so vor die Leut‘ sehn lässt, – as ’n Färken sühst du ja aus!« Trotz dieser für mich wenig ehrenvollen Ausdrücke konnte man Mamsell Kallmorgen nicht unrecht geben, denn die letzten Regentage hatten nicht gerade an der Verschönerung meines Äusseren gearbeitet, und wenn ich auch auf die Blutflecke an meinen Knieen mit Stolz blickte, als die Spuren ehrenvoller Jagdabenteuer, so konnte doch von einer Fanatikerin für Reinlichkeit und Ordnung, weissgeseheuerte Fussböden, blankgeputztes Geschirr und blütenweisse Wäsche nicht die gleiche Anschauung verlangt werden.

»Du musst dir wieder was von Herrn Wohland sein altes Zeug anziehn, un Stina kriegt den ganzen Kram gleich in die Waschballje; so kannst du dir ja in ’n Leben nich vor dein lieb Mudding sehn lassen. So wie ich ihr kenn‘, so sanft un so solide un so furchtbar gemütvoll, die kann ja die Krämpfen kriegen, wenn sie dir so zu sehn kriegt.«

»Ja«, rief ich, »aber erst muss ich zu Heinrich Trilk, der mit ’n Kahn auf Herrn Simonis wartet.«

»Was?« sagte Mamsell Kallmorgen, »Hinrich Trilk? Das is jawoll den Krüger in Steinhusen sein Sohn, der is da, und das weiss ich gar nich! Der hat ja noch nich nass noch trocken gekriegt; da muss ich doch gleich …« Und damit walzte sie, in der Richtung auf ihre Küche zu, davon, und ich war froh, durch diesen Zwischenfall ihrem weiteren Examen entgangen zu sein, denn ich wusste nicht, ob es ratsam sei, ihr alles mitzuteilen.

Als ich an das Seeufer kam, fand ich isern Hinrich beschäftigt, über den nun wieder ganz glatten See hin mit flachen Steinen höchst kunstvoll »Butterbrot« zu werfen. Ich begrüsste ihn auf die gewohnte Art, und er kam dann mit derselben Frage heraus wie Mamsell Kallmorgen: »Nu segg blot, Reinhard, wat is denn los? Hüt morn, as ick noch in ‚t Berr liggen dauhn dehr, keem all Herr Simonis un frög den Ollen, wat ick em woll ’n bäten tau ’n Angeln rutführen künn. Un as ick mi nu fix antreckt harr un mit em güng, dor kreeg hei mi an ’n Arm un frög mi, wat ick swiegen künn. ›As ’n dorigen Häkt‹, sär ick. ›Na‹, sär hei, ›denn kannst mal hengahn un nahseihn, wat Jochen Nehls in is, äwer keinen darwst du wat von seggen, un hei darw dat nich marken.‹ Na, ick gah ok hen un heww em jo all so oft halt, wenn Driebenkiel mi na em schickt hett, un weit in den ollen Käthen ganz gaud Bescheid. Un wutsch rin dörch dei Achterdöhr, dei nich tauslaten ward, un kam ok an Jochen Nehls sin Kamer, un dor in saagt dat, as wenn dei grot Bull up ’n Hof dat Brummen kriegt. Na, dor wüsst ick jo all Bescheid, äwer ick makt liesing noch dei Döhr ’n beten up un keek rin, un dor leeg Jochen Nehls mit all sin Kledagen un mit Stäwel an up ‚t Bett un snorkt, dat sick dei Balken bögten, un ne grote lerrige Buddel harr hei in ’n Arm, as sonne Mudder ehr Kind. As ick dat nu nahst Herrn Simonis seggen dauhn dehr, sär hei: ›Is gaud!‹ »un wi führten af. Un ick reim jo nu ümmer up los, un hei stüert, un duert ewig lang, un mit eins sünd wi bi ’n Uhlenbarg, dicht an ’n Steg. Un dat anner weist du jo. Nu segg mal blot, wat’e los is. Dit is jo as dei verjährte Welt.«

Mich erfüllte es mit innigem Behagen, Herr eines so prachtvollen Geheimnisses zu sein und mich als Entdecker eines geplanten schweren Verbrechens fühlen zu dürfen; ich wusste, dass isern Hinrich mich beneiden würde, und das thut immer wohl. Nachdem ich mich dann vorher seiner Verschwiegenheit durch Handschlag versichert hatte, erzählte ich ihm unser Abenteuer auf der Fischerinsel, während wir beide auf dem Stege sassen und mit den Beinen bammelten. Isern Hinrich hörte mit Eifer zu und fügte nur zuweilen einen begeisterten Aufruf ein, wie: »Junge di!« oder »Fein!« Als ich zu Ende war, sagte er: »Un Mudrach kümmt, dei Puttfarken fastnahmen hett? Un ick sall em räwerführen? Dat ’s fein! Wenn ‚k doch mit bi sin künn, wenn hei Driebenkiel in Isen leggt! Dat deiht hei; Puttfarken hett hei ok in Isen leggt! Dei Isens hett hei ümmer bi sick. Un ’n Dodsläger mit ’n leddernen Reimen hett hei ok. Ach, un nu weit ick ok, wat Driebenkiel un Jochen Nehls ümmer bi uns tuschelt un muschelt hebben. Dat harr ‚k ehr gor nich tautrügt – sünd doch hellsche Kierls.« Und so redete er weiter und arbeitete sich schliesslich in eine förmliche Bewunderung Driebenkiels hinein, denn, wie schon gesagt, er war dem Heroenkultus ergeben, und da ihm wirkliche Helden nicht bekannt waren, so nahm er auch mit Verbrechern vorlieb.

Als er noch so schwatzte, kam plötzlich Mamsell Kallmorgen um die Buschecke, als wenn der Mond aus dunkeln Wolken hervortritt. In der einen Hand trug sie einen Teller mit Butterbroten und in der andern eine grosse Flasche.

»Heut is jawoll allens verdreht,« sagte sie, »nu hat Herr Wohland Stina ‚reingerufen, un die kommt gar nich wieder, un nu muss ich man selbst her an das alte Wasser, was ich nich mal sehen mag, un den Jung sein Butterbrot bringen, un in ’ne halbe Stunde soll doch das Frühstück fertig sein für Herrn Simonis. Un ’ne Buddel von unser Haustrinkent hab‘ ich dir auch mitgebracht, mein Jung, denn for ’n Snaps bist du doch noch nich alt genug. Un das Bier könntest du gern trinken, denn for das Bier bin ich berühmt. Auf meine frühere Stell‘, wenn da der Herr Pastohr Nägendank kam, denn wollt‘ er keinen Wein nich, denn liess er sich ümmer extra von dies Bier geben, un einmal sagte er zumir: ›Mamsell Kallmorgen‹, sagte er, ›woraus machen Sie denn eigentlich das Bier, dass es ümmer so schön smeckt?‹

»›O, Herr Pastohr‹, sagte ich, ›aus allerhand Jux.‹ Un da wollt‘ er sich totlachen. Je, un es war doch ganz richtig, denn ich nehm‘ da nich bloss Malz zu, nee, da kommen auch ’n paar süsse Backbirn un ’n paar gelbe Wurzeln un ’ne Handvoll Rosinen an un noch allerhand, was ich nich sag‘, un davon, wenn sich das vergärt, wird das Bier so süss un kriegt sonne Kraasch, un denn wundern sich die Leut‘, wo schön das smekt. Ja, da trink man von, mein Jung, ich trink‘ da selbst ümmer von, un es bekäme mich ja auch ümmer so gut.«

Dann besann sie sich plötzlich, welche Eile sie hatte, und kugelte sich schnell wieder davon.

Isern Hinrich klappte die Butterbrote auseinander und besichtigte sie mit Kennermiene. »Fien Brot,« sagte er, »mit fett Budder up – un Mettwurst – un baschen Kees – fein!« Dann machte er sich eifrig an die Vertilgung dieser Nahrungsmittel und gluckte zwischendurch mit Wohlgefallen aus der grossen Flasche von dem Bier, dessen köstlicher Geschmack der geschickten Verwendung von »allerhand Jux« entstammen sollte.

Da ich ihn nun so wohl beschäftigt sah, dass er meiner Unterhaltung nicht bedurfte, und ich annehmen konnte, dass Stinas Instruktion nun wohl beendigt sein könnte, so kehrte ich langsam nach dem Hause zurück, nicht ohne nach allen Seiten spähende Blicke zu senden, ob mir von den Wundern dieses Eilandes noch Ungekanntes zu Gesicht kommen möchte. Doch gelang mir das nicht, und nur die rauhen Schreie einiger entfernten Papageien tönten in mein Ohr. Als ich das Haus erreicht hatte, traf ich Mamsell Kallmorgen in fürchterlicher Aufregung, denn Stina hatte ihr Bericht abgestattet. Sie hatte mich kommen sehen und liess mich gleich zu sich rufen. »Du büst ja bei gewesen!« rief sie, »was hat dieser Kerl von mich gesagt?«

»Er hat gesagt, Sie hätten einen tüchtigen Strumpf voll Geld in Ihrem Bettstroh, und den wollten sie sich auch holen. Dies Fett wollten sie Ihnen abzapfen, andres Fett behielten Sie ja noch genug«, Mamsell Kallmorgen schnappte ein paarmal nach Luft, wie ein verendender Karpfen, sagte aber nichts.

»Und vorher sollten Sie auch gebunden und geknebelt werden.«

»Geknebelt?« fragte Mamsell Kallmorgen, »was is das?«

»Da wird einem was in den Mund gestopft«, antwortete ich, »dass man nicht schreien kann.«

»Das is ja doch ein schauderhaften Kerl«, sagte Mamsell Kallmorgen, »wo ich doch durch die Nas‘ gar nich ornlich Luft kriegen kann, da wär‘ ich ja gleich gestickt oder hätt‘ den Slag gekriegt oder doch zum wenigsten meine Krämpfen. Un denn mein bischen Geld, wo ich doch ne arme Waise bün un hab‘ es mich mühsam zusammengespart für meine alten Tage. Un wovon weiss er denn das? Ich hab‘ es ihn doch nich gesagt un hab‘ mich da ümmer so geheimnisvoll mit gehabt; aber er war ümmer ein Sleicher un ein Snüffler, un kam ümmer wo ‚raus, wo er eigentlich gar nichs verloren hatt‘, un begegnete einen ümmer, wo er gar nich hingehörte, un kroch auf ’n Boden rum un in ’n Keller, un snüffelte in alle Ecken as sonne Katze, die aufs Mausen aus is oder aufs Milchstehlen. Un wenn er nu heut abend kommt mit den andern Kerl, was will Herr Wohland denn machen? Driebenkiel is ja so furchbar staark, der haut ihnen ja all zu Mus, Herrn Wohland, Herrn Simonis un dir, mein Jung, un wenn er mit euch fertig is, denn komm‘ ich an. Nee, hier bleib‘ ich nich un bleib‘ ich nich. Wo es so schon so einsam is, un wenn denn mal Besuch kommt, denn sünd es Einbrechers un Mörders. Un das kann keine Herrschaft von einen verlangen, dass einer sich for sie binden un sein bischen Geld wegnehmen lässt un einen der Mund zugestopft wird, dass einer den Slag kriegt. Ich will hier weg von diese grässliche Insel. Hinrich Trilk soll hinfahren nach Fischer Mussehl, dass er mit seine grosse Boot kommt, die nich so wiwagt un mir tragen kann.«

Ich hatte vergeblich gesucht, zu Wort zu kommen; endlich gelang es mir, einzufügen: »Aber Mamsell Kallmorgen, Mudrach kommt ja und ein andrer Polizeidiener; Herr Simonis will sie holen.«

Mamsell Kallmorgens Züge erhellten sich. »Mudrach«, fragte sie, »der Puttfarken festgenommen hat, un noch ein Polizeidiener? Un das sagt mir kein Mensch! Die müssen doch was zu essen haben, un was mach‘ ich da man bloss? Da muss ich ja noch fix drei von meine Enten slachten, von die weissen mit ’n Poll, die sünd schon ganz schön. Un das is ja denn die höchste Zeit. Stina! Stina!«

Und damit wälzte sie sich davon, und es schien, als ob sie alle Gefahren dieser grässlichen Insel vergessen hätte.

Nach dem Frühstück machte sich Onkel Philipp auf die Reise, und ich begleitete ihn an den See, wo isern Hinrich uns schon erwartete. »Lieber Reinhard«, sagte er dann zu mir, »ich würde dich gerne mitnehmen in die Stadt, aber du passest augenblicklich zu wenig in unsre modernen Verhältnisse. Du siehst aus wie ein Faustschlag in das Antlitz der Kultur, wie eine Erinnerung an ferne, wilde Jahrhunderte, als die Menschen noch in Höhlen lebten und die Seife noch ein Erfindertraum war. Ja wahrhaftig, so siehst du aus. Du trägst zu viele Spuren blutiger Jagdabenteuer und primitiver Waldmahlzeiten und zu viele Bodenproben der umliegenden Inseln an dir, als dass ich den Honoratioren unsrer reinlichen und ordnungsliebenden Stadt deinen Anblick zumuten dürfte. Auch fürchte ich, du würdest dich des jauchzenden Beifalls der heroischen Strassenjugend dieser Stadt in einem Masse zu erfreuen haben, dass dies bei deiner angebornen Bescheidenheit nicht ohne beschämende Nachwirkung für dich sein könnte. Darum bleibe lieber hier in dieser insularen Abgeschiedenheit, dies rat‘ ich dir, rat‘ ich dir als dein väterlicher Freund und Onkel.«

Isern Hinrich grinste über sein ganzes Gesicht und sagte, nicht ohne einen leisen Beigeschmack von wohlthuender Bewunderung: »Ja, Reinhard, gruglich schietich sühst du ut.«

Damit legte er sich in die Riemen und ruderte mit Onkel Simonis davon, während ich, niedergedrückt von der Last einer geradezu vernichtenden Kritik, allein am Ufer zurückblieb. Ich ging zum Hause zurück, suchte mir einen grossen Wandspiegel und studierte meine Erscheinung. Die Geschmäcker waren doch verschieden. Ich fand, dass ich prachtvoll waldläufermässig aussah, stilvoll, würde ich gesagt haben, wenn ich dies Wort damals schon gekannt hätte, und dazu das braungebrannte Gesicht mit einigen halb verheilten Dornrissen quer herüber, die den Narben ehrenvoller Wunden täuschend ähnlich sahen; ich konnte das alles nicht unschön finden. Aber die Majorität war offenbar gegen mich, und Onkel Philipps ironische Redensarten hatten doch gesessen. Darum ging ich zu Mamsell Kallmorgen, liess mir altes Zeug heraussuchen und überlieferte meine äusseren Hüllen der Waschballje und der Stiefelbürste, durch welche freiwillige That ich mir Mamsell Kallmorgens Achtung zum Teil wieder zurückeroberte.

Herrn Wohland traf ich dann in seinem Zimmer, wie er unter einigen alten Reitersäbeln und Enternmessern Auswahl hielt. Dann zog er aus einigen silberbeschlagenen Pistolen die Ladung, reinigte und prüfte diese Gewehre sorgfältig und lud sie von neuem, Vorbereitungen kriegerischer Art, die ein unheimlich-angenehmes Grauen in mir erregten. Überhaupt, was war dies im ganzen doch für ein prachtvolles Abenteuer! Es kam mir vor wie eine Wunderblume, die plötzlich in tropisch-blutiger Pracht an dem Baume der Alltäglichkeit aufgegangen war. Nur die eine Angst hatte ich, dass Onkel Philipp mich vorher nach Hause schicken würde und ich nicht dabei sein könnte, wenn sich der Schlussakt des Dramas, die Festnahme Driebenkiels, abspielte.

Im übrigen verging die Zeit langsam in Erwartung der kommenden Ereignisse. Der Tag lag noch lang vor mir; da ich ihn sehr früh begonnen hatte, und da ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, so überkam mich allmählich eine unbezwingliche Müdigkeit. Ich irrte wie im Traume um das Haus herum und hörte das nahe Krähen des Hahnes, das Schreien der Perlhühner und das taktmässige Park, Park der Enten wie aus weiter Ferne. Die Augen fielen mir zu, und wenn ich sie gewaltsam öffnete, so lag die ganze Welt um mich her in einem traumhaft verschwommenen Scheine. Da erblickte ich bei meinem Umherschlendern auf dem Wirtschaftshofe durch die offene Thür eines scheunenartigen Gebäudes im Innern einen mächtigen Haufen Stroh; dieser begann mich anzuziehen wie ein Magnetberg. Meine letzte Erinnerung ist, wie ich über die Schwelle stolperte und das weiche Stroh unter mir zusammensank. Ich glaube, ich schlief schon, ehe ich ganz lag.

So kam es denn, dass ich erst am späten Nachmittag erwachte, nachdem mir schon längere Zeit im Halbschlafe so gewesen war, als ob jemand meinen Namen riefe. Ich rappelte mich aus dem Stroh hervor, und da klang es wieder von der fetten Stimme Mamsell Kallmorgens, aber recht kläglich: »Reinhard! Reinhard! Wo sticht nu bloss der Jung!?«

Ich ging der Stimme nach und fand Mamsell Kallmorgen in der Küchenthür stehend, wo sie diese kläglichen Rufe ausgestossen hatte. Als sie mich erblickte, verklärten sich ihre Züge, dass es ordentlich schön zu sehen war. »Den Schöpfer sei Dank!« rief sie, »dass du wieder da büst. Wir dachten all, du wärst versoffen oder wärst aus ’n Baum gefallen un hättst dich das Knick abgeschossen. As du zu ’s Essent nich einkamst, wo doch jeden orndlichen Jung sich wieder anfindt, da kriegt ich’s mit’e Angst. Stina un Wahmkow haben all den ganzen Uhlenberg nach dir abgesucht. Wo hast du denn bloss gestochen?«

»Ich hab‘ geschlafen«, sagte ich, »dort in der Scheune, wo das Stroh liegt.«

»Armen Jung«, sagte sie mitleidvoll, »ja, du kannst woll müd sein. Hast ja die ganze Nacht nich geslafen. Hast gewacht für uns. Ja, mein Jung, wenn du nich gewesen wärst un dein Freund, dann lag‘ ich jawoll morgen in mein Bett as ein’n gestickten Leichnam. Nu komm man ‚rein un zieh dich dein Zeug an, es is schon lang trocken, kannst damit in meine Kammer gehen. Un Essent hab‘ ich dich auch aufgehoben, ’n schönes Stück Entenbraten, das mach‘ ich dich warm. Un abgerührten Pudding is auch noch da mit Kirschensosze, der smeckt kalt fein. Un nu zieh dir man erst an, nachher erszähl‘ ich dich noch mehr – kannst bei mir inne Küch‘ essen.«

Als ich nun nach einiger Zeit als ein reinlicher Musterknabe in die Küche zurückkehrte, hatte mir Mamsell Kallmorgen säuberlich einen Tisch gedeckt, und es schmorte etwas auf dem Herdfeuer. »So, mein Jung«, sagte sie, »nu trink man erst ’ne Tass‘ Balljong, die hab‘ ich dich schon warm gemacht, das andre is auch bald so weit.« Und während ich nun trank und ass, liess sie das Bächlein ihrer Rede munter dahinfliessen.

»Ja, mein Jung«, sagte sie, »un das weisst du woll noch gar nich: Mudrach is schon lang da un Püttelkow auch, was sein Kollege is. Klock vier is Herr Simonis all mit sie angekommen, un Gott sei Dank, ich hatt‘ mein Essent ja beinah fertig. Un Mudrach, sag‘ ich, was ’n Mann! Da kriegt einen gleich so ’n zuvertrauent szu. Un ’n paar Augen hat er, da kann er ja woll mit durch ’n eichen Brett kucken. For seine Augen is er ja auch berühmt. Un denn so würdevoll, beinah wie so ’n Küster. For mir is der Mann eine grosse Beruhigung, ich hab‘ man bloss noch ’n ganz klein bischen Angst for heut abend.«

»Hat er denn auch die Eisen und den Totschläger bei sich?« fragte ich.

»Du denkst woll, dass er da ümmer so mit ‚rumspijökt«, sagte Mamsell Kallmorgen, »der wird sein Handwerkszeug schon bei sich haben in seine geheimnisvolle Tasche; das szeigt er doch nich jeden. Un ’n höflichen Mann is Herr Mudrach. As ich die beiden den Pudding selbst ‚reinbrachte, denn ich wollt‘ mich den berühmten Mann, der Puttfarken festgenommen hat, doch auch mal orndlich ansehn, da stand er auf, un verbog sich vor mich un sagte: ›Mamsell Kallmorgen, ich habe die Ehre!‹ un Herr Püttelkow stand auch auf un verbog sich auch. Na, un ich schoss ja nu auch in ’n Dutt un machte sonnen tiefen Knicks, dass mich beinah der Pudding von ’n Teller gerutscht war‘. Un denn haben wir uns gebildet unterhalten, denn Herr Mudrach is einen geistvollen Mann un hat furchbar viel Kurakter. Herr Püttelkow sagt nich viel, der hat es mehr in sich, un wenn Herr Mudrach das mehr mit den Geist hat, so hat sein Kollege das mehr mit die Knochen. Kurz verstiepert is er ja man, aber du sollst mal sehn, wo breit er in die Schultern is un was for ’n paar Hände er hat. Wenn er da erst Driebenkiel mit fasst gekriegt hat, da kommt der in Laben nich wieder los. Den haben sie extra Herrn Mudrach mitgegeben, weil der doch man rank in die Schultern is un mehr Grips in Kopf as Muscheln an die Arme hat. Aber das muss ich sagen, bei den Entenbraten un bei den Pudding da sünd sie beide gleich düchtig beigewesen, un szwei Buddel Wein haben sie daszu getrunken, un drei Buddel von mein feines Bier. Un denn hab‘ ich sie ’n ganzen schönen Kaffee gekocht, vier Tassen von szwei Lot, un da von mein Schürzgebackenes szu, was ich ümmer in ’n Schrank szu stehen hab‘, ’n ganzen Teller voll, un is auch nich ein Stück wieder ‚rausgekommen. Gesmeckt hat es sie, un wenn sie heut abend keine Kräften haben szu ihr schweres Werk – meine Schuld is es nich. Nachher haben sie dann noch ’n bischen auffe Zigarr‘ geraucht, von ’n Herrn seine gewöhnlichen, die aber auch schon sehr schön sind, un da mögen sie nu woll noch bei sein.«

»Ist Püttelkow wohl ebenso stark als Driebenkiel?« fragte ich.

»Ja«, sagte Mamsell Kallmorgen, und auf ihrer Stirn erschienen Sorgenfalten, »wenn ich das sagen soll, denn muss ich sagen, das is mich nich bewusst. Driebenkiel is ganz furchbar staark, un as ich damals hier ankam, un die Boot so wiwagte un ich ins Wasser fallen wollt‘, da hat er mir gehalten wie so ’n eisernen Bock un hat mir ganz allein ans Land gewucht’t, wo ich doch beinah dreihundert Pfund wieg‘. Un an die Arms, wo er mir damals anfiess, da hab‘ ich noch acht Tag lang blaue Flecken gehabt. Aber ich glaub‘ woll, dass Herr Püttelkow auch ganz gefährlich viel Kraasch hat, denn aussehn thut ihn gnaz so.«

Da ich nun mit meinem verspäteten Mittagsmahl fertig war und grosse Neugier empfand, diese beiden bedeutenden Männer ebenfalls von Angesicht zu Angesicht zu sehen, so verabschiedete ich mich von Mamsell Kallmorgen und begab mich in das benachbarte Wohnhaus. In Herrn Wohlands grossem Zimmer fand ich diesen, Onkel Simonis und die beiden Polizeidiener in voller Beratung über das, was heute Abend geschehen solle. Mudrach war ein langer, hagerer, eng zugeknöpfter Mann, der eine gewisse Würde zur Schau trug, die sich besonders in seinen gemessenen körperlichen Bewegungen kundgab. Er liebte es dann, die eine seiner langen, haarigen Hände in die Brustfalte seines Rockes zu stecken, während er mit der andern zur Begleitung seiner Rede grossartige Bewegungen ausführte. Dabei trug er den kleinen Kopf auf dem langen Halse aufrecht wie ein Strauss und die Lider etwas gesenkt, als wolle er die volle Kraft seiner Augen dämpfen. Püttelkow dagegen war ein sehr untersetzter, vierkantiger Mann, von der Figur eines Nussknackers; sein rotes, stumpfnasiges Gesicht, glattrasiert bis auf zwei rotgelbe Backenbärte, strahlte von Gesundheit, und darüber wölbte sich eine geräumige Glatze von so tadelloser Politur, dass sie bei passender Beleuchtung die herrlichsten Glanzlichter warf.

Ich schien gerade recht zu dieser Beratung zu kommen und wurde sofort aufgefordert, noch einmal zu erzählen, was wir von dem Plane der beiden Spiessgesellen erlauscht hatten. Als ich damit fertig war, sagte Mudrach: »Hat Driebenkiel sich sozusagen ganz famos ausgedacht. Für’s erste Mal, alabonnöhr! Ja, das ist nu also die Sache. Nämlich: diese ganze Arretiererei vollführt sich sozusagen im Dunkeln. Und das ist nämlich schade. Denn bei solcher Gelegenheit da mach‘ ich das meiste mit den Augen. Wenn ich so kuck‘, wie ich kucken kann, und ich kann nämlich kucken, dann kriegt so ’n Einbrecher gleich sozusagen das Zittern. Mein Herr Senator sagte mal zu mir ›Mudrach‹, sagte er, ›Sie haben die richtigen Augen des Gesetzes.‹«

Und nun, scheinbar um einen Beweis zu geben, nahm er mich für das Surrogat eines Einbrechers, riss die Augen auf, dass die Pupillen erschienen gleich der Insel Solowezki, die, wie jedermann bekannt ist, im Weissen Meere liegt, und starrte mich an. Meine schuldlose Seele musste aber wohl als Gegengift gegen diesen Blick wirken, denn ich hielt ihn ganz gut aus.

Mudrach fasste sich schnell, legte mir die Hand auf den Kopf und sagte, indem er die andre Hand in die Brustfalte versenkte und mit hoch erhobenem Kopfe und halb gesenkten Lidern auf mich herniedersah: »Der Jung hat ein gut Gewissen. Der Jung hat sozusagen ein ganz furchtbar gutes Gewissen! Ja, aber nämlich: bei Puttfarken – bei dem berühmten Einbrecher Puttfarken, als ich den festnahm, da war das anders. Uns war verraten, dass er abends im Schummern manchmal zu Kaufmann Bauch am Luisenplatz käm‘, um sich da sozusagen was zu kaufen, natürlich nämlich verkleidet und mit ’ner Perücke auf und einem sehr schön gemachten falschen Bart, und sah aus sozusagen wie ’n Ackerbürger. Wir hatten nämlich sein Signalement und alles. Ich nehm‘ mir also einen Kollegen mit, der setzt sich in eine dunkle Ecke zwischen die Heringstonnen, und ich ging nämlich in Herrn Bauch sein kleines Kontor, wo man sozusagen durch das Fenster in den Laden kucken kann. Ja, nämlich, sozusagen. Und richtig, so gegen sechsen, als es schummerte, da war er da und wollt ’ne Flasche Rostocker doppelten Aquavit haben, was nämlich sozusagen ein ganz famoster Schnaps ist.«

Hier nickte Püttelkow beistimmend und wiederholte mit dem Brustton tiefster Überzeugung: »Ganz famoster Schnaps!«

Mudrach aber fuhr fort: »Herrn Bauch sein Commis aber, der natürellemang Bescheid wusste, der musste gerade einer alten Frau ein Mass Sirop eingiessen und kriegte so das Zittern, dass er ’n grossen Pol Sirop auf die Erde goss. Und als Herr Bauch nu mit grosser Geistesgegenwart darüber schimpfte, und es war ihm in diesem beängsterlichen Augenblick doch um das bisschen Sirop gar nicht zu thun, da hustete ich, sozusagen. Nämlich das war das Zeichen, was wir verabredet hatten. Da wutschte mein Kollege ganz fix zwischen den Heringstonnen heraus und stellte sich vor die Ladenthür, und ich kam aus dem Kontor heraus und ging gerade auf Puttfarken los und sagte: ›Puttfarken, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!‹ Und Puttfarken kuckte schnell nach der Thür, wo aber mein Kollege stand, den er wohl kannte, und hinter der Tonbank da stand Kaufmann Bauch und hatte in der einen Hand ’n Hammer und in der andern das Zuckermesser, als wollt‘ er sein Leben teuer verkaufen, und der Commis hatte das grosse Käsemesser in der Hand, und dazu klapperten ihm die Zähne sozusagen ganz erbärmlich. Die alte Frau aber schrie: ›Huch!‹ und liess den Siropstopf fallen, und der Sirop trieb aus, dass Puttfarken in einen süssen braunen See zu stehen kam. Und nun fing ich nämlich an zu kucken, na, wie ich sozusagen kucken kann. Und als ich nun so kuckte, da wurd‘ Puttfarken so weiss wie Milchsuppe und so sanft wie ein Sauglamm und liess sich die Handschellen anlegen un sagte bloss: ›Na, denn helpt dat nich.‹ Und alle sagten, so hätten sie mich noch nie kucken sehen. Ja, nämlich, sozusagen.«

Mir imponierte diese Geschichte ungeheuer, aber warum es so lustig um Onkel Philipps Mund zuckte, und warum selbst über das ernsthafte Gesicht Herrn Wohlands ein seltsamer Schein von Heiterkeit ging, verstand ich damals nicht recht.

Mudrach aber fuhr fort: »Auf die Art geht das nun hier natürlich nicht, aber ich hab‘ schon meinen Plan. Nämlich, wir müssen die Spitzbuben sozusagen in flagranti attrapieren. Driebenkiel hat nämlich einen Kuhfuss bei sich. Kuhfuss ist sozusagen ein gerichtlicher Kunstausdruck für Brecheisen. Dieser besagte Kuhfuss ist ein indicium und sozusagen ein corpus delicti, denn was hat er mit einem Kuhfuss in fremde Häuser zu gehen? Nämlich, also mit diesem Kuhfuss kann Driebenkiel nun aber barbarisch hauen, noch dazu, da er so stark ist, und wo so ein Kuhfuss auf den härtesten Dickkopf niedersaust, da ist der sozusagen zu Mus. Wir kennen nun aber ganz genau den Plan von den Spitzbuben, und da müssen wir sie arretieren in dem Augenblick, wo Driebenkiel den Kuhfuss abgelegt hat, und das ist, wenn er auf das Bett losstürzt, denn dann braucht er seine beiden Hände. Er hat ja selber gesagt, dass er den Kuhfuss dann beiseite stellen will. Und nun kommt nämlich das Feine von meinem Plan, was ich mir eben erst ausgedacht habe. Ich hab‘ zwar mit meinem Kollegen Püttelkow noch nicht darüber gesprochen, aber ich glaube doch, dass er es sich zur Ehre anrechnen wird, die Rolle zu spielen, die ich ihm zugedacht habe, auch wenn vielleicht, sozusagen, ein bisschen Gefahr dabei sein sollte.«

Hier wurde Püttelkow sehr aufmerksam und hellhörig, fing an pränumerando etwas stolz auszusehen und zog seine beiden Backenbärte mit seinen grossen, dicken und knochigen Händen auseinander.

Mudrach sah ihn eine Weile von oben herab prüfend an und sagte dann: »Püttelkow wird sich nämlich in Herrn Wohlands Bett legen. »Wenn dann Driebenkiel auf ihn losstürzt und ihn an der Gurgel packen will, dann wird Püttelkow ihn gefasst kriegen wie ein Schlachterhund, sozusagen, und Jochen Nehls, den nehm‘ ich dann auf mich.«

Püttelkow schien diesem Vorschlage nur geringen Beifall zu schenken. Er fasste mit den Fingern in seine Halsbinde, als fühle er dort schon den schrecklichen Gurgelgriff, zog die Unterlippe hoch, die Nase kraus und die Augenbrauen zusammen, kurz, er sah aus, wie ein Mensch, der gezwungen wird, einen sehr grossen Löffel voll Chinin einzunehmen. Dann bewegte er langsam seinen Kopf hin und her, dass die Glanzlichter auf seiner Glatze gar lieblich wechselten. Er schien damit andeuten zu wollen, dass die Phantasie seines Kollegen gar widerliche und verdriessliche Wege eingeschlagen habe. »Nee, o nee!« sagte er ganz kläglich, »wenn der mich erst an der Gurgel hat! Nee, o nee! Ein Kerl, der Hufeisens grad biegen kann, Das ist kein Plan nich! Nee, o nee!«

Onkel Simonis meinte ebenfalls, dass, wenn der Dienst der Gerechtigkeit auch zuweilen Opfer fordere, man doch niemand zumuten dürfe, seinen Hals zu solchen gewagten Experimenten herzugeben. Nun griff aber Herr Wohland an die Wand, wo seine frischgeladenen doppelläufigen Pistolen hingen, nebst andern Waffen und Jagdgeräten, nahm eine der Pistolen herab und sagte, indem er auf die beiden Polizisten deutete: »Wir drei … versteckt im Zimmer. Wenn er hereinkommt; Blendlaternen auf. Ich sage: ›Steht, oder ich schiesse.‹ Festnehmen! Abgemacht! Der Kerl weiss, dass ich auf fünfundzwanzig Schritt ins Schwarze treffe.«

»Sehr schön,« sagte Mudrach, »ganz famoster Plan, sozusagen, natürellemang ganz famost, aber gut ist es nämlich doch, wenn ihn dann schon jemand fest hat.«

Er hatte indessen fortwährend seinen Blick auf die Jagdgeräte gerichtet, unter denen sich auch Hundehalsbänder befanden, und plötzlich verklärten sich seine Züge.

»Ich hab‘ ’ne Idee,« rief er, »eine Idee, die ist sozusagen noch famoster als famost!« Damit langte er eines jener breiten, ledernen Hundehalsbänder herab, die ringsum mit spitzen Stacheln besetzt sind, und schnallte es ohne weiteres seinem Kollegen um.

Dieser sträubte sich anfangs zwar ein wenig, liess sich aber schliesslich, hochrot und sehr widerwillig, diese That gefallen.

»Passt wie angegossen!« rief Mudrach, schob die Hand in seine Brustfalte, und indem er hochaufgerichtet mit grossartiger Handbewegung auf Püttelkow hindeutete, fügte er hinzu: »Nämlich, nun soll Driebenkiel es, sozusagen, wohl lassen, ihm an die Gurgel zu springen. Hand von der Butter! Angtreh verboten! Ja, nämlich, sozusagen!«

Man musste sagen, diese Tracht kleidete Püttelkow bei seinem Bulldoggengesicht ganz vorzüglich, und als er sich mit dieser Schutzvorrichtung im Spiegel gesehen hatte, willigte er nach einiger weiterer Überredung zögernd ein, sich in dieser von Mudrach vorgeschlagenen Weise als Köder in der Einbrecherfalle benutzen zu lassen.

In diesem Augenblicke klopfte es, und Wahmkow trat herein, nebst Mamsell Kallmorgen, die eine brennende Lampe brachte, denn es dämmerte schon stark. Als sie sich wieder entfernt hatte, stattete Wahmkow Bericht ab. Er hatte Stina in ihr Dorf hinübergerudert, und alles war nach Wunsch gegangen. Driebenkiel hatte ihr richtig aufgelauert, und Stina hatte ihre Sache ausgezeichnet gemacht. Wahmkow hatte beobachtet, dass sich Driebenkiel nachher heimlich die Hände gerieben hatte. Er war offenbar mit dem vermeintlichen Tode des Hundes sehr zufrieden und betrachtete diesen Zufall als eine besondere Gunst des Glücks. Dann war Wahmkow wieder abgefahren in der Richtung nach seinem heimatlichen Dorfe zu, hatte aber hinter dem nächsten Landvorsprung seinen Kurs geändert und war nach dem Uhlenberg wieder zurückgekehrt, um Bericht abzustatten.

»Watmaken winu äwer mit den Hund?« fragte Wahmkow.

»Wieso?« fragte Herr Wohland.

»Dei Hund makt doch Lärm!« sagte Wahmkow. »Wenn hei ’s abens nich vonne Kär‘ kümmt, as hei dat gewennt is, denn hult hei in einsen weg. Un wenn dei Kierls kamen, denn fangt hei an tau wuffen, wenn sei noch up’t Water sünd. Un hei sall doch ’n dorigen Hund sin. Meinen Sei, dat Driebenkiel denn nich Müs‘ markt? Ick will Sei wat seggen, Herr Wohland, ick nehm‘ den Hund mit. Hei geiht jo giern mit mi, hei is jo ok all mal mit mi wäst, as dei Herr mi na den Bornaschen Hof schickt hett, in ’n verladen Austmand. Dat best is, ick führ glicks mit em af.«

Wahmkows weiser Gedanke fand grossen Beifall, denn merkwürdigerweise hatte niemand, auch der grosse Kriminalmann Mudrach nicht, daran gedacht, dass der Hund, wenn er auf der Insel blieb, natürlich alles verraten würde.

Als nun Wahmkow mit ihm abgefahren war, geschah etwas, was ich schon den ganzen Tag gefürchtet hatte, denn Onkel Philipp sagte zu mir: »So, mein Sohn, ich bleibe hier, bleibe selbstverständlich hier, aber du machst dich sofort auf und fährst mit Hinrich nach Hause, ehe es ganz Nacht wird. Du bist hier ganz überflüssig und nur im Wege, und die Eltern ängstigen sich sonst um dich. Deine Mutter ängstigt sich jetzt schon, das weiss ich, weiss ich ganz bestimmt. Also Adieu gesagt und dann munter vorwärts.«

Ich wusste, wenn Onkel Philipp so sprach, da gab es keine Widerrede, und mit tiefer Trauer im Herzen verabschiedete ich mich. Herr Wohland drückte mir kräftig die Hand.

»Tapfrer Junge«, sagte er, »nie vergessen.«

Ich ging auch zu Mamsell Kallmorgen, um ihr Adieu zu sagen, und sie liess es sich nicht nehmen, mir noch ein ungeheures Butterbrod mit Schinken als Reisevorrat mitzugeben: »Und denn adjö, mein süssen Jung«, sagte sie, wobei ich nur froh war, dass isern Hinrich es nicht hörte, dass sie süsser Junge zu mir sagte, »un komm gut nach Hause! Weisst du, was du von uns büst, von Herrn Wohland un mich? Ein Retter, ein Retter, von Gott gesandt, as ins Gesangbuch steht. Igittegittegitt, wenn ich an den gräsigen Driebenkiel denk‘ und an sein Mundzustopfent denn steht mich ümmer noch vor Angst das Herz still. Aber nu is Herr Mudrach ja da, szuden hab‘ ich solches Szuvertrauent, das ist ein grossartigen Mann un hat so furchtbar viel Kurakter, der wird die infamtigen Kerls schon Moritzen lernen. Un denn, mein süssen Jung, grüss auch dein lieb Mudding von mich. Ich kenn ihr ganz gut, sie war ümmer so sanft un so solide un so furchbar gemütvoll. Un denn macht mich kein dumm Zeug aufs Wasser und wiwagt nich ümmer so mit die Boot. Gott nee, ich weiss nich, wie einen überhaupt so was Spass machen kann; mich stehen die Haare zu Berg, wenn das Wiwagen losgeht. Aber in so’n Jung, wenn es auch solchen netten, süssen Jung is, as du einen büst, mein Reinharding – ein Stück Deubel sticht da doch ümmer ein. Na adjö, adjö, un grüss auch ja dein lieb Mudding!« Und damit beugte sie sich nieder und gab mir einen so ungeheuren Kuss, dass sparsame Leute daraus ein Dutzend gemacht haben würden.

Ich wischte noch an diesem Abschiedsgeschenk, als ich bei isern Hinrich ankam, der auf dem Stege sass und mit grosser Begeisterung durch die Zähne pfiff. Er hatte diese Sorte von musikalischer Begabung erst heute bei dem langen Warten, zu dem er mehrfach gezwungen war, bei sich entdeckt und pflegte diese ungewohnte Kunst mit einer Art von berauschter Hingebung, indem er bestrebt war, seinen ganzen Melodienschatz auf diese neue Art von sich zu geben. Er war gerade dabei, das schöne Lied zu pfeifen von dem Bauern, der immer so sauer aussah.

»Uns Buer, uns Buer!
Worum süht hei so suer ut, so suer ut,
Uns Buer?
So süht er von Natuer ut, Natuer ut,
Uns Buer!
Dei beste Melk, dei beste Melk,
Uns Buer!

Un kiek, nu argert sick dei Mann,
Das hei nich Bodder melken kann.
Dorüm süht hei so suer ut, so suer ut,
Uns Buer!«

Er liess sich gar nicht stören und pfiff erst sein Lied zu Ende. Dann sagte er: »Dörch dei Tähnen. Heww’k hüt ierst liehrt. Geht fein.«

Und dann fing er gleich wieder ein andres Lied an:

»Wenn dei Hund mit de Wust ut’n Steinduhr löppt
Un dor den hungrigen Leutnant dröppt,
Denn is dei Leutnant ok nich ful
Un ritt den Hund dei Wust ut’t Mul!«

Er hätte mir noch weit mehr Musikalisches zum Besten gegeben, allein ich unterbrach ihn mit der Nachricht, dass wir nach Hause fahren sollten, was ihn sehr überraschte und ihm nicht recht war, denn er hatte ebenso wie ich gehofft, bei dem grossen Ereignis heute abend zugegen sein zu dürfen.

Hinrich hatte einen guten Gedanken. »Ick will di wat seggen«, meinte er, »wi nehmen jug oll Jöll tau ‚t Na-Hus-führen und leggen dissen Kahn hier achter dei annern, dei hier liggen. Wenn dat denn ok all düster is, den Albatros kenn’n dei beiden Spitzbauben tau gaud, un wenn s‘ dei oll Jöll tau seihn kriegen dauhn dehren, denn keem ehr dat am En’n nich richtig vör.«

Dieser Gedanke leuchtete mir ein, und nachdem wir nach isern Hinrichs Vorschlag gehandelt hatten, fuhren wir ab. Ich hatte unterwegs natürlich genug zu erzählen, und da isern Hinrich auch dabei nicht seine neuerwachte Kunstbegeisterung zu dämpfen vermochte, so bekam unsre Unterhaltung einen ganz melodramatischen Anstrich, denn wenn ich von Mudrachs Augen schwärmte, wo er so furchtbar mit kucken konnte, da pfiff isern Hinrich sehr lieblich durch die Zähne: »Du hast ja die schönsten Augen«, ein Lied, das damals gerade in Begleitung der Drehorgel auch in die abgelegensten Winkel gedrungen war. Und als ich von Stinas Rolle in diesem Drama erzählte und von dem Tanzvergnügen, dem sie am. Sonntag beiwohnen wollte, da tönte es gar fein zwischen seinen Zähnen:

»Hans kiek ut ‚e Luk, is ‚e Luft ok rein,
Morgen woll’n wir lustig sein!«

Und als ich von dem grossartigen Plan mit dem Stachelhalsband erzählte, den Mudrach sich ersonnen hatte, um Driebenkiel sicher zu fangen, da pfiff er wieder in beziehungsvoller Anspielung auf den durchlöcherten Plan der beiden Spitzbuben:

»Und wenn dei Pott ’n Lock hett,
Min leiwer Heinerich, min leiwer Heinerich!«

So merkten wir denn kaum bei dieser sinnreichen Unterhaltung, wie lang der Weg nach Hause war.

Ich wurde schon ängstlich erwartet, und da Adolfs Eltern mit ihm bei den meinigen zu Besuch waren, so musste ich natürlich wieder ausführlich von dem Fortgang dieses Abenteuers berichten. Nach dem Abendessen aber, das sich etwas in die Länge gezogen hatte, als die Väter mit ihren beiden Frauen beim Whist sassen, da schlichen wir uns heimlich hinaus in den Garten, denn wir wollten wenigstens das von diesem entscheidenden Abend haben, Jochen Nehls abfahren zu sehen. Wir kletterten zu meinem Hochsitz in der Linde empor, wo man die Seebucht zum grossen Teil übersehen konnte, und starrten hinaus in die schweigende Nacht. Es war ganz still; nur vom Dorfe aus hörte man zuweilen Stimmen und Hundegebell. Die Seebucht lag vor uns, fast ganz schwarz von den Schatten der Uferbäume; nur in der Mitte spiegelte sich der sternklare Himmel in einem helleren Streifen wider.

Diesen Streifen musste Jochen Nehls irgendwo passieren, wenn er den Ort seiner Bestimmung erreichen wollte. Aber alles blieb still, nur zuweilen sprang plätschernd ein Fisch, oder aus dem Uferrohr kam ein leichtes Geraschel und ein traumhaftes Gezwitscher schlafender Vögel. Endlich schlug die Uhr am Giebel des Herrenhauses mit gellendem Tone zehn. Sie ging allerdings wie die Uhren auf dem Lande, besonders zur Erntezeit, immer viel zu früh.

Es blieb immer noch still, und nichts rührte sich, nur bemerkten wir, dass in dem Katen, wo Jochen Nehls wohnte, ein kleines erleuchtetes Fenster plötzlich dunkel wurde. Wir horchten und lauschten wohl fünf Minuten lang angestrengt. Einmal war es uns, als hörten wir den dumpfen Ton schwerer Stiefeln auf einem Kahnboden und dann wieder von Zeit zu Zeit ein leises Plätschern. Wenn Jochen Nehls schon unterwegs war, so musste er sein Ruder mit Lappen umwickelt haben, sonst hätte man bei der grossen Stille das Rucksen in den Dollen deutlich hören müssen.

»Da, da!« flüsterte Adolf Martens plötzlich, indem er krampfhaft meinen Arm presste und mit der anderen Hand auf den See zeigte.

An einer Stelle, wo der hellere Teil der Bucht besonders schmal war, glitt ein niederer schwarzer Streifen dahin, in der Mitte mit einer dunkeln Erhöhung, die sich taktmässig hin und her bewegte. Wir hörten nichts als zuweilen ein leises Plätschern von tropfendem Wasser, und bald war die Erscheinung wieder im schwarzen Schatten der Bäume verschwunden. Wir hatten die Empfindung, als kröche ein seltsam unheimliches Tier in aller Stille auf Raub aus.

Wir lauschten noch eine Weile und stiegen dann von unsrer Warte wieder herab. Den Eltern aber, die behaglich an ihrem Whisttische sassen, verkündeten wir mit grosser Aufregung: »Es geht los, wir haben Jochen Nehls eben abfahren sehen!«

Wir konnten am anderen Morgen kaum erwarten, dass Onkel Philipp zurückkehrte, und standen stundenlang auf dem Stege, um nach ihm auszuschauen. Nach der Kirche eilten wir gleich wieder nach diesem Orte, allein noch immer wollte sich nichts zeigen. Endlich gegen zwölf Uhr sahen wir seinen Kahn an der fernen, vorspringenden Rohrecke, und wir sprangen sofort in unsre Jolle, um ihm entgegenzufahren. Wahmkow ruderte den Kahn, und als wir ihn erreicht hatten, hingen wir unser Fahrzeug hinten an und stiegen zu dem Onkel hinein.

Er sah mit Lächeln, wie wir neugierig auf ihn hinstarrten und die Begier nach neuer Zeitung aus unsern Augen sprach.

»Wär‘ ich nun der selige Joachim Heinrich Campe«, sagte er, »so würdet ihr jetzt gar nichts andres zu hören bekommen, als einen prachtvoll lehrreichen Vortrag über den Wert der Tugend und den bildenden Einfluss kraftvoll bezähmter Neugier, ja, das würdet ihr. Da ich aber der selige Joachim Heinrich Campe nicht bin, so will ich euch nur gleich sagen, dass wir die Kerls haben. Intus auf Numero Sicher. Wie das zuging, fragt ihr wohl? Programmmässig, durchaus programmmässig. Nur dass ich mir auch noch eine von den doppelläufigen Pistolen ausbat. Herr Wohland auf der einen Seite des Bettes hinter einem Schrank, ich auf der anderen Seite hinter einem Vorhang versteckt, Püttelkow drin als Lockspeise mit dem Hundehalsband und Mudrach in meiner Nähe hinter der geöffneten Thür. Herr Wohland und ich hatten ausser den Pistolen die beiden wohlverschlossenen Blendlaternen. Da wir uns schon früh bereit stellten, so war das Warten im Dunkeln sehr langweilig, ganz unbeschreiblich langweilig, da wir uns natürlich nicht unterhalten durften. Die Zeit schlich und schlich und kam nicht aus der Stelle, eine Schnecke war ein Schnellläufer dagegen.

»Endlich schlug es elf auf Herrn Wohland seiner grossen Wanduhr. In der grossen Stille hörte man eine Menge Geräusche. Bald war es wie ein leises Knirschen auf dem Kies, bald knackte es hier, bald raschelte es da, und allmählich wurde mir sehr unheimlich zu Mut, grauenhaft unheimlich. Ich kam mir vor wie ein Jäger, der in den indischen Dschungeln im Dunkeln auf einen Tiger lauert, der unhörbar heranschleicht. Ich fing an, Gestalten zu sehen und Geräusche zu hören, die gar nicht da waren. So verging scheinbar eine unendliche Zeit, da hörte ich plötzlich ein deutliches Geräusch, einen knirschenden Ton wie von Eisen, das sich an Mauerwerk reibt. Es war wie eine Erlösung, ja wahrhaftig, wie eine Erlösung, denn offenbar, nun ging es los. Trotzdem hämmerte mein Herz furchtbar, so dass ich es hören konnte, und zugleich durchfuhr mich ein jäher Schreck, denn es tastete etwas an meinem Arm, und eine eiskalte Hand drückte die meine. Gott sei Dank, es war nur Mudrach. ›Aufgepasst!‹ flüsterte er. Dann kam wieder ein Geräusch wie ein sanftes, singendes Knarren einer Thür, die ganz langsam und vorsichtig geöffnet wird, und dann plötzlich wieder Totenstille. Nach einer Weile fuhr ich plötzlich zusammen, denn im Nebenzimmer knarrte eine Diele, und dann gab es einen leichten Ruck, als wenn jemand gegen einen Stuhl stösst. Wieder eine Weile Totenstille, und nur das Sieden des Blutes war in meinem Ohr. Dann huschte der feine Lichtstrahl einer nur wenig geöffneten Blendlaterne über den Fussboden und blieb auf Herrn Wohlands Bett haften. Es war nur ein Moment, aber ich konnte deutlich Püttelkows rotes Gesicht erkennen und sah, dass er, um seine verdächtige, blanke Glatze zu verhüllen, einen Zipfel des Kopfkissens darüber gezogen hatte. Was natürlich sehr vorsichtig und schlau von ihm war ausserordentlich schlau, denn Herr Wohland hat noch sein volles Haar, und bei Tage würde selbst ein Wombat diese beiden Männer nicht miteinander verwechseln, Ein Wombat, sage ich, denn dieser ist das dümmste Tier, das es auf der Erde giebt. Ein Esel ist ein Schlaukopf dagegen.

»Dieser Lichtblitz aber dauerte nur einen Moment, und es war wieder dunkel. Gleich darauf aber vernahm ich etwas wie einen tigerhaften Sprung und ein Tappen hinterher und gleich darauf den Ausruf Driebenkiels: ›Au, verflucht!‹ Er mochte wohl in unliebsame Berührung mit dem Hundehalsband gekommen sein. Doch sofort hinterher fing Püttelkow furchtbar an zu brüllen mit einer Kraft und Stärke, die ich dem kleinen Kerl gar nicht zugetraut hätte: ›Ich hab‘ ihm, ich hab‘ ihm! Hilfee! Hilfee!‹ Und so brüllte er unausgesetzt, und es klang so angstvoll und schrecklich, als wenn Driebenkiel »ihm« hätte. Dies alles ging aber viel schneller, als man erzählen kann, denn in demselben Augenblicke hatte auch schon Herr Wohland die Blendlaterne aufgerissen und rief: ›Steh‘ Hund, oder ich schiesse!‹, und ich hatte ebenfalls meine Blendlaterne aufgerissen und rief auch: ›Steh‘ Hund, oder ich schiesse!‹ Und gleichzeitig hatte Mudrach die Thür zugeschlagen und verriegelt und seine Augen aufgerissen und ging mit seinem allerfurchtbarsten Blick auf den Einbrecher zu und sagte: ›Driebenkiel, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!‹

»Dieser aber konnte ihn garnicht sehen, denn Püttelkow hatte ihn mit den Armen wie mit eisernen Klammern umfasst, und da Driebenkiel mit der Schulter gegen das stachelspitzige Halsband gedrängt wurde, so schrie auch dieser mordsmässig und das ganze Bett war ein Gemisch von zappelnden Beinen und Gebrüll. Um Jochen Nehls aber bekümmerte sich niemand, und es war auch nicht nötig, denn er war vor Schreck ganz erstarrt, und nur seine Kniee zitterten beträchtlich. Sein Gesicht sah erdgrau aus bis auf die Nase, die ihr mit so viel Ausdauer erworbenes schönes Blaurot auch in diesem Augenblick nicht verleugnete. Da nun Mudrach die fascinierende Gewalt seines Blickes nur an Driebenkiels Hinterseite ausüben konnte und diese naturgemäss dafür unempfänglich war, so fasste er sich schnell und ging an seine Arbeit, und es gelang ihm auch mit Hilfe seines Kollegen, Driebenkiel zu fesseln, was dieser sich auch mit einem Ausdruck der Missachtung von Gesetz und Recht und der noch grösseren Verachtung ihrer Diener gefallen liess. Musste er sich auch wohl gefallen lassen, musste er wohl, denn der Ueberredungskraft zweier auf ihn gerichteter Doppelpistolen konnte auch sein gestähltes Herz nicht widerstehen. Bei Jochen Nehls machte die Sache gar keine Mühe. Er liess sich ruhig die Handschellen anlegen und sagte nur zu seinem Gefährten:

›Dei Lerre, dei Lerre! Ick heww dat hüt gliek seggt; dat dei Lerre wedder dor wir, dat geföll mi nich.‹

Unterdes nun hatte Mudrach sich hoch aufgerichtet und liess die ganze Kraft seiner Augen gegen den gefesselten Driebenkiel spielen. Dieser aber, dessen gestählte Verbrecherseele für solches Geschütz unempfänglich war, sprach schändliche Worte :

›Wat rittst din Kalwsogen up? Dor mak oll Wiwer mit grugen. Wiren dei Herren nich wäst mit dat Scheittüg, denn wir ick mit jug beiden Grashüppers woll noch farig worden, dor harr mi Jochen Nehls, dei olle Nusch, gar nich bi tau helpen brukt. Gah hen un jag Sparlings ut ‚e Arften mit din Glupogen – dor sünd s‘ gaud naug tau.‹

»Mudrach wandte sich mit erhabener Gebärde verachtungsvoll ab, und die beiden gefesselten Einbrecher wurden nun in einen festen Keller mit eisenbeschlagener Thür gebracht, wo sie es sich auf einer Schütte Stroh für die Nacht bequem machen konnten.

»Herr Wohland mochte aber wohl denken, dass nach solchen aufregenden Thaten für uns alle eine Herzstärkung erwünscht sein möchte, und ging mit seiner Laterne, als wir von dem Keller zurückkamen, aus der Hausthür über den Hof zum Nebengebäude. Ich blieb in der Hausthür stehen. Er fasste an die Klinke, die Thür war verschlossen. Als er kräftig klopfte, blieb alles still. Er schlug mit der Faust drei kräftige Schläge gegen die Thürfüllung und nun regte sich endlich etwas. Mamsell Kallmorgen musste wohl denken, als nach Püttelkows grausigem Geschrei endlich Ruhe eingetreten war, die schrecklichen Räuber hätten uns besiegt, und es käme nun an sie die Reihe. Mit unendlich kläglicher und jammervoller Stimme wimmerte sie hinter der geschlossenen Thür: ›Ach lieber Herr Driebenkiel, haben Sie doch Erbarment! Ich hab‘ Sie ja nie nich was gethan. Un was hab‘ ich Sie ümmer für schönes Essent gekocht!‹‘

»Herr Wohland wurde ungeduldig und schlug noch einmal heftig gegen die Thür: ›Unsinn, Aufmachen! Ich bin es!‹ rief er. Die alte Mamsell war aber so perplex, dass sie seine Stimme nicht erkannte. Sie that einen grossen Jammerschrei und wimmerte weiter.

»Ich will Sie ja allens geben, allens, was Sie haben wollen. Ich will Sie allens hier durch das Katzenloch ‚rausschieben, den Strumpf mit mein bischen Geld un meine sechs sülvernen Esslöffels un meine sechs sülvernen Theelöffels un meine sülverne Zuckerdos‘ un mein’n sülvernen Rohmguss. Un meine Bernsteinkrallen un meine golne Brosch‘ un mein’n golnen Ring mit das Vergissmeinnicht un mein’n sülvernen Fingerhut. Ach, haben Sie doch man bloss Erbarment!‘

»Na, Herr Wohland wurde nun ganz ärgerlich und fing an zu schelten, und da erkannte sie endlich seine Stimme und schloss auf, und als sie hörte, dass die Spitzbuben gebunden im Keller lägen, da fiel eine grosse Last von ihr ab, und ich glaube, wenn sie nicht ausserdem noch drei Zentner schwer gewesen wäre, sie hätte gehüpft und gesprungen. Und dann machte sie nach Herrn Wohlands Anleitung einen prachtvollen Punsch von altem Burgunder und uraltem Jamaikarum, sanft wie Öl und feurig wie die Hölle. Ich sage euch, die beiden Polizisten haben davon gesogen wie die Blutegel, denn so ein liebliches Gretränk war ihnen wohl noch nicht vorgekommen, und als um zwei Uhr die Bowle leer war und sie abzogen, ihre Gefangenen zu bewachen, da redeten sie mit fremden Zungen. Sie setzten sich auf zwei Stühle an beiden Seiten der Kellerthür und wachten so kräftig, dass man ihr Schnarchen durch das ganze Haus hören konnte. So sagte mir heute morgen Herr Wohland, der die ganze Nacht nicht zu Bette gewesen ist und das eigentliche Wachen besorgt hat. Heute morgen sind sie denn mit den beiden Gefangenen abgezogen, Herr Wohland hat sie selbst hinübergerudert nach dem nächsten Dorf, und dort haben sie einen Wagen genommen. Jetzt sitzen die beiden Schufte wohl schon sicher hinter eisernen Gardinen, wo sie hingehören.«

So erzählte Onkel Philipp, und wir vernahmen mit Behagen den glücklichen Verlauf dieses Abenteuers. Für uns hatte es noch angenehme Folgen, denn wir waren natürlich für lange Zeit die Helden des Tages. Wir kamen sogar in die Zeitung, und Lorbeer flocht sich um unsre Stirn. Wir aber freuten uns, in die Lage gekommen zu sein, Herrn Wohland, der uns damals aus dem Wasser gezogen hatte, diese That zu vergelten und ihn vor verdriesslichen Schicksalen und empfindlichen Verlusten zu bewahren. Dieser aber schien, als er die Bilanz unsers gegenseitigen Sollens und Habens zog, noch ein Saldo zu unsern Gunsten entdeckt zu haben, denn nach vier Wochen kam aus Hamburg ein wundervolles Segelboot für uns an, dessen Geber sich nicht nannte. Es hiess auch Albatros, verdiente aber seinen Namen mit mehr Recht als sein Vorgänger, denn es flog vor dem Winde daher wie ein Sturmvogel. Als wir zum erstenmal bei einer frischen Brise damit den Uhlenberg umsegelten, geschah etwas, was wir noch nie erlebt hatten. An der Fahnenstange des Schlösschens, die über die höchsten Wipfel emporragte, stieg die Seeflagge unsers Landes empor und salutierte uns dreimal. Zugleich donnerten drei Kanonenschläge über den See hinaus und verhallten allmählich in fernen und ferneren Buchten.

I.

Mein Freund Adolf Martens und ich können wohl sagen, dass wir unsere Knabenjahre an und in und auf dem Wasser verbracht haben. Von dieser Zeit würde wenig zu erzählen sein, wollte man den »See« aus ihr streichen, an dessen Ufern wir als kleine Knaben die bewunderungswürdigsten Hafen- und Kanalbauten ausführten, in dessen Gewässern wir später wie die Fischottern herumschwammen, in dessen stillen Buchten wir Barsche angelten und Krebse griffen. Einsame waldige Inseln lagen in ihm, selten nur von eines Menschen Fuss betreten und wohl geeignet, dort fremde Länder zu entdecken und die Schauer unberührter Einsamkeit zu empfinden; in seinen mächtigen Rohrbreiten nisteten die Wasservögel in ungezählten Scharen, und wenn ich an das Geknarre und Geschwätz der Rohrsänger denke, das diese raschelnden Wälder erfüllte, so gellt es mir noch heute in den Ohren.

Das Kirchdorf Steinhusen, in dem wir wohnten, lag an einer Bucht dieses Sees; der Vater meines Freundes Adolf Martens war Gutsbesitzer und mein Vater, Eberhard Flemming, Pastor dort. Die grossen Gärten der beiden Häuser grenzten aneinander und an den See; wir beiden Knaben waren in einem Alter, genossen denselben Unterricht und waren darum naturgemäss Gespielen, um so mehr, als wir auch in vieler Hinsicht einerlei Meinungen und Liebhabereien hatten.

Eine alte, morsche Jolle war vorhanden, die wir als unsern grössten Schatz betrachteten, obwohl sie Wasser zog und einer von uns mit der Wasserkelle fortwährend »lenzpumpen« musste, wenn wir sie benutzen wollten. Denn, obwohl der Rademacher sie alljährlich flickte, so gut er es verstand, und ob wir sie auch mit grossem Eifer und mit Werg und Teer kalfaterten, so war ihr die Unart, sich allmählich vollzutrinken, nicht mehr abzugewöhnen, wie das ja auch bei Menschen vorkommt, die sich an den Genuss gewisser Flüssigkeiten gewöhnt haben. Dass dieses Fahrzeug sach- und fachgemäss aufgetakelt gewesen wäre, konnte man auch nicht sagen, aber es hatte einen Mast und ein altes geflicktes Segel, und wenn man Geduld und Zeit hatte, konnte man überall damit hinkommen, und das genügte uns. Wir waren auch von seinen Vorzügen so überzeugt, dass wir es auf den pomphaften Namen Albatros getauft hatten, der, mit Ölfarbe hingemalt, an Bug und Heck prangte, obwohl die Bezeichnung Wasserschnecke den wirklichen Eigenschaften dieses alten Wrackes besser entsprochen haben würde als irgend eine andre.

Eines Sonnabends in den grossen Ferien hatte sich in der Familie meines Freundes Adolf Martens ein starkes Bedürfnis nach Krebsen herausgestellt, denn zum Sonntag wurde Besuch aus der Stadt erwartet, der diese köstlichen Leckerbissen besonders schätzte, und so wurde uns der willkommene Auftrag, eine genügende Menge dieser wohlschmeckenden Panzerträger herbeizuschaffen. In einer etwa eine Meile entfernten, sehr steinreichen Seebucht, wo sie reichlichen Unterschlupf fanden, gab es eine Menge dieser Tiere, und dieses Ortes Gelegenheit wollten wir wahrnehmen. Es war ein sehr heisser Morgen, dessen Glut aber ein leichter Wind angenehm milderte. Dieser Wind hatte eine zweite vortreffliche Eigenschaft dadurch, dass er »halb« war zu unserm Kurs und uns des lästigen Gebrauches der Riemen für die Hin- und auch für die Rückfahrt überhob, vorausgesetzt, dass er anhielt oder seine Richtung nicht änderte. Wir machten deshalb, mit trefflichem Proviant von Herrn Martens »Mamselling« versehen, guter Hoffnungen voll, den Albatros klar und gingen unter Segel. Während wir nun bei dem leichten Winde im langsamen Schritt dahinsausten, wie man von dem Fuhrwerk meines Grossonkels zu sagen pflegte, der seine Pferde allzusehr schonte, sass Adolf Martens am Steuer, während ich von Zeit zu Zeit die Wasserkelle kräftig handhabte, denn der Albatros hatte wegen der grossen Sommerhitze einen mehr als gewöhnlichen Durst.

Der langgestreckte, buchtenreiche See hatte in dieser Gegend in seinem mittleren Teile eine Landerhebung, die sich wohl dreiviertel Meilen weit erstreckte und sich an manchen Stellen nur als eine stellenweise mit Rohr bewachsene Untiefe dem Auge zeigte, an ihren höchsten Punkten aber in drei hintereinander liegenden Inseln über den Wasserspiegel hervorragte. Die erste dieser Inseln, die zu dem Gute des Herrn Martens gehörte, schätzten wir sehr, und obwohl sie Rosenwerder hiess, nannten wir sie nur die Robinsonsinsel, denn unser Traum war, dort einmal einige Wochen gleich Robinson und Freitag in der Einsamkeit zu leben. Zu diesem phantastischen Plane hatten wir aber die höhere Einwilligung bis jetzt leider nicht erreichen können. Die zweite Insel, an der unsre Fahrt vorüberging, war nur klein und bestand zum grossen Teil aus Wiesenland. Auf ihrem höchsten Punkte, der nur wenige Meter über den Wasserspiegel emporragte, lag unter einer uralten Weide zwischen allerlei Buschwerk eine halb verfallene, unbewohnte Fischerhütte. In deren Dachraum wurde das auf der Insel geworbene Heu aufbewahrt, um gelegentlich zu Kahn nach einem am benachbarten Ufer liegenden Dorfe abgeholt zu werden. Auch dieses kleine Eiland war ein beliebtes Ziel unsrer Fahrten, denn die alte, verlassene Hütte darauf, deren Thür schief hing, und deren kleine schwarze Fensterhöhlen wie tückische Augen unter einem uralten, riesenhaften Holunderbusch auf uns hinstarrten, hatte etwas höchst angenehm Schauerliches für uns. Wir nannten sie nur das Hexenhaus.

Dann aber tauchte die grösste dieser drei Inseln vor uns auf, der Uhlenberg genannt, nach einem stattlichen Hügel, der dort emporragte. Sie hatte den Umfang eines sehr grossen Bauerngutes und war fast ganz mit Wald bedeckt. Das Innere dieser Insel kannten wir zu unserm Leidwesen nicht, obwohl es ungemein fabelhaft und merkwürdig sein sollte. Denn dort wohnte ein ganz richtiger Robinson, über den die wunderlichsten Geschichten in der Gegend verbreitet waren. Man war sich nicht ganz einig, ob er früher als Sklavenhändler oder Seeräuber oder in einem ähnlichen interessanten Berufszweig thätig gewesen sei; das aber erzählte man für gewiss, dass er mit seinem Schiffe an einer einsamen Insel im Weltmeer gescheitert und ausser ihm nur ein junges Mädchen gerettet worden sei. Dieses habe er geheiratet und dann mit seiner Frau jahrelang auf der einsamen Insel gelebt. Als dann ein Schiff in diese sonst gemiedene Gegend gekommen sei, seien sie mit einer wunderschönen Tochter wieder nach Europa zurückgekehrt. Dem Herrn Wohland habe aber der Robinson schon so in den Gliedern gesteckt, dass er absolut auf einer Insel habe leben müssen, wozu er denn in unserm See die Gelegenheit gefunden und sich den Uhlenberg käuflich erworben habe. Nun war er schon ein alter Mann und seine Frau bereits vor Jahren gestorben. Seine Tochter hatte sich an den Gutsbesitzer von Borna verheiratet, das auf einem Höhenzuge lag und dessen Kirche man so weit im Lande und auch von unserm Dorfe aus sehen konnte. Herr Wohland lebte auf der Insel ganz allein mit einem Diener und einer alten Wirtschafterin; man sagte aber, dass er sich an jedem Morgen, wenn die Luft klar sei, zu bestimmter Zeit von einem Turm aus durch Flaggensignale mit seiner Tochter unterhalte.

Als wir an dieser Insel vorübersegelten, waren unsre Blicke mit einer gewissen sehnsüchtigen Spannung auf sie gerichtet, denn die Geheimnisse ihres Innern hätten wir gar zu gerne ergründet. Wäre nicht die kleine Landungsbrücke gewesen, an der ein Boot und einige Kähne lagen, und die weissen Warnungstafeln am Ufer, auf denen stand: »Das Betreten dieser Insel ist streng verboten!« so hätte man sie für gänzlich unbewohnt halten können, denn von einem Hause war an keiner Stelle etwas zu sehen. Und doch sollte ein wundervolles Schlösschen dort liegen, mit Turm, Erkern und Giebeln und ganz überrankt mit Rosen und wunderlichen Schlingpflanzen. Auch ein Robinsonhäuschen sollte es dort geben, aus rohen Steinblöcken und unbehauenen Baumstämmen erbaut, ganz wie es auf jener einsamen Ozeaninsel gewesen war, und ein Gewächshaus mit Pflanzen, deren Blumen aussahen wie Schmetterlinge oder Kolibris. Wir wären schon zufrieden gewesen, hätten wir nur einen von den Papageien und andern ausländischen Vögeln zu sehen bekommen, die dort in halber Freiheit leben und sogar in den alten hohlen Bäumen der Insel nisten sollten; allein nichts dergleichen zeigte sich, nicht einmal ein fremder, unbekannter Schrei war vernehmlich. Nur der Pirol oder Vogel Bülow, wie wir ihn nannten, rief unablässig aus den hohen Baumwipfeln, und zuweilen tönte der schrille Ruf eines Pfaues. Dass Papageien sich dort aufhielten, wussten wir ganz gewiss, denn sie verflogen sich zuweilen in die Umgegend, und einmal war sogar ein derartiges rot und grünes Fabelwesen in unsern Garten gekommen und hatte sich an unsern Herzkirschen delektiert. Der Papagei that sehr vertraut, und als ich ihm vorsichtig nachkletterte, um mich seiner zu bemächtigen, liess er mich ganz nahe kommen; im Augenblicke aber, da ich die Hand nach ihm ausstreckte, sagte er: »Spitzbub!« und hob sich davon. Ich war über diese wenig schmeichelhafte, aber treffende Anrede so erschrocken, dass ich beinahe vom Baum gefallen wäre.

Als wir die Insel Uhlenberg hinter uns hatten, that sich zur Seite die von hochansteigendem Buchenwald umgebene Bucht auf, die das Ziel unsrer Fahrt war, und eine Viertelstunde später scharrte unser Kiel auf dem Sande des Ufers. Wir zogen die Jolle ans Land, machten sie fest und freuten uns dann eine Weile der schattigen Kühle des Buchenwaldes, indes wir, auf zwei Steinen am Rande eines glasklaren Baches sitzend, Mamsellings mit Schafkäse und Mettwurst belegten Butterbroten alle Ehre anthaten, wozu wir unsern Durst aus dem kühlen Rinnsal löschten und uns dabei jenes Gefässes bedienten, das Diogenes in seiner letzten, bedürfnislosesten Periode zu verwenden pflegte. Nachdem wir dann eine kleine Entdeckungsreise in die Umgegend ausgeführt hatten, kehrten wir an den See zurück, zogen uns barfuss aus bis an den Hals und gingen an unsre Arbeit. Das sehr weit ausgedehnte flache Vorland des Sees war in dieser weiten Bucht mit einer Unzahl von grossen und kleinen Felsblöcken bestreut, die sich zum Teil über den Wasserspiegel erhoben, zum grösseren Teil aber, von der leicht bewegten Flut bedeckt, mit wechselnden Umrissen und veränderlicher Gestaltung aus dem wallenden Krystall hervorschimmerten. Unter diesen Steinen fanden die Krebse unzählige Schlupfwinkel, und da zu jener Zeit das grosse Sterben noch nicht durch die deutschen Gewässer gegangen war, so hatte fast jede dieser kleinen Höhlen auch ihren Bewohner. Bei schwülem Wetter gehen die Krebse gern spazieren, und so sahen wir auch bald deren auf dem weissen Sandgrunde herumwandern. Ein lustiger Anblick war es, wenn sie bei unserm Nahen mit kräftigen Schwanzschlägen sich eilig wie der Blitz rückwärts zu ihren Schlupfwinkeln flüchteten. Doch es half ihnen nichts, denn wir waren hinterher und holten sie hervor, ob sie sich noch so sehr sträubten und uns mit den kräftigen Scheren in die Finger zwickten. Die Jagd lohnte, und als wir das kahnförmige durchlöcherte Holzgefäss, das hinter unsrer Jolle schwamm, zur Hälfte gefüllt hatten, sagte Adolf Martens: »Junge di, das fluscht heut! Und was für Bengel sind dabei, Kerls wie kleine Hummern.«

Aber unsre Zahl war noch nicht voll, und indem wir das schwimmende Gefäss mit uns zogen, begaben wir uns an eine andre Stelle der Seebucht in der Nähe des Rohrs, wo wir mächtige Fänge machten, so dass unser Gefäss bald fast gefüllt war und wir genug hatten. Als mein Freund Adolf dann in dem knietiefen Wasser noch eine Weile leise watete und sich umschaute, rief er plötzlich: »Horre, was ’n Tier!« stürzte platschend davon und langte unter einen mächtigen Stein. »Ich hab‘ ihn, ich hab‘ ihn!« schrie er. »Au, au, das Untier hat mich! Der wehrt sich aber!« Nach einer Weile zog er ihn aber doch hervor, einen riesigen Krebs, der sich mit mächtiger Schere in seinen rechten Daumen verbissen hatte, und tanzte eine Weile teils vor Freude, teils vor Schmerz in dem platschenden Wasser herum. Dann fasste er den Krebs mit Daumen und Zeigefinger der Linken sanft um den Leib und hielt ihn mit beiden Händen unter Wasser, worauf das Tier, um zu entfliehen, den Daumen freigab. Wir bewunderten diesen Riesenkrebs noch eine Weile, während er klatschend mit dem Schwanze seinen Bauch peitschte und mit den gewaltigen Scheren fruchtlos in die Luft schnitt, und thaten ihn dann zu den übrigen.

»Den holt sich morgen Onkel Scholz,« meinte Adolf. »Weisst du, dann sagt er: ,Bei Krebsen ist es erlaubt, nach dem grössten zu greifen.‘ Und steht auf, so lang er ist, und sieht sich die Schüssel von oben an. Und fährt zu wie ein Stossvogel und hat den grössten gefasst, der in der Schüssel ist.« Wir hatten in unserm Jagdeifer nicht darauf geachtet, dass unterdess der Wind sich gelegt hatte und eine brütende Stille eingetreten war. Plötzlich schwand der Sonnenschein hinweg, und der See lag in einem seltsamen, bleifarbigen Lichte da, während das gegenüberliegende ferne Ufer noch in sonnigem Grün glänzte. Über die Buchenwipfel sahen die schimmernden weissen Ränder eines mächtigen Wolkengebirges hervor.

»Da kommt ja wohl ein Wetter auf?« sagte Adolf.

Eine ferne, tiefe, grollende Stimme murrte ganz sanft hinter den Bergen wie zur Bejahung dieser Frage.

»Nun rasch nach Hause!« rief mein Freund. »Wenn das nur gut geht!« Wir banden unser Gefäss mit Krebsen an die Jolle, stürzten an Land und fuhren so schnell wir konnten in unsre Kleider. Dann griffen wir zu den Riemen und ruderten eilig in den See hinaus. Ein finsteres, lauersames Schweigen hatte sich über seine glatte Fläche gebreitet, und das sonnige Grün des gegenüberliegenden Ufers war ausgelöscht. Je weiter wir hinauskamen, je höher stieg das Wolkengebirge mit den schimmernden Rändern hinter der dunkelgrünen Buchenwand empor, und sein dunkelblaugrauer Kern kam zum Vorschein, während aus ihm ein stetes Murmeln und Rollen unheimlich in die bange Stille tönte.

Dass wir mit dem Leichtsinn unsrer dreizehn Jahre uns unter diesen Umständen auf den See hinaus begaben, war sehr thöricht; vernünftig wäre es gewesen, am Lande das Wetter abzuwarten, doch als uns diese Erkenntnis kam, war es schon zu spät, denn mit einem Male entstand ein gewaltiges Rauschen und Sausen in den Wipfeln des schon ziemlich fernen Buchenwaldes, von dem Rande des düsteren Wolkengebirges löste sich ein weisslicher Dunst, der mit rasender Schnelligkeit den Himmel überzog, und dann, wie mit tausend kleinen Füssen das Wasser kräuselnd, sauste die Gewitterböe heran und stürzte sich schwer in das Segel, so dass die alte Jolle auf der Seite lag und einiges Wasser übernahm. Aber Adolf Martens hatte gut auf das Segel gepasst, und während ich nun wie wahnsinnig das Wasser ausschöpfte, sausten wir dahin in einem Tempo, wie wir das bei dem gebrechlichen Fahrzeug noch nicht erlebt hatten, indes der Regen in Strömen auf uns niederklatschte und das gewaltige Knattern und Rollen des Donners endlos war.

»Junge di, wie das kitscht,« sagte Adolf Martens, »solche Fahrt hat der Albatros sein Lebtag noch nicht gemacht. Wenn dies nur gut geht. Kommt nun noch ’ne tollere Böe, dann ist der Teufel los! Ich glaube, das beste ist, wir laufen beim Uhlenberg auf den Strand!«

Als wir nun unsre Blicke auf diese Insel richteten, sahen wir durch den Regenschleier zwei Männer, die auf der Landungsbrücke standen und Zeichen machten und uns offenbar etwas zuriefen, denn sie legten von Zeit zu Zeit die Hände an den Mund. Wir verstanden aber nicht, was sie wollten. Der Sturm hatte etwas nachgelassen, da wir in den Überwind eines sehr hohen bewaldeten Uferhügels gekommen waren, und wir fingen schon an, Mut zu schöpfen, zumal das Gewitter auf der Höhe war und Blitz und Schlag sich in kurzem Zeitraume folgten; da wendete ich plötzlich meinen Blick nach der Windseite, und in demselben Augenblick rief ich auch schon: »Adolf, pass auf! die Böe, die Böe!«

Der stattliche Hügel, der uns bis dahin einigen Schutz gewährt hatte, fiel nun ziemlich steil ab, und dadurch that sich am Ufer eine ziemlich breite Schlucht auf, die dem Winde ungehinderten Durchgang gewährte. Dergleichen Bildungen, die sich häufig finden, sind es, die das Segeln auf den meist langgestreckten, aber wenig breiten norddeutschen Seen so gefährlich machen und bei böigem Wetter die stete Aufmerksamkeit des Seglers erfordern. Ein neuer Vorstoss des Windes kam nun mit ungeschwächter Kraft durch diese Lücke dahergesaust, man sah an der kurz gekräuselten See, wie er gelaufen kam, und plötzlich war er da. Meines Freundes Segelkunst war zu Ende. Der Albatros legte sich ganz auf die Seite, nahm eine‘ ungeheure See über, schüttete uns ganz sacht aus und kenterte, so gründlich wie ein Boot nur kentern kann; er sah sich den Himmel mit dem Kiel an.

Zum Glück konnten wir, wie schon gesagt, schwimmen wie die Fischottern, hatten alsbald jeder einen der treibenden Riemen erfasst und schnaubten und pusteten ziemlich in dem tosenden Wirrwarr, wo uns alle Augenblicke eine der schaumgekrönten Wellen über die Köpfe hinwegging. »Junge di, was ’n Hoppei!« sagte Adolf Martens.

Schneller, als man es sagen kann, waren die beiden Männer auf der Landungsbrücke, Herr Wohland und sein Diener, in ein bereitliegendes Boot gesprungen und trieben es nun mit starken und kunstgerechten Ruderschlägen durch Schaum und Gischt und Wellengewoge auf uns zu. Es dauerte nicht lange, so wurden wir von kräftigen Armen in das Boot gezogen und unsre beiden Riemen, die wir natürlich nicht fahren lassen wollten, ebenfalls geborgen »Unsre Jolle und unsre Krebse!« rief Adolf, indem er dem kieloben davontreibenden Fahrzeuge nachsah. Der Diener des Herrn Wohland stiess ein kurzes, hässliches Lachen aus, und um seinen bartlosen Mund zog ein Grinsen. Er starrte mit kleinen grünlichen Augen, die tief unter gelblichen Augenbrauenwülsten hervorglimmerten, auf uns hin, spuckte mit grosser Virtuosität einen gelblich gefärbten Strahl seitwärts in den See, rollte mit der Zunge etwas Klumpiges, das er in seinen Backentaschen trug, an einen andern Ort und knurrte dann: »Dei Jöll ward woll einerwegt andrieben. Un von wegen dei Krewt, dor freut Jug man, dat Jug dei Krewt nich hebben!«

Dies schien er für einen trefflichen Witz zu halten, denn er lachte noch einmal in seiner fatalen Weise, und ich gewann die Überzeugung, dieser von ihm angedeutete Ausgang unsers Abenteuers wäre seinem Herzen weit sympathischer gewesen.

Dieser Mensch zog meine Augen mit dämonischer Kraft auf sich, und ich konnte nicht von ihm wegsehen, obwohl ich mich fürchtete, seinem Blick zu begegnen. Er trug weder Mütze noch Hut, und seine graugelblichen Haare standen ihm buschig um den Kopf, während ein Backen- und Kinnbart von gleicher Farbe sein erdiges Gesicht gleich einer Mähne umgab. Alles dies, die Höcker über den wulstigen Augenbrauen, der sehr vortretende untere Teil seines Gesichtes mit dem breiten, schlitzähnlichen Munde und den schmalen Lippen, die übernatürlich langen Arme, aus deren Ärmeln langfingerige, rotbraune, mit Haaren bewachsene Hände weit hervorschauten und die Ruder führten, alles dies brachte mich auf den verrückten Gedanken, Herr Wohland habe sich einen der grossen Menschenaffen gezähmt und ihm sogar mit wunderbarer Kunst das Sprechen beigebracht.

Einstweilen hatte ich aber keine Zeit, diesen wunderlichen Betrachtungen weiter nachzuhängen, denn wir hatten das Land erreicht und stiegen aus.

Herr Wohland, der bis jetzt noch kein Wort gesprochen hatte, sagte auch nun nichts, sondern forderte uns nur durch eine Handbewegung auf, ihm zu folgen. Ich wechselte einen Blick mit Adolf, dem ich anmerkte, dass es ihm gefiel, durch diese Wendung der Dinge in das geheimnisvolle Innere der Insel zu gelangen. Die unterdrückte Freude leuchtete ihm aus den Augen. »Fein!« sagte er nur ganz leise und nickte mir zu.

Der Fahrweg, sichtlich seit lange nicht benutzt, war mit Gras bewachsen und stieg langsam bergan, mit seinen Windungen den tiefsten Bodenstellen zwischen zwei benachbarten Hügeln folgend. Es war dort dunkel, obwohl die Sonne schon wieder schien, denn ein unglaublich dichter Baumwuchs schloss ihn ein und wölbte sich darüber hin. Einzelne alte Eichen und riesenhafte, knorrige wilde Obstbäume bildeten den Bestand, und dazwischen waren als Unterholz Dornbüsche aufgeschossen, die ein undurchdringliches Dickicht bildeten und sich mit starken, schwarzen, gewundenen Stämmen und dunklen Kronen zu uralten Bäumen ausgewachsen hatten. Nach dieser dumpfigen Urwaldsdunkelheit war es um so wirksamer, als wir plötzlich von einem schmalen Seitenpfade aus auf eine sonnenglänzende Lichtung traten und vor uns auf der Anhöhe ein Haus mit vielen Giebeln und einem Turm erblickten, das überall mit dem mannigfachsten Rankenwerk bis zur Galerie des Turmes überwachsen war, so dass man an keiner Stelle etwas vom Mauerwerk erblicken konnte. Selbst über die steilen schwarzen Schieferdächer spannen sich hier und dort die schnurgeraden Ranken des wilden Kletterweines dahin. Doch hatten wir jetzt keine Zeit, noch weitere Beobachtungen zu machen, denn Herr Wohland ging mit uns rasch auf das Haus zu und stellte an uns das energische Verlangen, uns auszuziehen und ins Bett zu gehen. Dies war nun allerdings ungeheuer gegen unsre Ehre, denn wenn wir einmal im Sommer ins Wasser fielen oder vom Regen durchnässt waren, wie es oft geschah, so hielten wir es für die einzige männerwürdige Methode, unsre leinenen Anzüge an Sonne und Luft wieder trocknen zu lassen, während wir darin blieben. Wir schlugen vor, zur Beschleunigung dieses Trockenverfahrens draussen im Sonnenschein allerlei Dauerläufe und akrobatische Kunststücke wie Radschlagen und dergleichen zu verrichten, und beschworen, dass wir die Erspriesslichkeit dieses Verfahrens in unzähligen Fällen schon erprobt hätten, allein das half uns alles nichts. Herr Wohland lächelte zwar ein wenig, aber er führte uns in ein Zimmer, in dem ein grosses breites Bett, wahrscheinlich sein eignes, stand, blitzte uns mit seinen dunkelgrauen Augen an und sagte nur, indem er auf das Bett deutete: »Rein! Halbe Stunde drin bleiben. In fünf Minuten komm‘ ich wieder.« Damit ging er hinaus.

»Was sollten wir machen? Dieser wortkarge Mann flösste uns einen mächtigen Respekt ein, und wir waren am Ende in seiner Gewalt. Auch meinte er es offenbar gut mit uns, obwohl er von unsrer Männlichkeit so harte Opfer forderte.

Widerwillig, aber ziemlich rasch entkleideten wir uns und krochen mit Protest unter die warme Decke. Dann kam Herr Wohland wieder herein und trug eine vierkantige Flasche und zwei kleine Gläser. Er schenkte einen dunkelroten, funkelnden Wein in diese, hielt jedem von uns ein Glas hin und sagte: »Austrinken! Warm werden!«

Diese Vorschrift, die unsrer Ehre nicht zu nahe trat und unsrer Männlichkeit schmeichelte, erfüllten wir mit Hingebung. Es war ein süsser, starker Wein, der mir, wie es schien, gleich bis in die Finger- und Fussspitzen rieselte. Die Bereitwilligkeit, mit der wir diese Medizin einnahmen, schien Herrn Wohland mit Befriedigung zu erfüllen, er nickte und ging hinaus, nicht ohne Flasche und Gläser wieder mit sich zu nehmen. Nachträglich ist es mir aufgefallen, welchen merkwürdigen Respekt uns dieser einsame Mann in so kurzer Zeit eingeflösst hatte. Denn wir wagten seiner, nach unsrer Ansicht ungerechtfertigten und ganz thörichten Anordnung nicht im geringsten zu widersprechen und lagen die ganze vorgeschriebene Zeit über unter unsrer Decke wie Gottfried Kellers gerechte Kammmacher gleich zwei Heringen unter einem Blatt Papier, während es doch unsern natürlichen Trieben entsprochen hätte, diese unnatürliche Situation durch eine solenne Balgerei zu einer Hauptfestlichkeit zu gestalten.

Während nun also Adolf wie eine pädagogische Latte mit den Händen an seiner nicht vorhandenen Hosennaht auf dem Rücken lag, sagte er: »Hast du den Pfau gesehen, der auf dem Dache sass?«

»Ja,« antwortete ich, »und Goldfasanen waren da auch.«

»Hast du aber auch den Papagei gesehen?«

»Nein,« antwortete ich, »wo?«

»Sah grün und rot aus; sass in einer Eiche und schrie lauter als eine Krähe!«

Von draussen kam durch das geöffnete Fenster ein rauher schriller Ton, märchenhaft und unbekannt.

»Das war er wieder,« sagte Adolf.

Während wir nun auf eine Wiederholung dieses Schreies horchten, schlug die tiefe Stimme des Herrn Wohland an unser Ohr, wir verstanden aber nicht, was er sagte. Von dem aber, was eine helle weibliche Stimme ihm antwortete, drangen verschiedene Bruchstücke an unser Ohr: »Herr, du meines Lebens!« verstanden wir, »… ne aber, ich sag‘ man … in das kalte Wasser…, ja, was so richtige Jungs sünd, das sünd auch ümmer richtige Bambusen!« (Wir quittierten dankend für diesen Ehrentitel) … »Un in Herrn Wohland sein eigen Bett! … ne, aber so was, da will ich doch man gleich … die arm’n Jungs … Na, Essent un Trinkent hält Leib un Seel‘ zusammen! … Stina! Stina!« – dann wurde es still, aber andre Geräusche drangen an unser Ohr, ein mannigfaltiges Klirren und Klappern von Küchengerät und nach einer Weile ein Bullern von starkem Holzfeuer und starkes Zirpen und Prätzeln wie von Butter in einer Bratpfanne.

»Das riecht nach Pfannkuchen!« sagte Adolf nach einer Weile.

»Können auch Bratkartoffeln sein!« meinte ich.

»Ich sage, Rührei mit Speck!« lautete Adolfs neueste Hypothese. »Gebratene Klösse sind auch etwas Feines!« rief ich, der, als der einfacher Gewöhnte von uns beiden, keine zu hohen Vorstellungen von den uns erwartenden Genüssen aufkommen lassen wollte.

Doch hatten wir keine Gelegenheit, uns in noch weiteren Hypothesen zu ergehen, denn Herr Wohland kam wieder herein, mit einem Arm voll von Kleidungsstücken, die er bei dem Bette niederlegte, mit der Aufforderung, uns derer zu bedienen, so gut es ginge. Dann entfernte er sich wieder. Unser Glück war, dass Herr Wohland schlank war und nur von Mittelgrösse, während wir für unser Alter ziemlich lang aufgeschossen waren, sonst hätten wir in seinen alten Kleidern, in denen wir mit vielem Lachen heimisch zu werden versuchten, wohl eine sehr komische Rolle gespielt. Sie waren uns zwar reichlich geräumig, aber mit aufgekrempten Ärmeln und Hosenbeinen machte es sich, und wir sahen darin noch immer weniger lächerlich aus als ein Gigerl von heutzutage. Die hingestellten Schuhe passten uns, da wir beide auf ziemlich grossem Fusse lebten, wie angegossen.

Als Herr Wohland uns wieder abholte, trug er einen grossen Korb mit vier Fächern in der Hand, der mit allerlei Sämereien und anderm Vogelfutter gefüllt war. Wir gingen auf den grossen Rasenplatz vor dem Hause, der, rings von Wald begrenzt, sich den Hügel hinab senkte und hier und dort mit mächtigen Steinblöcken bedeckt war. Um diese herum waren, gleichsam als hätte die Natur sie aus sich selbst hervorgebracht, Gebüsche und Blumengruppen angelegt. Nirgendwo, auch am Hause nicht, war etwas von künstlichen Steigen zu bemerken, nur einige schmale, nach Bedarf getretene Fusswege durchwanderten scheinbar launisch diese grüne Senkung. In der Mitte stand eine prachtvolle ausländische Tanne, wie ich jetzt weiss, eine Nordmannia. Herr Wohland ging bis an diesen Baum und läutete an einer Glocke, die dort auf einem Gestell angebracht war. Kaum waren die Töne verhallt, so kam eine Anzahl von Rosellapapageien mit reissendem Fluge über die Wipfel geschossen und fiel auf der schönen Tanne ein, wo sie seitwärts auf den Zweigen gingen und verlangend nach dem Korbe hinsahen. Und nun tönten die schrillen Schreie von allen Seiten. Rosenfarbige Kakadus und weisse mit gelben Hauben hoben sich schimmernd vom dunkeln Geäst ab, schwangen sich flügelblitzend durch die Luft oder rüttelten unentschlossen über dem verlockenden Korbe; Fasanen, die in allen Farben leuchteten, schwebten mit nachwogendem Schweif herab und liefen verlangend auf dem Boden hin und her, und die schöne Nordmannia füllte sich mit allerlei glänzendem Papageienvolk in Grün, Rot und Gelb und allen den strahlenden Farben, mit denen der Schöpfer sie geziert hat, Vögel, die sich schreiend jagten, bissen und miteinander kämpften, während die schwächeren und weniger mutigen zuweilen auffliegend und wieder zurückkehrend auf den Zweigen des Kranzes der entfernten Bäume verlangend aber furchtsam verharrten. Als nun dieser Trubel, dieses Kämpfen, dieses Geschrei und dieser Farbenwirrwarr am grössten war, kam mit reissendem Fluge ein rotschwänziger Graupapagei geflogen und setzte sich ohne weiteres auf den Rand des Korbes, wo er sich sofort über die leckeren Sachen hermachte. Auf dieses Signal begaben sich eine grüne Amazone, ein blauer Arara und ein rosenfarbiger Inka-Kakadu ebenfalls an diesen Ort, wodurch ein erbärmliches Geschrei und ein grosser Kampf unter den vier Vögeln entstand, bis endlich Herr Wohland mit weiten Würfen das Futter ausstreute nach allen Richtungen hin, wodurch auch die schüchternen unter den Tieren auf ihre Rechnung kamen. Nur der Graupapagei, offenbar der dreisteste und zahmste von allen, blieb auf dem Korbe sitzen und suchte sich das Beste aus. Grossen Hunger schien er aber nicht zu haben, denn bald fing er an, das noch im Korbe vorhandene Futter mit seitlichen Schnabelhieben zu zerstreuen und hinauszuschleudern, wobei er ungeheuer eifrig war und fortwährend schwatzte: »Lora! Lora! Bist du verrückt? Schläg‘ haben? Lora, du, du!«

Als nun Herr Wohland ihm mit einem Stäbchen drohte, das er in der Hand trug, duckte er sich, sah ganz ungemein scheinheilig aus und sagte: »Lora, artig sein, ganz artig sein! Lora Zucker haben. Zucker, Zucker! Lora Zucker haben, Zucker, Zucker!«

Dabei blieb er nun mehrere Minuten und ward nicht müde, halb schmeichlerisch und halb mit dem Grundton der tiefsten Überzeugung zu verkünden, dass Lora durchaus und unter allen Umständen Zucker haben müsse.

Herr Wohland liess sich erweichen und langte ihm ein Stückchen aus der Tasche, worauf der Vogel auf die Schulter seines Herrn flog und dort an dessen Kopf geschmiegt mit der Miene eines Weisen, der es seiner nicht unwert hält, auch den Genüssen des Gaumens zugänglich zu sein, den Zucker mit der einen Klaue zierlich zum Schnabel führte. In den Pausen sagte er wieder: »Zucker, Zucker!« und zwar in einem Tone schmunzelnder Genusssucht und Besitzesfreude und dann sehr sanft: »Guter Papa, guter Papa!«

Wie wir dieses Schauspiel mit den Augen verschlangen, und wie wir allen diesen Ereignissen, die unsre märchenhaftesten Erwartungen noch übertrafen, mit Spannung folgten, kann man sich vorstellen. Adolf konnte sich nicht enthalten, mich zum Zeichen seiner Wonne mit den spitzen Knöcheln in die Rippen zu stossen, was mich, der ungeheuer kitzlig war, zu einem mächtigen Seitensprunge veranlasste, so dass die Vögel erschrocken aufflatterten und selbst Lora zusammenfuhr und im schönsten Sächsisch ausrief: »Eihercheeses!«

Darüber überfiel uns die ungeheure Lachlust der Jugend, und da Lora immer in den hellsten Tönen mitlachte, so konnten wir uns kaum wieder beruhigen, so dass sich zuletzt sogar der ernste Mund des Herrn Wohland zu einem Lächeln verzog. Sodann gingen wir mit ihm in das grösste Zimmer des Hauses, wo wir einen gedeckten Tisch vorfanden, an dem Platz zu nehmen unser Gastfreund uns mit einer Handbewegung aufforderte. Er selbst ging wieder hinaus. Der Tisch war mit allerlei kalten Sachen besetzt. Mit besonderem Wohlwollen fassten wir eine Schüssel mit saurem Aal ins Auge und mit Interesse eine geöffnete Büchse mit Ölsardinen, die wir nicht kannten, ebenso wie manches, was sonst noch auf dem Tische stand. Dass dort auch eine Karaffe mit rotem und eine mit weissem Wein vorhanden war und vor jedem Platze zwei Gläser standen, erfüllte uns mit männlichem Stolz. Wir wussten nun nicht recht, ob wir mit dem Essen beginnen oder auf Herrn Wohlands Rückkehr warten sollten. Es war allerdings nur für zwei Personen gedeckt. Da öffnete sich plötzlich die Thür, und herein trat ein sauberes junges Dienstmädchen, offenbar das, das vorhin mit Stina angerufen wurde. Sie trug auf einem japanischen Brette eine Schüssel mit gebratenen Hähnchen nebst dem nötigen Zubehör, setzte alles vor uns hin und empfahl sich dann mit einem zierlichen Knicks.

»Gebratene Kücken. Fein!« sagte Adolf im Tone unbedingter Anerkennung!

Da wir nun hier so gut behandelt wurden, so überkam mich die Neigung, mich höflich und galant zu benehmen, was mir sonst ein Greuel war: »Darf ich Ihnen Rot oder Weiss geben?« sagte ich, indem ich die Hand nach den Karaffen ausstreckte.

»Wenn ich um Rot bitten dürfte!« antwortete Adolf in dem zimperlichen Tone seiner Tante Malchen Säuberlich, indem er dazu mit dem Munde altjüngferlich prünte.

Ich schenkte ihm ein und sagte: »Nun musst du auch immer nachher so, wie Tante Malchen es macht, weggucken, wenn ich wieder einschenke, und dich erst erschrecken und die Hand vorhalten, wenn das Glas voll ist.«

Adolf lachte kurz und warf dann einen fast bedauernden Blick auf die vor uns aufgebauten Schätze. »Ich möchte nur,« sagte er dann fast trübselig, »Mamselling hätte uns heute morgen nicht so grosse Butterbrote geschmiert.«

Dann machten wir uns trotzdem mit ungeschwächten Kräften über die Kücken und das Kirschenkompott her. Als wir nun alles bewältigt hatten und eben wieder den sauren Aal mit Blicken liebevoller Teilnahme ins Auge fassten, öffnete sich die Thür zum zweiten Male, und der Mond ging auf, oder war es gar die Sonne? Denn diesmal war es nicht Stina, die eintrat, sondern Mamsell Kallmorgen, eine ältliche ungemein runde Dame, die aussah, als hätte Wilhelm Busch sie ganz und gar mit dem Zirkel konstruiert. Ein so rundes, glänzendes Gesicht gab es sonst nur noch beim Vollmond, und von Wohlwollen strahlte es wie die Sonne. Alles war rund an dieser alten Mamsell, die kleinen Äuglein, die winzige Nase zwischen zwei rosigen Plusterbacken und die drei Unterkinne, die den Übergang zum Körper vermittelten, und dieser selbst, der sich aus lauter Kugeln zusammensetzte. Nur der Mund machte eine Ausnahme, er war ein wenig in die Breite gezogen, was natürlich zu dem wohlwollenden Ausdruck dieses Antlitzes beitrug, denn Leute mit einem kleinen runden Munde sind selten oder nie gutmütig. Aus den Kugelpuffen ihrer Ärmel kamen schneeweisse stattliche Arme hervor mit ausgepolsterten Händen, an denen Finger sassen wie fünf rosige Knackwürste. An den Knöcheln waren sie mit Grübchen geziert. Auf diesen Händen trug sie eine Schüssel mit zusammengerollten Eierkuchen, die mit Fruchtgelee gefüllt waren. Diese setzte sie vor uns hin und sagte: »So, Jungs, nu esst man düchtig, das is das beste Mittel, dass euch das kalte Wasser nichts schad’t. Ihr müsst ’ne ornliche Wärmnis in die Maag kriegen. Wo ich früher mal eins in Konditschon war, bei Herrn Barner in Plüschow an den Koblankschen See, da hatten wir auch so ’n Jung, war schon konfermiert, aber was nutzt Gotts Wort bei so ’n Slacks, wenn er seine dummen Streich‘ machen will? Das war ja nu in die Weihnachtsferien, un da läuft er ja nu Schlittschuh auf den Koblankschen See, un das Eis is ’n Fuss dick. Was hilft das aber bei so ’n Jung? Da is doch einerwo mal so ne’Stell‘, wo ne Waak gewesen is, wo sich die wilden Enten das Wässer offen gehalten haben, oder wo ’ne warme Quell‘ anne Grund is, mal eben so bischen eine Nacht übergefroren, un natürlich da muss er ja hin, anners is er nich glücklich. Je natürlich, un denn bricht er ein in das eiskalte Wasser bis über den Kopf – ich muss mir schon gräsen, wenn ich da bloss an denk‘. Je, er hat sich ja nu allein wieder ‚rausgeampelt un is nach Haus gelaufen den weiten Weg, un war dreizehn Grad kalt. Un war natürlich ganz verklamt, un als sie ihn seine Büxen ausgezogen hatten, da konnten die allein stehen, so steif waren sie. Un stachen ihm ins Bett und gaben ihm heissen Thee. Aber, was die Hauptsach‘ war, wir hatten Entenbraten an den Tag, un da hat er in ’s Bett ’ne ganze Ent‘ aufgegessen mit alle Apfels un Flaumen, die da in waren, un da ’ne Buddel Rotspohn szu. Da kriegt er natürlich ’ne schöne Wärmnis in sein Maag, un hat ihm nachher gar nichts geschadt … Na, nu scheniert euch man nich, un wenn ihr mit die Plinsen fertig seid, denn könnt ihr ja noch ’n bischen bei den sauren Aal gehn un bei das andre.

»Un ihr erlaubt woll, dass ich hier ’n bischen bei euch sitzen geh‘, von das alte Stehent krieg‘ ich inne Küch‘ schon genug. Je, un was ich sagen wollt‘, du büst doch woll den Herrn Pastohr sein Reinhard, das seh‘ ich an die Ähnlichkeit, denn dein lieb Mudding kenn‘ ich sehr gut. Eine ganze süsse Frau. Sie war ümmer so sanft un so solide, un so furchbar gemütvoll. Szü, un dann musst du so ’n dumm Zeug machen un in den alten wackligen Kahn fahren un noch szu bei ’s Gewitter.

Was habt ihr überhaupt auf ’s Wasser verloren? An eure Stell‘ würd‘ ich mir freuen, dass ich’s nich nötig hätt‘, da’rauf szu gehn. Ich bün man einmal in mei’n Laben auf ’s Wasser gefahren, das war, als ich hier her kam, vor fünf Jahr‘. Halb dot hab‘ ich mir geängst allein schon bei das Ein- un Aussteigent, wenn es denn so wiwagt. Erst wollt‘ ich nich ‚rein in die Boot, un nachher wollt‘ ich nich wieder ‚raus. Driebenkiel, was Herrn Wohland sein Knecht oder meinswegens sein Bedienter is, hat mir mit Gewalt ‚rausgewucht’t, un da wär‘ ich zuletzt beinah doch noch in’n See gefallen, wenn Driebenkiel nich so furchtbar staark wär‘. Igittegittegitt, ich gräs‘ mir ümmer noch, wenn ich da bloss an denk‘, denn wenn ich erst ins Wasser lieg‘ – wer soll mir da woll wieder ‚rauskriegen?«

Wir hielten dies für eine wohlberechtigte Frage, was wir durch Kopfnicken andeuteten, und da wir unterdes die Eierkuchen bewältigt hatten, »gingen wir noch ’n bischen bei den sauren Aal un bei das andre«. Dies sah Mamsell Kallmorgen mit Wohlwollen, nickte beifällig und liess das Bächlein ihrer Rede weiter rauschen:

»Einsam is es hier ja man, szu un szu einsam, kein Mensch, mit den ’n Wort snacken kann. Gar un gar szu gärn in all die Zeit hätt‘ ich ja mein‘ Swester besucht, die an den Holländer in Bibow verheurat’t is, dass ich mir mal wieder mit ihr aussnacken könnt‘, aber denn käm‘ ümmer wieder die Angst vor das Wasser, un dass ich dann wieder in den Kahn muss. Ich kann hier ja gar nich klagen, un der Salehr is ja so hoch, so viel kriegt‘ ich auf keine andre Stell‘, wenn ich mir man bloss an dem Einsamen gewöhnen könn’t! Wenn nich alle Jahr‘ Herrn Wohland sein‘ Tochter mit ihr klein süsse Lana auf vier Wochen hier her kam‘, dann hielt‘ ich’s jawoll auch gar nich aus. Glaubt ihr woll, dass Herr Wohland mal’n Wort mit mir spricht? Ne, fällt ihm gar nich ein. Bloss mal, wenn’s gar nich anders geht, so ruff, buff un mit Handweisen. Das muss er sich woll so auf seine einsame Insel angewöhnt haben. Aber mit seine Papageien, da kann er ümmerszu snacken. Was hat er denn nu bloss an das unvernünftige Viehzeug? Un kosten ein gräsiges Geld. Vor den einen hat er sechsundreissig Daler gegeben in Hamburg, bloss weil da man einen von da war un weil noch niemals ein solchen nach Hamburg gekommen war. Na, un Driebenkiel, wenn ich mit den mal anfang‘ un ’n bischen mit ihm snacken will, denn grient er ümmer so veniensch, un ich trau‘ ihn auch nich, er snüffelt, überall snüffelt er rum, wo ihn gar nichs verloren hat. Mir wundert man bloss, dass unsen grossen Kettenhund Wasser ihm so gern leiden mag. Un denn Stina! Stina is ’ne unbedarfte Dirn, was soll ich mit die gross snacken? Un Respekt muss auch sein, un in acht nehmen muss ’n sich ja auch, sonst spielen einen sonne Dirns gleich auffe Nas‘. Je, un da könnt ihr euch woll denken, wo ich mir freu‘, dass ich mir mal mit so nette un artige Jungs bischen unterhalten kann.«

Man musste sagen, genügsam war die alte Dame, denn bis jetzt hatte keiner von uns den Mund anders aufgethan, als zum Essen. Aber auch hierzu erlahmten allmählich unsre Kräfte, und wir liessen ermattet die Waffen sinken. Mamsell Kallmorgen wollte uns eben mit Beredsamkeit zu neuen Thaten anfeuern, da horchte sie plötzlich auf ein Geräusch, das draussen vernehmlich ward.

»Ne aber!« rief sie, »kaum, dass man den Rücken wend’t! Da jachtert Driebenkiel all wieder mit Stina ‚rum. So’n alten Kerl, un noch ümmer hinter die Dirns her un süht doch aus wie so ’n richtigen Affe. Un schämt sich gar nich mal, so ’n Kerl. Un Stina, anstatts dass sie ihm einen ans Maul giebt, wie sich das hört, die macht das jawoll noch Spass. Ja, mit die Dirns heutszutage – un mit die Mannsleut‘ erst recht! Na ich sag‘ man!«

Und damit dampfte sie unter dem Hochdruck sittlicher Entrüstung zur Thür hinaus.

Wir standen nun auf, und da wir nichts Besseres zu thun hatten, so sahen wir uns im Zimmer um. Wir schienen uns in Herrn Wohlands Studierstube zu befinden, die zugleich eine Art von Museum darstellte. An den Wänden standen viele Glasschränke, die zum Teil Bücher enthielten, meist Reisebeschreibungen und naturwissenschaftliche Werke, zum grössten Teil aber waren sie mit Naturalien und Seltsamkeiten angefüllt, alles weitläufig und mit Platzverschwendung aufgestellt, so dass man jegliches Ding von aussen sehen konnte. Wir konnten solche ungeahnten Schätze nicht ohne Staunen und einige stille Besitzesgier betrachten. Da waren ganze Schränke angefüllt mit den herrlichsten und wunderbarsten Muscheln an Formen und Farben, die wir nie für möglich gehalten hätten. Sie schimmerten in Porzellan- und Perlmutterglanz und leuchteten mit den Farben der Morgenröte und sanftem Purpurbraun. Stattliche Erzstufen flimmerten mit metallischem Glanz, und von den unzähligen Flächen und Kanten der verschiedenfarbigen Krystalldrusen strahlte wechselndes Licht. Dann wieder war da ein Schrank mit Vogeleiern und einer mit Schmetterlingen. Davon glaubten wir etwas zu verstehen, denn Adolf hatte eine ganz stattliche Eiersammlung und ich zwei Kasten mit selbstgefangenen Schmetterlingen; allein von den Eiern konnte mein Freund kein einziges benennen, und ich starrte fast geblendet auf die glänzende Pracht dieser geflügelten Luftjuwelen. Dergleichen flog nicht in Steinhusen und Umgegend, und mein grösster Stolz, die beiden Schillerfalter, die ich im Warnitzer Holz gefangen hatte, verblassten vor diesem schimmernden Glanz zu nichts. Insonderheit waren da Schmetterlinge, die hatten eine unscheinbare Zeichnung auf dem Flügel, die von oben einfach schwarz erschien. Sah man diese Zeichnung aber in schrägem Lichte und wechselte den Ort, so strahlte sie bald in feurigem Rot, dann in leuchtendem Grün, durchdringendem Blau und sonnigem Goldgelb, wie es kein Diamant vermag. Das erschien mir wie ein Wunder ohnegleichen. Die Seltsamkeiten in andern Schränken, Arbeiten aus Porzellan, Glas, Elfenbein, Bernstein, Malachit, Onyx und wer weiss was für Stoffen, zogen uns weniger an, doch schenkten wir den bunten und wunderlichen ausgestopften Vögeln, die auf den Schränken standen, einige Blicke. Von Bildern enthielt der grosse Raum nur zwei Ölgemälde. Das eine stellte ein Barkschiff unter vollen Segeln dar, die Anna Sophie aus Rostock, das andre zeigte eine sanftblickende Frau, an die sich ein schönes zwölfjähriges Mädchen schmiegte. Wir waren so betäubt und berauscht von der Fülle der Schätze, die dieses Zimmer darbot, dass wir, von wechselnden Eindrücken fast ermüdet, an die Fenster traten, wo in einem stattlichen Erker, der durch den Unterbau des Turmes gebildet wurde, der Schreibtisch des Herrn Wohland stand. Die Fenster reichten fast bis auf den Boden, und man sah von hier auf den abfallenden Rasenplatz und den Waldgürtel, der ihn umgab. Wir bemerkten, was uns vorher entgangen war: dass überall Durchhaue im Walde, von hohen Wipfeln überwölbt, sternförmig von diesem Punkte ausliefen, so dass man an den verschiedensten Stellen einen Ausblick auf den See hatte, auch auf die Bucht, in der wir vorhin dem Krebsfang obgelegen hatten. In einem dieser Ausschnitte sahen wir gerade einen Fischerkahn vorüberziehen, der langsam wieder hinter dem Baumwerk verschwand. Über den Wipfeln sah man in weiter Ferne den blau dämmernden Höhenzug, auf dem die Kirche von Borna, das Wahrzeichen der Gegend, sich deutlich abhob. Neben der Schreibmappe des Herrn Wohland stand ein Doppelfernrohr, mit dem wohl der alte Einsiedler die Welt aus seinem Schlupfwinkel zu betrachten pflegte.

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und Stina trat herein, wie es uns schien mit einem etwas roten Kopfe. Sie sagte: »Das Zeug von die jungen Herrn wär‘ nu trocken, un wenn die jungen Herrn sich nu anziehen wollten, in die Schlafstube wär‘ allens prat. Un Driebenkiel hätt‘ auch das Boot von die jungen Herrn wieder flott gemacht un sollt Ihnen nu in unser Boot nach Haus fahren, denn mit die jungen Herrn ihr eigen Boot da ginge das nicht, das hätte eine Leck.«

Damit öffnete sie eine andre Thür, die, wie wir jetzt sahen, in das Schlafzimmer führte, das uns vorhin zum Aufenthalt gedient hatte. Wir zogen uns um und wurden dann von Herrn Wohland abgeholt, der, wortkarg wie immer, nur mit einer Handbewegung uns aufforderte, ihm zu folgen. Wir verliessen das Haus diesmal durch einen andern Eingang als vorhin und kamen auf einen Hof, der die Küchen- und Wirtschaftsgebäude von dem eigentlichen Hause trennte. Hier wurden wir begrüsst durch das wütende Gebell eines ungeheuern, wild und blutgierig aussehenden Hundes, der, vor seiner Hütte angekettet, unter schrecklichem Gerassel wie ein wahnsinniger Teufel hin und her tanzte und sich das Ansehen gab, er würde uns alle beide, jeglichen auf einen Happs, aufessen, könnte er nur von der ekligen Kette loskommen. Da war es nun merkwürdig, zu sehen, wie, als Driebenkiel mit einer Futterschüssel aus der Küche trat und auf den Hund zuging, sich dessen wütige Wildheit sofort in Sanftmut verwandelte, wie er jenem die mächtigen Pranken auf die Schultern legte und ihm mit seinem grossen blutroten Zungenlappen das Gesicht zu lecken versuchte. Driebenkiel aber drückte den Hund nieder zu seiner Schüssel, und dieser begann zu fressen, nicht ohne uns zuvor von der Seite ein böses, misstrauisches Knurren zuzusenden. In der Küchenthür, sie ganz ausfüllend, so dass nur Stinas hübsches Köpfchen über die eine Schulter hinweg sichtbar wurde, stand in der ganzen überwältigenden Pracht ihrer rundlichen Leibesfülle Mamsell Kallmorgen. Sie nickte uns zu und winkte mit ihrer fetten Hand und rief: »Na, adjö Jungs un kommt gut nach Haus! Un du, Reinhard, grüss auch dein süss‘ Mudding von mich. Un auf das alte Wasser, da geht mich man nich wieder ‚rauf. Da hat Moses keine Balken unter gemacht. Un wär‘ doch schad um solche nette, artige Jungs, wenn die versaufen thäten! Adjö auch, adjö!«

Wir gingen dann mit Herrn Wohland zum See hinunter, und Driebenkiel folgte uns. Dort fanden wir einen Kahn bereit, an den unsre Jolle angehängt war. Das Leck war mit Lappen verstopft, und wir sahen mit Befriedigung, dass auch unser schwimmender Behälter mit Krebsen noch vorhanden war.

Herr Wohland reichte uns die Hand, und wir stiegen ein. Driebenkiel griff zu den Riemen, stiess ab und trieb den Kahn mit langsamen, kräftigen Ruderschlägen in den See.

Als wir an dem letzten Vorsprung des Uhlenberges vorüber waren, wälzte Driebenkiel das Klumpige, das die eine seiner Backentaschen stets zu beherbergen schien, auf die andre Seite, schoss seitwärts mit bemerkenswerter Kunstfertigkeit einen langen gelben Strahl in den See und knurrte dann zwischen den schmalen Lippen seines breiten Mundes heraus: »Versupen harrt ji möst!«

Dann betrachtete er uns eine Weile mit der feindseligen Miene eines Menschen, den man um seine besten Hoffnungen betrogen hat, und wiederholte seine Meinung:

»Versupen!«

Wir wussten nicht recht, was wir auf diese von recht mangelhaftem Wohlwollen gegen uns erfüllte Ansicht erwidern sollten, und schwiegen deshalb. Er aber fuhr fort:

»In so ’n kaputte Nätschell, in so ’n Seelenverköper bi’t Gewitter ruttausegeln, dat is jo utverschamt. Dei oll Jöll is jo krank dörch un dörch, dat is jo ’n Kräpel, dei hett jo so vel Flickens as ’n Snurrer sin Rock, wo dei Flickens all werre flickt sünd. Wenn ji man nich so ’n Unkrut wirt, denn wirt ji ok all lang‘ versapen. – Wenn Herr Wohland jug nu nich seihn harr ut sie Kiekfinster, un wenn wi nich kamen wiren, wo wirt denn? Hä?«

»Wie könt doch swemmen!« wagte Adolf zu antworten.

»Swemmen!« sagte Driebenkiel mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Verachtung, »bi sonne Bülgen un so wiet von Land un mit Tüg. Dor wir jug woll bald dei Pust utgahn. Und denn runne na dei Aals und na dei Krewt! As ick noch bi Sw’rin deinen dehr, dor harr sick mal eins ein versöpt und harr sick dat Tüg vull Stein stoppt, wil dat hei nich wedder hochkamen wull, un dorüm hebben sei em ok lang nich funnen. As sei em nu äwer doch finnen dehren, dor seet hei ganz vull armlange Aals.« Driebenkiel schwieg, und um seinen Mund lag ein schmunzelnder Zug, als ergötze er seine Phantasie mit der Ausmalung dieses anmutigen Bildes. Dann grinste er plötzlich ganz freundlich und fragte mit einem gewissen weichen Wohlwollen: »Na, Jungs, wo hett jug denn dei sure Aal smeckt?«

Ich sah, dass Adolf, der, wie sich das oft gerade bei sehr gesunden und kräftigen Naturen findet, in diesem Punkte gar nichts vertragen konnte, schon anfing, höchst merkwürdige Gesichter zu schneiden, da wurden wir glücklich von der Weiterführung dieser anmutigen Unterhaltung dadurch befreit, dass wir die Robinsonsinsel passiert hatten und ich nun auf dem Stege, der von unserm Garten aus in den See lief, Menschen gewahr wurde, die scheinbar mit grosser Spannung nach uns ausblickten. Mit meinen scharfen Augen erkannte ich die Personen.

»Adolf,« rief ich. »da auf unserm Steg, da sind deine Eltern und meine auch, und mein Onkel Philipp und deine Tante Malchen! Die werden sich doch wohl nicht geängstigt haben?!«

»Das werden sie doch nicht!« meinte Adolf.

»Was haben sie denn aber dort zu stehen?« fragte ich.

Der Gedanke, dass man Sorge um uns haben könne, war uns in der erlebnisreichen Zeit, die wir hinter uns hatten, auch nicht ein einziges Mal gekommen, nun aber erfüllte uns plötzlich die Befürchtung, dass diese kleine Menschenwolke, die sich dort angesammelt hatte, ein neues Gewitter verdriesslicher Art für uns bedeuten möchte.

»Du, meinst du, dass es was giebt?« fragte Adolf.

Ich wusste darauf nicht zu antworten allein Driebenkiel ergriff diese Thatsache mit besonderem Vergnügen, um daran seine sehr spartanischen Ansichten über Erziehung zu knüpfen.

»Wenn ick jug Vadder wir,« sagte er mit schmunzelndem Ingrimm, »denn gew dat nu tau un tau vel Schacht. Aewerlegt un stramm halt, un denn mit so ’n rechten swubsigeh Ruhrstock so väl hinnen up, as dor hacken willen. Un denn inspunnt un tau’n Vesperbrot nix tau äten un denn wedder Schacht!«

Während er nun mit einer wahren Henkerphantasie solche Bilder weiter ausmalte, in denen sich diese pikante Abwechslung von »Schacht« un »nix tau äten« über mehrere Tage hin ausdehnte, waren wir schon so nahe gekommen, dass wir die Gesichter unterscheiden konnten, und da sagten uns unsre physiognomischen Kenntnisse, dass nichts Ernstliches zu befürchten sei, was unsre Herzen von schwerer Sorge entlastete.

Wir wurden mit einer wirren Menge von Fragen überschüttet und hatten genug zu thun, um alle zu beantworten und die grossartige Fülle der überstandenen Abenteuer ins rechte Licht zu setzen. Endlich erinnerte man sich an Driebenkiel, der mit missvergnügtem Grinsen den höchst unangemessenen Empfang der beiden verlorenen Söhne beobachtet hatte, und er wurde aufgefordert, ins Haus zu kommen, um mit dem üblichen »Snapps un Bodderbrot« der Botengänger bewirtet zu werden. Ausserdem drückte ihm jeder der Väter einen Thaler in die Hand, was sein vergrätztes Gemüt mit einigem Sonnenschein verklärte. Wir erfuhren später, dass er einen Teil dieses unvermuteten Kapitalsüberflusses in unserm Dorfe angelegt habe, indem er sich vor seiner Rückkehr im Kruge eine »Pottbuddel« Aquavit zum Troste für einsame Stunden erstanden hatte. Da er als ein nachdenklicher und gewissenhafter Mann an dem Herausprobieren der geeigneten Sorte in diesem selben Wirtshause anderthalb Stunden lang fleissig und mit Sachkenntnis gearbeitet hatte, so verliess er unsern Ort, wie ich denke, in angeregterer Stimmung, als er ihn betreten hatte. Wir sahen ihn am späten Nachmittag über den spiegelblanken See nach Hause rudern und waren ein wenig verwundert über den rauhen und furchtbaren Gesang, mit dem er abfuhr, dessen Kehrreim:

»Wat geiht denn di dat an –
Du büst kein Arbeitsmann!«

er mit einem Ausdruck wilder Auflehnung gegen Gesetz und Recht in die schweigende Natur hinausbrüllte. Unser Staunen erregten auch die sonderbaren Kurse, die er einschlug, um den Ort seiner Bestimmung zu erreichen, da solche uns manchmal weder zielbewusst noch zweckmässig erscheinen wollten. Nachdem er sich dann einmal im Rohr und einmal auf einer Sandbank festgefahren hatte, verschwand er endlich hinter einer Waldecke, und wir glaubten, es noch einmal ganz leise herübertönen zu hören:

»Wat geiht denn di dat an –
Du büst kein Arbeitsmann!«

Wir aber waren die Helden des Tages und sonnten uns im Glanze unsrer glücklich verlaufenen Abenteuer. Als am nächsten Tage zu Herrn Martens der Besuch aus der Stadt kam, durften wir an dem Abendessen teilnehmen und mussten noch einmal von allem berichten. Als nun aber die Krebse, die zu den ganzen Erlebnissen die Veranlassung gegeben hatten, aufgetragen wurden und Onkel Scholz sich wirklich erhob, so lang er war, und mit den Worten: »Bei Krebsen ist es erlaubt, nach dem grössten zu greifen!« mit der Sicherheit eines Stossvogels unsern Freund von gestern beim Wickel hatte, da explodierte in uns eine so ungeheure Lachlust, dass wir kaum wieder zu uns kommen konnten und sicher vom Tisch geschickt worden wären, hätte nicht Onkel Scholz, der uns wegen der Krebse wohlwollte, Fürsprache eingelegt. Als dann bald darauf seine Nachbarin, Tante Malchen, zum dritten Male durch ihr gefülltes Glas aufs höchste überrascht und in Schrecken gesetzt wurde, beschränkten wir uns darauf, uns gegenseitig furchtbar in die Beine zu kneifen, um unsre gewaltig emporsteigende Lachlust im Keime zu ersticken.

II.

Wer sich am meisten für unsre Erlebnisse auf der Insel Uhlenberg interessierte, war »isern Hinrich«, unser Gespiele aus dem Dorfe, der, wenn es seine Zeit zuliess, in unserm Bunde der dritte zu sein pflegte. Da er ein Sohn des Krügers Trilk war, wo Driebenkiel seine Einkäufe gemacht hatte, so waren ihm unsre Abenteuer schon bekannt, allerdings nur in jener Form, die sie in Driebenkiels von Wohlwollen nicht beeinflussten Darstellung angenommen hatten. Mit dem Massstabe von Driebenkiels Entrüstung gemessen, mussten wir ganz ungewöhnlich heldenhafte Thaten vollbracht haben, und da isern Hinrich für das Heldenhafte schwärmte und schon Wilddiebe für Heroen, Strassenräuber aber gar für Halbgötter erachtete, so brannte er darauf, Näheres zu erfahren, zumal auch auf ihn die Geheimnisse des Uhlenberges eine dämonische Anziehungskraft ausübten. Er traf uns, als wir nachdenklich unsern schwer erkrankten Albatros betrachteten, der sich über Nacht so voll Wasser gesogen hatte, dass er nur noch mit den Bordrändern aus dem See hervorschaute. Er ging feierlich auf uns zu, indem er uns nach alt geheiligtem Brauch den rechten Arm steif entgegenstreckte. Wir nahten uns ihm ebenso feierlich und versetzten ihm nacheinander mit spitzem Knöchel der verwendeten Faust einen kräftigen Schlag auf den gespannten Muskel des Oberarmes. Er stiess einen geringschätzigen Kehlton aus: »Fäuhl‘ ick gor nich!« sagte er dann.

Isern Hinrich führte seinen Namen nicht umsonst, und Mucius Scaevola wäre sein verehrtes Vorbild gewesen, wenn er überhaupt jemals was von ihm gehört hätte. Heldenhafte Verachtung körperlicher Schmerzen erschien ihm als eine der erhabensten Eigenschaften des Heroen, ja er ging so weit, zu behaupten, für solche Gefühle bis zu einem gewissen Grade unempfindlich zu sein. Diese Einbildung hat, wie ich glaube, zur Stärkung seines Charakters beigetragen, sonst aber die Folge gehabt, dass er jahrelang eine Existenz ohne blaue Flecke und Schmerzen im Oberarm nicht kannte. Aber was machte das alles, wenn man sich den ehrenvollen Namen »eiserner Heinrich« damit verdiente.

»Na, Driebenkiel hett schön upjug schimpt!« sagte er, scheinbar nicht ganz frei von Neid. »Wat hewwt ji nu man eigentlich blot makt?«

»Ja,« antwortete Adolf, »as wi von ‚t Krewtgriepen na Hus wullen, dor keem ’n Weder up, un dor sünd wi kentert, un ‚ donn hebben Herr Wohland un Driebenkiel uns wedder rut treckt, un nahst hebben wi Herrn Wohland all sin Papegeis sehn, un dei ein kann snacken as ’n Minsch.«

»Un labennige Pfauen un Fasans hett hei ok,« sagte ich, »un allerhand anner Vogels, dei ‚t gor nich gift, dei sünd äwer utstoppt.«

»Un nahst,« fuhr Adolf fort, »hebben wi lütt braden Hahns tau äten kregen und Pannkauken mit Schalee in.«

»Un suren Aal und lütt Fisch in Öl,« sagte ich, der historischen Genauigkeit wegen. Dass wir ins Bett gesteckt worden waren, verschwiegen wir beide als unsrer Ehre zuwider.

»Na, un donn?« fragte isern Hinrich offenbar unbefriedigt.

»Ja, un donn,« sagte Adolf, »donn hebben wi sin utlandschen Eier un Muschels un Stein un Smetterlings beseihn, und donn hett uns Driebenkiel wedder na Hus führt.«

»Mihr nich?« fragte isern Hinrich sehr enttäuscht, »wat hewwt ji denn dahn, dat Driebenkiel so inne Wut up jug wir? As ick em den sösten groten Rum tau n‘ Schilling bröcht harr, dor wir hei all so wiet, dat hei sick verswören dehr, wenn hei jug noch eins up t‘ Water tau faten kriegen dauhn dehr, denn wull hei jug versöpen as junge Rotten. Un denn keem Jochen Nehls. Dei harr sik all’n poor Mal an t‘ Finster vörbischaben un harr sick nich ‚rintrugt, wil dat hei woll wedder kein Geld nich hebben dauhn dehr un Vadder doch nich mihr för em anschrieben will. Dor kreeg Driebenkiel em tau seihn un röp em rin un würr em nu frie hollen und sär: ›Jochen Nehls is min Fründ, dat ’s dei einzigste Kierl in ‚t ganze Dörp, dei sick den Wind hett ümme Näs‘ weihn laten, dei annern sünd all olle Nuschen un nich achtern Aben rutkamen.‹ Un as sei denn beir noch so ’n poor grote Rums achter harren, dor kreeg Driebenkiel dat Singent, un Jochen Nehls musst em helpen. Un gröhlten so gruglich und flögen dorbi uppern Disch und makten so ’n Spitakel, dat Vadder sei giern ‚rutsett‘ harr, man blot hei wagt sick nich an Driebenkiel ‚rau, denn dei hett ’ne furchtbare Kraasch un kann Haufisens mitte Hänn‘ grar bögen. Tauletzt würr Driebenkiel äwer doch na dei Klock kieken un verfihrte siek un sär, hei müss na Hus, un köff sick noch ’ne Pottbuddel vull Akkewiet un tummel denn na ’n See dal un bölkte dortau lurhals dat Leid von den Arbeitsmann, dat dat ganze Dörp rebelisch würr un alle Hunn‘ an tau blaffen füngen.

»Jochen Nehls harr sick äwer tauletzt noch acht Schilling von em leihnt, un dei müss hei jo natürlich ierst versupen. Un wil hei nu werre ganz manierlich wir un jo ok Geld harr, so wull dei Oll em dei acht Schilling lang ruhig sitten laten un sär blot tau mi, dat ik em, wenn dei all wiren, keinen Snaps nich mihr gäben süll, un güng rut na’n Acker. Na, dit pass mi jo, dat ik mit Jochen Nehls allein wir, un ik kreeg em nu för, hei süll mi mal ’n beten von Herrn Wohland verteilen. Na, hei wull jo ierst nich, tauletzt äwer sär hei, wenn ik em ’n Enn‘ von den mojen Prim afsnieden wull, denn‘ min Oll in ‚t Schapp hebben dauhn dehr, denn künn ‚t woll sin, dat hei mi wat vertellen dehr. Na, dat dehr ick jo nu ok, un donn hett Jochen Nehls sin Gorn spennt, dat sär man so stah. Un dat kann ‚k jug man seggen, ji hewwt up ’n Uhlenbarg gor nix seihn, dor weit ick beter mit Bescheid.« Damit streckte er uns gewohnheitsmässig seinen rechten Arm entgegen, wir gaben ihm feierlich und sachgemäss eins drauf, und er zuckte verächtlich die Achsel: »Fäuhl‘ ick gor nich!«

»Wenn du dat Robinsonshus meinst, wat dor sin sall,« sagte ich, »dat hebben wi nich seihn.«

»Robinsonshus!« wiederholte isern Hinrich mit unbeschreiblicher, fast erhabener Verachtung. »Weit ‚t ji denn nich, dat Herr Wohland Seeröwer wäst is? As Jochen Nehls noch Matros‘ wir un up dei Bianka dörch den Magelhanschen Sund na Panama seilen dehr, dor is up dat Schipp ein Matros‘ wäst, so ’n griesen ollen Kierl mit ’ne breire Noar äwern Dätz, as harren sei em mal eins den ganzen Kopp vonein klöwt. As sei nu in Valparaiso Haben binnen kernen un tosamen an Land gahn wiren, un dei oll Matros‘ dat söste Glas Krock tau Bost harr, dor is hei updäut un hett em vertellt, dat hei früher bi den groten Seeröwer Wohland, binennt ›Der Schrecken der Südsee‹, an Burd von den ›Dod un Düwel‹ wäst is. Dat Schipp is ’n Snellsegler wäst, ganz gnäterswart anmalt un mit Dod un Düwel anne Galjon un up dei swarte Flagg ’n witten Dodenkopp mit twei gekrüzte Knakens. Un kein Parduhn hett Herr Wohland nich gäben, denn blot dei Doden seggen nix na, un dei nich bi’t Entern all dot makt sünd, dei hebben nahst anne Raa bammeln möst. Un dei Kaptainsköpp hett hei all afsnieden un insolten und rökern laten un hett sick dor ’ne Sammlung von anleggt. Un dat hett hei sick sett‘, wenn hei hunnert Kaptainsköpp tausamen hebben dauhn dehr, denn wull hei sin Geschäft upgäben un sin Geld läben. Dor is nu äwer up dat letzte Schipp, dat hei utröwert hett, ’ne wunnerschöne Gräwin wäst, dei hett hei gruglich giern lieden mücht un hett ehr nich dot maken laten un hett ehr friegen wullt. Sei äwer hett dat Seeröwergeschäft kein’n Spass makt un hett em blot nehmen wullt, wenn hei gliek mit ehr an Land treken un Gautsbesitter warden wull, so as Gräwinnen dat gewennt sünd. Dat is em jo un suer ankamen, wil dat hei ierst nägenunnägentig Kaptainsköpp tausamen harr un em blot noch einen an dat Hunnert fehlen dauhn dehr. Aewer sei hett seggt, sei wull leiwer tau Water an gähn, als noch einen Ogenblick länger as nörich up dat Schipp vull bläudige Mürers blieben, un wenn Herr Wohland ok seggt hett, sei süll sick doch man blot nich so hebben, sei is dor doch bi blähen. Ja, dor hett Herr Wohland denn dacht: ›Nägenunägentig is ok ’ne gaude Tall, un up den einen lumpigen Kopp sall mi dat ok nich ankamen, un is mit sin Schipp an Land gahn un hett sin Mannschaft af lohnt, un dor sünd allein up den ollen Matrosen sin Deil eindusendsöbenhunnertuneiunsösstig spansche Dubluns kamen, wo ein von teihn Daler gellt. Dor kann ’n sick denken, wat dei Kapitain sülfst för ’n gruglichen Hümpel Geld för sick rappst hett. Dat Schipp hett hei dei Mannschaft laten, un dei ierste Stüermann hett mit dei annern dat Geschäft wire bidräben. Dei oll Matros‘ hett äwer naug von hatt und hett dacht, so ’n Barg Geld künn hei sin Läwlang nich lütt kriegen. Aewer in twei Johr hett hei all allens werre verswubst hatt un hett werre as Matros‘ führen müsst. Herr Wohland äwer hett sick ’ne Insel inne Atlantsche See köfft un sin Gräwin friegt un dor ganz moi mit ehr läwt. Un tauletzt sünd sei mit ehr Dochter hierher treckt, dat weit’t ji jo. Aewer wat ji nich weit’t, un wat ji nich tau seihn krägen hewwt, un wat dat feinst up den ganzen Uhlenbarg is, dat is dei grote unnerirsche Saal, wo’n ierst säben iserbeslagene Dören upsluten möt, wenn ’n dor rin will. Dei steht ganz vull isern Kisten mit Dubluns un spansche Dalers und gollen Bäkers und gollen Schalen as ’n Waschfatt grot. Un dor is ok dei Galjon von den ›Dod un Düwel‹ un dei Flagg mit den Dodenkopp, un an de Wänn‘ dor hängt dat ganz vull Säbels un Enterhakens un Metzers un Handspaken, all noch vull Blaud, un Muskedonners un Duwwelpistols und Dunnerbüssen un anner Scheittüg. Un baben löppt ’n Burt ganz ‚rüm, dor stahn all dei nägenunägentig rökerten Kaptainsköpp, weck mit swarte, weck mit brune, weck mit rode, weck mit gäle un ok weck mit witte Hoor. Trofäen seggen dei Seeröwers dortau up spansch.«

Wir brachen zu isern Hinrichs grenzenlosem Erstaunen in ein gewaltiges Gelächter aus, was ihn sofort in heftigen Zorn versetzte.

»Wat lacht ji? Dummheit lacht! Ji hewwt woll lang kein bläudig Snut hatt?« rief er und machte sich fertig zum Angriff. Da aber der Ausdruck unsrer Heiterkeit trotzdem kein Ende fand und wir unbeirrt weiterlachten, so lähmte dies schliesslich seine Thatkraft, und er stand da mit geballten Fäusten und gegen die Brust gekrümmten Armen »wie ein gemalter Wüterich« und starrte uns ratlos an.

Adolf bezwang sich zuerst: »Dor hett di Jochen Nehls äwer schön dei Hut vull lagen«, sagte er.

»Dor sünd jo dei oll Münchhausen un Krischan Wehnk‘ in Hamborg un Peter Lurenz in Rostock nix gegen!« rief ich.

Dass sich unsre höhere Bildung so einmütig gegen ihn wandte, machte offenbar Eindruck auf isern Hinrich, er wurde ganz kleinlaut und sagte: »Un ick heww Jochen Nehls doch, as sin acht Schilling all wiren, noch tweimal inschenkt, dat hei man noch mihr vertellen süll, un wenn dat dei Oll markt harr, dann harr ick ok tau un tau väl Schacht kragen. Un hei hett flucht up Dübelhal, dat hei noch väl düllere Geschichten von Herrn Wohland weiten dauhn dehr, un ick harr em jewoll noch eins inschenkt, wenn hei tauletzt nich dat Stamern un dat Hickuppen kragen harr. Un denn mit eins föll hei mi pardautz ünnern Disch und slöp in. As Vadder in keem, hett hei em an dei Schullern nahmen un ick an dei Bein un hebben em rut släpt na’n Mess. ›Dor liggt hei weik,‹ sär de Oll. As ick ’s abends in ’n Schummern noch mal na em kieken dehr, dor wir hei weg.«

Da es isern Hinrich so gänzlich misslungen war, uns mit den Geheimnissen des Uhlenberges zu imponieren, und er sich dazu heimlich von der Gartenarbeit, zu der er eigentlich kommandiert war, entfernt hatte, so schlug ihm jetzt plötzlich das Gewissen, und nach eiliger Erfüllung der gewohnten Zeremonien nahm er seine Holzpantoffeln in die Hand und entfloh schleunigst und schnellbeinig zu den vernachlässigten Fluren seiner engeren Heimat.

In andrer Weise interessierte sich Onkel Philipp Simonis für unsre Abenteuer auf dem Uhlenberge. Der war ein entfernter Vetter meines Vaters und damals ein Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren. Er hatte Theologie und Philologie studiert und war dann später als Hofmeister eines reichen jungen Grafen nochmals mit diesem auf die Universität gezogen und später auf Reisen mit ihm weit in der Welt herumgekommen. Der zu allem brauchbare Mann hatte später auf längere Zeit einen sehr gut dotierten Vertrauensposten als Sekretär des jungen Grafen eingenommen und sich im Laufe der Zeit durch Sparsamkeit ein kleines Vermögen erworben. Als er fünfundvierzig Jahre alt war, verlor er durch den Tod seines früheren Zöglings diesen Posten und kam auf einige Zeit, bis sich eine neue Stellung für ihn gefunden hätte, zu seinem Vetter in Steinhusen zu Besuch. An diesem Orte gefiel es ihm wohl, und er wurde bald mit so viel Fäden an ihn geknüpft, dass er dort hängen blieb. Es lag dort am Seeufer ein Häuschen mit einem vernachlässigten, ziemlich grossen Garten, das ein alter Sonderling bewohnt hatte, der vor kurzem gestorben war. Seine Erben, denen das kleine Anwesen eine Last war, wollten es möglichst bald verkaufen. Die Lage dieses Hauses und des Gartens, der von einer klaren Quelle durchrieselt wurde, am terrassenförmig aufsteigenden Seeufer gefiel ihm ausserordentlich, denn alles, was er dort fand, entsprach den Träumen, die er über einen Ruhesitz für seine alten Tage seit lange gehegt hatte. Die Gelegenheit war günstig, der Preis lächerlich gering, und schliesslich kam es ihm geradezu wie ein Unrecht vor, wenn er nicht zugriffe. Er konnte sich hier einstweilen einrichten und in Ruhe abwarten, was sich im Laufe der Zeit für eine Stellung darbieten würde. Im Notfall konnte er das Grundstück ja, und vielleicht sogar mit Vorteil, wieder verkaufen.

Von dem Augenblicke an aber, da er dies Haus erworben hatte, gewann er eine so merkwürdige Fertigkeit, die Schattenseiten und Nachteile der Stellungen, die sich ihm darboten, aufzuspüren, dass er sich nie zu entschliessen vermochte, eine davon anzunehmen, und sich alle Verhandlungen zerschlugen. Zu Ostern hatte er Haus und Garten übernommen, und mit Feuereifer begann er alles nach seinen eignen Ideen umzugestalten, mit einer Gründlichkeit, als gedenke er für alle Zeit sich dort einzurichten. Bäume wurden geschlagen, Mistbeete angelegt und ein kleines Gewächshaus gebaut, und stets lag er mit dem Gutsinspektor in Fehde, um Arbeiter und Frauen aus dem Dorfe zu bekommen, die in dem Garten mächtig gruben und karrten und pflanzten und ihn um und um wühlten. Wagenladungen von Sträuchern, Bäumen und Pflanzen kamen von einem berühmten Gärtner aus der Hauptstadt, und eines Tages langten auch seine Möbel und seine stattliche Bibliothek an, die er seit seiner Studentenzeit gesammelt hatte. Alles wurde mit Behagen eingeräumt und aufgestellt. Auch am Hause hatte er stets etwas zu ändern und zu bessern, es roch dort stets nach Maurerkalk, Terpentin und Tapetenkleister, und für den einen Winter, den er vorläufig dort zubringen wollte, liess er sich in seinem Studierzimmer einen neuen Berliner Ofen setzen von besonders schönen, schimmernd weissen Kacheln. Es ging damals die Sage, er habe stets ein Stückchen einer solchen Kachel bei sich, und wo er nur bei Besuchen in der Umgegend einen weissen Ofen sehe, hielte er vergleichend heimlich sein Kachelpröbchen dagegen und schmunzle sehr, wenn es schöner und weisser sei als jene. Als der Herbst ins Land gekommen war, konnte man Haus und Garten kaum wieder erkennen. So um Weihnachten herum kam Onkel Simonis eine ganz glanzvolle Idee. Was konnten nicht alles für wunderbare Anlagen entstehen, wenn man die Quelle, die plätschernd und rieselnd mit ziemlich starkem Gefäll den Garten am Grunde eines tiefen Einschnittes durchfloss, wenn man diese Quelle abfing, und sie zur Bildung von kleinen Teichen und allerlei freundlichen Wasserkünsten veranlasste? Verlockende Träume von Forellenzucht und plätschernden Wasserfällen umgaukelten ihn; ein imaginärer Springbrunnen stieg auf und spielte mit einer goldenen Kugel, die gar lieblich in der Sonne blitzte. Wie schade, dass ihm dieser entzückende Einfall erst jetzt kam, wo er mit der Ausführung noch ein ganzes Vierteljahr warten musste. Aber zum Pläne machen, Ueberlegen und Vorbereiten war diese Zeit gut zu verwenden, und manche Stunde stand er in tiefem Sinnen am Rande des kleinen Rinnsals, das schwarz durch den weissen Schnee dahinging, und baute im Geiste. Um diese Zeit geschah etwas, das die schöne Ruhe seines Gemütes gewaltig aufstörte und das Gleichgewicht seines Geistes mächtig ins Schwanken brachte. Es wurde ihm durch Vermittlung guter Freunde eine sehr vorteilhafte Stellung angeboten, wie sie für seine Fähigkeiten nicht besser gefunden und ausgedacht werden konnte. Nun erst wurde er gewahr, wie sehr er schon an seinem neuen kleinen Besitztum hing, denn dieses Anerbieten, das ihm früher eine Freude und ein Stolz gewesen wäre, erfüllte ihn mit Sorge. Er geriet in grosse Unruhe und rannte, um sie zu dämpfen und ungestört über diesen Fall nachzudenken, um den ganzen See herum, was einen scharfen Marsch von etwa neun Stunden bedeutete. Zudem machte er weder seinem Vetter noch sonst jemand eine Andeutung von diesem Anerbieten, wahrscheinlich in der stillen Furcht, man möchte ihm zureden, es anzunehmen. Auf dem langen Marsche durch den kalten, sonnigen Wintertag über die dünne, frischgefallene Schneedecke hatte er einen glänzenden Einfall, nach dem er sofort handelte.

Onkel Simonis stellte zu den an und für sich schon günstigen Bedingungen noch einige neue auf, von denen er meinte, dass sie unmöglich angenommen werden könnten, und schmunzelnd über seine vermeintliche Schlauheit sandte er die Antwort auf das günstige Anerbieten ab. Das Unerwartete aber geschah. Fast mit wendender Post kam ein Brief zurück, in dem man alle seine Bedingungen annahm, und ein wahrhaft glänzender Kontrakt war beigelegt, den er nur zu unterschreiben brauchte. Onkel Simonis war tief unglücklich. Nun sass er in seiner eignen Falle und spähte vergeblich nach einem Auswege. Ganz hintersinnig ging er in seinem Garten herum und betrachtete die vielen Obstbäume von edeln Sorten, die er im Frühjahr und Herbst gepflanzt hatte, und blickte nach den Stellen, wo Rosen und Wein, Pfirsiche und Aprikosen warm eingebettet oder mit Fichtenzweigen verhängt dem schönen Frühling entgegenträumten. Auf alles dies, dessen weitere Entwicklung zu beobachten er die warme Jahreszeit kaum erwarten konnte, sollte er nun verzichten, und es sollte in die Hände eines andern fallen, der es vielleicht gar nicht achtete und verkommen liess. Und Forellenteiche und Wasserfälle, und Springbrunnen, die mit goldenen Kugeln spielten, wo blieben die? Er seufzte tief. Und die grosse Steingruppe, die er geplant hatte für Gebirgspflanzen und all das Zierliche und Hübsche, das in der eignen Heimat wächst, sollte die auch nur ein Traumbild ohne Erfüllung sein? Er sah ja nicht den Garten, wie er jetzt war, er sah ihn auch nicht, wie er im nächsten Frühling sein würde, nein, er sah ihn in der Vollendung einer späteren Zeit, als ein Füllhorn herrlicher Blumen und überquellend von köstlichen Früchten. Er sah ihn im Frühling, bedeckt mit weissem und rosigem Schnee, er sah ihn in der Blumen- und Rosenpracht des beginnenden Sommers, er sah ihn schwer beladen von den Früchten des Herbstes, und er empfand mit voller Macht den Zauber, den der Besitz des eignen Bodens, den man selbst bebaut, auszuüben vermag. Warum sollte er sich noch für andre plagen? Er hatte es ja gar nicht nötig und nach seinen geringen Bedürfnissen mehr als reichlich zu leben. Aber man würde ihn tadeln, dass er sich in der Blüte seiner Kraft einem unthätigen Rentnerleben hingäbe. Unthätig – das war eigentlich ein Unsinn. Noch nie hatte er so viel Arbeit gehabt, als seit er diesen Garten besass, und in jedem Jahre würde es mehr werden, das sah er schon voraus. Und ausserdem würde sich andre Arbeit für ihn genug dazu finden, so viel kannte er sich.

Am nächsten Tage wanderte er noch einmal um den See, aber diesmal nach der andern Richtung, und umgab ihn zum zweiten Male mit einem Kreise bohrender Gedanken. Dann beschlief er sich die Angelegenheit noch eine Nacht, und am nächsten Morgen schickte er den Kontrakt zurück mit der Mitteilung, er könne wegen Übernahme einer Obstplantage die angebotene Stelle zu seinem grossen Bedauern nicht annehmen. Nach Beseitigung dieser Last fühlte er sich so leicht, dass er, als er durch seinen Garten ging und alles mit verdoppelter Liebe betrachtete, gleichsam mit federndem Schritt vom Boden emporschnellte und sein gutmütiges Antlitz mit seinem Glanz die Wintersonne beschämte. So war es gekommen, dass Herr Philipp Simonis in Steinhusen hängen blieb, zum nicht geringen Vorteile dieses Ortes, denn im Laufe der Zeit stellte es sich heraus, dass dieser Mann ein wahres Füllhorn nützlicher Fähigkeiten und vergnüglicher Künste in sich trug, davon fast jeder Dorfbewohner seinen Vorteil zog. Was Herr Gutsbesitzer Martens schier am höchsten an ihm schätzte, war der Umstand, dass durch ihn und mit meinem Vater stets ein Whist mit dem Strohmann am Orte zusammenzubringen war, damals noch das gewöhnliche Spiel der Landleute, denn der alles verschlingende Skat hatte seinen Siegeslauf noch nicht bis in solche fernen Erdenwinkel ausgedehnt, ebensowenig wie das alleinseligmachende Bier. Da die Reblaus noch nicht erfunden und das Land nicht im Zollverein war, so bildete ein trefflicher und billiger französischer Rot- oder Weisswein das tägliche Getränk verständiger Männer. Und auch das gefiel Herrn Martens, dass, wenn bei besonderen Gelegenheiten eine Extraflasche aus dem Keller geholt wurde, er sie leeren konnte mit einem Kenner, der seine Studien gemacht hatte an Ort und Stelle, wo der Wein gebaut wurde.

Meinem Vater that es wohl, einen Mann von gelehrter Bildung am Orte zu haben, der vielerlei erlebt, gesehen und gelesen hatte, mit dem er sich über Wissenschaft, Kunst und Litteratur unterhalten konnte, Gegenstände, die dem Gutsherrn so ziemlich »Dampf« waren, und mit dem er das nicht zu unterschätzende Vergnügen genoss, zuweilen eine kleine, fröhliche Meinungsverschiedenheit ausfechten zu können.

Die Frauen dieser beiden Männer nun gar wussten ihn wohl zu schätzen. Ein so unerschöpflicher Ratgeber und Tausendkünstler war ihnen noch niemals vorgekommen. Er setzte für sie ein Fleckwasser zusammen, dem keinerlei Art Schmutz auch nur einen Augenblick widerstehen konnte, er braute einen Wundbalsam aus vielerlei wirksamen Stoffen nach einem alten ungarischen Rezept, das auf höchst geheimnisvolle Weise an seine Familie gekommen war, von welchem Balsam die Sage ging, man könne Arme und Beine damit wieder anheilen. Schlüge man einem Huhn einen Nagel durch den Kopf, zöge ihn wieder heraus und gösse einen Tropfen dieses Balsams auf die Wunde, so sei es gesund wie zuvor und ginge sofort hin und lege ein Ei. Jedenfalls war es ein Vergnügen, sich einmal recht tüchtig in den Finger zu schneiden, weil man dadurch Gelegenheit bekam, die zauberhaften Wirkungen dieses Balsams zu beobachten.

Er verstand es, Wein zu bereiten aus Stachel- und Johannisbeeren, und stellte die köstlichsten Liqueure her, scharfe männliche, von grosser Kraft, und zarte weibliche, die zusammengesetzt zu sein schienen aus Blumenduft und süssem Feuer. Den Tintenverbrauch des Dorfes in dem es allerdings, mit Ausnahme meines Vaters, nicht gerade ausschweifte, hatte Onkel Philipp monopolisiert, und kein Pfennig ging je für diese wichtige Kulturflüssigkeit an die Kaufleute in der Stadt. In jedem Winter kochte er einen stattlichen Glasballon voll herrlicher blauschwarzer Gallustinte, und es that seinem Herzen wohl, davon jedem, der sie begehrte, gegen den Selbstkostenpreis oder weniger mitzuteilen. Er besass allerlei lexikalische Werke mit Rezepten jeglicher Art, und wenn jemand wissen wollte, wie die ungebräuchlichsten Gerichte zubereitet würden, von ihm konnte er es erfahren. Er kittete jeglichstes Geschirr von Glas, Porzellan oder Steingut, dass es nie wieder zerbrach, wenigstens nicht an der gekitteten Stelle. In seiner Bibliothek stand Wieglebs »natürliche Magie«, jenes wunderliche Werk, dessen zwanzig starke Bände gefüllt sind mit der Beschreibung von physikalischen und chemischen Spielereien, seltsamen Rezepten, Taschenspieler- Rechen- und Kartenkunststücken, Gesellschaftsspielen und dergleichen. Daraus belehrte er sich über alle möglichen Künste und Zaubereien und hatte sich zu einem Taschenspieler ausgebildet, der in der ganzen Gegend berühmt war und sowohl mit als ohne Apparat das Staunen der Zuschauer erregte. Familienfeste verherrlichte er durch selbstangefertigtes Feuerwerk, und wenn die Jugend tanzte, sass er am Klavier und spielte unermüdlich altertümliche Tänze oder das damals fast noch moderne: »Herr Schmidt, Herr Schmidt, was kriegt die Lina mit?« oder allerhand putzige, kleine Murkis, von denen man aber sagte, dass sich besser nach ihnen tanzen liesse als nach irgend welcher andern Musik.

Die Wonne der Kinder aber war sein Kasperletheater, dessen Puppen er selber geschnitzt und gemalt und angezogen hatte, und die mir noch heute als Muster ihrer Art vor Augen stehen. Vielleicht würde ich anders über sie urteilen, wenn ich sie wiedersehen könnte, damals aber erschien mir die freche Lustigkeit des Hanswurstes unübertrefflich und die zahnlose Hinfälligkeit des alten Mannes mit der raten Nase und dem weissen Barte aus Kaninchenfell rührend und ergreifend. Welch erhabene Strenge drückte sich in dem Antlitz des Gerichtsdieners aus, und was für stiere, grosse runde Augen der Gerechtigkeit hatte er! Eine prachtvollere Hexe als die ältere Dame, die Kaspers Frau oder des Teufels Grossmutter darzustellen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, und der Liebreiz einer jungen Dame mit gelben Haaren und wasserblauen Augen war meiner Ansicht nach wohl geeignet, alle Herzen zu entzünden. Wundervoll scheusslich war der Teufel, der, schwarz mit gelben Augen, stets eine Musterprobe seiner langen feuerroten Zunge hervorhängen liess. Bei diesem Teufelskopf hatte Onkel Philipp sich selber übertroffen, denn diese Zunge liess sich anderthalb Fuss weit herausziehen und schnappte von selber wieder zurück, wenn man sie losliess. Was der Hanswurst in geeigneten Augenblicken hiermit für dramatische Effekte zu erzielen vermochte, kann man sich vorstellen. Über alle Begriffe prachtvoll graulich aber war der nur mit einem langen Hemde bekleidete Tod mit seinen leeren schwarzen Augenhöhlen und dem grinsenden Kiefernmaul voll schneeweisser Zähne. Ich höre es noch heute deutlich, wie der Hanswurst, der natürlich weder Tod noch Teufel fürchtet, zu ihm sagt:

»Wo sühst du denn aus? Du hast ja gar nichts an!«

Worauf der Tod ein paarmal feierlich hin und her wackelt und mit tiefer Grabesstimme psalmodierend antwortet:

»Die Toten brauchen keine Kli-kla-kleider.«

Hanswurst aber, ruchlos und respektlos wie immer, äfft ihm in ganz hoher Stimmlage nach:

»Na, da brauchen Sie auch keinen Schni-schna-schneider!«

Onkel Philipp war früher einmal bei günstiger Gelegenheit dem berühmten Puppenspieler Strauschild so lange nachgegangen, bis er alle seine Stücke auswendig gelernt hatte. Diese bildeten die Grundlage seines Dramenschatzes, den er aber durch Stücke eigener Erfindung zu vermehren stets bestrebt war. Denn auch die Muse hatte seine Stirn geküsst, und keine goldene, silberne oder grüne Hochzeit im Bekanntenkreise oder sonst ein bemerkenswertes Familienfest war denkbar, ohne die Mitwirkung seiner stets bereiten Dichterleier.

Ich will hier nicht aufzählen, was Onkel Philipp sonst noch alles konnte und leistete, denn dazu würde ich noch viele Seiten brauchen, nur eines muss ich noch erwähnen, weil dies für meinen Freund Adolf Martens und mich, wenn auch nicht gerade erfreulich, so doch von besonderer Wichtigkeit war. Als wir dem Abcbuch und der Rechenfibel des Dorfschulmeisters entwachsen waren, entsann sich Onkel Philipp selbstverständlich seines früheren Berufes und übernahm unsern Unterricht, indem er uns alltäglich von acht bis zwölf Uhr in die Geheimnisse der höheren Wissenschaften einzuführen versuchte.

Wir machten bei ihm die Bekanntschaft des alten Zumpt, der seine hohe dichterische Begabung leider, anstatt die Liebe, den Wein, das Wandern, den Mond, die Ewigkeit und das Meer zu besingen, auf den trockenen Stoff der lateinischen Formenlehre und Syntax verwendet hat, welchen letzteren Wissenschaftszweig wir Sündentaxe zu nennen pflegten, da sie gewissermassen eine Taxe aller unsrer reichlichen Sünden gegen den heiligen Geist der lateinischen Sprache enthielt. Dass Onkel Philipp sich um diese Zeit, um einem tief gefühlten Bedürfnis abzuhelfen, auf die Fabrikation einer genügenden Menge von ganz ausgezeichneter roter Tinte verlegte, sei nur nebenher bemerkt. Wir wurden eingeführt in die, leider durch so unendlich viele Jahreszahlen wehrsam gemachte, Geschichte, und noch heute hege ich eine tiefe Dankbarkeit gegen Karl den Grossen, der die Liebenswürdigkeit gehabt hat, sich im Jahre achthundert zum Kaiser krönen zu lassen, weil das so leicht zu behalten geht. Die Daten aller jener Tage zu wissen, an denen sich all die Jahrhunderte hindurch die Menschheit gegenseitig und massenhaft umgebracht hat, mag für den, der sie inne hat, ein erhebendes Gefühl sein, wir meinten aber dies leichten Herzens entbehren zu können, und jedenfalls hatte für uns die Kenntnis des Zeitpunktes, wann die Haselnüsse auf dem Rosenwerder reif wurden, ein höheres und, wie man es nennt, aktuelleres Interesse.

Wohl dem, der die deutsche Sprache mit der Muttermilch einsaugt und sich nicht mit ihrer verzwickten Deklination und Konjugation und dem hakigen Dorngestrüpp ihrer persönlichen Fürwörter so zu plagen braucht wie ein Ausländer, wie das in neuerer Zeit Mark Twain so lustig dargestellt hat. Diese Stunden verstand Onkel Philipp uns ganz besonders schmackhaft zu machen durch geschickt ausgewählte Lesestücke und Gedichte, die unserm Verständnis angemessen waren. Auch als wir später kleine Aufsätze schrieben, wusste er uns Aufgaben zu stellen, die mit unsern einfachen Mitteln zu beherrschen waren und uns deshalb Vergnügen machten. Die zu lernenden Gedichte durften wir uns selber wählen, und dass wir keines aussuchten, das über unser Verständnis ging, kann man sich wohl denken. Dass der Kanadier dabei nicht fehlte, – der Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte und sich so lecker von Hummer, Lachs und frischem Bärenschinken ernährte, so wie der Mann, der die Pfeife von rotem Thon mit goldnem Reifchen lieber hatte als sein Bein, darf wohl angenommen werden. Wir lasen bei ihm eine Prosadarstellung der homerischen Gedichte und waren beide unbedingt auf Seiten der Trojaner, und um Hektors schmähliches Ende habe ich manche heimliche Thräne geweint. Achilles hassten wir beide, und hätten wir damals diesen Ausdruck schon gekannt, so würden wir ihn ein ekliges Rauhbein genannt haben. Die tapferen und vertrauensvollen Trojaner wurden schliesslich doch nur durch die Pfiffigkeit des hinterlistigen Odysseus besiegt, welcher alte Herumtreiber dann zehn Jahre brauchte, um die lumpigen einhundertzwanzig geographischen Meilen Seeweg nach Ithaka zurückzulegen, weil er sich unterwegs allerwärts festkneipte und höchst merkwürdige Abenteuer mit Damen hatte. Und dann liess er, ehe er all die Freier abschlachtete wie eine Hammelherde, ihnen vorher die Waffen wegnehmen, damit sie sich nicht wehren konnten, was wir sehr wenig heldenmässig fanden, und was ihm ähnlich sah. Siegfried oder der Spielmann Volker, ja selbst der grimme Hagen hätten so was nicht gemacht. Amüsant waren die Abenteuer des Odysseus ja, besonders das mit Polyphem, aber leiden mochten wir ihn nicht. Um diese Zeit nannten wir einmal Hanne Bernitt, der die Schweine des Dorfes hütete, einen »göttlichen Sauhirten«. Seine Bildung reichte aber wohl nicht weit genug, um das Schmeichelhafte dieser Anrede zu erkennen, sondern er vermutete offenbar blutigen Hohn darunter, denn er schlug mit der Peitsche nach uns, warf uns mit Erdkluten und nannte uns »infamtige Snäsels!«

Am besten gefiel uns aber der Geographieunterricht, wie ihn Onkel Philipp zu erteilen und anregend zu machen verstand. Hatte er doch ein so grosses Stück der so weitläufigen Geographie mit eignen Augen besichtigt und war in fast allen Ländern Europas, ja sogar in Nordafrika und Kleinasien gewesen, was damals ungeheuer viel mehr bedeutete als jetzt, wo die Weltumbummler nach Hunderttausenden zählen und man schon einen der wenigen unentdeckten Landstriche »durchquert« haben muss, um als Reisender Beachtung zu finden.

Damals waren so weitgereiste Leute wie Onkel Philipp noch sehr selten, und das kleine Steinhusen konnte es sich zur Ehre anrechnen, einen solchen unter seinen wenigen Einwohnern aufzuweisen. Wie angenehm wurde nicht der »kleine Daniel« illustriert und ergänzt, wenn Onkel Philipp bei der Besprechung des Vesuvs aus seinem Raritätenschranke ein Stück Lava herbeiholte, in das in seiner Gegenwart vom Führer eine alte römische Kupfermünze eingeschmolzen worden war, und er dazu sagte: »Diese Lava hab‘ ich noch lebendig gesehen.« Oder wenn er eine kleine Bronzelampe aus Pompeji vorzeigte, die wie eine Theekanne aussah, und dazu die Meinung äusserte, vielleicht hätte beim Lichte dieser Lampe ein alter römischer Schriftsteller etwas geschrieben, das wir jetzt übersetzen müssten. Wir waren allerdings der Meinung, die alten Römer hätten ihre uns so lästig fallende Schriftstellerei lieber unterlassen sollen, jedoch betrachteten wir das grünliche, vom Alter umwitterte Gerät mit Ehrfurcht. Noch viel älter aber waren die steinernen Käfer und Püppchen, die aus einer wirklichen Pyramide stammen sollten, und ein Stück von einer Papyrusrolle, mit wunderlichen Figürchen bemalt, das Onkel Philipp wie ein Heiligtum verehrte und für einen Schatz hielt. Ganz aus neuer Zeit wieder waren die schönen Glasperlen aus Murano, die bei Gelegenheit Venedigs zum Vorschein kamen, und eine Tuchnadel aus Florenz mit einer Rose, die aus winzigen kleinen Steinen auf schwarzem Grunde eingelegt war. Aus Konstantinopel stammte eine schöne bunte Wasserpfeife mit langem rotem Schlauch, und es war ein vortrefflicher Spass, als Onkel Philipp sich mit gekreuzten Beinen auf ein Kissen setzte und uns etwas auf türkisch vorrauchte, wobei er sich ganz blau im Gesichte sog und ihm wegen der Tücke dieser zusammengesetzten Qualmmaschine plötzlich ein ungeheurer Strahl Rauch in die unrechte Kehle fuhr, so dass er sich fast die Seele aus dem Leibe husten musste. Als er endlich wieder zu Atem und Besinnung kam, meinte er: »Die Türken müssen wohl einen ganz andern Sogg haben als unsereiner, denn die greifen sich dabei gar nicht an.«

In der warmen Jahreszeit bei gutem Wetter hatten wir den Unterricht in einer grossen schattigen Lindenlaube, und waren wir dann mit schriftlichen Arbeiten oder dem Lernen von Aufgaben beschäftigt, was, da wir Hausarbeiten nicht zu machen hatten, immer einen grossen Teil der täglichen vier Stunden ausfüllte, so hatte Onkel Philipp die beste Gelegenheit, in seinem Garten zum Rechten zu sehen, eine scharfe Polizei über das Ungeziefer auszuüben und zu säen, zu pflanzen, zu hacken und zu begiessen. Zuweilen sah er sich dann nach uns um, entweder erloschenen Eifer anzufeuern, Gelerntes zu verhören oder strenges Gericht zu halten über unsre grausamen Misshandlungen der toten wie der lebendigen Sprachen. Und über uns in der Lindenlaube sang ein Buchfink sein Lied oder zwitscherte eine Zaungrasmücke ihre zierliche krause Weise. Hummeln und Bienen summten eilfertig vorüber, die Schwebefliegen standen in der warmen Luft, und spielende Schmetterlinge schwankten draussen im Sonnenschein. Einmal kam ein schönes Pfauenauge, vielleicht angezogen durch die Weisse des Papiers, hineingegaukelt in die Laube und setzte sich auf den alten Zumpt, der aufgeschlagen dalag, gerade auf die schöne Regel:

Viele Wörter sind auf is
Masculini generis.

Offenbar hatte er sich ganz etwas anderes von dem alten Zumpt vorgestellt und irgend einen verborgenen Honig in ihm vermutet, denn wie es uns schien, war seine Enttäuschung unbeschreiblich. Mit wahrem Entsetzen hob er sich eiligst davon und floh, so weit er konnte. Sehnsüchtig und verständnisvoll schauten wir ihm nach.

Kurz nach unserm Abenteuer auf dem Uhlenberge waren die grossen Ferien zu Ende, und wir trotteten eines Morgens, mit stummer Ergebung in ein unvermeidliches Schicksal, mit unsern Büchern zu dem gewohnten Unterricht. Wir trafen Onkel Philipp, wie er auf der Bank am Rheinfall sass und seine Morgenpfeife rauchte. Die letzte Wandlung, die nämlich die von ihm so sehr geliebte Quelle durchzumachen gehabt hatte, war, dass sie den Rhein darstellen musste, vom Ursprung bis zur Mündung. Dies war zurzeit der grösste Stolz seines Gartens. An der höchsten Stelle, wo das Wässerchen in das Grundstück eintrat, wurde es zunächst durch ein gemauertes Sammelbassin aufgefangen, dessen Inhalt bei festlichen Gelegenheiten den Springbrunnen zu speisen hatte. Für gewöhnlich aber lief das Wasser an drei Stellen über den Rand dieses durch Felsblöcke und Steintrümmer verkleideten Gemäuers und trat als Vorder-, Mittel- und Hinterrhein in eine grossartige Alpenlandschaft ein, deren höchste Gipfel sich mindestens sechs Fuss hoch über die umliegende Ebene erhoben. Dass in den Thälern und an den Hängen dieses Gebirges nur Alpenpflanzen, wie Edelweiss, Enzian, Alpenglöckchen, Alpenrosen, Alpenveilchen, Edelraute und dergleichen wuchsen, ist selbstverständlich. Hatten sich nun die drei fadendünnen Gerinnsel zum wirklichen Rhein vereinigt, so trat dieser sehr bald in den stattlichen und langgestreckten Bodensee ein. Es zuckte uns oft sehr in den Beinen, diesen prächtigen See zu überspringen, und nur die Ueberlegung hielt uns von dieser hasenfüssigen That zurück, dass Onkel Philipp das als eine schwere Kränkung empfunden haben würde. Gab es ihm doch schon immer einen Stich durch das Herz, wenn man diesen Rheinstrom anderswo als auf den eigens dazu angelegten Brücken zu überschreiten wagte. Im Bodensee lebte eine Anzahl sehr stattlicher Goldfische, denn die Forellenzucht hatte sich leider als zu schwierig erwiesen. Nicht sehr weit hinter ihm war dann natürlich der Rheinfall, wo der stattliche Strom anderthalb Fuss breit über einen glatten Stein schäumend in einen kochenden und wirbelnden, mindestens drei Fuss tiefen Abgrund stürzte. An ganz stillen Tagen konnte ein sehr scharfes Ohr den Donner dieses Falles fast durch den ganzen Garten vernehmen. Dort hatte Onkel Philipp ein Bänkchen und einen Tisch, und wenn ihn einmal die Lust ankam, Betrachtungen anzustellen über die Ewigkeit, über die Vergänglichkeit alles Irdischen oder die Erhabenheit des Weltalls, so fand er, dass dergleichen hier am besten zu erledigen ging, während er aus einem echt türkischen Tschibuk gelben gelockten Tabak dazu rauchte. In ruhigerem Laufe zog dann hinter dem Falle der Rhein dahin, vorüber am Schwarzwald, Odenwald, Taunus, Hundsrück und so weiter, bis er langsam und träge Holland, eine blumige Wiese am Ufer des Sees, in mehreren Armen durchkroch, um endlich in die Nordsee zu münden. Dass die kleineren Gebirge an seinen Ufern mit den Pflanzen des Mittelgebirges bis hinunter zur Ebene bestanden waren, versteht sich wiederum von selbst. Diese ganze sinnreiche Anlage hatte aber einen Uebelstand, der Onkel Philipp manchen Kummer bereitete. Wurde bei besonderen festlichen Gelegenheiten der Springbrunnen losgelassen, und hatte dieser nur eine kurze Weile mit seiner goldenen Kugel gespielt, so machte der vermehrte Wasserverbrauch, dass der Vorder-, der Mittel- und der Hinterrhein alsbald versiegten, so dass die Speisung des Bodensees aufhörte und dieser den Rheinfall nicht mehr zu versorgen vermochte. Nach einer Viertelstunde war dann der ganze Rhein bis auf ein paar kleine Tümpelchen weggelaufen, und der Rheinfall tropfte nur noch ein wenig, als weine er über seine eigene Unzulänglichkeit. Die Erhabenheit des Wasserfalles und die Lieblichkeit des Springbrunnens schlossen sich aus, beide zusammen konnte man nicht geniessen.

Als Onkel Philipp uns von seinem Simulierplatz am Wasserfall aus bemerkte, stand er auf und ging mit uns in die Lindenlaube, wo eine Flasche und ein Fässchen mit köstlicher Gallustinte und einige Bücher schon auf uns warteten. Aber anstatt sich mit uns sofort in den Strudel der Wissenschaften zu stürzen, liess er es heute sachte angehen und examinierte uns noch ein wenig über unsere Erlebnisse auf dem Uhlenberge. »Habt ihr die Orchideen nicht gesehen, so habt ihr nichts gesehen«, sagte er im Laufe dieses Gespräches und wiederholte, wie in tiefem Sinnen, als ob er all diese Herrlichkeiten im Geiste schaue: »habt ihr gar nichts gesehen, gar nichts gesehen. Wisst ihr, was Orchideen sind, wisst ihr?«

»Orchis maculata!« rief ich.

»Epipactis rubiginosa!« rief Adolf, offenbar stolz, dass er den krausen lateinischen Ausdruck bei der Hand hatte.

Onkel Philipp lachte und rief: »Jeja, jeja, das sind einheimische Orchideen, kleine, kümmerliche Dinger, wachsen hier in der Gegend auf der Reuterwiese und auf dem Rugahner Sandberg und in den Hasenhören. Aber Herr Wohland hat tropische Orchideen, tropische! Sind Wunderblumen wie aus ›Tausend und einer Nacht‹, Wunderblumen! Sehen aus wie riesige Schmetterlinge oder bunte Kolibris, und manche sind geformt wie aus gefärbtem durchsichtigem Wachs und sehen ganz unmöglich aus, dass man sagt, es ist nicht wahr, wenn man sie sieht, die Blumen sind gelogen. Prachtvoll, sag‘ ich euch, ganz ungemein prachtvoll, übernatürlich prachtvoll. Hab‘ sie gesehen in England, Hamburg und Berlin, aber in England waren die schönsten. Kommt dem Engländer auf ’ne Handvoll Guineen nicht an, wenn er dafür haben kann, was andre Leute nicht haben, kommt ihm nicht darauf an. Bezahlt Reisende, die ihm solche unmöglichen Dinger sammeln müssen im unbekannten Urwald zwischen Giftschlangen und Kopfabschneidern – Giftschlangen und Kopfabschneidern sag‘ ich!«

Hier wurde er durch ein kleines Dorfmädchen unterbrochen, das den Gartensteig herunterkam in einer eilfertigen, geschäftsmässigen Weise, dass man gleich sah, wie es ganz unter der Hypnose eines ihm gewordenen Auftrages stand. Es trat an den Tisch heran, schoss, scheinbar von einem innern Schnappwerk getrieben, zu einem Knicks zusammen, hob die ängstlich zusammengeballte kleine Faust auf den Tisch, liess ein warmes Kupferstück herausfallen und sagte: »För ’n Dreiling (eineinhalb Pfennig) Dint!«

»Hest denn ok ’ne Buddel, lütt Diern?« fragte Onkel Philipp.

»’n Köppken heww ick,« sagte das Kind und brachte eine henkellose Tasse mit einem Riss zum Vorschein. Während er nun ein wenig von der schwarzen Flüssigkeit in dieses sonderbare Gefäss goss, fragte er: »Kannst du denn all schrieben?«

Die Kleine, die sich unterdes aus dem Zeigefinger fortwährend Mut gesogen hatte, nahm diesen aus dem Munde und antwortete, sichtlich verwundert über die Unwissenheit dieses Mannes in den bekanntesten Dingen: »Ick kam doch ierst tau Micheel bi ’n Köster. Un dei Dint is doch för uns‘ Trina. Dei will doch an ehrn Brüjam schrieben.«

»Szü, szü, wo nüdlich«, sagte Onkel Philipp, »wahnt denn ehr Brüjam in ’n anner Dörp?«

‹Wat dei Mann ok all nich weit!‹ dachte offenbar die Kleine, ehe sie antwortete: »Hei deint doch bi de Dreiguners in Lurwigslust. Un hett ’n blagen Rock an mit ’n roden Kragen un blanke Knöp, un ’n groten Säbel hett hei ganz von Sülver un sonne feine Stäwels, un wenn hei geiht, denn klingelt dat.«

»Nu, szü mal an!« sagte Onkel Philipp, »denn is dat woll Krischan Kiwitt? Na, denn segg man jug Trina, wenn sei an em schriwwt, denn sall sei em von mi grüssen; hürst woll, lütt Diern? Un nu gah ok schön langsam mit dei Dint, und schurr di nix von up dei Schört, un fall nich äwern Süll.«

Die Kleine bedankte sich und machte wieder einen Knicks, aber vorsichtig, dem kostbaren Inhalt ihrer Tasse entsprechend, und ging dann fort, einen Fuss dicht vor den andern setzend und die Augen andächtig auf die schwarze Flüssigkeit gerichtet, als trüge sie den heiligen Gral. Es dauerte über eine Minute, ehe sie aus der Sicht kam, und Onkel Philipp sah ihr wohlwollend nach, denn es schmeichelte ihm stets, wenn man von seiner Tinte begehrte.

Wir hofften auf einige weitere Mitteilungen über das Leben eines Orchideensammlers, das wir uns in reizvoller Weise mit Giftschlangen- und Kopfabschneiderabenteuern durchflochten dachten, allein diese Hoffnung schlug fehl, denn durch den Tintenhandel schien Onkel Philipp an den eigentlichen Zweck dieser Stunden erinnert worden zu sein und steuerte ohne Gnade auf den Cornelius Nepos los. Bald radebrechten wir mit höchst mässigem Interesse an der Sache unser Latein, wie vor uns schon ungezählte Millionen junger unglücklicher Opfer des Humanismus. Wenn der alte Cornelius Nepos in seinem, wie ich denke, behaglichen Jenseits erfahren könnte, welches Leid und welche Langweile er über die geplagte Jugend späterer Jahrhunderte gebracht hat, und wieviel Stunden, die zu Lust und Freude hätten geschaffen sein können, er gleich Gummi zu unendlicher Länge gedehnt hat, wieviel »Jagdhiebe« seinethalben schon niedergesaust sind auf jugendliche Schultern, würde er dann wohl noch wünschen, seine Vitae geschrieben zu haben? Ich nehme zu seiner Ehre an – nein.

Und doch, sollte dieser alte Heide ganz unzugänglich sein jenem unchristlichen, aber sprichwörtlich süssen Gefühle, das man Rache nennt? Würde es ihn nicht am Ende doch freuen und ihm einen diebischen Spass machen, dass er den Nachkommen jenes Volkes, das einst die Macht des Römischen Reiches brach und vernichtete, noch nach Jahrhunderten und durch Jahrhunderte das Leben verbitterte, seine Träume vergiftete und seine blühende Jugend mit Vokabeln ängstigte? Eine wohl aufzuwerfende Frage.

Aber auch diese vier Stunden, die im Gegensatz zu den vergangenen vergnüglichen Ferienwochen sich zu unendlicher Länge dehnten, gingen endlich vorüber, und als wir vergnügt davonrannten, trafen wir isern Hinrich, der vor der Gartenthür auf uns wartete. Nach den feierlich vollzogenen Begrüssungsformalitäten sagte er: »Up ’n Uhlenbarg is dat dull hergahn. Wat gawt ji mi, wenn ick jug dat vertell?«

Isern Hinrich war merkantilisch veranlagt und »schuterte« gern mit uns, wobei wir meist den kürzeren zogen. Auch hatte er, wie man sieht, bereits begriffen, dass es auch Waren geistiger Natur giebt, und dass die Kenntnis von Neuigkeiten sich fruktifizieren lässt. Obwohl uns nun Nachrichten vom Uhlenberge sehr interessierten, so fingierten wir doch, in der Hoffnung, den Preis zu drücken, einen gänzlichen Mangel an Neugier und boten ihm zunächst jeder einen »Backs« dafür.

»Makt kein Spijök!« sagte er, »von Driebenkiel ganz wat Dulls! Acht Appels von den groten Sommerschiebenboom in ’n Pastergoren, dorför dauh ‚k ‚t.«

»Wir handelten bis auf sechs herunter, wobei isern Hinrich sich aber Aussuchen bedang, gingen dann hin und schüttelten den mächtigen Baum, der in diesem Jahr ungemein reich trug, so dass wir mit aller Mühe und Aufopferung seine uns gänzlich überlassenen Früchte noch nicht hatten bewältigen können. Die Sommerscheiben waren überreif und schon ein wenig »glarig«, das heisst durchscheinend, und mit Behagen sammelte sich isern Hinrich die sechs grössten und schönsten heraus. Wir setzten uns auf eine benachbarte Bank, und während wir von Zeit zu Zeit kräftig in die Apfel bissen, begann isern Hinrich zu erzählen.

»Driebenkiel wir gistern werre hier«, sagte er. »Herr Wohland hett em schasst un aflohnt, hei hett sin Greld kragen bet Micheel.«

Die Pause unsrer Verwunderung benutzte er, einen ungeheuren Apfel zu essen, während er mit dem zweitgrössten liebäugelte.

»Ja«, fuhr isern Hinrich fort, »gistern Namiddag kümmt Driebenkiel mit eins bi uns an tau stahn, lett sick ’n groten Akkewiet gäben un seggt tau mi: ›Jung, ick gäw di ok ’n Schilling‹, seggt hei, gah mal hen un segg Jochen Nehls, hei süll mal ’n beten ‚rümkamen un ’n Sluck mit mi drinken.‹ Ick jo nu ok hen un drap Jochen Nehls bi ‚t Maddick graben, wil dat hei s‘ abens rutführn wull tau ’n Angeln. As ick em dat nu segg, lett hei allens liggen un stahn un kümmt gliek mit mi, denn wo ‚t wat tau supen gift, is hei fix bi dei Hand. Na, dor hett em Driebenkiel jo nu allens verteilt, un ick seet achterm Aben un dehr, as wenn ick gor nich dor wir, un heww allens hürt. Driebenkiel, dei allerhand kann, ’n beten muern, ’n beten dischern, ’n beten gärtnerieren un wat dat süss noch gift, dei hett vor drei Wochen mal in ’n Winkeller tau dauhn hatt, wil dat Herr Wohland ’n poor niege Winburten von em maken laten dauhn dehr. Hei wir süss nich för Win, sär Driebenkiel, hei wir em tau suer un harr kein Kraasch; ’n düchtigen Rum wir em leiwer. Dor harr nu äwer in ein Eck von den Keller so ’n Hümpel von vierkantige Buddels lägen, ganz vull Stow un Spennwäben, dei harren em so anners ankäken, as wenn dor mäglich woll Snapps in sin dauhn dehr. Dor hett hei sich ein von ünner dei Jack knöpt un mit rup nahmen, un abens nah Disch hett hei ehr upmakt un dorvon drunken. Un dor is dat doch Win wäst. ›Junge di!‹ sär Driebenkiel tau Jochen Nehls, ›nu kreeg ick ierst tau weiten, wat Win is. Dei güng mi dei Gördel dal as idel säut Füer un leep mi dörch ‚t ganze Liew bet in dei Knäwel un bet in dei Tehn. Un wat för ’ne vergnäugte Duhniteh geew dat; as ick dei Buddel utharr, dacht ick, ick hürt dei Engel in ’n Himmel singen.‹ Na, den annern Dag hett sick Driebenkiel so ein bi ein noch fiew von dei Buddels mit rup nahmen, un sei in ‚t Hauschuer ünner dei Hubelspön verstäken. Un dei hett hei denn na un na so sachten utlutscht. Un hebben em ganz gefehrlich na mihr smekt, äwer dat oll grote Kunstslott hett nu all werre for den Keller bammelt, un hei hett dor nich bikamen künnt. Na, dat wir jewoll ok all ganz gaud gahn, meint Driebenkiel, wenn dei infamtigen, wittsnutigen Karnalljen von Bengels – dor meint hei jug mit – donn nich dat in ‚t Water fallen kragen harren. Dor is nahst Herr Wohland in ’n Keller gähn un hett ein von dei vierkantigen Buddels ruphalt, wil dat hei dei sakermentschen Krätendinger, dei gälen Snäsels – dor meint er jug mit – mit den Win ’n beten werre upwarmen wull. As wenn Kamellenthee nich gaud naug wir för sonne kalwerigen Dämelacks, dei achter dei Uhren noch nich drög sünd – dor meint hei jug mit. As Herr Wohland nu den Win halt hett, is em dat all so vorkamen, as wenn dor wen bi wäst wir un as Driebenkiel jug na Hus führt hett, dor hett hei natellt, un söss Buddels hebben fehlt. Donn hett hei nasöcht in Driebenkiel sin Kamer un in ‚t Hauschuer un dor hett hei achter dei Hubelspön dei söss lerrigen Buddels funnen un is in ’ne gruglige Wut kamen. As nu Driebenkiel so ’n bäten duhn na Hus kamen dauhn dehr und Herr Wohland em dat mit den Win up ’n Kopp tauseggen dauhn dehr, dor hett hei ierst noch leigen wullt un upbegehrt. Dor hett em Herr Wohland äwer dei söss leddigen Buddels wiest, un dor is ‚t ut wäst. Herr Wohland hett em so ankäken, dat Driebenkiel sick vor em grast hett, un hei hett sin poor Plünnen gliek tausamenpacken müsst, und den annern Dag hett hei ut ’n Hus‘ müsst. Hei hett hürt, wo Mamsell Kallmorgen tau Stina seggt hett: ›Warum nimmt er aber auch von den Herrn sein Inselwein, wo er sich so mit hat, un was ein Heiligtum for ihn is? Um sechs Buddel von seinen gewöhnlichen Schatoh da hätt‘ er gar keine Wirtschaft gemacht. Un nahst sär Driebenkiel: ›Un dat ganze Mallühr kümmt doch man blot von dei däsigen Snappenlickers von Jungs her‹ – dor meint hei jug mit –, ›un krieg‘ ick dei mal tau faten, denn will ick sei so mit dei Snuten tausamen stöten, dat sei den Mand för ’n Bodderfatt anseihn sälen.‹«

Es war bemerkenswert, zu hören wie isern Hinrich die reichlichen und saftigen gegen uns gerichteten Injurien in gehobenem Tone vorbrachte, sozusagen zweimal unterstrichen und mit dem Behagen eines Feinschmeckers, der köstliche Austern schlürft. Dann fuhr er fort: »Un donn füng Driebenkiel an tau snacken von Herrn Wohland sin’n Giez, dat hei von söss Buddel Win so ’n Upheben maken dauhn dehr, un füng an tau swögen von sin väles Geld, un wenn hei, Driebenkiel, dat hebben dehr, denn süll dat ’n annern Swung kriegen. Un tauletzt kreegen sei dat mit dat Tuscheln un Flustern, dat ick nix mihr verstahn künn, blot wennigmal so ein Wurt von ’n ›Wandschapp ünner dat Bild‹ un ›Diamanten un Rubins‹, un von ein ’n ›Jubelierer ut Hamborg‹ un ›hunnertdusend Daler‹ un ’n ›Johannitermln‹ un ›Geldhalen ut Hamborg‹ un donn müsst em Jochen Nehls dei Hand gäben un wat swören, wat ick nich verstahn künn, und donn füng Driebenkiel so liesing an tau tuscheln, dat ick nix mihr hüren künn blot as ick mal so sachting um dei Eck von den Aben schulen dauhn dehr, dor seeg ick, dat Jochen Nehls sin Gesicht ganz witt wir, un dat hei utseeg, as wenn hei sick gräsen dehr. Driebenkiel tusche äwer ümmer wiere, bet min Oll inkeem un mi na ’n Goren schicken dehr. Nahst, as ick werre rinkamen dauhn dehr, wiren sei beir‘ all weg.«

Damit war isern Hinrichs Bericht zu Ende, und da er in den häufigen Pausen, die er zur Erhöhung der Spannung machte, nicht müssig gewesen war, hatten auch die Sommerscheiben ihren Beruf erfüllt. Wir drückten unsre Zufriedenheit über diese wertvollen Nachrichten dadurch aus, dass wir ihm nachträglich seine ursprüngliche Forderung bewilligten und ihm aus freien Stücken zwei prachtvolle Äpfel nachlieferten, worüber er nicht geringe Befriedigung empfand.

Wir trennten uns, indem wir die Hoffnung aussprachen, dass es Driebenkiel niemals gelingen möge, uns durch seine angedrohten Experimente die Ähnlichkeit des Mondes mit einem Butterfass einleuchtend zu machen.

III.

In unserm Garten stand dicht am See eine uralte Linde, deren gewaltige Krone sich weithin verzweigte, und deren niederhängende Zweige einen laubigen Saal bildeten, wo an heissen Sommertagen gut zu sein war. Ich aber hatte mein Quartier in die Höhe verlegt und mir zwischen den Gabelungen mächtiger Aeste ein Menschennest gebaut. Der Boden war von alten Brettern, die Wände bestanden aus Flechtwerk, mit Moos ausgestopft, und das regensichere Dach aus Rohr; nach dem See zu war es offen. In diesem primitiven Hüttchen befand sich ein bequemer Sitz und unter ihm ein geheimes Gelass, eine sogenannte Muddelkiste, worin ich Obst und Nüsse und andere Schätze aufbewahren konnte. An den Wänden hingen meine Waffen, ein Bogen, den der Rademacher kunstreich auf der Zugbank aus Eschensplintholz hergestellt hatte, und dessen Sehne aus einer richtigen Kontrabassdarmsaite bestand, eine Waffe, auf die ich stolz war, denn ich konnte über hundert Schritte weit damit schiessen; daneben ein Köcher aus Birkenrinde mit Rohrpfeilen, die vorne durch Umdrehen in heissem Pech und dann in grobem Sande beschwert waren, und ein hölzerner Tomahawk, sowie ein Bumerang, welche Seltenheit ich Onkel Philipp verdankte, der ihn mit, grosser Mühe und nach den Vorschriften eines australischen Reisewerkes aus einem krummen Holze geschnitzt hatte. »Sehr schön war diese Stute, doch leider war sie tot,« heisst es in einem alten Gedichte. Leider konnte man Aehnliches von diesem Bumerang sagen, denn obwohl er ganz prachtvoll gearbeitet und glatt wie poliert war, so fehlte ihm doch die Eigenschaft zu seinem Schleuderer auf geheimnisvolle Weise wieder zurückzukehren, gänzlich. Ein Schild aus dicker Pappe und eine Anzahl von »weithin schattenden« Lanzen oder Wurfspeeren aus den langen glatten Schossen des Holunders vollendeten die kriegerische Ausrüstung. Dicht unter dem Dache an regensicherer Stelle hatte ich ein Bort angebracht, und auf ihm lehnten stets einige Bücher, deren Inhalt immer und immer wieder zu verschlingen ich nicht müde wurde. Denn ich war, wie ich gestehen muss, eine Leseratte, und diese Neigung zu befriedigen, gab mir Onkel Philipps Bibliothek ausbündige Gelegenheit. Im Gegensatz zu der Bücherei meines Vaters, die meist wissenschaftliche und vorzugsweise theologische Werke enthielt, fanden sich in der des Onkels viele Werke aus der schönen Litteratur und ausserdem Reisebeschreibungen und naturwissenschaftliche Bücher und sonst allerhand, was amüsant und spasshaft zu lesen und zu besehen war, zum Beispiel einige Bände der Fliegenden Blätter, der Düsseldorfer Monatshefte, des Pfennigsmagazins, des Buches der Welt, der malerischen Reise um die Welt und des Bertuchschen Bilderbuches. Wie oft ich mir in einem dieser Bände die feurige und grauliche Pracht des Vesuvausbruches angesehen habe, kann ich nicht sagen. Da Onkel Philipp der Meinung war, man könne Bücher von Wert Kindern nicht früh genug in die Hände geben, so stand mir der Inhalt seiner ganzen Bibliothek zur Verfügung, und ich habe schon in ganz jungen Jahren gelesen, was ich wollte, den Don Quichotte, Shakespeare, E. T. A. Hoffmann, Swifts Werke, Romane von Dickens, soweit sie damals erschienen waren, Paul und Virginie, Töpffers Genfer Novellen, Washington Irving, Bulwer, Jean Paul, Stifters Studien, die damals ganz neu waren, Andersen, Heine, Schiller, Goethe, Tausend und eine Nacht, alles bunt durcheinander und von manchen allerdings nur einzelnes, was man sich bei Jean Paul und Goethe ja leicht vorstellen kann. Mit zwölf Jahren las ich auch den Gil Blas von Lesage, ohne den geringsten Schaden an meiner Seele zu nehmen; denn das, was etwa für mein Alter nicht passend war, verstand ich nicht, oder es langweilte mich gar. An diese Stunden in meinem Menschenneste denke ich oft noch mit einem innigen Behagen und mit der Empfindung, ein ähnliches Glück und gleiche Wonnen später nie wieder empfunden zu haben. Wie herrlich schwelgte es sich in diesen Zaubergärten der Einbildungskraft, in diesen künstlich verschlungenen Labyrinthen poetischer Erfindung, wenn um mich herum die Bienen summten, die Vögel sangen und der blaue See durch die gelblich-weiss blühenden Lindenzweige schimmerte. Oder im Sommer, wenn bei brennender Sonnenglut kein Blatt sich rührte, der Pirol aus den benachbarten Kirschenbäumen unablässig rief, das ferne Klappern der Erntewagen und das Peitschenknallen der Knechte bei der stillen Luft deutlich vernehmbar war und der See mit weissen Lichtern durch die Zweige blitzte. Auch im Herbste war es schön, wenn der Wind ging und mein kleines Haus hin und her wiegte und welke Blätter mir über das Buch tanzten, oder wenn es still und sonnig war, und über mir der Himmel so hoch und blau, und die bunten Herbstschmetterlinge sich sonnten, und zuweilen hie und da eine schwerreife Frucht dumpf herniederfiel, als hätte ein Sonnenstrahl genügt, sie zu lösen. Nur der Winter vertrieb mich von diesem luftigen Platze an den warmen Ofen, und auf meinem Lieblingssitze lagerte sich dann der weisse wollige Schnee. Und doch erinnere ich mich, dass ich einmal an einem sonnigen Wintertage mit grosser Mühe einen unsrer mächtigen Fussäcke, die mir bis an den Hals gingen, wenn ich drin steckte, dort hinaufhisste und sehr stolz auf diese Erfindung, mollig eingepackt, Hoffmanns phantastisches Weihnachtsmärchen vom Nussknacker und Mäusekönig las und das noch phantastischere vom goldenen Topf. Nebenbei sei bemerkt, das E. T. A. Hoffmann ganz besonders gut im Winter zu lesen geht. Denn wenn man Goethe vergleichen darf mit einer Sammlung aller guten Getränke, die es giebt, und Schiller mit einem edeln Rheinwein, so stellt Hoffmann einen guten heissen Weinpunsch dar, und Punsch ist ein Wintergetränk.

Was aber, meinen Jahren entsprechend, den grössten Eindruck machte, waren natürlich die Robinsonaden, die Jagd- und Indianergeschichten, und das war der einzige Punkt, wo auch mein Freund Adolf litterarische Neigungen zeigte. Denn sonst war er nicht fürs Lesen eingenommen, und die Stunden, da ich in meinem Menschenneste hockte, brachte er lieber in den Ställen bei den Pferden, Kühen und Schafen zu oder auf dem Felde bei den Knechten, und besonders zur Erntezeit war er in seinen freien Stunden mit »Biszufahren« von einer Hocke zur andern und dergleichen fanatisch beschäftigt. Die Cooperschen Romane aber, die sogenannten Lederstrumpfgeschichten, als da sind »Der Pfadfinder«, »Der Hirschtöter«, »Der letzte der Mohikaner«, »Die Ansiedler« und »Die Prairie« gefielen ihm ebenfalls, und wir beide liebten Natty Bumppo schwärmerisch, nahmen grossen Anteil an Chingachgook und begeisterten uns für Unkas, so dass wir fast in ein Zerwürfnis gerieten, weil jeder von uns seinen Namen führen wollte, wenn wir in den benachbarten Wäldern, einer in die Fusstapfen des andern tretend, auf dem Kriegspfade waren.

Nicht minder gefiel uns aber »der schweizerische Robinson«, »Sigismund Rüstig« von Marryat und »Robinson Crusoes Leben und Abenteuer« von Daniel Defoe. Zuerst natürlich lernten wir einen der letzten Ausläufer aller dieser Robinsonaden kennen, den von Campe für Kinder zurechtgemachten »Robinson den Jüngeren«. Dass wir um diese Zeit ausschliesslich Robinson und Freitag spielten und jammervoll missglückte Versuche machten, Töpfe und Schalen aus Ton zu formen und bei einem mächtigen Holzfeuer hart zu brennen, ist selbstverständlich. Doch hatten wir an dieser Geschichte auch mancherlei auszusetzen. Insonderheit hassten wir die eingestreuten Gespräche, die stets dann mit Sicherheit zu erwarten waren, wenn unser Interesse an Robinsons ferneren Schicksalen wie Feuer brannte. Warum mussten diese Kinder, Gottlieb, Lotte, Fritzchen und wie sie alle hiessen, in solchen Augenblicken gerade von dem erzählenden Vater mit Moral und Belehrung gestopft werden, und warum stellten sie ihre albernen Fragen so zur Unzeit? Für diese Kinder, die ihre Reden meist mit I! oder mit O! anfingen, und für ihre Gespräche konnten wir uns niemals erwärmen. Ferner missfiel es uns, dass Robinson anfangs auf dieser Insel so rein gar nichts hatte. Da war der Ur-Robinson des Daniel Defoe doch anders ausgestattet. Er hatte Gelegenheit, das ganze Schiff zu leeren und sich mit allen möglichen guten und brauchbaren Sachen auszurüsten, ja selbst mit kräftigem Getränk war er so reichlich begabt, dass er siebenundzwanzig Jahre nach seiner Ankunft auf der Insel noch immer mit Rum versehen war.

Eine Insel wurde nun natürlich für uns der Inbegriff aller Poesie, und wir schätzten uns glücklich, dass auch unsre Gegend mit dergleichen romantischen Einrichtungen reichlich ausgestattet war. Die eine dieser Insel, den zunächst gelegenen und zu Steinhusen gehörigen Rosenwerder, besuchten wir oft, und unser höchster Wunsch war, wie schon erwähnt worden ist, dort einmal eine längere Zeit als Robinson und Freitag in der Einsamkeit zu leben. Wir malten uns die Reize einer solchen Unternehmung mit den schönsten Farben aus, und da wir die höhere Einwilligung dazu noch einmal zu erlangen hofften, so hatten wir in aller Stille dort schon allerlei für solchen Zweck vorbereitet. Wir hatten schon im vorigen Herbst dort ein Stück Land urbar gemacht und es im Frühjahr mit Kartoffeln bepflanzt, die sehr gut gediehen waren, und hatten ferner dort mit vieler Mühe und Arbeit und der Hilfe isern Hinrichs eine kleine Hütte errichtet, die regensicher eingedeckt war und ein weitausladendes Vordach besass, unter dem man auf Bänken zu beiden Seiten der Thür wohl geschützt im Freien sitzen konnte. Inwendig war so viel Raum, dass zwei Menschen drin schlafen konnten und ausserdem ein Tisch und zwei Holzstühle Platz fanden, die uns der Rademacher aus alten Brettern und Latten kunstlos zusammengeschlagen hatte. Die Thür und die beiden kleinen Fensteröffnungen, die durch das Vordach vor dem einschlagenden Regen geschützt waren, konnten durch Vorhänge von alten Kornsäcken windsicher verwahrt werden. Selbst unsre Betten waren fertig, an jeder Seite des Innenraumes eins. Sie standen auf eingerammten Tannenpfählen; ihre Kasten hatten wir aus alten Brettern hergestellt und hoch mit Heu angefüllt, das wir selbst auf der Insel geworben hatten. Wenn wir uns jeder eine alte Pferdedecke als Überbett mitbrachten, musste es sich himmlisch darin schlafen. Wir versuchten es einmal zur Probe; es gelang uns aber nicht, in Schlaf zu kommen, vor lauter Vergnügen und Wonne über die prachtvolle Einrichtung dieses Robinsonhäuschens. Draussen hatten wir aus zusammengesuchten Steinen und Lehm einen vorzüglichen Feuerherd gebaut und um das Häuschen herum ein Gärtchen angelegt mit einer Feuerbohnenlaube und ganz ungemein viel Ringelblumen, Kapuzinerkresse, Sonnenblumen und ähnlichen gewaltsamen Pflanzen. Unser Stolz war eine Anzahl von Georginen und Stockrosen, die Onkel Simonis in diesem Frühjahr ausrangiert und uns geschenkt hatte. Da wir diese kraftvolle Vegetation nicht ganz im Unkraut hatten ersticken lassen und alles jetzt in voller Blüte war, so kann man sich denken, dass die Umgebung unsers kleinen Hauses uns schon von ferne mit den grellsten Farben entgegentrompetete. Wir fanden diese ganze Anlage höchst komfortabel und schön, und es that uns nur leid, dass sie den Zweck nicht erfüllen sollte, zu dem wir sie bestimmt hatten, und diese ganze Pracht ungesehen verblühen und zerfallen sollte. Da hatte ich eines Tages, als ich in meinem Menschennest sass und über den See hinweg nach Rosenwerder hinsah und kräftig über diese Angelegenheit nachdachte, einen Einfall, der mir ganz besonders einleuchtete. Wir mussten die höheren Instanzen, Eltern, Onkel und Tanten für unsern Plan dadurch zu gewinnen suchen, dass wir sie kennen lehrten, wie überaus prachtvoll wir auf Rosenwerder eingerichtet waren. Sie hatten alle keine Ahnung davon, und wenn wir auch mit Begeisterung davon erzählt hatten, so waren wir doch stets nur einem Lächeln über unsern kindlichen Überschwang begegnet. Wir mussten dorthin eine Landpartie veranstalten, ein kleines Waldfest musste dort gefeiert werden, und vor allen Dingen musste Onkel Philipp für diesen Plan gewonnen werden. Hatten wir den, der bei den Eltern so viel galt, auf unsrer Seite, so war schon viel erreicht. Ich rannte sofort zu Adolf, der meinen Plan sehr billigte, und wir beschlossen, sofort am nächsten Tage nach dem Unterricht an seine Ausführung zu gehen. Bei diesem Unterricht waren wir von so reger Aufmerksamkeit und so hohem Fleisse erfüllt, dass dies sichtlich Onkel Philipps Wohlgefallen erregte und er in eine vergnügliche Stimmung geriet. Diese kam dadurch zum Ausdruck, dass er uns nach Schluss der Stunden aufforderte, ihm zu seinem Aprikosenspalier zu folgen, das mit einer Fülle goldener Früchte dicht bedeckt war. Diese Art der Zensur eines löblichen Betragens fand, wie immer, unsern höchsten Beifall, und als wir nun unsre Strohhüte mit den köstlichen Früchten halb gefüllt hatten, brachten wir unser Anliegen vor. Bestimmend war es für Onkel Simonis, als er hörte, dass wir uns dort einen Garten angelegt hätten. »’n Garten habt ihr da auch, Jungs?« sagte er, »das muss ich sehen. Muss ich durchaus sehen! Wir können gleich heut nachmittag mal ‚rüberfahren. Der Rademacher hat ja wohl euer altes Boot noch einmal wieder zurecht gekriegt, nur dass ihr damit nicht mehr segeln dürft. Und das ist gut, das ist ungemein gut, denn mit euch segeln? Lieber nicht! Ihr segelt mir zu dicht an der Ewigkeit vorbei. Aber nur, wenn das alte Boot wieder zu Gange ist, versteht ihr wohl? Denn in euer neues sogenannte Kanoe, da steig‘ ich nicht hinein, steig‘ ich durchaus nicht hinein, das ist mir zu windhundmässig. Also heut nachmittag Glock fünf, dann könnt ihr mich abholen, ja, könnt ihr!« Wir zogen vergnügt ab, glücklich, unsern Zweck so leicht erreicht zu haben. Er geriet in grosses Entzücken, als er dann unsre Ansiedlung erblickte. Sie lag am Rande einer Waldwiese, die an der einen Seite vom See begrenzt wurde, am Südostabhang eines Hügels. Dieser war vor Jahren abgeholzt worden, und zwischen den mächtigen Baumstümpfen war allerlei Gebüsch aufgeschossen, Himbeeren, wilde Rosen und Haselsträuche. In der Nähe floss eine kleine Quelle vorbei und schlängelte sich am Fusse des Hügels durch üppiges Krautwerk dem See zu. Unsre Hütte lag auf der Anhöhe, wo der Wald wieder begann, und als wir nun, von der andern Seite der Insel kommend, zwischen den Bäumen hervortraten, sahen wir über die Wiese hinweg das winzige Häuschen mit seiner blühenden Umgebung vor uns.

»Ihr Musen und Grazien!« rief Onkel Philipp, »das ist ja sozusagen romantisch hier. Da fehlt ja nur noch ein alter Einsiedler und ein zahmes Reh und ’n paar Tauben auf dem Dach, dann ist’s ’n Bild von Ludwig Richter oder Moritz von Schwind. Nur die Blumen, die ihr dort gepflanzt habt, Jungs, die schrei’n ein bisschen sehr Hurra. Aber das schadet nichts, ist einerlei, macht mir doch Spass. Hätt‘ ich euch gar nicht zugetraut.«

Wir gingen dann um die Wiese herum, damit Onkel Philipp sich das Anwesen näher betrachten könne. Als wir vor der Hütte standen, sagte er: »Den Platz habt ihr ganz fein ausgesucht. Der Blick über die Wiese auf den Wald und dann seitwärts über den See in die weite Ferne – sehr idyllisch, ganz ungemein idyllisch. Hier möcht‘ ich ja selbst mal ’n Sommer als Einsiedler leben. Und gelbe Wurzeln (Mohrrüben) habt ihr ja auch in dem Garten, und da hinten blühen ja Kartoffeln, das ist ja eine nahrhafte Gegend, eine höchst nahrhafte Gegend.«

Dann bückte er sich und trat in die Hütte, in der er sich nicht aufrichten durfte, ohne mit dem Kopf an die Decke zu stossen. Er stand da breitbeinig, die Hände auf die Kniee gestützt, und sah sich um.

»Kinder«, sagte er, »ihr seid hier ja sybaritisch eingerichtet, mit einem gewissen Luxus, wenn man so sagen darf. Ordentliche Betten – und Möbel. Raum ist in der kleinsten Hütte, aber knapp ist er nur. Ich will lieber wieder herausgehen, draussen ist es geräumiger.«

Wir trugen nun den Tisch und die Stühle hinaus, und liessen Onkel Philipp unter dem Vordach sitzen, indes wir Anstalten zu seiner Bewirtung machten. Während ich mit unserm Holzvorrat ein mächtiges Feuer anmachte, grub Adolf Kartoffeln aus und wusch sie am Seeufer. Später zog er einige stattliche Mohrrüben, schrapte sie säuberlich mit seinem Taschenmesser und legte sie auf ein Klettenblatt.

Onkel Philipp hatte sich seine kurze Pfeife angebrannt, schaute aufmerksam unsern Anstalten zu oder betrachtete mit Wohlwollen die Sonnenblumen, Georginen und Stockrosen, die ihm überall entgegenleuchteten, und qualmte dazu, »as wenn ’n lütt Mann backt.«

Als ich das Feuer auf den Höhepunkt gebracht hatte, warf ich noch einen Arm voll Holz auf und ging aus, um das Dessert zu besorgen. Ich brachte Haselnüsse mit, die eben anfingen, sich zu bräunen, Brombeeren, die an sonnigen Stellen schon gereift waren, und einige gelbe Holzbirnen von den zahlreichen wilden Obstbäumen, die dort wuchsen. Man sagte, die Insel sei vor dem Dreissigjährigen Kriege besiedelt gewesen, und diese Wildlinge seien die Nachkommen der damaligen Gartenbäume. Auch wilde Johannisbeeren wuchsen dort in einem Erlenbruche, und es gelang mir, noch einige dieser Weintrauben des Nordens zu entdecken und unserm reichen Menü hinzuzufügen. Alles wurde auf grünen Blättern sauber auf dem Tische geordnet.

Unterdessen hatte Adolf die Kartoffeln in die glühende Asche des niedergebrannten Feuers geschichtet und ging dann hin, um in einer sogenannten Pottbuddel, die zu unserm Inventar gehörte, Wasser aus der Quelle zu holen. Auch diese setzte er auf den Tisch und dazu mit grossem Stolz als Trinkgefäss eine halbe Kokosnussschale, die wir als ein für ein Robinsonsdasein äusserst stilvolles Trinkgefäss ganz besonders schätzten.

Ein ungemein schlaues Gesicht aber machte Adolf, als er zum Schluss eine kleine in Papier gewickelte Dose mit Butter aus der Tasche zog und sie zu dem übrigen auf den Tisch setzte. Unterdes waren die Kartoffeln gar geworden; sie wurden vorsichtig aus der heissen Asche geholt und auf ein mächtiges Klettenblatt gehäuft. Nun konnte das schwelgerische Mahl beginnen.

Onkel Philipp benahm sich musterhaft. Nicht allein, dass er die köstlich duftenden Kartoffeln, die mit frischer Butter genossen ein gutes Gericht sind, mit Behagen schmauste, nein, er biss auch todesmutig in eine Mohrrübe, verzehrte, ohne eine Miene zu verziehen, sogar zwei Holzbirnen deren Aroma er lobte, that auch den übrigen Früchten alle Ehre an und trank kaltes Wasser dazu. Damals fand ich darin gar nichts Besonderes, und erst nach langen Jahren ist mir klar geworden, wie gütig er damals gegen uns war, denn er hatte einen schwachen Magen. »Wie ist Natur so lieb und gut, die mich am Busen hält!« sagte er. »Wir ruhen hier wirklich am Busen der Natur, wie die ersten Menschen, und nähren uns von den Früchten des Landes und Quellwasser. Sehr idyllisch.«

Wir hielten jetzt den Augenblick für gekommen, mit unsern Plänen herauszurücken, und setzten ihn dadurch doch ziemlich in Verwunderung.

»Jungs«, sagte er, »wovon wollt ihr denn leben? Etwa von den Erträgen der Jagd? Da würde euch wohl bald die Katze mit dem Magen weglaufen. Oder immer von Kartoffeln und Mohrrüben und Haselnüssen und den Beeren des Waldes? Da würdet ihr wohl schnell von Kräften kommen. In Geschichten macht sich das ganz schön, aber in Wirklichkeit sind saure Linsen mit Speck und ’n tüchtiges Beefsteak doch vorzuziehen, sehr vorzuziehen sogar.«

Wir setzten ihm dann auseinander, dass uns gar nichts daran läge, als Robinsons von der strengsten Observanz unsern Leib zu kasteien, und dass wir gar nichts dagegen hätten, unsre Einsamkeit mit Butter, Wurst und Schinken und andern angenehmen Vorräten zu teilen. Das leuchtete ihm allerdings ein, jedoch sträubte er sich, einen Plan zu befürworten, der ihm zwar nicht missfiel, von dem er aber voraussah, dass er verschiedenen verständigen Leuten, und besonders dem Vater von Adolf Martens, einem biederen, nüchternen Landmann, als der Gipfel des Blödsinns erscheinen würde.

Als wir mit Bitten nicht nachliessen, kam Onkel Philipp wohl die Erleuchtung, dass aus der Sache für ihn am Ende noch ein pädagogischer Nutzen herausspringen möge, denn er sagte:

»Nun gut, wenn ihr in den nächsten Wochen nicht so muffig und thranig sein wollt beim Latein und beim Französischen, sondern hübsch, fix und alert und bei der Sache, so zum Beispiel wie heute, da will ich sehen, was ich thun kann, ja, das will ich. Und soll ein Wort sein. Aber nun muss ich mir nach diesem üppigen Vesperbrot unbedingt etwas Bewegung machen, und nun wollen wir mal sehen, was hier auf diesem Eiland wächst.«

Er hing seine grosse grüne Botanisierkapsel um, und wir folgten ihm so vergnügt über das Erreichte, dass wir uns gegenseitig eine ganze Weile lang mit den spitzen Knöcheln in die Rippen puffen mussten, um unsre Freude nur einigermassen zu dämpfen. Dann revierten wir, wie die Hunde um den Jäger, um ihn herum, und suchten nach auffallenden Pflanzen, denn den Wert der unauffälligen zu schätzen, war unsre Kenntnis noch nicht gross genug. Als wir dabei an die Seite der hügeligen Insel kamen, wo man über die Fischerinsel hinweg den Uhlenberg sehen konnte, blieb Onkel Philipp stehen und blickte mit einer Art Sehnsucht dort hinüber. »Der Uhlenberg«, sagte er dann, »ist botanisch sehr interessant, ganz ungewöhnlich interessant. Auf der Insel ist immer Wald gewesen, und dieser Wald ist niemals richtig forstmännisch behandelt worden. Das mögen die Pflanzen, haben sie gern. Denn wo man Bauholz zieht in Reihen, wie der Landmann die Kartoffeln, und die Bäume aufmarschiert stehen wie die Soldaten, da mögen die feinen und vornehmen Pflanzen nicht sein, und nur das gemeine Gesindel fühlt sich dort wohl, der Plebs des Pflanzenreiches. Je höher der Forstmann bedauernd die Achseln zuckt, je besser ist der Wald für den Botaniker. Wenn der berühmte Forstmeister Pingel aus Achtermannshagen den Uhlenberg sehen würde, so würd‘ er sagen, das ist ja ein Jammer. Das ist ja ein Unfug, würd‘ er sagen. Die Masse von überständigen Bäumen, wo das Holz schon gar nichts mehr wert ist, und dann alles bunt durcheinander, alt und jung und gross und klein, Eichen und Buchen, Linden und Eschen, Erlen und Weiden, Kiefern und Fichten und wilde Obstbäume, wie es wachsen will und mag. Und dann das Forstunkraut, die riesenhaften Horste von Haselnussbäumen, die weit über hundertjährigen wilden Rosen und die mächtigen Dornbüsche, die sich zu Bäumen ausgewachsen haben, und all das andre mannigfache Unterholz. Für den richtigen Forstmann ist das nun wohl nicht schön, dem Naturfreund und dem Botaniker aber, dem geht das Herz auf. Wenn Pastor Bröcker aus Neddemin, der da früher oft botanisiert hat, als Herr Wohland dort noch nicht wohnte, wenn der auf den Uhlenberg zu sprechen kommt, dann fängt er über und über an zu leuchten wie der Vollmond in einer klaren Sommernacht Von der Pracht des Blumenwerks im Frühling macht man sich keinen Begriff, sagt er. Denkt euch, da kommt das grosse Schneeglöckchen vor, Leucoium vernum, das zwar in den Wäldern um Leipzig häufig wächst, bei uns aber in Norddeutschland eine grosse Seltenheit ist. Im ersten Frühling, wenn der Wald noch licht ist, sind die Hügelanhänge blau von Leberblümchen und gelb von Primeln; alle drei Arten, officinalis, elatior und acaulis, wachsen dort. Dort schimmert später die schöne Waldanemone Anemone sylvestris, die Schachblume findet sich dort auf einer Waldwiese, die Trollblume und das schöne blaue Leiterkraut. Von den ungezählten Maiglöckchen will ich gar nicht reden, denn die sind ja bei uns nicht selten. Ich will nur noch Pflanzen nennen, die im Lande nur wenige Standorte haben, wie Akelei, gelber Fingerhut, die schöne Glockenblume Campanula cervicaria und Viola mirabilis, das wunderbare Veilchen. Der Uhlenberg ist ein Paradies für Botaniker, ein Eldorado, denn, denkt euch nur, von den Märchen unter den Kräutern, den wunderlichen Orchideen, sind auf der Insel fast alle zu finden, die im Lande vorkommen. Pastor Bröcker hat eine Orchis militaris von dort, die an zwei Fuss hoch ist. Die seltsame Vogelnestorchidee Neottia nidus avis könnte man dort scheffelweise sammeln, und ebenso die verschiedenen Arten von Epipactis. Das Tollste aber ist, und das würde ich nie glauben, wenn ich die Pflanze nicht bei Pastor Bröcker selbst gesehen hätte, mit Fundortsbezeichnung und allem: er hat Epipogium aphyllus dort gefunden!«

Dabei griff er jeden von uns am Oberarm, schüttelte uns ein wenig und sah uns abwechselnd an, als wolle er die Verwunderung über diese ungeheure Thatsache aus uns mit Gewalt herausrütteln. Wir starrten ihn jedoch ziemlich verständnislos an, denn was war uns Epipogium aphyllus? Wir konnten uns nichts dabei denken.

»Na«, sagte er, »die Ochsen wunderten sich auch nicht, als sie hörten, dass Pythagoras seinen berühmten Lehrsatz gefunden hätte. Die Bedeutung dieser Sache wurde ihnen erst klar, als der beglückte Mann hundert von ihnen zum Dank für seine Entdeckung den Göttern schlachtete. Epipogium aphyllus, mit dem wunderlichen deutschen Namen Bartständel oder Widerbart, heisst eine sehr seltene Orchidee. Sie hat keine Blätter und kommt mit einem farblosen Stengel ohne weiteres aus dem feuchten Quellgrund hervor. Daran hängen die höchst seltsamen schweren Blumen, wie aus durchscheinendem Wachs geformt, ebenfalls fast farblos, nur mit einem leichten rötlich-gelben Anhauch. Wer diese Blume zum ersten Male sieht in seinem Leben, der sagt sich gleich, das ist etwas, das giebt’s nicht alle Tage, das ist eine Seltenheit. Und das ist auch wahr, sie ist überall selten, ungeheuer selten! Ich habe sie einmal gefunden vor Jahren im Riesengebirge, in der Nähe des Kochelfalles, dicht am Kochel auf feuchtem, quelligem Grund. Und als ich nachher dort im Wirtshaus sass am Fall, da liess ich mir ein Gläschen Wasser geben, stellte die Blumen hinein und drehte sie immerfort herum und freute mich an ihnen und trank eine ganze Flasche Ungarwein ihnen zu Ehren. Und selbst die Quellnymphe des Kochelfalles, die mich zuerst mit Bärlapp bekränzte, wie es dort Mode ist, und mir nachher den Wein brachte, wunderte sich über die Blumen und sah sie mit andächtigen Augen an. Und als ich am andern Tage dem Hauptbotaniker der Gegend die Pflanzen zeigte, da wurde er gelb und warf einen Hass auf mich. Hierzulande ist sie sonst erst einmal gefunden worden, auf dem Schelfwerder bei Schwerin und dann nie wieder, so viel Botaniker auch danach gesucht haben, nie wieder! Der zweite Fundort ist nun hier auf dem Uhlenberge, aber das ist nicht weiter bekannt, denn Pastor Bröcker hat es nicht veröffentlicht, und nur wenige wissen es. Ist ja auch ganz gut, denn solche seltene Pflanzen werden sonst gleich wegbotanisiert, wie das schon mit vielen Pflanzen in vielen Gegenden geschehen ist. Ein berühmter Professor in Göttingen wusste zwar sehr genau den einzigen Standort der Feuerlilie im Harz, wenn er aber mit seinen Studenten in der Gegend botanisierte, so konnte er ihn nie finden, konnte ihn mit Gewalt nicht finden, denn er wusste sehr wohl, dass es den Feuerlilien nicht bekommen wäre, wenn allzuviele ihren Standort gewusst hätten. Und wenn die seltene Orchidee auf dem Uhlenberg jetzt wirklich noch wächst, so ist das teils der Verschwiegenheit des Pastors Bröcker zu verdanken, teils der Ungeselligkeit des Herrn Wohland, der keinen Besuch auf seiner Insel wünscht. Vor ein paar Jahren hat sich mal ein junger unternehmender Botaniker, der wusste, dass Herr Wohland gerade verreist war, dorthin übersetzen lassen, um einen botanischen Raubzug zu unternehmen. Das ist ihm aber schlecht bekommen, denn nach einer Weile ist der wütige grosse Hund auf ihn losgestürzt, um ihn zu stellen. Der Botaniker hat sich nur mit knapper Not auf einen ziemlich niedrigen Baum retten können, und da hat der fürchterliche Köter ihn stundenlang verbellt und von Zeit zu Zeit rasende Sätze in die Luft gemacht und mit seinem roten Rachen nach ihm geschnappt, bis endlich Driebenkiel gekommen ist und ihn befreit hat. Und hat ihm eine Rede gehalten, als er ihn wieder an sein Boot geleitet hat, mit siebzehn Injurien darin – der junge Botaniker hat sie gezählt, und es sind prachtvolle Exemplare dabei gewesen –, und das ist das einzige, was er für seine Sammlung gewonnen hat. Siebzehn fette Injurien, darunter Unika!«

Wir nickten still, denn wir kannten Driebenkiels Leistungsfähigkeit in diesem Fache aus eigner Erfahrung.

Unterdes hatte sich der Abend niedergesenkt, Onkel Philipp warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf den Uhlenberg und seufzte ein wenig. Wir gingen mit ihm nach dem Orte, wo unsre Jolle lag, und ruderten ihn durch das Abendrot nach Hause. –

Aus der von uns beabsichtigten Landpartie wurde nichts, sie scheiterte an dem Widerstreben des Herrn Martens, der, wie die meisten Menschen, die sich von Berufs wegen den ganzen Tag in der freien Luft aufhalten, und denen Wald und Feld das Alltägliche sind, für solche Vergnügungen keinen Sinn hatte. Bei Onkel Philipp waren wir aber vierzehn Tage lang wahre Musterknaben, bekundeten ein so reges Interesse für den alten Cornelius Nepos und für den fast noch verhassteren Charles douze, rasselten die wahnwitzigsten unregelmässigen Verba wie Wasser herunter und übten uns mit solchem Eifer gallische Nasallaute ein, dass sein Herz tief gerührt wurde und er unsern Eltern nach dieser Zeit bei einer sonntäglichen Whistpartie eine prachtvolle Rede hielt über den bildenden Einfluss und den pädagogischen Wert unsers Unternehmens und dadurch allen Widerstand in kurzer Zeit besiegte. Herr Martens sagte zwar: »’ne Verrücktheit bleibt es doch!« aber schliesslich rief er: »Na, meinetwegen! Wer giebt?« Und es steht zu vermuten, dass seine Nachgiebigkeit durch den Wunsch beschleunigt wurde, möglichst bald wieder zu seinem Whist zu kommen.

Als wir am andern Tage nach dem Schlusse des Unterrichts diesen glücklichen Ausgang vernahmen, denn Onkel Philipp hatte sich vorbehalten, uns diese Mitteilung selbst zu machen, kobolzten wir eine ganze Weile auf dem Rasen herum, schlugen Rad und führten zwischendurch kleine Faustkämpfe miteinander auf, um unsre Wonne nur etwas zu dämpfen; wir waren ganz aus der Tüte, wie man zu sagen pflegt, noch dazu, da die Ausführung dieses herrlichen Unternehmens uns so bald bevorstand. Denn Onkel Philipp hatte gesagt, in den Michaelisferien wäre die Zeit zu spät für die Ausführung dieses Planes, die Abende zu lang, und die Nächte zu kühl. Er wolle uns deshalb schon vom 9. September ab vierzehn Tage frei geben. Das war bald, denn wir hatten Ende August. Darum fuhren wir fast an jedem Nachmittag nach Rosenwerder, wo wir mit fieberhaftem Eifer an der Vervollkommnung unsrer Hütte arbeiteten. Das Dach bestand aus einer Lage von jungen Kieferstämmen nebeneinander, deren Zwischenräume mit Moos ausgestopft waren. Darauf hatten wir eine starke Schicht Lehm gebracht, die wir durch stundenlanges Spazierengehen auf diesem Dache festgetreten hatten, und darüber war es sauber mit Rasen belegt. Dieser hatte bei der Dürre des Sommers gelitten, und wir brachten nun eine zweite Schicht Rasen auf, was uns viel Mühe und Arbeit machte. Die Wände wurden frisch verstopft und mit Lehm verschmiert, der Fussboden der Hütte durch festgetretenen Lehm um einen halben Fuss erhöht und rings um die Hütte ein Graben angelegt, über den eine kleine Brücke führte.

Dies hatte Onkel Philipp aus hygienischen Gründen, wie er es nannte, angeordnet. Dieser Graben entwässerte sich durch einen zweiten, der zur Wiese hinabführte. An der Quelle legten wir ein Stauwerk an, wodurch sich ein kleiner Tümpel bildete, aus dem wir bequem das nötige Wasser entnehmen konnten. Dies hatte eine andre Annehmlichkeit zur Folge, nämlich, da sich hinter dem Stauwerk ein kleiner Fall bildete, so hatten wir, wenn wir abends nach gethaner Arbeit vor der Thür sassen, immer die klingende Musik eines fliessenden Wässerchens zur Begleitung für unsre sinnreichen Gespräche.

Ganz zuletzt machten wir noch eine Entdeckung, die uns grosses Entzücken bereitete. Wir fanden auf dem Boden des Gutsbesitzerhauses – denn solche Örtlichkeiten durchstöberten wir natürlich häufig auf der Suche nach geeigneten Gegenständen – einen ganzen Stapel alter Tapeten. Diese wurden in früherer Zeit nicht an die Wände geklebt, sondern auf Leinwand gezogen und davor gehängt. Wer solche alten Tapeten, die Nachfolger der ursprünglichen-Gobelins, noch gekannt hat, der weiss, welchen Teufelsspuk die Mäuse dahinter verübten, wenn sie zwischen Tapete und Wand ihre Turnkunststücke aufführten oder ihre Familienzwistigkeiten erledigten. Das waren für Spukhäuser die richtigen Tapeten, die sich bei jedem Luftzuge bewegten und besonders des Nachts eine Fülle unerklärlicher Geräusche von sich gaben, ein rieselndes Knistern oder Laute wie Seufzer und schlurfende Schritte. Wenn es jetzt lange nicht mehr so viele Gespenster giebt als früher, so schiebe ich das darauf, dass die Tapeten jetzt hübsch festsitzen an den Wänden.

Da uns aber ein tapeziertes Robinsonhaus durchaus nicht stilvoll erschien, so weichten wir die Tapeten mit Wasser von der Leinwand ab und bekleideten mit dieser sämtliche Innenwände des Häuschens, wodurch es nach unsrer Ansicht auf den Gipfel der Vollendung gebracht wurde und etwas unbeschreiblich Wohnliches, ja Luxuriöses erhielt. Als wir so mit unsern Vorarbeiten gänzlich fertig waren, standen wir wohl eine Stunde um das Häuschen herum, besahen es von innen und aussen, von nah und fern, von oben und unten immer wieder und fanden, dass kein Fehl an ihm war, und unsre Herzen schwollen vor Stolz über dies herrliche Besitztum.

IV.

Am 9. September schifften wir uns, bis oben vollgefüllt mit guten Ermahnungen unsrer Eltern und Onkel Philipps, nach Rosenwerder ein, voll heiterer Abenteuer- und Unternehmungslust. Unsre Ausrüstung war folgende: Gekleidet waren wir in unser sogenanntes Buschrangerzeug, das aus einem unverwüstlichen hausgemachten, blau und grau gestreiften Leinenstoff hergestellt war und seinen Namen davon trug, dass es nichts Geeigneteres gab, um damit ohne Schaden in Büschen und Bäumen herumzurangen. Wir waren diesem Stoffe gegenüber machtlos, er war zäher als Leder und das sogenannte unzerreissbare Bilderbuch Löschpapier gegen ihn. In einem alten Seehundskoffer verpackt war für jeden ein zweiter solcher Anzug und die nötige Wäsche. Dann war da die Futterkiste, die einige der riesenhaften groben Landbrote enthielt, nebst einem tüchtigen Stück Schinken, rohem und gekochtem Speck, zwei trefflichen Dauermettwürsten, einem Topfe mit Butter, einer Anzahl von Eiern, in Häcksel verpackt, und einem stattlichen Kloben Lederkäse. Vor Hungersnot waren wir demnach auf Wochen gesichert. Dann waren da mannigfache Küchengeräte und unsre Waffen, unsre Bogen, Pfeile, Speere und Tomahawks, und der Glanzpunkt vor allem, eine leichte einläufige Flinte mit Pulverhorn und Schrotbeutel. Sie gehörte Adolf, dessen Vater ihn schon früh gelehrt hatte, mit Schiessgewehr umzugehen. Es war uns gestattet, auf der Insel einen bis zwei Hasen zu schiessen, wenn wir könnten, und ferner so viel Eichhörnchen und schädliche Vögel, als Sperber, Krähen, Elstern, Häher und Neuntöter, wie wir wollten, vorausgesetzt, dass diese sich das gefallen liessen. Ausserdem hatte ich für einige Bücher gesorgt. Verstaut waren all diese Schätze in unsrer alten Jolle, und diese schleppte wie ein Junges das sogenannte Kanoe hinter sich her, jenes Fahrzeug, dem Onkel Philipp vor einigen Tagen sein Misstrauen bezeugt hatte. Und doch war dieser kleine Kahn ein wahres Meisterstück des Rademachers, mit dem er in die Reihe der Schiffbauer eingetreten war und sich dadurch, nach unsrer Meinung, mit Ruhm bedeckt hatte. Der Boden des kleinen Fahrzeuges war flach und aus einem sehr starken und schweren Brette hergestellt, durch dessen Gewicht eine genügende Stabilität erzielt wurde. Im übrigen hatte das schmale Ding eine angenehme Zigarrenform und drei Sitze. Fortbewegt wurde es wie die Kajaks der Eskimos durch Ruder, die an jedem Ende eine Schaufel hatten und abwechselnd rechts und links eingetaucht wurden.

Also trefflich ausgerüstet fuhren wir von dem Stege des Gutsbesitzergartens ab, während unsre Eltern und Onkel Philipp am Ufer standen und uns Wünsche und gute Ermahnungen nachriefen. Als wir schon fast ausserhalb der Rufweite waren, legte der gute Onkel noch einmal die Hände an den Mund und schrie: »Und nicht öfter baden als zweimal täglich!« Man sieht aus der Milde dieser Bestimmung, dass wir in diesem Punkte unsre Eltern und Erzieher nicht gerade verwöhnt hatten. Wir hätten nun eigentlich stilvollerweise unsre Robinsoninsel nicht anders als nach dem obligaten Schiffbruch betreten dürfen. Da man uns auf der linken Seite der Insel, wo wir in der Nähe unsrer Hütte landen wollten, vom Dorfe aus nicht sehen konnte, hatten wir auch vorher sorgfältig erwogen, ob wir nicht ein solches Ereignis künstlich herbeizuführen vermöchten, um dem Unternehmen mehr Naturwahrheit zu verleihen. Wir waren aber nach reiflicher Erwägung übereingekommen, auf dieses Ornament zu verzichten, da wir davon einen starken Schaden für unsere Vorräte befürchteten, und beschränkten uns darauf, einige Zeit vor der Landung durch heftiges Schaukeln einen gewaltigen Orkan aus Westsüdwest zu markieren und aus unsrer kleinen Schiffskanone, die aus einem alten Pistolenlauf auf Kadern bestand, einige Notschüsse abzufeuern. Nach Erledigung dieser Formalitäten liefen wir friedlich in die Rettungsbucht ein, denn also hatten wir unsern Landungsplatz getauft.

Die Zeremonien der Besitzergreifung dieser Insel hatte ich vorher genau festgestellt. Zunächst sprangen wir mit einem Freudenschrei ans Land, knieten nieder und küssten den Boden, was Adolf zwar für furchtbar dummes Zeug erklärte, mir aber für diese Situation unerlässlich und ausserdem höchst poetisch erschien. Eine Fahne in den Landesfarben hatten wir mitgebracht; auf einem kleinen Hügel pflanzten wir sie auf und nahmen das Land in Besitz. Ich hielt dazu eine kleine Rede, und Adolf schoss dreimal seine Flinte ab. Dann gingen wir, er mit seinem Gewehr und ich mit Bogen und Pfeilen und einigen Speeren bewaffnet, einen Tomahawk im Gürtel, vorsichtig voran und entdeckten die Gegend. Nicht wenig erstaunten wir, als wir nach kurzer Zeit die Hütte erblickten. »Ein Wigwam«, sagte ich, »von tropischen Pflanzen umgeben. Das Land ist bewohnt! Vielleicht von Menschenfressern!«

»Lass sie nur kommen«, sagte Adolf in einem Tone erhabener Tapferkeit, »Robinsons getreue Büchse wird ein ernstes Wort mit ihnen sprechen.« »Und Freitags Pfeil«, rief ich, »hat noch nie sein Ziel verfehlt, sein Speer ist sicherer Tod und sein Tomahawk der Schlüssel zu den ewigen Jagdgründen!«

Dann schlichen wir, einer in die Fusstapfen des andern tretend, vorsichtig näher und fanden die Hütte leer, auch anscheinend unbewohnt. »Vielleicht die verlassene Ansiedlung eines Schiffbrüchigen, der gerettet worden ist«, sagte Adolf.

»Um so besser für uns«, erwiderte ich, »treten wir sein Erbe an und segnen wir sein Andenken!«

»Wo hast du eigentlich all die unklugen Redensarten her?« fragte Adolf mit einer seltsamen Mischung von Geringschätzung und Bewunderung.

»Als Freitag noch bei seinem Stamme weilte«, antwortete ich, »nannte man ihn Goldmund, und selbst die Greise lauschten seiner Rede.«

»Hugh!« sagte Adolf.

Wir liessen damit einstweilen diese kleine Komödie fallen und begaben uns an die Arbeit. Wir schleppten mit grosser Mühe unsre Vorratskiste und unsre Koffer herbei und richteten uns ein, hingen unsre Küchengeräte und Waffen an den Wänden auf und assen dann ein wenig.

Die eigentliche grosse Mahlzeit wollten wir erst am Abend nach vollbrachter Arbeit zu uns nehmen. Und Arbeit gab es genug. Wir schleppten zunächst eine grosse Menge von trockenem Holz herbei für die Unterhaltung des notwendigen Feuers, und dann gingen wir aus, Vorräte zu sammeln, Haselnüsse, Brombeeren und Holzbirnen. Dann grub ich Regenwürmer an einer geeigneten Stelle, setzte mich mit einer unsrer mitgebrachten Angelruten in das Kanoe und fuhr nach einer stillen Rohrbucht, wo vermutlich Barsche standen, während sich Adolf auf die Jagd begab. Denn obwohl wir mit Vorräten reich versehen waren, hielten wir es doch für verdienstvoller, uns möglichst von den Erträgnissen der Jagd und des Fischfanges und den Früchten des Waldes zu ernähren. Während ich nun in meiner stillen Rohrbucht sass und ab und zu einen kleinen Barsch, einen Gründling, einen Plötz oder auch nur einen Weissfisch hervorzog, hörte ich in der Ferne einen Schuss, der offenbar von Adolfs Flinte herrührte. Gegen Abend ruderte ich mit etwa acht bewunderungswürdig kleinen Fischen wieder heimwärts und fand Adolf auf der Bank vor unserm Häuschen sitzend, wie er mit wichtiger Miene einen Häher rupfte. Die blauen Flügelspiegelfedern hatte er sich als Trophäe an seine Mütze gesteckt. »Ich sorgte für das Geflügel zum Abendbrot«, sagte er mit einem Ausdruck nachlässiger Selbstverständlichkeit, »was schafftest du herbei?«

»Ich lag dem Fischfang ob«, antwortete ich, »in der Bucht des blauen Vorgebirges, sieh hier meine Beute.« Damit schüttete ich die kleinen Fische aus meinem Netze ins Gras, wo sie blitzend zappelten.

»Katzenfische!« sagte Adolf mit einem verächtlichen Seitenblick, hob seinen gerupften Häher am Kopf hoch und betrachtete ihn wohlgefällig.

Ich zog nun Stahl und Stein und Zunder aus der Tasche und begann Feuer zu schlagen. Als der Zunder brannte, steckte ich ihn in einen Ballen feinen, trockenen Grases und schwenkte diesen heftig durch die Luft, bis er Feuer fing. Schnell häufte ich trockene Kiefernzweige darüber, die sich schnell entzündeten, und dann gröbere Äste, die bald unter Knistern und Knacken von der züngelnden Glut durchflackert wurden. Es roch sehr angenehm nach Harz und Rauch, und bald waberte eine stattliche Flammenpyramide auf, von deren Spitze eine schnurgerade Säule bläulichen Rauches in die Stille der Luft emporstieg. Man konnte nicht anders sagen, es war ein prachtvolles Feuer. Adolf war unterdes gegangen, um Kartoffeln auszugraben, und ich machte mich darüber her, die Fische auszunehmen und einzusalzen. Als Adolf mit den gewaschenen Kartoffeln zurückkam, ergab sich eine Schwierigkeit, denn wir hatten nur eine Pfanne. Zuerst beschlossen wir, den Häher am Spiess zu braten, dann aber verfiel Adolf auf die glanzvolle Idee, ihn zu kochen und zugleich eine köstliche Bouillon aus ihm zu bereiten. Wir setzten ihn in einem eisernen Kochtopfe mit Wasser und einigen Mohrrüben ans Feuer und versprachen uns hohen Genuss von ihm. An der am meisten niedergebrannten Seite unsers grossen Feuers wurden nun die Kartoffeln in die heisse Asche geräumt, und ich begann dann, so gut ich es verstand, meine Fische zu braten, die den ersten Gang bilden sollten.

Adolf schnitt unterdes einige mächtige Scheiben Brot ab.

»Bratfische müssen kross sein, furchtbar kross!« sagte er mit weiser Miene, »sie müssen nur so knurpsen, wenn man sie isst.«

»Koch du nur deinen Häher«, erwiderte ich, »die schöne Bouillon bruddelt schon ins Feuer.«

Er rückte schnell den Topf weiter ab, nicht ohne sich erheblich zu verbrennen und mit den Fingern in der Luft zu schlenkern.

Ich bräunte unterdes Butter in der Pfanne, die einen köstlichen Duft verbreitete, und that dann meine Fische hinein, wobei das heisse Fett gewaltig anfing zu schreien.

»Anhören thut es sich ganz echt«, sagte Adolf.

Es mag nun wohl seine Berechtigung haben, dass man das Kochen eine Kunst nennt; die Fische wurden zwar »kross,« wie es Adolf verlangte, zugleich sahen sie aber ziemlich schwarz und unansehnlich aus, als sie fertig waren. Wir verzehrten sie auch mit Hingebung und Aufopferung, fanden aber, dass der Genuss, den uns dies Gericht bereitete, nicht ganz der Vorstellung entsprach, die wir uns davon gemacht hatten. Ausserdem wurde der Berserkerappetit unsers jugendlichen Alters durch das winzige Gericht so geschärft, dass wir es unmöglich fanden, auf den zweiten Gang, der doch auch nur aus einem ziemlich winzigen Vogel bestand, noch fast eine Stunde zu warten. Denn eine Stunde, meinten wir, brauche dies köstliche Gericht doch wohl sicher zu seiner Vollendung. Wir holten deshalb die Kartoffeln aus der Asche und ich verfiel darauf, kleine Stückchen Speck, auf ein Hölzchen gespiesst, am Feuer zu braten, und indem wir diese zu unsern Kartoffeln und zu unserm Brot verzehrten, beschäftigten wir uns eine ganze Weile eben so angenehm als nützlich.

Unterdessen war es gegen halb sieben Uhr geworden, die Sonne stand am Horizont, brannte mit einer grossen goldenen Glut durch die Stämme des Waldes und warf einen rötlichen Schein über den See und in die Wipfel der Baume. Es war ganz still, nur das zusammensinkende Feuer machte zuweilen leise, raschelnde Töne, oder ein stärkerer Ast, endlich von der Glut ergriffen, schoss puffend und zischend einen Dampfstrahl von sich. Der Kochtopf brodelte leise, das rieselnde Wasser der Quelle läutete wie mit kleinen Glöckchen, und zuweilen schrie fern im Wald ein Häher. Rief er vielleicht nach dem verlorenen Genossen?

Wir hielten nun endlich den Zeitpunkt für gekommen, uns über das letzte Gericht herzumachen, und da wir unterdes ziemlich satt geworden waren, so konnten wir uns dieser Delikatesse mit besonderer Gemütsruhe widmen. Ich holte zwei Steinguttassen herbei, und Adolf goss mit grosser Feierlichkeit die Bouillon hinein.

»Klar ist sie«, sagte ich, »aber bei mir zu Hause ist sie gelber.«

»Bei uns auch«, meinte Adolf, »so ’n Häher färbt doch furchtbar wenig ab beim Kochen.«

»Und Augen hat sie auch nicht«, meinte ich, »es ist blinde Suppe, wie Onkel Philipp sagt.«

»Die lassen sich mit Butter leicht hinein machen«, sagte Adolf. Wir halfen nun beide mit einem Flöckchen Butter nach, und als uns nun die Suppe mit vielen kleinen Augen freundlich ansah, fingen wir mächtig an zu blasen, denn das Getränk war sehr heiss.

»Die Bouillon sieht noch immer aus wie Wasser«, sagte Adolf etwas bekümmert.

»Sie schmeckt auch ähnlich so«, erwiderte ich, denn ich hatte endlich ein Schlückchen riskiert.

»Aber schön warm ist sie«, meinte Adolf, und so tranken wir die ein wenig nach Salz und Mohrrüben schmeckende Flüssigkeit ergebungsvoll hinunter.

Nun kam der feierliche Augenblick, wo Adolf seine Jagdbeute durch einen Längsschnitt mit seinem scharfen Taschenmesser zwischen uns teilte.

Der Vogel setzte dieser Prozedur einen unerwarteten Widerstand entgegen, und als nun jeder seine Hälfte verzehren wollte, bemerkten wir, dass der Häher, der ein streitbarer Vogel ist, auch nach seinem Tode sich noch zu wehren verstand, denn er war unbeschreiblich zäh.

»Das muss ein ganz alter Grossvater gewesen sein«, sagte ich, und da mir nun der Augenblick gekommen zu sein schien, wo ich mich für die verächtliche Bezeichnung »Katzenfische« zu rächen Gelegenheit hatte, so fuhr ich fort: »Wenn wir nun wirklich auf einer einsamen Insel wären und dieser Vogel uns unbekannt wäre, weisst du, wie ich ihn taufen würde? Ich würde ihn den ›Gummivogel‹ nennen, nicht Gummiarabikumvogel, nein Gummielastikumvogel.«

Adolf grunzte etwas gekränkt.

Wir machten dann in der Abenddämmerung einen Spaziergang um die Insel, eine Entdeckungsreise, wie wir es nannten. Im Westen stand noch ein goldener Schein, der allmählich verblasste. Wir sahen hinüber nach Steinhusen, dessen weisse Häuser aus dem dunkeln Grün der Obstbäume leuchteten. Auf dem Stege des Gutsgartens sahen wir kleine Figürchen, die nach uns zu blicken schienen, konnten aber niemand erkennen. Die Welt spann sich immer tiefer in Dämmerung und Dunkel ein, auf dem See lag ein Ungewisser Dunst, und ferne Waldhügel schauten schwarz herüber. Ein einsamer Kahn mit einem hochaufgerichteten Fischer am hinteren Ende zog wie ein Schattenbild durch die dunstige Fläche und verschwand allmählich im steigenden Nebel, so dass wir nur noch das taktmässige Rucksen der Ruder vernahmen. In den Dörfern am Ufer glomm hie und da ein Licht auf, und alles war still, nur zuweilen rief ein Wasservogel im Rohr, oder eine Eule schrie im nächtlichen Walde. Als wir zu unsrer Hütte zurückkehrten, war es ganz finster. Wir warfen eine Menge Holz auf das noch glimmende Feuer, setzten uns in seinem flackernden Schein auf die Bank vor dem Hause, freuten uns unsers freien Waldlebens und spannen Pläne für die Zukunft, während der Mond, rötlich durch den Dunst schauend, in einer Waldlücke emporstieg. Allmählich schlief unser Gespräch ein, und wir wurden müde. Nach einer Weile sagte Adolf nur noch: »Hier ist es doch fein!«

»Fein ist es hier«, antwortete ich.

Dann zogen wir nur unsre Stiefel und Strümpfe aus, denn als echte Waldmänner schliefen wir natürlich in unsern Kleidern, krochen in unser weiches Heubett, wickelten uns in die warmen Decken, und nach fünf Minuten schliefen wir schon.

Wir hatten wegen des milden Wetters unsre Thür- und Fenstervorhänge nicht geschlossen, und in der Nacht wachte ich einmal auf, denn der Mond war über die Waldwipfel emporgestiegen und leuchtete mir durch die eine Fensteröffnung gerade ins Gesicht. Durch die Thür kam der weisse Schein, überall von der Schwärze der Schatten sich scharf abhebend, und in seinem Lichte konnte man alles fast wie bei Tage erkennen. Ein leises Rascheln am Boden machte mich aufmerksam; es waren Mäuse, die, wohl angelockt vom Dufte unsrer Vorräte, nach Esswaren schnüffelten oder nach verlorenen Krümchen suchten. Ich sah deutlich eine Waldmaus, die zierlich wie ein Eichhörnchen auf den Hinterfüssen sass und zwischen den Pfötchen etwas drehte, das sie verzehrte. Plötzlich schoss auf das Tierchen zu ein dunkles, plumpes Etwas aus dem Schatten hervor mit fabelhafter Schnelligkeit und seltsam hin und her schwankend, ohne doch sein Ziel zu verfehlen, denn ich hörte fast zugleich das Quieken der gefassten Maus und ein behaglich befriedigtes Murksen. Es war ein Igel, der seiner nächtlichen Jagd oblag und alsbald mit der gefangenen Maus sich vor die Hütte zurückzog. Ich wartete noch eine Weile, ob sich ein solches Abenteuer nicht wiederholen würde, allein da alles still blieb, schlief ich sachte darüber wieder ein. Am nächsten Morgen gegen halb sechs Uhr, als die Sonne ihre ersten Strahlen durch die Stämme der Bäume sendete, standen wir auf, und unsre erste That war, dass wir uns entkleideten, über die kleine Wiese hinweg zum See liefen und uns in der Morgenkühle in das frische, klare Wasser stürzten. Die wilden Enten, an solche Störung nicht gewöhnt, standen mit klatschendem Flügelschlag aus dem Rohr auf und strichen in reissender Fahrt, wie geflügelte, langhalsige Flaschen anzusehen, davon, und einige Wasserhühner, die in der benachbarten Rohrbucht friedlich ihrem Gewerbe nachgegangen waren, liefen gleichsam mit den Flügeln über das Wasser hin, um in gesicherter Ferne sachte wieder einzufallen.

Nachdem wir uns eine Viertelstunde mit Schwimmen, Koboldschiessen und Untertauchen vergnügt hatten, rannten wir eine Weile zum Trocknen im Morgensonnenschein auf der Wiese umher, zogen uns wieder an und frühstückten beträchtlich. Kaffee und Thee und dergleichen höhere Kulturgetränke hatten wir mitzunehmen verweigert, Milch besassen wir natürlich auch nicht, und so tranken wir denn köstliches Wasser aus der Quelle und zehrten dazu von unsern Vorräten. Dabei bemerkten wir, dass die Mäuse in der Nacht den Weg in die Futterkiste richtig gefunden hatten und sehr niedliche Löcher in den Speck sowie in eine der Mettwürste gefressen hatten. Wir hielten nun ein grosses Schauri ab über diesen sehr bedenklichen Fall, und das Resultat unsrer Beratung war, dass wir unter der Decke unsrer Hütte ein an vier starken Bindfaden hängendes Brett anbrachten und auf diesem unsre Vorräte niederlegten, während wir die Würste an Nägel hingen, die ebenfalls in die Decke eingeschlagen waren. Auf diese ebenso einfache als sinnreiche Erfindung waren wir nicht wenig stolz, und wir fanden, dass das Ganze einen nahrhaften Eindruck machte und unsrer Hütte zu nicht geringem Zierat gereichte. Dann gingen wir wieder auf Entdeckungen aus, sammelten Holz und andre Vorräte, fanden einen wilden Apfelbaum mit fast reifen Früchten, betrieben Jagd und Fischfang, und so ging dieser Tag dahin wie der vorige, und weitere ähnlicher Art folgten ihm.

So war fast eine Woche vergangen und der Sonnabend herangekommen. Adolf war das Jagdglück wenig günstig gewesen, und er hatte seit jenem denkwürdigen Häher nur eine, natürlich ungeniessbare Krähe und zwei rotrückige Würger mitgebracht, die wir uns feierlich gebraten hatten. Dies mochte wohl zur Dämpfung seines Jagdeifers etwas beigetragen haben, denn an diesem Nachmittage geschah das Unerhörte, dass er sich erbot, zum Angeln auszufahren und es mir überliess, mit der Flinte mein Heil zu versuchen.

Ich konnte zuerst mein Glück gar nicht fassen, denn das Gewehr war Adolfs grösster Stolz, er war sehr eigen damit und hatte es noch niemals aus der Hand gegeben. Ich war so überzeugt von der Nutzlosigkeit solchen Versuches, dass ich noch nie gewagt hatte, ihn zu bitten, mir diesen von mir aufs höchste bewunderten Schatz auch einmal anzuvertrauen. Nun fiel dies Glück plötzlich aus blauer Luft auf mich herab, und nur mit Mühe gelang es mir, hierbei einigen männlichen Gleichmut zu heucheln. Adolf unterliess nicht, mir zuvor einen kleinen Vortrag zu halten, der mir ziemlich überflüssig erschien, denn mit einem Gewehr umzugehen, hatte mich Onkel Philipp längst gelehrt, aber meine Versicherungen nutzten mir nichts; ich musste unter seinen Augen Pulver und Schrot abmessen und die Flinte laden, und nach vielen weisen Ermahnungen, die mir höchst widerwärtig und überflüssig erschienen, liess er mich endlich gehen.

Ich hatte grosse Dinge vor. Kein Ritter, der auszieht, den Drachen zu töten, der die wunderschöne Prinzessin bewacht, war wohl je mit glänzenderen Hoffnungen in den Kampf gegangen. In meinem Arme lag Donner und Blitz und sicherer Tod, das heisst, wenn ich nicht vorbeischoss. Beim einsamen Herumstreifen hatte ich an dem entlegensten Teil der Insel auf einer kleinen Wiese am See schon zweimal einen stattlichen Hasen bemerkt, der diesen nahrhaften Fleck als seine Domäne zu betrachten schien, und der, da Adolf immer in einer andern Gegend der Insel seine Jagd betrieben hatte, durch uns in seinen beschaulichen Lebensgewohnheiten noch nicht gestört worden war. Dieser Hase konnte sich jetzt auf etwas gefasst machen, von dem er sich zurzeit wohl noch nichts träumen liess.

Die Sonne stand schon tief, als ich bei der Wiese ankam, und die Schatten der Erlen und Weiden, die das Ufer des Sees besäumten, fielen weit über sie hin. Ich hatte mich so leise herangeschlichen, als ich nur konnte, und liess nun mit klopfendem Herzen meine Augen über die grüne Fläche schweifen. Nichts war zu sehen; nur einige der schönen Herbstschmetterlinge, Admirale und Trauermäntel, schwankten dort am Waldrande herum, setzten sich zuweilen an die dunkeln Stämme und breiteten ihre schimmernden Flügel aus. Wahrhaftig, da war ja auch ein Distelfalter, der bei uns selten war, und den ich noch nicht in meiner kleinen Sammlung hatte. Aber heute lockte er mich nicht, mein Sinn stand auf ein höheres Wild.

Da der Wind von der Wiese zu mir stand, also günstig war für mein Vorhaben, so suchte ich nach einem geeigneten Platze, mich anzustellen. Ich fand einen alten Baumstumpf, zu beiden Seiten gedeckt von wilden Rosen und Weissdorn, die mit Geissblatt und Hopfen üppig durchrankt waren. Dort sass ich wie in einer grünen Nische, mit dem freien Ausblick über die ganze Wiese. Ich spannte den Hahn des Gewehres, legte dies schussbereit über die Kniee und wartete.

Rings war die abendliche Stille. Der Wind hatte sich ganz gelegt, das Rascheln des benachbarten Rohres war verstummt, und das Laub der Bäume stand wie versteinert im letzten Sonnenschein. Nur die Blätter einer Zitterpappel flimmerten unablässig durcheinander, wie von einem geheimnisvollen Luftzuge bewegt, oder als hatten sie eignes Leben. Zuweilen schnickte ein Rotkehlchen am Waldrand, zuweilen sprang ein Fisch im See, und von den Uferdörfern tönte fernes Hundegebell. Wenn eine Maus im welken Laube raschelte, lief es mir kalt den Rücken herunter, und manchmal hörte ich ein Geräusch wie von tappenden Schritten, das mir den Atem nahm. Aber es geschah nichts, die Wiese blieb leer. Die Schatten der Uferbäume waren nun ganz über sie hingewachsen, die farbigen Schmetterlinge waren verschwunden, über der Rohrwand, die den See einfasste, stand eine grosse, goldene Glut, und die Dämmerungsfalter begannen zu fliegen. Die Fledermäuse tauchten in schwankendem, lautlosem Geflatter aus dem Schatten gegen den hellen Himmel hervor und verschwanden dann wieder im Dunkel. Da, was war das für eine riesige Fledermaus? Nein, ich sah es ja gleich, es war ein Vogel, eine Nachtschwalbe, die mit geräuschlosem, schwankendem Segelflug hinter den Nachtschmetterlingen her war. Ich hörte ganz deutlich von Zeit zu Zeit das laute Zusammenklappen des Schnabels, wenn sie mit ihrem weiten Rachen ein Insekt gefangen hatte. Das Tier schien eine Vorliebe für diesen Platz zu haben, denn es war immer um mich herum, und zuweilen stand es rüttelnd in der Luft vor mir, als wolle es sich die sonderbare Erscheinung am Waldrande genau betrachten.

Die Dämmerung brach herein, doch war es noch ziemlich hell, und als ich nun wieder einmal meinen Blick über das gleichmässige abendliche Graugrün der Wiese schweifen liess, fühlte ich es plötzlich wie einen elektrischen Schlag, denn dort neben dem Weidengebüsch, das auf einem kleinen Horst in der Mitte der Wiese wuchs, sass ein Hase. Er musste in diesem Gebüsch wohl sein Lager gehabt haben, denn sonst hätte ich ihn unbedingt kommen sehen müssen. Leider aber war er zu weit ab; ich schätzte die Entfernung auf achtzig Schritte, und fünfzig konnte man dem Gewehr nur zumuten. Ich wartete nun eine Viertelstunde lang geduldig, ob dieser geehrte Hase nicht die Gewogenheit haben würde, mir ein wenig näher zu treten. Aber seine Äsung schien ihm dort ganz ungewöhnlich zu gefallen, er hoppelte sogar noch ein wenig weiter weg und zugleich nach der Seite, so dass er vom Gebüsch fast verdeckt wurde. Die Dunkelheit mehrte sich, im Westen schimmerte nur noch ein mattes Rot, und bald musste es Nacht sein. Da fasste ich den kühnen Entschluss, mich anzuschleichen. Ich ging auf dem weichen Wiesenteppich etwa zehn Schritte seitwärts, so dass ich zwischen den Hasen und mich das Gebüsch brachte, und von diesem gedeckt bewegte ich mich lautlos weiter, indem ich fortwährend angestrengt vor mich hin spähte. Die Nähe des Gebüsches hatte ich bald erreicht, und nun schlich ich mich vorsichtig um dies herum, immer die Augen auf das hohe Gras gerichtet. Ich musste aber wohl immer ein wenig zu weit voraus gespäht haben, denn plötzlich fuhr ich vor Schreck ziemlich geräuschvoll zusammen, weil ich mit einem Male sah, dass der Hase dicht vor meinen Füssen sass; ich hätte mit dem Flintenlauf sein feistes Hinterteil berühren können. Auf das Geräusch, das ich machte, fuhr nun auch der Hase nicht wenig zusammen, ergriff sofort sein berühmtes und so vielfach zitiertes Panier und riss ungeheuer kraftvoll aus. Ich nahm alle meine Geistesgegenwart zusammen, nahm das Gewehr an die Backe, kam gut ab, und etwas vorhaltend wollte ich Feuer geben, als ich bemerkte, dass ich in der Aufregung und bei meinem Mangel an Übung am Bügel statt am Abzug drückte. In diesem Augenblick schlug der Hase einen Haken, um den Wald schneller zu erreichen, und kam dadurch für mich, der ich ihn anfangs spitz von hinten gefasst hatte, in eine günstigere Lage. Ob ich beim zweiten Male gut oder wie ich überhaupt abgekommen bin, weiss ich nicht, ich weiss nur, dass es plötzlich knallte und dass ich durchs Feuer sah, wie der Hase ein Rad schlug und plötzlich spurlos verschwunden war. Ich stand, während von fernen Uferwaldbuchten das Echo meines Schusses wie ein langsam verhallender Donner zurückkam, ganz verblüfft da und starrte auf den Punkt hin, wo meine Beute gleichsam in die Erde versunken war.

Im nahen Walde stand, durch den Schuss erschreckt, ein Raubvogel auf und brach schwer durch die Äste; einige ebenfalls aufgeschreckte Enten strichen im letzten Schein des Abendrotes mit pfeifendem Flügelschlag über den See hin. Der Hase aber blieb verschwunden.

Ganz zaghaft schritt ich der Stelle näher, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Das anfängliche Triumphgefühl hatte einer trübseligen Niedergeschlagenheit Platz gemacht, und ich war überzeugt, der Hase habe nur aus Schreck ein Rad geschlagen und sei dann, durch den Pulverdampf meinen Blicken entzogen, in den Wald gelaufen.

Als ich aber näher kam, tauchte aus dem hohen Grase einer kleinen Bodenvertiefung etwas braunes auf. Ich wollte meinen Augen noch nicht trauen, aber als ich zwei Schritte weiter war, da stürzte ich eilfertig auf jenen Ort zu und hob das stattliche, schwere Tier an den Löffeln empor. Es mögen wohl die alten Instinkte unsrer Urvorfahren, die ein Jägervolk waren, in uns erwachen, wenn fast jeden eine Art Rausch ergreift beim Anblick seiner ersten wirklichen Jagdbeute. Es ist ja keine Heldenthat, einen friedlichen Hasen zu morden, und doch, wenn man den ersten erlegten in der Hand wiegt, so ist das eine Empfindung, die nur im ersten Kuss der ersten Liebe oder in jenem erhabenen Moment ihresgleichen hat, wo, man sich zum erstenmal gedruckt sieht.

Es war schon ziemlich dunkel, und ich musste eilen, nach Hause zu kommen, wo Adolf sicher schon auf mich wartete. Ich schnürte dem Hasen die Hinterläufe mit einer Weidenrute zusammen, hing ihn über den Gewehrlauf und trug ihn so auf der Schulter davon. Dazu sang ich, dass es durch den dunkeln Wald schallte:

»Im Wald und auf der Heide,
Da such‘ ich meine Freude,
Ich bin ein Jägersmann!«

Als ich mich unsrer Hütte näherte, sah ich von ferne schon das Feuer durch die Stämme der Bäume scheinen und bereitete mich auf ein recht effektvolles Auftreten vor. Ich nahm den Hasen an den Hinterläufen in die Hand, schulterte die Flinte und ging mit möglichst dick aufgetragener Gleichgültigkeit auf das Feuer zu.

Adolf, der mich kommen hörte, aber vom Feuer geblendet mich nicht sehen konnte, rief: »Na, wonach hast du vorbeigeschossen?« und hielt zugleich einen sehr stattlichen Barsch, den er soeben ausgenommen hatte, in die Höhe, dass er im Lichte des Feuers blitzte.

»Die Büchse Freitags«, sagte ich in erhabenem Tone, »spricht nicht umsonst. Der starke Büffel zittert, wenn er ihren Ton vernimmt, und der blutgierige Jaguar schleicht sich still ins Dickicht, wo es am finstersten ist. Ich war auf der Prairie des Sonnenuntergangs und sorgte für den Sonntagsbraten.«

Damit warf ich Adolf mit einer Miene erhabener Gleichgültigkeit den Hasen vor die Füsse.

Ich glaube fast, Adolf war neidisch, soweit sein biederes Gemüt diese Empfindung zuliess. Jedenfalls empfand er es als eine Ungerechtigkeit, dass das, wonach er all die Abende vergeblich ausgegangen war, nun dem Neuling von selber in den Schoss fiel. »Na«, meinte er, »mein Vater sagte immer, die Anfänger haben den besten Anlauf, das muss doch wahr sein. Hast noch nie ’ne Flinte auf ein Stück Wild abgedrückt und dann gleich so ’n Kapitalhase. Na, es wird wohl auch so ’n Ururgrossvater sein, der sich aus Lebensüberdruss hat totschiessen lassen.«

Und damit griff er mit der Miene eines gewiegten Kenners nach dem einen Löffel des Hasen und versuchte ihn der Länge nach einzureissen. Es ging ganz leicht.

»Jung ist er auch noch«, sagte Adolf dann, »wie kann nur ein Mensch so ’n Glück haben!« Ich aber, von hohem Stolze geschwellt, stieg auf einen Stuhl und hing meine Beute an das Dach unsrer kleinen Vorhalle, und als ich nun während unsrer Abendmahlzeit von meinem Jagdabenteuer ganz genauen Bericht abstatten musste, verfehlte ich nicht, mich von Zeit zu Zeit liebevoll nach ihr umzusehen.

Als ich in der Nacht zufällig einmal aufwachte, fiel mir sogleich wie ein grosses Glück mein Jagderlebnis wieder ein. Draussen schien der Mond, und ich konnte es nicht lassen, ich musste noch einmal nach meinem Hasen sehen. Zugleich hörte ich draussen ein leises Geräusch, das ich mir nicht zu erklären vermochte. Ich erhob mich vorsichtig und sah durch das Fenster hinaus. Dort hing er noch immer, schwarz und stattlich im hellen Mondschein sich abzeichnend. Da plötzlich schoss etwas Dunkles gegen den Hasen vom Boden empor, berührte ihn fast und fuhr dann wieder zurück. Ich richtete mich höher auf, um auf den Boden sehen zu können, und bemerkte dort ein Tier, das wie ein Hund auf den Hinterbeinen sass und sehr aufmerksam zu dem Hasen emporäugte. Aber Hunde gab es ja gar nicht auf der Insel, wahrhaftig, das konnte nur ein Fuchs sein. Nun sprang das Tier wieder mit einem mächtigen Satze empor, dass es mit der Schnauze den Hasen berührte und dieser ein wenig hin und her schwankte. Bei diesem Sprunge sah ich die buschige Lunte des Tieres und war nun meiner Sache gewiss. Der Hase war nur lose aufgehängt, und wenn der Fuchs ihn nur einmal richtig fasste, dann riss er ihn herunter; deshalb musste ich den roten Räuber sofort verjagen und den Hasen sicherer unterbringen. Als ich mich leise hinausschleichen wollte, fiel mein Auge auf die Flinte, die Adolf am vorigen Abend ordnungsmässig wieder geladen und an die Wand gehängt hatte. Da kam mir erst der einzig richtige Gedanke. Ich nahm, so leise ich konnte, das Gewehr von der Wand, stellte mich so aufrecht wie möglich auf mein Heubett, zielte sorgfältig, so gut es bei dem mangelhaften Lichte ging, auf das Blatt des Fuchses, der wieder in sitzender Stellung voller Begier zu dem Hasen aufäugte, und schoss. Als sich der Pulverdampf verzogen hatte, war der Fuchs verschwunden.

Adolf aber fuhr mit einem lauten Schrei aus dem tiefsten Schlaf hervor. »Sind die Eingeborenen da?« rief er und starrte entsetzt in den dämmerigen Raum, in dem er mich kaum erkennen konnte.

»Beruhige dich, Robinson«, sagte ich, »dein Freitag wacht für dich! Ich schoss eben nur einen Fuchs, der sich den Hasen holen wollte.«

»Ach, du träumst«, sagte Adolf, »dir ist dein Jagdglück zu Kopf gestiegen.«

Trotzdem aber standen wir auf, zogen uns Stiefel an und gingen hinaus.

Alles war draussen still und einsam und trotz des hellen Mondscheins nichts Verdächtiges zu sehen. Ich suchte nach Schweissspuren, konnte aber keine finden. Adolf war ärgerlich, machte schnöde Bemerkungen über Mondsucht und Gespensterseherei und kroch bald verdriesslich wieder in sein Heu.

Ich that es ihm nach, aber einschlafen konnte ich nicht wieder, denn dies nächtliche Abenteuer wollte mir nicht aus dem Sinn. Glücklicherweise war der Morgen nicht mehr weit, und als es so hell geworden war, dass man im Innern der Hütte alles erkennen konnte, stand ich sachte auf und schlich mich hinaus. Im Osten war schon eine grosse Helle, und zarte, rötliche Wolken schwammen darüber in der blassen Luft; von den Blättern der Bäume tropfte der Tau, und allerlei Vogelstimmen waren schon vernehmlich. Über den hellen Himmel hinweg flogen die Krähen von ihren nächtlichen Schlafplätzen zu den fernen Feldern, auf denen sie während des Tages ihrem Erwerbe nachgehen. Als der erste Sonnenstrahl durch die Stämme blitzte, begann ich meine Nachsuche. Die Stelle, wo der Fuchs seine Sprünge gemacht hatte, war an den Spuren leicht kenntlich, doch Schweiss fand ich an diesem Orte nicht. Das stimmte mich sehr bedenklich, doch umging ich nun sorgfältig diesen Ort in immer grösseren Kreisen und suchte weiter. Doch nichts fand sich, und ich wollte schon betrübt meine Nachforschungen aufgeben, als ich plötzlich auf einem Wegerichblatt einen roten Blutstropfen bemerkte. Und von dort ab fand sich eine deutliche Schweissspur, die zu einem dichten Gestrüpp von wilden Himbeeren führte. Ich umging das Gestrüpp von allen Seiten, allein die Spur kam nicht wieder zum Vorschein. In einer seltsamen Angst wagte ich mich eine ganze Weile gar nicht an das Gebüsch heran, in der Furcht, es leer zu finden. Endlich fasste ich Mut, bog die Büsche an einer mir geeignet erscheinenden Stelle auseinander und erschrak furchtbar, denn dort auf einem kleinen, von Buschwerk freien Fleck lag der rote Räuber verendet seine Seher waren schon verglast, und aus dem Anschuss gerade über dem Ansatz des Vorderlaufes sickerte der Schweiss. Auf die kurze Entfernung hatten die Schrote so zusammengehalten, dass man davon fast den Eindruck eines Kugelschusses hatte. Da ich das sogenannte Einhessen damals noch nicht kannte, so schnürte ich dem Fuchs die Hinterläufe mit einer Weidenrute zusammen und hing ihn ganz sachte dem Hasen zur Gesellschaft hin. Dann zog ich mich aus, schoss, um die Freude über mein Jagdglück etwas zu dämpfen, erst einige Male auf der nassen Wiese Kobold und lief dann zu dem gewohnten Morgenbade in den See. Nach einer Weile kam auch Adolf in puris naturalibus über die Wiese daher und sah finster und unzufrieden aus. Ich stand im Wasser in der Nähe des Ufers und erwartete ihn. Er kam wie ein Rachegeist auf mich zu und boxte mich, wozu er allerlei anzügliche Redensarten ausstiess von unverschämtem Torkel und den Dummen, die das Glück haben. Ich freute mich zwar sehr über diese hohe Anerkennung, hatte aber doch das Gefühl, ich müsse den Göttern ein Opfer bringen, damit sie mir mein Glück nicht neideten. Ich streckte ihm darum, wie es isern Hinrich zu thun pflegte, den Oberarm entgegen, was er ganz in Ordnung zu finden schien und mir mit den spitzen Knöcheln der verwendeten Hand drei feierliche und sehr wohlgemeinte Schläge auf den Biceps beibrachte. Damit war der Drang seiner Seele gestillt, und ich musste erzählen.

Als wir wieder zu unsrer Hütte zurückgekehrt waren und uns angezogen hatten, standen wir eine ganze Weile vor unsrer primitiven Wohnung und schwelgten in ihrem Anblick, denn das Ganze sah nun erst für uns unbeschreiblich echt und wie eine richtige Jägerniederlassung aus. Wir beschlossen, den Fuchs, dessen Balg um diese Zeit doch nicht brauchbar war, dort als prachtvolles Ornament so lange hängen zu lassen, als es ging, den Hasen aber noch an diesem Abend zu braten mit allem Raffinement der Kochkunst, das uns zu Gebote stand. Wir begaben uns dann auf die Suche nach geeigneten Steinen, denn wir wollten diesen Hasen zubereiten nach den Regeln der Wilden auf den Südsee-Inseln, in einer Erdgrube mit heissen Steinen, von welchem Verfahren wir so verlockende Beschreibungen gelesen hatten. Wir fanden auch am Seeufer bald so viele wir brauchten und gerieten dann in einen wissenschaftlichen Streit, denn jeder von uns hatte eine verschiedene Meinung darüber, wie der Hase gestreift werden müsse, und da wir uns darüber gar nicht einigen konnten, so hing er noch am Nachmittag in seiner schönen, warmen Jacke da, denn keiner von uns wollte sich so recht an dieses Geschäft heranwagen. Während wir nun vor unsrer Hütte sassen und darüber zum so und so vielsten Male deliberierten, sauste plötzlich ein Rohrpfeil zwischen uns beiden hindurch in die offene Thür. Ein zweiter folgte, der in einer Ritze der Hüttenwand stecken blieb, und dann erschallte aus dem gegenüberliegenden Gehölz hinter der kleinen Wiese ein furchtbares Indianergeheul. »Huiih, huiih!«

»Die Indianer, die Indianer!« riefen wir, stürzten sofort in die Hütte, griffen nach unsern Bogen und Pfeilen, steckten jeder einen unsrer hölzernen Tomahawks in den Gürtel und suchten zur Abwehr dieses Angriffes draussen vor der Hütte Deckung. Die Pfeile flogen nun hin und wider. Der Feind schoss nur sparsam, aber desto verschwenderischer ging er mit seinem Kriegsgeheul um, das bald von hier, bald von dort markerschütternd und grässlich erschallte. Er hielt sich hinter den Büschen gedeckt, und es schien mir, als sähe ich durch eine Lücke bald etwas Rotes nach der einen Seite huschen, worauf von hier das Geheul ertönte, bald nach der andern, worauf sofort auch von dort das grässliche Geschrei vernommen ward. Zahlreich konnten die Feinde nicht sein, jedenfalls waren es nicht mehr als zwei, und da wir bald unsre Pfeile verschossen hatten, so griffen wir zum Tomahawk und schickten uns an, über die kleine Wiese hinweg zum Angriff vorzugehen. Doch in diesem Augenblick teilte sich das Buschwerk, und hervor trat ein Indianer in fürchterlicher Kriegsbemalung, der einen grünen Zweig zum Zeichen des Friedens in der Hand trug. Die eine Hälfte seines Gesichts war rot, die andre schwarz gemalt und um die Augen zwei schreckliche weisse Ringe. Auf seinem Haupte prangten rote und schwarze Federn, und sein Anzug bestand aus Sackleinwand, mit vielen grellbunten Ornamenten benäht. Er trug einen Wampungürtel um den Leib, drin ein Tomahawk steckte; ein Medizinbeutel hing daran und viele Skalpe erschlagener Feinde. Seine Füsse waren mit Mokasins bekleidet, die aber leider eine allzugrosse Ähnlichkeit mit Onkel Philipps alten Morgenschuhen hatten, worüber einige phantastische indianische Zusätze nicht hinwegtäuschen konnten.

Langsam und feierlich schritt dieser prachtvolle Indianer auf uns zu, und als er ganz nahe war, streckte er uns auf eine uns wohlbekannte Weise den Oberarm entgegen. Jetzt erst erkannten wir unter der Entstellung dieser fürchterlichen Bemalung isern Hinrich und begrüssten ihn in der gebräuchlichen Weise.

»Fäubohl ibock gobomiboch!« sagte er mit indianischem Gleichmut.

Das war die Bo-Sprache, die uns bekannt war und nun als Indianerdialekt herhalten musste.

»Iboseborn Hibonriboch?« fragte Adolf.

»Jabowoboll!« Die Bo-Sprache entstellt dadurch, dass an jede Silbe, die mit einem Vokal endigt, ein »bo« angehängt und vor den Schlusskonsonanten einer Silbe ein solches eingefügt wird. Lässt man »bo« weg, hat man das richtige Wort. antwortete der Indianer.

Wir brachen in ein mächtiges Gelächter aus, denn dies erschien uns als ein herrlicher Spass. Wir betrachteten isern Hinrich bewundernd von allen Seiten und beneideten ihn fast um sein prachtvolles Kostüm und seine vortreffliche Ausrüstung.

»Herr Simonis«, sagte isern Hinrich, »hett mi so fein utkleedt un so gruglich anmalt. Sin Mamsell hett dat Tüg neiht, und dei Skalps dei hett hei sülwst makt ut ’n olles Zägenfell. Un dat Kriegsgeschrei, wir dat nich fein? Dat bett hei mi ok inöwt. Dat ganze Dörp hett sick grugt, als wir dorbi wiren un oll Mudder Boltsch hett glöwt, dei Franzosen keemen.«

Wir gingen dann zu unserer Hütte und weideten uns an seinem Erstaunen über unsre reiche Jagdbeute. Ich musste natürlich erzählen, kürzte dies aber so viel wie möglich ab, um »der alten Wunde unnennbar schmerzliches Gefühl« bei Adolf nicht zu sehr hervorzurufen, und brachte isern Hinrich bei Zeiten auf die Frage, wie dies Wild am besten zu streifen sei.

»Dat ’s Spass vor mi«, sagte isern Hinrich, holte sein Taschenmesser hervor, das er einen echten Kneif nannte, und auf das er sehr stolz war, hing sich den Hasen richtig auf, und in kurzer Zeit hatte er das Tier seines warmen Ueberziehers entledigt, schnitt ihm den Kopf und die Vorderläufe ab, stutzte die Hinterläufe, kürzte mit dem Beil auf dem Haublock die Rippen, und fing an, ihm sorgfältig seine Häute abzuziehen.

»So, nu möt hei spickt warden«, sagte er dann, »hewwt ji Speck un ’ne Spicknadel?«

Speck war noch da, aber eine Spicknadel fehlte. Isern Hinrich war so leicht nicht in Verlegenheit zu bringen. Er besann sich eine Weile, und dann fiel ihm ein, dass er vorhin auf der anderen Seite der Wiese einen Spindelbaum am Waldrand gesehen hatte. Er lief hin, schnitt sich einen graden Zweig von diesem harten und zähen Holze und schnitzte sich eine Spicknadel draus, die er am stumpfen Ende ein wenig spaltete. In diesen Spalt steckte er die Speckstreifen und spickte so den Hasen sauber und sachgemäss.

Wir hatten unterdes eine passende Grube ausgehoben, sie mit Steinen ausgepflastert und darauf ein mächtiges Feuer angemacht. Andre Steine erhitzten wir auf unsrer gewöhnlichen Feuerstelle.

Als isern Hinrich mit seinem Hasen fertig war, waren auch unsre Feuer niedergebrannt und die Steine glühend heiss. Isern Hinrich sagte nun: »So, nun möt hei an ’n Spitt bradt warden; ick warr hengahn un einen snieden.«

»Ne«, sagte Adolf, »wi will’n em up südseeinsulansch braden.«

»Hä? Woans?« fragte isern Hinrich.

Wir erklärten ihm das, er aber wollte nichts davon wissen. »Dat hewwt ji nu wedder in jug dwatschen Bäukers läst,« sagte er; »passt up, ji ward jug den ganzen schönen Hasen verrungenieren.«

Da wir aber fest blieben, sagte er: »Mit dei oll utlandsch Braderie heww ick nix in ’n Sinn. Gewt mi dei Läwer und dei beiden Vörlöp, dei brad‘ ick mi inne Pann,. un denn makt, wat ji Lust hewwt.«

Wir räumten nun Kohlen und Asche von den Steinen unsrer Grube hinweg, wickelten den Hasen in einige Sonnenblumenblätter, legten ihn hinein, packten dann die anderen heissen Steine darauf und füllten die Grube mit Erde wieder zu.

»Unklauk lett grüssen!« sagte isern Hinrich, der dieser Prozedur mit Kopfschütteln und ironischem Grinsen zugesehen hatte. Danach machte er sich behaglich daran, seinen Anteil zu braten und nachher mit viel Brot zu verzehren. Dabei bemerkte er, dass auf diesem schon jenes Pflänzchen wuchs, von dem das Hebelsche Rätsel sagt:

»Den Reichen trägt das Tierlein
durch den Kot,
Der Arme isst das Pflänzchen
auf dem Brot.«

Dies regte ihn offenbar zum Philosophieren an. »Wat tau mall is, is tau mall!« sagte er. »Tau Hus känt ji in feine Berren slapen mit Swanendunen, und hier liggt ji in sonne Ort Zägenstall up Heu und deckt jug mit ’ne oll Pierdeck tau. Hut giwwt dat up‘ n Hoff frische Stuten (Semmel) un ’ne feine Kalwsbrar von so ’n vierteljährig Säutmelkkalw, un ji frät’t hier verschimmelt Groffbrot, un is doch gistern up ’n Hoff ierst backt. Un känt tau Hus allens hebben, ward jug farig up ’n Disch sett‘, Eierrühr un Pannkauken un suer Klümp un Rindfleisch mit Plummen un Ries, un hier maracht ji jug sülwst mit dei Kakerie af, wat doch warraftig kein Vergnügen is. Un wenn ji nu würklich mal ’n Hasen hewwt, denn grawt ji em up ’ne unchristliche Ort inne Ierd un schampfiert em mit gläunige Stein‘. Na, ick segg man, wer unklauk warden will, dei kriegt dat ümmer tauierst in ’n Kopp!«

Endlich war die Stunde vergangen, die ein Hase nach isern Hinrichs Angabe braten musste, und wir räumten mit grosser Spannung die Erde und die oberen Steine weg, die noch ziemlich heiss waren. Als wir die versengten Sonnenblumenblätter abnahmen, schlug uns ein köstlicher Duft entgegen. »Rüken deiht he good«, sagte isern Hinrich, der diesem Schauspiel mit grosser Spannung zusah. Wir legten den Braten dann auf ein ungeheures Klettenblatt, das uns als Schüssel dienen musste, schnitten ihn an und fanden ihn zart und saftig und von köstlichem Wohlgeschmack. Diesmal hatten wir das Glück gehabt, alles richtig zu treffen, was uns unserm Gaste gegenüber mit nicht geringem Stolze erfüllte. Dieser, obwohl schon schön satt, wie er sagte, leistete trotzdem noch Unglaubliches, so dass von dem Hasen wenig übrig blieb. Wir kamen überein, dass so ein Braten auf südsee-insulanisch eine gute Sache sei.

Unterdes war es Abend geworden, und wir sassen nach dem Essen um das wieder angefachte Feuer und schwatzten.

»Driebenkiel«, sagte isern Hinrich, »wahnt ja nu in Neddemin up de anner Siet von ’n See, äwer männigmal kümmt hei noch räwerführt, un denn möt ick gliek Jochen Nehls halen. Wat Driebenkiel und Jochen Nehls vörhebben, dor kann ick nich ut klauk warden. Gistern wiren sei wedder in uns‘ Gaststuw un tuschelten un muschelten mit ’n anner, un as ick achtern Aben seet un dehr, as wenn ick slapen dauhn dehr, dor hett mi Driebenkiel rutjagt un seggt, hei wull woll up ’n Disch ballern, wenn hei mi brucken dauhn dehr. Wat ick nu äwer so af un an mal verstahn dauhn dehr von ehr Getuschel, dat keem mi ümmer so gruglich vör, denn eins heww ick verstahn, wo Driebenkiel sär: »Dodt will ’n wi em jo nich maken!« un ’n annermal: »Dei Ollsch kriegt ok ’n Knebel in ‚t Mul!« Ick wir jo denn ok nieglich un harr gor tau giern mihr hürt. Nu ward jo uns‘ Stubenaben von dei Käk ut bött un hett dor ’ne grote isern Döhr, dat dat Bäukenblankholt un dei Torf dor ok ollig dörchkänen. Dor bün ick rin krapen un heww horkt. Sei snackten jo nu ok nich so liesing mihr, doch dei ollen Kacheln wiren woll tau dick, un ick künn gor nich recht wat hüren. Blot einmal verstünn ick, dat Jochen Nehls seggen dauhn dehr: »Aewer dei Hund, dei Hund!« »Ach wat, dei Hund!« sär Driebenkiel, »dei Hund kennt mi.« Un donn kregen sei wedder dat Tuscheln, un nahst baller Driebenkiel up ’n Disch, dat ick man maken müsst‘, dat ick ut den ollen Aben wedder rut kamen dauhn dehr. Un Driebenkiel wull jo nu betahlen, un as bei mi tau seihn kriegen dehr, donn sär bei: »Jung, wo sühst du ut, du büst jo ganz swart.« Ick stickte mi jo nu rot an un sär, ick harr mi woll inne Käk swart makt. Driebenkiel keck nu äwer hellschen veniensch un sär: »Kiek den infamigten Jung, dei bett gewiss sin Mudder ehr Wust revidiert, dei dor in ’n Schostein bammelt. Son ’n Spitzbauw!« Na, ick let em dor jo nu bi, dat hei man blot nich dor achter kamen süll, dat ick in ’n Aben wäst wir. Nasten, as hei Jochen Nehls Adschüs seggen dehr, donn sär hei noch tau em: »Also Friedag abend Klock nägen an den bewussten Urt!« Wat dei beiden woll blot vörhebben? Aewer nu möt ick na Hus, un ierst möt ick mi dei Kriegsbemalung afwaschen un denn bi Herrn Simonis min sündagsch Tüg wedder an trecken. Süss, wenn dei Oll mi so tau seihn kriegt, versahlt hei me ossig dat Ledder.«

Wir begleiteten ihn in der Dämmerung an den Fischerkahn, den er zum Uebersetzen benutzt hatte, und sahen ihm nach, wie er über den glatten See nach Steinhusen fuhr.