13. Kapitel

Aber nun zu dem interessantesten Teil meiner Geschichte! Ich muß die Ereignisse berichten, die mich aus dem, was ich war, zu dem machten, was ich heute bin.

Immer schöner wurde es draußen und ein wolkenloser Himmel spannte sich über die Erde, die nach langer Wintersnacht nun grün und blühend geworden war. Tausend Wohlgerüche strömten auf mich ein und mein Auge erfreute sich immer neuer Schönheiten.

Es war einer jener Tage, an denen meine Freunde gewohnheitsmäßig zu feiern pflegten – der Alte spielte auf seiner Zither und die Kinder hörten ihm zu – als ich bemerkte, daß das Antlitz des Jünglings noch viel trauriger war als bisher. Er seufzte oft, so daß der Greis einmal sein Spiel unterbrach und ihn zu trösten versuchte. Felix antwortete liebevoll und der Alte begann wieder mit seiner Musik, als es plötzlich an der Tür pochte.

Es war eine Dame zu Pferde, die einen Bauern als Führer bei sich hatte. Sie war schwarz gekleidet und ein schwarzer Schleier bedeckte ihr Gesicht. Agathe fragte sie um ihr Begehr, worauf die Fremde mit lieblicher Stimme nur den Namen Felix aussprach. Daraufhin kam Felix herbeigeeilt. Die Dame schlug ihren Schleier zurück, so daß mir ein Antlitz von wunderbarer Schönheit entgegenstrahlte. Ihr Haar war tiefschwarz, glänzend und eigenartig geflochten; ihre dunklen, prächtigen Augen leuchteten; ihre Züge waren regelmäßig und ihr Gesicht von frischer Farbe.

Felix schien vor Glück förmlich aufzublühen, als er sie erblickte. Sein Antlitz leuchtete in schwärmerischer Freude, der ich ihn nie für fähig gehalten hätte. Seine Augen glänzten und eine heiße Röte färbte seine Wangen. In diesem Augenblick erschien er mir so schön wie die Fremde. Auch sie war ergriffen; aus ihren Augen stürzten Tränen, während sie ihm die Hand hinhielt, die er leidenschaftlich küßte. Und ich vernahm, wie er sie sein liebes Weib nannte. Sie schien den Inhalt seiner Worte nicht zu verstehen, aber sie lächelte. Er hob sie vom Pferde, entließ den Führer und geleitete sie ins Haus. Zuerst entwickelte sich ein Gespräch zwischen ihm und seinem Vater, dann warf sich das schöne Weib vor dem Greise nieder, um seine Hände zu küssen. Er aber hob sie auf und schloß sie liebevoll in die Arme.

Bald bemerkte ich, daß die Fremde, wenn Sie auch artikulierte Laute hervorbrachte, doch eine eigene Sprache zu haben schien und deshalb weder selbst verstanden wurde, noch auch die Anderen verstand. Sie halfen sich mit verschiedenen Zeichen, deren Bedeutung ich aber nicht begriff. Jedenfalls verbreitete ihre Anwesenheit Glück und Freude in der kleinen Wohnung, und die Traurigkeit war geschwunden wie Morgennebel vor dem Glanz der Sonne. Besonders glücklich war Felix und lächelte immer der Fremden zu. Agathe küßte die Hände der Frau und machte Zeichen gegen ihren Bruder hin, aus denen ich entnahm, daß er es sei, dem ihre Ankunft die innigste Freude bereite. So vergingen mehrere Stunden freudiger Erregung, deren Ursache ich ja allerdings vorerst nicht zu ergründen vermochte. Später erkannte ich an der öfteren Wiederholung von Worten, die die Fremde dann nachsprach, daß diese sich bemühte, die Sprache meiner Freunde kennen zu lernen. Da kam mir die Idee, daß ich aus diesen Lektionen auch Nutzen zu ziehen imstande wäre. Es waren nur zwanzig Worte, die die Fremde in dieser ersten Lektion erlernte, von denen ich die meisten schon kannte; aber es waren auch etliche dabei, die mir neu waren.

Als es Nacht wurde, zogen sich Agathe und die Fremde zeitig zurück. Als sie sich verabschiedeten, küßte Felix die Hand der Fremden und sagte: Schlaf wohl, liebe Safie. Er saß dann noch längere Zeit mit seinem Vater zusammen, und daraus, daß der Name der Fremden sich in ihrem Gespräch oft wiederholte, schloß ich, daß sie der Gegenstand desselben war. Ich bemühte mich sehr, sie zu verstehen, aber es war mir nicht möglich.

Am nächsten Morgen begab sich Felix wieder an die gewohnte Arbeit und die Fremde ließ sich, während Agathe die Wohnung in Ordnung brachte, zu Füßen des alten Mannes nieder. Dieser nahm seine Zither und spielte einige Lieder so schön, daß mir die Tränen des Mitleids und des Entzückens aus den Augen flössen. Dann sang die Fremde. Ihre Stimme ertönte in reicher Fülle und so lieblich, daß ich meinte, die Nachtigall des Waldes singen zu hören.

Nachdem sie geendet, gab sie Agathe die Zither. Diese lehnte zuerst ab, dann aber spielte sie ein einfaches Lied und sang dazu. Aber wenn auch ihre Stimme lieblich klang, so war sie doch mit der der Fremden nicht zu vergleichen. Der alte Mann schien entzückt und sagte einige Worte, die Agathe der Fremden zu erklären versuchte.

Die Tage flossen so ruhig und friedlich dahin wie bisher, nur mit dem Unterschied, daß meine Freunde jetzt keine traurigen Gesichter mehr hatten. Safie war immer lustig und guter Dinge. Sie und ich drangen rasch in die Geheimnisse der Sprache ein, so daß ich nach zwei weiteren Monaten fast alles verstand, was gesprochen wurde.

Auf den Feldrainen blühten ungezählte Blumen und auf dem mondbeschienenen Waldboden leuchteten ihre bleichen Sterne. Die Sonne war kräftiger geworden, die Nächte klar und mild. Meine Ausflüge bildeten ein großes Vergnügen für mich, wenn sie auch infolge des frühen Sonnenaufgangs und des späten Sonnenunterganges bedeutend kürzer werden mußten. Denn so lange es Tag war, wagte ich es nicht, meine Hütte zu verlassen, da ich fürchten mußte, dieselbe Behandlung zu erfahren, wie schon einmal, und die ich nie vergaß.

Meine Tage waren dem aufmerksamsten Studium gewidmet, denn es kam mir darauf an, möglichst bald der Kunst der Sprache teilhaftig zu werden. Ich darf mich rühmen, daß meine Fortschritte größer waren als die der Fremden, die noch sehr wenig verstand und nur sehr gebrochen sprach, während ich fast jedes Wort, das ich hörte, begriff und zu wiederholen wußte.

Aber nicht nur die Sprache, sondern auch die Schrift erlernte ich auf dieselbe Weise wie die Fremde. Damit eröffneten sich mir herrliche Gebiete, die mich in Erstaunen und Bewunderung versetzten.

Das Buch, aus dem Felix Safie unterrichtete, war Volneys »Zertrümmerte Reiche«. Ich hätte ja den Inhalt des Buches nie erfaßt, wenn nicht Felix immer ausführliche Erläuterungen dazu gegeben hätte. Er hatte dieses Werk gewählt, weil der Stil des Werkes außerordentlich anschaulich war.

Der Inhalt jenes Buches regte mancherlei Gedanken in mir an. Waren denn die Menschen wirklich zugleich so mächtig, tugendhaft und groß und doch dabei so lasterhaft und schlecht? Der Mensch erschien mir einmal als der Repräsentant des bösen Prinzips und dann ein andermal wieder als der Inbegriff des Edlen und Göttlichen. Ein großer, tugendhafter Mensch zu sein, das mußte doch das Herrlichste bedeuten, was sich ein denkendes Wesen vorstellen kann; und als tiefste Erniedrigung erschien es mir, lasterhaft und schlecht zu sein, ein Leben zu führen, das nutzloser war als das des blinden Maulwurfs oder des harmlosen Wurmes. Lange konnte ich es überhaupt nicht begreifen, daß es Wesen gäbe, die imstande waren, ihresgleichen zu morden, und warum es Gesetze und Regierungen gab. Aber als ich von Verbrechen und Blutvergießen erzählen hörte, wunderte ich mich nimmer, sondern wandte mich voll Ekel und Abscheu ab.

Jedes Gespräch der Hausbewohner eröffnete mir neue Perspektiven. Bei Gelegenheit der Belehrungen, die Felix der Fremden gab, erfuhr ich auch von dem seltsamen System der menschlichen Gesellschaft. Ich hörte von Teilung des Besitzes, von unermeßlichen Reichtümern und entsetzlichster Armut, von Rang, Abkunft und edlem Blute.

Dieses Kapitel veranlaßte mich, über mich selbst nachzudenken. Ich sah, daß das, was meine Mitmenschen als das Höchste betrachten, edle, fleckenlose Abkunft und Reichtum sind. In seltenen Fällen mochte es ja vorkommen, daß einer, der nur einen dieser beiden Vorzüge besaß, geachtet war; meistens aber betrachtete man einen solchen Menschen als Lump oder Sklaven, der lediglich dazu da ist, seine Kräfte im Dienste weniger Auserwählter zu verbrauchen. Und was war ich? Ich wußte von meiner Entstehung, von meiner Abkunft gar nichts; aber das wußte ich, daß ich kein Geld, keine Freunde mein eigen nannte. Außerdem war ich noch besonders häßlich und mißgestaltet und nicht einmal dasselbe Wesen wie ein Mensch. Ich war beweglicher als ein solcher und kam mit weniger Nahrung aus; ich ertrug mit größerer Gleichgültigkeit Kälte und Hitze und war an Größe und Kraft weit überlegen. Aber wenn ich um mich sah, fand ich niemand, der mir glich. Ich war also eine Abnormität, ein Ungeheuer, ein Schandfleck der Schöpfung, den alle Menschen flohen und von sich stießen.

Ich würde vergebens versuchen, dir die Qualen zu schildern, die diese Gedanken in mir wachriefen. Ich wollte ihrer Herr werden, aber mein Leid wuchs nur, je mehr ich darüber nachsann. O, daß ich doch immer in meinem Walde geblieben wäre und nicht gelernt hätte, etwas anderes zu fühlen als die Regungen des Hungers und des Durstes!

Welch seltsames Ding ist doch das Wissen! Es klammert sich an unser Inneres, wie eine Flechte an den Stein. Ich hätte oft gewünscht, all das Fühlen und Denken von mir abschütteln zu können. Aber ich erfuhr auch, daß es gegen all diese Schmerzen nur ein einziges Heilmittel gibt – den Tod, einen Begriff, den ich fürchtete, den ich aber nicht zu fassen vermochte. Ich bewunderte die Tugend und alle hohen, edlen Gefühle und liebte die schönen, guten Menschen, dich ich bis jetzt, allerdings nur von Ferne, kennen gelernt hatte. Aber vom Verkehr mit ihnen war ich ausgeschlossen, wenn ich nicht das, was ich mir verstohlen ansah, als solchen bezeichnen will und das meine Begierde, einer von ihnen zu sein, nur noch mehr anstachelte. Die freundlichen Worte Agathes, das liebliche Lächeln der Fremden waren nicht für mich berechnet, und die milden Worte des Greises und die klugen Reden des jungen Mannes richteten sich nicht an mich. Elender, armer Wicht der ich war!

Andere Dinge, die ich hörte, wirkten noch niederdrückender auf mich. Ich erfuhr vom Unterschied der Geschlechter, von der Geburt und der Erziehung der Kinder; von dem glücklichen Lächeln des Vaters, von der Liebe und Hingebung der Mutter; von Bruder, Schwester und all den anderen Verwandtschaftsgraden, die die Bande bezeichnen, die die Menschen unter einander bindet.

Aber wer sind meine Freunde und Verwandten? Kein Vater hat meine Kinderjahre behütet, keine Mutter mir ihre Liebe und Zärtlichkeit geschenkt; oder wenn es doch so war, dann war mein bisheriges Leben ein Traum, von dem ich nichts mehr weiß. So weit meine Erinnerung reichte, ich war immer derselbe, wie ich damals war, und hatte an Größe und Gestalt mich nicht verändert. Ich kannte niemand, der mir ähnlich war oder der sich die Mühe genommen hätte, sich mit mir zu beschäftigen. Was war ich, woher kam ich? Das waren die Fragen, die sich in mir erhoben und auf die ich keine Antwort fand als meine Seufzer.

Wohin mich diese Gefühle brachten, will ich nun erzählen. Aber zuerst möchte ich noch einmal von jenen Menschen sprechen, deren Leben in mir zugleich Entrüstung, Entzücken und Verwunderung wachrief und in denen ich in unschuldiger, wonniger Selbsttäuschung meine Beschützer sah.

14. Kapitel

Es währte einige Zeit, ehe ich etwas aus dem Leben meiner Freunde erfuhr. Die mannigfachen Umstände, die darin eine Rolle spielten, verfehlten nicht, auf mich, der ich so gänzlich unerfahren war, einen tiefen Eindruck zu machen.

Der alte Mann hieß de Lacey. Er stammte aus einer guten französischen Familie und war bei seinen Standesgenossen geachtet und beliebt. Sein Sohn stand im Kriegsdienste und seine Tochter verkehrte mit den vornehmsten Damen. Noch wenige Monate vorher hatten sie in einer großen, prächtigen Stadt, die Paris hieß, gelebt, umgeben von guten Freunden, und erfreuten sich alles dessen, was mäßiger Reichtum zu bieten vermag.

Der Vater Safies war der Urheber ihres Unglücks. Er war ein türkischer Kaufmann und hatte lange Jahre in Paris gewohnt, als er, ich weiß nicht aus welchem Grunde, der Regierung verdächtig wurde. Er wurde gefangen genommen und in den Kerker geworfen, am gleichen Tage als Safie aus Konstantinopel eintraf. Er wurde verhört und zum Tode verurteilt. Die Ungerechtigkeit dieses Richterspruches lag klar zu Tage und ganz Paris war darüber empört. Man vermutete wohl mit Recht, daß seine Religion und sein Reichtum mehr zu seiner Verurteilung beigetragen hatten, als das ihm zur Last gelegte Verbrechen.

Felix war zufällig in der Gerichtsverhandlung gewesen und hatte mit Entsetzen und Entrüstung den Richterspruch vernommen. In diesem Augenblicke hatte er sich feierlich gelobt, den Verurteilten zu befreien, und sich sofort an die Ausführung seines Vorhabens gemacht. Nachdem er verschiedene Male vergebens versucht hatte, Zutritt zu dem Gefangenen zu erhalten, entdeckte er zufällig die stark vergitterten Fenster der Zelle, in der der unglückliche Mann, beladen mit schweren Ketten, der Exekution entgegensah. Felix gelang es, nächtlicherweile an dieses Fenster zu kommen und dem Gefangenen mitzuteilen, daß er seine Befreiung zu erwarten habe. Der Türke war zugleich erstaunt und erfreut und versprach Felix reiche Belohnung, die dieser aber rauh zurückwies. Als er aber Safie kennen lernte, die ihren Vater öfter besuchen durfte, wußte er, daß dieser einen Schatz besaß, den er doch von ihm annehmen und der ihn für seine Mühen und Gefahren belohnen würde.

Rasch hatte der Türke bemerkt, daß seine Tochter Eindruck auf den jungen Mann gemacht hatte, und suchte diesen in seinem Vorhaben zu bestärken, indem er ihm die Hand des Mädchens versprach. Sobald er an einem sicheren Platze sei, sollte die Hochzeit stattfinden. Felix war zu zartfühlend, von diesem Versprechen Notiz zu nehmen, erwartete aber von dessen Erfüllung sein ganzes zukünftiges Glück.

Während der folgenden Tage machten die Vorbereitungen zur Befreiung des Kaufmannes um so bedeutendere Fortschritte, als Felix von der Geliebten einige Briefe erhielt, die diese mit Hilfe eines alten Dieners ihres Vaters, der französisch verstand, an ihn geschrieben. Sie dankte ihm in den glühendsten Worten für das, was er ihrem Vater zu Liebe zu tun beabsichtigte, und beklagte zugleich auch darin ihr eigenes Geschick.

Ich habe Abschriften dieser Briefe im Besitz, denn ich hatte unterdessen das Schreiben erlernt, und da die Briefe oftmals den Gegenstand des Gespräches bildeten, konnte ich mir ihren Inhalt zu eigen machen. Ehe ich wieder gehe, werde ich sie dir geben, denn sie sollen dir die Wahrheit dessen beweisen, was ich dir berichte. Aber jetzt, da die Sonne sich anschickt, hinter den Bergen unterzugehen, kann ich dir nur kurz angeben, was sie enthielten.

Safie teilte ihm mit, daß ihre Mutter eine Christin gewesen, die von den Türken gefangen genommen und in die Sklaverei abgeführt worden war. Bezwungen von ihrer Schönheit, hätte ihr, Safies Vater, sie zum Weibe genommen. Das junge Mädchen sprach in den Ausdrücken tiefster Liebe und Verehrung von ihrer Mutter, die, in Freiheit aufgewachsen, die Knechtschaft, in der sie leben mußte, sehr schmerzlich empfand. Sie unterrichtete ihre Tochter in den Lehren ihrer Religion und riet ihr, stets nach höheren geistigen Gütern und nach geistiger Freiheit zu streben, die ja den Mohammedanerinnen strenge verboten ist. Die Frau starb, aber ihre Lehren hatten sich Safies Geist tief eingeprägt, die der Gedanke, nach Asien zurückkehren und sich in irgend einen Harem einsperren lassen zu müssen, tief niederdrückte; denn die kindischen Vergnügungen, die allein ihr dort erlaubt sein würden, hätten schlecht zu dem gepaßt, was sie sich in Europa an großen Ideen angeeignet hatte. Die Aussicht, einen Christen heiraten und in einem Lande bleiben zu dürfen, wo auch der Frau es möglich war, eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen, bereitete ihr Entzücken.

Der Tag der Hinrichtung des Gefangenen war nun herangekommen. Aber in der vorhergehenden Nacht war er entwichen und befand sich bei Tagesanbruch schon viele Meilen von Paris entfernt. Felix hatte sich Pässe auf seinen Namen sowie die seines Vaters und seiner Schwester verschafft. Er hatte dem ersteren davon Mitteilung gemacht, und dieser erleichterte das Vorhaben seines Sohnes dadurch, daß er bei seinen Bekannten die Absicht äußerte, eine Reise zu unternehmen zu wollen, und dann mit seiner Tochter in irgend einem entfernten Stadtteil von Paris Wohnung nahm.

Felix begleitete die Flüchtlinge durch Frankreich bis nach Lyon und von dort über den Mont Cenis nach Livorno, woselbst der Kaufmann eine günstige Gelegenheit abwarten wollte, in einen Teil des türkischen Reiches zu entkommen.

Safie beschloß, bis zur Hochzeit bei ihrem Vater zu bleiben, die kurz vor dessen Abreise in die Heimat stattfinden sollte. Und Felix erwartete voll Sehnsucht diesen Moment. Mittlerweile erfreute er sich der Gesellschaft des schönen Mädchens, das ihm die wärmste und zarteste Liebe entgegenbrachte. Sie unterhielten sich mit Hülfe eines Dolmetschers und dazwischen auch in der Sprache ihrer Augen. Manchmal sang ihm Safie die herrlichen Lieder ihrer Heimat vor.

Der Kaufmann hatte scheinbar gegen dieses Verhältnis nichts einzuwenden und ermutigte die Liebenden, während in seinem Herzen ein ganz anderer Plan reifte. Er dachte nur mit Abscheu daran, daß sein Kind einen Christen heiraten sollte. Aber er fürchtete, daß sich Felix an ihm rächen könne, wenn er wortbrüchig würde, denn er war ja immer noch in dessen Gewalt. Es bedurfte nur einer Anzeige bei der italienischen Regierung und alles war wie vorher, wenn nicht schlimmer. Tausenderlei Pläne gingen ihm durch den Kopf, wie er den jungen Liebhaber so lange hinziehen könne, bis er seiner nicht mehr bedurfte, um dann seine Tochter bei seiner Abfahrt heimlich mitzunehmen. Und die Nachrichten, die aus Paris eintrafen, waren seinen Plänen nur förderlich.

Die französische Regierung war über die Flucht ihres Opfers aufs äußerste erbost und sparte keine Mühe und keine Kosten, um den Befreier zu entdecken und zu bestrafen. Bald hatte man eine Spur des Täters, und kurz danach wanderten de Lacey und Agathe ins Gefängnis. Als Felix hiervon Nachricht erhielt, war sein Glückstraum zu Ende. Sein alter, blinder Vater und seine liebliche Schwester schmachteten in kalter, dunkler Zelle, während er in Freiheit war und sich seiner reizenden Geliebten erfreute. Dieser Gedanke quälte ihn. Er traf noch rasch mit dem Türken die Abmachung, daß dieser, wenn er Gelegenheit fände, zu entkommen, Safie in irgend einem Kloster von Livorno in Pflege geben sollte. Dann riß er sich von dem geliebten Weibe los, eilte nach Paris und stellte sich selbst dem Gericht in der Hoffnung, dadurch seinem Vater und seiner Schwester die Freiheit wiederzuverschaffen.

Aber er hatte keinen Erfolg damit. Fünf Monate blieben sie in Haft, bis endlich die Verhandlung festgesetzt wurde. Das Resultat derselben war, daß ihr Vermögen konfisziert und sie zu lebenslänglicher Verbannung aus ihrem Heimatland verurteilt wurden.

Sie fanden ein ärmliches Asyl in dem Bauernhause in Deutschland, in dem ich sie entdeckte. Felix brachte auch bald in Erfahrung, daß der verräterische Türke, für den er und seine Familie so Schweres erdulden mußten, sein Wort in ehrloser Weise gebrochen und mit seiner Tochter Italien verlassen hatte. Wie zum Hohn sandte er ihm auch noch eine kleine Geldsumme, damit er sich eine Stellung verschaffen könne.

Das also war es, was auf Felix so deprimierend gewirkt und ihn so unglücklich gemacht hatte. Armut zu ertragen wäre ihm ja ein leichtes gewesen; aber die Treulosigkeit des von ihm geretteten Kaufmannes und der Verlust der Geliebten, das waren Dinge, die er nicht verschmerzen konnte. Erst die Ankunft des geliebten Weibes flößte ihm wieder neuen Lebensmut ein.

Und das kam so: Als die Nachricht von der Verurteilung und Verbannung der Familie de Lacey Livorno erreichte, befahl der Kaufmann seiner Tochter, jeden Gedanken an den jungen Mann aufzugeben und sich zur Heimreise vorzubereiten. Die edle Natur Safies sträubte sich gegen diese Zumutung und sie versuchte ihren Vater zur Zurücknahme seines grausamen Gebotes zu veranlassen. Aber er geriet nur in Zorn und wiederholte seinen Befehl mit noch größerer Bestimmtheit.

Einige Tage später betrat der Türke das Zimmer seiner Tochter und teilte ihr erregt mit, daß er guten Grund habe zu glauben, daß die französische Regierung seinen jetzigen Aufenthalt ermittelt habe und mit Livorno wegen seiner Auslieferung in Verhandlungen stehe. Er habe deshalb ein Schiff gemietet, das in wenigen Stunden absegeln und ihn nach Konstantinopel bringen sollte. Er beabsichtigte, seine Tochter unter der Obhut einer vertrauten Dienerin zurückzulassen. Sie sollte, wenn ihr Hab und Gut endlich in Livorno angekommen sei, ebenfalls die Reise antreten.

Als Safie allein war legte sie sich einen Plan zurecht, der sie aus dieser unangenehmen Lage befreien sollte. In die Türkei zurückzukehren, daran dachte sie nicht; Religion und Gefühl sträubten sich dagegen. Aus einigen Papieren ihres Vaters, die ihr dieser zurückgelassen, erfuhr sie den Namen des Ortes, an dem ihr Geliebter in der Verbannung lebte. Sie zögerte noch einige Zeit, dann aber stand ihr Entschluß fest. Sie nahm ihre Juwelen und eine Summe Geldes an sich und machte sich mit einer Dienerin, die aus Livorno stammte und mit der sie sich einigermaßen verständigen konnte, auf den Weg nach Deutschland.

Wohlbehalten kam sie in der Stadt an, die etwa zwanzig Meilen von dem Wohnort de Laceys entfernt lag. Dort aber erkrankte ihre Dienerin sehr schwer. Safie pflegte sie mit der größten Hingabe, konnte es aber nicht verhindern, daß das arme Mädchen starb. So stand sie nun hilflos da, denn sie kannte weder die Sprache des Landes noch auch dessen Sitten. Das Glück war ihr hold, denn die Frau, bei der sie wohnte, nahm sich ihrer an und sorgte dafür, daß sie unter sicherem Geleit dahin kam, wo sie den Geliebten wiederzufinden hoffte.

9. Kapitel

Nichts ist furchtbarer für die Seele, als wenn nach einer Reihe aufregender Ereignisse die Totenstille der Untätigkeit eintritt und sie der Fähigkeit zu hoffen oder zu fürchten beraubt. Justine war tot und hatte ihre Ruhe, aber ich lebte. Das Blut floß frei in meinen Adern, aber auf mir lag ein schweres Gewicht von Leid und Reue, dessen ich nicht ledig werden konnte. Es floh mich der Schlaf und ich wanderte umher wie ein böser Dämon, denn ich hatte Verbrechen begangen, die über die Maßen gräßlich waren, und mehr, viel mehr noch lag vor uns, das wußte ich gewiß. Und doch war ich nicht schlecht. Ich hatte mein Leben mit den besten Absichten begonnen und hatte gehofft, all meine edlen Pläne in Wirklichkeit umzusetzen und meinen Mitmenschen nützlich zu sein. Aber das war alles dahin. Anstatt jener Ruhe des Gewissens, die uns mit Genugtuung zurückblicken läßt auf unser bisheriges Leben und uns Kraft gibt zu neuem Schaffen, wohnte in mir das Gefühl der Schuld und verursachte mir Qualen, die ein Menschenmund nicht zu beschreiben vermag.

Dieser Gemütszustand wirkte natürlich auf meine Gesundheit sehr nachteilig ein, die vielleicht sich noch gar nicht ganz von dem ersten heftigen Stoß erholt hatte, den sie erlitten. Ich scheute das Antlitz der Menschen und jeder Laut der Lust und Freude tat mir weh. Einsamkeit – tiefe, dunkle, totengleiche Einsamkeit war mein einziger Trost, mein einziger Wunsch.

Mein Vater bemerkte mit Sorge den Wechsel in meinem Befinden und meinen Gewohnheiten und bemühte sich, mit Argumenten, die er aus seinem makellosen Leben und seinem reinen Gewissen schöpfte, mir Mut einzuflößen und die düsteren Wolken zu zerstreuen, die über meiner Seele brüteten. »Glaubst du, Viktor,« sagte er, »daß ich nicht ebenso leide wie du? Niemand konnte das Kind lieber haben als ich,« (hier füllten sich seine Augen mit Tränen), »aber ist es nicht eine Pflicht unserer Umgebung gegenüber, ihr Unglück nicht noch durch den Anblick ungezügelten Schmerzes zu vergrößern? Aber auch uns selbst sind wir es schuldig, denn wenn wir unseren Schmerz nicht beherrschen, sind wir unfähig, uns zu betätigen und uns wieder zu freuen; Dinge, ohne die wir nicht ins Leben passen.«

Dieser Rat war zwar gut, hatte aber gar keine Wirkung auf mich. Wie gern hätte ich selbst mein Leid verborgen und meine Lieben getröstet, wenn nicht das schlechte Gewissen all meine anderen Gefühle unterdrückt hätte. Die einzige Antwort, die ich jetzt meinem Vater zu geben vermochte, war ein verzweiflungsvoller Blick und das Bestreben ihm auszuweichen, wo ich konnte.

Zu jener Zeit zogen wir uns in unsere Wohnung in Belrive zurück. Dieser Wechsel war einigermaßen wohltuend für mich. Der Umstand, daß die Stadttore allnächtlich um zehn Uhr geschlossen wurden und die Unmöglichkeit, mich nach dieser Stunde noch am See aufzuhalten, hatten mir den Aufenthalt in Genf sehr verleidet. Nun war ich frei. Oftmals, wenn sich die Familie zur Nachtruhe begeben hatte, bestieg ich ein Boot und verbrachte noch manche Stunde auf dem Wasser. Manchmal hißte ich die Segel und ließ mich vom Winde über die Flut tragen; manchmal ruderte ich mich weit hinaus und ließ dann das Boot treiben, um mich meinen trostlosen Gedanken ungestört hingeben zu können. Ich war oft versucht, wenn es so friedlich rund um mich her war und ich das einzige ruhelose Geschöpf – die Fledermäuse ausgenommen, die über meinem Kopfe hinweghuschten, oder die Frösche, die am Ufer ihr rauhes, unharmonisches Konzert ertönen ließen – ich war versucht, sage ich, mich in die dunkle Flut gleiten zu lassen, damit sie sich über mir und meinem Elend schlösse auf alle Zeit. Aber der Gedanke an meine tapfere Elisabeth, die ich zärtlich liebte und deren Existenz mit der meinen so eng verknüpft war, hielt mich vor diesem Äußersten zurück. Ich gedachte auch meines Vaters und meines Bruders. Sollte ich als feiger Deserteur sie ungeschützt den Angriffen des tückischen Feindes überlassen, den ich selbst geschaffen?

In solchen Augenblicken weinte ich bitterlich und flehte zu Gott, das er wieder Friede in meine Seele senke, damit ich meinen Lieben ein Trost und eine Stütze sein könnte. Aber es war vergebens. Meine Gewissensbisse waren stärker als alles Hoffen. Ich war der Urheber all dieses Leides und lebte in steter Furcht, daß das Ungeheuer, dem ich das Leben gegeben, irgend eine neue Grausamkeit verüben könnte. Ich hatte ein dunkles Gefühl, daß noch lange nicht alles vorüber war und daß mein Feind ein Verbrechen im Schilde führe, dessen Schrecklichkeit die Erinnerung an das schon begangene verblassen lassen müßte. So lange ich noch jemand besaß, den ich lieb hatte, war Ursache zur Sorge vorhanden. Mein Haß gegen das Scheusal kannte keine Grenzen. Wenn ich nur daran dachte, kochte es in mir und meine Zähne knirschten, meine Augen brannten und mein ganzes Innere lechzte danach, dieses Leben zu vernichten, das ich gedankenlos geschaffen. Wenn ich an das grausame, boshafte Wesen dachte, steigerte sich mein Haß und mein Rachedurst ins Ungemessene. Hätte ich doch eine Wanderung auf die höchsten Schroffen der Anden nicht gescheut, wenn ich es dort hätte antreffen und in die tiefsten Abgründe hätte schleudern können. Ich dürstete danach mit ihm zusammenzutreffen, um Rache zu nehmen für den Tod Wilhelms und Justines.

Unser Haus war ein wirkliches Trauerhaus. Mein Vater war gänzlich gebrochen von all den schrecklichen Ereignissen. Elisabeth war traurig und still. Sie hatte keine Freude mehr an ihren Pflichten; jeder frohe Augenblick schien ihr ein Sacrileg gegen das Andenken der Toten. Sie war nicht mehr das heitere Mädchen, das einst mit mir an den Gestaden des Sees hingewandert war und selige Zukunftsträume mit mir spann. Der erste von jenen Schicksalsschlägen, die uns allmählich der Erdenfreude unzugänglich machen, hatte sie getroffen und nahm ihr das Lächeln von ihrem Antlitz.

»Wenn ich an den Tod von Justine Moritz denke, Liebster,« sagte sie, »sehe ich die Welt und was in ihr ist mit ganz anderen Augen an als früher. Wenn ich ehemals in den Zeitungen von Verbrechen und Schlechtigkeiten las oder wenn mir davon erzählt wurde, war es mir, als seien das Phantasiegebilde oder Märchen aus vergangenen Zeiten. Wenigstens lagen sie mir fern und gaben mehr dem Nachdenken als dem Gefühl zu schaffen. Aber heute hat uns das Elend selbst heimgesucht und die Menschen erscheinen mir wie Bestien, die nach dem Blute der Anderen dürsten. Sicherlich bin ich hierin ungerecht! Jedermann hielt das arme Mädchen für schuldig, und wenn sie imstande gewesen wäre, das furchtbare Verbrechen zu begehen, wegen dessen sie leiden und sterben mußte, dann wäre sie die verruchteste aller Kreaturen gewesen. Um einiger glänzender Steine willen den Sohn ihres Freundes und Wohltäters zu morden, ein Kind, das sie von seiner Geburt an kannte und liebte wie ein eigenes! Ich könnte zum Tode eines Menschen nicht meine Zustimmung geben, und dennoch muß ich mir sagen, daß ein Geschöpf, das eines solchen Verbrechens fähig ist, nicht länger ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft bleiben darf. Aber sie war unschuldig! Ich weiß, ich fühle es, sie war unschuldig. Du bist derselben Überzeugung, und das bestärkt mich in meinem Glauben an die Tote. Viktor, wenn Schlechtigkeit so sehr die Maske der Güte tragen könnte, wer möchte je noch eines Glückes froh werden? Mir ist, als stände ich am Rande eines Abgrundes und als drängten Tausende auf mich ein, um mich hinabzustoßen. Wilhelm und Justine sind hingemordet worden, und der Mörder ist frei, vielleicht geachtet unter den Menschen. Aber selbst wenn ich um der gleichen Verbrechen willen das Schafott besteigen müßte, ich möchte nicht an seiner Stelle sein.«

Ich lauschte ihren Worten und eiskalt lief es mir über den Rücken. War doch ich der Mörder, wenn ich auch nicht mit eigenen Händen meine Opfer gewürgt hatte. Elisabeth mußte die Qualen, die ich litt, aus meinen Zügen erkennen, denn sie ergriff meine Hand und sagte zärtlich: »Liebster, du mußt dich aber beruhigen. Die Ereignisse haben auch mich, weiß Gott, aufs Tiefste erschüttert; aber ich bin doch nicht so elend daran, wie du. In deinem Gesicht lese ich Verzweiflung und Rachedurst, die mich erzittern machen. Liebster, banne diese finsteren Gefühle. Denke daran, daß wir alle unsere Hoffnung auf dich setzen. Sind wir denn nicht imstande, dich wieder glücklich zu machen? Wenn wir uns lieb haben, wenn wir treu zu einander halten, hier in dem Lande der Schönheit und des Friedens, in deinem Heimatlande, sollten wir da nicht wieder zufrieden werden können, sollte da nicht auch dir neues Leben erblühen?«

Und trotzdem sie die Worte sprach, sie, die ich über alles liebte, konnte ich doch des Feindes nicht Herr werden, der sich in meiner Brust eingenistet hatte. Ich zog sie an mich, als müßte ich fürchten, daß jetzt, gerade in diesem Augenblick, der Zerstörer kommen und sie von mir reißen könnte.

Nicht die zarteste Freundschaft, nicht die Schönheit meiner Umgebung vermochten mich von dem drückenden Alp zu befreien, und selbst für das Flehen der Liebe hatte ich kein Verständnis. Ich glich dem verwundeten Wild, das seine blutenden Glieder mühsam in das tiefste Dickicht schleppt und, auf den Pfeil in der Todeswunde starrend, sein Leben aushaucht.

Manchmal gelang es mir, auf Augenblicke der düsteren Wolken Herr zu werden, die auf meiner Seele lagerten, indem ich durch weitausgedehnte Spaziergänge meinen Körper ermüdete. Einmal verließ ich plötzlich unser Heim und suchte in der ewigen Schönheit der Berge mein vergängliches Menschenleid zu vergessen. Meine Wanderung ging in das Tal von Chamounix, das ich als Knabe öfters besucht hatte. Sechs Jahre waren seitdem verflossen. Ich war vernichtet, aber nichts hatte sich an den überwältigenden, unvergänglichen Schönheiten dieses Erdenstriches geändert.

Den ersten Teil der Reise machte ich zu Pferde. Später mietete ich mir ein Maultier, das sicherer auf den Füßen war und auch weniger unter den schlechten Wegverhältnissen litt. Das Wetter war wunderschön. Es war Mitte August, beinahe zwei Monate, seit Justine von uns gegangen, seit mein furchtbarer Zustand seinen Anfang genommen. Je tiefer ich in das Tal der Arve vordrang desto leichter wurde mir ums Herz. Die mächtigen Berge und steilen Abstürze zu beiden Seiten meines Pfades, das Rauschen des Flusses, der sich zwischen den Felsen seinen Weg suchte, und das Dröhnen der Wasserfälle, das alles sprach zu mir wie ein Flüstern der Allmacht. Und ich hörte auf zu fürchten, mich vor Mächten zu beugen, die schwächer waren als sie, die die Elemente schuf und ihnen gebietet. Je höher ich kam, desto wilder und herrlicher wurde das Tal. Burgruinen hingen kühn an den bewaldeten Bergwänden; die tosende Arve und die Hütten, die da und dort aus den Bäumen hervorlugten, boten ein unvergleichlich schönes Bild. Und darüber ragten die weißen, schimmernden Kuppeln und Pyramiden der Alpen in überirdischer Pracht, wie Wohnungen von Wesen, die so ganz anders sind als wir.

Ich passierte die Brücke von Pelissier, von wo sich der Blick auf die Schlucht der Arve öffnet, und erklomm dann den Berg, der mich noch vom Tal von Chamounix trennte. Dieses Tal ist mächtiger und erhabener als das von Servox, das ich eben erst verlassen, aber nicht so wild und malerisch. Es wird von hohen Schneebergen eingeschlossen, aber es fehlen ihm die Schloßruinen und die fruchtbaren Erdstreifen. Ungeheure Gletscher drängen sich bis dicht an die Talstraße. Ich hörte das Brüllen der stürzenden Lawinen und erkannte den Schneestaub, den sie im Falle aufwirbelten. Im Hintergrunde des Tales erhob sich der herrliche, unvergleichliche Montblanc wie ein König.

Oft durchzog mich während dieser Reise das langentbehrte Gefühl der Freude. Jede Wendung der Straße, jeder neue Anblick rief mir die Jugend mit ihrem leichtherzigen Frohsinn in die Erinnerung zurück. Die Winde schienen mir beruhigend zuzuflüstern und Mutter Natur bat mich, nicht mehr zu klagen. Wenn aber der Einfluß der mich umgebenden Schönheit einen Augenblick aussetzte, dann überwältigte mich wieder der Gram und ich versenkte mich von neuem in meine schmerzlichen Grübeleien. Dann trieb ich mein Tier zu rascherer Gangart an, um so die Welt, meine Sorgen und vor allem mich selbst zu vergessen, oder ich stieg ab und warf mich zur Seite des Pfades auf die Erde, niedergedrückt von Entsetzen und Leid.

Schließlich kam ich nach Chamounix, wo die tiefste Erschöpfung den außerordentlichen körperlichen und seelischen Anstrengungen folgte. Kurze Zeit stand ich noch am Fenster meines Gasthofes und sah hinauf zum Montblanc, um dessen majestätisches Haupt bleiche Blitze zuckten, und horchte auf das Rauschen der Arve, die unermüdlich ihren rauhen Weg ins Tal verfolgte. Dieses gleichmäßige Geräusch wirkte einschläfernd auf meine erregten Gefühle, und als ich dann meinen Kopf auf die Kissen bettete, empfand ich, wie der Schlaf, der Tröster, langsam auf meine Augen sank.

10. Kapitel

Den folgenden Tag benützte ich, um das Tal zu durchstreifen. Ich stand an der Quelle des Arveiron, am Fuße des Gletschers, der mit langsamen Schritten von der Höhe hinabgleitet. Zu beiden Seiten ragten schroffe Felshänge gegen den Himmel und vor mir lag die mächtige Fläche des Gletschers. Einige zerbrochene Fichten lagen ringsherum zerstreut, und das feierliche Schweigen ward nur unterbrochen durch das Murmeln des Baches oder das Poltern eines herabfallenden Felsstückes, das Donnern von Lawinen oder das Krachen berstenden Eises, das an den Wänden widerhallte. Dieses majestätische Schauspiel vermochte mir etwas Ruhe zu geben. Es erhob mich und ließ mich das als klein empfinden, was ich fühlte. Jedenfalls zerstreuten sie die düsteren Gedanken, über die ich die letzten zwei Monate nicht hinausgekommen war. Als ich abends heimkehrte und mich zur Ruhe legte, verflocht sich das Herrliche, was ich den Tag über gesehen, in meine Träume. Alle kamen sie: schneebedeckten Bergspitzen, die schimmernden Felszinnen, die Fichten und das zerklüftete Tal, der Adler, der seine Kreise in den Lüften zieht; sie alle kamen und baten, daß ich mich beruhigen möge.

Aber wohin waren sie entflohen, als ich am nächsten Tage die Augen auftat? Alle Fröhlichkeit war mit dem Schlaf entflohen und eine graue Wolke tiefster Melancholie lagerte auf meiner Seele. Der Regen rauschte in Strömen hernieder und dichte Nebel verhüllten die Häupter meiner geliebten Berge. Trotzdem beschloß ich, den Nebelschleier zu durchdringen und hinaufzusteigen auf die steilen Höhen. Was bedeuteten mir Sturm und Regen? Man brachte mir mein Maultier und ich machte mich auf den Weg nach dem Montanvert. Ich erinnerte mich des Eindruckes, den der mächtige, immer von Unruhe erfüllte Gletscher ausgeübt hatte, als ich ihn das erste Mal sah. Sein Anblick hatte mich damals in Entzücken versetzt und meiner Seele Schwingen verliehen, die sie weit über den Alltag hinaus in lichte, freudige Gefilde erhoben. Das Erhabene in der Natur hatte mir immer Feierstimmung eingeflößt und mich die kleinlichen Sorgen vergessen lassen. Ich beschloß auf den Führer zu verzichten, denn ich kannte ja Weg und Steg hier oben und fürchtete, die Anwesenheit eines Zweiten würde mir die Stimmung verderben.

Der Anstieg ist sehr steil, aber der Weg ist in weiten Serpentinen in die Wand eingeschnitten, so daß die Überwindung des senkrechten Absturzes möglich wird. Es ist ein Bild furchtbarster Öde und Einsamkeit, das sich hier den Augen bietet. An tausend Stellen bemerkte man noch die Spuren der winterlichen Lawinen, zerbrochene und abgerissene Bäume bezeichnen die Wege, die sie gegangen. Einzelne Bäume waren vollkommen vernichtet, andere beugten sich schräg über den Abgrund oder lehnten sich müde an andere, die noch festgeblieben. Der Weg wird, je höher man steigt, umso öfter von Schneewällen unterbrochen, auf denen unaufhörlich Steinbrocken zu Tale schießen. An einzelnen Stellen ist es besonders gefährlich, indem das leiseste Geräusch, sogar das Sprechen, imstande ist, eine Lawine zu erzeugen und Gefahr auf das Haupt des Unvorsichtigen herabzuziehen. Die dort wachsenden wenigen Bäume sind nicht groß und geben mit ihrer dunklen Färbung der Gegend das Gepräge des Ernstes. Ich sah hinunter gegen das Tal. Weiße Nebel stiegen von den Flüssen, die dort unten dahineilten, und krochen in dicken Schwaden an den Hängen der Berge herauf, deren Häupter von den Wolken in einförmiges Grau gehüllt wurden. Vom düsteren Himmel rann der Regen und erhöhte die Melancholie meiner Umgebung. Warum rühmen wir Menschen uns der größeren Feinfühligkeit gegenüber dem Tiere? Wenn unsere Sinne sich lediglich auf Hunger, Durst und Liebe erstreckten, wären wir nahezu frei; aber so, wie wir jetzt sind, bewegt uns jeder Hauch der Luft und wir hängen ab von einem zufälligen Wort oder Anblick.

Es war fast Mittag, als ich die Höhe erreichte. Eine Zeitlang saß ich auf einem Felsstück und sah hinunter auf das Eismeer, auf dem Nebel brüteten wie auf den umgebenden Bergen. Zuweilen zerstreute ein Windstoß die Wolken, so daß die Aussicht frei wurde. Die Oberfläche des Gletschers war sehr uneben, es war, als sei ein Meer in seiner Erregung erstarrt und von tiefen Spalten zerrissen. Das Eisfeld war nur etwa eine Meile breit, aber ich brauchte beinahe zwei Stunden, um es zu überqueren. Drüben ragte die Felswand senkrecht gegen den Himmel. An der Stelle, wo ich nun stand, hatte ich den Montanvert gerade gegenüber, über dem sich der Montblanc in grausiger Majestät erhob. Ich drückte mich in einen Felsspalt und konnte mich an der herrlichen Szenerie kaum sattsehen. Die eisigen, glitzernden Bergspitzen leuchteten über den Wolken in goldigem Sonnenschein. Mein Herz, das vorher noch so gedrückt war, empfand etwas wie Freude und ich rief: »Wandernde Geister, laßt mir dieses Glück, oder wenn das nicht möglich ist, nehmt mich zu euch fort von den Gefilden dieser Erde!«

Während ich mich diesen Gedanken hingab, bemerkte ich in einiger Entfernung die Gestalt eines Menschen, der mit übernatürlicher Eile auf mich zukam. Er sprang über die Eisschrunden, die ich nur mit äußerster Vorsicht überklettert hatte; er schien, je näher er mir kam, immer mehr von außergewöhnlicher Größe. Ich zitterte – ein Schleier legte sich über meine Augen und ich meinte umsinken zu müssen. Aber rasch erholte ich mich wieder unter dem eisigen Wind, der mir da oben um die Schläfen fegte. Ich erkannte, als er näher kam, daß es mein gehaßter Feind war, den ich mir geschaffen. Zorn und Abscheu hatten sich meiner bemächtigt und ich konnte kaum mehr den Augenblick erwarten, daß er mir nahe genug war, um mich mit ihm im Kampfe auf Leben und Tod zu messen. Nun stand er vor mir. In seinem Antlitz lag tiefes Leid, gemischt mit Verachtung und Bosheit, und seine unbeschreibliche Häßlichkeit bot einen Anblick, der für ein Menschenauge kaum zu ertragen war. Aber ich bemerkte das zuerst nicht. Wut und Haß ließen mich gar nicht zum Handeln kommen und machten sich dann Luft in Worten der tiefsten Verachtung und des äußersten Abscheues.

»Teufel, verfluchter,« rief ich aus, »wagst du es, mir vor die Augen zu treten? Und fürchtest du nicht, daß dich mein rächender Arm zerschmettert? Fort von mir, du häßliches Insekt! Oder besser bleib, daß ich dich zu Staub zermalmen kann! Und könnte ich doch, indem ich das Licht deines verhaßten Lebens ausblase, die Opfer wieder lebendig machen, die du in teuflischer Bosheit vernichtet hast!«

»Ich wußte, daß du so zu mir sprechen würdest,« sagte der Dämon. »Alle Menschen verfolgen mich mit ihrem Haß. Und warum muß ich gerade so gehaßt werden, der ich doch selbst so über alle Maßen elend bin? Und auch du, mein Schöpfer, du fluchst und zürnst mir, deinem Geschöpf, mit dem dich doch Bande verknüpfen, die nur durch die Vernichtung eines von uns beiden gelöst werden können. Du willst mich töten? Wie kannst du so verschwenderisch mit dem Leben umgehen? Tu deine Pflichten gegen mich und ich werde auch die meinen gegen dich und alle übrigen Menschen erfüllen. Wenn du dich entschließen kannst, auf meine Bedingungen einzugehen, will ich dich und die Deinen in Ruhe lassen. Aber wenn du nein sagst, dann will ich Freund Hein seinen Bauch mit dem Blute der Deinigen füllen.«

»Ekelhaftes Scheusal! Die furchtbarsten Qualen der Hölle sind noch viel zu gelind für dich. Verfluchter Satan, du wirfst mir vor, daß ich dich schuf! Komm her, und ich will den Funken zertreten, den ich in so leichtfertiger Weise angefacht.«

Der Zorn packte mich und ich sprang auf ihn ein, getrieben von dem tötlichsten Haß, dessen eine Menschenbrust fähig ist.

Gewandt wich er meinem Angriff aus und sagte:

»Beruhige dich! Ich flehe dich an, höre, was ich dir zu sagen habe, ehe du deinem Zorn gegen mich freien Lauf gewährst. Habe ich noch nicht genug Leid getragen, daß auch du es noch vergrößern mußt? Das Leben, mag es auch nur eine Reihe von Qualen für mich sein, so ist es mir doch lieb und ich bin gesonnen es zu verteidigen. Vergiß nicht, daß du mich viel stärker gemacht hast als du selbst bist; ich bin größer als du und meine Glieder sind mächtiger als die deinen. Aber ich habe gar nicht die Absicht, meine Kräfte gegen dich zu erproben. Ich bin deine Kreatur und ich will dir, meinem Herrn und König, dankbar und ergeben sein, wenn du das tust, was du mir schuldest. Frankenstein, du bist gerecht und gut gegen andere, nur gegen mich allein, der deiner Liebe, Güte und Gerechtigkeit am meisten bedarf, bist du grausam und hart. Bedenke doch, daß ich ein Werk deiner Hände bin! Eigentlich sollte ich der Adam sein, aber ich bin mehr der gefallene Engel, einer, den du aus dem Paradies vertreibst und elend machst. Überall sehe ich Freude und soll doch ihrer nie teilhaftig werden. Ich war gut und wohlwollend; das Unglück hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Verschaffe mir das Glück und ich will stille sein.«

»Pack dich! Ich will nichts mehr von dir hören. Zwischen dir und mir kann es keine Gemeinschaft geben, wir sind Todfeinde. Geh oder laß uns unsere Kräfte im Kampfe messen, in dem einer von uns bleiben muß!«

»Wie kann ich dein Herz rühren? Kann denn kein Bitten, kein Flehen dich bewegen, gnädig auf dein Geschöpf zu blicken, das dich um Güte und Mitleid bittet? Glaube mir, Frankenstein, ich war anfangs nicht böse, in meiner Seele wohnten Güte und Liebe; aber ich bin allein, so furchtbar allein. Du, mein Schöpfer, verabscheust mich, und was habe ich von deinen Mitmenschen zu erwarten, die mir so gar nicht nahestehen? Sie hassen und verfolgen mich. Die öden Berghalden und traurigen Gletscher sind meine Zufluchtsorte. Ich habe mich hier so manchen Tag aufgehalten. Die Eishöhlen, die allein ich nicht fürchte, sind meine Wohnstätten, und um sie beneidet mich kein menschliches Wesen. Ich segne diesen kalten Himmel, denn er ist gütiger mit mir als deine Mitmenschen. Glaube mir, es wissen ja nicht viele von meiner Existenz; aber wenn das der Fall wäre, dann würden sie sich, wie du, zu meiner Vernichtung entschließen. Soll ich denn die nicht hassen dürfen, die mich so verabscheuen? Und ich lasse nicht mit mir spaßen. Ich bin elend und verflucht und sie sollen es auch werden. Du hast es in der Gewalt, mich versöhnlich zu stimmen und die Welt von einem Ungeheuer zu befreien, das nicht nur dich und die Deinen, sondern auch Tausende anderer im Wirbelwinde seines Zornes zermalmen kann. Habe Mitleid mit mir und verachte meine Bitten nicht. Höre, was ich dir erzähle, und dann überlaß mich meinem Schicksal oder habe Mitleid mit mir; wie du meinst, daß ich es verdiene. Aber höre mich zuerst an. Eure Menschengesetze sind roh und blutig, aber dennoch gestatten sie dem Verbrecher, zu seiner Verteidigung das Wort zu ergreifen. Höre mich an, Frankenstein. Du beschuldigst mich des Mordes und wolltest, ohne daß sich dein Gewissen geregt hätte, dein Geschöpf vernichten. Gepriesen sei die ewige Gerechtigkeit der Menschen! Aber ich bitte dich gar nicht um Schonung. Höre mich zuerst an, und dann, wenn du kannst und mußt, dann zerstöre das Werk deiner Hände.«

»Warum erinnerst du mich,« erwiderte ich, »an die unseligen Ereignisse, die mich heute noch erschauern machen, an die Zeit, da ich dich ins Leben rief? Verdammt sei der Tag, elender Teufel, da du das erste Mal das Licht sahst. Verflucht seien die Hände, die dich formten! Du hast mich über alle Maßen unglücklich gemacht. Du hast mir die Kraft genommen zu unterscheiden, was gut und böse ist. Geh! Laß mich deine verhaßte Gestalt nie wieder sehen.«

»So will ich meine Gestalt deinen Blicken entziehen,« sagte er und hielt mir seine mächtige Hand vor die Augen, die ich mit Grauen wegschlug. »So könntest du mich wenigstens hören und Mitleid mit mir haben. Bei meinem besseren Ich beschwöre ich dich, höre meine Worte. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist lang und seltsam, und auf diesem Platze herrscht eine Temperatur, die deinem feinen, zierlichen Leib nicht zusagen dürfte. Komm mit mir in meine Hütte auf dem Berge. Die Sonne steht jetzt noch hoch. Ehe sie hinter jenen schneeigen Höhen hinuntergestiegen ist und anderen Ländern leuchtet, hast du meine Geschichte gehört und kannst dich entscheiden. An dir liegt es, ob ich dann die Nähe der Menschen fliehe und irgendwo versteckt ein harmloses Dasein führe oder dir und vielen anderen zum Würger werde.«

Unterdessen hatte er den Weg über das Eis eingeschlagen und ich folgte ihm. Mein Herz war zu voll und ich fand keine Worte, um ihm irgend etwas zu erwidern. Aber während ich ging, erwog ich die verschiedenen Umstände, deren er Erwähnung getan, und beschloß, zum mindesten seine Geschichte anzuhören. Hauptsächlich war es Neugierde, die mir diesen Entschluß eingab, aber auch ein schwaches Gefühl des Mitleids mengte sich hinein. Ich hatte ihn bisher für den Mörder meines Bruders gehalten und war begierig, aus seinen Worten eine Bestätigung oder Widerlegung dieser Ansicht zu vernehmen. Ich empfand auch das erste Mal, daß ein Schöpfer seinem Werke gegenüber Verpflichtungen habe und daß ich versuchen müsse, dem Armen etwas Glück zu bescheren. All diese Erwägungen machten mich seinen Bitten geneigter. Wir passierten das Eis und stiegen die Felswand hinan. Es war eiskalt und der Regen begann wieder herab zu rieseln. Wir betraten die Hütte. Mein Feind mit einer Geberde des Triumphes, ich aber mit schwerem Herzen und in tiefster Niedergeschlagenheit. Aber ich hatte versprochen ihn anzuhören und setzte mich deshalb zum Feuer, das mein unangenehmer Gesellschafter angezündet hatte. Dann begann er seine Erzählung.

6. Kapitel

Der Brief, den mir Clerval übergab, war von Elisabeth und lautete:

Liebster Viktor!

Du bist krank gewesen, sehr krank, und auch die immerwährenden Briefe des guten, lieben Clerval können mich nicht genügend beruhigen. Ich weiß, daß Du nicht schreiben, keine Feder anrühren darfst; aber ein Wort, ein einziges Wort von Dir genügt, um unsere Befürchtungen zu zerstreuen. Ich meinte, jede Post könne dieses einzige Wort endlich bringen, und nur meine feste Überzeugung, daß das geschehen müsse, hielt Onkel davon ab, die Reise nach Ingolstadt zu unternehmen. Ihn habe ich allerdings abgehalten, die Unbequemlichkeiten, ja sogar Gefahren dieser langen Reise auf sich zu nehmen; aber wie oft habe ich es bedauert, daß ich selbst sie nicht wagen konnte! Ich bildete mir ein, daß den Dienst an Deinem Krankenbett eine alte Lohnpflegerin tat, die niemals Deine Wünsche so erraten und sie so erfüllen konnte, wie es Deine arme Elisabeth verstanden hätte. Aber das ist nun vorüber! Clerval schreibt, daß es Dir in der Tat wieder wesentlich besser geht, und ich bitte Dich flehentlich, mir dies mit eigener Hand zu bestätigen.

Werde nur bald wieder gesund und komme dann wieder heim zu uns. Du wirst ein glückliches, friedliches Heim finden und fühlen, wie sehr die Deinen an Dir hängen. Dein Vater ist noch sehr rüstig und hat keinen anderen Wunsch als den, Dich zu sehen, zu wissen, daß es Dir wohl geht. Dann trübt aber auch keine Wolke sein gütiges Antlitz. Wie wirst du Dich freuen, Ernst wiederzusehen. Wie der groß geworden ist! Er ist jetzt gerade sechzehn Jahre und voller Übermut und Kühnheit. Als echter Schweizer beabsichtigt er, in fremde Kriegsdienste zu treten; allerdings sind wir damit nicht recht einverstanden, wenigstens so lange der ältere Bruder noch fort ist. Dein Vater will von der Sache überhaupt nichts wissen, aber Ernst besaß nie Deinen Fleiß und Deine Freude am Studium. Er sieht es mehr als etwas Nebensächliches an und verbringt seine Zeit meist in der frischen Luft, auf Berghängen und am Seegestade. Ich fürchte, daß er ein Müßiggänger wird, wenn wir seinem Willen nicht nachgeben und ihn den Beruf wählen lassen, den er sich in den Kopf gesetzt hat.

Bei uns hat sich recht wenig geändert; nur die Kleinen sind herangewachsen, seit Du von uns gegangen bist. Der blaue See, die Berge mit ihren Schneehäuptern – sie verändern ihr Antlitz nicht. Und mir scheint es, als herrschte in unserem ruhigen Heim und in unseren friedlichen Herzen dasselbe Gesetz der Unveränderlichkeit. Meine alltäglichen Beschäftigungen füllen meine Zeit ganz aus und machen mir Freude, und mein Lohn ist es, wenn ich frohe, glückliche Gesichter um mich sehe. Nur etwas ist in unserem kleinen Haushalt anders geworden, seit Du nicht mehr hier bist. Erinnerst Du Dich noch, wie Justine Moritz zu uns kam? Vielleicht nicht mehr, darum will ich Dir die Sache mit ein paar Worten ins Gedächtnis zurückrufen. Frau Moritz war eine Witwe mit vier Kindern, von denen Justine das dritte war. Dieses Mädchen war immer ihres Vaters Liebling gewesen; aber merkwürdigerweise mochte ihre Mutter sie nicht ausstehen und behandelte sie sehr schlecht, als der Vater tot war. Meine Mutter merkte das und machte Frau Moritz den Vorschlag, die Kleine, die eben erst zwölf Jahre alt geworden war, in unserem Hause dienen zu lassen. Die republikanischen Einrichtungen unseres Landes bringen einfachere und schönere Lebensformen mit sich, als man sie vielleicht in den Monarchien, die uns umgeben, kennt. Deshalb ist auch kein so großer Unterschied zwischen der wohlhabenden und der dienenden Klasse, und die letzteren sind deshalb, weil sie nicht als minderwertig gelten, feiner und moralischer als ihre in der gleichen Lage befindlichen Mitmenschen in anderen Ländern. Ein Dienstmädchen in Genf ist etwas wesentlich anderes als ein solches in Frankreich oder in England. Justine, die in unsere Familie eintrat, nahm allerdings eine dienende Stellung ein, die aber in unserem glücklichen Lande weder Unwissenheit bedingt noch auch ein Opfer der Menschenwürde bedeutet.

Du erinnerst Dich sicher, daß Du Justine sehr gern hattest, und ich weiß, daß Du eines Tages sagtest, daß ein Blick aus Justines Augen imstande sei, jede üble Laune von Dir zu vertreiben. Auch Deine Mutter war ihr sehr zugetan und beschloß, ihr eine bessere Erziehung zu geben, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Diese Wohltat ward ihr reichlich vergolten, denn Justine war das dankbarste Geschöpf, das man sich denken kann. Nicht, daß sie schmeichelte; aber ihre Augen verrieten, wie sehr sie ihre Herrin vergötterte. Wenngleich sie sehr lebhaft, in mancher Hinsicht sogar unachtsam war, beobachtete sie doch mit der größten Aufmerksamkeit jede Bewegung, jede Miene Deiner Mutter. Diese galt ihr als Muster aller Vollkommenheit und sie bemühte sich, ihr in Rede und Haltung zu gleichen, so daß sie mich heute noch immer an die Entschlafene erinnert.

Als dann Deine geliebte Mutter starb, waren wir alle zu sehr in unseren Gram vertieft, um von der armen Justine Notiz zu nehmen, die die Kranke mit der hingebendsten Liebe gepflegt hatte. Das Mädchen wurde sehr krank, aber andere Prüfungen waren ihr noch vorbehalten.

Nach und nach starben alle ihre Brüder und Schwestern dahin und ihre Mutter hatte niemand mehr als sie, die vernachlässigte Tochter. Und da begann sich das Gewissen der alten Frau zu rühren: sie glaubte in dem Tode ihrer Lieblinge ein Strafgericht für ihre Ungerechtigkeit zu erkennen. Sie war katholisch und ich glaube, daß ihr Beichtvater sie in dieser Ansicht nur noch bestärkt hat. Kurz, einige Monate nach Deiner Abfahrt nach Ingolstadt wurde Justine zu ihrer Mutter zurückberufen. Armes Ding! Sie weinte bitterlich, als sie uns verließ; seit dem Tode Deiner Mutter war sie ganz verändert und ihre frühere Lebhaftigkeit war einer herzgewinnenden Weichheit und Milde gewichen. Aber der Aufenthalt bei ihrer Mutter war gar nicht geeignet, sie wieder fröhlich zu machen. Die arme Frau war nicht sehr beständig in ihrer Reue. Oftmals bat sie Justine, ihr doch ihre Unfreundlichkeiten zu verzeihen, aber dann wieder klagte sie sie an, daß sie am Tode ihrer Brüder und Schwestern schuld sei. Dieser immerwählende Gram nagte an Frau Moritz, die immer verdrießlicher und reizbarer wurde, bis sie endlich auf ewig Ruhe fand. Sie starb bei dem Herannahen des kalten Wetters zu Beginn des letzten Winters. Justine ist wieder bei uns und ich kann Dir nur versichern, daß ich sie herzlich lieb habe. Sie ist sehr klug und nett und außergewöhnlich hübsch. Wie ich Dir schon sagte, erinnert sie mich in Miene und Haltung immerwährend an Deine Mutter.

Noch muß ich Dir mit ein paar Worten über unseren lieben, kleinen Wilhelm berichten. Ich wollte, Du könntest ihn sehen. Er ist sehr groß für sein Alter, hat lachende, blaue Augen, dunkle Augenbrauen und gelocktes Haar. Wenn er lacht, erscheinen auf seinen Wangen zwei rosige Grübchen. Er hat bereits einige kleine Bräute; die liebste von allen ist ihm aber Luise Biron, ein reizendes Kind von fünf Jahren.

Ich nehme an, daß Dir auch ein kleiner Klatsch über unsere Genfer Bekannten erwünscht ist. Fräulein Mansfeld hat sich mit einem jungen Engländer, Herrn John Melbourne, verlobt, während ihre häßliche Schwester Manon letzten Herbst einen reichen Bankier, Herrn Duvillard, geheiratet hat. Dein Schulfreund Ludwig Manoir hat mit viel Mißgeschick zu kämpfen gehabt. Es geht ihm aber jetzt wieder gut und man erzählt sich, daß er im Begriffe sei, eine liebenswürdige Französin, Frau Tavernier, zu heiraten. Sie ist Witwe und viel älter als er; aber sie wird von allen Seiten verehrt und angebetet.

Während des Schreibens merke ich, daß ich mich selbst damit in bessere Laune versetzt habe; aber nun, wo ich schließen möchte, kehrt meine Angst wieder. Schreibe, lieber, guter Viktor, eine Zeile, ein Wort wird uns reich machen. Henry lassen wir tausendmal danken für seine Liebe, seine Güte und seine vielen Briefe; wir werden es ihm nie vergessen. Lebwohl, Lieber; schone Dich recht und vergiß nicht zu schreiben – ich bitte Dich darum!

*

Genf, den 18. März 17..

Elisabeth Lavenza.

»Teure, geliebte Elisabeth,« rief ich aus, nachdem ich den Brief zu Ende gelesen, »ich werde sofort schreiben und dich von der Angst befreien, die du um mich hast.« Ich schrieb – allerdings nicht ohne bedeutende Anstrengung; aber meine Genesung hatte begonnen und machte rasche Fortschritte. Nach weiteren vierzehn Tagen durfte ich das erste Mal wieder mein Zimmer verlassen.

Das erste, was ich nach meiner Genesung tat, war, daß ich Clerval bei verschiedenen Professoren der Universität einführte. Daß dabei mehrere Wunden meiner Seele wieder aufbrachen, ist nicht zu verwundern. Seit jener Unglücksnacht, die das Ende meiner Mühen, aber auch den Anfang meines Elends bildete, hatte ich einen gewissen Widerwillen schon gegen das Wort Naturphilosophie. Wenn ich auch gesundheitlich vollkommen wiederhergestellt war, so war doch schon der Anblick eines der Chemie dienenden Instrumentes geeignet, von neuem nervöse Erschütterungen hervorzurufen. Henry hatte das gemerkt und deshalb alle Apparate wegräumen lassen. Er hatte auch dafür Sorge getragen, daß ich ein anderes Zimmer bezog, denn er empfand, daß ich ein Grauen vor dem Raume hatte, der mir bisher als Laboratorium gedient. Aber all die Vorsichtsmaßregeln halfen nicht, als wir unsere Besuche bei den Professoren machen mußten. Herr Waldmann verursachte mir Qualen, als er gütig und ehrlich die erstaunlichen Fortschritte pries, die ich in den Wissenschaften gemacht hatte. Er fühlte bald heraus, daß mir dieses Thema unangenehm war; da er aber meine inneren Beweggründe nicht wissen konnte, schrieb er meine Verlegenheit meiner Bescheidenheit zu und wechselte das Thema insofern, als er auf die Wissenschaft im allgemeinen überging, allerdings in der Absicht, mich herauszustreichen. Was sollte ich tun? Er meinte es gut, tat mir aber weh. Mir war es wie einem, dem man nach und nach all die Instrumente vorzeigt, mit denen er dann geschunden und hingerichtet werden soll. Ich erschauerte bei seinen Worten, konnte aber meine Pein nicht zeigen. Clerval, der sehr rasch die Gedanken und Gefühle anderer zu erraten verstand, lenkte dann das Gespräch ab, in dem er seine vollständige Unkenntnis dieser Dinge entschuldigend erwähnte. Ich dankte meinem treuen Freunde innerlich, durfte aber doch nicht diesem Gefühle mit Worten Ausdruck geben. Er war offenbar überrascht, versuchte aber niemals, mein Geheimnis zu erforschen. Und obschon ich ihn grenzenlos liebte und verehrte, brachte ich es doch nicht übers Herz, ihm das Ereignis anzuvertrauen, das immer in meiner Seele gegenwärtig war und das vielleicht auf einen andern einen noch tieferen Eindruck machen konnte als auf mich selbst.

Herr Krempe sprach in wesentlich anderer Weise, und in meiner empfindlichen, seelischen Verfassung taten mir seine rauhen, ungelenken Lobsprüche noch weher als die feinen, anerkennenden Worte Waldmanns. »Hol der Teufel den Jungen!« schrie er. »Ich versichere Ihnen, Herr Clerval, er hat uns alle ausgestochen. Ja, ja, schauen Sie nur; deswegen ist es doch wahr. Ein junger Dachs, der noch ein paar Jahre vorher an Cornelius Agrippa glaubte, wie an das Evangelium, ist nun uns allen an der ganzen Universität voran. Nun, nun,« fuhr er fort, als er den leidenden Ausdruck in meinem Gesichte bemerkt hatte, »ich weiß, Herr Frankenstein ist bescheiden, wie es sich für junge Leute besonders gut ziemt. Junge Leute dürfen sich noch nicht allzuviel zutrauen, wissen Sie, Herr Clerval. Auch ich war bescheiden, wie ich noch jung war; aber das wird ja dann später alles anders.«

Herr Krempe war damit auf ein Thema übergegangen, das mir nicht so unangenehm war, nämlich auf einen Lobhymnus seiner selbst.

Clerval hatte meine Neigung zu den Naturwissenschaften nie geteilt und auch seine Lektüre hatte sich immer wesentlich von der meinen unterschieden. Er hatte die Universität bezogen mit der festen Absicht, orientalische Philologie zu studieren und sich damit einen Lebensberuf zu schaffen. Das Persische, Arabische und Sanskrit waren seine Lieblingssprachen, und es war ihm ein Leichtes, mich zu veranlassen, daß auch ich diese Fächer belegte. Müßiggang war mir von jeher ein Greuel gewesen, und gerade jetzt, wo ich meine früheren Studien wieder zu hassen begann und alles zu vergessen wünschte, war es mir lieb, in meinem Freunde einen Arbeitsgenossen zu haben und in den geistigen Schätzen des Orients nicht nur Belehrung, sondern auch Ablenkung zu finden. Es war mir nicht, wie ihm, darum zu tun, mir genaue, detaillierte Kenntnisse zu erwerben, sondern ich wollte mich nur der Zerstreuung halber damit beschäftigen. Ich las nur um des Inhalts willen und meine Mühe machte sich reichlich belohnt; ihr Ernst ist sanft und ihre Freude erhebend, wie ich es in keiner anderen Literatur kennen lernte. Wo man diese orientalischen Schriften liest, meint man, das Leben fließe nur im linden Sonnenlichte und in berauschendem Rosenduft dahin. Wie verschieden sind dagegen die herben, heroischen Dichtungen der Griechen und Römer!

Der Sommer floß dahin und meine Rückkehr nach Genf wurde auf Ende Herbst festgesetzt. Durch verschiedene Zufälligkeiten kam es aber nicht dazu, und unterdessen brach der Winter herein, der mit Schnee und Eis die Straßen unbenutzbar machte, so daß ich meine Abreise auf den folgenden Frühling verschieben mußte. Dieser neue Aufschub fiel mir sehr schwer, denn ich sehnte mich danach, meine Heimat und meine Lieben zu sehen. Ich hatte meine Abreise auch deswegen verzögert, weil ich Henry nicht ganz allein in der fremden Stadt lassen, sondern ihn erst noch mit einigen Einwohnern derselben bekannt machen wollte. Wir verbrachten den Winter ganz vergnügt, und der Frühling, der ungewöhnlich spät einsetzte, entschädigte uns mit allen Mitteln für sein Säumen.

Schon war es Mai geworden und ich erwartete Tag für Tag den Brief aus der Heimat, der meine endgültige Abreise festlegen sollte. Henry schlug mir vor, mit ihm eine Fußtour in die Umgebung von Ingolstadt zu machen, damit ich mich von dem Landstriche, in dem ich einige Zeit gelebt, verabschieden könne. Ohne Zögern stimmte ich zu, denn ich war ein großer Freund körperlicher Übungen, außerdem war ja Clerval mein Genosse auf meinen Streifereien in der prächtigen Bergwelt meiner Heimat gewesen.

Vierzehn Tage blieben wir fort. An Geist und Körper hatte ich mich schon erholt und sog neue Kraft aus der reinen, heilsamen Luft, dem abwechselungsreichen Anblick der Natur und den Gesprächen meines Freundes. Das Studium hatte mich vordem vollkommen von meinen Mitgeschöpfen getrennt und mich einsam gemacht. Aber Clerval gelang es, wieder die besseren Gefühle meines Herzens die Oberhand gewinnen zu lassen; ich hatte wieder Freude an der Natur und an den unschuldigen Kindergesichtern. Ein edler Freund! Wie aufrichtig er mich liebte und sich bemühte, mich auf seine Höhe zu erheben! Selbstsucht hatte mich kleinlich und engherzig gemacht, aber sein Edelmut und seine Liebe öffneten mir das Herz. Ich wurde wieder dasselbe glückliche Geschöpf, das ich vorher gewesen, sorglos und froh. Da ich glücklich war, hatte auch die Natur die Macht, freudige Gefühle in mir zu erwecken. Heiterer Himmel und grünende Wiesen erfüllten mich mit Entzücken. Es war eine herrliche Zeit; die Frühlingsblüten zierten noch Baum und Strauch und die Blumen des Sommers brachen schon überall hervor. Die Gedanken, die mich im vergangenen Jahre so schwer bedrückt hatten, trotzdem ich mir alle Mühe gab, sie von mir zu werfen, waren von mir gewichen.

Henry war glücklich, als er mich so froh sah. Er war unerschöpflich an gedankenreicher Konversation, und oftmals erfand er nach Art der persischen und arabischen Märchendichter Geschichten von wunderbarer Schönheit und Glut. Zuweilen wiederholte er mir meine Lieblingsdichter oder begann mit mir Diskussionen, die er mit großer Beharrlichkeit durchfocht.

Sonntag Nachmittag kehrten wir in unsere Universitätsstadt zurück. Die Bauern tanzten und alle Welt schien glücklich und sorglos. Ich selbst war in köstlicher Laune, und voll unbändiger Heiterkeit und Fröhlichkeit wäre ich selbst am liebsten gesprungen.

7. Kapitel

Bei meiner Heimkehr fand ich einen Brief meines Vaters vor und las:

Lieber Viktor! Du wirst mit Ungeduld auf meinen Brief haben, der Dir das genaue Datum Deiner Rückreise zu uns angeben soll. Und eigentlich hatte ich erst die Absicht, Dir nur einige wenige Zeilen zu schreiben, die Dir sagen sollten, wann wir Dich hier erwarten. Aber das wäre eine grausame Schonung gewesen und ich wagte es nicht. Wie überrascht wärst Du gewesen, mein lieber Sohn, wenn Du anstatt eines frohen, herzlichen Willkommgrußes in ein Haus voll Trauer und Tränen gekommen wärest. Wie kann ich Dir nur unser Unglück schildern, Viktor? Deine lange Abwesenheit hat Dich sicher nicht gefühllos für unsere Freuden und Leiden gemacht, und wie schwer wird es mir, meinem Sohne, der schon so lange in der Ferne weilt, wehe zu tun! Ich möchte Dich gern vorbereiten auf das Furchtbare, was ich Dir sagen muß, aber ich weiß, es ist unmöglich. Ich sehe jetzt schon Deine Augen vorausfliegen nach der Stelle, die Dir das Unheilvolle verkündet.

Wilhelm ist – tot! Der süße, liebe Junge, dessen Lächeln meinem Herzen wohltat wie warmer Sonnenschein, und der so reizend, so fröhlich war! Viktor, denke Dir, man hat ihn ermordet!

Letzten Donnerstag (7. Mai) ging ich mit Elisabeth und Deinen zwei Brüdern nach Plaipalais spazieren. Es war ein warmer, schöner Abend und wir dehnten unseren Spaziergang weiter aus als gewöhnlich. Es war schon dämmerig geworden, bis wir ans Umkehren dachten; aber wir vermißten Wilhelm und Ernst, die uns vorausgegangen waren. Wir ließen uns auf einer Bank nieder und warteten, bis auch sie umkehren würden. Plötzlich kam Ernst und fragte, ob wir nicht seinen Bruder gesehen hätten. Er erzählte, daß sie gespielt hätten und Wilhelm davongelaufen sei, um sich zu verstecken; er habe ihn dann lange vergeblich gesucht und noch länger auf ihn gewartet.

Diese Erzählung versetzte uns in nicht geringe Erregung und wir begaben uns auf die Suche, bis es dunkle Nacht war. Elisabeth kam auf die Vermutung, daß der Knabe vielleicht heimgelaufen sein könnte. Aber auch hier fanden wir ihn nicht. Wir gingen wieder hinaus, diesmal mit Fackeln, denn ich hatte keine Ruhe, wenn ich daran dachte, daß der Junge sich verlaufen haben könnte und die ganze Nacht dem Nebel und Tau ausgesetzt sei. Auch Elisabeth litt furchtbare Angst. Morgens gegen fünf Uhr fand ich den lieben Knaben, den ich noch am Abend zuvor blühend und frisch gesehen hatte, bleich und steif auf dem Grasboden ausgestreckt; an seinem Halse erkannte man noch die Fingerabdrücke des Mörders.

Ich brachte ihn nach Hause, und die Qual, die sich in meinen Zügen ausdrücken mußte, ließ Elisabeth sofort das Gräßliche erraten. Sie wollte absolut den kleinen Leichnam sehen. Zuerst versuchte ich es zu verhindern, aber sie bestand auf ihrem Wunsche. Als sie in das Zimmer kam, wo der Kleine lag, ging sie eilig auf ihn zu und rief, die Hände ringend: »O Gott, ich habe das gute Kind gemordet!«

Sie brach zusammen und konnte nur mit großer Mühe wieder zum Bewußtsein gebracht werden. Und kaum war sie erwacht, als sie zu weinen und zu klagen begann. Sie erzählte mir, daß am Abend sie der Kleine so lange geplagt hatte, bis sie ihm erlaubte, ein Medaillon mit einer wertvollen Miniatur, die Deine Mutter darstellte, zu tragen. Dieses Medaillon fehlt und war zweifellos das, was den Mörder zu seiner unseligen Tat anreizte. Wir haben bis jetzt noch keine Spur von ihm, obgleich wir unermüdlich nach ihm forschen. Aber was hilft es, unser armer Wilhelm wird davon nicht mehr lebendig.

Komm heim, lieber Viktor; Du allein wirst Elisabeth zu trösten vermögen. Sie weint unausgesetzt und klagt sich der Schuld an dem Unglück an; ihr Jammer macht mich noch elender. Wir sind alle wie gebrochen, und das wird erst recht ein Anlaß für Dich sein, geliebter Sohn, heimzukehren und uns zu trösten.

Deine gute Mutter! Wie danke ich Gott, daß er sie es nicht mehr erleben ließ, wie ihr jüngstes Kind so elend und grausam zu Grunde gehen mußte!

Komm, Viktor; nicht rachebrütend gegen den feigen Mörder, sondern voll Liebe und Güte gegen uns, die Dich lieb haben. Dein Dich liebender, unglücklicher Vater Alfons Frankenstein.

*

Genf, den 12. Mai 17..

Clerval, der mich beobachtet hatte, während ich las, war überrascht von meiner Verzweiflung, die an die Stelle meiner Freude bei Empfang des Briefes getreten war. Ich warf den Brief auf den Tisch und barg mein Gesicht in den Händen.

»Lieber Frankenstein,« sagte er, als er bemerkte, daß ich bitterlich weinte, »bist du denn noch immer unglücklich? Was ist denn geschehen?«

Ich veranlaßte ihn mit einer Handbewegung, den Brief zu lesen; währenddem ging ich in der heftigsten Erregung im Zimmer auf und nieder. Auch aus seinen Augen drangen Tränen, als er den schrecklichen Bericht las.

»Trösten kann ich dich nicht, armer Freund, sagte er, »dazu ist das Unglück zu groß. Was wirst du nun tun?«

»Sofort nach Genf reisen. Komm mit mir, die Pferde bestellen.«

Auf dem Wege versuchte Clerval einige Worte des Trostes zu finden. Wenn es ihm auch nicht möglich war, so fühlte ich doch, wie tief er mit mir litt. »Armer Wilhelm! Nun ruht der liebe Junge bei seiner seligen Mutter. Und wenn man ihn noch frisch und blühend gekannt hat, muß es einem ja noch viel weher tun. So elend enden zu müssen unter dem grausamen Griff eines Mörders! Und was für eine Bestie muß der sein, der imstande ist, ein so junges, unschuldiges Leben zu zerstören! Aber daß er nun Frieden hat, mag ein Trost sein für die, die an seiner Bahre klagen und trauern. Wir dürfen ihn nicht weiter bemitleiden, sondern die Überlebenden sind es, die unseres Mitleides bedürfen.«

So sprach Clerval, während wir durch die Straßen eilten. Ich erinnere mich noch heute seiner Worte. Aber damals hatte ich keine Zeit zu antworten. Kaum fuhr der Wagen vor, als ich auch schon hineinsprang und mich von meinem Freunde verabschiedete.

Es war eine traurige Reise. Anfangs konnte es mir nicht rasch genug gehen, denn ich sehnte mich danach, meine Lieben in der Heimat in ihrem Gram zu trösten und sie in die Arme zu schließen. Je näher ich aber meiner Vaterstadt kam, desto mehr verzögerte ich die Fahrt. Ich konnte kaum der Fülle von Eindrücken Herr werden, die über mich hereinstürmten. Es umgaben mich Bilder, die mir von früher Jugend an lieb und vertraut waren, die ich aber seit nahezu sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Was konnte sich alles während dieser Zeit geändert haben? Ein plötzliches, erschütterndes Ereignis war ja eingetreten; aber noch tausend andere kleine Veränderungen konnten geschehen sein, die, weniger tief eingreifend, dennoch aber von entscheidender Bedeutung waren. Ich empfand Furcht; ich wagte es nicht, die Fahrt zu beschleunigen, denn tausend Befürchtungen standen mir vor Augen, die mich erzittern ließen, obgleich ich nicht imstande war, mir darüber Rechenschaft zu geben.

Ich blieb zwei Tage in Lausanne, um meiner Angst einigermaßen Meister zu werden. Ich betrachtete den See. Das Wasser lag friedlich da. Alles war still rings umher und die Schneeberge, die Dome der Natur, waren genau so wie einst. In dieser ruhevollen, erhabenen Umgebung erholte ich mich, so daß ich meine Reise nach Genf fortzusetzen vermochte.

Die Straße lief neben dem See her, der gegen meine Vaterstadt zu immer schmaler wurde. Immer deutlicher erkannte ich die finsteren Hänge des Jura und den schimmernden Scheitel des Montblanc. Ich weinte wie ein Kind. »Geliebte Berge! Herrlicher See! Wie freundlich grüßt ihr den Heimkehrenden! Hell leuchten die Berghäupter und blau und friedlich sind Himmel und See. Soll das Frieden bedeuten oder ist es nur, um mein Unglück noch mehr zu vertiefen?«

Ich fürchte, mein lieber Freund, daß ich Ihnen lästig falle, indem ich Sie mit den Schilderungen meiner Gefühle langweile. Aber es waren Tage des Glückes, die ich nie vergessen werde. Mein Heimatland, meine geliebte Heimat! Nur ein Sohn dieses Landes kann verstehen, was ich beim Anblick dieser Bäche, dieser Berge und vor allem des lieblichen Sees empfand.

Aber je näher ich Genf kam, desto mehr bemächtigten sich meiner wieder Gram und Furcht. Die Nacht sank hernieder, und als ich die Berge nicht mehr erkennen konnte, wurde es mir noch düsterer zu Mute. Wie ein unheimlicher Alb lag es auf meiner Seele und dunkel fühlte ich voraus, daß ich dazu bestimmt war, das unglücklichste aller Geschöpfe zu werden. Leider hatte ich das Richtige geahnt und mich nur insofern geirrt, als meine Befürchtungen und Vorahnungen nicht den hundertsten Teil all des Elendes darstellten, das mir beschieden war.

Es war vollkommen Nacht geworden, als ich vor den Mauern von Genf ankam. Aber die Tore der Stadt waren schon geschlossen und ich mußte mich deshalb bequemen, die Nacht in Socheron, einem kleinen Dörfchen eine halbe Stunde von Genf entfernt, zuzubringen. Da das Wetter noch günstig war und ich doch keine Ruhe gefunden hätte, beschloß ich, den Ort zu besuchen, wo mein armer Bruder Wilhelm ermordet worden war. Ich war genötigt, mit einem Boot über den See nach Plainpalais zu fahren. Während dieser kurzen Überfahrt bemerkte ich, daß Blitze um den Scheitel des Montblanc zuckten. In unheimlicher Hast zog ein Gewitter heran und ich begab mich sofort nach der Landung auf einen niederen Hügel, um von dort aus das Naturschauspiel zu beobachten. Es machte rasche Fortschritte. Bald war der Himmel von Wolken überzogen und schon klatschten die ersten schweren Tropfen hernieder. Dann öffneten sich rauschend die Schleusen über mir.

Durch die wachsende Finsternis, den heulenden Sturm schritt ich dahin, während in den Lüften der Donner entsetzlich brüllte. Er hallte zurück vom Salêve und von den Wänden des Jura und der Savoyer Alpen. Grelle Blitze blendeten meine Augen und der See erschien wie ein Meer von Feuer; bis dann das Auge sich wieder erholt hatte, wandelte ich in der pechschwarzen Finsternis dahin. Wie man es in der Schweiz häufig beobachten kann, waren Gewitter von verschiedenen Seiten aufgestiegen. Das stärkste hing gerade über der Stadt, über dem Teil des Sees, der sich zwischen Belrive und Copet ausdehnt. Ein anderes entlud sich mit schwachen Blitzen über dem Jura und ein drittes stand über dem Mole, einem spitzen Bergkegel östlich des Sees.

Eilig schritt ich dahin, während ich mich des ebenso herrlichen wie furchtbaren Schauspiels freute. Dieser tosende Kampf in den Lüften erregte mich; ich klatschte in die Hände und schrie laut: »Wilhelm, lieber Junge, das ist deine Leichenfeier, dein Totengesang!« Während ich dies ausrief, bemerkte ich im Dunkel, daß sich aus einem Gebüsch in meiner Nähe etwas herausschlich. Ich stand still und starrte gespannt nach der Stelle; ich konnte mich nicht getäuscht haben. Jäh zuckte ein Blitz auf – vor mir stand in seiner gigantischen Größe, in seiner übermenschlichen Häßlichkeit das Scheusal, der entsetzliche Dämon, dem ich das Leben gegeben. Was wollte er hier? War er vielleicht (ich schauderte bei dem Gedanken) der Mörder meines Bruders? Kaum war mir diese Möglichkeit durch den Kopf gefahren, da setzte sie sich schon als Gewißheit in mir fest. Meine Zähne klapperten und ich mußte mich gegen einen Baum lehnen. Die Gestalt huschte an mir vorbei und verschwand im Dunkel. Kein menschliches Wesen hatte Wilhelm getötet, er war es! Ein Zweifel erschien mir ausgeschlossen. Schon die Tatsache, daß mir der Gedanke überhaupt kam, war mir ein Beweis für seine Richtigkeit. Einen Augenblick dachte ich daran, den Dämon zu verfolgen und zu erwürgen; aber jeder Versuch wäre umsonst gewesen, denn im blendenden Lichte des nächsten Blitzes sah ich ihn an der senkrechten Wand des Mont Salêve, eines Berges, der sich südlich Plainpalais erhebt, hinaufklettern. Bald hatte er den Gipfel erreicht und war verschwunden.

Ich stand regungslos. Das Unwetter hatte aufgehört, aber es regnete noch immer und alles ringsum war in rabenschwarze Finsternis gehüllt. Vor meinem Geiste rollten sich in rascher Folge all die Ereignisse ab, die ich mit größter Mühe zu vergessen getrachtet hatte: die Vorarbeiten meiner unseligen Schöpfung, das Erscheinen der Kreatur an meinem Bett und ihr Verschwinden. Zwei Jahre fast waren seit jener Nacht verronnen, da das Werk meiner Hände zu leben begann. War das sein erstes Verbrechen? Leider hatte ich ein Scheusal auf die Welt losgelassen, das an grausigen Bluttaten seine Freude hatte. Hatte er denn nicht meinen Bruder getötet?

Ich kann nicht beschreiben, welche Angst ich in jener Nacht litt, die ich, durchnäßt und halb erfroren, im Freien verbrachte. Das Wetter ließ mich ganz gleichgültig; ich erschöpfte mich im Durchdenken all des Leides und der Verzweiflung, die mir noch bevorstanden. Was für ein Wesen hatte ich da in die Welt gesetzt? Mit starkem Willen und großer körperlicher Kraft hatte ich es ausgerüstet, die es nun zu blutigen Zwecken mißbrauchte, wie die Tatsachen bewiesen. Es war wie mein eigener Vampyr, der aus dem Grabe zurückkehrt, um alles zu zerstören, was ihm im Leben lieb war.

Der Tag dämmerte herauf und ich wandte meine Schritte der Stadt zu. Die Tore waren schon geöffnet und ich eilte zu meines Vaters Hause. Anfangs trug ich mich mit der Absicht, sofort alles bekannt zu machen, was ich von dem Mörder wußte, und eine Verfolgung einleiten zu lassen. Aber ich zögerte, wenn ich daran dachte, was ich zu erzählen hatte. Ein Wesen, das ich selbst gebildet und mit Leben begabt habe, hätte ich mitten in der Nacht in den unzugänglichen Berghängen nahe meiner Heimatstadt angetroffen. Auch das Nervenfieber, das mich gerade zur Zeit der Vollendung meines Werkes ergriffen hatte, diente nicht dazu, meiner Erzählung einen größeren Grad von Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Ich wußte sehr wohl, daß, wenn ein anderer mir dieselbe Geschichte berichtete, ich sie für den Ausfluß einer überreizten Phantasie hätte erklären müssen. Außerdem würde ja die seltsame Natur des Wesens jede Verfolgung ausgeschlossen haben, selbst wenn es mir gelungen wäre, meinen Vater überhaupt von der Notwendigkeit einer Verfolgung zu überzeugen. Und welchen Ausgang würde eine derartige Unternehmung haben gegen ein Wesen, das imstande war, die überhängenden Felsen des Mont Salêve ohne weiteres zu erklimmen? Diese Erwägungen veranlaßten mich zum Schweigen.

Es mochte etwa fünf Uhr morgens sein, als ich das väterliche Haus betrat. Ich wies die Dienstboten an, jegliche Störung der Familienmitglieder zu vermeiden, und begab mich in die Bibliothek, um meine Lieben zu erwarten.

Sechs Jahre also waren vergangen, seit ich das letzte Mal hier stand und mein Vater mich vor meiner Abreise nach Ingolstadt in die Arme schloß. Vergangen waren sie wie ein Traum, allerdings wie einer, der untilgbare Spuren hinterläßt. Edler, geliebter Vater, du wenigstens bist mir geblieben! Ich blickte auf das Bildnis meiner Mutter, das über dem Kamin hing; es stellte sie dar, wie sie, noch als Karoline Beaufort, am Sarge ihres Vaters kniete. Ihr Kleid war einfach und ihre Wange schmal und bleich, aber ihre Haltung so stolz und aufrecht, daß man einem Gefühl des Mitleides kaum Raum zu geben vermochte. Unter diesem Gemälde hing ein kleines Bildchen Wilhelms, und Tränen stiegen mir in die Augen, als ich es betrachtete. Unterdessen trat mein Bruder Ernst ein; er hatte mich kommen hören und sich beeilt, zu meiner Begrüßung herunterzukommen. Mit schmerzlicher Freude drückte er mir die Hand und sagte: »Willkommen, lieber Viktor! Vor drei Monaten noch hättest du uns alle froh und glücklich angetroffen. Heute kommst du, um ein Leid mit uns zu teilen, das niemand mehr gutmachen kann. Ich hoffe ja, daß deine Gegenwart unseren Vater wieder etwas aufrichten wird, der unter dem furchtbaren Unglück fast zusammenbricht, und dir wird es vielleicht gelingen, Elisabeths zwecklose, quälende Selbstanklagen zum Schweigen zu bringen. Armer Wilhelm! Er war unser Stolz und unsere Freude!«

Unaufhaltsam stürzten die Tränen aus meines Bruders Augen, während es mir wie Todesangst über den Leib kroch. Ich hatte mir ja Vorstellungen davon gemacht, wie verödet es nun in unserem Hause aussehen mußte; aber nun trat die Wirklichkeit noch viel erschreckender an mich heran. Ich versuchte Ernst zu beruhigen und erkundigte mich um das Befinden meines Vaters und Elisabeths.

»Elisabeth,« sagte Ernst, »bedarf besonders des Trostes. Sie gibt sich selbst die Schuld am Tode Wilhelms, und das macht sie ganz krank. Aber seit der Mörder entdeckt ist …«

»Der Mörder entdeckt? Großer Gott! Wie kann denn das sein? Wer könnte es wagen, ihn zu verfolgen? Es ist unmöglich! Eher gebietet einer den Winden oder hält den Bergstrom mit einem Strohhalm in seinem Laufe auf. Ich habe ihn auch gesehen; heute Nacht war er noch frei!«

»Ich verstehe dich nicht ganz,« sagte mein Bruder verwundert. »Jedenfalls hat diese Entdeckung unser Elend noch verschlimmert. Zuerst hielt es ja niemand für möglich, und heute noch glaubt Elisabeth nicht daran, wenn auch kein Irrtum mehr walten kann. Und wer käme auch auf den Gedanken, daß Justine, die wir alle lieben und die so eng mit unserer Familie verknüpft ist, plötzlich eines so abscheulichen, entsetzlichen Verbrechens fähig sei?«

»Justine Moritz? Armes, armes Ding! Sie hätte man des Verbrechens beschuldigt? Aber das ist ja undenkbar! Jedermann kennt sie und es glaubt doch keiner an ihre Schuld?«

»Allerdings glaubte zuerst niemand daran, aber einige Umstände drängten uns dann doch schließlich die Überzeugung auf. Und ihr eigenes Benehmen war so merkwürdig, daß für einen Zweifel kein Raum mehr bleibt. Heute wird sie abgeurteilt und du wirst dann Näheres hören.«

Er erzählte mir, daß Justine am Morgen nach der Mordnacht krank geworden sei und mehrere Tage das Bett hüten mußte. Während dieser Zeit hat einer der Dienstboten in der Tasche des Kleides, das Justine in jener Nacht getragen, das Bildchen meiner Mutter gefunden, das wegen seiner Kostbarkeit den Mörder zur Begehung des Verbrechens verleitet haben sollte. Das Dienstmädchen zeigte das Bild einem anderen und dieses zeigte, ohne der Familie ein Wort zu sagen, die Sache bei Gericht an. Daraufhin wurde Justine verhaftet. Als ihr das Verbrechen vorgehalten wurde, geriet die Arme in eine derartige Verwirrung, daß man sie unbedingt für schuldig halten mußte.

Das war allerdings eine seltsame Geschichte, aber meine Überzeugung blieb unerschüttert. Ich erwiderte ernst: »Ihr seid alle im Irrtum; ich weiß, wer der Mörder war. Die gute, arme Justine ist unschuldig.«

In diesem Augenblick trat mein Vater ein. Tiefer Gram lag auf seinem Antlitz, aber er bemühte sich, mich liebevoll zu begrüßen. Wir sprachen von diesem und jenem, und erst Ernst brachte uns wieder auf das Unheil, das über dem Hause lag. »Denke dir, Vater,« sagte er, »Viktor behauptet, den Mörder des armen Wilhelm zu kennen.«

»Leider kennen auch wir ihn. Lieber wäre es mir gewesen, auf immer im Ungewissen darüber zu bleiben, als in einen solchen Abgrund von Schlechtigkeit und Undank blicken zu müssen.«

»Aber, lieber Vater, du irrst; Justine ist schuldlos.«

»Wenn sie es ist, dann wird Gott es verhüten, daß sie als schuldig befunden werde. Heute tritt sie vor Gericht und ich hoffe, daß man sie freisprechen wird.«

Diese Worte beruhigten mich etwas. Ich war fest überzeugt, daß Justine, ebensowenig wie irgend ein anderes menschliches Wesen, die Untat vollbracht habe. Ich hielt es auch für unmöglich, daß irgend etwas vorgebracht werden könne, was als Beweis ihrer Schuld dienen könnte. Allerdings war ja mein Erlebnis nicht geeignet, öffentlich bekannt gemacht zu werden; man hätte es lediglich für Wahnwitz gehalten. Gab es denn einen Menschen auf der weiten Welt, außer mir, dem Schöpfer, der es ohne weiteres geglaubt hätte, was ich hätte behaupten müssen?

Wir gingen dann zu Elisabeth. Sie hatte sich sehr verändert, seit ich sie nicht mehr gesehen. Aus dem reizenden Kinde war ein liebliches Weib geworden. Sie begrüßte mich mit leidenschaftlicher Freude. »Deine Ankunft, lieber Viktor, läßt mich wieder Hoffnung schöpfen. Vielleicht findest du Mittel und Wege, die arme, schuldlose Justine von dem entsetzlichen Verdachte zu reinigen. Auf wen ist überhaupt noch zu rechnen, wenn sie schuldig befunden wird. Ich weiß, sie ist an dem Verbrechen ebenso unschuldig wie ich. Unser Unglück trifft uns ja doppelt hart. Wir haben nicht nur das liebe Kind verloren, sondern das gute Mädchen, das ich so sehr liebe, wird einem noch gräßlicheren Schicksal entgegengehen. Wenn sie verurteilt wird, habe ich keine gute Stunde mehr auf Erden. Aber ich weiß gewiß, es wird, es kann nicht geschehen, und wenn sie wieder frei ist, will ich glücklich sein, so glücklich, als ich es nach den schrecklichen Ereignissen noch sein kann.«

»Sie ist schuldlos, liebe Elisabeth,« sagte ich, »und das muß offenbar werden. Fürchte nichts, sondern sei stark in dem Gedanken, daß sie freigesprochen werden muß.«

»Wie gut und edel du bist; jeder andere glaubt, daß sie die Mörderin ist, und das ist es, was mich rasend macht, denn ich weiß, daß es nicht sein kann. Und so sehen zu müssen, wie jemand schon von vornherein verdammt wird, das erfüllt mich mit Trauer und Verzweiflung.« Sie begann zu weinen.

»Liebes Kind«, begütigte sie mein Vater, »trockne deine Tränen. Wenn sie, wie du überzeugt bist, unschuldig ist, dann kannst du dich auf die Gerechtigkeit unserer Gesetze verlassen.«

8. Kapitel

Es waren ein paar unsäglich traurige Stunden, die wir verbrachten, bis es endlich elf Uhr schlug. Mein Vater und die übrigen Familienglieder waren als Zeugen vorgeladen und ich begleitete sie zum Gerichtsgebäude. Während dieser ganzen Verhandlung litt ich furchtbare Qualen. Handelte es sich doch um nichts Geringeres, als daß die Zahl der Opfer meiner verbrecherischen Tat noch um eines vermehrt werden sollte: zuerst ein unschuldiges, blühendes, liebliches Kind, dann ein Mädchen, das, mit dem Fluche einer Mörderin beladen, der Strenge des Gesetzes verfallen mußte. Und Justine hätte es wirklich besser verdient; sie hatte alle Eigenschaften, die dazu angetan gewesen wären, sie glücklich werden zu lassen. Und sie mußte nun mit Schmach in die Grube steigen, und ich hatte sie auf dem Gewissen! Es wäre mir tausendmal lieber gewesen, wenn ich mich selbst der Tat hätte anklagen dürfen, deren man Justine beschuldigte. Aber ich war zur kritischen Zeit abwesend, und meine Erklärungen hätte man als Rasereien eines Irren betrachtet, die gar nicht imstande gewesen wären, Justine auch nur im geringsten zu helfen.

Justine war sehr gefaßt. Sie trug Trauerkleidung; ihr schönes Gesicht war durch das ausgestandene Leid noch anziehender geworden. Als sie den Gerichtssaal betrat, trug sie ihr reines Gewissen zur Schau und zitterte nicht, trotzdem sie von Hunderten von Augen angestarrt, von Hunderten von Zungen verwünscht wurde. Ihre Lieblichkeit, die unter andern Umständen die Herzen aller hätte gewinnen müssen, vermochte nicht den Frevel vergessen zu machen, den sie begangen haben sollte. Sie erschien vollkommen ruhig, wenn auch ihre Ruhe sicherlich eine erzwungene war. Sie wußte genau, daß man ihre Verstörtheit als einen Beweis ihrer Schuld betrachtet hätte; und versuchte sich tapfer zu halten. Beim Eintritt in den Saal ließ sie rasch ihre Blicke über die Menge schweifen und hatte sofort bemerkt, wo wir uns befanden. Eine Träne schien einen Moment ihren Blick zu trüben; sie raffte sich aber gleich wieder auf und nahm Platz.

Die Verhandlung begann. Der Staatsanwalt erhob die Klage und dann wurden mehrere Zeugen aufgerufen. Einige merkwürdige Zufälligkeiten sprachen so gegen sie, daß jeder außer mir, der ich doch gewiß wußte, daß sie unschuldig war, überzeugt sein mußte, daß sie das Verbrechen auf dem Gewissen hatte. Sie war die ganze Nacht, in der der Mord begangen wurde, nicht nach Hause gekommen und war in aller Frühe von einer zum Markte ziehenden Frau unweit der Stelle gesehen worden, wo man nachher den Leichnam gefunden hatte. Die Frau hatte sie angesprochen und gefragt, was sie da täte; sie hatte ganz seltsam dreingesehen und dann eine verwirrte, unverständliche Antwort gegeben. Gegen acht Uhr war sie dann heimgekommen, und als man sie dann frug, wo sie gewesen sei, hatte sie erklärt, nach dem Kinde gesucht zu haben und gefragt, ob man denn nichts von dem Kleinen gehört habe. Als man dann den Leichnam brachte, verfiel sie in Krämpfe und mußte mehrere Tage das Bett hüten. Es wurde ihr dann das Bildchen gezeigt, das die Magd in ihrer Tasche gefunden hatte. Als Elisabeth mit zitternder Stimme bestätigte, dass es dasselbe sei, das sie dem Bruder um den Hals gehängt hatte, ertönte aus den Reihen der Zuhörer ein Murmeln und Grollen der Entrüstung und des Entsetzens.

Nun ward Justine zu ihrer Verteidigung aufgerufen. Im Verlauf der Verhandlung hatte sich in ihrem Gesicht nacheinander der Ausdruck des Schmerzes, der Überraschung und des Leides gezeigt. Manchmal schien es, als kämpfte sie mit Tränen. Als sie aber sprechen mußte, nahm sie alle ihre Kräfte zusammen und sagte mit schwankender, aber dennoch gut vernehmlicher Stimme:

»Nur Gott weiß, daß ich vollkommen unschuldig bin. Ich bin der Überzeugung, daß meine Ausführungen nicht geeignet sein werden, meine Unschuld zu bestätigen, und beschränke mich also nur darauf, die reinen Tatsachen zu berichten und das zu widerlegen, was gegen mich spricht. Ich hoffe, daß mein bisheriges Leben meine Richter auch da zu einer milden Auffassung veranlassen wird, wo zweifelhafte oder verdächtige Umstände vorliegen.«

Sie erzählte dann, daß sie den Abend vor der Mordnacht bei einer Tante in Chêne verbracht habe, einer Ortschaft, die ungefähr eine Meile von Genf entfernt ist. Als sie abends um neun Uhr zurückkehrte, begegnete sie einem Manne, der sie fragte, ob sie nicht den Kleinen gesehen habe. Sie sei dadurch sehr beunruhigt gewesen und habe sich sofort auf die Suche begeben. Unterdessen seien aber die Tore von Genf geschlossen worden und sie sei genötigt gewesen, in einer Scheuer Unterschlupf zu suchen, die zur Villa einer bekannten Familie gehörte, die sie aber so spät nicht mehr stören wollte. Fast die ganze Nacht habe sie hier wachend zugebracht, nur gegen Morgen sei sie auf kurze Zeit eingeschlafen, dann aber bald wieder durch ein Geräusch von Schritten aufgeweckt worden. Da es inzwischen hell geworden war, habe sie ihr Asyl verlassen und nochmals nach dem Vermißten gesucht. Wenn sie in die Nähe der Stelle gekommen sei, wo der Leichnam lag, so sei es völlig ohne ihr Wissen geschehen. Daß sie, von der Marktfrau angesprochen, verstört ausgesehen habe, sei nicht zu verwundern in Anbetracht dessen, daß sie eine schlaflose Nacht hinter sich hatte und das Schicksal des kleinen Wilhelm noch nicht geklärt war. Wegen des Bildes konnte sie eine Erklärung nicht abgeben.

»Ich weiß,« fuhr das unglückselige Geschöpf fort, »wie schwer dieser eine Umstand gegen mich ins Gewicht fällt und wie verhängnisvoll er mir werden kann, aber ich vermag nicht die geringste Aufklärung darüber zu geben. Ich kann nicht einmal Vermutungen aussprechen, wie das Bild in meine Tasche gekommen sein mag. Ich glaube keinen Feind auf der Welt zu haben, und jedenfalls keinen, der so schlecht wäre, mich auf diese niederträchtige Weise zu verderben. Hat mir der Mörder das Bild zugesteckt? Ich sehe keine Ursache, warum er das getan haben sollte; denn wenn er die Untat beging, um sich das kostbare Bildchen zu verschaffen, was veranlaßte ihn, es so bald wieder herzugeben?«

»Ich vertraue ganz meinen Richtern, wenn ich auch der Hoffnung nicht Raum zu geben wage. Ich bitte, daß einige Zeugen über mich und mein Vorleben vernommen werden; und wenn ihr Zeugnis nicht imstande ist, Sie von meiner Unschuld zu überzeugen, dann werde ich wohl verurteilt werden müssen.«

Mehrere Zeugen wurden aufgerufen, die die Angeklagte schon seit Jahren kannten, und sie sagten nur Gutes von ihr aus. Aber Befangenheit und Abscheu vor dem Verbrechen, dessen sie sie für schuldig hielten, hinderte sie, recht aus sich herauszugehen. Elisabeth erkannte, wie auch diese letzte Hoffnung der Angeklagten zusammensank, und bat in tiefster Erregung den Gerichtshof, sprechen zu dürfen.

»Ich bin dem unglücklichen getöteten Kinde von je wie eine Schwester gewesen, denn ich habe bei seinen Eltern gelebt, noch ehe es auf der Welt war. Es wird mir deshalb vielleicht verübelt werden können, wenn ich mich vordränge; aber wenn ich sehe, daß ein Mitgeschöpf an der Feigheit seiner angeblichen Freunde zugrunde gehen muß, dann hält mich nichts mehr, dann muß ich reden. Ich bin mit der Angeklagten sehr gut bekannt. Ich habe mit ihr unter einem Dache gewohnt, erst fünf, später fast zwei Jahre. Während dieser ganzen Zeit habe ich sie als das liebenswürdigste, gütigste Wesen lieben gelernt. Sie pflegte Frau Frankenstein in ihrer letzten Krankheit mit der größten Aufopferung und Sorgfalt; dann versorgte sie ihre alte Mutter, die an einer widerwärtigen Krankheit dahinsiechte, in einer Weise, die allen Bekannten die größte Hochachtung abnötigte; dann kam sie wieder zu uns und machte sich in der ganzen Familie beliebt. Sie war überaus zärtlich zu dem Kinde, das jetzt der Rasen deckt, und war ihm wie eine fürsorgliche Mutter. Ich für meinen Teil stehe nicht an zu sagen, daß ich, wie sehr auch die Umstände gegen sie zeugen mögen, doch meine Hand für ihre Unschuld ins Feuer legen würde. Es lag ja für sie gar keine Ursache vor, so zu handeln, denn sie wußte, daß ich sie so lieb hatte, daß ich ihr das Bild auf eine Bitte hin ohne weiteres geschenkt hätte.«

Ein Murmeln des Beifalls ertönte durch den Raum; aber er galt der edelmütigen, einfachen und doch packenden Verteidigungsrede, nicht aber dem armen Opfer. Justine weinte, während Elisabeth sprach, aber sie antwortete nicht mehr. Meine Erregung und Angst hatten sich während des Verhörs bis aufs äußerste gesteigert. Ich glaubte an ihre Unschuld, ich wußte, daß sie rein war. Konnte der Dämon, der meinen Bruder ermordet hatte daran zweifelte ich ja keinen Augenblick mehr – in teuflischer Bosheit dem unglücklichen Mädchen einen schmachvollen Tod zugedacht haben? Ich befand mich in einer entsetzlichen, geradezu unerträglichen Lage, und als ich an den ernsten Gesichtern der Richter erkannte, daß sie, der Stimme des Volkes entsprechend, die Unselige verurteilen mußten, stürzte ich von Höllenqualen gepeinigt aus dem Saal. Die Leiden der Angeklagten kamen sicherlich den meinen nicht gleich; sie hatte das Gefühl der Unschuld in der Brust, während hinter mir wie Eumeniden die Gewissensbisse ihre Geißeln schwangen.

Wie ich die Nacht verbrachte, kann ich nicht schildern. Am frühen Morgen begab ich mich ins Gerichtsgebäude; aber meine Kehle war wie zugeschnürt, so daß ich die schicksalsschwere Frage nicht zu stellen vermochte. Man erkannte mich und ein Beamter erriet die Ursache meines Besuches. Er sagte mir, daß nur schwarze Kugeln in die Urne gelegt worden seien, Justine also verurteilt sei.

Wie soll ich die Gefühle nennen, die sich meiner bemächtigten? Ich hatte ja das Entsetzen schon kennen gelernt, aber das war gar nichts gegen das, was ich nun zu erdulden hatte. Der Beamte fügte noch bei, daß Justine selbst ihre Schuld eingestanden habe. »In diesem so klaren Falle wäre das ja gar nicht nötig gewesen,« bemerkte er, »aber trotzdem ist es besser so, denn unsere Richter verurteilen nicht gern auf Grund von Indizienbeweisen, mögen sie noch so schlüssig sein.«

Das war allerdings etwas Seltsames und Unerwartetes. Was konnte er meinen? Sollten mich wirklich meine Augen so getäuscht haben oder war ich tatsächlich ein Narr gewesen, wenn ich gegen einen andern Argwohn geschöpft hatte? Ich eilte nach Hause und Elisabeth erkundigte sich ungeduldig nach dem Ergebnis meiner Anfrage.

»Meine Liebe,« sagte ich, »es ist so gekommen, wie du dir denken konntest. Unsere Richter lassen lieber zehn Unschuldige leiden, als daß sie einen Schuldigen entschlüpfen lassen; und sie ist schuldig – sie hat es selbst eingestanden.«

Das war ein harter Schlag für Elisabeth, die immer noch fest auf Justines Unschuld gebaut hatte. »Wie soll ich,« sagte sie, »jemals noch einem Menschen vertrauen? Justine, die ich liebte wie eine Schwester, hat uns mit ihrem engelreinen Lächeln betrogen! Sie, deren Augen keine Strenge oder Grausamkeit kannten, vermochte einen Mord zu begehen!«

Bald danach erhielten wir Nachricht, daß das arme Opfer den Wunsch geäußert habe, Elisabeth zu sprechen. Mein Vater wollte es erst nicht zugeben, überließ es aber dann doch ihrem eigenen Ermessen. »Ja,« sagte Elisabeth, »ich will gehen, wenn sie auch schuldig ist; und dich, Viktor, bitte ich, mich zu begleiten, allein kann ich nicht.« Es war mir eine erneute Qual, aber ich konnte mich nicht weigern.

Wir betraten die düstere Zelle und erkannten Justine, die in der anderen Ecke auf einem Strohhaufen saß. Sie hielt die Hände gefaltet und ihr Kopf lag auf ihren Knieen. Als wir eintraten, erhob sie sich und warf sich, nachdem der Wärter uns mit ihr allein gelassen, vor Elisabeth nieder, indem sie bitterlich weinte. Auch Elisabeth weinte laut.

»Ach, Justine,« sagte sie, »warum hast du mich meiner letzten Hoffnung beraubt? Ich habe auf deine Unschuld gebaut. Wenn ich auch vorher schon unglücklich war, so hat mich doch dein Geständnis noch unglücklicher gemacht.«

»Und glaubst also auch du, dass ich so sehr verworfen bin? Bereinigst auch du dich mit meinen Peinigern, die mich als Mörderin verurteilen?« Ihre Stimme erstickte in Tränen.

»Steh auf, du Arme,« erwiderte Elisabeth, »warum kniest du, wenn du dich unschuldig weißt? Ich gehöre nicht zu deinen Feinden; ich hielt dich so lange für schuldlos, bis ich hörte, daß du gestanden habest. Du sagst, dass dies nicht wahr ist. Sei überzeugt, daß nichts imstande ist, mein Vertrauen in dich zu erschüttern, als ein Bekenntnis deiner Schuld aus deinem eigenen Munde.«

»Ich habe gestanden, aber was ich gestand, war eine Lüge. Ich gestand nur, um Absolution zu erlangen, und nun liegt mir diese Unwahrheit noch schwerer auf dem Herzen als alle meine anderen Sünden zusammen. Gott im Himmel sei mir gnädig! Aber seit ich verhaftet wurde, ließ mein Beichtvater nicht mehr von mir ab; er schalt und drohte mir, bis ich schließlich selbst daran glaubte, daß ich das Ungeheuer war, zu dem er mich machte. Mit Exkommunitation und Schilderung aller Höllenstrafen suchte er mich weich zu machen. Liebste Freundin, ich hatte niemand, der mich gestützt hätte; jeder blickte auf mich wie auf eine Verdammte, deren Los Schmach und Tod war. Was konnte ich tun? In einer schwachen Stunde unterschrieb ich mein erlogenes Geständnis, und nun bin ich erst ganz elend geworden.«

Der Schmerz übermannte sie; nach einer Weile aber fuhr sie gefaßter wieder fort: »Das Schlimmste war mir, denken zu müssen, daß du, liebe Freundin, mich, die du doch so geliebt, für eine Kreatur halten mußtest, fähig eines Verbrechens, wie es sich nur ein Teufel ersinnen kann. Lieber kleiner, armer Wilhelm! Bald werde ich bei dir im Himmel sein, das macht mir mein schmachvolles Ende leichter.«

»Justine verzeihe mir, daß ich dir auch nur einen Augenblick mißtrauen konnte. Aber warum hast du auch das Geständnis abgelegt? Doch sei ruhig, fürchte dich nicht! Ich will es in die Welt hinausrufen, daß du frei von Schuld bist. Ich will die steinernen Herzen deiner Peiniger mit Tränen und Bitten erweichen. Du darfst mir nicht sterben! Du, meine Spielgenossin, meine Freundin, meine Schwester, solltest das Schaffot besteigen müssen! Nein, nein, das könnte ich nicht überleben!«

Justine schüttelte traurig den Kopf. »Ich fürchte den Tod nicht,« sagte sie, »er hat keinen Stachel mehr für mich. Gott wird mir Kraft geben, dieses Schwere zu tragen. Ich scheide aus einer bösen, traurigen Welt, und wenn Ihr meiner in Liebe gedenkt und mir als einer ungerecht Verurteilten euer Mitleid schenkt, dann bin ich für das Schicksal entschädigt, das meiner wartet. Ich habe gelernt, mich ohne Widerstreben in den Willen des Höchsten zu fügen.«

Während dieser Aussprache hatte ich mich in einen Winkel der Zelle zurückgezogen und versuchte der entsetzlichen Stimmung Herr zu werden, die sich meiner bemächtigt hatte. Verzweiflung! War es nur Verzweiflung? Das arme Opfer, das morgen die dunkle Schwelle zwischen Leben und Tod überschreiten mußte, empfand vielleicht kein so tiefes, bitteres Weh wie ich. Ich biß die Zähne aufeinander, um das Schluchzen zu unterdrücken, das sich aus der Tiefe meines Herzens emporzudrängen suchte. Justine kam auf mich zu und sagte: »Lieber Herr, ich danke Ihnen, daß Sie mich noch besucht haben. Ich hoffe, daß auch Sie von meiner Unschuld überzeugt sind.«

Ich vermochte nichts zu erwidern. »Er glaubt an dich fester,« sagte Elisabeth, »als ich es tat. Denn selbst als er von deinem Geständnis gehört hatte, verteidigte er deine Unschuld.«

»Ich danke Ihnen von Herzen. Gerade in diesen letzten Augenblicken tut es mir besonders wohl, wenn jemand in Güte meiner gedenkt. Daß man mir, der Verdammten, noch Liebe entgegenbringt, das macht mir das Sterben leichter.«

So versuchte die arme Dulderin uns und sich selbst zu trösten. Und sie ergab sich in ihr Schicksal. Aber ich, der eigentliche Mörder, fühlte den nagenden Wurm in meiner Brust und wußte, daß ich nimmer froh werden konnte. Elisabeth weinte, aber ihr Leid glich mehr einer Wolke, die das Glück wohl eine Zeit lang verhüllen, aber es nicht ganz vernichten kann. Reue und Verzweiflung hatten sich meiner bemächtigt, eine ganze Hölle brannte in mir. Wir blieben noch einige Stunden bei Justine und nur mit großer Mühe vermochte ich Elisabeth wegzubringen. »Könnte ich nur mit dir sterben,« rief sie, »ich kann in dieser schrecklichen Welt nicht mehr leben!«

Justine trug große Ruhe zur Schau, obgleich sie kaum ihres Schmerzes Herr zu werden imstande war. Sie umschlang Elisabeth und sagte mit halberloschener Stimme: »Leb wohl, liebe, teure Elisabeth, meine geliebte Freundin! Gott segne und schütze dich in seiner großen Güte. Möge dies das letzte Leid sein, das dir beschieden ist. Leb wohl, sei glücklich und mache auch andere glücklich!«

Am nächsten Morgen mußte dann Justine sterben. Elisabeths herzbewegendes Flehen vermochte die harten Richter nicht in ihrer Überzeugung von Justines Schuld zu erschüttern. Auch meine leidenschaftlichen, erregten Bitten hatten nicht die geringste Wirkung. Und die kalten Antworten, das herzlose Sprechen dieser Männer brachte das Geständnis, das ich auf den Lippen trug, wieder zum Schweigen. Sie hätten mich wohl für irrsinnig erklärt, aber an dem Urteil über das arme Opfer hätte das nichts geändert. Und so kam es, daß Justine als Mörderin auf dem Schaffot ihr junges Leben lassen mußte.

Nicht nur die Qualen in meiner eigenen Brust, sondern auch das tiefe, wortlose Weh in Elisabeths Herz brachten mich fast zur Verzweiflung. Das also war mein Werk! Und das Leid meines Vaters, die Verwüstung unseres sonst so traulichen Heims – das alles hatten meine tausendfach verfluchten Hände angerichtet! Weint nur, ihr Unseligen, das sind noch lange nicht eure letzten Tränen gewesen! Wiederum ist es euch bestimmt, die Totenklage anzustimmen und zu weinen. Frankenstein, euer Sohn, euer Bräutigam, euer treuer, geliebter Freund und Bruder, der für euch gern sein Herzblut vergossen hätte, der keine Freude empfand, die sich nicht zugleich in euren Augen wiedergespiegelt hätte, der euer Leben gern mit Glück erfüllt – er muß euch Tränen, ungezählte, bittere Tränen verursachen.

So sprach meine ahnende Seele, als ich, erdrückt von Gewissensbissen, Entsetzen und Verzweiflung auf meine Lieben sah, die sich in Gram an den Gräbern von Wilhelm und Justine, den ersten, armen Opfern meiner verruchten Künste, verzehrten.

Einführung

Die Herausgeber der »Meisternovellen« haben mich vor Veröffentlichung meines »Frankenstein« gebeten, ihnen einiges über dessen Entstehung zu berichten. Ich entspreche diesem Wunsche um so lieber, als mir dadurch Gelegenheit geboten ist, allgemein die so häufig an mich gerichtete Frage zu beantworten, wie ich als Frau dazukäme, einen so entsetzlichen Stoff zu erdenken und zu bearbeiten. Ich stelle mich ja allerdings nicht gern in den Vordergrund; aber da diese Erklärung mehr oder minder nur ein Anhang zu meinem Werke ist und ich mich nur auf das beschränken werde, was unbedingt mit meiner Autorschaft zusammenhängt, kann man mir kaum persönliche Eitelkeit zum Vorwurf machen.

Es ist meines Erachtens nichts Außerordentliches, daß ich, als Kind zweier literarischen Berühmtheiten, ziemlich früh im Leben am Schreiben Gefallen fand. Schon als ganz kleines Mädchen wußte ich mir keinen besseren Zeitvertreib als das »Geschichtenschreiben«. Bis ich allerdings noch ein schöneres Vergnügen fand, das Bauen von Luftschlössern, das Versenken in Wachträume, das Verfolgen von Gedankenreihen, die sich aus erfundenen Ereignissen ergaben. Meine Träume waren auf alle Fälle schöner und phantastischer als das, was ich niederschrieb. Denn beim Schreiben folgte ich mehr den Spuren anderer, als daß ich meine eigenen Gedanken wiedergab. Ich machte mich selbst nie zur Heldin meiner Erzählungen. Denn das Leben erschien mir in Bezug auf mich selbst als nichts Romantisches und ich konnte mir nicht vorstellen, daß außergewöhnliche Leiden oder merkwürdige Ereignisse in meinem Dasein eine Rolle spielen sollten. Und so konnte ich in meiner Phantasie Geschöpfe entstehen lassen, die mir damals weit interessanter waren als meine eigenen Gefühle.

Dann aber wurde mein Leben ereignisreicher und die Wahrheit trat an die Stelle der Dichtung. Allerdings war mein Mann ängstlich darauf bedacht, daß ich meiner literarischen Abstammung Ehre mache und selbst zu einer Berühmtheit werde. Er erregte in mir den Wunsch, einen literarischen Ruf zu erringen; ein Ziel, gegen das ich heute vollkommen gleichgültig geworden bin.

Im Sommer 1816 bereisten wir die Schweiz und ließen uns in der Nähe Lord Byrons nieder. Wir verbrachten mit ihm herrliche Stunden auf dem See oder an dessen Ufern. Der einzige unter uns, der seine Gedanken schriftlich niederlegte, war Lord Byron. Er hatte eben den dritten Gesang seines »Childe Harold« in Arbeit. Diese Verse, die er uns nach und nach zu Gehör brachte, schienen uns ein Ausfluß all der uns umgebenden Naturschönheit, verklärt durch den Glanz und den Wohllaut seiner Kunst.

Ein feuchter, unfreundlicher Sommer fesselte uns viel ans Haus. Da fielen uns gelegentlich einige Bände deutscher Gespenstergeschichten in die Hände.

»Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben,« schlug da Lord Byron vor, und alle stimmten wir diesem Vorschlage bei. Wir waren unser Drei. Der Urheber des Gedankens begann eine Geschichte, von der er ein Fragment am Schlusse seines »Mazeppa« verwendete. Shelley, der es besser verstand, Gedanken und Gefühle in die schönsten, glänzendsten Verse zu bringen, die unsere Sprache kennt, als eine Geschichte zu erfinden, erzählte ein Jugenderlebnis.

Ich selbst gab mir Mühe, eine Geschichte zu erdenken, die es mit den von uns gelesenen aufnehmen könne. Eine Geschichte, die das tiefste Entsetzen im Leser hervorrufen, das Blut stocken und das Herz heftiger klopfen lassen sollte.

Oft und lange diskutierten Lord Byron und Shelley, während ich als bescheidene aber aufmerksame Zuhörerin dabei saß. Eine der philosophischen Hauptfragen, die diskutiert wurden, war die nach dem Ursprünge des Lebens und ob es je möglich sei, ihm auf den Grund zu kommen. Man besprach die Experimente Darwins. Es handelt sich für mich nicht darum, daß der Gelehrte diese Experimente wirklich vornahm, sondern um das, was darüber gesprochen wurde. Darwin hatte in einer Glasdose ein Stückchen Maccaroni aufbewahrt, das dann aus irgend welchen Ursachen willkürliche Bewegungen zu machen schien. Jedenfalls glaubte ich nicht, daß auf diesem Wege Leben erzeugt werden könne. Aber vielleicht wäre es denkbar, einen Leichnam wieder zu beleben, was ja auf galvanischem Wege bereits geschehen ist, oder die Bestandteile eines Lebewesens zusammenzufügen und ihm lebendigen Odem einzuhauchen.

Unter diesen Gesprächen wurde es tiefe Nacht. Als ich mein Haupt auf die Kissen bettete, konnte ich nicht einschlafen; ein halbschlummerndes Nachsinnen bemächtigte sich meiner. Phantastische Bilder tauchten ungebeten vor mir auf und erreichten einen selten hohen Grad von Lebendigkeit. Ich sah mit geschlossenen Augen den bleichen Jünger der schrecklichen Wissenschaft vor dem Dinge knieen, das er geschaffen. Ich sah das schreckliche Zerrbild eines Menschen ausgestreckt daliegen und dann sich plump, maschinenmäßig regen. Furchtbar müßte es auf den Menschen wirken, wenn es ihm gelänge, den Schöpfer in seinem wunderbaren Wirken nachzuahmen. Der Erfolg müßte den Künstler aufs tiefste erschrecken, so daß er entsetzt der Stätte seiner Arbeit entflieht. Er müßte hoffen, daß der schwache Lebensfunke, den er entzündet, sich selbst überlassen, wieder erlösche; daß das Ding, dem er eine Art Leben eingehaucht, wieder in die Materie zurücksinke; und er müßte einschlafen in dem Gedanken, daß das Grab sich wieder schlösse über dem häßlichen Leibe, den er als Triumph des Lebens bisher betrachtet hatte. Er schläft, aber nicht tief; er öffnet plötzlich die Augen – an seinem Bette steht das Ungeheuer, hält die Vorhänge auseinander und starrt auf ihn mit seinen gelben, wässerigen, aber aufmerksamen Augen.

Auch ich öffnete erschreckt die Lider. Die Idee hatte mich derart gefangen genommen, daß es mich eiskalt überlief und ich vergebens mich bemühte, das gespenstische Bild meiner Phantasie wieder mit der Wirklichkeit zu vertauschen. Ich erinnere mich noch heute ganz genau an das dunkle Zimmer mit seiner Täfelung, auf der sich durch die geschlossenen Gardinen fahl das Licht des Mondes spiegelte. Ich wußte, daß draußen spiegelglatt der See lag und die Alpen ihre Häupter starr zum Himmel erhoben; aber trotzdem konnte ich meines Phantasiegebildes nicht ledig werden. Ich mußte versuchen an Anderes zu denken. Da fiel mir meine Gespenstergeschichte ein, meine unglückselige Gespenstergeschichte! Oh könnte ich doch eine erfinden, die meine Leser ebenso erschüttern würde wie mich das Gesicht jener Nacht!

Wie ein Licht flammte es in mir auf. Ich habe sie! Was mich erschreckte, soll auch andere erschrecken. Ich habe nur den unheimlichen Halbtraum jener Nacht zu beschreiben.

Anfangs dachte ich daran, nur eine kurze Erzählung zu schreiben. Aber dann fesselte die Idee mich so stark, daß ich sie weiter ausgesponnen habe. Und nun, du unheimliches Kind meiner Muse, gehe hinaus und wirb dir Freunde!

London, 15. Oktober 1831.

M. W. S.

1. Brief

An Frau Saville, London

St. Petersburg, den 11. Dez. 18..

Es wird Dir Freude bereiten, zu hören, daß kein Mißgeschick den Anfang des Unternehmens betroffen hat, dessen Vorbereitungen Du mit solch trüben Ahnungen verfolgtest. Ich bin gestern hier angekommen, und das Erste, was ich tue, ist, meiner lieben Schwester mitzuteilen, daß ich mich wohl befinde und daß ich mit immer wachsenden Hoffnungen dem Fortgang meines Unternehmens entgegensehe.

Ich bin ein gut Stück weiter nördlich als London, und wenn ich so durch die Straßen Petersburgs schlendere, pfeift mir ein eisiger Wind um die Wangen, der meine Nerven erfrischt und mich mit Behagen erfüllt. Begreifst Du dieses Gefühl? Dieser Wind, der aus den Gegenden herbraust, denen ich entgegenreise, gibt mir einen Vorgeschmack jener frostigen Klimate. Dieser Wind trägt mir auf seinen Flügeln Verheißungen zu und meine Phantasien werden lebhafter und glühender. Ich versuche vergebens, mir klar zu machen, daß der Pol eine Eiswüste sein muß; immer stelle ich ihn mir als eine Stätte der Schönheit und des Entzückens vor. Dort, Margarete, geht die Sonne nicht unter; ihre mächtige Scheibe streift am Horizont und verbreitet ein mildes Licht. Was dürfen wir erwarten von diesem Lande der ewigen Sonne? Vielleicht entdecke ich dort den Sitz jener geheimnisvollen Kraft, die der Magnetnadel ihre Richtung verleiht, und bin imstande, die Unrichtigkeit so mancher astronomischen Beobachtung und Hypothese zu beweisen. Meine brennende Neugierde will ich mit dem Anblick von Ländern befriedigen, die nie eines Menschen Auge noch sah, Erde werde ich betreten, die nie vorher eines Menschen Fuß betrat. All das erscheint mir so verlockend, daß ich Not und Tod nicht fürchte und die mühselige Reise mit den freudigen Gefühlen eines Kindes antreten werde, das mit seinen Gespielen das erste Mal ein Boot besteigt, um den benachbarten Fluß zu befahren. Und selbst wenn alle meine Vermutungen mich täuschen sollten, werde ich wenigstens darin ein erhabenes Ziel finden, eine Passage nahe dem Pole zu jenen Ländern zu entdecken, deren Erreichung heute noch Monate in Anspruch nimmt, oder dem Geheimnis des Magnetismus näher zu kommen, was ja doch nur durch eine Reise geschehen kann, wie ich sie unternehmen will.

Diese Betrachtungen haben die ganze Rührung verfliegen lassen, die sich meiner bei Beginn dieses Briefes bemächtigt hatte, und ich glühe vor himmelstürmendem Enthusiasmus. Nichts vermag der Seele so sehr das Gleichmaß zu verleihen als eine ernste Absicht, ein fester Punkt, auf den sich das geistige Auge richten kann. Diese Expedition war schon ein Wunsch meiner frühen Jugendjahre. Ich habe mit heißem Kopfe die mannigfachen Beschreibungen der Reisen gelesen, die die Entdeckung einer Passage durch die den Pol umgebenden Meere nach dem nördlichen Teile des Stillen Ozeans bezweckten. Du erinnerst Dich vielleicht, daß solche Reisebeschreibungen den Hauptbestandteil der Bibliothek unseres guten Onkels Thomas bildeten. Jene Werke waren mein Studium, dem ich Tage und Nächte widmete, und je mehr ich mich mit ihnen befreundete, desto tiefer bedauerte ich es, daß mein Vater auf dem Sterbebett meinem Onkel das Versprechen abgenommen hatte, mich nicht Seemann werden zu lassen.

Sechs Jahre sind es nun, daß ich den Plan zu meinem jetzigen Unternehmen faßte. Ich erinnere mich noch, als sei es gestern gewesen, der Stunde, in der ich mich der großen Aufgabe widmete. Ich begann damit, meinen Körper zu stählen. Ich nahm an den Fahrten mehrerer Walfischfänger in die Nordsee teil; ich ertrug freiwillig Kälte, Hunger und Durst und versagte mir den Schlaf; ich arbeitete zuweilen härter als der letzte Matrose und widmete dann meine Nächte dem Studium der Mathematik, der Medizin und jenen physikalischen Disziplinen, von denen der Seefahrer Nutzen erwarten darf. Zweimal ließ ich mich als gemeiner Matrose auf einem Grönlandfahrer anwerben und entledigte mich erstaunlich gut meiner selbstgewählten Aufgabe. Ich muß gestehen, ich empfand einen gewissen Stolz, als mir der Kapitän die Stelle eines ersten Offiziers auf seinem Schiffe anbot und mich allen Ernstes beschwor, zu bleiben. So hoch hatte er meine Dienste schätzen gelernt.

Habe ich es also nicht verdient, liebe Margarete, eine große Aufgabe zu erfüllen? Ich könnte ein Leben voll Reichtum und Luxus führen, aber ich habe den Ruhm den Annehmlichkeiten vorgezogen. O möchte mir doch eine ermunternde Stimme sagen, was ich zu erwarten habe! Mein Mut ist groß und mein Entschluß steht fest; aber mein Selbstvertrauen hat oft gegen tiefste Entmutigung anzukämpfen. Ich habe eine lange, schwierige Reise vor mir, deren Anforderungen meine ganze Kraft beanspruchen, und ich soll ja nicht nur mir selbst den Mut erhalten, sondern auch noch den anderer anfeuern.

Gegenwärtig haben wir die für das Reisen in Rußland vorteilhafteste Jahreszeit. In Schlitten fliegt man pfeilschnell über den Schnee. Die Kälte ist nicht lästig, wenn man sich genügend in Pelze gehüllt hat, und das habe ich mir schon angewöhnt. Denn es ist ein bedeutender Unterschied, ob Du an Deck spazieren gehst oder stundenlang unbeweglich auf einen Sitz gebannt bist, so daß Dir das Blut tatsächlich in den Adern erstarrt. Ich habe absolut nicht den Wunsch, auf der Poststraße zwischen Petersburg und Archangel zu erfrieren.

Dorthin will ich in vierzehn Tagen oder drei Wochen abreisen. Ich beabsichtige, dort ein Schiff zu mieten und unter den an die Walfischfängerei gewöhnten Leuten die nötige Anzahl von Matrosen anzuwerben. Ich werde kaum vor Juni abfahren können. Aber wann werde ich zurückkehren? Wie könnte ich wohl diese Frage beantworten, liebste Schwester? Wenn ich Erfolg habe, können viele, viele Monate, vielleicht Jahre vergehen, ehe wir uns wiedersehen. Wenn es mißlingt, sehen wir uns vielleicht eher wieder oder nie mehr.

Leb wohl, Margarete. Der Himmel schenke Dir seinen reichen Segen und schütze mich, daß es mir auch fernerhin vergönnt sei, Dir meine Dankbarkeit für all Deine Liebe und Güte zu beweisen.

Stets Dein treuer Bruder
R. Walton.