21. Kapitel

Man führte mich vor den Bürgermeister, einen alten, wohlwollenden Mann, dem Ruhe und Milde auf dem Gesicht geschrieben standen. Er sah mich zuerst streng an und fragte dann, wer sich als Zeuge in der Angelegenheit melden wolle.

Etwa ein Dutzend Männer traten vor. Der Bürgermeister befahl einem von ihnen, zu beginnen. Er erzählte, daß er in der vergangenen Nacht mit seinem Sohne und seinem Schwager Daniel Nugent etwa um zehn Uhr vor einer drohenden Nordbrise Schutz im Hafen gesucht habe. Es sei sehr dunkel gewesen, da der Mond noch nicht am Himmel stand. Sie seien nicht im Hafen selbst an Land gegangen, sondern, wie es ihre Gewohnheit war, in einer kleinen Bucht etwa zwei Meilen davon entfernt. Sie seien dann mit den Fischereigeräten ausgestiegen und am Strande entlang gegangen. Plötzlich sei er mit dem Fuße an etwas angestoßen und der Länge nach in den Sand gefallen. Seine Begleiter wären dann mit den Laternen herbeigeeilt, um ihm zu helfen. Bei näherem Zusehen hätten sie dann entdeckt, daß ein Leichnam am Boden lag. Sie hätten zuerst vermutet, daß es ein Ertrunkener sei, den das Meer hier angeschwemmt; aber nach einer kurzen Untersuchung hätten sie festgestellt, daß die Kleider des Mannes gar nicht naß und der Körper noch warm sei. Sie hätten ihn dann in die nahe gelegene Hütte einer alten Frau getragen und dort, allerdings vergebens, versucht, ihn ins Leben zurückzurufen. Der Tote sei ein hübscher Mann von etwa 25 Jahren gewesen. Er sei offenbar erwürgt worden, denn außer schwarzen Fingereindrücken am Halse habe er kein Zeichen einer geschehenen Gewalttat finden können.

Der erste Teil der Darstellung interessierte mich keineswegs; als aber der Fingereindrücke Erwähnung getan wurde, dachte ich an die Ermordung meines Bruders und wurde außerordentlich erregt. Meine Kniee schwankten und vor den Augen wurde mir schwarz, so daß ich mich an einem Stuhle festhalten mußte. Der Bürgermeister beobachtete mich sehr scharf und zog jedenfalls ungünstige Schlüsse aus meinem Verhalten.

Der Sohn des Fischers bestätigte die Aussage des Alten. Als David Nugent aufgerufen ward, fügte er hinzu, daß er beschwören könne, gerade ehe sein Schwager zu Boden fiel, ein einzelnes Boot, nur mit einem Mann besetzt, nahe der Küste gesehen zu haben. Das karge Licht hätte ja die Gegenstände nicht genau erkennen lassen, aber er müsse sich sehr täuschen, wenn es nicht das gleiche Boot gewesen sei, mit dem ich vor kurzem angekommen war.

Eine Frau, die in der Nähe der Küste wohnte, gab an, daß sie etwa eine Stunde, ehe sie von der Auffindung des Leichnams hörte, unter der Tür ihres Hauses gestanden sei, um nach den Fischern Ausschau zu halten, und daß sie ein Boot mit nur einem Mann Besatzung von dem gleichen Punkt der Küste hätte abstoßen sehen, wo man später den Toten fand.

Eine andere Frau bestätigte die Angabe der Fischer, daß der Körper, den man ihr ins Haus gebracht, noch nicht kalt gewesen sei. Sie hätten ihn in ein Bett gelegt und abgerieben, und Daniel sei nach der Stadt zu einem Arzt gelaufen. Aber es sei zu spät gewesen.

Einige Leute wurden wegen meiner Landung vernommen. Sie sagten übereinstimmend aus, daß der heftige Nordwind mich recht gut wieder an die Stelle hätte zurücktreiben können, von wo ich in See gestochen sei. Außerdem gaben sie an, sie hätten den Eindruck gehabt, als sei der Leichnam von einer anderen Stelle aus herbeigebracht worden, und daß ich wahrscheinlich, weil ich die Küste nicht kannte, keine Ahnung hatte, daß die Stadt so nahe am Tatort liege, und deshalb unbedenklich im Hafen gelandet sei.

Nachdem Kirwin das Verhör beendet hatte, ordnete er an, daß ich in den Raum geführt würde, wo der Leichnam aufgebahrt lag, um zu sehen, welchen Eindruck dieser Anblick auf mich machen würde. Wahrscheinlich war er auf diese Idee gekommen, weil er bemerkt hatte, wie sehr mich die Schilderung der Ereignisse angriff. Ich konnte nicht umhin zu fühlen, daß sich die Beweiskette mühelos schließen ließ. Aber da ich ja an dem Abend, an dem man die Leiche gefunden hatte, noch mit mehreren Bewohnern meiner Insel gesprochen hatte, konnte ich verhältnismäßig ruhig den Ereignissen ins Auge sehen.

Ich trat in das Zimmer, wo der Tote lag, und begab mich an den Sarg. Wie könnte ich die Gefühle schildern, die mich da ergriffen? Noch heute denke ich mit Entsetzen und Verzweiflung an diesen Augenblick. Das Verhör, die Anwesenheit des Bürgermeisters und der Zeugen war mir wie ein Traum, als ich da vor mir den leblosen Körper Clervals liegen sah. Ich rang nach Atem und warf mich schluchzend über den Leichnam. »Hat mein Wahnwitz nun auch dir das Leben gekostet, mein liebster Henry? Zwei fielen dem Würger schon zum Opfer und der anderen wartet noch ihr grauenhaftes Schicksal; aber du, mein Freund, mein Wohltäter …«

Ich konnte das Leid nicht mehr ertragen und brach zusammen.

Ein heftiges Fieber war die Folge dieser tiefen Erregung. Zwei Monate lag ich zwischen Leben und Tod, und meine Fieberrasereien waren, wie man mir nachher erzählte, schrecklich. Ich beschuldigte mich selbst, Wilhelm und Justine und Clerval hingemordet zu haben. Ich flehte meine Wärter an, mir bei der Vernichtung des Dämons, der mich verfolgte, behülflich zu sein. Dann fühlte ich wieder den harten Griff des Ungeheuers an meinem Halse und brüllte in wahnsinniger Todesangst. Herr Kirwin war der einzige, der meine Muttersprache und damit auch das verstand, was ich in meinen Fieberphantasien sprach; die anderen mochten schon an meinen Krämpfen und meinem Geschrei genug haben.

Warum konnte ich nicht sterben? Elender als ich war nie ein Menschenkind gewesen. Warum ward mir nicht Vergessenheit und Ruhe zuteil? Welche ungeheure Widerstandskraft mußte ich haben, um all das ertragen zu können, mit dem mich das Schicksal bedachte?

Aber ich war verdammt weiterzuleben und zwei Monate später erwachte ich zum Bewußtsein. Ich fand mich auf einem schlechten Bett liegend; das Fenster war stark vergittert, die Türen doppelt und dreifach verriegelt und um mich brütete das trostlose Halbdunkel einer Kerkerzelle. Es war Morgen, wenn ich mich recht erinnere. Ich hatte all die traurigen Ereignisse vergessen; aber als ich mich umsah, kam mir alles wieder ins Gedächtnis und ich weinte bitterlich.

Das Geräusch weckte eine alte Frau, die neben meinem Bette in einem Schaukelstuhl geschlafen hatte. Es war eine Wärterin, die Frau eines der Aufseher, und ihr Gesicht wies unverkennbar die charakteristischen Züge dieser Menschenklasse auf. Es war hart und roh, wie abgestumpft von dem immerwährenden Anblick des Elendes. In gleichgültigem Tone sprach sie mich auf englisch an, und mir war, als hätte ich diese Stimme während meiner Krankheit schon öfter gehört.

»Sind Sie wieder gesund, Herr?«

Ich antwortete mit schwacher Stimme: »Ich glaube, ich bin es. Aber wenn das, was mich umgibt, Wirklichkeit ist und kein böser Traum, dann wäre es mir bei Gott lieber, ich wäre nicht mehr zum Dasein erwacht.«

»Allerdings,« sagte die Alte, »glaube ich auch, daß es besser wäre, Sie wären abgefahren; denn es wird Ihnen nicht gut gehen. Aber das geht mich ja nichts an. Ich bin als Pflegerin Ihnen zugewiesen und habe mein Möglichstes für Sie getan. Ich habe ein gutes Gewissen. Wenn nur Jeder ein solches hätte.«

Ich wandte mich empört von der Frau ab, die mit einem kaum dem Tode entronnenen Menschen so herzlos sprechen konnte. Ich fühlte mich schwach und niedergeschlagen und konnte mich nicht aufraffen, über das Geschehene nachzudenken. Mein ganzes Leben war wie mit einem Schleier bedeckt, so daß ich nicht glauben konnte, es sei Wirklichkeit.

Als ich dann imstande war, mir Rechenschaft abzulegen, wurde ich unruhig. Die Dunkelheit bedrückte mich. Niemand war da, der mir die Hand gedrückt oder ein liebevolles Wort mit mir gesprochen hätte. Der Arzt kam und verschrieb mir etwas, das die Wärterin zubereitete. Jener trug die äußerste Gleichgültigkeit gegen mich zur Schau, während das brutale Gesicht der letzteren Verachtung zum Ausdruck brachte. Wer konnte auch ein Interesse am Leben eines Mörders haben als der Henker, der seines Lohnes nicht verlustig gehen wollte?

Das waren meine Gedanken. Aber bald bemerkte ich, daß Herr Kirwin wirklich gütig, fast väterlich für mich gesorgt hatte. Er hatte den besten Raum im ganzen Gefängnis – er war ja auch noch armselig genug – für mich herrichten lassen und mich in die Obhut eines Arztes und einer Wärterin gegeben. Er kam allerdings selten zu mir; denn wenn es auch sein Bestreben war, die Leiden der Menschen zu lindern, so scheute er sich doch, den Rasereien eines wahnsinnigen Mörders zuzuhören. Er sah ja oft nach, ob ich nicht vernachlässigt würde; aber mich selbst besuchte er nur kurz und in langen Zwischenräumen.

Es war unterdessen etwas besser mit mir geworden. Ich saß in einem Lehnstuhl, die Augen halb geschlossen und mit totenfarbenem Gesicht. Tiefste Niedergeschlagenheit hatte sich meiner bemächtigt und ich überlegte mir öfter, ob es nicht besser sei, den Tod zu suchen, als sich an ein Leben anzuklammern, das mir doch nur mehr unermeßliches Leid zu geben hatte. Ich hatte weiter nichts zu tun, als mich schuldig zu bekennen, um, unschuldiger noch als damals Justine, dem Gesetz zu verfallen. Das waren meine Gedanken, als sich die Türe meiner Zelle öffnete und Herr Kirwin eintrat. Sein Gesicht drückte Mitleid und Güte aus. Er zog einen Stuhl neben den meinen und begann auf Französisch:

»Ich glaube, Ihr Aufenthalt schadet Ihnen. Kann ich etwas für Ihre Bequemlichkeit tun?«

»Ich danke Ihnen. Aber es hat ja doch keinen Zweck für mich, wie sollte ich mich auf Erden je noch wohl fühlen können?«

»Ich weiß, daß das Mitleid eines anderen Ihnen nur wenig Erleichterung bringen kann, nachdem Sie ein seltsames Geschick so tief niedergebeugt hat. Aber ich hoffe, daß Ihr Gemüt bald wieder froher sein wird, denn es liegen unzweideutige Anzeichen vor, daß Sie von der Schuld freigesprochen werden müssen.«

»Das ist meine geringste Sorge! Ich bin einmal durch eine Reihe ungewöhnlicher, schrecklicher Ereignisse zum elendesten Menschen geworden. Wem das Leben so mitgespielt, dem kann der Tod nichts Fürchterliches mehr bedeuten.«

»Ich gebe zu, daß es nichts Schlimmeres geben kann als dieses seltsame Zusammentreffen von allerlei Umständen, die Sie aufregen und betrüben mußten. Erst trägt Sie ein merkwürdiger Zufall an eine Küste, deren Bewohner sonst weit und breit wegen ihrer Gastfreundlichkeit bekannt sind; man ergreift Sie und legt Ihnen einen Mord zur Last. Der erste Anblick, der sich Ihnen bietet, ist der Leichnam Ihres Freundes, der in so unbegreiflicher Weise ermordet wurde und den eine unbekannte Hand gerade dahingelegt haben muß, wo Sie landeten.«

Bei all der Erregung, die ich empfand, als mir Herr Kirwin nochmals das Geschehene aufführte, fiel es mir doch auf, daß er so genau über mich informiert war. Er mochte mir diesen Gedanken vielleicht vom Gesicht abgelesen haben, denn er fügte eilig hinzu:

»Kurz nachdem Sie erkrankt waren, brachte man mir Ihre Papiere. Ich suchte darin nach Angaben über Ihre Familie, damit ich diese von Ihrem Mißgeschick und Ihrer Erkrankung benachrichtigen könnte. Ich fand auch einige Briefe, aus deren Anrede ich entnahm, daß sie von Ihrem Vater geschrieben waren. Ich schrieb sofort nach Genf – es sind nun fast zwei Monate. Aber Sie sind noch krank und zittern; ich darf Ihnen also keine Aufregung bereiten.«

»Die Ungewißheit ist viel schlimmer als die grausamste Wirklichkeit. Erzählen Sie mir, wer ermordet wurde, wessen Tod ich nun zu beweinen habe.«

»Ihre ganze Familie ist wohlauf,« sagte Herr Kirwin gütig, »und es ist jemand da, Sie zu besuchen.«

Ich weiß nicht wie es kam, aber ich glaubte, daß mein Dämon da sei, um sich über mein Unglück zu freuen und mir Clervals Tod vorzuhalten; vielleicht in der Hoffnung, daß ich seinen satanischem Wünschen nun entsprechen werde. Ich legte deshalb die Hand vor die Augen und schrie in furchtbarer Todesangst:

»O schaffen Sie ihn fort! Ich kann ihn nicht sehen; um Gottes willen lassen Sie ihn nicht herein!«

Herr Kirwin sah mich bekümmert an. Er schien diesen Gefühlsausbruch für einen Beweis meiner Schuld zu halten und sagte in ernstem Tone:

»Ich hätte gedacht, junger Mann, daß Ihnen Ihr Vater sehr willkommen sein müßte; Sie aber weigern sich so heftig, ihn zu sehen?«

»Mein Vater?« rief ich, indem sich meine Angst in hohe Freude verwandelte. »Wirklich, mein Vater? Wie gut von ihm, daß er kommt. Aber wo ist er, warum läßt man ihn nicht ein?«

Der Bürgermeister wurde nun wieder freundlicher und erhob sich, indem er der Wärterin einen Wink gab, die Zelle zu verlassen. Während sie beide hinausgingen, trat mein Vater ein.

Wie glücklich war ich, das alte, liebe Gesicht zu sehen! Ich streckte meinem Vater die Hand entgegen und sagte:

»Also bist du gesund? Und wie geht es Elisabeth? Wie geht es Ernst?«

Die Antwort meines Vaters beruhigte mich und ein schwacher Schimmer von Freude zog in mein gequältes Herz. »Wo muß ich dich antreffen, mein armes Kind!« sagte mein Vater, indem er traurig auf das vergitterte Fenster und die armselige Einrichtung blickte. »Du hast uns verlassen, um dein Glück zu suchen, aber es scheint kein Glücksstern über dir zu leuchten. Und der arme Clerval!«

Schwach, wie ich noch war, wurde ich vom Schmerz überwältigt, als ich diesen Namen hörte, und aus meinen Augen floß ein heißer Tränenstrom.

»Es ist leider wahr, lieber Vater,« entgegnete ich, »daß ein Unstern über mir schwebt, und ich scheine für ein ganz besonderes Schicksal bestimmt zu sein, sonst wäre ich am Sarge Henrys sicherlich gestorben.«

Allzulange war es uns nicht vergönnt beisammen zu bleiben, denn meine noch sehr schwache Gesundheit gebot äußerste Vorsicht. Herr Kirwin trat ein und riet mir, mich nicht allzusehr anzustrengen. Aber mein Vater war mein guter Engel gewesen und seiner Anwesenheit hatte ich meine Genesung zu verdanken.

Wenn auch meine Krankheit gewichen war, so konnte ich doch einer tiefen Melancholie nicht Herr werden. Ich sah immer noch Clerval vor mir, tot und bleich. Oftmals erregte mich die Erinnerung so stark, daß meine Freunde einen Rückfall befürchteten. Warum auch sorgten sie so für mein zerstörtes, elendes Dasein? Sicherlich nur deswegen, daß ich meinem Schicksal nicht entgehen konnte, das sich nun seiner Erfüllung näherte. Bald, sehr bald wird der Tod kommen und mich von der Qual befreien, die mich zu Boden drückt. Damals war die Aussicht zu sterben sehr gering, und oft sehnte ich mich nach einem elementaren Ereignis, das mich und meinen Feind zu Staub zermalmte.

Unterdessen kam der Tag der Verhandlung näher. Ich war schon drei Monate im Gefängnis, und wenn ich mich auch vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnte, so mußte ich doch eine Reise von nahezu hundert Meilen unternehmen, um die Hauptstadt der Grafschaft zu erreichen, wo der Gerichtshof tagte. Herr Kirwin hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, Entlastungszeugen für mich beizubringen und mir einen tüchtigen Verteidiger zu besorgen. Allerdings blieb es mir erspart, als Angeklagter vor dem Gericht zu erscheinen, das über Leben und Tod entschied. Die vorsitzenden Richter hatten die Anklage fallen lassen, da erwiesen war, daß ich zu der Zeit, als der Leichnam meines Freundes gefunden ward, mich auf einer der Orkneyinseln aufhielt. Vierzehn Tage später war ich frei.

Mein Vater war überglücklich, daß ich den Qualen eines Verhörs entgangen war, daß ich wieder frische Luft atmen und bald in mein Heimatland zurückkehren durfte. Ich konnte mich nicht in gleichem Maße freuen, denn in meinem Gemütszustande war mir das Leben verhaßt, ob mich die Mauern eines Gefängnisses oder eines Palastes umgaben. Mein Dasein war auf ewig vergiftet; und wenn mir auch die Sonne leuchtete, wie all den frohen, glücklichen Menschen um mich her, so umgab mich doch ein undurchdringliches Dunkel, durch das mir zwei Augen entgegenstarrten. Einmal waren es Henrys ausdrucksvolle Augen mit den langen, dunklen Wimpern, die im Tode gebrochen waren, ein andermal meinte ich die wässerigen Augen meines bösen Dämons zu erkennen.

Mein Vater suchte mich auf jede Weise zu zerstreuen. Er erzählte mir von Genf, das ich nun bald wiedersehen sollte, von Elisabeth und von Ernst. Aber meine einzige Antwort waren tiefe, bange Seufzer. Zuweilen empfand ich wieder etwas wie Sehnsucht nach Glück und dachte in schmerzlicher Freude an meine Geliebte; oder ich verlangte in furchtbarem Heimweh den blauen See und den reißenden Rhon wiederzusehen, die mir von meiner Kinderzeit her lieb und vertraut waren. Meistens aber befand ich mich in einem Zustande starrer Gleichgültigkeit, der nur selten mit Ausbrüchen wilder Verzweiflung abwechselte. Oftmals faßte ich in solchen Augenblicken den Entschluß, meinem verhaßten Dasein ein Ende zu machen, und es bedurfte fortgesetzter Überwachung, um mich von dem letzten Schritt abzuhalten.

Nur das Bewußtsein einer Pflicht hielt mich schließlich davon ab, in meinem Egoismus den Qualen mich zu entziehen. Ich mußte unverweilt nach Genf zurückkehren, um über das Leben derer zu wachen, die mir lieber waren als alles auf der Welt. Ich mußte dem Mörder auflauern, denn ich wollte unbedingt das häßliche Gebilde, dem ich eine noch häßlichere Seele eingehaucht, zerstören, wenn es mir gelang, seinen Aufenthalt ausfindig zu machen oder wenn es wagte, mir noch einmal gegenüber zu treten. Mein Vater allerdings wünschte mit der Abreise noch zu warten, weil er fürchtete, daß ich den Anstrengungen der Reise nicht gewachsen sei. Denn ich war tatsächlich ein Wrack, nur ein Schatten meiner selbst, ein Skelett. Und heftige Fieber rüttelten immer wieder an meinem schwachen Körper.

Da ich aber so sehr drängte, Irland zu verlassen, hielt es mein Vater schließlich doch für das beste, nachzugeben. Wir machten die Reise an Bord eines Seglers, der nach Havre gehen sollte, und gingen vor einer frischen Brise in See, fort von der irischen Küste. Es war Mitternacht. Ich lag auf Deck, sah in die Sterne über mir und lauschte dem Plätschern der Wellen an den Schiffsplanken. Ich war froh, daß das Dunkel bald die Gestade Irlands meinen Blicken entzog, und mein Herz pochte stürmisch, wenn ich daran dachte, daß die Heimat vor mir lag. Das Vergangene erschien mir dann wie ein düsterer Traum; aber das Schiff, auf dem ich mich befand, der Wind, der von dem verwünschten Irland her wehte, die Wasser rings um mich erzählten mir mit zwingender Sprache, daß alles Wahrheit sei, daß mein geliebter Clerval, mein treuester Freund, meiner wahnwitzigen Schöpfung und damit mir zum Opfer gefallen war. Mein ganzes Leben ließ ich in meinen Gedanken vor mir vorüberziehen: mein stilles Glück, als ich noch im Schoße meiner Familie in Genf weilte; den Tod meiner Mutter und meine Abreise nach Ingolstadt. Ich erinnerte mich mit Schrecken des übernatürlichen Eifers, der mich immer wieder anstachelte, meinen schlimmsten Feind zu schaffen, und der Nacht, in der das Ungetüm Leben gewann. Weiter vermochte ich nicht mehr zu denken, sondern ich weinte bittere Tränen.

Seit ich von meinem Fieber einigermaßen wiederhergestellt war, hatte ich mir angewöhnt, jeden Abend eine Dosis Laudanum zu mir zu nehmen, um auf diese Weise den zur Erhaltung meines Lebens nötigen Schlaf zu ermöglichen. Da ich durch die Erinnerung an das Vergangene besonders erregt war, hatte ich an jenem Abend die doppelte Dosis eingenommen und schlief einen tiefen, bleiernen Schlaf. Von meinen Gedanken und Ängsten vermochte er mich ja nicht ganz zu befreien, denn auch im Traume quälten mich alle erdenklichen Dinge. Gegen Morgen legte es sich auf mich wie ein Alb. Ich fühlte den harten Griff meines Dämons an der Kehle und hatte nicht die Kraft, mich loszumachen; Weinen und Seufzen klang in meinen Ohren. Mein Vater, der mich bewachte, hatte gemerkt, daß ich unruhig war, und weckte mich. Eintönig schlugen die Wogen an den hölzernen Leib des Schiffes; der Himmel über uns war bedeckt. Mein Dämon war nicht hier. Das Bewußtsein, daß jetzt in meinen Schicksalen eine Ruhepause eingetreten sei, gab mir ein Gefühl der Sicherheit, das ich schon lange nicht mehr kannte. Auf meine Seele senkte sich der Zustand friedlichen Vergessens hernieder, dem der Mensch ja besonders zugänglich ist.

22. Kapitel

Als wir gelandet waren, setzten wir die Reise nach Paris fort. Doch bald merkte ich, daß ich meine Kräfte doch überschätzt hatte und daß ich einige Tage Ruhe haben müßte, ehe ich imstande war weiterzufahren. Unermüdlich war mein Vater für mich besorgt; aber er wußte ja nicht, wo das Leiden herrührte, und versuchte es deshalb mit ganz ungeeigneten Heilmethoden. Er meinte, daß ich vielleicht in Gesellschaft mich zerstreuen würde, aber ich scheute die Menschen. Nicht daß ich sie verabscheut hätte, nein. Ich wußte, sie alle seien meine Brüder, und selbst für die Elendsten und Verworfensten unter ihnen hegte ich warme Liebe. Aber ich wußte, daß ich nicht wert war, unter ihnen zu weilen. Ich hatte einen Feind auf sie losgelassen, dessen Freude es war, ihr Blut zu vergießen und sich an ihren Schmerzen und Leiden zu ergötzen. Entsetzt und empört müßten sie mich alle von sich stoßen, wenn sie wüßten, welches Verbrechen ich begangen und welche Greuel ich verursacht hatte.

Mein Vater gab schließlich nach, als er sah, daß mir auf diese Weise auch nicht zu helfen war, und besann sich auf andere Mittel, um meine verzweifelte Stimmung zu vertreiben. Einmal fragte er mich, ob ich denn darunter so leide, daß man mich eines Mordes für schuldig gehalten habe, und suchte mich zu überzeugen, daß das eine übergroße Empfindlichkeit sei.

»Ach Gott, Vater,« sagte ich, »wie wenig kennst du mich doch. Die ganze Menschheit wäre nichts mehr wert, wenn ein Verruchter, wie ich, empfindlich wäre. Justine, die arme, unglückliche Justine war ebenso unschuldig wie ich und hatte dasselbe zu erleiden; und sie mußte dafür sogar auf das Blutgerüst steigen. Daran bin ich schuld! Ich habe sie so weit gebracht. Wilhelm, Justine und Henry – sie alle fielen durch meine Hand!«

Schon während meiner Gefangenschaft hatte mein Vater dieses Geständnis öfter gehört und hielt diese Selbstbeschuldigungen für eine Ausgeburt meiner immer noch kranken Phantasie. Ich vermied es, eine Erklärung zu geben, um nichts von dem Ungeheuer erwähnen zu müssen, das ich geschaffen. Man hätte mich sicher für irrsinnig erklärt, und diese Aussicht allein band mir die Zunge. Außerdem wollte ich mein Geheimnis nicht offenbaren, das die Meinen mit ewiger Angst und tiefstem Grauen erfüllen mußte. Ich unterdrückte deshalb meine Sehnsucht nach Mitgefühl und schwieg, wenn ich am meisten das Bedürfnis fühlte, das in die Welt hinauszuschreien, was mich so unglücklich machte. Manchmal konnte ich nicht widerstehen, Worte, wie die erwähnten, auszusprechen und mir dadurch etwas Erleichterung zu verschaffen; aber ich hütete mich, Erklärungen dazu zu geben.

Bei einer solchen Gelegenheit sagte mein Vater, aufs äußerste erstaunt: »Mein Junge, was sind das für Einbildungen? Ich bitte dich, lieber Viktor, sage doch so etwas nicht mehr.«

»Ich bin nicht wahnsinnig,« rief ich energisch, »der Himmel und die Sonne haben gesehen, was ich tat, und sind dessen Zeugen. Ich bin der Mörder der armen Opfer; durch meine Hand fielen sie. Tausendmal lieber hätte ich mein Blut Tropfen um Tropfen hergegeben, wenn ich damit ihr Leben hätte retten können. Aber ich konnte nicht, Vater, ich konnte nicht, wenn ich nicht das ganze menschliche Geschlecht verderben wollte.«

Mein Vater konnte sich der Überzeugung nicht verschließen, daß ich doch geistesgestört sein mußte, und wechselte rasch das Gesprächsthema, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Er versuchte die Erinnerung an die Ereignisse, die sich in Irland abgespielt hatten, in meiner Erinnerung zu verwischen, indem er selbst nie davon sprach und auch nicht erlaubte, daß ich ihrer Erwähnung tat.

Mit der Zeit aber wurde ich doch etwas ruhiger. Nicht, als ob meine Seele von dem schweren Druck befreit gewesen wäre, aber ich vermochte mich so weit zu beherrschen, daß ich nicht mehr in so leidenschaftlicher Weise von meinem Verbrechen sprach. Ich hatte schon genug darunter zu leiden, daß ich mir seiner völlig bewußt war. Mit dem Aufgebot äußerster Willenskraft unterdrückte ich die Stimme in mir, die forderte, daß ich alles der ganzen Welt verkündete, und ich war ruhiger und gefaßter als je einmal seit dem Augenblick, der mich inmitten des öden Eismeeres mit meinem Dämon zusammenführte.

Wenige Tage, ehe wir Paris verließen, um unsere Reise nach der Schweiz fortzusetzen, erhielt ich folgenden Brief von Elisabeth:

Genf, den 18. Mai 17..

Mein lieber Viktor! Mit der größten Freude erfüllte mich Deines Vaters Brief aus Paris; denn nun weiß ich, daß Du nicht mehr allzuweit entfernt bist und in weniger als vierzehn Tagen bei mir sein wirst. Mein Geliebter, was mußt Du gelitten haben! Jedenfalls siehst Du noch viel elender aus als damals, da Du Genf verließest. Ich habe einen schlechten Winter hinter mir; denn Du kannst Dir denken, daß ich in der schrecklichsten Sorge um Dich war. Aber ich hoffe wenigstens, daß jetzt Friede und Ruhe in Deinem Herzen Einkehr gehalten haben.

Allerdings befürchte ich, daß die Gefühle, die Dich schon vor einem Jahre so niederdrückten, immer noch vorhanden sind, vielleicht noch vergrößert. Ich möchte Dich nicht aufregen, da so viel Unheil auf Dir lastet. Aber eine Unterredung, die ich kurz vor Deiner Abreise mit Deinem Vater hatte, zwingt mich, Dich um eine Erklärung zu bitten, ehe wir uns wieder in die Augen sehen.

Erklärung, wirst Du sagen; was kann Elisabeth für eine Erklärung meinen? Nun, wenn Du so sagst, ist meine Frage ohnehin schon beantwortet, und meine Zweifel sind gelöst. Aber trotzdem muß auch ich Dir eine Erklärung geben, die sich nicht länger mehr hinausschieben läßt. Nur hatte ich bisher nicht den Mut dazu.

Du weißt, geliebter Viktor, daß unsere Verbindung eine Lieblingsidee Deiner Eltern war, schon als wir noch in den Kinderschuhen steckten. Wir wußten es von Anfang nicht anders und lernten es als etwas Selbstverständliches betrachten. Wir waren treue Spielkameraden und gute Freunde, als wir älter wurden, wie oft Bruder und Schwester sich innig lieb haben, ohne je an eine Vereinigung zu denken, könnte dies nicht auch zwischen uns der Fall sein? Sage mir, lieber Viktor, antworte mir, ich beschwöre Dich bei unserem Glück, offen und ehrlich – liebst Du nicht eine andere?

Du bist weit in der Welt herumgekommen, Du bist mehrere Jahre in Ingolstadt gewesen, und ich gestehe Dir, mein Freund, als ich Dich im letzten Herbst so unglücklich, so menschenscheu sah, da drängte sich mir der Gedanke auf, Du könntest unsere Verbindung doch nicht als etwas Wünschenswertes betrachten und fügtest Dich gegen Deine Meinung nur dem Willen Deines Vater. Aber ich weiß, es ist anders. Ich habe Dich ja so lieb und in meinen Träumen bist stets Du der Mittelpunkt gewesen, mein ständiger Begleiter. Da ich aber um Dein Glück ebenso besorgt bin wie um mein eigenes, erkläre ich Dir unumwunden, daß unsere Ehe mich auf ewig unglücklich machen müßte, wenn ich nicht der Überzeugung sein könnte, daß der Entschluß dazu Deinem freien Willen entsprang. Ich muß weinen, wenn ich daran denke, daß Du, nur um einer Pflicht zu genügen, aller Hoffnung auf Liebe und Glück entsagst, die Dir so bitter not tun. Ich, die ich Dich doch so uneigennützig liebe, würde mir mein Leben lang Vorwürfe machen, wenn ich mir sagen müßte, daß ich Deinen Plänen im Wege stand. Sei überzeugt, Viktor, daß Deine Freundin und Spielgenossin eine zu tiefe Liebe zu Dir im Herzen trägt, als daß sie nicht bei dieser Vorstellung leiden müßte. Sei glücklich, mein Geliebter; und wenn ich weiß, daß Du es bist, dann soll nichts auf Erden meine Ruhe mehr stören.

Dieser Brief soll Dir keine unangenehmen Verpflichtungen auferlegen. Antworte nicht, weder morgen noch in den nächsten Tagen, sondern erst, wenn Du hier bist. Über Dein Befinden hält mich Dein Vater auf dem Laufenden. Und wenn ich nur ein schwaches Lächeln um Deinen Mund sehe, wenn wir uns wieder gegenübertreten, will ich zufrieden sein,

Deine Elisabeth Lavenza.

*

Dieser Brief erweckte in mir wieder den Gedanken an die Drohung meines Dämons: »Ich werde in deiner Brautnacht bei dir sein!« Das war mein Todesurteil; in jener Nacht würde er sicherlich alle Mittel anwenden, um mich zu vernichten und mir so die Möglichkeit zu nehmen, in den Armen des Glücks wieder zu genesen. In jener Nacht also wollte er mit meiner Ermordung seinen Greueltaten die Krone aufsetzen. Nun gut, sollte es so sein! Aber ohne ein verzweifeltes Ringen sollte es nicht abgehen. Blieb er Sieger, nun, dann hatte ich Frieden für immer und seine Macht über mich war zu Ende. Würde er aber besiegt, dann war ich ein freier Mann. Allerdings was für eine Freiheit? Eine Freiheit, deren sich der Landmann erfreut, nachdem er gesehen hat, wie seine Familie hingeschlachtet, seine Hütte verbrannt, seine Felder verwüstet werden, und dann heimatlos, verarmt und allein, aber frei seines Weges zieht. Solcher Art würde dann meine Freiheit sein, nur daß ich an Elisabeth noch einen Schatz besaß, dessen Wert vielleicht in all den Gewissensbissen, in all dem Schuldbewußtsein, das mich bis zu meinem Ende bedrückte, gar nicht zur Geltung kam.

Süße, heißgeliebte Elisabeth! Ich las ihren Brief, und las ihn immer wieder, und einige sanftere, frohere Gefühle schlichen sich in mein verarmtes Herz und gaukelten mir paradiesische Träume von Glück und Liebe vor. Aber der Apfel war bereits gegessen und der Engel stand mit dem flammenden Schwert vor der Pforte. Gern hätte ich mein Leben hingegeben, um sie glücklich zu machen. Wenn der Dämon seine Drohung ausführte, so bedeutete das für mich, menschlichem Ermessen nach, den Tod, und meine Verheiratung mußte also die Erfüllung meines Schicksals beschleunigen. Meine Vernichtung mochte meinetwegen ein paar Monate früher kommen; denn wenn mein Peiniger merkte, daß ich, erschreckt durch seine Drohungen, meine Hochzeit hinausschob, fand er sicher bis dahin andere Mittel, um sich an mir zu rächen, viel grausamere vielleicht noch. Er hatte mir geschworen, in meiner Brautnacht bei mir zu sein, aber das verpflichtete ihn keineswegs, bis dahin sich untätig zu verhalten. Denn vielleicht um mir zu zeigen, daß sein Blutdurst noch lange nicht gesättigt sei, hatte er kurze Zeit, nachdem er die Drohung ausgestoßen, meinen Freund Clerval erwürgt. Ich war also fest entschlossen, daß die Anschläge meines Feindes auf mein Leben meine Vereinigung mit Elisabeth keine Stunde lang aufhalten durften, wenn diese oder mein Vater sie wünschten.

In dieser Verfassung schrieb ich an Elisabeth. Mein Brief war ruhig und liebevoll. »Ich fürchte, meine Geliebte,« schrieb ich, »daß für uns nur wenig Glück mehr auf Erden blüht. Dennoch aber ist all mein Sehnen und Hoffen auf Dich gerichtet. Deine Befürchtungen sind grundlos. Du allein bist es, die mein Leben heiligt und meine Hoffnung auf Frieden zu erfüllen vermag. Ich habe ein Geheimnis, Elisabeth, ein entsetzliches Geheimnis! Wenn ich es Dir anvertrauen dürfte, es würde Dich eiskalt überlaufen, und, statt über mein Elend überrascht zu sein, Dich nur wundern, daß ich das alles ertragen habe. An unserem Hochzeitsmorgen will ich Dir das Geheimnis anvertrauen, denn es soll vollkommene Klarheit zwischen uns herrschen. Und bis dahin, Geliebte, bitte ich Dich, weder darüber zu sprechen, noch auch irgend eine Andeutung zu machen. Darum bitte ich Dich ernstlich, und ich weiß, daß ich Dich nicht vergebens gebeten habe.

Eine Woche, nachdem Elisabeths Brief mich erreicht hatte, kamen wir in Genf an. Das teuere Mädchen begrüßte mich mit heißer Freude. Aber Tränen standen in ihren Augen, als sie meine abgemagerten Hände drückte und mich auf die fieberheißen Wangen küßte. Auch sie war etwas verändert. Sie war schmaler geworden und hatte viel von der Lebhaftigkeit eingebüßt, die ihr vordem so gut gestanden hatte. Aber ihre Milde und ihr sanftes Mitleid machten sie zu einer geeigneten Genossin für einen Mann, der elend und gebrochen ist.

Die Ruhe, deren ich damals genoß, war nicht von langer Dauer. Die Erinnerungen tauchten wieder in aller Frische auf und machten mich fast wahnsinnig. Manchmal raste ich, manchmal war ich still und nachdenklich. Ich sprach mit niemand und sah auch niemand an, sondern saß regungslos in einer Ecke, erdrückt von den Qualen, die auf mich einstürmten.

Nur Elisabeth vermochte mich einigermaßen aufzuheitern. Ihre sanfte Stimme milderte meine Rasereien und flößte mir Lebensmut ein, wenn ich in trostloses Grübeln verfiel. Sie weinte mit mir und um mich. Wenn ich dann wieder vernünftig geworden war, bemühte sie sich, mir Mut zu machen. Ja, dem Unglücklichen kann man wohl Mut zusprechen, aber nicht dem Schuldigen.

Bald nach unserer Heimkehr sprach mein Vater mit mir über die bevorstehende Hochzeit. Ich verhielt mich schweigend.

»Du hast also keine andere Verpflichtung?«

»Keine! Ich liebe Elisabeth und sehe unserer Vereinigung mit Freuden entgegen. Bestimme den Tag, und dieser Tag soll es sein, an dem ich mich für Leben und Tod dem Glück der Geliebten weihe!«

»Lieber Viktor, so darfst du nicht sprechen! Wir haben sehr viel Schweres zu tragen gehabt, das ist wahr; aber wir wollen fest zusammenhalten, wir, die noch übrig geblieben sind, und unseren Lebenden die Liebe schenken, die wir für die Toten hatten. Unser Kreis wird nur mehr ein kleiner sein, aber die Gefühle treuer Liebe und das gemeinsam erlebte Mißgeschick wird uns unlöslich aneinander ketten. Und bis die Zeit dein Leid gemildert hat, werden wieder neue Wesen da sein, die die ersetzen sollen, die uns auf so grauenhafte Weise genommen worden sind.«

Aber die Trostworte meines Vaters waren doch nicht imstande, mich die Drohungen des Dämons vergessen zu machen, denn ich hielt diesen nach all den blutigen Siegen, die er bisher über mich errungen, für unüberwindlich. Und nachdem er einmal die Worte ausgesprochen: »Ich werde in deiner Brautnacht bei dir sein,« hielt ich auch mein Schicksal für unabwendbar. Aber der Tod war kein Übel für mich, wenn ich daran dachte, daß er mir ja auch meine Elisabeth hätte wegnehmen können. Ich gab deshalb fast freudig meine Zustimmung, daß die Hochzeit in zehn Tagen gefeiert werden sollte, wenn auch damit mein Geschick besiegelt war.

Großer Gott, wenn mir auch nur einmal eine Ahnung gekommen wäre, welche Absichten mein tückischer Feind hatte, ich hätte mich lieber in die wildesten Landstriche geflüchtet und wäre als ruheloser Wanderer auf Erden umhergezogen, als daß ich zu dieser unseligen Heirat mein Einverständnis erteilt hätte. Aber es war, als hätte mich das Ungeheuer mittels magischer Einflüsse über seine wahren Absichten im Dunkeln gehalten, und indem ich mich auf mein eigenes Ende gefaßt machte, beschleunigte ich nur den Tod des über alles geliebten Weibes.

Je näher der Tag kam, desto mutloser wurde ich; entweder weil ich feig war oder weil mich trübe Ahnungen erfaßten. Ich heuchelte aber eine gewisse Heiterkeit, die ein glückliches Lächeln auf das Gesicht meines Vaters zauberte, während die schärfer blickende Elisabeth sich nicht täuschen ließ. Sie sah hoffnungsvoll unserer Vereinigung entgegen. In diese Hoffnung aber mischte sich eine leise Furcht, daß das, was uns jetzt wirkliches, greifbares Glück bedeutete, bald in Schaum zerfließen könne.

Alle Vorbereitungen für das Fest waren getroffen und wir hatten mit freudigen Gesichtern die Gratulationsbesuche empfangen. Ich verbarg, so gut ich konnte, die quälende Angst und ging scheinbar mit Interesse auf die Pläne meines Vaters ein. Den Bemühungen meines Vaters war es gelungen, bei der österreichischen Regierung durchzusetzen, daß Elisabeth ein Teil ihres väterlichen Erbteiles wieder zurückerstattet wurde. Ein kleines Besitztum am Ufer des Comersees gehörte hierzu. Es wurde bestimmt, daß wir unsere Flitterwochen in der direkt am Ufer des herrlichen Sees gelegenen Villa Lavenza verbringen sollten.

Unterdessen hatte ich alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, um mich gegen einen offenen Angriff meines Dämons zu schützen. Ich trug ständig zwei Pistolen und einen Degen bei mir, was mir das Gefühl einer gewissen Sicherheit verlieh. Je näher der Tag der Trauung kam und je öfter man von dieser sprach, wie von einer Sache, die sicher kommen mußte, desto mehr war ich geneigt, die Drohung des Dämons leichter zu nehmen.

Elisabeth sah sehr glücklich aus, wozu meine Ruhe ein gut Teil beitragen mochte. Nur an dem Tage, der uns vereinigen sollte, war sie traurig und düstere Vorahnungen quälten sie. Vielleicht lastete auch der Gedanke auf ihr, daß der kommende Tag ihr die Enthüllung meines furchtbaren Geheimnisses bringen würde. Mein Vater war überglücklich und sah in der Traurigkeit Elisabeths nichts anderes als die erwartungsvolle Unruhe der Braut.

Nachdem die Zeremonie vorüber war, versammelte sich eine große Gesellschaft im Hause meines Vaters. Elisabeth und ich sollten zu Schiffe nach Evian fahren, wo wir die Nacht verbringen und die Reise am nächsten Tage fortsetzen wollten. Es war ein herrlicher Tag und der Himmel lächelte auf unser junges Glück herab.

Das waren die Augenblicke meines Lebens, in denen ich zum letztenmal das Gefühl des Glückes hatte. Rasch ging die Reise von statten. Die Sonne brannte heiß auf uns hernieder, aber wir waren durch eine Art Sonnendach vor ihren Strahlen geschützt und freuten uns der wundervollen Landschaftsbilder, die an uns vorüberzogen.

Ich hielt Elisabeths Hand: »Du bist sorgenvoll, Geliebte? O wenn du wüßtest, was ich alles zu tragen hatte, und was ich noch zu ertragen haben werde, du ließest mich die Ruhe und den Frieden genießen, die ich nur diesen einen Tag zu genießen imstande sein werde.«

»Sei unbesorgt, lieber Viktor,« antwortete sie, »ich wüßte nicht, was dich traurig stimmten sollte; und sei überzeugt, wenn ich auch äußerlich mein Glück noch nicht so ganz zur Schau tragen kann, so fühle ich es doch tief im innersten Herzen. Irgend etwas raunt mir jedoch geheimnisvoll zu, mich nicht allzufreudig auf das Kommende zu verlassen, aber ich will mich bemühen, dieser düsteren Stimme kein Gehör zu geben. Sieh, wie rasch wir dahinfliegen und wie die Wolken, die um das Haupt des Montblanc wehen, das Landschaftsbild beleben. Und sieh die unzähligen Fische, die sich in der klaren Flut tummeln, in der wir jedes Steinchen am Boden unterscheiden können. Welch herrlicher Tag! Wie glücklich und heiter die ganze Natur aussieht!«

In dieser Weise versuchte Elisabeth meine und ihre düsteren Gedanken zu verscheuchen. Aber ihre Stimmung wechselte immer wieder; eine Zeit lang leuchteten ihre Augen freudig, allmählich aber nahmen sie wieder einen traurigen Ausdruck an.

Tiefer und tiefer sank die Sonne. Wir passierten die Mündung des Drance, der sich seinen Weg durch die Schluchten und Klüfte des Gebirges bahnt. Die Alpen treten hier nahe an den See heran und wir näherten uns dem mächtigen Amphitheater, das den östlichen Abschluß des Sees bildet. Schon sahen wir die Kirchturmspitze leuchtend über die Baumwipfel emporragen, die sich deutlich von den schwarzen Bergwänden abhob.

Der Wind, der uns bisher mit beträchtlicher Schnelligkeit über den See dahingetragen, legte sich und nur mehr eine leichte Brise kräuselte das Wasser zu zierlichen Wellen. In den Uferbäumen flüsterte es leise und vom Lande her schwebte ein feiner Duft von Blumen und frischem Heu herüber. Als wir landeten, versank gerade die Sonne hinter den Bergen, und in dem Augenblick, da mein Fuß den festen Boden betrat, stürmten Sorge und Angst wieder auf mich ein und ich meinte den kalten Griff des Schicksals zu fühlen.

23. Kapitel

Eben hatte es acht Uhr geschlagen. Wir gingen noch kurze Zeit am Ufer spazieren und freuten uns des warmen Abendscheines. Dann begaben wir uns in das Gasthaus, von wo aus wir noch beobachteten, wie die Nacht leise über Wasser, Wälder und Berge herankroch.

Unterdessen hatte sich ein starker Westwind erhoben. Der Mond stand hoch am Himmel und schickte sich zum Niedergang an. Die Nachtvögel strebten eilends Wolken dahin und verhüllten zeitweise sein Licht, und unter dem belebenden Hauch des Windes hob und senkte sich das Wasser des Sees. Nicht lange währte es, dann strömte Regen reichlich hernieder.

Den Tag über war ich ja ruhig gewesen, nun aber, da die Nacht die Umrisse aller Dinge verwischte, stieg eine unbestimmte Angst in mir auf, so daß ich bei jedem Geräusch zusammenfuhr. Meine rechte Hand hielt unter dem Anzug den Kolben einer Pistole umspannt, denn ich beabsichtigte nicht, mein Leben so leichten Kaufes hinzugeben, sondern ich wollte kämpfen, bis mein Leben oder das meines Feindes erlosch.

Elisabeth hatte schon einige Zeit in ängstlichem Schweigen mich beobachtet. In meinem Blicke mochte etwas liegen, das sie mit Schrecken erfüllte, und sie fragte zitternd: »Was ist dir, Viktor? Was regt dich so auf? Und warum fürchtest du dich?«

»Friede, Liebste, Friede – nur diese eine Nacht, dann kann alles noch gut werden. Aber heute noch ist es schrecklich, wir müssen auf der Hut sein.«

Eine Stunde blieben wir noch so beisammen. Dann kam mir der Gedanke, wie gefährlich unter Umständen der Kampf für mein geliebtes Weib werden könne, und bat sie sich zur Ruhe zu begeben, fest entschlossen, erst dann zu ihr zu kommen, wenn ich sicher sein konnte, daß der Feind fern war.

Sie ging. Ich suchte alle Ecken und Winkel des Hauses ab, in denen sich das Ungeheuer hätte verbergen können. Aber keine Spur von ihm, und ich wagte zu hoffen, daß irgend ein unerwarteter Zwischenfall ihn an der Ausführung seiner Drohung verhindert haben könne. Plötzlich hörte ich einen schrillen, angsterfüllten Schrei. Er kam aus dem Zimmer, in das sich Elisabeth zurückgezogen hatte. Kaum hatte ich diesen Schrei vernommen, als mir auch schon das Furchtbare zum Bewußtsein kam. Meine Arme sanken schlaff herab. Das Blut trat aus meinem Herzen zurück; ich fühlte, wie es in meinen Adern zu stocken begann und wie es in all meinen Gliedern prickelte. Nur einen Moment währte dieser Zustand. Ich stürzte nach der Richtung, aus der der Schrei zum zweitenmale ertönte.

Großer Gott im Himmel, warum ließest du mich damals nicht tot zusammenbrechen; warum zerstörtest du mir meine einzige Hoffnung, warum vernichtetest du das beste Geschöpf, das auf Erden wandelte? Dort lag sie, quer über das Bett, leblos und bleich. Ihr Haupt hing herab und ihr Haar bedeckte zum Teil ihr verzerrtes Antlitz. Wohin ich mich auch wende, überall verfolgt mich dieses Bild. Konnte ich das ansehen und doch noch weiterleben? Ja, das Leben ist zäh und klammert sich gerade da am hartnäckigsten an, wo man es am meisten haßt. Nur einen Augenblick verlor ich die Besinnung und sank zu Boden.

Als ich die Augen aufschlug, umstanden mich Gäste und Personen des Gasthofes. Die Gesichter drückten Entsetzen aus. Ich flüchtete vor ihnen in das Zimmer, wo Elisabeth lag, meine Geliebte, mein Weib. Man hatte sie anders gelegt; ihr Kopf ruhte auf einem Arm und über Gesicht und Hals hatte man ein Tuch geworfen. Man hätte meinen können, sie schliefe. Ich eilte auf sie zu und schlang meine Arme um den Leichnam. Aber die Schlaffheit und Kälte der Glieder ließ mich fühlen, daß das, was ich in den Armen hielt, nicht mehr die Elisabeth war, die ich geliebt und angebetet hatte. An ihrem Halse waren die Fingerabdrücke des Mörders zu erkennen und kein Atem kam mehr von den weißen Lippen.

Während ich sie so umklammert hielt, sah ich zufällig auf. Die Fenstervorhänge waren zurückgezogen und das Mondlicht flutete herein, und am Fenster sah ich, starr vor Entsetzen, die gräuliche Gestalt meines Feindes. Ein höhnisches Grinsen verzerrte sein Gesicht. Er schien zu triumphieren, denn er deutete mit dem Finger auf den Leichnam meines Weibes. Ich sprang ans Fenster, riß meine Pistole aus dem Gürtel und feuerte; aber er entkam und stürzte sich blitzschnell in den See.

Auf den Knall der Pistole kamen mehrere Leute in mein Zimmer. Ich zeigte ihnen die Stelle, wo das Gespenst verschwunden war, und wir machten uns sofort in Booten auf die Suche. Sogar Netze ließ ich auswerfen, aber vergebens. Nach einigen Stunden kehrten wir enttäuscht zurück, und einige meiner Begleiter mochten sich wohl im stillen denken, daß das Ganze vielleicht nur eine Ausgeburt meiner Phantasie sei. Nachdem wir wieder an Land waren, begaben sich die meisten auf den Weg in die Waldungen und Weinberge, um dort nach dem Dämon zu fahnden.

Auch ich wollte mich anschließen und ging ein Stück weit mit; aber in meinem Kopf wirbelte es und ich wankte wie ein Trunkener hin und her. Schließlich verfiel ich in einen Zustand völliger Erschöpfung; vor den Augen ward es mir dunkel und meine Haut bedeckte sich mit Fieberschweiß. Man brachte mich in den Gasthof zurück und legte mich zu Bett. Meine Augen wanderten ruhelos umher, als suchten sie etwas.

Nach einiger Zeit erhob ich mich wieder, fast instinktiv, und schleppte mich in das Zimmer, wo man mein Weib aufgebahrt hatte. Eine Anzahl weinender Frauen stand herum und ich vereinigte meine Klagen mit den ihren, indem ich den Leib der geliebten Toten umschlungen hielt. Rastlos irrten meine Gedanken umher. Vom Tode Wilhelms zur Hinrichtung Justines, von der Ermordung Clervals zu der meines Weibes, und selbst in diesem Zustande kam mir der Gedanke, daß die mir noch gebliebenen Lieben der Bosheit meines Feindes ausgesetzt waren. Vielleicht röchelte mein Vater gerade unter dem grausamen Griff des Ungeheuers, während Ernst schon tot am Boden lag. Ich schauderte und raffte mich auf. Unter allen Umständen mußte ich unverzüglich nach Genf zurück.

Pferde konnte ich nicht bekommen und es blieb mir also nur der Wasserweg. Allerdings war der Wind ungünstig und der Regen fiel in Strömen. Ich mietete mir Ruderer und ergriff auch selbst ein Ruder. Denn ich hatte mir bei seelischer Depression stets mit körperlicher Betätigung wieder aufgeholfen. Aber die furchtbaren Leiden, die ich erduldet, hatten mir dermaßen zugesetzt, daß ich meine Absicht nicht auszuführen vermochte. Ich warf das Ruder von mir und legte weinend das Gesicht auf den Arm. Wenn ich einen Augenblick um mich sah, erblickte ich Naturszenen, die mir von Jugend an lieb und vertraut waren und die ich noch Tags vorher mit der betrachtet hatte, die nun nur mehr ein Schatten, eine Erinnerung war. Ich wehrte meinen Tränen nicht. Der Regen hatte aufgehört und ich sah die Fische in der Flut spielen, wie ich es wenige Stunden vorher auch gesehen, und auch Elisabeths Augen hatten noch auf ihren geruht.

Aber warum soll ich noch lange bei den Ereignissen verweilen, die nach diesem letzten, schwersten Schlag eintraten. Ich habe Ihnen eine grausige Geschichte erzählt und der Höhepunkt ist erreicht. Das, was noch nachkommt, könnte sie höchstens langweilen. Nur das eine möchte ich noch sagen, daß auch alle meine noch übrig gebliebenen Angehörigen hinweggerafft wurden, so daß ich jetzt ganz allein stand. Ich bin mit meiner Kraft ziemlich am Ende und ich kann Ihnen nur mehr in kurzen Worten den Rest meiner entsetzlichen Geschichte berichten.

Ich kam in Genf an. Mein Vater und Ernst waren noch am Leben; aber der erstere brach unter dem Eindruck dessen zusammen, was ich ihm zu berichten hatte. Ich sehe ihn noch vor mir, den schönen, ehrwürdigen Greis, wie seine Augen ins Leere starrten, denn er hatte seinen Stolz, sein Glück, seine Elisabeth verloren, die ihm mehr war als eine Tochter, an der er mit seiner ganzen Liebe hing. Tausendmal verflucht sei der Dämon, der so viel Leid auf das graue Haupt meines Vaters häufte und ihm alles Glück nahm. Er mußte sich niederlegen, und das Erlebte drückte ihn so schwer, daß er sich nimmer erhob. Einige Tage später starb er in meinen Armen.

Was dann mit mir geschah? Ich weiß es nicht mehr. Ich hatte die Besinnung verloren, und wenn ich hier und da wieder etwas empfand, so waren es Dunkelheit und Ketten. Oftmals träumte mir, ich wandere auf grünen Wiesen mit den Gespielen meiner Kindheit; aber wenn ich erwachte, merkte ich, daß ich in einem Gefängnis war. Es trat zunächst ein Zustand tiefster Melancholie ein und dann ward ich mir nach und nach meiner ganzen Situation bewußt. Man hatte mich für wahnsinnig erklärt und mich mehrere Monate, wie ich nachher erfuhr, in einer engen Zelle gefangen gehalten. Nun aber fielen meine Ketten.

Die Freiheit hätte für mich freilich nicht viel Wert gehabt, wäre nicht zugleich mit meinem Bewußtsein der glühende Wunsch nach Rache erwacht. Niemand anderes war schuld an all dem Leid und Unglück, das über mich hereingebrochen war, als der Dämon, den ich selbst geschaffen, den ich mutwillig auf die Welt gehetzt hatte. Rasender Zorn packte mich bei dem Gedanken an ihn und ich wünschte, ja ich betete darum, daß es mir vergönnt sein möge, an dem verruchten Ungeheuer eine furchtbare, unerhörte Rache zu nehmen.

Aber nicht lange gab ich mich nur mit fruchtlosen Wünschen ab. Ich begann sofort auf Mittel und Wege zu sinnen, wie ich den Erfolg auf meine Seite zu bringen vermöchte. Kaum ein Monat, nach dem ich wieder genesen war, stand auch mein Entschluß fertig da. Ich begab mich zu einem der Richter der Stadt und erhob Anklage gegen den Mörder meiner Familie; ich gab an, ihn zu kennen und forderte, daß mit aller Strenge gegen den Täter vorgegangen werde.

Aufmerksam und freundlich hörte mir der Richter zu. »Seien Sie überzeugt, Herr Frankenstein,« sagte er, »daß ich keine Mühe und Arbeit scheuen werde, um des Schurken habhaft zu werden.«

»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verbunden,« entgegnete ich, »und bitte Sie, gleich jetzt meine Aussagen machen zu dürfen. Es ist allerdings eine so merkwürdige Geschichte, daß Sie nicht daran glauben würden, wenn nicht einige fest bestimmbare Daten vorlägen. Für einen Traum ist zu viel Zusammenhang darin, und außerdem habe ich ja gar keinen Grund, Unwahres vorzubringen.« Ich sprach eindringlich, aber vollkommen ruhig. Ich hatte mir fest vorgenommen, meinen Peiniger zu Tode zu hetzen. Diese Absicht gab mir Ruhe und machte mir das Leben noch lebenswert. Ich erzählte ihm also meine ganze Geschichte, kurz aber bestimmt und klar, indem ich auch die Daten zweifellos angab und es vermied, in Klagen auszubrechen oder von dem einfachen Gang der Erzählung abzuweichen.

Anfangs schien der Richter meinen Aussagen wenig Glauben beizumessen, im weiteren Verlaufe aber wurde er aufmerksam. Ich konnte sogar bemerken, wie ihn manchmal das Grauen packte; zuweilen drückte sein Gesicht Erstaunen und Überraschung aus.

Als ich geendet hatte, fügte ich hinzu: »Dies also ist das Wesen, das ich des Mordes anklage und zu dessen Ergreifung ich Sie bitte Ihren ganzen Einfluß aufzuwenden. Es ist Ihre Pflicht als Richter, und ich hoffe und glaube, daß Sie als Mensch meinen Wunsch begreifen und nicht vor der Aufgabe zurückschrecken.«

Diese Aufforderung rief eine gewaltige Änderung im Verhalten des Beamten hervor. Er hatte mir zugehört mit dem halb gutmütigen Glauben, den man solchen Geschichten von Gespenstern und übernatürlichen Vorgängen zu schenken pflegt. Als er aber sich in dieser Weise aufgefordert sah offiziell einzuschreiten, wurde es wesentlich anders. »Ich möchte ja,« sagte er milde, »Ihnen gern in jeder Hinsicht behülflich sein, aber das Wesen, von dem Sie sprachen, scheint mit Kräften und Eigenschaften ausgestattet zu sein, die alle meine Bemühungen vereiteln würden. Wer könnte diese Bestie fangen, die mühelos Gletscher überquert und sich in Höhlen und Schluchten versteckt, die kein Mensch zu betreten wagen darf? Außerdem sind ja Monate verflossen, seit sich das alles ereignet hat, und wer könnte sagen, wohin er sich gewendet hat, wo er sich jetzt aufhält?«

»Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß er sich in allernächster Nähe aufhält; und wenn er tatsächlich sich in den Gebirgsschluchten verbirgt, so muß man ihn eben verfolgen wie eine Gemse und ihn zur Strecke bringen. Aber ich errate Ihre Gedanken; Sie schenken mir nicht vollen Glauben und haben nicht die Absicht, meinen Feind der Strafe zuzuführen, die er verdient hat.«

Während ich so sprach, mochte es in meinen Augen zornig geblitzt haben, denn der Richter sagte eingeschüchtert: »Sie irren sich. Ich werde bestrebt sein, so weit es in meiner Macht steht, das Ungeheuer zu fangen und es nach seinen Verbrechen zu bestrafen. Aber nach allem, was Sie mir berichtet haben, glaube ich nicht, daß es sich wird ermöglichen lassen, und Sie werden enttäuscht sein.«

»Das ist undenkbar; aber mein brennender Rachedurst läßt Sie ja kalt. Jetzt kann ich es Ihnen ja eingestehen: es ist mein einziger, leidenschaftlicher Wunsch, meinen Feind zu vernichten. In mir empört sich alles, wenn ich daran denke, daß der Mörder, den ich schuf, noch unter uns Menschen weilt. Sie verweigern mir also die Erfüllung meiner Bitte? Gut, ich werde mir dann auch allein zu helfen wissen und mich mit Leib und Seele meiner Aufgabe widmen.«

Ich zitterte vor Erregung. Leidenschaftlich wallte mein Blut und in meinem Verhalten mag etwas von der fanatischen Wildheit gelegen haben, das vor Zeiten den Märtyrern innegewohnt haben soll. Aber für einen Genfer Richter, dessen Seele ja so unendlich weit von dem entfernt ist, was mit Heroismus zusammenhängt, hatte mein Verhalten nichts anderes bedeutet als die Wutausbrüche eines Irren. Er gab sich Mühe, mich zu beruhigen und sprach sanft auf mich ein, wie eine Wärterin auf ein Kind.

»Mensch,« schrie ich, »Ihr seid töricht in eurer eingebildeten Weisheit. – »Schweigen Sie, Sie wissen ja nicht, was Sie reden!« antwortete er.

Wütend stürmte ich aus dem Hause und zog mich in die Einsamkeit zurück, um über mein weiteres Vorgehen nachzudenken.

15. Kapitel

Das war die Geschichte meiner Freunde. Sie machte einen tiefen Eindruck auf mich. Ich lernte daraus ihre guten Seiten schätzen und die Fehler des Menschengeschlechts mißbilligen.

Damals erschien mir jedes Verbrechen wie ein Übel, das vollkommen außerhalb meines Gesichtskreises lag. Ich meinte es wirklich gut und hoffte, ein nützliches Glied der kleinen Gesellschaft werden zu können, die ich bis jetzt kennen gelernt hatte.

Bald nach meiner Ankunft in dem Schuppen hatte ich in einer Tasche des Kleides, das ich bei meiner Flucht aus deinem Laboratorium mitgenommen, einige Papiere entdeckt. Zuerst kümmerte ich mich nicht darum, aber nun, da ich sie zu entziffern vermochte, machte ich mich eifrig daran sie zu studieren. Es war dein Tagebuch aus den vier Monaten, die meiner Schöpfung vorausgingen. Du beschriebst darin jeden Fortschritt, den dein Werk machte, und dazwischen fanden sich wieder Notizen über deine Nachrichten von zu Hause. Du erinnerst dich sicherlich dieser Blätter. Hier sind sie. Alles, was darin steht, gibt Aufschluß über meinen Ursprung. Die ganzen häßlichen, abstoßenden Details sind anschaulich geschildert; du gibst die genaueste Beschreibung meiner verhaßten, abscheulichen Persönlichkeit in einer Sprache, die deinen Ekel nur zu deutlich zum Ausdruck bringt und mir unsägliches Leid verursachte. Ich wurde förmlich krank, als ich das alles las. »Verfluchter Tag, an dem ich ins Leben trat,« schrie ich in rasender Verzweiflung. »Verflucht sei mein Schöpfer. Warum mußtest du auch ein Ungeheuer schaffen, das so häßlich war, daß selbst du voll Ekel dich von mir abwandtest? Gott bildete den Menschen in seiner Güte nach seinem eigenen Bilde; aber du gabst mir Antlitz und Gestalt, die nur ein erschreckendes Zerrbild deines Leibes waren. Satan selbst hat seine Genossen, die mit ihm leben; aber ich bin allein und verhaßt, wo man mich erblickt.«

Das waren die Gedanken, die mein Elend und meine Einsamkeit gebaren. Aber wenn ich mir überlegte, wie freundlich und gut meine Beschützer sein mußten, tröstete ich mich damit, daß sie sich an meine körperliche Häßlichkeit gewöhnen würden, wenn sie erst erkannt hätten, daß mein Inneres so ganz anders sei als mein Äußeres. Waren sie imstande, einen um Mitleid und Freundschaft Flehenden von ihrer Tür wegzujagen, weil er so mißgestaltet war? Schließlich war es mir klar, daß ich nicht die Hoffnung aufgeben dürfe, und bereitete mich auf eine Begegnung mit ihnen vor, die über mein ganzes künftiges Geschick entscheiden mußte. Trotzdem schob ich aber die Ausführung des Planes noch um mehrere Monate hinaus, denn die Wichtigkeit, die ich der Sache beilegte, erfüllte mich immer wieder mit einer gewissen zaghaften Scheu. Außerdem merkte ich, daß meine Fertigkeit im Gebrauch der Sprache von Tag zu Tag wuchs, und wollte aus diesem Umstände Nutzen ziehen, um ihnen möglichst gut vorbereitet entgegentreten zu können.

Im Hause selbst hatte sich unterdessen manches verändert. Safies Ankunft hatte nicht nur Glück über die Seelen der guten Menschen ausgegossen, sondern es war auch ein gewisser Wohlstand eingekehrt. Felix und Agathe hatten jetzt mehr Zeit sich dem Vergnügen hinzugeben, da ihre Arbeiten von Dienstboten verrichtet wurden. Wenn sie auch vielleicht nicht reich waren, so schienen sie wenigstens zufrieden und glücklich. Ihr Leben floß friedlich und heiter dahin, während ich selbst eine Beute der unruhigsten, widersprechendsten Gefühle wurde. Je mehr mein Wissen sich erweiterte, desto klarer war es mir, daß ich ein Elender, Ausgestoßener sei. Ich entsagte ja noch nicht jeder Hoffnung, das ist wahr; aber sie entschwand immer wieder, wenn ich mein Spiegelbild im Wasser oder meinen Schatten im Mondschein sah, eben so rasch wie dieses Spiegelbild oder der Schatten selbst.

Ich tat mein Möglichstes, um dieser Angstgefühle Herr zu werden und mir Mut einzuflößen für das Unternehmen, von dem mich nur wenige Monate mehr trennten. Zuweilen gestattete ich sogar meinen Gedanken sich ein Paradies vorzugaukeln, in dem ich mit lieblichen Wesen, die mich verstanden, zusammenlebte; engelgleiche Gesichter lächelten mir Trost und Zuversicht zu. Aber alles war nur Wahn; keine Eva linderte mein Leid oder teilte meine Sorgen; ich war allein. Ich erinnerte mich der Worte, mit denen Adam vor seinen Schöpfer trat. Aber wer war der meine? Er hatte sich von mir gewandt und voll tiefster Erbitterung hatte ich nur Flüche für ihn.

So verging der Herbst. Erstaunt und betrübt sah ich die Blätter welken und fallen und erkannte, daß die Erde wieder dasselbe traurige, starre Aussehen annahm wie damals, als ich zuerst die Wälder und den lieben Mond gesehen.

Die Kälte fürchtete ich nicht, denn merkwürdigerweise war ich gegen diese wesentlich unempfindlicher als gegen die Hitze. Als ich keine Gelegenheit mehr hatte, die Blumen auf den Feldern zu betrachten und dem Gesang der Vögel zuzuhören, wandte ich meinen Freunden wieder mehr Aufmerksamkeit zu. Das Scheiden der schönen Jahreszeit tat ihrem Glücke keinen Abbruch. Sie waren alle einander herzlich zugetan und freuten sich ihres Lebens, unbekümmert um das, was draußen in der Natur vor sich ging. Je öfter ich sie sah, desto ungeduldiger nahm ich mir vor, ihren Schutz und Beistand anzurufen. Mein Herz dürstete danach, sich diesen liebenswürdigen Menschen offenbaren zu dürfen. Ihre Blicke liebevoll und mit Interesse auf mir haften zu sehen, war das, was ich am meisten ersehnte. Ich wagte es gar nicht daran zu denken, daß sie mich mit Grauen und Ekel von sich weisen könnten. Von ihrer Tür war sicher noch kein Hülfesuchender weggejagt worden. Mir war es ja um mehr zu tun als um Speise oder ein vorübergehendes Unterkommen, ich wollte ihre Liebe, ihr Mitleid; Dinge, deren ich mich keineswegs für unwürdig hielt.

Immer winterlicher ward es im Lande, und einmal schon hatte die Natur ihren ewigen Kreislauf vollendet, seit ich zum Leben erweckt worden war. Plan auf Plan entwarf ich in meinem Innern, wie ich es anfangen sollte, mich meinen Beschützern zu nähern. Endlich entschloß ich mich, das Haus dann zum ersten Male zu betreten, wenn der Alte allein war. Ich war mir darüber vollkommen im klaren, daß es meine außergewöhnliche Häßlichkeit gewesen war, was diejenigen erschreckt hatte, die bisher mit mir in Berührung gekommen waren. Meine Stimme war ja rauh, aber sie hatte nichts Abstoßendes. Ich dachte mir, daß ich zuerst die Liebe des alten de Lacey gewinnen müßte, um dann in ihm einen Fürsprecher bei seinen Kindern zu haben.

Eines Tages, die Sonne leuchtete goldig auf den farbigen Blättern, die allenthalben den Boden bedeckten, und schien noch einmal dem Auge den Sommer vortäuschen zu wollen, traten Safie, Felix und Agathe einen längeren Spaziergang an, während der Greis seinem Wunsche entsprechend zu Hause gelassen wurde. Als er allein war, nahm er seine Zither und spielte einige ernste, ergreifende Weisen, ernster und schöner, als ich sie je von ihm gehört. Zuerst lag ein Schimmer heller Freude auf seinem Angesicht, dann aber nahm es einen immer traurigeren, schmerzlicheren Ausdruck an. Er legte sein Instrument zur Seite, stützte das Haupt auf die Hände und schien in tiefes Nachsinnen versunken zu sein.

Mein Herz klopfte stürmisch; der Augenblick war gekommen, wo es sich entscheiden mußte, ob meine Hoffnungen begründet waren oder meine Furcht. Die Dienstboten waren alle zu einem Fest gegangen. Still war es im Hause und ringsum. Die Gelegenheit war günstig. Aber als ich zur Ausführung meiner Absicht schritt, versagten mir die Glieder den Dienst und ich sank zu Boden. Dann richtete ich mich wieder auf, und all meine Kraft und meinen Mut zusammennehmend entfernte ich die Bretter, die ich zu meinem Schutze an den Eingang des Schuppens gelehnt hatte. Die frische Luft tat mir wohl und mit froher Zuversicht näherte ich mich dem Eingangstore.

Ich klopfte. »Wer ist da?« ertönte die Stimme des alten Mannes aus dem Inneren »Tretet ein!«

Ich folgte der Aufforderung. »Entschuldigt, daß ich hier eindringe,« sagte ich. »Ich bin ein Wanderer, der etwas Ruhe bedarf. Ihr würdet mich zu großem Dank verpflichten, wenn Ihr mir einige Minuten Rast an Eurem gastlichen Herde gönnen möchtet.«

»Kommen Sie nur,« sagte de Lacey, »ich will Ihnen gern zu Diensten sein. Aber leider sind meine Kinder nicht hier, und da ich blind bin, wird es mir schwer fallen, einen Imbiß für Euch herbeizuschaffen.«

»Macht Euch deshalb keine Sorge, lieber Gastfreund, Hunger habe ich nicht; nur Ruhe und Wärme suche ich bei Euch.«

Ich ließ mich nieder und es entstand eine Pause. Ich wußte, daß jeder Augenblick kostbar war, wußte aber nicht, wie ich die Unterhaltung beginnen sollte. Da sagte der Alte:

»An Eurer Sprache, Fremdling, meine ich zu erkennen, daß Ihr ein Landsmann von mir seid. Seid Ihr Franzose?«

»Nein, das nicht, aber ich wurde bei einer französischen Familie erzogen und lernte nur ihre Sprache kennen. Ich habe nun die Absicht, den Schutz einiger Freunde zu suchen, die ich herzlich lieb habe und auf deren Gunst ich meine ganze Hoffnung setze.«

»Sind es Deutsche?«

»Nein, es sind Franzosen. Aber wollen wir von etwas anderem sprechen. Ich bin ein armes, verlassenes Geschöpf. Wenn ich mich auf Erden umsehe, habe ich keinen Verwandten, keinen Freund. Die liebenswürdigen Leute, zu denen ich will, haben mich noch nie gesehen und wissen nichts von mir. Ich bin voll Angst, denn wenn ich bei ihnen meinen Zweck verfehle, dann bin ich ausgestoßen aus der ganzen Welt.«

»Nur nicht verzweifeln! Freundlos sein ist ja ein Unglück. Aber die Herzen der Menschen sind, wenn nicht der Egoismus von ihm Besitz ergriffen hat, gut und mitleidig. Laßt also der Hoffnung Raum, daß diese Freunde, wenn sie wirklich gut und edel sind, Euch nicht verstoßen werden.«

»Sie sind gut, sie sind die besten Geschöpfe, die ich kenne; aber unglücklicherweise haben sie ein Vorurteil gegen mich. Ich habe bis jetzt ein sehr harmloses Leben geführt und bin auch gewissermaßen wohltätig gewesen. Aber ein Schleier liegt vor ihren Augen; denn anstatt in mir einen treuen, aufrichtigen Freund zu sehen, halten sie mich für ein verabscheuungswürdiges Ungetüm.«

»Das ist allerdings traurig. Aber ist es Euch, wenn Ihr wirklich so unschuldig seid, nicht möglich, sie von der Wahrheit zu überzeugen?«

»Das eben möchte ich, und wenn ich daran denke, ergreift mich eine entsetzliche Angst. Ich liebe diese Menschen zärtlich, ich bin unerkannt schon Monate lang mit ihnen in freundschaftlichem Verkehr gestanden; aber sie meinen, ich wolle ihnen schaden, und diese Meinung will ich ihnen nehmen.«

»Wo wohnen denn diese Leute?«

»Nicht weit von hier.«

Der Alte schwieg einen Moment, dann sagte er: »Wenn Ihr mir rückhaltlos Eure ganze Geschichte erzählen wollt, kann ich Euch vielleicht in diesem Bestreben helfen. Ich bin blind und erkenne Euer Gesicht nicht, aber es liegt in Eurer Rede etwas, das mir sagt, Ihr seid ein guter Mensch. Ich bin arm und lebe hier in der Verbannung; aber es macht mir Freude, einem Anderen in jeder Weise dienstbar zu sein.«

»Edler Mann, wie danke ich Euch! Ich nehme Euer hochherziges Anerbieten an. Ihr erhebt mich mit Eurer Güte aus dem Staube und ich hoffe, daß es Euch gelingen wird, mich so wirksam zu schützen, daß ich nicht mehr aus der Gesellschaft Eurer Mitmenschen vertrieben werde.«

»Davor bewahre Euch der Himmel! Und wenn Ihr ein Verbrecher wäret, denn das ist das einzige, was Euch verzweifeln lassen kann. Auch ich bin unglücklich; ich bin, vollkommen unschuldig, mit meiner ganzen Familie aus der Heimat verbannt worden. Ihr werdet dann begreifen, daß ich Eurem Unglück nicht gefühllos gegenüberstehe.«

»Wie kann ich Euch danken, mein einziger, liebster Wohltäter? Von Euren Lippen habe ich das erstemal Worte der Güte gehört, die mir galten. Das werde ich Euch nimmer vergessen. Und die Freunde, denen ich ja nun bald gegenübertreten werde, hoffe ich, werden mir auch barmherzig sein.«

»Darf ich den Namen und den Wohnort dieser Freunde wissen?«

»Ich schwieg. Das war der Augenblick, der mir das Glück auf immer bringen oder rauben mußte. Ich rang nach Worten, um ihm alles einzugestehen, aber ich fand nicht die Kraft. Ich sank auf einen Stuhl und stöhnte laut. Draußen hörte ich die Schritte der jungen Leute. Zeit war keine mehr zu verlieren. Ich ergriff die Hand des Greises und schrie: »Nun ist es Zeit, daß ich es sage. Helft mir und schützt mich! Ihr und die Euren sind die Freunde, die ich suche. Verlaßt mich nicht in meiner Not!«

»Großer Gott!« rief der alte Mann. »Wer seid Ihr?«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Zimmers und Safie, Felix und Agathe kamen herein. Verstört und entsetzt starrten sie mich an. Agathe sank um und Safie rannte aus dem Zimmer, unfähig, der Ohnmächtigen Hülfe zu leisten. Felix stürzte auf mich zu und riß mich mit übermenschlicher Kraft von seinem Vater weg, an dessen Kniee ich mich geklammert hatte. Im Übermaß der Wut warf er mich zu Boden und schlug wie ein Rasender mit einem Stock auf mich ein. Ich hätte ihm ja leicht die Glieder auseinanderreißen können, wie es der Löwe mit der Gazelle tut. Aber das unendliche Leid nahm mir die Kraft. Ich sah, wie er den Arm zu einem neuen Schlag erhob, da sprang ich auf und rannte aus dem Hause. In der allgemeinen Verwirrung vergaß man mich zu verfolgen.

2. Brief

An Frau Saville, London

Archangel, 28. März 18..

Wie langsam hier doch die Zeit vergeht, mitten in Eis und Schnee! Der zweite Schritt zur Ausführung meines Planes ist getan. Ich habe ein Schiff gemietet und bin daran, meine Matrosen zu heuern. Die, welche ich schon angeworben habe, scheinen mir Leute zu sein, auf die man sich verlassen kann und die unbegrenzten Mut besitzen.

Aber etwas fehlt mir, Margarete, ein Freund. Wenn ich von dem Enthusiasmus meiner Erfolge glühe, dann habe ich keinen Menschen, mit dem ich meine Freude teilen kann; und habe ich Mißerfolge, dann ist niemand da, der mir zuspricht und mich wieder aufmuntert. Ich werde meine Gedanken dem Papier anvertrauen, das ist wenigstens etwas; aber immerhin ist es doch ein armseliges Mittel zur Aufnahme unserer Gefühle. Ich bedürfte eines Mannes, einer gleichfühlenden Seele. Du wirst mich vielleicht sentimental schelten, aber ich kann nichts dafür, ich brauche einen Freund. Ich habe niemand um mich, der, zugleich vornehm und mutig, gebildet und verständig, von denselben Neigungen wie ich, imstande wäre, meinen Plänen zuzustimmen oder davon abzuraten. Welch guten Einfluß könnte ein solcher Freund auf Deinen armen Bruder haben! Ich bin zu unüberlegt und verliere bei Schwierigkeiten zu rasch die Geduld.

Was helfen aber alle Klagen? Auf dem weiten Ozean werde ich ebensowenig einen Freund finden wie hier in Archangel mitten unter Kaufleuten und Seefahrern. Nicht als ob ich sagen möchte, daß diese rauhen Naturen ohne jegliches menschliche Fühlen wären. Mein Leutnant zum Beispiel ist ein Mensch von außerordentlichem Mut und unvergleichlicher Tatkraft, geradezu begierig nach Ruhm. Oder wenn ich mich deutlicher ausdrücken muß, begierig, in seinem Beruf Hervorragendes zu leisten. Er ist Engländer und hat sich mitten in seinem Berufe, fern von aller Kultur, einige feine menschliche Regungen zu bewahren gewußt. Ich lernte ihn zuerst an Bord eines Walfischfängers kennen. Da er hier in Archangel keine geeignete Beschäftigung zu haben schien, war es mir ein leichtes, ihn für mich zu gewinnen.

Der Maat ist ein Mann von vorzüglichen Anlagen und auf dem Schiffe beliebt wegen seiner Milde und der vornehmen Behandlung der Mannschaft. Dieser Umstand, verbunden mit seiner untadeligen Ehrlichkeit und seinem rücksichtslosen Mut, brachten mich zu dem Entschluß, den Mann anzuwerben. Meine einsam verbrachte Jugend, der Einfluß, den Du in meinen späteren Jahren auf mich geübt, haben mein Gemüt derart verfeinert, daß mir der übliche rohe Ton an Bord ein Greuel ist; ich habe ihn von jeher für unnötig gehalten. Es ist daher sehr begreiflich, daß ich mich der Dienste eines Mannes versicherte, der zugleich wegen seiner Herzensgüte als auch wegen des großen Einflusses auf seine Untergebenen bekannt war.

Meine Gefühle kann ich Dir nicht beschreiben, die mich beseelen, jetzt, wo ich so nahe der Erfüllung meiner Träume bin. Es ist unmöglich, Dir auch nur annähernd die Empfindungen zu schildern, die alle meine Reisevorbereitungen begleiten. Ich bin im Begriff, unerforschte Landstriche zu betreten, die Heimat des Nebels und des Schnees; aber ich werde nicht nach Albatrossen jagen, deshalb sei um meine Sicherheit nicht besorgt.

Werde ich Dich erst wiedersehen, wenn ich nach langer Fahrt durch ungeheure Ozeanweiten einmal an der Südspitze von Afrika oder Amerika herauskomme? Solche Erfolge darf ich ja gar nicht erwarten; aber ich bringe es jetzt nicht über das Herz, die Kehrseite der Medaille zu betrachten. Schreibe mir jedenfalls so oft als es Dir möglich ist, vielleicht erreichen mich Deine Briefe gerade dann, wenn ich ihrer am notwendigsten bedarf. Ich habe Dich herzlich lieb. Denke auch Du meiner in Liebe, wenn es sich treffen sollte, daß wir uns nimmer sehen. Stets Dein getreuer Bruder

Robert Walton.

16. Kapitel

Verfluchter, doppelt verfluchter Schöpfer! Warum mußte ich auch leben? Warum erlosch damals nicht der Funke, den du leichtfertig und frevelhaft entfachtest? Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich nicht verzweifelte, sondern daß die Gefühle der Wut und der Rachsucht überwogen. Ich hätte am liebsten das Haus und seine Inwohner vernichtet und mich an deren Todesangst und Schmerzgeheul ergötzt.

Als es Nacht wurde verließ ich mein Asyl und wanderte in den Wald. Und nun, da ich die Entdeckung nicht mehr fürchtete, machte ich meinem Weh in lautem Brüllen Luft. Ich war wie ein wildes Tier, das die Stäbe seines Käfigs zerbrochen hat. Ich rannte wie ein Stück Wild durch den Wald und zerstörte alles, was mir in den Weg kam. Es war eine entsetzliche Nacht, die ich da draußen verbrachte. Die eiskalten Sterne funkelten, als wollten sie mich verhöhnen, und die Bäume schüttelten ihre nackten Arme über mir. Zuweilen ertönte der Schrei eines Vogels durch die Stille. Alles war ruhig und friedlich außer mir selbst, denn ich trug, wie der böse Feind, eine ganze Hölle in meiner Brust. Und da ich nirgends Liebe finden konnte, so sehnte ich mich danach, Zerstörung und Verwüstung rings um mich zu verbreiten und mich dann, auf den Trümmern sitzend, darüber zu freuen.

Aber diese Gefühle waren zu mächtig, als daß sie von allzulanger Dauer hätten sein können; ich war auch körperlich zu sehr ermüdet. Ich sank auf den feuchten Boden nieder und grübelte über mein Elend nach. Unter den Millionen Menschen war nicht einer, auch nicht einer, der mir geholfen oder auch nur Mitleid mit mir gehabt hätte, und ich sollte gegen meine Feinde mild und gut sein? Nein! In diesem Augenblick erklärte ich dem ganzen verruchten Geschlecht Krieg bis aufs Messer, und besonders dem, der mich gebildet und an all dem unsäglichen Leid Schuld trug.

Nach Sonnenaufgang hörte ich Menschenstimmen in der Nähe des Hauses und ich wußte, daß ich diesen Tag wohl nicht mehr in meinen Schuppen würde zurückkehren können. Ich versteckte mich deshalb in ein wirres Dickicht und beschloß, die kommenden Stunden mich ganz der Betrachtung meiner Lage hinzugeben.

Der helle Sonnenschein und die reine Luft gaben mir einigermaßen wieder das Gefühl der Ruhe. Und wenn ich mir so überlegte, was in de Laceys Hause vorgefallen war, konnte ich mir den Vorwurf nicht ersparen, daß ich zu voreilig mit meinen Schlüssen gewesen war. Jedenfalls hatte ich recht unklug gehandelt. Offenbar hatte die Unterhaltung mit mir dem alten Manne gefallen und es hätte gar keine Eile gehabt, mich den Blicken der Jungen auszusetzen. Ich hätte erst versuchen sollen, den alten de Lacey an mich zu fesseln und mich dann den jungen Leuten zu entdecken, wenn sie genügend auf mein Kommen vorbereitet waren. Aber ich meinte, daß der Fehler wieder gut zu machen wäre, und beschloß nach reiflicher Überlegung, zu dem Hause zurückzukehren, den Alten aufzusuchen und ihn durch meine eindringlichen Worte mir geneigt zu machen.

Diese Gedanken beruhigten mich und am Nachmittag versank ich in tiefen Schlaf. Friedliche Träume wollten mir allerdings nicht nahen, dazu war mein Blut noch zu erregt. Die schrecklichen Bilder des vorhergehenden Tages schwebten mir immer noch vor Augen. Ich sah, wie die Frauen flüchteten und Felix mich vom Vater wegriß. Ich erwachte, von Grauen geschüttelt. Da es schon Nacht geworden war, kroch ich aus meinem Versteck und begab mich auf die Nahrungssuche.

Nachdem ich meinen Hunger gestillt, lenkte ich meine Schritte auf wohlbekannten Pfaden zu dem Hause de Laceys. Dort war es still. Ich kroch in den Schuppen und erwartete mit Bangen die Stunde, zu der die Familie sich gewöhnlich zu erheben pflegte. Diese Stunde war nun längst vorüber. Die Sonne stieg höher und höher, aber von den Hausbewohnern ließ sich niemand blicken. Ich zitterte an allen Gliedern und die bange Frage quälte mich, ob denn da kein Unglück geschehen sei. Im Hause war es finster und nicht das geringste Geräusch war zu vernehmen. Die Ungewißheit verursachte mir gräßliche Qualen.

Plötzlich kamen zwei Landleute des Weges. Sie blieben vor dem Hause stehen und begannen, heftig gestikulierend, eine aufgeregte Unterhaltung. Ich konnte sie nicht verstehen, da sie sich in der Sprache des Landes unterhielten, die ja eine ganz andere war, als die meiner Freunde. Einige Zeit später kam Felix mit einem Begleiter. Ich war darüber sehr erstaunt, denn ich wußte, daß er das Haus heute noch nicht verlassen hatte, und konnte es kaum erwarten, aus seinem Gespräche zu erfahren, was da eigentlich vorgegangen sei.

»Bedenkt Ihr denn nicht,« sagte sein Begleiter zu ihm, »daß Ihr die Miete für drei Monate umsonst zu zahlen habt und außerdem aller Eurer Gartenfrüchte verlustig geht? Ich will mich nicht ungerecht bereichern und bitte Euch, noch ein paar Tage die Sache zu überlegen.«

»Es ist ganz zwecklos,« erwiderte Felix, »wir können nie und nimmermehr dieses Haus bewohnen. Das Leben meines Vaters ist seit jenem schrecklichen Ereignis, von dem ich Euch berichtet, in äußerster Gefahr, und mein Weib und meine Schwester haben sich noch nicht von ihrem Entsetzen erholt. Ich bitte Euch, nicht weiter in mich zu dringen. Ergreift wieder Besitz von Eurem Eigentum und laßt uns von diesem Platze fliehen.«

Felix zitterte an allen Gliedern, während er so sprach. Er und sein Begleiter begaben sich in das Innere des Hauses. Ganz kurze Zeit blieben sie darin und gingen dann zusammen fort. Seitdem habe ich niemand mehr von der Familie de Lacey gesehen.

Den Rest des Tages verbrachte ich in meinem Schuppen und gab mich der tiefsten Verzweiflung und dumpfem Schmerze hin. Meine Beschützer waren fort und hatten so das einzige Band zerrissen, das mich an die Welt fesselte. Es war das erste Mal, daß Gefühle der Rachsucht und des Hasses in meiner Brust Raum fanden, und ich gab mir keine Mühe sie zu unterdrücken. Ich ließ mich von dem Strome tragen, der mich zu Verbrechen und Mord hinführte. Der Gedanke an meine Freunde, an die milde Stimme des Greises, die schönen Augen Agathes und an den Liebreiz Safies verdrängte immer wieder auf kurze Zeit meine bösartigen Gefühle. Aber wenn ich mir überlegte, daß sie mich vertrieben, mich geschlagen hatten, dann kehrte die Wut wieder, eine maßlose Wut; und da kein menschliches Wesen da war, an dem ich meine Raserei hätte austoben können; stürzte ich mich auf Unbelebtes. Als es Nacht wurde schleppte ich alles Brennbare, dessen ich habhaft werden konnte, in der Nähe des Hauses zusammen und zerstörte im Garten jede Spur der pflegenden Menschenhand. Dann wartete ich, bis der Mond unterging, um mein Werk zu vollenden.

Ein frischer Wind kam aus dem nächtlichen Walde und zerstreute die Wolken, die am Himmel hingen. Ich ergriff einen trockenen Ast, zündete ihn an und tanzte dann wie ein Toller um das dem Verderben geweihte Haus. Immer wieder blickte ich nach dem westlichen Horizont, hinter dem der Mond schon zum Teil versunken war. Und als der glutrote Ball gänzlich untergetaucht war, warf ich mit lautem Schrei den Brand in die aufgehäufte Streu. Prasselnd schlugen die Flammen auf, umfluteten bald das ganze Gebäude und leckten, gepeitscht vom rauschenden Winde, mit ihren spitzen, zerstörenden Zungen an den Wänden hinauf.

Ich wartete nur so lange, bis ich erkannt hatte, daß keine Macht der Erde auch nur das Geringste noch zu retten vermochte, und verkroch mich dann in den Tiefen des Waldes.

Die weite Welt lag nun wieder vor mir, aber wohin sollte ich meine Schritte lenken? Jedenfalls wollte ich weit, weit fort von der Stätte meines Mißgeschickes, denn für mich, den Ausgestoßenen und Gehaßten, war es ja gleich, welches Land mich aufnahm. Schließlich aber dachte ich an dich. Ich wußte aus deinen Papieren, daß du mein Erzeuger, mein Schöpfer seist, und wem konnte ich mich wohl mit mehr Vertrauen nähern als dem, der mir das Leben gegeben? Der Unterricht, den Felix an Safie erteilt hatte, hatte sich auch auf Geographie erstreckt, und so hatte ich erfahren, welche Lage die Länder der Erde zu einander einnahmen. Ich hatte in deinen Aufzeichnungen gelesen, daß deine Heimatstadt Genf sei, und beschloß, zunächst dorthin die Wanderung anzutreten.

Es war sehr schwer für mich, mich zurechtzufinden. Ich kannte weder die Namen der Städte und Ortschaften, die ich zu passieren hatte, und durfte auch nicht damit rechnen, von einem menschlichen Wesen unterwegs Auskunft zu erhalten. Aber ich wußte ja, daß ich immer nach Südwesten zu gehen hätte, und die Sonne war meine Führerin. Du warst der Einzige, von dem ich noch Hülfe erwarten konnte, wenn ich auch gegen dich nichts empfand als den bittersten Haß. Herzloser! Grausamer! Du hast mich mit Gefühlen und Empfindungen ausgestattet und dann warfst du mich auf die Straße, jedermann zum Spott und Entsetzen. Von dir allein hatte ich Mitleid und Hülfe zu erwarten und du allein konntest mir das geben, was ich von jedem anderen Wesen in Menschengestalt umsonst gefordert hätte.

Meine Reise war lang und Schweres hatte ich zu erdulden. Die Jahreszeit war schon weit fortgeschritten, als ich dem Erdenfleck, wo ich so lange gehaust, den Rücken wandte. Ich wanderte nur zur Nachtzeit, um keinem Menschen zu begegnen. Die Natur hatte sich schon zur Ruhe begeben und die Sonne hatte keine Kraft mehr. Regen und Schnee fielen nieder und die Bäche waren zu Eis erstarrt. Die Erde war hart, kalt und nackt und bot nichts, um mein müdes Haupt hinzulegen. O Erde, wie oft habe ich dir geflucht und dem, der mich schuf! Meine natürliche Gutmütigkeit war dahin und hatte sich in Gift und Galle verwandelt. Je näher ich deiner Heimat kam, desto heißer erwachte die Sehnsucht nach furchtbarer Rache. Schnee und Eis hielten meinen Schritt nicht auf. Im großen und ganzen war es wohl nur Zufall, daß ich mich zurechtfand. Mein Wunsch, dir gegenüberzutreten, ward immer heftiger und beschleunigte meine Schritte, und jedes Hindernis, das sich mir in den Weg stellte, gab meiner Wut und meinem Zorn nur noch mehr Nahrung. Und ein Abenteuer, das ich erlebte, als ich die Schweizer Grenze erreichte – es war schon wieder warm geworden und die Erde hatte ihr grünes Kleid angelegt – war besonders geeignet, meine Bitterkeit und meine Wut aufs höchste zu steigern.

Wie ich schon erwähnte, pflegte ich nur des Nachts zu wandern und des Tages zu ruhen, um ungesehen zu bleiben. Eines Morgens aber entschloß ich mich doch, meinen Weg weiter fortzusetzen, da er, wie ich bemerkte, durch dichtes Holz führte, so daß ich das Antlitz des Tages nicht zu scheuen hatte. Es war ein herrlicher Frühlingstag und selbst ich empfand wohltuend den warmen Sonnenschein und die milde Luft. Und ich fühlte sogar Freude und Behagen, die ich in mir vollkommen gestorben wähnte. Halb überrascht davon, gab ich mich ihrem Zauber hin und wagte es, meine Einsamkeit und Häßlichkeit vergessend, glücklich zu sein. Lindernde Tränen rannen mir die Wangen herab und ich erhob dankend meinen Blick zu der lachenden Sonne, die das Wunder in mir gewirkt hatte.

Ich wand mich vorsichtig auf den Waldwegen dahin, bis ich an eine Schlucht kam, durch die ein wilder Bach dahinbrauste. Die Uferbäume hingen ihre sprossenden Zweige in die klare, frische Flut. Ich blieb einen Augenblick stehen, um mir zu überlegen, wie ich weiter käme als ich Stimmen vernahm. Rasch verbarg ich mich unter einem dichten Baum. Kaum war das geschehen, als ein junges Mädchen in vollem Laufe dahereilte. Sie lachte laut und herzlich, als spotte sie eines Verfolgers. Sie lief dann am Ufer entlang. Plötzlich glitt sie aus und stürzte in die Fluten. Ich sprang aus meinem Versteck ihr nach und brachte sie mit großer Mühe aufs Trockene. Sie war bewußtlos und ich bemühte mich, sie wieder ins Leben zurückzurufen, als sich ein Landmann näherte, wahrscheinlich der, vor dem sie geflohen war. Kaum hatte er mich erblickt, so drang er schon auf mich ein, riß das Mädchen aus meinen Armen und zog sich eilig mir ihr tiefer ins Gehölz zurück. Ich rannte ihm nach, warum weiß ich heute noch nicht. Als der Mann bemerkte, daß ich ihm folgte, riß er seine Flinte von der Schulter, zielte auf mich und schoß. Ich sank zu Boden und sah meinen Gegner gerade noch im dichten Walde verschwinden.

Das also war der Lohn für das Gute, was ich getan! Ich hatte einen Menschen vor dem sicheren Tode gerettet; dafür hatte ein Geschoß mein Fleisch durchbohrt und einen Knochen zerschmettert. Die Schmerzen, die meine Wunde verursachte, ließen mich rasch die frohen Gefühle vergessen, die ich noch kurz vorher gehegt, und in mir erwachte wieder eine höllische Wut, die meine Zähne knirschend aufeinanderpreßte. Gepeinigt von gräßlichen Schmerzen schwor ich dem ganzen verhaßten Geschlecht der Menschen ewige Rache.

Einige Wochen führte ich ein elendes Dasein in den Wäldern, bemüht, meine Wunde zu kurieren. Die Kugel war in die Schulter eingedrungen und ich wußte nicht, saß sie da noch fest oder war sie hindurchgegangen. Jedenfalls hatte ich keine Möglichkeit sie zu entfernen. Am meisten schmerzte es mich, daß es Undank und Ungerechtigkeit waren, denen ich diese Leiden zu verdanken hatte. Mein Wunsch nach Rache, nach furchtbarer, tödlicher Rache wuchs von Tag zu Tag. Umsonst wollte ich diese Kränkungen und Qualen nicht erduldet haben.

Es dauerte einige Wochen, bis meine Wunde geheilt war; dann setzte ich meine Wanderung fort. Auch die liebliche Sonne und das milde Wehen des Frühlingswindes waren nicht mehr imstande, die Glut meiner Rachegefühle zu besänftigen. Alles Liebliche schien mir wie ein Hohn, der mich mit Verzweiflung erfüllte und mich nur noch mehr fühlen ließ, daß ich nicht zur Freude auf dieser Erde war.

Allmählich näherte ich mich meinem ersehnten Ziele. Nach etwa zwei Monaten hatte ich Genf erreicht.

Es war Abend, als ich ankam, und ich suchte mir sogleich ein Versteck, in dem ich darüber nachdachte, wie ich mich dir am besten bemerkbar machen könnte. Ich litt Hunger und Durst und war viel zu müde und elend, um mich an dem schönen Abend und der Pracht des Sonnenunterganges zu erfreuen.

Ein wohltuender Schlummer hatte sich meiner bemächtigt und mich von meinen qualvollen Gedanken erlöst, als ich plötzlich wieder aufgeschreckt wurde. Ein hübsches Kind kam auf den Platz zugelaufen, wo ich mich verborgen hielt. Als ich es erblickte, tauchte in mir eine Idee auf. Das Kind war noch ohne Vorurteil und hatte noch zu kurz gelebt, um meine Mißgestalt als etwas Schreckliches aufzufassen. Wenn es mir also gelänge, den Kleinen zu ergreifen und ihn mir als Genossen und Freund heranzuziehen, würde mein Dasein nicht mehr so traurig und ich nicht mehr so allein sein auf der Erde.

Ich ergriff deshalb den Knaben, als er an meinem Versteck vorbeiging, und zog ihn an mich. Kaum hatte er mich erblickt, schlug er die Hände vor das Gesicht und stieß einen schrillen Schrei aus. Ich riß ihm die Hände mit Gewalt von den Augen und sagte: »Mein Kind, was soll das bedeuten? Ich will dir nichts tun; höre mich an!«

Doch er wehrte sich aus Leibeskräften. »Laß mich, du Ungeheuer!« schrie er. »Du häßlicher Mann! Du willst mich auffressen und mich in Stücke zerreißen, du bist ein Menschenfresser laß mich, oder ich sage es Papa!«

»Aber, mein Liebling, du wirst deinen Vater nie wieder sehen, du kommst mit mir.«

»Du greulicher Mensch, laß mich. Papa ist Richter. Er heißt Frankenstein. Er wird dich bestrafen. Du mußt mich loslassen!«

»Frankenstein heißt du? Dann gehörst du also zu meinen Feinden, zu dem, dem ich ewige Rache geschworen. Du wirst mein erstes Opfer sein.«

Das Kind wehrte sich verzweifelt und schleuderte mir Schimpfnamen ins Gesicht, daß mein Herz erstarrte. Ich drückte ihm die Kehle zu, um es zum Schweigen zu bringen, und im nächsten Augenblick taumelte es tot zu meinen Füßen nieder.

Ich sah auf mein Opfer und mein Herz klopfte in höllischem Triumph. Ich klatschte in die Hände und rief: »Auch ich kann Verzweiflung säen; meine Feinde sind nicht unverletzlich. Dieser Mord wird ihnen nahe gehen und mit tausend anderen Dingen werde ich sie quälen und vernichten.«

Ich blickte noch einmal auf den kleinen Leichnam und sah an seinem Halse etwas Glitzerndes hängen. Ich griff danach. Es war das Bildnis eines wunderschönen Weibes, dessen Liebreiz mich trotz meiner Wut bestrickte. Einige Augenblicke starrte ich auf die dunklen Augen, die von langen Wimpern beschattet wurden, und auf die frischen, roten Lippen. Ich wußte, daß ich für immer des Glückes entbehren mußte, das solch liebliche Geschöpfe gewähren, und daß das reizende Gesicht, hätte die Trägerin mich sehen können, im nächsten Augenblick den Ausdruck der Angst und des Ekels angenommen hätte.

Brauche ich dir zu sagen, daß dieser Gedanke meinen Zorn von neuem anstachelte? Ich wundere mich selbst, daß ich nicht, anstatt meinen Schmerz durch lautes Brüllen hinauszuschreien, mich auf die Menschheit stürzte, um sie zu vernichten.

Ich verließ die Stelle, auf der der Mord geschehen war, und suchte nach einem anderen Versteck, wo ich vor Entdeckung sicher war. Ich kam zu einem Stall, der mir leer schien. Als ich eintrat, erblickte ich ein Mädchen, das auf einem Strohhaufen schlief. Sie war jung und schön, wenn auch nicht so schön wie das Weib, dessen Bild ich noch in der Hand trug. Aber sie blühte in der ganzen Schönheit und Frische der Jugend. Hier lag eines der beglückenden Geschöpfe, beglückend für alle außer mir. Ich beugte mich über sie und flüsterte: »Wach auf, Süße, dein Liebster ist da, dein Liebster, der sein Leben dafür gäbe, um einen Liebesblick aus deinen Augen zu empfangen, – wach auf.«

Die Schläferin bewegte sich und ein Schauer überrieselte meinen Leib. Sollte ich sie wirklich wecken? Sie hätte jedenfalls bei meinem Anblick furchtbar geschrieen und man hätte den Mörder gefaßt. Der Gedanke machte mich rasend; nicht ich sollte leiden, sondern sie. Ich habe den Mord begangen, weil ich das für immer missen mußte, was sie zu gewähren hatte. Sie selbst ist an meinem Verbrechen mitschuldig und soll die gerechte Strafe dafür erleiden! Aus Felix‘ Unterricht an seine Geliebte hatte ich von den blutigen Gesetzen der Menschen erfahren und wußte, wie ich Unheil säen konnte. Ich steckte der Schläferin vorsichtig das Porträt in eine ihrer Kleidertaschen, und als sie sich bewegte, floh ich.

Einige Tage trieb ich mich noch in der Umgebung des Platzes umher, wo sich das alles ereignet hatte. Ich wußte nicht, sollte ich es noch versuchen mit dir zusammenzukommen oder meinem elenden Dasein ein Ende bereiten. Schließlich suchte ich Zuflucht in diesen Bergen und durchstreifte ihre tiefsten Schluchten, verzehrt von einer brennenden Leidenschaft, die nur du allein befriedigen kannst. Du wirst diesen Platz nicht verlassen, ehe du mir versprochen hast, meine Bitte zu erfüllen. Ich bin allein und unglücklich. Mit Menschen werde ich nie verkehren können, das habe ich gesehen; aber ein Wesen, das ebenso häßlich und mißgestaltet ist wie ich, wird mir seine Neigung nicht versagen. Meine Genossin muß von derselben Art sein wie ich und dieselben Mängel haben. Dieses Wesen mußt du mir schaffen.

17. Kapitel

Der Dämon schwieg und heftete seine furchtbaren Augen auf mich, meine Antwort erwartend. Ich war so erstaunt und erschreckt, daß ich zuerst gar nicht imstande war, die Tragweite seines Wunsches zu ermessen. Er fuhr fort:

»Du mußt mir ein Weib schaffen, mit dem ich zusammen leben kann. Du allein kannst das und ich fordere es von dir; es ist mein Recht, das du mir nicht versagen darfst.«

Der letzte Teil seiner Erzählung hatte in mir wieder den Haß gegen ihn erweckt, der bei der Schilderung seiner Erlebnisse mit der Familie de Lacey etwas eingeschlummert war und sogar einem gewissen Gefühl der Teilnahme Platz gemacht hatte, dann aber brach ich wütend los:

»Das werde ich nicht, und keine Qual wird je ein Zugeständnis aus mir herauspressen. Du kannst mich verstümmeln und töten, du kannst mich zum elendesten der Menschen machen, aber du wirst es nie so weit bringen, daß ich in meinen eigenen Augen wie ein Schurke dastehe. Ich soll ein solches Wesen schaffen, damit ihr vereint eure verruchte Bosheit auf die Welt loslassen könnt? Aus meinen Augen! Meine Antwort hast du. Martere mich, aber glaube nicht, daß ich deinen Wunsch erfülle.«

»Du bist im Irrtum«, erwiderte der Dämon. »Und anstatt dir zu drohen, bitte ich dich, meinen Vernunftgründen dein Ohr zu leihen. Ich bin nur schlecht, weil ich elend bin. Verfolgen und hassen mich nicht alle, die mich erblicken? Du, mein Schöpfer, du würdest mich frohlockend in Stücke reißen. Sage mir, warum soll ich mit den Menschen mehr Mitleid haben als sie mit mir? Du würdest dich keines Mordes schuldig fühlen, wenn du mich, das Werk deiner Hände, in eine dieser Eisspalten werfen und zerschmettern könntest. Soll ich jemand achten, der mich verachtet? Glaube mir, wenn jemand sich entschließen könnte, gut gegen mich zu sein, ich würde es ihm mit Tränen der Dankbarkeit in den Augen danken und ihm alles Gute tun, was in meiner Macht stünde. Aber das wird ja nie geschehen; die menschlichen Sinne bilden unüberwindliche Hindernisse. Doch gedenke ich nicht, mich ohne weiteres zu fügen. Ich will mich für das Erlittene rächen. Wenn ich nicht Liebe einflößen kann, dann will ich Furcht und Entsetzen verbreiten. Und ganz besonders dir, meinem Schöpfer, meinem Erzfeind, schwöre ich unauslöschlichen Haß. Hüte dich! Ich will an deinem Verderben arbeiten und nicht enden, ehe ich dich so unglücklich gemacht, daß du der Stunde deiner Geburt fluchst.«

Teuflische Wut leuchtete aus seinen Augen, als er dies sagte. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer unbeschreiblich schrecklichen Grimasse; aber rasch beherrschte er sich und fuhr ruhiger fort:

»Doch ich hatte ja die Absicht, vernünftig mit dir zu reden. Diese Leidenschaftlichkeit hat keinen Zweck, denn du bist dir ja doch nicht im klaren, daß du alles verschuldet hast. Ein einziger Mensch nur sollte mir sein Wohlwollen beweisen, und um dieses Einen willen würde ich Frieden schließen mit seinem ganzen Geschlecht. Aber ich will nicht in Träumen schwelgen, die doch nie zur Wirklichkeit werden. Was ich von dir fordere ist gerechtfertigt und bescheiden. Ich verlange ein Wesen, das von mir geschlechtlich verschieden, aber ebenso häßlich ist wie ich. Es ist nur wenig, was ich von dir erbitte, aber es ist mir genug. Wahr ist ja, daß wir Ungeheuer sind, die mit der Welt nichts zu schaffen haben; aber umso lieber werden wir einander sein. Wir werden kein glückliches Leben führen, aber wir werden niemand etwas zu Leide tun. O mein Schöpfer, tu mir das zu Liebe; ich will dir für diese eine Wohltat unbegrenzt dankbar sein. Laß mich sehen, daß wenigstens ein lebendes Wesen Mitleid mit mir hat und schlage mir meine Bitte nicht ab.«

Ich war erschüttert; dabei graute mir vor dem Gedanken an die etwaigen Folgen meiner Zustimmung. Aber ich fühlte, daß in seinen Worten eine gewisse Logik lag. Aus seiner Erzählung und aus den Gefühlen, die er mir geoffenbart, konnte ich entnehmen, daß er ursprünglich ein zartes Innenleben besaß. Schuldete ich ihm nicht, nachdem ich ihn einmal geschaffen, auch all das Glück, das ich ihm bescheren konnte? Er merkte, daß ich schwankte, und fuhr fort:

»Wenn du tust, um was ich dich bitte, sollst weder du noch irgend ein anderes menschliches Wesen fürderhin noch etwas von mir hören. Ich will in die weiten Urwälder Südamerikas gehen. Meine Nahrung ist nicht die blutige der Menschen. Ich vernichte nicht Lämmer und Ziegen, um meinen Hunger zu stillen; Nüsse und Beeren genügen mir. Da meine Genossin ebenso beschaffen sein wird wie ich, wird auch sie mit der gleichen Nahrung vorlieb nehmen. Wir werden uns unser Lager aus trockenen Blättern bereiten und die Sonne wird uns ebenso warm scheinen wie den Menschen. Das Bild, das ich dir von unserem künftigen Leben entwarf, ist gewiß ein friedliches und harmloses, und nur in verbohrter Grausamkeit und starrem Eigensinn kannst du mir die Gewährung meiner Bitte versagen. Erbarmungslos warst du bisher gegen mich, aber nun sehe ich deine Augen in einem Schimmer von Mitgefühl leuchten. Laß diesen Augenblick nicht vorübergehen, ohne mir zu versprechen, daß du das tun wirst, um was ich dich bat.«

»Du hast mir ja allerdings versprochen, mit deiner Genossin die Wohnstätten der Menschen zu fliehen und dich in jenen Gegenden niederzulassen, wo nur die Tiere der Wildnis deine Wege kreuzen. Aber wer gibt mir Gewißheit, daß du, der du dich doch so sehr nach der Liebe der Menschen sehnst, es in deinem Asyl aushalten wirst? Du wirst zurückkehren und dich wieder den Menschen zu nähern versuchen und wieder auf ihre Abneigung stoßen. Dein Haß wird von neuem auflodern und du wirst dann nicht mehr allein sein bei deinem Zerstörungswerke. Und das darf nicht sein; gib dir keine Mühe mehr, ich darf nicht ja sagen.«

»Wie unverlässig sind doch eure Gefühle! Eben noch warst du fast gewonnen und nun verschließest du dich plötzlich wieder meinen Bitten. Ich schwöre dir bei der Erde die mich trägt, bei dir selbst, mein Schöpfer, daß ich mit meiner Genossin weit, weit fortgehen werde von den Plätzen, wo Menschen wohnen. Mein Haß wird dann verlöschen, wenn ich einmal nur Wohlwollen gegen mich sehe. Mein Leben wird in Ruhe dahinfließen, und wenn ich sterben muß, dann kann ich dankbar dessen gedenken, der mich geschaffen.«

Seine Worte hatten eine merkwürdige Wirkung. Er tat mir leid und ich hatte das Bedürfnis ihm zu helfen. Aber wenn ich ihn ansah, diese sprechende und wandelnde Fleischmasse, dann ergriff Ekel und Entsetzen mein Herz. Ich versuchte diese Gefühle der Abneigung zu unterdrücken. Dann sagte ich mir, daß ich ihn ja nicht zu lieben brauchte, aber die Verpflichtung hätte, ihn nach meinen Kräften glücklich zu machen. Und es war ja wenig genug, was er forderte.

»Du hast geschworen, niemand mehr etwas zu Leide zu tun,« sagte ich. »Aber hast du denn nicht schon so viel Bosheit gezeigt, daß ich dir mit Recht mißtrauen darf? Kann das nicht eine Vorspiegelung sein, um deine Grausamkeiten nur noch in erhöhtem Maße ausüben zu können?«

»Was soll das heißen? Ich will nicht mit mir scherzen lassen, sondern ich verlange eine strikte Antwort. Wenn ich nicht Liebe finde, ist Haß und Verbrechen mein gutes Recht. Liebe allein vermag das Schlimme, das in mir lauert, zu verhüten, und ich werde ein Geschöpf werden, von dessen Existenz niemand eine Ahnung hat. Meine Verbrechen sind nur Früchte der verhaßten Einsamkeit und meine Tugenden werden dann zur vollen Geltung kommen, wenn ich mit einem Anderen mein Leben teilen kann. Ich werde mit einem fühlenden Wesen zusammen sein und meine Existenz wird ein Glied bilden in der Kette der Existenzen und Ereignisse, wie ich es mir erhofft.«

Ich dachte noch eine Zeitlang über alles nach, was er mir erzählt hatte, und erwog das Für und Wider. Ich war mir klar, daß sein ursprünglich gutmütiges Wesen durch die schlechte Behandlung von Seiten aller, die ihm begegneten, verdorben worden war. Und in meinen Erwägungen spielten seine außergewöhnliche Kraft und die Drohungen, die er ausgestoßen, eine bestimmende Rolle. Ein Wesen, das, wie er, in den Eishöhlen der Gletscher wohnen und sich vor allen Verfolgungen in die unzugänglichsten Schroffen der Gebirge flüchten konnte, durfte nicht unterschätzt werden. Nach längerem Zögern stand dann mein Entschluß fest, mit Rücksicht auf ihn selbst und besonders meine Mitmenschen seinen Wunsch zu erfüllen. Ich wandte mich zu ihm und sagte:

»Ich werde also deinen Willen tun. Aber du mußt mir feierlich versprechen, daß du Europa und überhaupt jede von Menschen bewohnte Gegend sofort verläßt, sobald ich dir das Weib übergebe, das dir in die Verbannung folgen soll.«

»Ich schwöre es dir bei der Sonne, bei dem blauen Himmel und bei der heißen Glut, die in meinem Herzen lodert, daß du mich nimmer sehen sollst, wenn du mein Flehen erhört hast. Geh heim und beginne mit der Arbeit. Ich werde mit Sehnsucht ihren Fortschritt beobachten und erst dann mich wieder bei dir sehen lassen, wenn das Werk vollendet ist.«

Nachdem er das gesagt, eilte er davon, so rasch er konnte, weil er vielleicht eine Sinnesänderung bei mir befürchtete. Er sprang in großen Sätzen zu Tal und verschwand bald in den Schrunden des Eismeeres.

Seine Erzählung hatte den ganzen Tag in Anspruch genommen und die Sonne näherte sich schon dem Horizont, als er mich verließ. Ich wußte, daß ich mich sehr zu beeilen hatte, wenn ich noch vor Einbruch völliger Dunkelheit das Tal erreichen wollte. Aber mein Herz war schwer und meine Schritte langsam. Meine Kniee schmerzten beim Hinuntersteigen auf dem schmalen, gewundenen Gebirgspfad und meine Gedanken beschäftigten sich unaufhörlich mit den seltsamen Ereignissen des Tages. Es war schon Nacht geworden, als ich zu einer Ruhebank neben einer Quelle kam. Ich ließ ich dort nieder, um ein wenig zu rasten. Die Wolken zogen eilends am Himmel dahin und zwischen ihnen blickten freundlich die Sterne. Dunkle Fichten, zwischen denen da und dort zerbrochene Stämme am Boden lagen, erhoben sich vor mir in die klare Nachtluft. Eine feierliche Ruhe herrschte rings um mich und ich fieberte fast vor Erregung. Bitterlich weinend rang ich die Hände und rief aus: »O, ihr Sterne und Wolken und Winde, ihr seid nur da, um mich zu verhöhnen. Wenn ihr wirklich Mitleid mit mir habt, dann raubt mir Gefühl und Gedächtnis; laßt mich zu Nichts werden. Aber wenn ihr das nicht könnt, dann laßt mich allein, ganz allein!«

Wilde Gedanken waren es, die mir mein Elend eingab. Ich kann es gar nicht sagen, wie das Glitzern der ewigen Sterne auf mich einwirkte, und auf jedes leise Säuseln des Windes lauschte ich angstvoll und gespannt, als sei es das Brausen eines glühenden Sirocco, der mich hinwegfegen wollte.

Der Morgen dämmerte herauf, als ich Chamounix erreichte. Ich hielt mich nicht mehr auf, sondern setzte gleich meinen Weg nach Genf fort. Meine Gefühle lasteten mit furchtbarer Schwere auf mir. So kehrte ich heim und begrüßte meine Familie. Mein verstörtes und wildes Aussehen erschreckte sie. Aber ich gab auf alle Fragen keine Antwort; ich konnte nicht sprechen, denn ich stand wie unter einem unheimlichen Banne. Mir war, als hätte ich kein Recht mehr auf ihre Liebe, als dürfte ich nimmer ihrer Gesellschaft froh werden. Und ich liebte sie doch so sehr; nur um sie zu retten hatte ich beschlossen, mich der abstoßenden Arbeit noch einmal hinzugeben. Alles andere war mir wie ein Traum, und nur der Gedanke an das Grauenvolle, was mir bevorstand, starrte mich an wie ein Medusenhaupt.

18. Kapitel

Tag um Tag, Woche um Woche verflossen nach meiner Ankunft in Genf, und immer fand ich den Mut nicht, an mein Werk zu gehen. Ich fürchtete mich vor dem verhaßten Dämon, war aber nicht imstande, das Grauen zu überwinden, das ich gegen die mir aufgezwungene Arbeit empfand. Ich hatte unterdessen erfahren, daß ein englischer Philosoph Studien gemacht hatte, deren Kenntnis für das Gelingen meines Werkes wesentlich war, und hoffte ich von meinem Vater die Erlaubnis zu erhalten, zu diesem Zwecke England zu besuchen. Ich klammerte mich an jede Gelegenheit, die Sache hinauszuschieben, und zögerte den ersten Schritt zur Erfüllung meines Versprechens zu tun. An mir selbst hatte sich eine wesentliche Änderung vollzogen. Mein Gesundheitszustand, der bisher nicht der beste gewesen war, war bedeutend günstiger und mein Gemüt war wieder heiterer geworden, wenn mich nicht gerade die Erinnerung an mein unseliges Vorhaben quälte. Mein Vater schien diese Veränderung mit Freuden zu bemerken und sann auf Mittel, meine trüben Gedanken, die hier und da wiederkehrten und wie düstere Schatten sich vor mein kommendes Glück stellten, gänzlich zu vertreiben. In diesen Augenblicken der Niedergeschlagenheit suchte ich in vollkommenster Einsamkeit meine Zuflucht. Ich verbrachte ganze Tage allein in einem Boote auf dem See, sah dem Fluge der Wolken zu und lauschte dem leisen Plätschern der Wellen am Kiel. Die frische Luft und der warme Sonnenschein verfehlten auch nie ihre Wirkung auf mein Gemüt und ich konnte dann bei meiner Heimkehr die Begrüßung der Meinen immer mit leichterem Herzen und mit froherem Sinne entgegennehmen.

Als ich wieder einmal von einem solchen Ausflug zurückkehrte, nahm mich mein Vater auf die Seite und sagte:

»Ich habe mit großer Freude gemerkt, mein lieber Sohn, daß dein früherer Frohsinn zurückkehrt und du wieder der wirst, der du einst warst. Und dennoch bist du noch immer nicht ganz glücklich und meidest unsere Gesellschaft. Längere Zeit konnte ich mir keinen Grund dafür denken. Gestern aber kam mir eine Idee, und wenn etwas daran ist, so beschwöre ich dich, es mir zu gestehen. Rücksichtnahme in dieser Sache ist gar nicht angebracht, sondern würde nur noch mehr Unheil über uns bringen.«

Ich zitterte bei dieser Einleitung, und mein Vater fuhr fort:

»Ich muß dir ja gestehen, lieber Viktor, daß ich deine Verbindung mit unserer lieben Elisabeth stets als die Krönung unseres Glücks anzusehen pflegte, als die Freude meines herannahenden Alters. Ihr habt einander von frühester Jugend an gern gehabt, habt mit einander gelernt und scheint nach Anlagen und Geschmack wie für einander bestimmt. Aber so blind sind wir Menschen. Das, was ich für das beste hielt, um meine Zukunftspläne zu fördern, war vielleicht am meisten geeignet ihnen entgegenzuarbeiten. Du hast sie jedenfalls nur als Schwester lieben gelernt und hegst gar nicht den Wunsch, sie als deine Frau zu besitzen. Ich glaube eher, daß du eine andere liebgewonnen hast und daß dich der Kampf deiner Liebe gegen die von dir bereits übernommene Pflicht so elend macht.«

»Du befindest dich im Irrtum, lieber Vater. Ich liebe Elisabeth herzlich und aufrichtig. Ich habe nie ein Weib kennen gelernt, das meine Bewunderung und Zuneigung so erregt hätte, wie es Elisabeth tut. Der Gedanke an meine Zukunft hängt eng mit dem an meine Verbindung mit ihr zusammen.«

»Das, was du mir sagst, macht mir mehr Freude, als ich sie seit langem empfunden. Wenn es so ist, dann werden wir sicherlich glücklich werden, wenn auch über der Gegenwart noch die düsteren Schatten der jüngsten Ereignisse lagern. Der Kummer hat uns alle so in seinen Bann gezogen, daß ich mit allen Mitteln ihn zu zerstreuen suchen muß. Sage mir also, ob du gegen die baldige Hochzeit etwas einzuwenden hast. Die unseligen Ereignisse lassen mich vorzeitig alt und schwach werden; und wenn ich das Glück noch erleben soll, darfst du nicht mehr lange zögern, es sei denn, daß irgendwelche Dispositionen bestehen, die dir zunächst die Heirat noch unerwünscht erscheinen lassen. Nicht als ob ich dich drängen wollte. Nimm meine Worte so auf, wie sie gemeint sind, und antworte mir frei und offen.«

Ich hatte meinem Vater schweigend zugehört und war lange nicht imstande, irgendetwas zu erwidern. In rasender Eile schossen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf und ich war unfähig, zu einem endgültigen Entschluß zu kommen. Die Idee meiner sofortigen Verbindung mit Elisabeth mußte mir unter den obwaltenden Verhältnissen natürlich Sorge und Unbehagen einflößen. Ich war durch ein feierliches Versprechen gebunden, das noch nicht eingelöst war, aber auch nicht gebrochen werden durfte. Oder wenn ich dies dennoch wagte, was stand alles mir und meinen Lieben bevor? Konnte ich das Freudenfest begehen mit der furchtbaren Last, die mir den Nacken beugte und mich zu Boden drückte? Ich mußte zuerst meiner Verpflichtung nachkommen und den Dämon mit seiner Genossin weit in die Welt hinausgesandt haben, ehe ich daran denken konnte, in der ersehnten Verbindung den lang entbehrten Frieden zu finden.

Ich überlegte, ob es notwendig sei, selbst nach England zu reisen, oder ob es genüge, brieflich mit jenem Philosophen in Verbindung zu treten, dessen Entdeckungen für das Gelingen meines Werkes von Bedeutung war. Die letztere Art, mir die gewünschten Aufschlüsse zu verschaffen, erschien mir ungenügend und langwierig; außerdem hatte ich eine unüberwindliche Scheu davor, die gräßliche Arbeit in meines Vaters Hause vorzunehmen, wo ich tagtäglich mit meinen Lieben zusammen war. Ich wußte, daß tausend kleine Zufälligkeiten mein Geheimnis aufdecken konnten und daß meinen Angehörigen all die Erregungen und Gemütsbewegungen nicht entgehen würden, die meine grauenerregende Beschäftigung unbedingt im Gefolge haben mußte. Es war also unumgänglich nötig fortzugehen, um mein Versprechen zu erfüllen. Wenn ich einmal angefangen hatte, dann ging es ja rasch vorwärts und ich konnte ruhig und zufrieden in den Schoß meiner Familie zurückkehren. Denn dann war auch der unheimliche Dämon über alle Berge oder aber – das wäre mir das Liebste gewesen – er war durch irgend einen Zufall vernichtet worden und ich meiner Sklaverei für immer ledig.

Das waren die Gesichtspunkte, die mir die Antwort an meinen Vater diktierten. Ich äußerte den Wunsch, vorher noch England besuchen zu dürfen. Ich verbarg ja meine wahren Beweggründe sorgfältig, wußte aber mein Anliegen doch so dringend vorzubringen, daß mein Vater sich einverstanden erklärte. Er freute sich, daß ich nach einer so langen Periode tiefster Schwermut, die bereits an Irrsinn grenzte, wieder die Kraft gefunden hatte, eine solche Reise zu planen, und gab der Hoffnung Ausdruck, daß die immer wechselnden Bilder und die mannigfachen Zerstreuungen imstande sein würden, mich gänzlich wiederherzustellen.

Wie lange ich fortbleiben wollte, blieb vollkommen mir überlassen; man hielt einige Monate, höchstens aber ein Jahr für ausreichend. In seiner großen Güte hatte mein Vater auch schon für einen Reisegenossen gesorgt. Ohne mich vorher zu benachrichtigen, hatte er in Übereinstimmung mit Elisabeth es so eingerichtet, daß Clerval in Straßburg mit mir zusammentraf. Allerdings störte das insofern meine Pläne, als ich mir zur Erfüllung meiner Aufgabe vollkommene Ungestörtheit gewünscht hätte. Jedenfalls konnte im Anfang meiner Reise die Anwesenheit meines Freundes keine Störung bedeuten und hatte das Gute, daß mir über manche Stunde trüben Nachgrübelns hinweggeholfen wurde. Und dann war ja Henry ein Schutz gegen Einmischung meines Feindes. Würde dieser nicht mein Alleinsein öfters benützt haben, um mir seine verhaßte Gesellschaft aufzudrängen, um mich anzuspornen und die Fortschritte meiner Arbeit zu kontrollieren?

Es stand also fest, daß ich nach England reisen sollte, und ebenso fest stand es, daß ich sofort nach meiner Rückkehr Elisabeth heimführte. Mein Vater war nicht mehr so jung, um Verzögerungen gleichmütig hinzunehmen. Es wartete meiner die Entschädigung für all das Unbeschreibliche, was ich erlitten, und in den Armen meines Weibes durfte ich dann meiner drückenden Sklaverei vergessen.

Während ich meine Reisevorbereitungen traf, erfüllte mich der Gedanke mit Angst und Sorge, daß ich meine Lieben den Angriffen des unbekannten Feindes überließ, der vielleicht durch meine Abreise gereizt, deren Gründe er nicht wußte, sich an mir würde rächen wollen. Andererseits hatte er mir versprochen, mir überallhin zu folgen. Sollte er vor einer Reise nach England zurückschrecken? Der Gedanke daran war an sich schrecklich, aber es lag für mich eine gewisse Beruhigung darin, da ich ihn aus der Nähe der Meinen gerückt wußte. Ich mochte gar nicht daran denken, daß das Gegenteil meiner Kombinationen eintreten könnte. Jedenfalls ließ ich mich von der Eingebung des Augenblicks leiten, die mir überzeugend zuflüsterte, daß der Dämon mir folgen und meine Familie unbehelligt lassen werde.

Es war in den letzten Tagen des September, als ich aufs neue mein Vaterhaus verließ. Die Reise war mein eigener Wille gewesen und deshalb fügte sich Elisabeth darein. Aber sie litt unter dem Gedanken, daß ich, fern von ihr, wieder eine Beute des Kummers und des Grames werden könnte. Ihre Idee war es gewesen, mir Clerval als Reisebegleiter zuzugesellen, denn wo eines Mannes Verstand schon lange zu Ende ist, findet eine kluge Frau immer noch Wege. Sie flehte mich an, recht rasch wieder heimzukehren, und sagte mir dann mit tränenerstickter Stimme Lebewohl.

Ich stieg in den Wagen, der mich entführen sollte. Ich vergaß, wohin ich ging, und ließ gleichgültig alles über mich ergehen. Das Einzige, was mir noch einfiel, war die Anordnung, daß meine chemischen Apparate eingepackt und mir nachgesandt werden sollten. In trauriges Nachdenken versunken durchfuhr ich die herrliche Gebirgslandschaft; meine Augen waren starr und nicht fähig, irgend welche Eindrücke zu vermitteln. Ich dachte nur an das Ziel meiner Reise und das Werk, das meiner wartete.

Einige Tage vergingen so in trostloser Gleichgültigkeit. Endlich erreichte ich Straßburg, woselbst ich zwei Tage auf Clerval zu warten hatte. Und er kam. Aber was für ein Unterschied bestand zwischen und beiden. Er freute sich der Natur und war glücklich, wenn er die Sonne glühend untergehen oder sie rosig emporsteigen sah. Er machte mich auf die wechselnden Farben in der Landschaft und am Himmel aufmerksam. »Nun weiß ich, wie schön das Leben ist! Und ich freue mich dieses Lebens!« rief er aus. »Aber du, lieber Frankenstein, warum siehst du so traurig und besorgt in die Welt?« Tatsächlich erfüllten mich quälende Gedanken und ich hatte keinen Sinn für das Aufleuchten des Abendsterns oder das goldige Blinken der Sonne in den Wellen des Rheins.

11. Kapitel

»Mit Mühe nur erinnere ich mich der ersten Zeit, nachdem ich entstanden war. Alles, was sich in jener Zeit ereignete, ist mir unklar und verschleiert. Eine Menge unbestimmter Gefühle bemächtigte sich meiner, meine sämtlichen Sinne traten zugleich in Aktion und es bedurfte längerer Erfahrung, bis ich sie auseinander zu halten vermochte. Ich erinnere mich, daß helles Licht auf mich eindrang, so daß ich die Augen schließen mußte. Dann wurde es dunkel um mich und ich fürchtete mich. Als ich dann die Augen wieder öffnete, war es so hell wie zuvor. Ich setzte mich in Bewegung und stieg auf die Straße hinab. Da war es nun wieder ganz anders. Vorher hatten mich undurchsichtige Grenzen umgeben, die ich weder körperlich noch auch mit den Augen durchdringen konnte; draußen aber bemerkte ich, daß ich mich ungehindert zu bewegen vermochte. Das Licht tat mir allmählich weh und zugleich belästigte mich die große Hitze. Ich suchte deshalb einen Platz aus, wo ich mich im Schatten ausruhen konnte. Es war dies ein Wald in der Nähe von Ingolstadt, und hier ließ ich mich am Ufer eines Baches nieder und ruhte, bis mich Hunger und Durst auftrieben. Ich verzehrte Beeren, die ich an Sträuchern oder am Boden fand. Dann stillte ich meinen Durst mit dem Wasser des Baches und legte mich wieder schlafen.

Es war finster, als ich erwachte. Ich fror und hatte ein drückendes Gefühl des Alleinseins. Ehe ich dein Haus verließ, hatte ich mich, da mir kalt war, mit einigen Kleidern behängt, aber sie waren völlig ungenügend, um mich vor dem Tau der Nacht zu schützen. Ich war ein armes, elendes, bedauernswertes Geschöpf. Ich wußte nichts, ich verstand nicht, mich all des Unangenehmen zu erwehren, das von allen Seiten auf mich eindrang. So setzte ich mich nieder und weinte.

Unterdessen kam am Himmel ein mildes Licht heraufgestiegen und ich empfand Freude darüber. Ich sprang auf und erblickte eine glänzende Scheibe, die über den Bäumen stand. Wie ein Wunder starrte ich sie an. Ich bewegte mich langsam und vorsichtig, aber dann bemerkte ich, daß sie mir auf meinem Wege leuchtete. Ich begab mich wieder auf die Suche nach Beeren. Es war noch kalt und unter einem Baume fand ich etwas Schutz. Bestimmte Gefühle hatte ich nicht, alles war noch ganz konfus. Ich fühlte Licht und Dunkelheit, ich empfand Hunger und Durst; unendliche Geräusche füllten mir die Ohren und allerlei Gerüche drangen mir in die Nase. Das Einzige, was ich genau unterscheiden konnte, war der Mond, den ich mit einem gewissen Vergnügen betrachtete.

Mehrere Tage und Nächte waren vergangen und der Mond hatte schon bedeutend abgenommen, als ich allmählich imstande war, meine Empfindungen auseinander zu halten. Ich sah den klaren Bach, der mich mit Wasser versorgte, und die Bäume, die mir mit ihrem Laub Schatten und Schutz gaben. Mit Freude entdeckte ich, daß ein liebliches Geräusch, das mir unter Tags fast unausgesetzt an die Ohren schlug, von kleinen, geflügelten Wesen herrührte. Oftmals versuchte ich ihren Gesang nachzuahmen, aber es war mir unmöglich. Oft auch bemühte ich mich, meinen Gefühlen in meiner Weise Ausdruck zu geben. Da ich aber nur harte, unartikulierte Laute zuwege brachte, erschrak ich und schwieg.

Unterdessen hatte der Mond aufgehört, in den Nächten zu scheinen, und war dann wieder als kleine Sichel am Himmel aufgetaucht. Ich aber weilte immer noch im Walde. Meine Sinne hatten sich während dieser Zeit geschärft und jeder Tag brachte mir neue Anregungen. Meine Augen hatten sich an das Licht gewöhnt und gelernt, die Gegenstände in ihrer richtigen Form zu erkennen. Ich konnte einen Käfer von einer Pflanze und die Pflanzen wieder unter sich unterscheiden. Ich hatte entdeckt, daß der Sperling nur rauhe, häßliche Laute zur Verfügung hat, während der Gesang der Nachtigall oder der Drossel mir Entzücken verursachte.

Eines Tages, als mich die Kälte umhertrieb, fand ich ein Feuer, das irgendwelche wandernden Bettler sich im Walde angezündet haben mochten, und freute mich der Wärme, die es ausstrahlte. In meiner Freude steckte ich meine Hand in die Glut, zog sie aber mit einem Aufschrei wieder zurück. Wie seltsam, dachte ich nur, daß ein und dieselbe Ursache so verschiedene Wirkungen haben kann. Ich untersuchte das brennende Material und erkannte zu meiner Wonne, daß es gewöhnliches Holz war. Ich sammelte eilends ein paar Zweige, aber sie waren feucht und wollten nicht brennen. Das tat mir sehr leid und ich setzte mich sinnend ans Feuer und sah ihm zu. Indessen war das Holz, das ich in der Nähe niedergelegt, trocken geworden und war von selbst in Brand geraten. Ich dachte darüber nach und eine Untersuchung der Zweige belehrte mich über die Gründe dieser Erscheinung. Ich machte mich deshalb daran, Holz einzusammeln und stapelte es mir auf, um immer mit recht viel Feuer versehen zu sein. Als es Nacht wurde, fürchtete ich mich vor dem Einschlafen, da ich Angst hatte, das Feuer könne unterdessen erlöschen. Ich deckte es deshalb sorgfältig mit trockenen Zweigen und Blättern zu und legte dann feuchtes Holz darauf. Dann streckte ich mich auf dem Boden aus und versank in Schlaf.

Als ich am Morgen wach wurde, war es mein Erstes, nach dem Feuer zu sehen. Ich deckte es ab und ein leichter Wind fachte es alsbald wieder zu hellen Flammen an. Auch dies beobachtete ich und zog eine Lehre daraus. Ich konstruierte mir einen Fächer aus Zweigen und benützte ihn zum Anfachen der Glut, wenn sie zu erlöschen drohte. Nach Einbruch der Dunkelheit bereitete es mir eine Freude zu sehen, daß das Element nicht nur Wärme, sondern auch Licht verbreitete. Und auch für die Zubereitung meiner Nahrung sollte es mir von Nutzen sein. Denn einige der Speiseabfälle, die die Fremden zurückgelassen hatten, waren durch das Feuer geröstet worden und schmeckten mir besser als die Beeren, die ich bisher von den Sträuchern gepflückt. Ich versuchte deshalb, meine Nahrung in der gleichen Weise zu behandeln, indem ich sie in die Flamme hielt. Die Beeren allerdings wurden vom Feuer verzehrt, während die Nüsse und Wurzeln wesentlich schmackhafter wurden.

Nach und nach wurde meine Nahrung immer spärlicher und ich mußte manchmal den ganzen Tag suchen, bis ich einige armselige Eicheln fand, um meinen rasenden Hunger zu stillen. Ich beschloß daher, meinen bisherigen Aufenthaltsort mit einem anderen zu vertauschen, von dem aus es mir leichter würde, mich mit dem Notwendigsten zu versehen. Allerdings fiel es mir schwer, mein geliebtes Feuer verlassen zu müssen, denn ich wußte ja nicht, wie ich wieder in seinen Besitz kommen könnte. Ich verbrachte längere Zeit mit der Überlegung, wie ich diesem Umstände abhelfen könnte, aber es war vergebens. Ich hüllte mich also fester in meine Lumpen und schritt durch den Wald davon, der sinkenden Sonne entgegen. Drei Tage irrte ich in dem Dickicht umher, bis ich endlich offenes Land erreichte. In der vorhergehenden Nacht war mächtiger Schneefall eingetreten und die ganze Gegend war in ein einförmiges Weiß gehüllt. Es war ein trostloser Anblick und es bereitete mir Schmerz, mit meinen nackten Füßen durch die naßkalte Masse waten zu müssen, die die Erde bedeckte.

Am Morgen fühlte ich ein unbedingtes Bedürfnis nach Speise und einem Unterschlupf; endlich bemerkte ich an einem Hang eine kleine Hütte, die vielleicht für einen Schäfer errichtet worden sein mochte. Der Anblick war mir neu und ich besah mir das Bauwerk genau. Da die Tür offen war, trat ich ein. Ein alter Mann saß drinnen zur Seite eines Herdes, auf dem er seine Mahlzeit bereitete. Als es mich hörte, wendete er sich um, dann sprang er mit einem lauten Schrei auf und rannte über die Felder davon mit einer Eile, deren ich den gebrechlichen Körper nicht für fähig gehalten hätte. Ich war glücklich, daß ich dieses Unterkommen gefunden hatte, denn hier war ich wenigstens sicher vor Regen und Schnee; auch war der Fußboden trocken. Ich verzehrte gierig das stehengebliebene Frühstück, das aus Brot, Käse, Milch und Wein bestand; dem letzteren aber konnte ich keinen Geschmack abgewinnen. Dann überwältigte mich die Müdigkeit und ich legte mich zum Schlummer auf die Streu.

Mittags erwachte ich, und ermuntert durch den klaren Sonnenschein, der durch das Fenster auf die weiße Diele fiel, beschloß ich meine Wanderschaft wieder aufzunehmen. Die Reste des Frühstücks stecke ich in einen Ranzen, den ich zufällig vorfand, und trat meine Reise an, bis ich nach mehreren Stunden, als es Abend werden wollte, ein Dorf erreichte. Wie wunderbar mir alles schien, die Hütten, die kleineren und die ansehnlicheren Häuser! In den Gärten standen noch vereinzelte Gemüsestauden und durch die Fenster konnte ich Milchschüsseln und Käselaibe erkennen, wodurch sich mein Appetit noch steigerte. In eines der schönsten Häuser trat ich ein; aber kaum hatte ich die Schwelle überschritten, als auch schon Kinder schrien und eine Frau ohnmächtig wurde. Das ganze Dorf geriet in Aufruhr. Manche flohen, manche aber griffen mich an, bis ich, vertrieben durch Steinwürfe, auf die Felder hinaus entwich. Voll Angst suchte ich Zuflucht in einem niederen Schuppen, der allerdings sich sehr von den schönen Wohnhäusern unterschied, in deren einem ich unterzukommen gemeint hatte. Der Schuppen lehnte sich an ein Bauernhaus, das hübsch und reinlich aussah. Nach den üblen Erfahrungen, die ich machen mußte, wagte ich es aber nicht hineinzugehen. Mein Unterschlupf war aus Holz gefügt, aber so niedrig, daß ich nicht einmal aufrecht darin sitzen konnte. Der Boden war nackt, aber trocken, und wenn auch der Wind durch unzählige Ritzen und Löcher hereinblies, so war ich doch einigermaßen vor den Unbilden der Witterung geborgen.

Ich legte mich nieder, glücklich, wenigstens dieses Unterkommen gefunden zu haben, das mich, so elend es auch war, doch vor Kälte und, was noch schlimmer war, vor der Feindseligkeit der Menschen schützte.

Es war kaum Morgen geworden, als ich aus meinem Schlupfwinkel kroch, um das Bauernhaus zu betrachten, an das sich der Schuppen anlehnte, und auszukundschaften, ob ich wohl in ihm mich längere Zeit würde aufhalten können. Er lag direkt an der Rückwand des Hauses; auf einer Seite befand sich ein Schweinestall, auf der andern ein klarer Teich. Eine Wand des Schuppens fehlte und ich ergänzte sie durch Aufschichten von Steinen und Holz, und zwar so, daß ich leicht aus und ein gelangen konnte.

Nachdem ich dermaßen meine Wohnung eingerichtet hatte, bedeckt ich noch den Boden mit Stroh, zog mich aber dann eilig zurück. Ich hatte nämlich in der Nähe einen Menschen gesehen und wußte aus der Erfahrung in der vorhergehenden Nacht, daß einem solchen nicht zu trauen war. Als Nahrung für diesen Tag hatte ich mir einen großen Laib Brot gestohlen und dazu ein Gefäß, mittels dessen ich aus dem Teich bei meiner Hütte Wasser schöpfen konnte. Der Boden des Schuppens war ein wenig erhöht und deshalb ganz trocken, und die Nähe des Backofens gab hinreichend Wärme.

Ich hatte mich mit dem Nötigsten versehen und beschloß, bis auf weiteres in diesem Schuppen zu bleiben. Es war im Vergleich mit dem finsteren, kalten Walde ein wahres Paradies für mich und ich brauchte wenigstens nicht mehr auf feuchtem Boden unter tropfenden Ästen zu schlafen. Ich aß mit Genuß meine Mahlzeit und wollte eben durch einen Spalt in der Seitenwand mir Wasser aus dem Teiche schöpfen, als ich einen jungen Menschen erblickte, der mit einem Kübel auf dem Kopfe an dem Schuppen vorbeiging. Es war ein junges Mädchen von feinem Wuchse, so ganz anders, als im allgemeinen Bauern und Bauernmägde zu sein pflegen. Sie war einfach gekleidet, ein weiter, blauer Rock und eine Leinenjacke bildeten ihren Anzug; ihr schönes Haar lag geflochten um ihren Kopf und sie sah still und traurig aus. Sie kam dann außer Sicht. Nach etwa einer Viertelstunde kam sie wieder mit ihrem Kübel, der nun zum Teil mit Milch gefüllt war. Während sie das schwere Gefäß dem Hause zutrug, kam ein junger Mann auf sie zu, der noch trauriger aussah als sie. Er sagte einiges zu ihr und nahm ihr dann den Kübel vom Kopfe, um ihn selbst zum Hause zu bringen. Sie folgte ihm und beide verschwanden in der Tür. Kurze Zeit darauf erschien der junge Mann wieder und ging, einige Werkzeuge auf der Schulter, quer über die angrenzenden Felder. Das Mädchen beschäftigte sich abwechselnd im Hause und im Garten.

In der Wand des Hauses, an die sich mein neues Heim anlehnte, befand sich, wie ich bei der Untersuchung derselben feststellte, ein Fenster, das mit Holz verschalt war und durch einen ganz schmalen Spalt einen Blick in das Innere gestattete. Ich konnte ein kleines, reinliches, aber armselig möbliertes Zimmer erkennen. In einem Winkel, nahe am Feuer, saß ein alter Mann, der wie im Kummer sein Gesicht in den Händen barg. Das Mädchen war damit beschäftigt, das Zimmer in Ordnung zu bringen. Plötzlich zog sie etwas aus einer Schublade und gab es dem alten Manne, indem sie sich neben ihm niederließ. Es war ein Instrument, dem er Töne entlockte, die mich mehr entzückten als der Gesang der Drossel oder der Nachtigall. Es war für mich armes Wesen, das ja noch nie etwas Schönes gesehen, ein lieblicher Anblick. Das Silberhaar des Greises und sein gutes Gesicht ließen mich Ehrfurcht empfinden, während das Verhalten des Mädchens mir Liebe einflößte. Die Weise, die der Alte spielte, lockte Tränen in die Augen des lieblichen Kindes; er achtete ihrer aber nicht. Erst als sie laut aufweinte, sprach er einige Worte zu ihr. Sie kniete dann zu seinen Füßen nieder und er streichelte sie zärtlich. Ich kann die Gefühle nicht beschreiben, die ich dabei empfand. Sie waren ein Gemisch von Lust und Schmerz, wie ich es noch nie kennen gelernt hatte, so ganz anders als Hunger oder Durst, Kälte oder Hitze. Jedenfalls waren sie seltsam und überwältigend, so daß ich mich vom Fenster zurückziehen mußte.

Bald darauf kam der junge Mann nach Hause, auf dem Rücken eine große Ladung Holz. Das Mädchen ging ihm entgegen, half ihm seine Bürde abnehmen und legte einen Teil des Holzes ins Feuer. Dann gingen sie zusammen in eine Ecke des Zimmers und er zeigte ihr einen großen Laib Brot und ein Stück Käse. Sie schien darüber erfreut und begab sich in den Garten, um einige Wurzeln und Kräuter zu holen. Diese legte sie dann in Wasser und stellte dieses auf das Feuer. Während sie in dieser Weise beschäftigt war, ging der junge Mensch in den Garten hinaus und grub dort eifrig Wurzeln aus. Längere Zeit war vergangen, da kam das junge Mädchen und ging mit ihm wieder zurück ins Haus.

Der alte Mann war unterdessen nachdenklich dagesessen; als aber seine Hausgenossen eintraten, ward seine Miene wieder fröhlicher und sie setzten sich alle miteinander an den Tisch, um zu essen. Die Mahlzeit war bald zu Ende. Während das Mädchen das Zimmer in Ordnung brachte, ging der Greis, auf den jungen Mann gestützt, im Sonnenschein spazieren. Es war ein merkwürdiger Kontrast zwischen den beiden Menschen. Der Alte im Silberhaar mit seinen guten, liebenvollen Zügen, der Junge, hoch und schlank gewachsen, mit seinem feinen, ebenmäßigen Gesicht. Seine Augen allerdings und seine Haltung ließen erkennen, daß er sehr traurig und niedergeschlagen war. Der Greis kehrte dann in sein Haus zurück, während der Jüngling mit Werkzeug es war anderes als das, das er morgen getragen – sich auf die Felder begab.

Rasch brach die Nacht herein; aber zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß die Bewohner des Hauses ein Mittel besaßen, das Licht des Tages zu ersetzten, indem sie Wachskerzen anzündeten. Auch machte es mir große Freude, denn nun konnte ich die Leute länger aus meinem Schlupfwinkel beobachten. Der Alte nahm wieder sein Instrument zur Hand, dessen Töne mich schon am Morgen so entzückt hatten. Als er geendet hatte, geschah etwas, was ich nicht begriff. Der junge Mensch wiederholte in einemfort monotone Laute, die es an Schönheit und Harmonie weder mit der Musik des Greises noch mit dem Gesang der Vögel aufnehmen konnten. Später kam ich darauf, daß er laut vorlas, aber damals hatte ich noch keine Ahnung von dem Geheimnis der Buchstaben und Worte.

Die Familie blieb noch einige Zeit beisammen, dann löschte der Alte das Licht und sie begaben sich, wie ich vermutete, zur Ruhe.

12. Kapitel

Ich lag auf meinem Stroh, konnte aber nicht schlafen. Ich mußte über das nachdenken, was ich den Tag über gesehen und gehört hatte. Das, was mir besonders zu denken gab, waren die liebenswürdigen Manieren dieser Leute. Ich sehnte mich danach, mit ihnen in Verbindung zu treten, aber ich wagte es nicht. Nicht umsonst erinnerte ich mich der barbarischen Behandlung, die mir in der vergangenen Nacht von Seite der Dorfbewohner zuteil geworden war. Zunächst beschloß ich, in meinem Schuppen zu bleiben und sie noch genauer zu beobachten.

Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, waren die Leute schon munter. Das Mädchen brachte wieder das Haus in Ordnung und bereitete eine Mahlzeit. Nachdem diese eingenommen war, ging der Jüngling fort.

Der Tag spielte sich in derselben Weise ab wie der vorhergehende. Der Jüngling war die meiste Zeit außerhalb des Hauses beschäftigt, während das Mädchen sich innerhalb desselben zu schaffen machte. Der Alte, der, wie ich bemerkte, blind war, verbrachte seine Zeit, indem er auf seinem Instrument spielte oder nachdenklich im Zimmer saß. Es war schön anzusehen, welche Liebe und Verehrung die jungen Menschen dem Greise zuteil werden ließen. Sie pflegten ihn mit zarter Hingabe und wurden durch sein gütiges Lächeln belohnt.

Ganz glücklich schienen sie jedoch nicht zu sein, denn öfter sah ich die beiden jungen Leute weinen. Ich konnte es mir nicht erklären, jedenfalls aber empfand ich tiefes Mitleid mit ihnen. Wenn schon solche Geschöpfe unglücklich waren, ist es nicht verwunderlich, daß ich, der ich einsam und häßlich war, noch viel mehr litt. Aber warum waren sie unglücklich? Sie besaßen ein herrliches Haus (wenigstens schien es mir herrlich) und alles, was sie bedurften. Sie hatten Feuer, um sich daran zu wärmen, wenn sie froren, und köstliche Speisen, wenn sie Hunger hatten. Sie waren schön gekleidet, und was noch besser ist als alles andere, sie waren nicht allein, sondern freuten sich gegenseitig ihrer Gesellschaft. Was hatten also ihre Tränen zu bedeuten? Waren sie wirklich der Ausdruck des Leides? Zuerst war ich nicht imstande, mir diese Fragen zu beantworten, aber mit der Zeit ward mir verschiedenes klar, was mir bisher rätselhaft gewesen.

Es bedurfte langer Zeit, ehe ich eine der Hauptursachen ihres Kummers begriff. Es war die Armut, unter der sie in schrecklicher Weise zu leiden hatten. Ihre Nahrung bestand fast nur aus den Kräutern, die ihnen der Garten lieferte, und der Milch ihrer einzigen Kuh, für die sie im Winter kaum genügend Futter herbeizuschaffen vermochten. Ich glaube, daß die beiden jungen Menschen oft vom Hunger gequält wurden, denn ich bemerkte mehrmals, daß sie dem Greise Nahrung vorsetzten, ohne für sich selbst etwas übrig zu behalten.

Dieser Zug von Güte rührte mich. Ich hatte bisher in der Nacht einen Teil ihrer Nahrungsmittel für meinen Gebrauch gestohlen. Nachdem ich aber wußte, daß ich den guten Menschen damit wehe tat, verzichtete ich darauf und holte mir in einem benachbarten Gehölz Beeren, Nüsse und Wurzeln.

Ich entdeckte auch ein Mittel, ihnen bei ihrer Arbeit behülflich zu sein. Ich hatte beobachtet, daß der junge Mensch einen großen Teil des Tages darauf verwendete, Holz für den heimatlichen Herd zu sammeln. Ich nahm daher in der Nacht sein Werkzeug an mich, dessen Gebrauch ich rasch erlernte, und brachte Heizmaterial mit nach Hause, das für mehrere Tage ausreichte.

Ich erinnere mich, wie das Mädchen erstaunte, als sie eines Morgens, vor die Haustüre tretend, einen großen Haufen Holz aufgeschichtet vor sich sah. Sie schrie laut auf, und als der Jüngling herbeikam, äußerten sie offenbar ihr Erstaunen. Ich bemerkte mit Genugtuung, daß er es an diesem Tage unterließ, in den Wald zu gehen, sondern sich im Hause und im Garten beschäftigte.

Nach und nach machte ich aber eine Entdeckung, die für mich von ungeheurer Wichtigkeit war. Ich bemerkte nämlich, daß diese Wesen eine Methode besaßen, sich gegenseitig ihre Gefühle in artikulierten Lauten auszudrücken und daß die Worte, die sie sprachen, bald Leid, bald Freude, bald Frohsinn, bald Schmerz im Zuhörer hervorzurufen vermochten, wie man an ihren Mienen erkennen konnte. Das war allerdings eine herrliche Gabe und ich brannte förmlich danach, diese Methode genauer zu erforschen. Aber jeder Versuch, den ich unternahm, scheiterte kläglich. Ihre Aussprache war rasch, und da ich keinen Zusammenhang zwischen ihren Worten und den bestehenden Dingen sah, hatte ich gar keinen Anhaltspunkt. Nur meinem großen Eifer hatte ich es zu danken, daß es mir nach Verlauf mehrerer Monate gelang, die gebräuchlichsten Bezeichnungen zu erlernen. Ich wußte die Worte: Feuer, Milch, Brot und Holz zu deuten und auszusprechen. Dann merkte ich mir die Namen der Hausbewohner selbst. Hierbei fiel mir auf, daß die beiden jungen Leute mehrere Namen, der Alte aber nur einen, nämlich »Vater« hatte. Das Mädchen hieß »Schwester« oder »Agathe«, der Jüngling »Felix«, »Bruder« oder »Sohn«. Ich kann dir das Vergnügen nicht schildern, das ich empfand, als ich einigermaßen in die Gedankenwelt der guten Leute eindringen konnte. Sie gebrauchten noch mehr sehr häufig andere Worte, deren Sinn ich aber zunächst nicht begriff, wie zum Beispiel »gut«, »Liebster« oder »unglücklich«.

Unterdessen war der Winter vergangen und ich hatte diese Menschen sehr lieb gewonnen, so daß ich mit ihnen litt, wenn sie traurig waren, und mich freute, wenn sie sich freuten. Außer ihnen sah ich nur wenige menschliche Wesen, und wenn es ja vorkam, daß Fremde das Haus betraten, so fiel der Vergleich zwischen ihnen und meinen Freunden immer zum Vorteil der letzteren aus. Der Alte schien sich oftmals zu bemühen, seinen Hausgenossen Mut zuzusprechen, und die Güte und Liebe, die in seinem ganzen Wesen lagen, taten sogar mir wohl. Agathe lauschte meistens schweigend seinen Worten; aber in ihre Augen traten Tränen, die sie verstohlen wegwischte. Jedenfalls gewann ich den Eindruck, als sei sie wieder fröhlicher und vertrauensvoller, wenn der Alte zu ihr gesprochen hatte. Mit Felix war es anders. Er war immer der Traurigste in der ganzen Familie, und selbst mit meinen ungeübten Sinnen erkannte ich, daß er am schwersten gelitten haben mußte. Aber wenn er auch trauriger aussah als die anderen, so war doch seine Stimme fröhlicher als die seiner Schwester, besonders dann, wenn er mit dem Vater sprach.

Ich könnte dir unzählige Beispiele aufführen, die unverkennbar zeigten, wie sehr diese Leute aneinander hingen. Mochte auch Armut und Mangel schwer auf ihnen lasten, der Bruder vergaß doch nicht, die ersten weißen Blümchen, die aus dem Schnee lugten, seiner Schwester zu bringen. Früh am Morgen, noch ehe die Sonne aufgegangen war, kehrte er den Schnee von dem Wege, den sie zu gehen hatte, um nach dem Stalle zu gelangen, holte Wasser aus dem Brunnen und schleppte Brennholz ins Haus, immer sehr erstaunt, wenn er bemerkte, daß der Vorrat von unbekannter Hand wieder ergänzt worden war. Unter Tags arbeitete er vermutlich für einen Nachbar, denn er ging früh fort und kehrte erst zu Tisch wieder heim, brachte aber nie mehr Holz mit. Zuweilen schaffte er im Garten; da es aber zu dieser Zeit wenig dort zu tun gab, las er dem Alten und Agathe vor.

Dieses Lesen hatte mich anfangs sehr merkwürdig berührt; allmählich kam ich dann darauf, daß er auch beim Lesen viele der Worte gebrauchte, die er im täglichen Gespräch anwendete. Ich schloß daraus, daß er auf dem Papier Zeichen finden mußte, die er verstand, und brannte danach, diese gleichfalls kennen zu lernen. Aber das war ja nicht denkbar, denn ich kannte ja nicht einmal die Laute, die sie bezeichneten. Ich bemühte mich daher, zunächst ihre Sprache vollkommen zu verstehen; denn ich war mir darüber klar, daß ich eine Annäherung an die guten Leute nur dann wagen konnte, wenn ich ihre Sprache beherrschte, und daß ich sie nur dadurch einigermaßen mit meiner Ungestalt versöhnen könnte. Denn auch diese hatte ich durch das immerwährende Zusammensein mit den Leuten erkennen gelernt.

Und das kam so: Ich hatte mich stets an den schönen Formen meiner Freunde, an ihren geschmeidigen Bewegungen erfreut. Du kannst dir denken, welchen Schrecken ich empfand, als ich mich zum Vergleiche in dem klaren Spiegel des Teiches betrachtete. Zuerst prallte ich entsetzt zurück, da ich nicht glauben konnte, daß es mein Bild sei, das mir da entgegensah. Als ich aber einsah, daß ein Irrtum unmöglich und ich wirklich das Scheusal war, ergriffen mich Verzweiflung und Scham. Und damals hatte ich noch nicht einmal einen Begriff davon, was ich noch alles unter dieser Häßlichkeit zu leiden haben könnte!

Als die Sonne wieder wärmer und die Tage länger wurden, schmolz der Schnee und hüllenlos standen die kahlen Bäume, lag die schwarze Erde. Von da ab war Felix wieder mehr beschäftigt und ich hatte den Eindruck, als schwände auch die drückende Not, die zur Winterszeit dort geherrscht. Die Nahrung der Leute war grob, aber, wie ich später erfuhr, sehr nahrhaft und gesund. Im Garten wuchsen mehrere neue Arten von Pflanzen, die ich bisher noch nicht gesehen hatte, und gediehen immer üppiger, je weiter die Jahreszeit vorschritt.

Jeden Tag nach Tisch ging der Greis, auf seinen Sohn gestützt, spazieren, wenn es nicht regnete. Ich hatte unterdessen gelernt, daß man das regnen nennt, wenn der Himmel seine Wasser herniedersendet. Das geschah ziemlich häufig; aber ein warmer Wind ließ die Erde immer wieder trocken werden, und danach war es noch viel schöner als zuvor.

Mein Leben verlief sehr gleichmäßig. Morgens sah ich meinen Freunden zu, und wenn sie dann ihren verschiedenen Beschäftigungen nachgingen, legte ich mich schlafen. Den Rest des Tages verbrachte ich dann wieder in der gleichen Weise wie den Morgen. Wenn sie sich dann zur Ruhe begeben hatten, ging ich, vorausgesetzt, daß der Mond oder die Sterne die Nacht erleuchteten, in den Wald, um Nahrung für mich und Brennholz für meine Freunde zu sammeln. Nach meiner Rückkehr reinigte ich dann, wenn es nötig war, den Weg vom Schnee und verrichtete Arbeiten, die sonst Felix besorgt hatte. Diese Hilfe von unbekannter Seite erregte stets das Erstaunen der guten Menschen, und mehrere Male hörte ich, wie sie bei solchen Gelegenheiten ausriefen, »ein guter Geist« oder »ein Wunder«; Worte, deren Sinn ich damals noch nicht begriff.

Immer lebhafter beschäftigten sich meine Gedanken mit diesen Menschen. Ich verlangte danach, auch ihre Gefühle kennen zu lernen; vor allem wollte ich herausbringen, warum Felix so niedergeschlagen, Agathe so traurig war. Ich dachte – Narr, der ich war! – daß es vielleicht in meiner Macht stände, ihnen das Glück wiederzugeben. Im Schlafen und im Wachen standen mir die Gestalten vor den Augen, der verehrungswürdige alte Mann, das reizende Mädchen, der schöne junge Mensch. Sie kamen mir vor wie höhere Wesen, wie Götter, die über mein künftiges Schicksal zu entscheiden hätten. Ich stellte mir tausendmal in meinem Innern vor, wie sie mich wohl aufnehmen würden, wenn sie mich das erste Mal sähen. Ich dachte mir, daß sie anfangs ja sehr erschrecken, dann aber, gewonnen durch meine Güte und mein mildes Wesen, mir ihre Gunst und schließlich ihre Liebe schenken müßten.

Diese Gedanken munterten mich auf und veranlaßten mich, mit gesteigertem Eifer mich dem Studium ihrer Sprache hinzugeben. Mein Organ war hart, das ist wahr, aber es war auch biegsam. Wenn auch die Laute, die ich hervorbrachte, keinen Vergleich aushielten mit dem Wohllaut ihrer Stimme, so vermochte ich doch immerhin mich, wie ich glaubte, verständlich zu machen. Jedenfalls verdiente ich, der ich doch die besten Absichten hegte, etwas Besseres als Schläge und Verwünschungen.

Unter den warmen Regenschauern und dem wohligen Wehen der Frühlingswinde nahm die Erde allmählich ein ganz anderes Aussehen an. Die Menschen, die sich vorher unter dem rauhen Atem des Winters in ihre engen Wohnungen zusammengepfercht hatten, zerstreuten sich in Feld und Flur, um sich dort verschiedenen Beschäftigungen hinzugeben. Die Vögel sangen lieblich und überall grünte es an den Zweigen. Glückliche, schöne Erde! Jetzt ein Wohnsitz für Götter, und doch war sie noch vor kurzer Zeit traurig, öde und kalt. Auch in meinem Innern wirkte der Frühling wohltätig; das Vergangene war vergessen, die Gegenwart war ruhig und fröhlich, und die Zukunft lag vor mir im goldenen Sonnenschein der Hoffnung und der Freude.