Feuerkorb

So gern Peter gleich am Morgen des nächsten Tages aufgebrochen wäre, er konnte nicht gleich fort.

Der Wasserkorb gab ihm zu schaffen. Der Lehmbelag der Seitenflächen war im Wasser zergangen. Während er den Schaden behob, fiel ihm sein Plan, einen Feuerkorb zu machen, wieder ein.

Ach was, dazu konnte der mit Lehm ausgestrichene Korb dienen, der als Wassergefäß doch nichts taugte. Für das Wassertragen mußte etwas anderes her! Peter holte einen von Evas Körben her, nahm eine Rippe, die als Spachtel diente, und strich damit Harz, das er zuvor auf einem heißen Stein erwärmt hatte, in seine Fugen. Dann hielt er den Belag über das Feuer. Das Harz schmolz und verschloß alle Zwischenräume des Geflechts. Als dabei abstehende Holzfasern in Brand gerieten, löschte er die Flammen mit Lehmstaub und bestreute damit den Korb innen und außen, um die Klebmasse zu decken. Während dieser Arbeit, die fast den ganzen Vormittag in Anspruch nahm, ließ Peter den Lehmbelag seines Feuerkorbs in der Nähe der Feuerstelle übertrocknen und verstrich die entstehenden Risse des Belags immer wieder mit Lehm.

Eva, die Peter bei der Arbeit zugesehen hatte, wußte, wie sehr es ihn zum Steinschlag zog, aber ihr zuliebe machte er erst den Korb fertig. Nun war sie mit dem neuen Wasserbehälter zum Bach geeilt und hatte ihn gleich ausprobiert: Das Gefäß, in dem das Wasser klar blieb, war leicht und undurchlässig.

Nach einer ausgiebigen Mahlzeit schaufelte Peter mit einem Schulterblatt glimmende Kohle und Moderholz in den alten Wasserbehälter und zog durch den oberen Rand einen starken, aus Waldreben geflochtenen Zopf, das war ein vorzüglicher Traghenkel. Peter war zufrieden und machte sich wohlbewaffnet auf den Weg.

Am Fuchsenbühel fand er viele neue Knochenreste, ließ sie aber liegen. Er hoffte auf bessere Beute. Als der Schatten des Sonnsteins gerade gegen die Südwand zeigte, langte Peter bei der Stelle an, wo er nach dem ersten Steinschlag den Steinbock gefunden hatte. Hier entdeckte er gebleichte Knochen und ein abgenagtes Ziegengerippe. Das Gehörn war flach und eine gute Handspanne lang; es zeigte schwache Wülste und eine geringe Krümmung; wahrscheinlich stammte es von einer noch jungen Geiß. Die Hörner ließen sich leicht von den Stirnzapfen ziehen, und Peter steckte sie trotz ihres üblen Geruchs hinter seinen Gürtel. Das eine sollte ein tragbares Salzgefäß werden, das andere ein Trinkbecher oder eine Messerscheide. Da nichts mehr zu finden war, wandte er sich dem Laubwald zu, hinter dem er die Höhle der Bären vermutete.

Bevor er das gefährliche Gebiet betrat, legte er dürres Gras und Laub unter das glimmende Moderholz auf die Glut seines Feuerkorbes, blies sie an und sah beruhigt dichten Qualm daraus emporsteigen. Er verließ sich darauf, daß schon der Rauchgeruch die Bären fernhalten werde.

Wohlgemut drang er in den Wald ein, dessen Eichen und Buchen den Boden dicht beschatteten. Zahlreiche Wildschweinspuren ließen erkennen, daß diese nahrhafte Gegend das Schwarzwild anzog.

Die Baumkronen waren von Buchfinken, Meisen, Kernbeißern, Grünlingen, Hähern, Holztauben, aber auch von Eichhörnchen bevölkert. Eines davon, ein junges Tierchen, schoß Peter herab und nahm es als Wegzehrung mit. Im Weitergehen suchte er auf dem Waldboden nach abgefallenen Früchten. Da gab es grüne, angenagte Eicheln und viele hohle, von Würmern ausgefressene oder von Hörnchen entkernte Bucheckern. Nur selten fand Peter in den borstigen, vierblättrigen Fruchtbechern die dreikantigen Bucheckern unversehrt. Mit den Zähnen löste er die Kerne heraus. Sie schmeckten ihm wegen ihres größeren Fettgehaltes besser als Haselnüsse.

Plötzlich wurde der Wald lichter. Durch niederes Strauchwerk trat Peter auf eine mit Steingeröll bedeckte Waldwiese.

Drüben, wo der Boden zur Sonnleiten und Südwand anstieg, standen saftig grüne, großblättrige Bäume mit weit ausladenden Kronen. Uralte Bäume mußten es sein. Darunter lagen, im Gras verstreut, soweit die Zweige reichten, mehr als walnußgroße, feinstachelige Kugeln, aus deren klaffenden Rissen braune Kerne hervorlugten. Da waren sie ja, die Edelkastanien, die Maroni! Peter kannte sie von der Ahnl her.

Er löste erst eine aus ihrem Stachelkleid, riß die braune, lederartige Haut mit den Zähnen ab und knusperte den harten, weißen Kern.

Der schmeckte fast so gut wie eine Haselnuß, war aber härter. In heller Freude darüber, daß er endlich in den Kastanien die rechte Winternahrung entdeckt hatte, machte sich Peter ans Einsammeln. Da er nichts hatte, worin er die Früchte hätte forttragen können, legte er sie in den Feuerkorb auf Moder und Asche. Als er nichts mehr unterbringen konnte, gedachte er zu rasten und sein Eichhörnchen zu braten.

Eben wollte er mit einem gegabelten Zweig glühende Holzkohlen aus dem Korb holen, als ihm eine sonderbare Bewegung unter den Kastanien auffiel. Die drehten sich und hüpften, und plötzlich krachte es in der Glut. Lebhafter sprangen die Kastanien, einige hüpften sogar über den Rand des Korbes. Ihre verkohlte Haut war geplatzt, und die braungebrannten Kerne rauchten und dufteten. Was gut riecht, schmeckt meist gut. Leicht ließen sich die locker gewordenen Kerne aus den spröden Schalen lösen. Sobald sie ein wenig abgekühlt waren, kostete Peter davon. Sie waren weich, mehlig und süß. Jetzt fachte er sein Feuer an, balgte das Eichhörnchen ab, salzte es, steckte das kleine Wildbret an einen Zweig, drehte es über der Glut und hielt ein königliches Mahl.

Als das Feuer niedergebrannt war, tat er die glühenden Kohlen in seinen Korb, legte Moderholz und Asche darüber, tat oben drauf noch einen Vorrat von Kastanien für Eva und setzte seine Nachforschungen fort.

Oberhalb der Lichtung betrat er wieder den Wald, blieb aber schon nach wenigen Schritten überrascht stehen.

Ein wilder Walnußbaum stand da, an dessen tief herabhängenden Ästen viele Nüsse hingen, deren grüne Rinde schon braune Flecken zeigte. Auf dem Boden verstreut lagen einige völlig ausgereifte Früchte, deren schwarzbraune, eingeschrumpfte Rinde sich beim Auffallen von der Schale gelöst hatte. Ein handlicher Schlagstein und ein flacher Grundstein waren bald gefunden, die ziemlich dicken Nußschalen barsten unter Peters Schlägen, der sich dann die fettreichen Kerne schmecken ließ.

Auch hier war viel zu ernten. Bei der Vorstellung, wie Eva sich über den Reichtum an Nüssen und Kastanien freuen würde, wollte er ihr einen gellenden Juchzer hinüberschicken, da bemerkte er, daß er nicht allein war.

Kaum einen Pfeilschuß weit oberhalb stand zwischen den Baumstämmen ein mächtiger Bär aufrecht auf den Hinterbeinen, die linke Vordertatze auf den Wurzelballen eines umgeworfenen Baumes gestützt, die rechte Pranke hing schlaff herab. Er hatte die Äuglein neugierig auf den Eindringling gerichtet und wiegte kaum merklich den Oberkörper. Peter erschrak; in seinen Halsadern pochte es. Ein dünner, blauer Rauchschleier stieg aus dem Feuerkorb und strich, vom Wind verteilt, sachte hinüber zum Bären, der mit vorgestreckter Nase die Luft prüfte. Den Geruch kannte er. Sein Fell war an der Brust stark versengt. Erinnerte er sich des flammenden Pfeiles?

Peter überlegte, ob er das Raubtier wieder mit einem brennenden Pfeil angreifen sollte. Freilich konnte er nicht wissen, wie es sich bei Tage verhalten würde. Da nieste der Bär und ließ sich kopfschüttelnd auf alle viere nieder. Dann machte er kehrt und trabte gemächlich der Felswand zu.

»So«, sprach Peter zu sich selbst, »gehst du mir aus dem Weg, dann sollst auch Ruhe vor mir haben.«

Glücklich über den Schutz, den sogar der Rauch seiner glimmenden Kohlen bot, packte Peter sein Gerät und schritt, die Südwand zur Linken, weiter.

Er näherte sich dem Steinkar, das dem Neuen Steinschlag vorgelagert war, und kam an Mispeln vorbei zu Schlehen und wilden Apfelbäumen. Zahlreiche geschundene Bäume, geknicktes Jungholz und herumliegende, frisch niedergegangene Gesteinsbrocken zeigten ihm, daß er im Bereich des letzten Steinschlags war. Er hatte also nicht geträumt! Vorsichtig trat er aus dem Schatten des Waldrandes, fachte erst ein helles Schutzfeuer an und begann die Halde abzusuchen. Zwar fand er kein Steinwild, hingegen einen Alpenhasen im braunroten Sommerkleid. Beinahe hätte er den Hasen in den gleichfarbigen Bruchstücken des Gesteins übersehen, wenn ihm nicht die weißen Augenringe und die schwarzgeränderten Löffel sowie der blendend weiße Bauch aufgefallen wären.

Peter fand noch zwei Murmeltiere, halb begraben unter Steintrümmern. Das eine war bereits von Füchsen benagt; sie mußten noch vor kurzem dagewesen sein und hatten wahrscheinlich vor dem verdächtigen Rauchgeruch das Feld geräumt.

Beim Bloßlegen der Murmeltiere fand Peter grüne, weißgeäderte, fettig glänzende Steine – Serpentine –, die zu Werkzeugen taugen mochten. Er steckte sie in seine Gürteltaschen. Beim Weitergraben fiel ihm auf, daß andere harte Steintrümmer deutlich geschichtet waren. Sie bestanden aus winzigen runden Kieselhörnchen und Glimmerplättchen. Es waren Sandsteine, die von hoch oben herabgekollert sein mochten. Im Heimlichen Grund hatte er derlei sonst nicht gefunden. Einige davon steckte er in seinen Korb quer über die Kastanien. Sie mochten als Schleifsteine besser dienen als die Granitbrocken. Die beiden Murmeltiere und den Hasen band er an den Hinterbeinen zusammen und hängte sie über die linke Schulter.

Am Ufer des Moorbachs balgte er die Tiere ab, warf das schon etwas riechende Fleisch ins Wasser und freute sich am Gewimmel der Fische, die sich daran gütlich taten. Dann wanderte er langsam im Bachbett abwärts.

In der leise bewegten Luft schwebten die weißen Spinnweben des Altweibersommers und einzelne Samenflocken von Disteln, Bocksbart und Löwenzahn. Hummeln und Bienen suchten die letzten Gipfelblüten des Himmelbrandes und der Wegwarten nach Nahrung ab. Hier und da flatterte ein müder Falter träge auf, von dessen zerfransten Flügeln der Farbenschmelz abgerieben war. Es herbstelte.

Eva empfing ihn sehr vergnügt. Nicht nur, daß sie sich über die vier neuen Felle, über die Nüsse und gebratenen Kastanien freute, auch sie hatte etwas zu zeigen. Ihr war es gelungen, das Wildkatzenfell sauber und geschmeidig zu machen. Zuerst hatte sie seine Innenseite mit Talgresten eingerieben. Das sei eine arge Schmiererei gewesen, erzählte sie, sie habe es aber mit Aschenlauge und Lehm wieder gesäubert und entdeckt, daß der Brei aus Fett, Lehm und Aschenlauge nicht nur den Katzenbalg, sondern auch ihre Hände von jedem Schmutz gereinigt hatte. Wohlgefällig drehte sie vor Peters Augen ihre Hände hin und her. Und noch etwas anderes freute sie: Die Steinbockshörner hatten durch die Holzkohle ihren üblen Geruch ganz verloren; eines davon sollte nun als Trinkgefäß, das andere als Salzbehälter im Wohnraum bleiben. Es war ihr auch geglückt, das trocken gewordene Katzenfell geschmeidig zu machen, indem sie es über die Kante ihres Sitzstrunkes gezogen hatte. Von nun an sollte jedes Fell gewalkt werden.

Im ruhigen Wasserspiegel des Wasserkorbes hatte sie gesehen, wie abscheulich zerzaust sie aussah. Das Kämmen mit den Fingern war halt ein unzulänglicher Notbehelf. Da war sie auf den Einfall gekommen, statt der Finger etwas Dünneres zum Ordnen der Haare zu verwenden. Sie hatte harte Zweige geschält, die Stäbchen angebrannt, damit sie nicht zerspleißen konnten, und an einem Granit spitz zugeschliffen; dann hatte sie eines neben das andere mit kreuzweis gespannten Darmsaiten an ein Querholz gebunden. Stolz zeigte sie Peter das sauber gekämmte, vom Stirnband zusammengehaltene Haar, ließ ihn ihren neuen Kamm bewundern und begann, auch seine lang und wirr gewordenen Haare zu kämmen.

Peter hatte nichts dagegen. Als er sich gar die Hände nach Evas Beispiel mit dem von ihr erfundenen Gemisch gereinigt hatte, schmeckte ihm das Essen außerordentlich gut. Er kam sich wie ein besserer Mensch vor. Was war geschehen? Aus Aschenlauge, Fett und mit Sand vermischtem Lehm war eine brauchbare Seife geworden! Seife und Evas Kamm brachten die jungen Höhlenmenschen wieder zwei Schritte vorwärts auf dem Wege zu einem behaglichen Leben. Schön wollte sie’s haben, die Eva. Nach der argen Not, in der sie ihr Leben kümmerlich gefristet hatten, ohne sich sonderlich um ihr Äußeres zu kümmern, waren sie endlich so weit, daß es ihnen an nichts Notwendigem gebrach, so daß auch für das Schöne Sinn und Zeit blieb.

Herbsternte

Nun besaßen sie den Feuerkorb, in dem sie die Glut als schützenden Begleiter mit sich tragen konnten. Das gab den beiden ein solches Gefühl der Sicherheit, daß sie sich ohne Angst in die Gegend der Südwand wagten, um dort mit der Kastanienernte zu beginnen.

Für Eva war der erste Erntetag ein Freudenfest. Der Herbstwind schüttelte die Kastanien massenhaft aus den Kronen und trug den Qualm des Schutzfeuers in alle Richtungen, so daß ein dünner Rauchschleier weithin durch den Wald zog.

Peter ließ Eva allein sammeln und folgte den Spuren der Wildschweine, bis er ihrer am Eichenbestand unterhalb des Alten Steinschlags ansichtig wurde, wo sie eine große Schlafgrube, den Kessel, bezogen hatten. Er brachte den halben Tag damit zu, dem weiterziehenden Rudel nachzuspüren. Von der anfangs gehegten Absicht, mit Pfeil oder Speer einen Frischling zu erlegen, kam er ab, da er die Bache und nicht minder einen abseits vom Rudel wühlenden Keiler fürchtete. Er suchte nach etwas Wuchtigem, das sich schleudern ließe, um das junge Tier aus sicherer Entfernung durch einen einzigen Wurf zu töten. Endlich fand er einen armlangen Wipfelstummel mit einer mehr als faustgroßen Wucherung, eine natürliche Keule. Behutsam nahm er sie auf und schlich, von Baum zu Baum Deckung suchend, dem Schwarzwild nach. Erst als er sich dem Waldrand näherte, wo das Rauschen des Moorbachfalles das Knacken der Reiser unter seinen Füßen übertönte, wurde er kühner. Da merkte er, daß einer der Frischlinge hinter den anderen zurückgeblieben war und zwischen zwei toten, von hohen Farnen überwucherten Baumriesen im feuchten Grunde wühlte. Über den weichen Moderboden hin gelang es Peter, lautlos näherzuschleichen; dann duckte er sich unter die Farne und schlug den Frischling gerade in dem Augenblick mit seiner Keule zu Boden, als der Kleine sichernd den Kopf hob. Lautlos war das Jungtier zusammengebrochen. Mit klopfendem Herzen hob Peter es auf, blieb aber, die Keule in der Rechten, hocken, jeden Augenblick bereit, sich zur Wehr zu setzen. Nichts regte sich, nur das gleichmäßige Rauschen des Moorbachfalles war zu hören.

Vorsichtig erhob er sich und lugte aus. Ihm schien, als sei die Alte unruhig geworden und suche ihr Junges. Er schnellte empor und jagte mit seiner Beute zurück. Ohne umzuschauen, stürmte er weiter, über tote Bäume, durch Morast und Ried, der Stelle zu, woher der Wind ihm den Rauch entgegentrug. Atemlos langte er bei Eva an. Die Freude, mit der sie die Beute entgegennahm, schien ihm ein wenig lau. Als sie ihn bat, ihr einen Dorn aus der Fußsohle zu ziehen, begriff er, warum sie nicht zum Jubeln aufgelegt war. Obwohl er den nur leicht eingedrungenen Dorn entfernt hatte, konnte Eva vor Schmerzen kaum auftreten. Erst als er zerkaute Beinwellblätter auf die Wunde gelegt und den Fuß mit großen Huflattichblättern und grünen Rindenstreifen verbunden hatte, konnte sie humpelnd weitergehen. Und nun kehrte auch ihre gute Laune zurück. Wohlgefällig streichelte sie das noch weiche Borstenkleid des Frischlings, an dessen rötlicher und gelber Längsstreifung sie sich nicht sattsehen konnte. Dann zeigte sie stolz, was sie gesammelt hatte. Ihr und Peters Korb, beide waren beinahe voll brauner Kastanien, aber auch Bucheckern, Mispeln und einige Wildäpfel waren darunter. Neben den Körben lagen große Sträuße von Mehl- und Eisbeeren, zwei Büschel Steinquendel und Lauchzwiebeln, die Eva am Waldrande ausgegraben hatte.

Langsam legten sie mit ihren Lasten den Heimweg zurück. Durch den Wald wagten sie sich nicht. Sie mußten einen Umweg machen. Als sie aus dem Laubwald auf das Steinfeld hinaustraten, ging die Sonne gerade hinter der Henne unter, umgeben von rotgolden gesäumten Wolken, in deren Widerschein der Sonnstein leuchtete, während die Firne hoch über den Salzwänden in feierlichem Alpenglühen erstrahlten.

Glücklich saßen sie am Höhlenfeuer und atmeten den köstlichen Duft des bratenden Frischlings ein, der an einem grünen Stab von beiden abwechselnd über der Glut gedreht wurde. Und als das Fett herabtroff und im Feuer ungenützt verprasselte, beeilte sich Eva, eine der gereinigten, längst geruchlos gewordenen Rehschädelschalen darunter zu halten, in deren Nasenhöhle sie einen Stab gesteckt hatte. Dieser »Schöpflöffel« fing den Saft auf, der, mit Wasser versetzt, eine warme, schmackhafte Suppe ergab.

Am Rande des Feuers hüpften und knisterten die Kastanien; die Schmausenden malten sich aus, wie behaglich sie den Winter verbringen wollten: geschützt vor Kälte, mit reichen Vorräten an Kastanien, Rauchfleisch, Salz und Gewürz versehen. So mochte er denn kommen, der harte, lange Bergwinter!

Als am nächsten Morgen ein heftiger Herbststurm den Regen gegen die Außenwand ihrer Höhle peitschte, schliefen die Sorglosen lange in den Tag hinein. Eva war als erste wach. In ihrem verletzten Fuß brannte und klopfte es. Sie stand auf, nahm eine Handvoll Werg vom Bergflachs, tauchte ihn in das Wasser, das noch vom Vortag im Wasserkorb war, und begann den Fuß zu kühlen.

Peter, der endlich auch aufstand, holte einen Klumpen frisches Fichtenharz, bestrich damit Evas Wunde und verband sie mit Werg, das er auch noch mit Harz tränkte.

Vom Frischling, dessen Rest am Gestänge des Trockenbodens im Rauch hing, nahmen die Kinder weniger als am Vortag, aßen statt dessen reichlich Kastanien und versuchten auch einige Holzäpfel, die aber viel zu sauer waren. Gebraten ließen sie sich genießen. Eva, immer darauf bedacht, die Vorräte zu mehren und zu sichern, begann gleich, Apfelschnitze zu machen, die sie in der Nähe des Feuers auf Steinplatten zum Dörren auflegte. Peter nahm seine neue Keule vor, mit der er den Frischling erschlagen hatte, entrindete sie, verstärkte ihr dickes Ende durch eingetriebene Hartsteinsplitter, wirbelte sie um den Kopf und dachte dabei an einen Kampf mit Bären, vor denen ihm jetzt nicht mehr angst war.

Eva drängte Peter, auf einem Zeichenstein die Ereignisse des Tages festzuhalten. Geschmeichelt nahm er das neue Bild in Angriff. Eine geeignete Mergelplatte war bald gefunden. Er zeichnete zunächst den Frischling, wie er von der Keule getroffen wurde; daneben ritzte er stachelbesetzte Kreise für die Kastanien ein, dann einen übergroßen Dorn und daran das wenig gelungene Abbild von Evas Fuß. Über alles aber setzte er die Sonne, wie sie hinter der Henne unterging – und mitten in die Fläche einen einzelnen Strich.

Die eingeritzten Zeichen bedeuteten: »Im ersten Jahr unseres Daseins im Heimlichen Grund, zur Zeit, als die Kastanien reif waren und die Sonne gerade hinter der Henne unterging, habe ich mit der Keule ein Jungschwein erlegt, und Eva hat sich einen Dorn eingetreten.«

Während Peter die Striche noch mit Rötel verstärkte, begann Eva, sich eine schützende Fußbekleidung zurechtzumachen. Sie wollte sich nicht wieder einen Dorn eintreten.

Murmeltierbälge mochten das richtige sein. Eva schlitzte die Bauchseite auf, fettete die Felle innen tüchtig ein, walkte sie geschmeidig und verlängerte die Haut der Pfoten mit daran geknüpften Fellstreifen, so daß sie diese »Schuhe« kreuzweise über den Knöcheln befestigen konnte. Um die wunde Sohle nicht unmittelbar mit dem Fell in Berührung zu bringen, wollte sie Birkenrinde einlegen, Rinde von einem jungen Baum. Ihre Oberfläche ist glatt und zart wie Leder und nicht knorrig und rissig wie das Rindenkleid alter Bäume. Sie holte sich ein passendes Stück, ergriff einen Brocken Holzkohle, stellte erst den rechten Fuß auf die Rinde und fuhr mit der Kohle seine Umrisse nach. Mit dem linken machte sie es ebenso und schnitzelte mit einem Jaspissplitter die Rindensohlen nach der Zeichnung zurecht. Da sich die trockene Rinde immer wieder aufrollte, weichte sie sie ein und legte sie dann in ihre Schuhe, die sie gleich anzog und ungeachtet der Schmerzen, die ihr der Druck in der Wunde verursachte, an den Füßen festschnürte. Die klaffenden Maulöffnungen der Murmeltierfelle, aus denen ihre Zehen hervorguckten, verschnürte sie so gut es ging und war nicht wenig stolz auf ihre Leistung.

Als der Regen nachließ, zog Peter allein zur Ernte aus, für die ihm der Wind gut vorgearbeitet hatte: Der Waldboden war mit Früchten dicht besät.

Die reiche Ernte machte das Flechten neuer Vorratskörbe notwendig, und der Dörrboden in beiden Höhlen mußte verbreitert werden.

Eva fiel die Aufgabe zu, das Eingesammelte zu ordnen und so zu schichten, daß es möglichst wenig Platz einnahm. Brombeeren, Schlehen und die vom Liegen weich gewordenen Mispeln dörrte sie auf erhitzten Steinplatten.

Peter betrieb das Früchtesammeln nicht lange. Bald ging er wieder der Jagd nach. Auch von erlegten Kleintieren wurde das Fleisch eingesalzen, geräuchert oder getrocknet. Ebenso wurden die Bälge der Hörnchen und Vögel in den Rauch gehängt. Bald zeigte sich, daß eingesalzene und geräucherte Felle, sorgfältig gewalkt, den üblen Geruch und die Sprödigkeit verloren.

Jeder Tag machte die Kinder müde. Evas Fußwunde eiterte zwar, verheilte aber bald.

Sonntags wurde nicht gearbeitet. Wohlgewaschen und gekämmt, machten sie ihren Morgengang zum Grab der Ahnl. Hier berichteten sie der Toten von ihren Erlebnissen, ihren Arbeiten, ihren Sorgen, Freuden und Hoffnungen; hier beteten sie zum Allmächtigen, den die Verstorbene angerufen hatte und von dem sie so wenig wußten.

Den Rest des Tages verbrachten sie, durch den Heimlichen Grund schlendernd, in eifrigem Gespräch über die Arbeiten, die in der nächsten Woche getan werden sollten.

Viele Mühe machte ihnen das Feuer, das nicht ausgehen durfte. Wenn sie auch zeitweise nur Moder auflegten und es auf diese Weise erhielten, so brauchte es doch Holz, und es war für Peter nicht leicht, genügend herbeizuschaffen. Er kannte von früher her, als die Ahnl noch lebte, die Schrecknisse eines Gebirgswinters. An den Geierhängen waren oft wochenlang die Schneemassen so hoch um die Hütte angeweht gewesen, daß keine Möglichkeit bestanden hatte, vom tiefliegenden Wald Brennholz zu holen. Darum war die Ahnl immer darauf bedacht gewesen, große Holzvorräte für den Winter um die Hütte her anzuhäufen. Diese Erfahrungen trieben Peter, rastlos Holz einzuschleppen und vor der Höhle aufzustapeln.

Die Tage wurden merklich kürzer, und die Notwendigkeit, die Arbeitszeit um einige Stunden zu verlängern, zwang die Kinder, darüber nachzudenken, wie sie die unstete Beleuchtung, die das flackernde Feuer gab, verbessern könnten. Bald kamen sie darauf, Föhrenzweige in Ritzen der Höhlenwände zu klemmen. Weil aber gespaltene Zweige mehr Licht gaben als runde, wurden fortan nur gespaltene verwendet.

Nicht immer lebten die beiden in Frieden. Obwohl Peter wiederholt erfahren hatte, daß Eva in manchen Dingen nicht minder findig war als er, hatte er sich ein herrisches Wesen angewöhnt, das sie oft verletzte. Wenn sie etwas, das er ihr auftrug, nicht gleich oder nicht so geschickt ausführte, wie er es haben wollte, fuhr er sie ungeduldig an. Daß sie jünger und schwächer war als er, darauf nahm er keine Rücksicht.

Es kamen neblige Tage mit Regenschauern, und Eva wurde von einem Schnupfen befallen. Zum Schneuzen hatte sie nichts als Moos und Werg. Sie war nicht in bester Stimmung. Peters Grobheit und sein allzu großes Selbstbewußtsein verletzten sie mehr denn je. Sie wehrte sich auf ihre Art, wurde scheu und abweisend, und plötzlich stand zwischen ihr und ihm eine unsichtbare Schranke.

Eva und Peter

Die dreijährige, flachsblonde Eva wäre der Liebling der Windisch-Garstener gewesen. Aber sie lebte als Waise bei ihrer Großmutter, der alten Stoderin, die der Hexerei verdächtig war. Das war schlimm für die alte Frau und für ihre Enkelin, die Eva.

Die Stoderin, Witwe des einst weit und breit bekannten Wundarztes Eusebius Theophil Stoder, sammelte Würz- und Heilkräuter an den Hängen des Toten- und des Sengsen-Gebirges. Sie tat ihr Bestes, um Mensch und Tier von Gebrechen zu heilen. Daß sie die Wirkung der Heilpflanzen durch uralte heidnische Sprüche erhöhen wollte, bestärkte die Menschen in der Meinung, sie sei eine Zauberin. Und doch waren es nur uralte Segensworte aus verschollener Zeit, mit denen die Stoderin zum Beispiel den verrenkten Fuß eines Pferdes »besprach«, bevor sie einen kühlenden Umschlag aus zerdrückten Huflattichblättern darumband. Wo ein Kranker starkes Vertrauen hatte zur erfahrenen Witwe des Arztes, trat oft Besserung ein.

Als im Frühsommer 1683 ein Hagelwetter die Fluren von Windisch-Garsten verwüstete, wurde die Stoderin, die das Unwetter in den Wäldern draußen erlebt hatte, angeklagt, sie habe das böse Wetter gemacht. Nur durch eilige Flucht gelang es der alten Frau, einem Hexenprozeß zu entgehen, der sie auf den Scheiterhaufen gebracht hätte. Jeder, der ihr geholfen hätte, wäre selbst der Hexerei verdächtig geworden.

Wie ein gehetztes Wild im Dickicht Bergung sucht, so wanderte die alte Frau im Schutz der Gebirgswälder südwärts, um bei ihrem Bruder Hans Zuflucht zu suchen. Der hauste als Köhler und Pechsieder in der menschenfernen Einöde der Geiergräben, wenn er nicht gerade irgendwo am Eisack eine Rindenhütte bezogen hatte und seinen Kohlenmeiler betreute.

Fünf Wochen lang zog sie mit ihrer Enkelin Eva auf dem Rücken dahin. Sie nährte sich und die Kleine von rohen Pilzen, Wurzeln und Beeren. Endlich gelangte sie in die Geiergräben, von wo aus sie ins Gelände aufstieg. Vom Bruder wurde sie gern aufgenommen. Sie war ja erst einundsechzig, zehn Jahre jünger als er, und so durfte er von ihr und dem Mädchen Eva Pflege im Alter erhoffen.

Der Stoderin, die von ihrem Manne her wußte, wie Arzneipflanzen anzuwenden waren, gelang es meist, Tiere und Menschen von Krankheit zu heilen. Sie tat es um Gotteslohn und verlangte nie etwas; da sie aber arm war, nahm sie gern, was ihr die Leute aus Dankbarkeit gaben. Im Tauschhandel brachte sie ihre Büschel wilden Kümmel, Fenchel, Bitterklee, Quendelkraut, Schafgarbe und andere Gewürz- und Arzneipflanzen leicht an. Von ihren weiten Streifzügen zu Bergbauern und Hirten kehrte sie erschöpft heim, beladen mit Feldfrüchten, mit Brot, Mehl, Hühnerfutter, süßen Kastanien, Käse, Butter, geräuchertem Fleisch und Speck, manchmal sogar mit einem Stück grober Leinwand oder hausgewebten Wollzeugs.

In der verräucherten Köhlerhütte war es behaglich, obwohl ihre Bewohner hart arbeiten mußten. Alles, was sie brauchten, mußten sie auf dem Rücken eintragen, denn die Pfade und Steige vom Tal herauf waren nicht einmal für einen Schiebkarren befahrbar. Bald nach der Ankunft der Stoderin belebten einige Ziegen und Schafe, eine graue Hauskatze und ein halbes Dutzend Hühner die kleine Wirtschaft.

Eva gedieh in der Einsamkeit der Bergwelt; nur still war sie und viel zu ernst. Auch die Ahnl, die Großmutter, war wenig gesprächig, und den Großonkel, den Eva nicht ganz zutreffend Ähnl, Großvater, nannte und trotz seines langen, struppigen Graubarts und verwitterten Aussehens liebgewann, sah die Kleine nur selten.

Von den Kindern der entlegenen Gehöfte abgeschnitten, war Eva in ihren Spielen auf das angewiesen, was sie sich ersann und zusammenbastelte.

Wollige Rosengallen, in die sie vier Hölzchen steckte, waren ihre Schäfchen. Auch einen Hühnerhof schaffte sie sich, indem sie Eicheln mit Federn besteckte und auf zwei Holzbeine stellte. Holzpüppchen mit Köpfen aus Galläpfeln stellten den Ähnl, die Ahnl und sie selbst dar. Beim Spiel mit diesen Dingen redete sie leise vor sich hin. Wohl gab es Zeiten, wo ihr helles Lachen durch die Einsamkeit schallte, weil die jungen Zicklein oft mit allen vieren in die Höhe sprangen und sich vor Eifer überpurzelten, wenn sie ihnen Futter streute. Aus dem wenigen, das ihr die beiden Alten über Wichtel, Kobolde und Waldfrauen erzählten, und aus dem, was sie selber sah, baute sie sich eine eigene, eine Märchenwelt.

Als Eva fünf Jahre alt war, erlebte sie einmal spät nachts etwas, das sie zu neuen Grübeleien zwang. Vom flackernden Schein des angezündeten Kienspans geweckt, sah sie, wie Ähnl und Ahnl sich an der sonst verschlossenen Wandnische zu schaffen machten. Der Ähnl nahm ein schmales Holzkästchen aus dem Wandschrank, öffnete es und holte ein zottiges Wurzelmännlein heraus. Es war mit einem Ledergurt, mit Pantöffelchen und einem Feuerschwammhütchen angetan. Die Ahnl zog den Alraun aus, badete ihn in einer bereitgehaltenen Schüssel und murmelte etwas Unverständliches. Dann goß sie das Wasser vorsichtig in eine irdene Flasche, denn jeder Tropfen dieses Badewassers galt als kostbare Arznei. Das Wurzelmännchen wurde wieder angekleidet und in sein Bett gelegt. Eva, die sich auf ihrem Lager aufgerichtet hatte, sah, wie der Ähnl allerlei Glitzerndes und Klingendes um das Männlein ordnete. »Vergiß das Gold nicht!« hörte sie die Ahnl sagen, die dem Alten winzige Stücke des Edelmetalls zureichte. »Ach!« entfuhr es Eva unwillkürlich – da blies der Ähnl so stark in die Flamme des Kienspans, daß sie erlosch, und beeilte sich, beim Schimmer der Glut den »Hausgeist« wieder in seinen Schrank zu stellen. Jetzt wußte Eva um ein Geheimnis der Großen. Mehr erfuhr sie freilich nicht.

Doch wie es mit verbotenen Dingen geht: Der Alraun reizte Evas Neugierde. Obwohl sie wußte, daß sie unrecht tat, öffnete sie heimlich den mit einem Pflock verschlossenen Wandschrank, nahm das geheimnisvolle Kästchen aus dem Dunkel der Mauernische und betrachtete den Inhalt.

Da waren Rosengallen, Haselnüsse, Zirbelzapfen, Stücke von Edelsteinen, aber auch Körner und Fäden eines hellgelben Metalls, an denen Eva sich nicht sattsehen konnte.

Immer wieder nahm sie das Gelbe, Schimmernde in die Hand. Es mußte etwas ganz Kostbares sein. »Vergiß das Gold nicht!« hatte die Ahnl gesagt … Da hörte sie den Bergstock der heimkehrenden Großmutter aufschlagen und stellte mit Windeseile das Holzkästchen in sein Versteck zurück. Die Ahnl hielt den Besitz des Alrauns, dieses heidnischen Hausgeistes, vor aller Welt geheim. Er hätte sonst nach ihrer Meinung seine Heilkraft verloren.

Später, als Eva schon gut das Haus hüten konnte, begann die alte Frau ihre Wanderungen auszudehnen. Mochten auch die abergläubischen Älpler glauben, sie sei mit dem Teufel im Bunde, man rief sie doch, wenn man sie brauchte, diese alte, hagere Frau mit dem scharfgeschnittenen, vom Leid gezeichneten Gesicht und den entzündeten Lidern. Argwöhnisch und hoffnungsvoll zugleich lauschten die Menschen auf die unverständlichen Worte ihrer »Besprechungen«.

Da geschah etwas Schlimmes. Eine Bäuerin, die einen Heiltrank der Stoderin getrunken hatte, erkrankte an einer Gliederlähmung, gegen die kein Mittel helfen wollte. Das Gerücht, die Stoderin habe ihr’s »angehext«, gewann so viel Glauben, daß die alte Frau wieder flüchten mußte, wenn sie nicht auf dem Scheiterhaufen brennen wollte. Der Bruder selbst geleitete sie bei Nacht übers Gebirge südwärts nach dem »Heimlichen Grund«, der ihm aus seiner Jugendzeit bekannt war; dort hatte er als junger Bursch mit Armbrust und Pfeilen Steinböcke gejagt. Von den abergläubischen Anwohnern wurde der Bergkessel Jahrzehnte ängstlich gemieden. In der engen Klamm, die den einzigen Zugang bildete und die »Teufelsschlucht« hieß, waren drei tollkühne Eindringlinge nacheinander vom Steinschlag getötet worden. In seiner Fürsorge schleppte der alte Mann trotz der schwierigen nächtlichen Wanderung eine Ziege mit; sie sollte der Schwester wenigstens so lange Nahrung geben, bis die Kastanienbäume, eine Hauptnahrungsquelle der Tiere des Heimlichen Grunds, Früchte trugen.

Nach dem lebensgefährlichen Anstieg durch das noch wasserarme Bett des Klammbachs wies der alte Hans seiner Schwester die Wohnhöhlen unter den Salzwänden des Heimlichen Grunds und kehrte eiligst in die Geiergräben zurück, wo Eva allein zu Hause war. Als die Ahnl wochen- und monatelang ausblieb, wurde das Mädchen immer bedrückter, denn der alte Onkel war noch mürrischer und noch wortkarger geworden.

Ein Jahr verging. Die gelähmte Bäuerin war inzwischen fast genesen, und die Verdächtigungen gegen die Stoderin verstummten. Schon wollte sich Hans auf den Weg machen und seine Schwester wieder heimholen, als sie ungerufen zurückkehrte. Sie kam ohne die Ziege, aber nicht allein. Ein stämmiger, braunäugiger, schwarzhaariger Junge von ungefähr sieben oder acht Jahren, den sie unterwegs aufgelesen hatte, begleitete sie. Er hieß Peter.

Seine Mutter, auch eine Flüchtige, wie es damals viele im Lande gab, war im einsamen Bergwald bei der Geburt eines toten Mädchens in den Armen der ihr völlig fremden alten Frau gestorben. Die Stoderin hatte sie begraben und mit dem verwaisten Buben ein Gebet gesprochen. Als könnte es gar nicht anders sein, führte sie ihn an der Hand mit sich fort und brachte ihn heim in die Geiergräben; auch ihm wurde sie eine fürsorgende Ahnl. Peter war ein früh gereifter, fleißiger Bub.

Er und Eva gewöhnten sich rasch aneinander – ja, die stille Eva wurde zusehends heiterer und gesprächiger.

Der kräftige Junge half unermüdlich beim Einschleppen von Holzvorräten und beim Heuen und erwies sich auch beim Kräutersuchen und Wurzelgraben, beim Sammeln von Pilzen als gelehrig und geschickt. Besser denn je zuvor konnte die Stoderin ihrer Sammelarbeit nachgehen und zeitweise ihre Talwanderungen unbesorgt tagelang ausdehnen. Für die verlorene Ziege tauschte sie nach und nach mehrfach Ersatz ein, und Peter wurde ein verläßlicher Ziegenhirt, der seine kleine Herde beisammenzuhalten wußte. Die Tageszeiten las er vom Stand der Sonne ab; Größe und Gestalt des Mondes sagten ihm, welche Woche es war. Sein Verstand entwickelte sich im Laufe der nächsten Jahre durch die Anforderungen der Arbeit, durch Beobachtung der Wetterzeichen und nicht zuletzt durch die Erklärungen der alten Stoderin über die Wirkung der Gift- und Heilkräuter. Sie behandelte den Jungen bald wie einen verständigen Erwachsenen und besprach mit ihm alles, was mit ihrer und seiner Arbeit zusammenhing. Mit dreizehn Jahren war er ein tüchtiger Hirt, der den Muttertieren alle Sorgfalt angedeihen ließ. Je mehr die Stoderin den Buben liebgewann, um so öfter sprach sie zu ihm von ihren Heilerfolgen bei Menschen und Tieren; es war, als wollte sie ihm alle ihre Erfahrungen vererben. Was Peter im Gebirge an Wundern erschaute und erlauschte, verwob sich mit den Erzählungen der alten Frau zu einem Bild von der Welt, das reich an Vermutungen und Irrtümern war. Von dem, was er an der Seite der Mutter gelernt hatte, vergaß er vieles.

Alles Wissen der alten Stoderin von den Heilkräutern war ein Erbe vergangener Geschlechter und Zeiten und samt den Pflanzennamen, die an längst vergessene Götter, Holde und Trolle erinnerten, überliefert worden. Die Heckenrose, deren Gallen sie als Schlafmittel sammelte, nannte sie »Friggadorn«, die Hauswurz »Wodansbart«, die Mistel »Marentaken«, die Tollkirsche »Lokiwurz«. Die Blüten der Ragwurz, »Frauentränen«, gemahnten an die »Liebe Frau« der Vorfahren, an Freia, die als blaublühende »Wegwarte« der Heimkehr ihres Gatten Odin harrt.

Peter kannte die eßbaren Kräuter und Wurzeln der Alpenwelt bald so gut, daß er draußen um eine Mahlzeit nie verlegen war. Wenn es ihm an Quellwasser fehlte, kaute er saftigen Sauerklee und löschte so seinen Durst. Vor den Tollkirschen, vor den appetitlichen Beeren des Seidelbastes und anderer Giftpflanzen war er gewarnt; er kannte die gefährlichen Pilze und vermied sie wie die Ziegen die giftigen Blätter der Nieswurz. Alles, was die Ahnl dem Peter beim gemeinsamen Kräutersammeln mitteilte, erzählte er Eva. Und während sie, allein gelassen, die gesammelten Pflanzen und Pilze verlas, schnitt und trocknete, war sie mit ihren Gedanken in einer Welt des Wundersamen und Geheimisvollen.

Der Sonntag war der einzige Tag, an dem die Kinder in ihrer Märchenwelt schwelgen konnten. Die alte Stoderin wußte nichts von den Sonntagsbräuchen der heidnischen Vorfahren. Verwirrt vom Glaubensstreit der Zeitgenossen, hielt sie jedoch daran fest, daß nach der harten Arbeitswoche der heilige Tag ein Feiertag sein sollte, durch keine grobe Arbeit entweiht. Dann führte Peter seine Gefährtin auf die hochgelegenen Halden, wo Edelweiß und leuchtend rote Alpenrosen prangten.

Da die Geiergräben mehr als eine Tagreise weit vom nächsten Kirchdorf entfernt waren, wußten nur wenige Menschen von den Höhlensiedlern, und niemand kümmerte sich darum, daß die Kinder bei der Stoderin fast als Heiden aufwuchsen. Aber es war kein reines Heidentum. Ab und zu entnahmen sie aus einem Stoßseufzer der Ahnl, daß sie mit einem allmächtigen Gott sprach, dem Allvater, der aber nicht zu sehen war.

Peter arbeitete gern und war stolz, wenn die Ahnl zu ihm sagte: »Du schaffst wie ein Großer!«

Auch dem Ähnl war der Junge ans Herz gewachsen. Er zeigte ihm, wie man von grünen Weidenschößlingen durch Klopfen die Rinde lösen und daraus Hirtenflöten machen kann. Unermüdlich schleppte er für den Jungen heim, was er an Kristallen im Urgestein fand, aber auch Mergelplatten aus dem Kalkgebirge, sonderbar geformte Baumschwämme, Knorren, Garns- und Rehkrickel aus dem Lawinenschutt. Peter barg in seinem Winkel auf dem Dachboden einen reichen Schatz, den er durch neue Funde vermehrte, ohne mit den Dingen viel anfangen zu können, weil die Arbeit ihm keine Zeit ließ. Nur an regnerischen Sonntagen, wenn er die Haustiere versorgt, Holz und Wasser geschleppt hatte, pflegte er seine Schätze vor Eva auszukramen und hatte seine Freude daran. Ab und zu regte ihn die Form eines Gegenstandes an, daraus ein Gerät zu basteln. So diente ihm ein Ziegenhorn als Scheide für den Wetzstein zu seiner Sichel, und einen dünnen Bergkristall benützte er als Griffel, mit dem er so gut es ging die Umrisse von Tieren und Menschen in die Mergelplatten ritzte.

War Peter mit seinen Ziegen allein im Gefels, so vertrieb er sich die Zeit nach Hirtenbubenart: Er warf mit Steinen nach allerlei Zielen. Bald gelang es ihm, einen faustgroßen Steinbrocken, den er auf die Spitze eines Felsens gelegt hatte, aus ziemlicher Entfernung zu treffen und wurde darin so geschickt, daß er ein Murmeltier vor dem Bau und einen Alpenhasen beim Äsen erlegte. So steuerte er wie ein Jäger der grauen Vorzeit manches Stück Wildbret für die Küche bei und schulte Auge und Hand. Für die Bälge der erlegten Tiere, die Peter sorgfältig abgezogen hatte, tauschte die Ahnl bei den Bauern allerlei Eßbares ein.

Der altwerdende Köhler Hans pries den Tag, an dem Peter ins Haus gekommen war; nun brauchte ihm vor den Jahren der Gebrechlichkeit nicht mehr angst zu sein. Und wenn er mit seiner weißhaarigen Schwester ausruhend vor der Hütte saß, sprachen beide davon, daß Eva einst Peters Frau werden sollte.

Da kam wieder Unglück in das bescheidene Leben dieser Menschen. An einem Sommernachmittag hielt der Knecht des Kohlenbauern mit seinem Ochsengespann am Meiler. Er erzählte, im Stall eines Bauern, der die alte Stoderin in der Futterkammer hatte übernachten lassen, sei die Klauenseuche ausgebrochen. Das alte Gerücht, die Stoderin sei eine Hexe, sei wieder laut geworden, und die Meraner Gerichtsbarkeit habe Soldknechte ausgeschickt, sie gefangen zu nehmen. Daß ein Hexenprozeß nicht nur der Greisin den Martertod, sondern auch ihren Angehörigen Unheil bringen konnte, das wußten die beiden Alten nur zu gut. Noch am Abend mußten sie mit den beiden Kindern nach dem Heimlichen Grund aufbrechen. Die Stoderin verkleidete sich als Mann, um wenigstens von weitem Verfolger zu täuschen.

Über pfadlose Schutthalden stiegen sie empor zu einem Gebirgssattel, der südwärts führte.

Die Flucht zum Heimlichen Grund

Am Tage verbargen sie sich in den Schluchten, bei Nacht zogen sie weiter, und am dritten Morgen langten sie auf der Höhe einer Glimmerschieferhalde an. Mit rundlichen Blöcken bedeckt, fiel sie sanft ab zu einem tiefausgewaschenen Tal, aus dessen Bodennebeln vereinzelte Zirbelkiefern undeutlich aufragten. Jenseits des Baches hingen rostgelbe, vom Wasser unterhöhlte Kalkwände über, in denen sich als schwarzer, nach oben weit auseinanderklaffender Riß die Teufelsklamm abzeichnete.

Ohne Deckung wagten sie es nicht, bei Tag den langwierigen Abstieg zu unternehmen. Und todmüde waren sie auch. Jeder bekam ein Stück steinhartes Brot und trockenen Käse, und dann kauerten sich die Kinder mit der Ahnl auf dem harten Boden zum Schlafe hin. An einen Felsblock gelehnt, hielt der Alte scharf Ausschau, ob nicht irgendwo ein Verfolger auftauchte.

Gewohnt, auf Wettervorzeichen zu achten, musterte er den Himmel. Vom Osten, wo über sattblauen Bergketten Eisfelder leuchteten, bis zum fernen Westen, wo Gletscher im Alpenrot glühten, war die Welt der Berge überwölbt von wolkenloser, weißdurchleuchteter Bläue. Stechend strahlte die Sonne hernieder, trotz des frühen Morgens.

Dem Alten war die Morgenhitze verdächtig. Alles deutete auf ein bevorstehendes Gewitter. Und schon im Laufe des Vormittags zeigte sich im Nordwesten über den Schroffen eine Trübung des Himmels, die sich zusehends zu Wolken verdichtete.

Jetzt stand die Sonne fast über der Klamm und beleuchtete grell die schrägen Halden ihrer klaffenden Ränder. An ihnen hingen wunderlich verwitterte Gerölltrümmer so gefährlich, als könnten sie jeden Augenblick niedergehen.

Von dorther kamen die Steinschläge, vor denen niemand sicher war, der es wagte, zur Zeit der Schneeschmelze, nach Regenwetter oder gar bei einem Gewitter in die Klamm einzudringen, um den Heimlichen Grund aufzusuchen! Der Alte legte die Stirn in Falten. Ging das Gewitter vor Nacht nieder, dann würde sich der Klammbach in ein gischtendes Wildwasser verwandeln, das die schmale Schlucht hoch anfüllte; kam es in der Nacht, während sie in der Klamm waren, so brachte es ihnen den sicheren Tod. Im offenen Gelände aber durften sie nicht vordringen. Jeder, der ihnen auf die Spur kam, konnte sie dem Gericht ausliefern. Erst im Dunkeln durften sie den Abstieg wagen.

Der alte Köhler bangte um die Kinder, die noch das Leben vor sich hatten, und um seine Schwester, die ihnen als Pflegemutter unentbehrlich war. Eilig nestelte er seinen Rucksack auf, in dem er neben dem Feuerzeug und den notwendigsten Werkzeugen den Alraun versteckt hatte. Er öffnete das Kästchen des Schutzgeistes, um sich von ihm Rat zu holen. Da rollten einige Erzstücke, die beim Tragen ihre Lage verändert hatten, dem Alraun auf die verbogenen Füße. Er richtete sich von seinem Lager auf und blieb dann ruhig sitzen, das Gesicht der Klamm zugekehrt. Jetzt gab’s für den Alten keinen Zweifel mehr: Der Alraun wies nach der Klamm!

In der Mittagssonne des überheißen Sommertages überkam den alten Mann eine große Mattigkeit; er wäre eingeschlafen, wenn der Durst ihn nicht so gepeinigt hätte. Rasch weckte er die Schwester.

Sie rüttelte die Kinder wach und teilte vom geringen Rest an Brot, Speck und Käse aus ihrem Rucksack jedem sein Mittagsmahl zu. Die Kinder schliefen wieder ein.

Am Spätnachmittag wurden sie unruhig. Zuerst wachte Eva auf, rieb sich die Augen und klagte über Hunger und Durst. Dann erhob sich Peter, holte sein Messer aus der Joppe und begann nach Hirtenbubenbrauch Eberwurzen und Sauerklee in seinen Hut zu sammeln. Hier und dort fand er auch eine Schwarzwurzel. Er selbst kaute während der Arbeit mit vollen Backen, dann bewirtete er mit den flüchtig ausgeschälten Blütenböden der Eberwurzdistel, den noch recht mageren Schwarzwurzeln und dem Sauerklee die anderen.

Das Gewitter schien den Flüchtenden noch so weit entfernt, daß sie vor seinem Ausbruch durch die Klamm zu kommen hofften. In abergläubischem Vertrauen zum Alraun begannen sie den Abstieg. Als sie bei den Zirbelkiefern des Talgrundes anlangten, ließ ein Knistern im Bodenreisig sie vor Schreck zusammenfahren. Gott sei Dank, es waren keine Verfolger! Zwei Stück Rehwild brachen durch das Jungholz und verschwanden im dunklen Wald. Endlich standen die Flüchtlinge im Bett des Klammbachs, dem einzigen Weg durch die Klamm. Im kühlen Wasser watend, drangen sie durch die Schlucht aufwärts, zwischen den Felswänden durch, die das Murmeln des Baches zum Getöse anwachsen ließen. Gegen das strömende Wasser, das ihnen über die Knöchel, manchmal sogar bis zu den Knien reichte, gingen sie mühsam an. Langsam schritt der Alte voran; seine Rechte tastete die Felsblöcke ab, mit der Linken zog er Peter nach sich, der Eva führte. Die Ahnl folgte als letzte.

Solange der Widerschein des Mondlichtes auf dem unruhigen Wasserlauf lag, bewegte sich der Alte sicher vorwärts. Als es aber völlig finster wurde und er nicht wußte, ob ein überhängender Fels oder eine Wolke das Licht verdeckte, begann er zu stolpern, so daß er sich wiederholt die Schienbeine blutig schlug. Dann kamen Stellen, wo der Bach über Felsblöcke niedersprühte, die überklettert werden mußten. Das Getöse des stürzenden Wassers schwoll an solchen Stellen betäubend an und machte jedes Wort unverständlich. Als der erste Blitz die Finsternis erhellte und ein lang nachrollender Donner das Losbrechen des Gewitters anzeigte, wurde dem Alten bewußt, daß von der Schnelligkeit ihrer aller Leben abhing. Je höher sie in der Klamm emporkamen, desto schwieriger wurde das Vordringen. Stärker rauschte das Wasser, das nun steiler fiel. Dazu gesellte sich das Scheuern und Anschlagen des vom Bach geschobenen Gerölls; von den nahen und fernen Felswänden kam der Schall tausendfach gebrochen als Nachhall und Widerhall zurück.

Plötzlich flammte wieder grellweißes Licht auf und zerriß für einen Augenblick die schwarze Nacht. Unmittelbar darauf erzitterte die Luft von einem Donnerschlag. Ihm folgte ein scharfes Knattern und grollendes Rollen. Das Gewitter war da. Blitz folgte auf Blitz, ein Donnerschlag löste den anderen ab.

Dann setzte ein Platzregen ein. Lange, lange strömte es herab. Die Ahnl warf den Rucksack und die regenschweren Überkleider ab; die Kinder folgten ihrem Beispiel. Es galt, das nackte Leben zu retten.

Gegen die anschwellende Ache ankämpfend, dachten die Alten an nichts anderes als an das steigende Wasser und an die unausbleiblichen Steinschläge.

Da – ein Knattern, das Gepolter stürzender Felsblöcke und ein Aufklatschen im Wasser, das hoch aufspritzte. Steinschlag!

Der Alte drehte sich nach den Kindern um und winkte ihnen zu, sich seitwärts zu halten, wo die vorspringende Felswand den Bach schirmte. Im nächsten Augenblick brach er zusammen, niedergeschlagen von einer schweren Steinplatte, die ihn im Bach begrub. Die Kinder standen wie versteinert da. Die Ahnl aber faßte sie an den Händen und zog sie fort, vorbei am überfluteten Grabstein.

Die Felsen nahmen in der wachsenden Tageshelle bestimmte Umrisse an; durch den feinen Nebel, der die Schlucht erfüllte, sahen die Überlebenden den nahen Ausgang.

Was an Kraft noch in ihnen war, boten sie auf. Dort vorne winkte die Rettung: der Heimliche Grund!

Im Spalt, den oben weit vorhangende Felsen überdachten, nahm das Licht eine grünliche Färbung an. Noch wenige Schritte im Geröll neben dem Bach, und sie atmeten erleichtert auf: Vor ihnen lag der Heimliche Grund – ein weiter Talkessel, rings eingeschlossen von hohen Felswänden, an deren Fuß sich schräge, stellenweise mit Nadelbäumen bewachsene Schutthalden hinzogen! Der schotterige Grund aber, durch den sich der Bach schlängelte, war von hohem Gras, breitblättrigem Huflattich, üppigen Pestwurzen, blühenden Stauden und Jungholz bedeckt.

Da kniete die Ahnl nieder. Die Kinder folgten ihrem Beispiel. Die gefalteten Hände zum Himmel erhoben, betete sie laut und flehentlich: »Lieber Gott im Himmel, erbarme dich! Behüt mir die Kinder!« Dann stand sie taumelnd auf, und die drei Geretteten setzten ihren Weg in das Tal fort. Aus dem Lärmen des Bachs war nun ein Murmeln geworden, das die Stille im Talkessel kaum störte. Die tief hängenden grauen Wolken und darunter die Nebelschwaden an den Felswänden hatten etwas Einschläferndes.

Steifbeinig und langsam, aber zielbewußt, ging die Ahnl dahin, immer bachaufwärts; dort in der oberen Wand mochten wohl die Höhlen sein, von denen sie den Kindern oft erzählt hatte; still kam Peter nach und zog Eva, die kaum noch gehen konnte, mit sich.

Plötzlich änderte die alte Frau die Richtung. Sie bog nach rechts ab, wo ein überhängender Fels ein Dach gewährte. Dort lag eine Schicht braunen Laubes, vom Vorjahre her angeweht und angeschwemmt, halbvermodert. In diesen Laubhaufen vergrub sich die Stoderin, ihre Augen sahen ausdruckslos ins Leere. Peter und Eva kauerten sich zu ihr. Noch im Einschlafen spürten sie die Schauer, die den Körper der Ahnl überliefen.

In der Klamm aber lag unter einem Felsstück begraben der Ähnl samt Werkzeug und Gerät, das ihnen hätte dienen sollen: Beil und Handsäge, Meißel, Bohrer, Messer, Kochpfanne und Feuerzeug, alles war dahin, alles verloren!

Knochenfunde

Im Frühlicht des Sonntags traten die beiden Höhlenkinder aus dem Schatten der Salzwände.

Tautropfen glitzerten auf Gräsern und Kräutern, hingen als schimmernde Perlen an den Ranken und Zweigen zu beiden Seiten des Erntepfads.

Die Wegwarten hatten schon ihre himmelblauen Blütensterne geöffnet. Mit dem Rehkrickel grub Peter einige davon aus. Die Wurzeln waren gut gediehen. Für die erste Mahlzeit war gesorgt. Einige Händevoll Brombeeren vom Sonnstein ergänzten das Mahl. Dann ging es quer über das Steinfeld.

Und ehe noch die Habichtskräuter, die an dem schattigen Hang Spätaufsteher waren, ihre gelben Blütenkörbchen öffneten, standen die beiden schon am Grab der Ahnl. Es war unversehrt. Sie erzählten ihr von ihren Erlebnissen, und Peter bat sie, dem Ähnl und der Mutter alles wiederzusagen; sie waren ja alle bei Gott.

Ein Knistern in den Heidelbeerbüschen ließ die beiden aufschauen. Da sahen sie die Ricke mit den zwei größer gewordenen Kitzen, die Peter am Sterbetag der Großmutter mit dem Stein in der Faust verfolgt hatte. Beide hatten schon die weißen Flecken im rotbraunen Fell verloren.

Diesmal griff er zu Pfeil und Bogen. Eva aber flüsterte ihm zu: »Tu’s nicht, hier nicht und heut nicht; heilig ist der Ort, und heilig ist der Tag.« Und Peter ließ den Pfeil in den Köcher zurückgleiten.

Nach kurzer Andacht wanderten die Kinder über das Steinfeld dem Klammbach zu. Sie nahmen sich vor, jeden Sonntag das Grab der Ahnl aufzusuchen. Bald aber wurden sie durch die Umgebung auf andere Gedanken gebracht.

»Schau, Eva, die Königskerzen machen schon ihre Wipfelknospen auf; bald ist’s aus mit der warmen Zeit. Und eh‘ der Winter kommt, muß ich uns warme Kleider schaffen. Ein paar Rehböck‘ oder ein paar Füchs‘ sollt‘ ich erwischen!«

»Alles wird werden zur rechten Zeit, wie die Ahnl selig g’sagt hätt‘. Verlaß dich drauf. Es ist schon viel besser geworden, seit wir da sind im Heimlichen Grund. Jetzt wird’s dann reife Haselnüss‘ geben und Kastanien; korbweis‘ werden wir’s eintragen, gelt?«

Eva war so glücklich und voll Zuversicht, da sie heute Peter begleiten durfte.

Als sie nahe am Klammeingang den Bach durchwateten, fiel ihnen auf, daß er hier bedeutend wasserreicher war als oben bei den Höhlen. Er hatte den Moorbach bereits aufgenommen, aber wo?

Wohl sahen sie drüben ein tief eingerissenes Bachbett, aber sein dunkles Geröll war trocken, nur zwischen und unter den Steinen rieselte es leise.

Der Bachrand hüben und drüben war mit Schilf und Erlen bestanden. Also floß hier das Moorwasser unter dem Schotter des Steinfeldes. Hier war auch das Röhricht, aus dem Peter das Rohr für seine Pfeile geholt hatte.

Im feuchten Bachbett stiegen sie allmählich zum Hochmoor an.

Unwillkürlich musterten sie Sand und Steine. Da gab es rot und weiß gebänderte weichere Rundsteine – Marmor und daneben graues, aus geschichteten Glimmerblättchen zusammengesetztes Schiefergeröll mit roten Körnern – Granat –, auch gelbliche und weiße Hartsteine – Kiesel und Feldspat; die schönsten nahmen sie mit.

Am merkwürdigsten aber war der feuchte Sand, der in der Hauptsache aus weißglitzernden Glimmerplättchen bestand. Darunter gab es gelbe und wasserhelle, fast durchsichtige Kiesel, so groß wie Finkeneier, und dunkelrote, stumpfkantige Körner, die im Sonnenschein herrlich leuchteten. Es waren von Wasser und Sand angeschliffene Granate.

Peter gefielen die Steinchen, deren feierliches Rot ihn reizte. Immer wieder hob er eines auf, betrachtete es von allen Seiten und überlegte, was er damit anfangen könnte. Nichts konnte er damit anfangen; aber Eva nahm sie mit, weil sie gar so schön waren.

Einige hellrote, aber undurchsichtige, rauhe, lehmig abfärbende Steine – Rötel –, die Peter auflas, verrieten gleich, wozu sie taugten. Das war etwas zum Rotfärben der Haut, vielleicht auch zum Zeichnen auf Mergel. Das mußte er versuchen!

Vergnügt kamen die Wanderer unversehens zur Böschung, die zum Moor anstieg. Hier sahen sie das Wasser über einen niederen Steinriegel herabrieseln. Der war so dunkel wie der untere Teil der Felswand drüben; er gehörte zum Urgestein, dem die Kalkfelsen drüben aufgelagert waren. Nach links und rechts hin dehnte sich anschließend der lehmige Wall, der das Sumpfwasser staute.

An der rechten Seite des Bachbetts drangen sie durch Schilf, Buschwerk und Waldreben über feuchten Lehmboden und langten mit einem entzückten Ah! oben an, wo die braungrüne Ebene des Moores, durchsetzt mit Heidelbeerstauden und wehenden Flockensimsen, vor ihnen lag. Und wieder war es ein Brachvogel, der mit seinem Warnruf das Sumpfgeflügel vom Nahen einer Gefahr benachrichtigte. Unter dem aufgescheuchten Vogelwild waren drei kleine, langbeinige, schlankhalsige Nachtreiher mit spitzen Schnäbeln, ein mächtiger Fischreiher, etliche Rohrdommeln, eine Menge Wildenten und zwei schön gebänderte Wiedehopfe.

Wohl griff Peter zu Pfeil und Bogen, aber war es die Nähe Evas, die ihm an diesem Tag schon einmal das Töten verwehrt hatte, war es die Stimmung des heiligen Tages? – er ließ die Vögel unbehelligt.

Die beiden schlenderten am rechten Rand des Moores schweigend bergan, sie gingen Hand in Hand. Peter zeigte Eva die Stelle, wo er das Moor betreten, und den Tümpel, wo er den Enterich erbeutet hatte. Beim Stegbaum angelangt, versuchte Eva vergeblich, über die starrenden Wurzeln auf den Stamm zu gelangen; sie mußte auf ihren Schurz aus Vogelbälgen zu sehr achtgeben. Da hieb Peter mit seinem Faustkeil eine reichverästelte Wurzel ab, um eine Lücke zu schaffen. Eva, die rasch zugegriffen hatte und an der Wurzel zerrte und drehte, konnte sich nicht entschließen, sie wegzuwerfen, als sie endlich los war. Der starke, am Bruchende leicht gebogene Wurzelast erschien ihr handlich; als rundlicher Haken schmiegte er sich förmlich in die Linke, wenn die Rechte vorgreifend die fast gerade Wurzel umfaßte. Das Gewirr am unteren Ende bildete einen regelrechten Besen, und als solchen gedachte sie es zu verwenden, ein willkommenes Gerät für die Ausstattung der Höhlenwohnung.

Die Kinder stiegen am rechten Ufer aufwärts, ein Gebiet zu erforschen, das auch Peter noch unbekannt war.

Anfangs ging es sanft bergan auf dem moosbedeckten Uferrand des ruhigen Baches, dann aber wurde das Gelände steiler; lauter murmelte, rauschte der Bach zwischen dunklen, rundgerollten Glimmerschieferblöcken über Felsstufen herab. Allmählich trat der Rasen am Bachrand zurück. Ein Geröllsaum begleitete das munter zu Tal hüpfende, schäumende und rauschende Wasser. Und jetzt eilte es in einer tief zwischen den Felsblöcken eingeschnittenen Rinne dahin, umwachsen von Waldrebengewirr, hohen Farnen und großblättrigen Pestwurzen, so daß die Kinder nur von Felsblock zu Felsblock springend vorwärts gelangen konnten. Ab und zu sahen sie an den Seiten handbreite Quellbächlein aus dem lichter werdenden Gehölz hervortreten und in den Moorbach münden.

Das Bachbett verengte sich zu einer steil ansteigenden Klamm, deren verwitterte, von dunklem Moos und gelben Flechten bedeckte Glimmerschichten bei jeder Berührung abbröckelten. Dabei fanden sie zwischen den grauen Plättchen wieder jene roten Steinchen. Aber hier waren sie nicht angeschliffen wie unten im Bachbett, sondern von lauter glatten, schiefwinkeligen Vierecken begrenzt, die schöne Kanten bildeten, als ob sie sorgfältig zugeschliffen wären. Es waren Granatkristalle. Eva sammelte mehr als eine Handvoll der feurigen Edelsteine, wickelte sie sorgsam in Blätter und legte sie in ihren Korb.

Üppige Farnkräuter umbauschten die Ränder der noch taufeuchten Felswände. In der schattigen Tiefe aber war die Luft kühl, fast kalt. Plötzlich war die Klamm zu Ende. Aufschauend sahen die Kinder mächtige Felsmassen von rotem, mit weißen Adern durchzogenem Kalkgestein dachförmig über ihren Häuptern. Und hier, wo das Kalkgebirge auf dem Urgestein ruhte, stürzte der Moorbach aus einer Felshöhle hervor, die tief in die Kalkwand zu führen schien. Die beiden kletterten neben dem Wasserfall zur Quellhöhle hinauf. Dort blieben sie stehen und schauten zurück: Zur Rechten unterhalb der bewaldeten Lehne lag der dunkelgrüne, von den runden Wasserspiegeln der Mooraugen durchsetzte Sumpf mit seinen silbrig schimmernden Weidenkronen und weißen Birkenstämmen. Dahinter schoben sich die von der Schlucht zerrissenen Klammwände senkrecht hoch, ihre drei ragenden Wahrzeichen – Spitz, Henne und Horn – erschienen von hier aus fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie waren breiter geworden und eng aneinander gerückt. Von der Henne war der Kopf nicht zu sehen; sie war zur schlafenden Henne geworden. Zu ihren Füßen hatten sie zunächst einen mächtigen Laubwald und dann das vom Klammbach durchquerte Steinfeld. Dahinter stieg die dunkle Grableiten an, mit der darüber ragenden Wand aus grauem Kalkstein, eine mächtige Steinmauer, an deren obersten Zinnen Wolkenfetzen hintrieben. Dort oben mochte ein scharfer Wind wehen, aber im Heimlichen Grund unten rührte sich kein Blatt.

Den Klammbach aufwärts entdeckten ihre suchenden Augen im Talkessel den Sonnstein mit der morschen Wetterfichte. Seine Westseite war noch völlig im Schatten, es war also noch vor dem Mittag. Und links von ihm säumte düsterer Wald den Fuß der Salzleiten. Sein Grün verdeckte fast die untere Wohnhöhle; nur Evas Lichtluke guckte hinter den Baumwipfeln herüber.

Plötzlich schrie Peter auf: »Das Steinwild! Das Steinwild! Schau, dort droben an der Salzwand, wo sie die langen, nassen Streifen hat! – Die Steinböck‘ sind an der Salzlecke!«

Lange mußte Eva ihre Augen anstrengen, bis sie die Tiere gewahrte, deren dunkles Braungrau sich kaum von der Felswand abhob.

Peter, dessen Augen schärfer und geübter waren, bemerkte, daß drei von den Tieren weiß gescheckt waren. Es waren Nachkommen der weißen Ziege, die mit der Ahnl in den Heimlichen Grund gekommen war! Seine Freude war so übermächtig, daß er sich in einem gellenden Juchzer Luft machen mußte.

Das Steinwild stand wie angewurzelt. Ein zweiter Juchzer aber, der mit dem Widerhall zusammenklang, brachte es in Bewegung.

In wohlgeordnetem Zuge stiegen die Tiere schräg auf, den Steinschlagwänden zu; in kühnen Sprüngen setzten sie über Risse und Spalten und entschwanden oberhalb der Südwand den Blicken der Beobachter unten am Fuß.

Peter war wie im Fieber. Er wußte nicht, was er wollte; den Böcken jetzt nachjagen, wäre ja zwecklos gewesen. Heimwärts drängte es ihn, auf dem kürzesten Wege. Und so führte er Eva nicht wieder zum Moor zurück, sondern an der Südwand entlang, so schnell es ging.

Allmählich aber zwang grobes, dem Felsen vorgelagertes Gestein die Wanderer langsam zu gehen. Sie gerieten in ein Steinkar, auf dem Flechten, Bärlapp und Moos gediehen. Wacholderbüsche, steifes, spärliches Gras, Enzian, Brombeerstauden und verblühte Alpenrosen wucherten zwischen verwitterten Steintrümmern; schlanke Bergeidechsen sonnten sich auf durchwärmten, moosigen Blöcken oder huschten erschrocken durch das verblühte Heidekraut.

Vor wie vielen Jahren mochte hier eine Steinlawine zum Stillstand gekommen sein? Nun hatte blühendes Leben die Greuel der Verwüstung überdeckt.

Peter spähte zwischen die Trümmer hinein nach Resten erschlagenen Wildes, mochten es auch nur Knochen sein. Und Knochen fand er. Aber was für Knochen!

Ein flechtenbedecktes Hirschgeweih, dessen armdicke Stangen mit fünf kronenförmig beisammenstehenden Endsprossen aus dem Geröll ragten, entlockte ihm einen langen Pfiff.

Er und Eva machten sich ans Ausgraben. Steine und Bruchsand flogen zur Seite; der wohlerhaltene Schädel mit dem vielendigen Geweih, dessen Rosen die Größe von Peters Handtellern hatten, wurde bloßgelegt, dann die Halswirbel und dann – ein zweiter Schädel, mit breitem, in einen starken Knochenkamm übergehenden Hinterkopf, daumendicken Eckzähnen und stumpfhöckerigen Backenzähnen; ein Bärenschädel!

Steil lag er auf dem eingedrückten Brustkorb des Hirsches; beim Weitergraben fanden sie die mächtigen Schulterblätter und das Rückgrat des Raubtieres. Die gewaltigen Wirbel waren vom Eisenrost des ausgelaugten Gesteins braun gefärbt. Die dicken Röhrenknochen der Bärenpranken und die schlanken der Hirschläufe waren unvollständig.

Offenbar hatte Raubzeug weggeschleppt, was das Geröll nicht zugedeckt hatte. Das gemeinsame Grab von Raubtier und Beute erzählte eine Geschichte aus ferner Zeit.

Hirsche gab’s jetzt im Heimlichen Grund nicht. Sie mochten einst hier gehaust haben. Oder hatte sich ein von Jägern verwundeter Hirsch durch die Klamm herauf hierher geflüchtet? Jedenfalls war er einem starken Bären zum Opfer gefallen. Aber als der Räuber über seine Beute herfiel, war das Verhängnis gekommen. Eine Steinlawine hatte ihn erschlagen, mitten in der Freude des reichlichen Fraßes.

Unwillkürlich schaute Peter zur Wand empor, von der einst der Steinschlag niedergeprasselt war. Aber dort gab es keine sichtbaren Abbruchstellen. Legföhren hatten sich in den Felsritzen eingenistet und hingen, mit den schlangenförmigen Wurzeln das Gestein umspannend, über dem Abgrund; ihr Anblick hatte etwas Beruhigendes. Und jetzt begann Peter den Knochenfund zu mustern. Prüfend drehte er Stück für Stück in den Händen, und seine Augen fragten jedes einzelne, wozu es gut wäre.

Dann wurden die Körbe gefüllt. Langsam schritten die Kinder mit ihren schweren Bürden heimzu. An ein Durchqueren des alten Laubwaldes, in dem vielleicht die Kastanienbäume stehen mochten, war heute nicht zu denken.

Vorsichtig kehrten sie zum Moorbach zurück und wanderten in seinem Bett abwärts. Schon stand die Westseite des Sonnsteins in vollem Licht, und die Salzwände prangten im rosigen Widerschein der sinkenden Sonne.

Von der Lehmleiten des Moorrandes stiegen die glücklichen Sammler mit ihren Lasten nieder ins Heideland des Steinfeldes.

Als sie sich dem Sonnstein näherten, flüchtete ein Rudel Rehe, darunter ein starker Bock mit reichbeperltem Geweih, den Peter zum erstenmal sah.

Langsam zogen die Kinder den Erntepfad dahin; Peter führte Eva durch die Dämmerung heim.