Zweites Kapitel

In der Woche, die nun folgte, gab es wohl keinen erstaunteren und verblüffteren kleinen Jungen als Cedrik; die ganze Woche war aber auch höchst seltsam und unwahrscheinlich. Erstens einmal war die Geschichte, die seine Mama ihm erzählte, eine ganz wunderliche, und er mußte sie zwei- oder dreimal hören, bis er sie verstand, was aber Mr. Hobbs davon halten würde, darüber war er sich auch dann noch nicht klar. Die Geschichte fing mit Grafen an, sein Großvater, den er nie gesehen hatte, war ein solcher, und sein ältester Onkel wäre dann später ein Graf geworden, wenn er nicht durch einen Sturz vom Pferde getötet worden wäre, nach einem Tode hätte dann sein zweiter Onkel Graf werden sollen, der war aber in Rom ganz plötzlich am Fieber gestorben. Nun wäre es schließlich an seinem eignen Papa gewesen, den Titel zu bekommen, da aber alle tot waren und niemand übrig, kam es zu guter Letzt darauf hinaus, daß er nach seines Großvaters Tode der Graf und Erbe werden würde – und jetzt für den Augenblick war er Lord Fauntleroy.

Als er dies zuerst erfuhr, ward er ganz bleich.

»O Herzlieb!« sagte er, »ich möchte lieber kein Graf sein. Keiner von den andern Jungen ist ein Graf. Kann ich nicht keiner sein?«

Die Sache schien sich jedoch nicht umgehen zu lassen, und als er abends mit seinem Mütterchen am Fenster saß und in die armselige Straße hinausblickte, sprachen sie lange und eingehend darüber. Cedrik saß auf seiner Fußbank, das eine Bein übergeschlagen, wie es seine Lieblingsstellung war, und sein kleines Gesicht war ein wenig verstört und ganz rot vor lauter Nachdenken. Sein Großvater wollte, daß er nach England kommen solle, und hatte deshalb den alten Herrn geschickt.

»Ich weiß, daß dein Papa sich darüber freuen würde,« sagte seine Mama, die traurigen Augen dem Fenster zugewendet. »Sein Herz hing sehr an seiner Heimat, und dann sind dabei auch noch viele Dinge zu bedenken, die du noch nicht verstehen kannst, mein Kind. Ich würde eine sehr selbstsüchtige Mama sein, wenn ich dich nicht reisen ließe – das wirst du alles begreifen, wenn du erst erwachsen bist.«

Cedrik schüttelte wehmütig das Köpfchen. »Es thut mir so leid, wenn ich von Mr. Hobbs fort muß,« sagte er. »Ich habe Angst, er wird mich vermissen und er wird mir sehr fehlen – er und all die andern.«

Als Mr. Havisham, welcher der langjährige Sachwalter des Grafen Dorincourt war, und der die Mission hatte, Lord Fauntleroy nach England zu bringen, am nächsten Tage wiederkam, erfuhr Cedrik sehr viel Neues, allein es war ihm gar nicht sehr tröstlich, zu erfahren, daß er dereinst ein sehr reicher Mann sein und hier ein Schloß und dort ein Schloß, große Parks, Bergwerke und Ländereien und viele Dienerschaft besitzen werde. Er war sehr bekümmert im Gedanken an seinen Freund, Mr. Hobbs, und bald nach dem Frühstück suchte er ihn voll Herzensangst in seinem Laden auf.

Er fand ihn die Zeitung lesend und trat ihm mit ernster Miene gegenüber: er wußte ja, daß das, was ihm widerfahren, für Mr. Hobbs ein herber Schlag sein mußte, und er hatte sich’s unterwegs genau überlegt, wie er ihm die Sache beibringen wollte.

»Hallo!« sagte Mr. Hobbs. »’Morgen!«

»Guten Morgen,« sagte Cedrik. Er kletterte nicht wie sonst auf seinen hohen Stuhl, sondern setzte sich auf einen Biskuitkasten und schlug die Beine übereinander und schwieg so lange, bis Mr. Hobbs fragend über sein Zeitungsblatt hinüber nach ihm hinschielte.

»Hallo!« sagte er noch einmal.

Cedrik faßte sich ein Herz.

»Mr. Hobbs,« begann er, »wissen Sie noch, von was wir gestern vormittag gesprochen haben?«

»Hm, ja, von England dächt‘ ich.«

»Freilich, aber gerade als Mary hereinkam, wissen Sie das noch?«

Mr. Hobbs rieb sich den Hinterkopf.

»Wir diskurierten über die Königin und die ›’Ristokraten‹.«

»Ja,« sagte Cedrik zögernd, »und, und über die Grafen; wissen Sie noch?«

»Jawohl,« erwiderte Mr. Hobbs, »die kamen schlecht weg dabei, wie sich’s gehört!«

Cedrik ward rot bis unter sein lockiges Stirnhaar, in solcher Verlegenheit hatte er sich im Leben noch nie befunden und dabei ängstigte ihn das Gefühl, daß die Sache auch für Mr. Hobbs nicht ohne Verlegenheit ablaufen werde.

»Ja, und Sie sagten,« fuhr er fort, »daß Sie keinen von den ‚Ristokraten auf Ihren Biskuitkisten herumsitzen lassen würden.«

»Das will ich meinen!« bestätigte Mr. Hobbs seinen Ausspruch mit Ueberzeugung. »Soll nur ‚mal einer kommen, dem werd‘ ich’s zeigen.«

»Mr. Hobbs,« sagte Cedrik schüchtern, »es sitzt aber einer auf dieser Kiste!«

Um ein Haar wäre Mr. Hobbs vom Stuhle gefallen.

»Was?« rief er.

»Ja,« erklärte Cedrik in gebührender Demut, »ich bin einer oder werde wenigstens später einer werden. Ich will Sie nicht hintergehen.«

Mr. Hobbs sah ganz alteriert aus; er erhob sich plötzlich und sah nach dem Thermometer.

»Muß wohl so was wie ein Sonnenstich sein,« erklärte er, seinen kleinen Freund scharf ins Auge fassend. »Die Hitze ist auch danach! Hast du Schmerzen? Seit wann fühlst du den Zustand?«

Er legte seine breite Hand auf des Knaben Haupt, und dieser war mehr denn je in Verlegenheit.

»Danke, danke,« sagte Cedrik, »ich bin ganz wohl und in meinem Kopfe ist alles in Ordnung, Es thut mir ja so leid, aber alles, was ich Ihnen gesagt habe, ist wahr, Mr. Hobbs; deshalb hat mich ja Mary gestern geholt, und Mr. Havisham hat meiner Mama alles gesagt und er ist ein Advokat.«

Mr. Hobbs sank in seinen Sessel und trocknete sich die Stirn mit seinem Taschentuch.

»Einer von uns beiden hat den Sonnenstich!« rief er.

»Nein,« versetzte Cedrik, »sicher nicht. Wir müssen uns eben drein finden, Mr. Hobbs. Mein Großpapa hat Mr. Havisham den ganzen Weg von England herübergeschickt, um uns das alles zu sagen.«

Mr. Hobbs starrte ganz bestürzt in das unschuldige, ernsthafte, kleine Gesicht vor ihm.

»Wer ist dein Großvater?« fragte er endlich.

Cedrik griff in seine Tasche und zog mit großer Sorgfalt einen kleinen Papierstreifen hervor, auf welchem in großen, unbeholfenen Buchstaben etwas geschrieben stand.

»Ich habe mir’s nicht recht merken können, deshalb hab‘ ich’s aufgeschrieben,« sagte er und las langsam: »John Arthur Molyneux Errol Graf Dorincourt! So heißt er und er wohnt in einem Schloß – in ein paar Schlössern, glaub‘ ich. Und mein Papa, der gestorben ist, war sein jüngster Sohn; und ich wäre kein Graf geworden und kein Lord, wenn mein Papa nicht gestorben wäre, und mein Papa wäre auch kein Graf geworden, wenn seine beiden Brüder nicht gestorben wären. Aber die sind alle tot, und ist gar keiner da außer mir – kein Junge – deshalb muß ich der Graf werden, und mein Großpapa hat jemand geschickt, der mich nach England abholen soll.«

Mr. Hobbs schien es immer heißer zu werden, er wischte seine Stirn und seinen kahlen Schädel und schnaubte und pustete ganz fürchterlich. Daß hier ein sehr merkwürdiges Ereignis vorlag, fing an, ihm aufzudämmern, wenn er dann aber wieder den kleinen Jungen auf der Biskuitkiste ansah mit den ängstlichen, unschuldigen Kinderaugen, an dem so ganz und gar nichts verändert zu sein schien, sondern der ganz der nämliche hübsche, fröhliche kleine Kerl war in seinem schwarzen Röckchen mit der roten Krawatte, wie er am Tage vorher auch da gesessen, so überwältigte ihn diese Geschichte von Adel und Titeln immer wieder aufs neue, und weil Cedrik sie mit solcher Einfachheit und Unbefangenheit wiedergab, offenbar ohne sich selbst einen Begriff von ihrer Tragweite zu machen, steigerte sich seine Verblüffung immer mehr.

»Und, und wie hast du gesagt, daß du jetzt heißest?« fragte Mr. Hobbs.

»Cedrik Errol, Lord Fauntleroy,« erwiderte der arme kleine Edelmann. »So nennt mich Mr. Havisham; als ich ins Zimmer trat, hat er gesagt: ›So, so, das ist also der kleine Lord Fauntleroy.‹«

»Da will ich mich doch gleich räuchern lassen!«

Dies war eine bei Mr. Hobbs in Fällen großer Gemütsbewegung sehr beliebte Redewendung, und in diesem aufregenden Moment fiel ihm eben gar nichts andres ein. Cedrik war auch weit entfernt, darin etwas Ungeeignetes zu sehen; seine Verehrung und Bewunderung für Mr. Hobbs waren so fest gegründet, daß er die Richtigkeit seiner Bemerkungen blindlings anerkannte, auch hatte er noch zu wenig von Gesellschaft gesehen, um zu wissen, daß Mr. Hobbs nicht gerade korrekt war. Daß er ganz anders war als seine Mama, fühlte er freilich, aber Mama war eben eine Dame, und daß Damen und Herren verschieden geartete Wesen, war ihm selbstverständlich.

Er sah Mr. Hobbs sehr ernsthaft an.

»England ist weit weg, nicht wahr?« fragte er.

»Ueberm Atlantischen Ozean drüben, einfach,« erläuterte Mr. Hobbs.

»Das ist das Schlimmste an der Sache,« sagte Cedrik traurig. »Vielleicht sehe ich Sie da lange nicht mehr – mag gar nicht dran denken, Mr. Hobbs.«

»Auch die besten Freunde müssen scheiden,« erwiderte Mr. Hobbs feierlich.

»Wir sind nun schon viele, viele Jahre Freunde, nicht wahr?«

»Seit du auf der Welt bist. Sechs Wochen, schätz‘ ich, warst du alt, da machtest du deinen ersten Ausflug auf die Straße.«

»Ach,« bemerkte Cedrik mit einem tiefen Seufzer, »damals dachte ich noch nicht, daß ich einmal ein Graf werden sollte.«

»Du meinst also, es sei keine Möglichkeit, aus der Patsche zu kommen?«

»Keine, fürcht‘ ich; Mama sagt, daß es Papas Wunsch sein würde, daß ich gehe. Aber wenn ich auch ein Graf sein muß, so bleibt mir doch eins – ich kann versuchen, ein recht guter zu werden; ein Tyrann werde ich gewiß nicht. Und wenn wieder ein Krieg mit Amerika kommt, so werde ich dem ein Ende machen, wenn ich kann.«

Es folgte nun eine eingehende, ernsthafte Besprechung mit Mr. Hobbs über den politischen Gesichtspunkt der Sache. Nachdem der würdige Mann den ersten Schreck überwunden hatte, zeigte er sich weit milder, als zu erwarten gewesen, that sein Möglichstes, die Sache von der guten Seite zu nehmen, und stellte eine Menge Fragen. Da Cedrik nur einen kleinen Teil derselben beantworten konnte, suchte er dies selbst zu vollbringen, und als er einmal im Zuge war, verkündigte er über Erbrecht, Grafentitel und Familiengesetze Dinge, die Mr. Havisham in großes Erstaunen gesetzt haben würden.

Mr. Havisham erlebte überhaupt viel Erstaunliches. Er hatte sein ganzes Leben in England zugebracht, und amerikanische Sitten und Menschen waren ihm vollkommen fremd. Seit beinahe vierzig Jahren stand er in Geschäftsverbindung mit der Familie des Grafen Dorincourt, kannte alle Verhältnisse und Besitztümer des Hauses aus- und inwendig und empfand in seiner kühlen, geschäftsmäßigen Weise ein gewisses Interesse für den kleinen Jungen, der einst Herr und Gebieter über alles sein sollte. Alle Enttäuschungen, welche die älteren Söhne dem Vater bereitet, hatte er miterlebt, hatte des Grafen Entrüstung über Kapitän Cedriks Heirat mitangesehen und mußte, wie der alte Herr die kleine Witwe haßte, und in welch bittern, harten Worten er von ihr zu sprechen pflegte. Sie war in seinen Augen nun ein für allemal nichts als eine ungebildete Amerikanerin, die seinen Sohn ins Netz gelockt, weil sie gewußt hatte, welch einer Familie er angehörte, und Mr. Havisham teilte diese Auffassung so ziemlich, denn er hatte ja im Leben genug käufliche und berechnende Seelen kennen gelernt, und von den Amerikanern hielt er ohnehin nicht viel. Als der Kutscher ihn nach seiner Ankunft in die entlegene ärmliche Straße und vor das elende kleine Haus gefahren hatte, war er ganz entsetzt gewesen: daß der künftige Besitzer von Schloß Dorincourt und Wyndham Towers und Chorlworth und all den andern stattlichen Gütern hier geboren und groß gewachsen sein sollte, verletzte auch sein Selbstgefühl.

Er war sehr gespannt, welcher Art Mutter und Kind sein würden, und es bangte ihm vor der Begegnung: er war stolz auf das vornehme alte Haus, dessen Angelegenheiten so lange schon die seinigen waren, und es hätte ihn im Innersten peinlich berührt, wenn er mit einer niedrig denkenden, geldgierigen Frau zu thun bekommen hätte, die für ihres verstorbenen Mannes Stellung und Ehre kein Gefühl gehabt. Handelte es sich doch um einen alten Namen und um einen glänzenden, für den Mr. Havisham sich trotz aller Kühle und geschäftsmännischen Nüchternheit einer gewissen Ehrfurcht nicht erwehren konnte.

Als Mary ihn in den kleinen Salon geführt hatte, warf er einen kritischen Blick um sich. Die Einrichtung war einfach, aber wohnlich; nirgends waren geschmacklose, billige Spielereien oder Farbendrucke an den Wänden; der wenige Wandschmuck war durchaus künstlerischer Art und eine Menge hübscher Kleinigkeiten, die von weiblicher Hand herrührten, machten den Raum behaglich.

»So weit nicht übel,« sagte der alte Herr zu sich selbst, »da hat aber wohl des Kapitäns Geschmack den Ausschlag gegeben.« Als jedoch Mrs. Errol ins Zimmer trat, konnte er nicht umhin, zu denken, daß möglicherweise auch der ihrige maßgebend gewesen sein könnte. Wäre er nicht ein gar so steifer, zurückhaltender Geschäftsmann gewesen, so würde er vermutlich seine Ueberraschung bei ihrem Anblick nicht verborgen haben; sie sah in dem schlichten schwarzen Gewande, das sich eng um ihre zarte Gestalt schmiegte, weit eher wie ein junges Mädchen, als wie die Mutter eines siebenjährigen Jungen aus; ihr Gesichtchen war hübsch, und in den großen braunen Augen lag ein Blick voll Unschuld und Innigkeit, dabei aber auch von unsäglicher Traurigkeit, die nicht mehr von ihr gewichen war, seit sie ihren Mann verloren. Cedrik hatte sich ganz an die traurigen Augen gewöhnt, und zuweilen sah er sie doch auch fröhlich aufleuchten, das war aber nur, wenn er mit ihr spielte oder plauderte oder irgend etwas Altkluges sagte oder eins von den langen Fremdwörtern gebrauchte, die er bei Mr. Hobbs oder aus der Zeitung aufschnappte. Er gebrauchte gern so lange Wörter und er freute sich auch, wenn seine Mama darüber lachte, obwohl er nicht begriff, was sie daran komisch fand, denn ihm war es voller Ernst damit. Der Anwalt hatte in seiner langen Praxis Gesichter vom Blatt lesen gelernt und wußte auf den ersten Blick, daß er und der Graf sich mit ihren Voraussetzungen gründlich getäuscht hatten. Mr. Havisham war nie verheiratet, ja nicht einmal verliebt gewesen, aber er fühlte, das dies junge Geschöpf mit der süßen Stimme und den traurigen Augen Kapitän Errol geheiratet hatte, weil sie ihn mit aller Kraft ihrer Frauenseele geliebt, und daß sie auch nicht ein einzigmal daran gedacht hatte, wessen Sohn er sei. Und er wußte nun auch, daß sie ihm keine Schwierigkeiten bereiten werde, und daß möglicherweise dieser kleine Lord Fauntleroy seiner Familie nicht so viel Kummer machen werde, als man erwartet hatte; der Kapitän war ein hübscher Mann gewesen, die Mutter war sehr hübsch, vielleicht war der Junge auch zum Ansehen.

Als er Mrs. Errol die Veranlassung seines Kommens auseinandergesetzt hatte, ward sie leichenblaß.

»Ach,« sagte sie leise, »wird es nötig sein, ihn von mir zu trennen? Wir hängen so sehr aneinander! Er ist mein ganzes Glück, meine ganze Welt. Ich habe immer mein Bestes gethan, ihm eine gute Mutter zu sein!« Und die weiche junge Stimme zitterte, und Thränen traten in ihre Augen. »Sie wissen nicht, was das Kind mir gewesen ist,« setzte sie halblaut hinzu.

Der alte Herr räusperte sich.

»Es ist meine peinliche Pflicht, Ihnen zu sagen, daß Graf Dorincourt Ihnen nicht – nicht freundlich gesinnt ist. Der Graf ist alt und ein Mann von starken Vorurteilen; Amerika und die Amerikaner sind ihm stets besonders zuwider gewesen, weshalb ihn auch seines Sohnes Heirat so aufgebracht hat. Ich bedaure, der Ueberbringer eines so unerfreulichen Auftrages zu sein, allein der Graf ist entschlossen, Sie nicht zu sehen. Sein Wunsch ist, Lord Fauntleroy unter seiner persönlichen Aufsicht erziehen zu lassen, ihn bei sich zu haben; der Graf hängt sehr an Schloß Dorincourt und bringt den größten Teil des Jahres dort zu; er ist häufig schmerzhaften Gichtanfällen unterworfen und liebt London gar nicht; Lord Fauntleroy würde demzufolge also auch hauptsächlich in Dorincourt zu bleiben haben. Ihnen bietet der Graf als Wohnung ein Landhaus, Court Lodge, an, das in der Nähe von Dorincourt sehr hübsch liegt, selbstverständlich mit entsprechendem Jahreseinkommen. Lord Fauntleroy darf Sie besuchen, die einzige Beschränkung ist, daß Sie ihn nicht besuchen, den Park überhaupt nicht betreten: es wird also thatsächlich keine Trennung von Ihrem Sohne sein, und ich versichere Sie, gnädige Frau, daß diese Bedingungen unter den einmal gegebenen Verhältnissen recht günstig für Sie sind. Sie werden selbst einsehen, daß es für Lord Fauntleroy von großer Bedeutung ist, in solcher Umgebung aufzuwachsen und eine derartige Erziehung zu genießen.«

Es war Mr. Havisham etwas unbehaglich zu Mute, da er eine Szene oder wenigstens einen Thränenausbruch vorhersah und es zum Peinlichsten für ihn gehörte, Frauen weinen zu sehen. Nichts derart erfolgte; die junge Frau trat ans Fenster und sah einige Augenblicke hinaus, um sich zu fassen und zu sammeln.

»Kapitän Errol hing sehr an Dorincourt,« sprach sie endlich, »Er liebte sein Vaterland und seine Heimat und es war ihm immer schmerzlich, daraus verbannt zu sein. Er war stolz auf sein Elternhaus und seinen Namen. Sein Wunsch wäre es, das weiß ich, daß sein Sohn das schöne, stolze Heim kennen lernen und seiner künftigen Stellung gemäß erzogen werden sollte.«

Sie trat wieder zum Tische und blickte unendlich sanft und ergeben zu Mr. Havisham auf.

»Mein Mann würde es so haben wollen,« sagte sie einfach, »und es wird wohl für den Knaben das Richtige sein. Ich weiß – ich bin überzeugt, daß der Graf nicht so grausam sein wird, mir des Kindes Liebe entziehen zu wollen, und ich weiß auch, daß, selbst wenn er das thun wollte, mein Junge viel zu sehr seinem Vater ähnlich ist, um sich beeinflussen zu lassen: er hat viel Gemüt und ein treues, liebes Herz. Er würde mich lieb haben, auch wenn er mich nicht sehen könnte, und solange wir uns hin und wieder sehen dürfen, werde ich’s ja wohl ertragen können.«

»Sie denkt nicht viel an sich selbst,« bemerkte der Advokat im stillen. »Sie stellt keinerlei Bedingungen für ihre Person.«

»Gnädige Frau,« sprach er dann, »ich weiß Ihre selbstlose Rücksicht auf Ihren Sohn zu schätzen, und er selbst wird Ihnen einst als Mann Dank dafür wissen. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Lord Fauntleroy die sorgfältigste Pflege und Erziehung genießen wird, und daß Graf Dorincourt ihn so ängstlich behüten wird, wie nur Sie selbst es könnten.«

»Ich hoffe nur,« sagte die weichherzige kleine Mutter mit erstickter Stimme, »daß sein Großvater Ceddie lieb haben wird. Er hat ein weiches, zärtliches Herz und ist an viel Liebe gewöhnt.«

Mr. Havisham mußte sich abermals räuspern; er konnte sich nicht recht vorstellen, daß der jähzornige, hochfahrende, rücksichtslose alte Herr in seinem Gichtstuhl irgend jemand lieb haben könnte, allein er wußte ja, daß es in dessen Interesse lag, auf seine mürrische Art und Weise gut zu sein gegen seinen künftigen Erben, und er wußte überdies, daß, im Falle das Kind seinem Namen Ehre machte, der Graf stolz auf den Jungen sein würde.

»Lord Fauntleroy wird nichts entbehren, dessen bin ich gewiß,« versetzte er; »einzig in Rücksicht auf das Glück des Kindes wünschte der Graf, daß Sie nahe genug leben, um ihn täglich zu sehen.«

Mr. Havisham hielt es nicht für angemessen, die Ausdrücke, in welchen der Graf diesen Beschluß motiviert hatte, hier wörtlich zu wiederholen, sondern zog es vor, seines Auftraggebers Anerbieten in eine höflichere und mildere Form zu kleiden.

Von neuem wurde ihm etwas bänglich zu Mute, als Mrs. Errol Mary hereinrief und ihr den Befehl erteilte, den Jungen zu suchen.

»Wird nicht schwer zu finden sein,« erklärte diese, »der sitzt bei Mr. Hobbs an der Ecke auf dem hohen Stuhle an der Kasse und schwatzt von Politik oder thut sich sonstwie herum amüsieren unter der Seife oder den Lichtern oder derlei Zeug, seelenvergnügt wie alleweil.«

»Mr. Hobbs kennt ihn, seit er auf der Welt ist,« erklärte Mrs. Errol. »Er ist sehr gütig gegen Ceddie und die beiden sind große Freunde.«

Zufällig hatte Mr. Havisham im Vorüberfahren einen Blick auf das nicht sehr elegante Geschäft mit den offnen Kartoffelsäcken, Apfelfässern und dem hunderterlei Krimskrams geworfen und fühlte nun von neuem ernste Zweifel in sich aufsteigen. In England pflegen die Kinder vornehmer Eltern keinen Verkehr in Kramläden zu haben, und die Sache kam ihm nicht unbedenklich vor. Schlechte Manieren und Hang zu untergeordneter Gesellschaft wären höchst mißlich an dem Jungen; denn gerade die Neigung zu niedrigem Verkehr hatte den Grafen an seinen beiden ältesten Söhnen so tief verletzt. War es denkbar, daß der Junge derartige Anlagen von seinen Onkeln überkommen hätte statt der liebenswürdigen Eigenschaften des Vaters?

In großer innerer Unruhe setzte er sein Gespräch mit Mrs. Errol fort, bis das Kind kam, und als die Thür aufging, scheute Mr. Havisham sich förmlich, einen Blick auf Cedrik zu werfen. Für viele Leute, die den trefflichen Mann im Leben lange kannten, wäre es äußerst interessant gewesen, zu beobachten, was in ihm vorging, als er den Jungen auf seine Mutter zueilen sah – der Umschlag in seinen Gefühlen war derart, daß er ihn förmlich erschütterte. Im ersten Augenblick erkannte er, daß der kleine Geselle hübscher und vornehmer war, als er je einen gesehen, und dabei hatte seine Erscheinung etwas ganz Eigenartiges. Die kleine Gestalt war voll Anmut, Kraft und Energie; sein Köpfchen trug er hoch, und in der ganzen Haltung lag eine gewisse Tapferkeit; seinem Vater sah er überraschend ähnlich; von ihm hatte er das goldne Lockenhaar, von der Mutter die großen braunen Augen, nur daß in den seinigen auch kein Schimmer von Schüchternheit oder Trauer lag, sondern sie so unschuldig und unerschrocken in die Welt hineinschauten, als sollte ihr Träger Furcht und Sorge nie kennen lernen.

»Der hübscheste kleine Bursche, den ich je gesehen habe, und Rasse hat der Junge,« dachte Mr. Havisham bei sich, während er nichts verlauten ließ als die Worte: »Also das ist der kleine Lord Fauntleroy?«

Und je häufiger er diesen Lord Fauntleroy sah und um sich hatte, desto mehr steigerte sich sein Erstaunen; er hatte zwar in England reichlich Gelegenheit gehabt, Kinder zu sehen, hübsche, rosige kleine Mädchen und Knaben, die von Erzieherinnen und Hauslehrern korrekt am Gängelbande geführt wurden und die zum Teil scheu und schüchtern, zum Teil sehr geräuschvoll und zudringlich waren, allein großes Interesse hatten sie alle dem förmlichen, ernsthaften Advokaten nicht abgewonnen, und so hatte er in Wirklichkeit sehr wenig Erfahrung in Bezug auf kleine Leute. Vielleicht machte ihn sein persönliches Interesse an Lord Fauntleroys Geschick mehr zur Beobachtung geneigt! aber wie dem auch sei, er fand sehr viel Bemerkenswertes an dem Knaben.

Cedrik hatte keine Ahnung davon, daß er ein Gegenstand der Beobachtung war, und gab sich ganz wie immer. Mit seiner gewöhnlichen Herzlichkeit streckte er Mr. Havisham sein Händchen hin, als er ihm vorgestellt wurde, und antwortete auf alle Fragen mit der nämlichen Freimütigkeit und Unbefangenheit, die in seinem Verkehr mit Mr. Hobbs herrschten.

Er war weder schüchtern noch keck, und dem Advokaten fiel auf, daß er seinem Gespräch mit Mrs. Errol mit der vollen Aufmerksamkeit eines Erwachsenen folgte.

»Scheint ein frühreifes Kind zu sein,« bemerkte er gegen die Mutter.

»In manchen Beziehungen, ja,« erwiderte sie. »Er hat immer rasch begriffen und schnell gelernt und auch sehr viel mit Erwachsenen gelebt. Sehr komisch ist seine Vorliebe, allerhand lange Wörter oder Redensarten, die er irgendwo gelesen, wieder anzubringen; aber er hat auch ebensoviel Freude an Kinderspielen. Er ist ziemlich begabt, glaube ich, dabei aber ein richtiger wilder Junge.«

Bei seiner nächsten Begegnung mit ihm hatte Mr. Havisham Gelegenheit, sich von der Richtigkeit dieses Ausspruches zu überzeugen. Als am Tage darauf sein Coupé in die Straße einbog, fiel ihm plötzlich eine Gruppe kleiner Jungen in die Augen, die sichtlich in großer Erregung waren. Zwei davon standen im Begriff, einen Wettlauf zu unternehmen, und in einem derselben erkannte Mr. Havisham den jungen Lord, der an Kreischen und Lärmen keineswegs hinter seinen Kameraden zurückblieb. Er stand neben seinem Rivalen, das eine Bein im roten Strumpf schon sprungbereit ausgestreckt.

»Auf ›eins‹ macht euch fertig,« rief der Starter mit gellender Stimme, »zwei – tretet vor – auf drei – los!«

Mr. Havisham fand das Interesse, mit dem er sich aus dem Wagenfenster beugte, selbst äußerst komisch; aber er hatte auch wirklich in seinem Leben nichts gesehen, wie die Art und Weise, in der die roten Beine Seiner kleinen Herrlichkeit in die Luft flogen, nachdem er sich auf das gegebene Zeichen in Bewegung gesetzt hatte. Die Händchen hielt er fest geschlossen, den Oberkörper vorgebeugt und seine blonde Mähne flog um ihn her.

»Hurra, Ced Errol!« brüllten die Jungens unter lautem Händeklatschen. »Hurra, Billy Williams! Hurra, Ceddie! Hurra, Bill! Hurra–ra–ra!«

»Ich glaube wahrhaftig, er gewinnt!« sagte Mr. Havisham, der wirklich nicht ohne Erregung die roten Beine auf und nieder fliegen sah, denen die gar nicht zu verachtenden braunen von Billy in bedenklicher Nähe folgten. »Ich möchte wahrhaftig – ich wünsche, daß er den Sieg davonträgt,« setzte er mit einem entschuldigenden Husten hinzu.

In diesem Augenblick erklang ein wildes, gellendes Geschrei aus den Kinderkehlen; mit einem letzten gewaltigen Satze hatte der künftige Graf Dorincourt den Laternenpfahl umfaßt, den sein keuchender Gegner erst ein paar Sekunden später erreichte.

»Dreimal hoch, Ceddie Errol!« brüllte die kleine Schar. »Hurra, Ceddie Errol.«

Mr. Havisham lehnte sich mit befriedigtem Lächeln in sein Wagenkissen zurück

»Bravo, Lord Fauntleroy,« sagte er.

Als das Coupé vor Mrs. Errols Hause hielt, kamen Sieger und Besiegter inmitten des Kinderhaufens einträchtiglich des Weges daher, und Cedrik redete eifrig auf Billy Williams ein. Sein siegesbewußtes kleines Gesicht war dunkelrot, die blonden Locken klebten an der feuchten Stirn, die Händchen steckten tief in den Taschen.

»Siehst du,« sagte er eben, »ich glaube, daß ich gewonnen habe, weil meine Beine ein bißchen länger sind als die deinigen. Ich glaube ganz sicher, daß es daher kommt, und dann, weißt du, bin ich auch drei Tage älter als du, und das ist auch ein Vorteil. Drei Tage bin ich älter.«

Diese Darstellung der Sachlage schien auf Billy Williams so erheiternd zu wirken, daß ihm die Welt wieder erträglich vorkam und er sogar wieder ein wenig zu schwindeln anfing, gerade als ob er die Wette gewonnen und nicht verloren hätte. Ceddie Errol bewährte auch hier wieder sein Talent, andre vergnügt zu machen; sogar im ersten Feuer des Triumphes übersah er nicht, daß dem unterliegenden Teile wohl minder fröhlich ums Herz sein möchte, und daß es dem andern ein Trost sein könnte, in äußeren Umständen die Ursache seiner Niederlage zu sehen.

Mr. Havisham hatte an diesem Morgen noch eine lange Unterredung mit dem kleinen Sieger, in deren Verlauf er mehr als einmal lächelte und sein Kinn mit der mageren Hand rieb.

Mrs. Errol war abgerufen worden, und Cedrik und der Advokat blieben miteinander allein; anfangs zerbrach sich Mr. Havisham ein wenig den Kopf, was er mit seinem jugendlichen Gefährten anfangen solle; es schwebte ihm dunkel vor, daß es vielleicht am besten wäre, ihn auf die Begegnung mit seinem Großvater und die ihm bevorstehende große Veränderung ein wenig vorzubereiten. Daß Cedrik von dem Leben, das ihn in England erwartete, und von seinem künftigen Daheim keinerlei Begriff hatte, war klar, sogar daß seine Mutter nicht unter einem Dache mit ihm wohnen würde, wußte er nicht; Mrs. Errol hielt es für besser, ihm diese Schreckenskunde vorläufig zu ersparen.

Mr. Havisham saß in einem Lehnstuhle am offnen Fenster, dem gegenüber stand ein noch größerer, in welchem Cedrik saß und Mr. Havisham unverwandt anblickte. Er hatte sich ganz zurück gesetzt in dem für sein kleines Gestältchen ungeheuren Fauteuil, das lockige Köpfchen schmiegte sich in die Kissen, die Beine waren übereinander gelegt, die Hände steckten wieder tief in den Taschen und die ganze Haltung war entschieden frei nach Mr. Hobbs. Schon als seine Mama noch im Zimmer gewesen war, hatte er Mr. Havisham sehr genau beobachtet, und nachdem sie hinausgegangen war, fuhr er fort, ihn mit einer Art von Andacht anzublicken; ein Schweigen entstand, und der alte Herr und der kleine Junge schienen sich mit gegenseitigem Interesse zu studieren. Was er jedoch mit einem Jungen, der Rennen gewann, Pumphöschen trug und dessen rotbestrumpfte Beine nicht über den Stuhlsitz herunterreichten, sprechen sollte, darüber kam Mr. Havisham nicht so leicht mit sich ins reine, bis Cedrik ihm plötzlich aus der Verlegenheit half, indem er die Konversation eröffnete.

»Ich weiß gar nicht, was ein Graf ist,« bemerkte er ernsthaft.

»Wirklich nicht?« erwiderte Mr. Havisham.

»Nein, und wenn man einmal einer werden muß, sollte man das doch wissen, meinen Sie nicht auch?«

»Allerdings – gewiß,« gab Mr. Havisham zur Antwort.

»Würden Sie nicht so gut sein und mir das auseinandersetzen?« bat Ceddie sehr respektvoll, wobei er nur einige Silben verschluckte, was ihm bei den beliebten langen Wörtern des öftern vorkam. »Wer hat ihn denn zu einem Grafen gemacht?«

»In erster Linie ein König oder eine Königin,« sagte Mr. Havisham. »Gewöhnlich erhält er den Titel zur Belohnung für irgend einen bedeutenden Dienst, den er seinem Landesherrn leistet, oder sonst eine große That.«

»O!« sagte Cedrik. »Das ist also wie der Präsident.«

»Meinst du?«

»Ja gewiß,« versicherte Ceddie freudig. »Wenn jemand sehr gut ist und sehr viel weiß, dann wird er Präsident. Dann gibt es einen Fackelzug und Musik und viele Reden. Manchmal habe ich gedacht, ich möchte wohl Präsident werden; Graf zu werden, daran habe ich nie gedacht: ich wußte ja nichts davon,« setzte er eilig hinzu, besorgt, Mr. Havisham könnte es ihm verargen.

»Die Sache ist doch ziemlich verschieden von einer Präsidentenwahl.«

»Weshalb?« fragte Cedrik. »Gibt es keinen Fackelzug?«

Mr. Havisham schlug nun gleichfalls die Beine übereinander und legte mit außerordentlicher Sorgfalt die Fingerspitzen der beiden Hände aufeinander; er hielt die Zeit für gekommen, den Gegenstand etwas eingehender zu erörtern.

»Ein Graf ist – ist eine sehr einflußreiche Persönlichkeit,« begann er.

»O, ein Präsident auch,« fiel ihm Ceddie ins Wort. »Der Fackelzug, der ist immer fünf Meilen lang und Raketen steigen und Musik spielt.«

»Ein englischer Graf,« fuhr Mr. Havisham ziemlich unsicher fort, »gehört jedenfalls einem sehr alten Geschlechte an, denn –«

»Was heißt das?« forschte Ceddie.

»Er ist von alter, sehr alter Familie.«

»Ach!« sagte Cedrik und seine kleinen Hände versanken noch tiefer in seine Taschen. »Da ist die Apfelfrau beim Park wahrscheinlich auch von sehr alter Familie. Ja, ganz gewiß ist sie von uraltem Geschlecht, denn die ist so alt, so alt, ach, Sie würden sich wundern, daß sie nur noch stehen kann, und doch sitzt sie immer draußen, sogar wenn es regnet. Sie thut mir so leid und den andern Jungen auch, einmal hat Billy Williams beinahe einen Dollar gehabt, und da habe ich ihm gesagt, er solle ihr jeden Tag um fünf Cents Aepfel abkaufen, bis sein Geld alle sei, das hätte für zwanzig Tage gereicht, aber schon nach acht Tagen kriegte er Aepfel über. Aber damals – das traf sich gut – schenkte mir ein Herr fünfzig Cents, und nun konnte ich an seiner Statt Aepfel kaufen. Es thut einem doch so leid, wenn jemand so arm ist und von so altem Geschlecht; das ihrige, sagt sie, ist ihr in die Knochen gefahren, und wenn Regenwetter ist, thun sie ihr sehr weh.«

Mr. Havisham blickte in einiger Verlegenheit in das ernsthafte, unschuldige Gesicht seines kleinen Gegenüber.

»Ich fürchte, du hast mich nicht ganz verstanden,« fuhr er fort. »Wenn ich von altem Geschlecht spreche, so meine ich damit nicht hohes Alter der Personen, sondern daß der Name einer solchen Familie lange bekannt ist. Vielleicht Hunderte von Jahren sind Männer, die diesen Namen trugen, in der Geschichte ihres Landes genannt und gefeiert worden.«

»Wie George Washington,« ergänzte Ceddie. »Von dem habe ich gehört, seit ich auf der Welt bin, und lange vorher wußte man schon von ihm, und Mr. Hobbs sagt, er wird gar nie vergessen werden.«

»Der erste Graf Dorincourt,« erklärte Mr. Havisham mit einer gewissen Feierlichkeit, »empfing den Titel eines Grafen vor vierhundert Jahren.«

»Ach, das ist lange her! Himmel, was für eine lange Zeit. Haben Sie das Herzlieb auch erzählt? Das wird sie ›’tressieren‹. Wenn sie hereinkommt, müssen wir ihr das gleich sagen; sie hört so gern Kuriositäten. Aber was thut denn ein Graf noch außerdem, daß er den Titel bekommt?«

»Viele haben England regieren helfen, andre sind tapfre Krieger gewesen, die in großen Schlachten gefochten haben.«

»Das möchte ich auch,« rief Cedrik begeistert. »Mein Papa war ein Soldat und sehr tapfer – so tapfer wie George Washington. Vielleicht wäre er auch deshalb ein Graf geworden, wenn er nicht gestorben wäre. Ich bin so froh, daß Grafen tapfer sind. Früher, da habe ich mich manchmal gefürchtet, im Dunkeln, wissen Sie, aber da war ich auch noch sehr klein, und wenn ich dann an die Soldaten in der Rev’lution und an George Washington gedacht habe, da habe ich mich geschämt.«

»Ein Graf zu sein, hat hier und da noch andre Vorzüge,« sagte Mr. Havisham bedächtig und faßte den kleinen Lord mit einem eigentümlichen Ausdruck ins Auge. »Es gibt Grafen, die sehr viel Geld haben.«

Er war gespannt, ob der kleine Mann da vor ihm schon einen Begriff von der Macht des Geldes habe.

»Viel Geld haben ist sehr nett,« sagte Ceddie harmlos. »Ich wollte, ich hätte viel Geld.«

»Wirklich? Und wozu denn?«

»Ach, wenn man Geld hat, kann man eine Menge Dinge thun. Da ist gleich die Apfelfrau, zum Beispiel; wenn ich reich wäre, würde ich ihr ein Zelt kaufen über ihrem Stand und einen kleinen Ofen, und wenn’s regnet, würde ich ihr einen Dollar geben, dann könnte sie zu Hause bleiben. Und dann – oh, einen Shawl würde ich ihr auch geben, und dann thäten ihr die Knochen lange nicht mehr so weh. Sie hat ja nicht Knochen wie wir, ihr thun alle weh, wenn sie sich nur rührt, das ist sehr schlimm, wissen Sie. Wenn ich aber so reich wäre, daß ich ihr all das kaufen könnte, dann, glaube ich, würden ihre Knochen ganz gesund!«

»Aha!« bemerkte Mr. Havisham. »Und was würdest du denn sonst noch thun, wenn du reich wärest?«

»O noch so vieles, vieles! Natürlich würde ich Herzlieb schöne Sachen kaufen, Nadelbücher und Fächer und goldne Fingerhüte und Ringe und Konv’ationslexikon und eine Kutsche, damit sie nicht im Om’ibus fahren muß. Wenn sie ein rosa Seidenkleid haben möchte, würd ich ihr auch eins kaufen, aber sie will immer nur schwarze Kleider haben, aber ich würde sie doch in alle die großen schönen Läden führen und sie müßte sich etwas auswählen. Und dann Dick.«

»Wer ist denn Dick?« fragte Mr. Havisham.

»Dick ist Schuhputzer,« erläuterte Seine kleine Herrlichkeit, sich mehr und mehr für seine eignen Plane erwärmend. »Er ist ein so netter Schuhputzer, Sie können sich gar nicht denken, wie nett! Er steht an einer Straßenecke drunten, wo’s in die Stadt geht, und ich kenne ihn schon lange, lange. Einmal, als ich noch ein ganz kleiner Junge war, bin ich mit Herzlieb ausgegangen, und sie hat mir einen wunderschönen Ball gekauft, der sehr hoch sprang, und plötzlich sprang er mitten hinein in die Straße unter Wagen und Pferde und ich war so erschrocken, daß ich zu weinen anfing – ich war damals noch sehr klein,« setzte er entschuldigend hinzu – »und Dick putzte eben einem Herrn die Schuhe und da rief er ›hallo‹! und rannte mitten hinein unter die Pferde und holte meinen Ball und wischte ihn an seinem Rock ab und gab ihn mir und sagte: ›Sei nur ruhig, Kleiner.‹ Herzlieb fand das sehr schön von ihm und ich auch, und seitdem sprechen wir immer mit ihm, wenn wir in die Stadt gehen. Er sagt ›hallo!‹ und ich sage ›hallo!‹ und dann plaudern wir eine Weile und er erzählt uns, wie sein Geschäft geht, schlecht genug ist’s gegangen in letzter Zeit.«

»Und was möchtest du denn für diesen Dick thun?« forschte der Advokat und rieb sein Kinn mit einem sonderbaren Lächeln.

»O,« sagte Lord Fauntleroy, sich mit einer sehr wichtigen Geschäftsmiene in seinem Stuhle zurechtrückend, »ich würde Jack ausbezahlen.«

»Und wer ist denn Jack?« fragte Mr. Havisham.

»Er ist Dicks Kompagnon, und einen schlimmeren kann man nicht auf dem Halse haben, sagt Dick. Der Bursche verdirbt das Geschäft, denn er bemogelt, und dann, sagt Dick, komme er außer Rand und Band. Sie würden gewiß auch wütend werden, wenn Sie den ganzen Tag Schuhe putzen würden, so fleißig und so gut als möglich und immer ehrlich dabei wären und Ihr Partner würde bemogeln – pfui! Alle Leute mögen Dick leiden, aber kein Mensch mag Jack leiden, und deshalb bleiben manche Kunden weg. Wenn ich reich wäre, würde ich Jack ausbezahlen und Dick ein Meisterzeichen kaufen. Er sagt, mit einem Meisterzeichen kann man’s weit bringen, und dann würde ich ihm auch neue Kleider kaufen und neue Bürsten und würde ihm unter die Arme greifen. Er sagt, wenn man einem Menschen nur anfangs unter die Arme greift, dann geht alles wie geschmiert.«

Seine kleine Herrlichkeit trug diese Geschichte mit einer rührenden Unbefangenheit und Zutraulichkeit vor, wiederholte die Redensarten seines Freundes mit harmlosem Selbstgefühl und setzte unbedingt bei seinem Zuhörer den wärmsten Anteil an den Verhältnissen des jungen Schuhputzers voraus. Und in der That wuchs Mr. Havishams Interesse bei jedem Worte, was freilich vielleicht weniger Dick oder der alten Apfelfrau als dem warmherzigen kleinen Lord galt, in dessen Köpfchen unter dem goldnen Lockenbusch so viel Pläne fürs Wohl seiner Freunde steckten, der dabei nur einen zu vergessen schien, und zwar sich selbst.

»Und was würdest du denn dir kaufen, wenn du reich wärest?«

»Ach, eine ganze Masse Sachen!« versetzte Ceddie frischweg. »Aber erst würde ich der Mary Geld geben für ihre Bridget, das ist ihre Schwester, die zwölf Kinder hat und einen Mann, der nichts verdient. Sie kommt oft zu uns und weint, und Herzlieb gibt ihr dann viele Sachen in ihren Korb und dann weint sie wieder und sagt: ›Gott vergelt’s Madame; ach, so eine gute Dame.‹ Mr. Hobbs, glaube ich, der würde sich sehr freuen, wenn ich ihm zum Andenken an mich eine goldne Uhr geben könnte und eine Kette daran und eine Meerschaumpfeife. Und dann möchte ich eine Compagnie haben.«

»Eine Compagnie?« rief Mr. Havisham.

»Jawohl, eine ganz richtige Compagnie,« erklärte Ceddie, der ganz aufgeregt wurde, »Fackeln und Uniformen und Gewehre und so Sachen möchte ich haben für all die Jungens und auch für mich – dann würden wir marschieren und ex’zieren! Das macht‘ ich für mich, wenn ich reich wäre!«

Die Thür ging auf und Mrs. Errol kam wieder herein.

»Ich bedaure, so lange aufgehalten worden zu sein,« entschuldigte sie sich gegen Mr. Havisham, »eine arme Frau, die in großer Not ist, wollte mich sprechen.«

»Mein junger Freund hier hat mir indessen viel erzählt von seinen Bekannten und von dem, was er für sie thun möchte, wenn er reich wäre.«

»Bridget gehört auch in seinen Freundeskreis,« versetzte Mrs. Errol, »sie ist eben bei mir gewesen, in der Küche. Die armen Leute sind übel daran; ihr Mann hat ein rheumatisches Fieber.«

Cedrik kletterte aus seinem Lehnstuhle hervor.

»Ich glaube, ich muß auch nach ihr sehen,« sagte er, »und nach ihrem Manne fragen. Er ist sehr nett, der Mann, wenn er gesund ist, und hat mir einmal ein hölzernes Schwert gemacht; er ist sehr talentvoll.«

Damit lief er zum Zimmer hinaus und Mr. Havisham erhob sich. Er schien geneigt, eine Mitteilung zu machen, zögerte aber noch einen Augenblick, ehe er sich an Mrs. Errol wandte.

»Vor meiner Abreise von Schloß Dorincourt hatte ich eine Unterredung mit Mylord, in deren Verlauf er mir verschiedene Verhaltungsmaßregeln gab. Sein Wunsch ist, daß sein Enkel dem künftigen Leben in England und auch der Begegnung mit ihm selbst mit Vergnügen und freudigen Erwartungen entgegensehen solle. Er hat mir ausdrücklich gesagt, daß ich Seine Herrlichkeit von der Umwandlung seiner Verhältnisse in Kenntnis setzen solle und ihm mitteilen, daß ihm Geld und jegliches Vergnügen, das seinem Alter angemessen, zur Verfügung stehe; er hat mir außerdem den Auftrag erteilt, jeden Wunsch des Knaben zu erfüllen und ihm dabei zu sagen, daß es sein Großvater sei, der ihm diese Freuden bereite. Nun bin ich mir allerdings wohl bewußt, daß der Graf hierbei ganz andre Dinge im Sinne hatte; wenn jedoch Lord Fauntleroy Freude daran findet, der armen Frau zu helfen, so würde es nicht in der Absicht meines Auftraggebers liegen, ihm dies Vergnügen zu versagen.«

Es war das zweite Mal, daß Mr. Havisham die Wünsche des Grafen in einer Umschreibung wiedergab. Seine Herrlichkeit hatte gesagt: »Der Junge soll wissen, daß ich ihm geben kann, was sein Herz begehrt; er soll merken, was es heißt, der Enkel des Grafen Dorincourt sein. Kaufen Sie ihm, was ihm einfällt, stecken Sie ihm die Taschen voll Geld und sagen Sie ihm, daß es von seinem Großvater komme.«

Die Motive dieser Großmut waren nichts weniger als rein, und wenn es sich um ein minder liebevolles, warmherziges Kind gehandelt hätte, würde das Experiment vielleicht schlimm ausgefallen sein. Cedriks Mutter ahnte keinerlei Gefahr; sie dachte einfach, daß ein einsamer, unglücklicher alter Mann, der seinen Kindern hatte ins Grab blicken müssen, ihrem Jungen Liebe erweisen und seine Neigungen gewinnen wollte. Dabei freute sie sich, daß Cedrik der armen Frau sollte helfen können, und es ward ihr leichter ums Herz bei dem Gedanken, daß die erste Wirkung dieser seltsamen Wandlung ihres Geschickes die sein sollte, daß ihr Kind andern helfen und beistehen konnte, und ein warmes Rot stieg in ihr hübsches, schmales Gesicht.

»O,« sagte sie, »das war sehr gütig von dem Grafen, und wie wird Cedrik sich freuen! Er hing immer sehr an dieser Bridget und ihrem Manne; die Leute sind einer Unterstützung würdig, und es hat mir oft weh gethan, daß ich nicht mehr geben konnte. Der Mann ist ein tüchtiger Arbeiter, aber nun war er lange krank und hat kostspielige Arzneien und allerhand Stärkung nötig gehabt.«

Mr. Havisham zog seine Brieftasche hervor und öffnete sie langsam mit einem eigentümlichen Lächeln. Er überlegte sich im stillen, was der Graf wohl über diesen ersten, seinem Enkel gewährten Wunsch denken werde, und war nicht sehr im klaren, wie der mürrische, egoistische Herr diese Deutung seines Auftrages auffassen werde.

»Ich weiß nicht, gnädige Frau,« fuhr er fort, »ob Ihnen genau bekannt ist, daß der Graf Dorincourt ein ungemein reicher Mann ist und vollkommen in der Lage, jede Laune zu befriedigen. Er wäre ohne Zweifel ganz damit einverstanden, daß Lord Fauntleroys Einfälle ausgeführt werden. Darf ich Sie bitten, ihn hereinzurufen, ich werde ihm fünf Pfund für die Leute geben.«

»Fünfundzwanzig Dollar!« rief Mrs. Errol. »Das ist ja ein Vermögen für die Frau, das kann ich kaum glauben!«

»Glauben Sie es immerhin und gewöhnen Sie sich an den Gedanken, daß im Leben Ihres Knaben ein Wendepunkt eingetreten ist, und daß von jetzt ab viel Macht in seine Hände gegeben sein wird.«

»Ach, und er ist noch so jung – noch solch ein ganzes Kind! Wie soll ich ihn lehren, sie segensreich zu gebrauchen? Ich erschrecke fast davor – mein kleiner, guter Herzensjunge.«

Der Advokat hatte abermals das Bedürfnis, sich zu räuspern, es war merkwürdig, wie der ängstliche, schüchterne Blick dieser braunen Augen sein verknöchertes Herz rührte.

»Wenn ich aus der Unterredung, die ich heute früh mit Lord Fauntleroy gehabt, schließen darf, gnädige Frau, so möchte ich vorhersagen, daß der künftige Herr von Dorincourt mindestens ebensoviel an andre als an seine Person denken wird. Er ist freilich nur ein Kind, aber meiner Ansicht nach, in dem Punkte zuverlässig.«

Die Mutter ging, Cedrik zu holen, und brachte ihn ins Wohnzimmer. Vor der Thüre hörte Mr. Havisham ihn laut reden.

»Entzündlichen Rheu’tismus hat er,« sagte er, »und das ist eine besonders schreckliche Art von Rheu’tismus, Und er denkt immer an die Hausmiete, die nicht bezahlt ist, und Bridget sagt, das mache die Entzündlichkeit viel schlimmer. Pat könnte eine Stelle kriegen in einem Laden, aber er hat keine anständigen Kleider.«

Das kleine Gesicht war noch ganz bekümmert, als er hereinkam; offenbar thaten ihm seine Schützlinge sehr leid.

»Herzlieb sagt, Sie wollen etwas von mir,« wandte er sich an Mr. Havisham. »Ich habe nur mit Bridget gesprochen.«

Mr. Havisham sah ihn freundlich an, fühlte sich aber einigermaßen verlegen und ungeschickt; wie die Mutter gesagt hatte, war er doch noch ein sehr kleiner Junge.

»Der Graf Dorincourt,« begann er und warf dann unwillkürlich einen hilfesuchenden Blick auf Mrs. Errol.

Plötzlich kniete die Mutter an der Seite des kleinen Lord und schlang zärtlich die Arme um seine schlanke kleine Gestalt.

»Herzenskind, der Graf, siehst du, ist dein Großvater – deines Papas Vater, und er ist sehr, sehr gütig und hat dich lieb und möchte, daß du ihn auch lieb hättest, jetzt, wo alle drei Söhne tot sind, die einst seine kleinen Jungen waren. Er möchte dich glücklich wissen und möchte, daß du andre glücklich machst, und er ist sehr reich und will, daß du alles haben sollst, was du dir wünschest. Das hat er Mr. Havisham gesagt und hat ihm viel, viel Geld für dich gegeben. Wenn du nun willst, so darfst du Bridget so viel geben, daß sie ihre Miete bezahlen und ihrem Manne alles kaufen kann, was er braucht – ist das nicht herrlich, Ceddie? Ist der Großpapa nicht gut?« Und sie küßte das Kind auf seine runden Wangen, deren Farbe vor lauter Freude und Aufregung immerfort wechselte.

»Kann ich das Geld jetzt gleich haben?« rief er. »Darf ich’s ihr jetzt geben? Sie will eben gehen.«

Mr. Havisham händigte ihm die Summe ein, und er stürmte aus dem Zimmer.

»Bridget,« hörte man ihn jubelnd rufen. »Bridget, so warte doch. Hier ist Geld, das gehört dir, jetzt kannst du deine Miete zahlen. Mein Großpapa hat es mir gegeben für dich und Michael!«

»O Master Ceddie,« stotterte Bridget ganz überwältigt. »Das sind ja fünfundzwanzig Dollar. Wo ist die Mrs. Errol?«

»Ich werde wohl selbst gehen müssen und ihr die Sache klar machen,« sagte Mrs. Errol.

Mr. Havisham blieb allein, und seine Gedanken flogen zurück zu dem heftigen, egoistischen Greise, der sein lebenlang nicht Zeit gefunden hatte, an etwas andres zu denken als an sich und sein Vergnügen, und der nun als alter Mann keine Menschenseele um sich hatte, die ihm zugethan war. Und daneben stellte sich ihm in scharfem Gegensatze das Bild des hübschen, frischen Jungen dar, wie er in seinem Stuhle gesessen und von Dick und seinen andern Freunden erzählt hatte, und er bedachte, welch unermeßliche Reichtümer, welch herrliche Besitzungen, welche bedeutende Macht zum Bösen oder Guten eines Tages in den kleinen runden Händchen liegen werde, die der kleine Lord so tief in seine Taschen zu versenken liebte.

»Es wird vieles anders werden,« sagte er sich, »ganz anders werden die Dinge sich gestalten.«

Bald darauf trat Cedrik mit seiner Mutter wieder ein, der Junge in großer Erregung. Er setzte sich auf seinen eignen kleinen Stuhl zwischen die Mutter und den Advokaten und nahm eine seiner wunderlichen Stellungen an, die Hände um die Kniee gefaltet.

»Geweint hat sie,« sagte er ganz strahlend. »Vor Freude geweint – das hab‘ ich noch nie gesehen! Mein Großpapa muß sehr gut sein, hab’s gar nicht gewußt, daß er so gut ist. Es ist doch angenehmer, als ich mir’s dachte, ein Graf zu sein. Beinahe bin ich froh – beinahe bin ich sehr froh, daß ich einer werden soll.«

Elftes Kapitel

Wenige Tage nach dem großen Diner auf Schloß Dorincourt war jedem Zeitungsleser in England die romanhafte Geschichte, welche sich in der Familie des Grafen zutrug, in allen Einzelheiten bekannt. Es war ein höchst brauchbarer Stoff für die Presse. Der kleine Amerikaner, der urplötzlich nach England gebracht worden war, um keinen geringeren Namen als den eines Lord Fauntleroy zu tragen, und der durch seine Schönheit alle Herren gewann, der alte bärbeißige Graf, der so stolz war auf diesen Erben, die schöne Mutter, der nie vergeben worden, daß Kapitän Errol sie geliebt und zu seiner Frau gemacht hatte einerseits, und dann die seltsame Heirat des verstorbenen Lord Fauntleroy und die seltsame Frau, von der niemand etwas wußte und die plötzlich auf dem Schauplatz erschienen war, um die Rechte eines Lord Fauntleroy für ihren Sohn in Anspruch zu nehmen andrerseits, daraus ließen sich die packendsten Feuilletons und sogar Leitartikel mit Leichtigkeit gestalten. Dann tauchte das Gerücht auf, daß der Graf von Dorincourt mit dieser Wendung der Dinge keineswegs einverstanden und fest entschlossen sei, die Ansprüche jener Frau mit Hilfe des Gesetzes zu vernichten, so daß ein großer Sensationsprozeß zu erwarten stehe.

In der Grafschaft selbst hatte man noch nie eine derartige Aufregung erlebt. An Markttagen standen die Leute stundenlang bei einander und berechneten alle Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten des unerhörten Falls; die Pächtersfrauen luden einander auffällig häufig zum Thee ein und tauschten aus, was jede gehört hatte, und teilten einander ihre eignen Ansichten und die von andern Leuten mit. Ueber den Zorn des Grafen waren haarsträubende Geschichten im Umlaufe, und daß er um keinen Preis den neuen Erben anerkennen werde, wußte jedermann, so gut wie, daß er die Mutter desselben tödlich haßte. Am genauesten unterrichtet war natürlich wieder einmal Mrs. Dibble, und die Frequenz ihres Geschäfts steigerte sich in diesen erregten Tagen abermals bedeutend.

»Schief wird’s gehen,« meinte sie, »und wenn Sie mich fragen, so sag‘ ich, ’s ist die Strafe dafür, daß er die herzgute junge Kreatur so schlecht behandelt hat und ihr das Kind genommen – in den ist er jetzt ganz vernarrt und hat sein hoffärtiges Herz an ihn gehängt, und deshalb bringt ihn die Geschichte schier um. Und was ihm auch hart eingeht, aber ganz recht geschieht, die Neue da, sie ist keine feine Dame, wie des kleinen Lords Mama. Ein freches, schwarzäugiges Ding ist’s, und Mr. Thomas sagt, was ein feiner Diener ist, wird sich von so einer nie nichts sagen lassen, und an dem Tage, wo die Madame ins Haus kommt, packt er seine Siebensachen. Ach du lieber Gott, und der Jung – so verschieden vom kleinen Lord, wie Tag und Nacht. Was aus der Sache noch kommen wird, das weiß kein Mensch: Gott steh‘ uns bei – keinen Blutstropfen hätt‘ ich von mir gegeben, wenn Sie mich mit Nadeln gestochen hätten, so kreideweiß bin ich vor Schreck gewesen, wie die Jane mir’s erzählt hat.«

Auch im Schloß selbst trat keine Ruhe ein. In der Bibliothek saßen der Graf und Mr. Havisham in endlosen, aufgeregten Beratungen bei einander; im Dienerschaftssaal waren Mr. Thomas und der Haushofmeister zu allen Tageszeiten in ernstem Gespräche zu treffen, dem die andern andächtig lauschten, und im Stalle waltete Wilkins in sehr gedrückter Stimmung seines Amtes, bürstete den braunen Pony noch viel sorgfältiger als je und versicherte dem Kutscher immer wieder, daß er nie einen jungen Herrn reiten gelehrt habe, dem die edle Kunst so »natürlich« gewesen sei, und daß dies ausnahmsweise einer sei, bei dem sich’s lohne, hinterdrein zu reiten.

Inmitten all der Bekümmernis und Not blieb nur ein Herz ruhig und unberührt von Sorge, und das war das kleine Herz Lord Fauntleroys, der nun bald kein Lord mehr sein sollte. Als man ihm die Lage der Dinge erstmals auseinandergesetzt hatte, war er sehr bestürzt und bekümmert gewesen, es zeigte sich jedoch bald, daß diesem Gefühle kein gekränkter Ehrgeiz zu Grunde lag.

Auf einem Stuhle sitzend, die Händchen um die Kniee geschlungen, wie es seine Gewohnheit war, hörte er dem Grafen zu, als dieser ihm von dem unliebsamen Ereignis mitteilte, soviel er für nötig hielt, wobei Cedrik allmählich immer ernsthafter dreinschaute.

»Mir – mir ist ganz wunderlich zu Mut,« sagte er, als der Graf zu Ende war.

Schweigend blickte der alte Mann auf das Kind. Ihm war auch wunderlich zu Mut, so wunderlich, wie nie zuvor im Leben, um so mehr, als er nun das sonst so sonnige, glückliche Kindergesicht ängstlich und erschrocken vor sich sah.

»Werden sie Herzlieb ihr Haus nehmen und – und ihren Wagen?« fragte Cedrik mit etwas unsichrem Stimmchen.

»Nein!« rief der Graf sehr bestimmt und merkwürdig laut. »Ihr können sie nichts nehmen.«

»Ach!« sagte Cedrik sichtlich erleichtert. »Das können sie nicht?«

Dann sah er den Großvater fest an, und es lag ein tiefer Schatten in den braunen Augen.

»Wird dann,« begann er stockend, »wird dann der andre – wird der dann dein Junge sein, so wie ich?«

»Nein!« ertönte es mit so mächtiger Stimme, daß Cedrik zusammenschreckte.

»Nein?« wiederholte er fragend. »Ich – ich hab‘ gedacht, daß –«

Plötzlich stand er auf.

»Kann ich dein Junge bleiben, auch wenn ich kein Graf werde? Willst du’s, daß ich dein Junge bleibe?« Jeder Zug des kleinen Gesichts drückte die höchste Spannung aus.

Wie der alte Graf ihn ansah, von Kopf bis zu Fuß! Wie sich die buschigen Augenbrauen zusammenzogen und wie die feurigen Augen so wunderlich drunter hervorleuchteten!

»Mein Junge!« sprach er, und seine Stimme klang seltsam gebrochen, rauh und heiser, und trotzdem er noch bestimmter und gebieterischer sprach als vorher, wollte sie nicht so ganz fest bleiben – »Ja, mein Junge bleibst du, solange ich lebe, und, bei Gott, mir ist’s oft, als wärst du der einzige Junge, den ich je gehabt habe.«

Bis unter die Haarwurzeln war Cedrik von Glut übergössen – nichts als Freude und Herzenserleichterung. Mit sehr entschlossener Miene vergrub er die Händchen in den Tiefen seiner Taschen und sah seinem Großvater ehrlich ins Gesicht.

»Nun, dann, weißt du,« erklärte er, »dann mache ich mir gar nichts daraus, daß ich kein Graf werde – darauf kommt mir’s gewiß nicht an. Ich habe nur gedacht – siehst du – ich habe gedacht, daß der, welcher Graf wird, auch dein Junge sein müsse und ich’s also nicht mehr sein könne. Deshalb ist mir so – so wunderlich zu Mut gewesen.«

Der Graf legte die Hand auf seine Schulter und zog ihn zu sich heran.

»Nichts, gar nichts sollen sie dir nehmen von dem, was ich für dich behaupten kann,« sagte er, mühsam atmend. »Und ich will es nicht glauben, daß sie dir überhaupt etwas nehmen können. Du bist für die Stellung geschaffen – und du sollst sie ausfüllen trotz alledem. Wie es aber auch kommen mag – das, worüber ich frei verfügen kann, sollst du haben – alles!«

Es war nicht mehr, als ob er zu dem Knaben spräche, es war, als ob er sich selbst gegenüber ein Gelübde ablege.

Wie tief seine Liebe zu dem Enkel und sein Stolz auf ihn bereits Wurzeln geschlagen hatten, davon hatte er vorher eigentlich doch selbst keine Ahnung gehabt, und nie waren ihm die Schönheit und die Frische des Kindes und all‘ seine glücklichen Gaben so leuchtend vor Augen getreten. Dieser eigenwilligen Natur erschien es als ein Ding der Unmöglichkeit, aufgeben zu sollen, woran er sein Herz gehängt hatte, und er war entschlossen, es sich wenigstens nicht leichten Kaufes entreißen zu lassen.

Wenige Tage, nachdem sie Mr. Havisham aufgesucht hatte, fand sich die Frau, welche die Rechte einer Lady Fauntleroy für sich in Anspruch nahm, im Schlosse ein und zwar in Begleitung ihres Kindes. Sie wurde nicht angenommen. Mylord habe die Sache vollständig seinem Anwalt übertragen und wünsche nicht, in persönlichen Verkehr mit ihr zu treten, lautete der Bescheid, den Mr. Thomas mit Hoheit und Würde erteilte. Den Eindruck, den die Unbekannte auf ihn gemacht, gab er im Dienerschaftssaal rückhaltlos zum besten. Er hoffe, lange genug Livree in vornehmen Häusern getragen zu haben, sagte er, um zu wissen, was eine Dame sei und was nicht, und wenn dies eine Dame sei, so könne er Katze und Maus nicht unterscheiden.

»Die draußen in Court Lodge,« setzte er selbstbewußt hinzu, »Amerikanerin hin oder her, die ist eine vom rechten Schlag – das sieht jeder Gebildete auf den ersten Blick. Ich hab’s zu Henry gesagt, als wir den ersten Besuch dort machten.«

Die Frau war fortgefahren – das hübsche, gewöhnliche Gesicht halb zornig, halb furchtsam. Im Verlaufe der verschiedenen Unterredungen, die er mit ihr haben mußte, war Mr. Havisham zu der Ansicht gelangt, daß sie, wohl leidenschaftlich und frech, jedoch lange nicht so klug und ausdauernd und mutig war, als sie glaubte. Es gab Augenblicke, in denen die Lage, in die sie sich gebracht hatte, ihr über den Kopf zu wachsen schien, und offenbar hatte sie sich keine Vorstellung davon gemacht, auf welch ernsten Widerstand ihre Ansprüche stoßen würden.

»Sie ist entschieden aus den niedersten Regionen des Lebens,« bemerkte der Anwalt gegen Mrs. Errol. »Ohne alle Erziehung weder durch die Schule noch durch das Leben, ist sie durchaus nicht gewöhnt, mit Leuten wie wir auf gleichem Fuße zu verkehren, und weiß sich dabei in keiner Weise zu benehmen. Der vergebliche Besuch im Schlosse hat sie vollkommen eingeschüchtert – an Toben und Wüten darüber hat sie es natürlich nicht fehlen lassen, aber eingeschüchtert war sie doch. Der Graf wollte sie nicht empfangen, hat mich aber dann auf meinen Wunsch in die »Dorincourt Arms« – Sie kennen ja den kleinen Gasthof – begleitet, wo sie wohnt. Als sie ihn eintreten sah, wurde sie leichenblaß, einen Augenblick später war sie freilich wieder im besten Zug, in einem Atem zu drohen und zu fordern.«

Allerdings war der Graf damals in seiner allerabweisendsten, vornehmsten Haltung, wie ein alter Riese aus Königsgeschlecht bei ihr eingetreten und hatte unter den weißen Augenbrauen hervor die Person fixiert, ohne sie eines Wortes zu würdigen, wie man sich etwa eine seltsame, aber widerliche Naturerscheinung besieht. Ohne eine Silbe zu äußern, hatte er sie all‘ ihre Redensarten hervorsprudeln lassen und dann erwidert: »Sie behaupten, die Frau meines ältesten Sohnes zu sein. Wenn Sie dafür vollgültige Beweise vorlegen können, so haben Sie das Recht auf Ihrer Seite. In dem Falle ist Ihr Knabe Lord Fauntleroy. Daß die Sache gründlich geprüft werden wird, dessen dürfen Sie sich versichert halten, und wenn Ihre Ansprüche als berechtigt anerkannt werden müssen, so soll für Sie gesorgt werden. Sehen will ich weder Sie noch den Knaben, solange ich lebe – nach meinem Tode wird das Besitztum unglücklicherweise ihm anheimfallen.«

Damit drehte er ihr den Rücken und schritt stolz und gelassen hinaus, wie er hereingetreten war.

Wenige Tage darauf wurde Mrs. Errol, die in ihrem kleinen Boudoir mit Schreiben beschäftigt war, ein Besuch gemeldet. Das Mädchen, welches die Anmeldung zu bestellen hatte, schien sehr aufgeregt zu sein, und die vor Verwunderung ganz runden Augen des jungen Dinges sahen mit ängstlicher Teilnahme auf ihre Herrin.

»Der Graf selbst ist’s, gnädige Frau,« sagte sie zum Tode erschrocken.

Als Mrs. Errol ihr Wohnzimmer betrat, stand ein ungewöhnlich großer, imposanter alter Mann vor dem Kamine auf dem Tigerfell. Das scharfe, kühne Profil, der lange weiße Schnurrbart und ein Ausdruck von Eigenwillen fielen ihr zuerst in die Augen.

»Mrs. Errol, soviel ich weiß?« sagte er.

»Mrs. Errol,« bestätigte sie.

»Ich bin Graf Dorincourt.«

Er hielt einen Augenblick inne – unwillkürlich mußte er ihr in die Augen sehen. Diese Augen glichen so ganz und gar denen, die er täglich mit ihrem kindlich liebeerfüllten Blick auf sich gerichtet sah, daß es eine merkwürdige Empfindung in ihm hervorrief.

»Der Junge sieht Ihnen sehr ähnlich,« sagte er plötzlich.

»Das hat man mir häufig gesagt, Mylord,« erwiderte sie, »aber es macht mir größere Freude, wenn man ihn seinem Vater ähnlich findet.«

Lady Lorridaile hatte recht gehabt, ihre Stimme klang wirklich besonders süß und lieblich, und ihr Benehmen war höchst natürlich und würdig, auch schien sein unerwartetes Erscheinen sie keineswegs aus der Fassung zu bringen.

»Jawohl,« versetzte der Graf, »er sieht auch – meinem Sohne ähnlich.« Er zerrte heftig an den Enden des weißen Bartes. »Wissen Sie, weshalb ich hierher gekommen bin?«

»Mr. Havisham ist bei mir gewesen und hat mir gesagt, daß Ansprüche geltend gemacht werden –«

»Und ich komme, Ihnen zu sagen, daß diese Ansprüche genau untersucht und bestritten werden sollen, falls sich dazu irgend eine Möglichkeit bietet. Ich bin gekommen, Ihnen zu sagen, daß der Junge mit allen Hilfsmitteln des Gesetzes verteidigt werden soll. Seine Rechte –«

»Er soll nichts besitzen, was nicht wirklich und wahrhaftig sein Recht ist,« unterbrach ihn die sanfte Stimme, »selbst wenn irgend ein Gesetz ihm dazu verhelfen könnte.«

»Das kann das Gesetz leider nicht,« sagte der Graf, »sonst würde es geschehen. Dieses erbärmliche Geschöpf und ihr Kind –«

»Vielleicht hat sie ihren Knaben ebenso lieb, wie ich meinen Ceddie, Mylord,« sagte die kleine Mrs. Errol, »und wenn sie die Frau Ihres ältesten Sohnes gewesen ist, so ist jener Lord Fauntleroy, und mein Kind nicht.«

Sie hatte so wenig Angst vor ihm wie Cedrik, sie sah ihn gerade so unerschrocken an, wie jener, und das that dem Manne wohl, der sein lebenlang ein Tyrann gewesen war. Es war ihm so selten begegnet, daß jemand gewagt hatte, ihm gegenüber andrer Meinung zu sein, daß es den Reiz der Neuheit für ihn hatte.

»Ihnen wäre es wohl bedeutend lieber, wenn er nicht Graf Dorincourt zu werden hätte?« fragte er etwas gereizt.

Ein leichtes Rot flog über das liebliche Gesicht.

»Graf Dorincourt zu sein, ist ein hohes, glänzendes Los, Mylord, das weiß ich wohl, allein am meisten liegt mir daran, daß er werden soll, wie sein Vater war – gut und gerecht und allezeit wahr und treu.«

»In schneidendem Gegensatz zu dem, was sein Großvater war.«

»Ich habe bis jetzt nicht das Glück gehabt, seinen Großvater zu kennen,« erwiderte Mrs. Errol, »aber ich weiß, daß mein Kind glaubt –« sie hielt inne, sah den Grafen ruhig an und setzte dann hinzu: »Ich weiß, daß Cedrik Sie lieb hat!«

»Würde er das wohl auch gethan haben,« bemerkte der Graf trocken, »wenn Sie ihm gesagt hätten, weshalb ich Sie nicht im Schlosse empfange?«

»Nein,« erwiderte Mrs. Errol bestimmt, »ich glaube kaum, deshalb wollte ich ja nicht, daß er es erfahren sollte.«

»Nun,« sagte der Graf rauh, »viele Frauen gibt es nicht, die in dem Falle geschwiegen hätten.«

Er begann auf einmal, hastig im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei der Bart grausamer als je mißhandelt wurde.

»Ja, er hat mich lieb,« sagte er, »und ich habe ihn lieb. Ich kann nicht sagen, daß mir das oft mit Menschen passiert ist. Ich hab‘ ihn lieb. Im ersten Augenblick hat er mir gefallen. Ich bin alt und war des Lebens überdrüssig – seit ich ihn habe, weiß ich, wofür ich lebe. Ich bin stolz auf ihn; es hat mir wohl gethan, zu denken, daß er einst das Haupt unsres Hauses sein werde.«

Er blieb vor Mrs. Errol stehen.

»Ich bin unglücklich und elend – – elend!«

Man sah es ihm an. Nicht einmal sein Stolz war im stande, Stimme und Hände vor dem Zittern zu bewahren, und einen Augenblick war es, als ob Thränen in den tiefliegenden Augen ständen. »Vielleicht bin ich deshalb zu Ihnen gekommen, weil ich so elend bin,« fuhr er fort, sie förmlich mit den Augen verschlingend. »Ich habe Sie gehaßt; ich bin eifersüchtig gewesen auf Sie. Diese niederträchtige, jammervolle Geschichte hat alles anders gemacht. Nachdem ich die ekelerregende Person, die sich die Frau meines Bevis nennt, gesehen hatte, war mir’s, als müßte es eine Wohlthat für mich sein, Sie zu sehen. Ich bin ein eigensinniger alter Narr gewesen, und ich glaube wohl, daß ich Ihnen übel mitgespielt habe. Sie sind wie der Junge – und der Junge ist das einzige, was ich auf der Welt habe. Ich bin elend, und nur weil Sie ebenso sind wie der Junge, und weil er Sie lieb hat, und ich ihn lieb habe, bin ich zu Ihnen gekommen. Um des Jungen willen, seien Sie nicht hart gegen mich!«

Er sagte das alles in seinem rauhen, herben Tone, schien aber so ganz und gar gebrochen und tief gedrückt, daß Mrs. Errols Herz von Sympathie und Mitleid überströmte. Sie rückte einen Lehnstuhl heran.

»Wenn Sie sich nur setzen wollten,« sagte sie in ihrer einfachen, herzgewinnenden Weise. »Der Kummer hat Sie müde gemacht und Sie brauchen jetzt all Ihre Kraft.«

Daß man so einfach und liebevoll mit ihm sprach und für ihn sorgte, war ihm ebenso neu, wie der erfahrene Widerspruch, auch dies erinnerte ihn an »seinen Jungen«, und er that, wie ihm geheißen. Vielleicht war diese Verzweiflung und diese bittere, abermalige Enttäuschung recht heilsam für ihn. Wenn dies Elend nicht über ihn hereingebrochen wäre, hätte er die kleine Frau noch immer mit Haß und Abneigung betrachtet, während er jetzt in ihrer Nähe Trost fand. Freilich war es nicht allzu schwierig, ihm zu gefallen, nachdem er »die andre« gesehen, aber dies Gesichtchen und diese Stimme waren doch besonders wohlthuend und in ihren Bewegungen und ihrer Sprache lag ein sanfter eigenartiger Reiz, unter dessen unwiderstehlichem Zauber er sich bald weniger gedrückt fühlte und mitteilsam wurde.

»Was auch daraus werden mag,« sagte er, »für den Jungen soll gesorgt sein, jetzt und für die Zukunft.«

Als er sich zum Gehen anschickte, sah er sich im Zimmer um.

»Gefällt Ihnen das Haus?« fragte er.

»O gewiß, außerordentlich,« lautete die aufrichtige Antwort. »Ein gemütliches, heiteres Zimmer,« bemerkte er. »Darf ich wiederkommen und die Sache mit Ihnen durchsprechen?«

»So oft Sie wollen, Mylord!«

Darauf stieg er in seinen Wagen und fuhr davon, Thomas und Henry aber waren vor Erstaunen über diese neue Wendung der Dinge in der That sprachlos.

Zwölftes Kapitel

Selbstverständlich drang die Geschichte von Lord Fauntleroy und der schwierigen Lage Graf Dorincourts aus den englischen Zeitungen auch in die amerikanischen, sie war viel zu interessant, als daß man sie sich hätte entgehen lassen können, und dort wie hier bildete sie bald das Tagesgespräch. Der Lesarten waren allmählich so viele geworden, daß eine gewissenhafte Zusammenstellung derselben zum Kapitel der Mythenbildung einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geliefert hätte. Mr. Hobbs las so viel darüber, daß er zuletzt vollständig verwirrt und nahezu geistesgestört wurde. Die eine Zeitung schilderte seinen jungen Freund als ein hübsches Baby im Tragkleidchen, die andere als einen hoffnungsvollen Schüler der Universität Oxford, welcher dort die größten Auszeichnungen davontrug und namentlich ganz hervorragende Gedichte in griechischer Sprache verfaßte. Ein Blatt berichtete, daß er mit einer jungen Dame von auffallender Schönheit, der Tochter eines Herzogs, verlobt sei, ein andres, daß er sich vor kurzem verheiratet habe, und das einzige, was nirgends erzählt wurde, war, daß er ein kleiner Junge zwischen sieben und acht Jahren mit strammen, flinken Beinen und lockigem Haar war! Die eine Auffassung ging dahin, daß er überhaupt kein Verwandter, sondern ein kleiner Usurpator sei, der in New York Zeitungen verkauft und auf der Straße geschlafen habe, bis es seiner Mutter gelungen sei, den Anwalt des Grafen vollständig zu täuschen und für sich zu gewinnen. Dann kamen die Beschreibungen des neuerdings aufgetauchten Lord Fauntleroy und seiner Mutter. Einmal war sie eine Zigeunerin, das andre Mal eine Schauspielerin, das dritte Mal eine schöne Spanierin. Nur in dem einen stimmten alle Nachrichten überein, daß der Graf ihr Todfeind sei und alles daran setzen werde, die Ansprüche ihres Knaben nicht anerkennen zu müssen, und da sich in den Papieren, die sie vorweisen konnte, einige Ungenauigkeiten fänden, sei ein Prozeß mit Sicherheit zu erwarten, der an sensationeller Spannung alles bisher Dagewesene weit hinter sich lassen werde. Mr. Hobbs pflegte ganze Stöße Zeitungen durchzustudieren, bis ihm der Kopf brannte, und abends wurde dann alles mit Dick durchgesprochen. Allmählich ging dabei den beiden über die Bedeutung der Stellung eines Grafen Dorincourt ein Licht auf, und je genauer sie erfuhren, welch glänzendes Vermögen und welch herrliche Güter ein solcher besaß, desto höher steigerte sich ihre Aufregung.

»Man sollte eben etwas thun,« wiederholte Mr. Hobbs täglich. »So einen Besitz darf man doch nicht aus den Händen lassen – Graf hin, Graf her.« –

Leider konnten die beiden Freunde und Verbündeten nichts thun, als Briefe schreiben, in welchen sie Cedrik ihrer Teilnahme und Freundschaft versicherten, was denn auch jeder für seinen Teil redlich that, und Mr. Hobbs versicherte ihm noch überdies, daß, wenn es mit dem Grafen nichts sei, ihm jederzeit ein Anteil an dem Spezereigeschäft zu Gebot stehe und er ihn dereinst mit Vergnügen zu seinem Kompagnon nehmen werde.

»Dann hat er wenigstens bei uns sein gutes Auskommen,« sagte er zu Dick, nachdem sie sich gegenseitig ihre Briefe zu lesen gegeben hatten.

»So ist’s,« bestätigte Dick sichtlich getröstet.

Am nächsten Morgen erlebte einer von Dicks Kunden eine große Ueberraschung. Es war ein junger Jurist, der eben als Anwalt zu praktizieren begann, so arm wie junge Juristen hier und da zu sein pflegen, aber ein begabter, energischer Mensch mit klarem Verstand und liebenswürdigem Humor. Er hatte sich ein ziemlich armseliges Bureau in der Nähe von Dicks Stand gemietet und war dessen allmorgendlicher Kunde, der immer ein freundliches Wort oder einen Scherz hatte, wenn auch der Zustand seiner Fußbekleidung für das Auge des Fachmannes nicht allezeit befriedigend war.

An diesem Morgen hielt der junge Gesetzeskundige, als er seinen Fuß auf das kleine Bänkchen setzte, eine illustrierte Zeitung in der Hand, ein auf der Höhe der Zeit stehendes Blatt, das ungesäumt seinen Lesern in großem Formate zum Anblicke der das Tagesgespräch bildenden Personen und Dinge verhalf. Er überflog rasch die Seiten, und als der zweite Stiefel in erwünschtem Glänze prangte, reichte er dem jungen Schwarzkünstler das Blatt.

»Da hast du was zu lesen, Dick,« sagte er, »kannst dir’s zu Gemüt führen, wenn du bei Delmonico dein üppiges Mahl einnimmst. So sieht ein englisches Schloß aus und so eines englischen Grafen Schwiegertochter. Schöne junge Frau – eine Unmasse Haar – scheint aber da drüben viel Staub aufgewirbelt zu haben. Es ist sehr an der Zeit, daß du, vorwärts strebender Jüngling, dich mit einem hohen Adel und verehrten Publikum näher bekannt machst, hier kannst du mit dem erlauchtigsten Grafen Dorincourt und der ehrenwerten Lady Fauntleroy den Anfang, machen. Hallo, Bursch! Was ist denn los?«

Die Porträts, von denen er gesprochen hatte, befanden sich auf der ersten Seite und Dick starrte, Augen und Mund weit aufgerissen und kreideweiß, unverwandt auf eins derselben.

»Was bin ich schuldig?« fragte der Advokat. »Was in aller Welt ist dir denn in die Glieder gefahren?«

Dick sah allerdings aus, als sei er vom Blitze gerührt, und deutete, ohne ein Wort hervorbringen zu können, auf das eine Bild.

»Die Mutter des Prätendenten (Lady Fauntleroy)« stand darunter.

Das Bild zeigte eine hübsche Frau mit großen Augen und dicken, mehrmals um den Kopf gelegten schwarzen Haarflechten.

»Sie!« rief Dick endlich. »Die – die kenn‘ ich besser als Sie!«

Der junge Anwalt lachte.

»Wo hast du denn die interessante Bekanntschaft gemacht, Dick?« sagte er. »In New York? Oder vielleicht bei Gelegenheit deiner letzten Spritztour nach Paris?«

Dick hatte nicht Zeit, diesen Witz zu begrinsen. Er begann, seinen Putzapparat eilig zusammenzupacken, als ob es sich vorderhand um sein Geschäft ganz und gar nicht mehr handeln könnte.

»Einerlei,« sagte er, »ich kenn‘ sie! Und für heut ist ausgeschafft.«

Kaum fünf Minuten darauf eilte er im Sturmschritt an Mr. Errols ehemaligem Häuschen vorbei in den Laden an der Ecke. Mr. Hobbs wollte seinen Augen nicht trauen, als er, von seinem Pulte aufblickend, Dick mit der Zeitung in der Hand hereinstürmen sah. Der Junge war so außer Atem, daß er kaum sprechen konnte und nur das Blatt auf den Ladentisch warf.

»Hallo!« rief Mr. Hobbs. »Hallo! Was kommt denn da?«

»Ansehen!« keuchte Dick. »Die Frauensperson auf dem Bilde ansehen! Jetzt haben Sie’s – ja die! Die, die ist keine Adlige – die wahrhaftig nicht,« rief er zornig auflodernd. »Die – einem Lord seine Frau fein? In Stücke reißen soll man mich, wenn’s nicht Minna ist – Minna! Die würd‘ ich überall erkennen, so gut wie Ben! Fragen Sie nur den!«

Mr. Hobbs sank auf seinen Stuhl.

»Ich hab’s ja gesagt, daß alles eine abgekartete Geschichte gewesen ist,« sagte er. »Ich hab’s ja gewußt. Und das haben sie ihm angethan, weil er ein Amerikaner ist, einfach deshalb.«

»Welche ›sie‹ haben’s ihm angethan?« brüllte Dick verächtlich. »Die da hat’s gethan – die und kein andrer Mensch! Die hat immer voll Teufelei gesteckt, und ich will Ihnen auch sagen, was mir eingefallen ist, gleich im Augenblicke, wie ich das Bild sah! Da – in irgend so einer Zeitung hat’s gestanden, etwas von dem Bengel, ihrem Sohne, und daß er eine Narbe am Kinne habe! Na, wenn der ihr Balg da ein Lord ist, dann bin ich auch einer! Bens Kind ist’s – der Knirps, der die Narbe abgekriegt hat, wie sie den Teller nach mir hat schmeißen wollen.«

»Professor Dick Tipton« war von Natur ein kluger Junge, und sein Brot in den Straßen einer Großstadt verdienen schärft die Sinne und lehrt Kopf und Augen offen halten. Es muß übrigens zugegeben werden, daß für ihn die Aufregung und Spannung dieser Stunde eigentlich ein Hochgenuß war. Wenn der kleine Lord Fauntleroy an diesem Morgen einen Blick in den ihm so lieben Ladenraum hätte werfen können, so hätte ihn die Sache wohl sehr »’tressiert«, selbst wenn die Beratungen, die gepflogen, und die wunderbar kühnen Pläne, die geschmiedet wurden, sich mit dem Schicksal eines beliebigen andern beschäftigt hätten.

Das Gefühl seiner Verantwortlichkeit hatte für Mr. Hobbs etwas vollkommen Überwältigendes, während Dick von Energie und Leben übersprudelte. Er begann sofort, an Ben zu schreiben, und schnitt das Bild aus der Zeitung, um es ihm beizulegen, und Mr. Hobbs schrieb sowohl an Cedrik als an den Grafen selbst. Mitten in dieser angestrengten Thätigkeit kam Dick ein erleuchtender Gedanke.

»Hören Sie,« begann er, »der, der mir das Blatt gegeben hat, der ist A’v’kat. Den könnten wir fragen, was zu thun ist, A’v’katen wissen das alles.«

Auf Mr. Hobbs machte dieser Vorschlag und Dicks große Findigkeit überhaupt einen ungeheuren Eindruck.

»So ist’s!« erwiderte er laut, »Die Sache schreit nach einem Advokaten.«

Der Laden ward einem Stellvertreter übergeben – in den Rock schlüpfen und sich auf den Weg machen, war das Werk weniger Minuten. Die Verbündeten marschierten in die Stadt hinunter und erschienen zum höchsten Erstaunen des jungen Mannes in Mr. Harrisons Bureau, wo sie ihre romantische Geschichte vortrugen.

Wäre dieser nicht ein sehr junger Anwalt mit thatendurstigem Gemüte und einer beneidenswerten Fülle von verfügbarer Zeit gewesen, so hätte es wohl etwas Mühe gekostet, ihm für diese überaus fabelhaft klingende, unklare Geschichte Interesse einzuflößen, da er aber zufällig ein brennendes Verlangen nach Arbeit hatte, und da er zufällig Dick kannte, und dieser Dick zufällig eine höchst lebendige, dramatische Darstellungsweise hatte, in welcher er sein Anliegen vortrug, so lief alles nach Wunsch ab.

»Und,« bemerkte Mr. Hobbs, »sagen Sie ungeniert, was Ihre Zeit zur Stunde wert ist, und nehmen Sie’s gründlich – bezahlen werde ich, ich – Silas Hobbs, Ecke der Blankstreet, Gemüse- und Spezereihandlung.«

»Wenn sich die Sache wirklich bewahrheitet, so wie Dick sie auffaßt,« sagte Harrison, »so ist sie für mich nicht minder von Bedeutung als für Lord Fauntleroy selber, und keinesfalls können Nachforschungen irgend einem Teile Schaden bringen. Offenbar haben sich in bezug auf den Knaben einige zweifelhafte Punkte herausgestellt. Die Frau hat sich bei der Angabe seines Alters mehrfach widersprochen und dadurch Verdacht erregt. In erster Linie muß an Dicks Bruder und an den Anwalt des Grafen Dorincourt geschrieben werden.«

Ehe die Sonne unterging, waren zwei Briefe nach verschiedenen Himmelsrichtungen unterwegs. Der eine segelte mit einem englischen Postdampfer zum New Yorker Hafen hinaus, der andre brauste auf einem kalifornischen Postzug mit Windeseile dahin; der erstere trug die Adresse T. Havisham, Esqu., der andre war an Mr. Benjamin Tipton gerichtet.

Nachdem der Laden am Abend dieses denkwürdigen Tages geschlossen worden, saßen Mr. Hobbs und Dick noch bis nach Mitternacht in ernstem Gespräche und angelegentlicher Beratung bei einander.

Erstes Kapitel

Cedrik selbst wußte kein Sterbenswörtchen davon, nie war etwas Derartiges in seiner Gegenwart auch nur erwähnt worden. Daß sein Papa ein Engländer gewesen, wußte er, weil seine Mama ihm das gesagt hatte, aber dann war dieser Papa gestorben, als er noch ein ganz kleiner Junge gewesen, und ihm war von demselben nicht viel mehr in Erinnerung geblieben, als daß er eine hohe Gestalt und blaue Augen und einen langen, schönen Schnurrbart gehabt und daß es herrlich gewesen, auf seinen Schultern in der Stube herumzureiten. Nach des Vaters Tode hatte Cedrik dann die Entdeckung gemacht, daß es am allerbesten sei, mit der Mama gar nicht von ihm zu sprechen. Als der Papa erkrankte, war Cedrik fortgebracht worden, und als er wieder nach Hause kam, war alles vorüber gewesen, und sein Mütterchen, das auch eine schwere Krankheit durchgemacht, fing eben wieder an, in ihrem Lehnstuhle am Fenster zu sitzen; allein sie war bleich und mager und all die lustigen Grübchen waren aus ihrem hübschen Gesichte verschwunden; die Augen sahen so groß aus und so traurig, und ihr Kleid war ganz schwarz.

»Herzlieb,« sagte Cedrik – so hatte sein Papa sie immer genannt, und der kleine Junge machte es ihm nach – »Herzlieb, geht’s Papa besser?«

Er fühlte, wie ihr Arm zitterte, wandte plötzlich sein lockiges Köpfchen und sah ihr ins Gesicht, und als er sie so ansah, war’s ihm, als ob er selbst bald zu weinen anfangen müsse.

»Herzlieb,« fragte er noch einmal, »ist Papa wohl?«

Dann gab ihm sein kleines zärtliches Herz plötzlich ein, beide Aermchen um den Hals der Mutter zu schlingen und sie wieder und wieder zu küssen und seine weiche, warme Wange fest an die ihrige zu schmiegen, und sie drückte ihr Gesicht an seine Schulter und hielt ihn umschlungen, als ob sie ihn nie mehr von sich lassen wollte, und weinte bitterlich.

»Ja, ihm ist wohl,« schluchzte sie; »ihm ist ganz, ganz wohl, aber wir – wir haben nichts mehr auf der Welt als einander. Keine Menschenseele sonst.«

So klein er war, hatte er doch begriffen, daß sein großer, schöner, junger Papa nicht mehr wiederkommen werde, daß er tot sei, wie er es von andern Leuten auch schon hatte sagen hören, obwohl er nicht recht wußte, was das für ein seltsames Ding war, das so viel Herzeleid in seinem Gefolge hatte, und weil sein Mütterchen immer weinte, wenn er von dem Papa sprach, kam er ganz in aller Stille auf den Gedanken, daß es besser sei, nicht von ihm zu sprechen, und allmählich fand er auch, daß es besser sei, sie nicht ganz ruhig dasitzen und zum Fenster hinaus oder ins Feuer starren zu lassen. Bekannte hatten er und seine Mama nicht viele, und man konnte ihr Leben sehr einsam nennen, obgleich Cedrik davon keine Ahnung hatte, bis er älter wurde und man ihm dann sagte, weshalb sie keine Besuche erhielten. Er erfuhr dann, daß seine Mama eine Waise war und ganz allein in der Welt gestanden hatte, ehe sie Papas Frau geworden. Sie war sehr hübsch und hatte als Gesellschafterin bei einer reichen alten Frau gelebt, die nicht gütig gegen sie gewesen war. Eines Tages hatte Kapitän Cedrik Errol, der Besuch bei der Dame machte, sie die Treppe hinaufeilen sehen mit schweren dicken Thränentropfen an den langen Wimpern, und dabei hatte sie so unschuldig und traurig und wunderlieblich ausgesehen, daß der Kapitän es nicht mehr hatte vergessen können. Dann waren mancherlei merkwürdige Dinge geschehen, sie hatten einander kennen gelernt und hatten sich sehr lieb und wurden schließlich Mann und Frau, obwohl diese Heirat ihnen die Mißbilligung verschiedener Personen zuzog. Am meisten erzürnt darüber war der Vater des Kapitäns, der in England lebte und ein sehr reicher und vornehmer Herr von leidenschaftlicher Gemütsart und einer heftigen Voreingenommenheit gegen Amerika und die Amerikaner war. Kapitän Cedrik war der dritte Sohn und hatte also für sein Teil wenig Aussichten auf die äußerst bedeutenden Güter und Titel seines Hauses.

Die Natur verteilt ihre Güter jedoch nicht nach dem Erstgeburtsrecht, und es kommt vor, daß dritte Söhne Dinge besitzen, die den beiden älteren versagt sind. Cedrik Errol hatte ein hübsches Gesicht, eine kräftige, schlanke, elastische Gestalt, ein helles Lachen und eine weiche, fröhliche Stimme; er war tapfer, freimütig und hatte das beste Herz von der Welt, und es war, als ob ihm ein Zauber verliehen sei, der alle Menschen zu ihm zog und an ihn fesselte. Bei seinen älteren Brüdern war dem nicht so; der eine wie der andre war weder hübsch noch begabt, noch gutherzig. Als Knaben in der Schule zu Eton machten sie sich sehr unbeliebt; auf der Universität betrieben sie keinerlei Studien, vergeudeten Zeit und Geld und gewannen wenig Freunde. Was der Vater an ihnen erlebte, waren Enttäuschungen und Demütigungen; der Erbe seines edlen Namens machte demselben keine Ehre und versprach, nichts zu werden, als ein selbstischer, verschwenderischer unbedeutender Mensch ohne jegliche ritterliche Tugend. Es war sehr bitter für den alten Herrn, daß der Sohn, welcher die unbedeutende Stellung des Jüngsten einnahm und nur ein sehr mäßiges Vermögen erhalten konnte, alles besaß, was an Talent, Liebenswürdigkeit, Kraft und äußerer Erscheinung in seiner Familie zu entdecken war.

Zuweilen haßte er den frischen jungen Gesellen beinahe, der sich unterfing, all‘ die guten Dinge zu besitzen, die doch mit Fug und Recht zu dem großen Titel und dem herrlichen Besitztum gehört hätten, und doch hing sein stolzes, eigenwilliges altes Herz insgeheim unendlich an seinem Jüngsten. In einem derartigen Anfall von Gereiztheit war’s, daß er ihn auf eine Reise nach Amerika geschickt hatte; Cedrik sollte ihm eine Zeitlang aus den Augen kommen, damit er nicht durch den immerwährenden Vergleich sich über das Treiben der beiden Aeltesten, die ihm gerade damals wieder viel zu schaffen machten, noch mehr aufzuregen brauchte.

Aber kaum war der Sohn ein halbes Jahr fort, als der alte Herr Sehnsucht nach ihm empfand und ihm den Befehl zur Heimkehr sandte. Dieser Brief kreuzte sich mit einem des jungen Mannes, in dem dieser dem Vater von seiner Liebe zu der hübschen Amerikanerin und seiner Absicht, dieselbe zu heiraten, sprach, was den Grafen in fürchterliche Wut versetzte. Wie entsetzlich seine Zornesausbrüche auch sein lebenlang, gewesen waren, so schrankenlos hatte er noch nie getobt, wie nach dem Empfang von Kapitän Cedriks Brief, und sein Kammerdiener, der eben im Zimmer war, machte sich auf einen Schlaganfall gefaßt. Eine Stunde lang raste er wie ein wildes Tier, dann setzte er sich hin und schrieb an seinen Sohn. Er verbot ihm, je wieder den Fuß in die Nähe seiner alten Heimat zu setzen oder an Vater und Brüder ein Wort zu schreiben; er könne leben, wie es ihm behage, und sterben, wo es ihm gefällig sei, von seiner Familie sei er für alle Zeiten geschieden und Hilfe oder Unterstützung habe er von seiten seines Vaters nie und nimmer zu gewärtigen.

Der Kapitän war tief betrübt über diesen Brief. Er hing an England und er liebte das schöne Heim, in dem er geboren war; er hatte sogar den übellaunischen, despotischen Vater lieb und hatte dessen Kümmernisse im stillen immer mitempfunden, aber er war sich vollkommen klar, daß er von nun an nichts mehr von ihm zu erwarten hatte. Erst wußte er kaum, was anfangen, denn er war ja nicht zur Arbeit erzogen und hatte keine Ahnung von Geschäften, dafür aber Mut und Entschlossenheit; er gab seine Stellung in der englischen Armee auf, fand, nach mancher Mühsal, Beschäftigung in New York und heiratete. Der Unterschied zwischen seinem einstigen und jetzigen Leben war groß, allein er war jung und glücklich und hoffte, bei harter Arbeit eine Zukunft zu haben. Er bewohnte ein kleines Häuschen in einer ruhigen abgelegenen Straße, und dort kam sein Junge zur Welt und alles war einfach und bescheiden, aber fröhlich und freundlich, so daß er es nie einen Moment bereute, die hübsche Gesellschafterin der reichen alten Dame geheiratet zu haben, einzig, weil sie ein süßes Geschöpf war und ihn lieb hatte und er sie. Sie war aber auch wirklich und wahrhaftig ein süßes Geschöpf, und ihr kleiner Junge glich Mutter und Vater, und wenn er auch in einem armseligen, weltentlegenen Häuschen geboren war, schien es doch nie ein glücklicheres Kind auf der Welt gegeben zu haben. In erster Linie war er allezeit gesund und munter, machte also keinerlei Sorge und Mühe, dann hatte er so ein liebes, reines Gemüt und war so ein herziger kleiner Mensch, daß jedermann Freude an ihm haben mußte, und zu dem allen war er so schön, daß man ihn immerfort anstaunen mußte wie ein wunderbares Bild. Statt als ein kahlköpfiges Baby auf der Bildfläche zu erscheinen, hielt er seinen Einzug als Weltbürger mit einer Fülle weichen, seidigen, golden schimmernden Haares, das sich nach sechs Monaten in leichten Locken um sein Köpfchen krauste; er hatte große braune Augen, lange Wimpern und ein herziges kleines Gesicht, ferner so kräftige Glieder, daß er mit neun Monaten plötzlich auf seinen kerzengeraden strammen Beinchen zu wandeln anfing, und dabei war er ein so gesittetes Baby, daß es eine Lust war, seine Bekanntschaft zu machen. Er schien davon auszugehen, daß jeder Mensch sein Freund sei, und sprach jemand mit ihm, wenn er in seinem Kinderwagen auf der Straße war, so pflegte er den Unbekannten erst ganz ernsthaft aus seinen braunen Augen anzuschauen, worauf dann sofort ein sonniges Lächeln folgte. Daher kam es denn auch, daß in der ganzen Nachbarschaft keine Menschenseele war – nicht einmal der Spezereihändler an der Ecke, und der war anerkannt der gröbste Mensch unter Gottes Sonne – die nicht eine Freude daran gehabt hätte, ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen, und mit jedem Monat, den er älter wurde, ward er hübscher und lebendiger.

Als er groß genug war, mit seiner Kinderfrau auszugehen in einem kurzen, weißen Röckchen, mit einem großen, weißen Hut auf dem lockigen Haar, erregte er allgemeines Aufsehen, und die Wärterin hatte der Mama die längsten Geschichten zu erzählen von Damen, die ihre Wagen hatten anhalten lassen und ausgestiegen waren, um mit ihm zu sprechen, und die ganz entzückt gewesen waren, als er in seiner harmlosen, unbefangenen Art mit ihnen geplaudert hatte, als ob er sie von jeher gekannt. Diese seltsam unbefangene Art und Weise, mit jedermann Freundschaft zu schließen, gab ihm einen ganz eigenartigen Reiz. Er war eine offne, rückhaltslos vertrauende Natur, und sein warmes kleines Herz wollte, daß es allen so wohl zu Mute sein solle, wie ihm selbst, das war’s, was ihn die Empfindungen derer, die um ihn waren, so merkwürdig schnell verstehen ließ. Vielleicht hatte sich dieser Zug auch mehr entwickelt, weil er immer mit Vater und Mutter lebte, die liebevoll, gütig und voll echter Herzensbildung waren; nie hörte er zu Hause ein unhöfliches oder rauhes Wort: von jeher wurde er mit Liebe und Zärtlichkeit behandelt und umgeben, und so strömte sein Kinderherz auch von Liebe und Wärme für andre über. Immer hatte er sein Mütterchen mit süßen Schmeichelnamen nennen hören, und deshalb sprach auch er nie anders mit ihr und von ihr; immer hatte er gesehen, daß sein Papa sie ängstlich behütete und für sie sorgte, und so lernte auch er ganz von selbst für sie sorgen. Und als er nun wußte, daß sein Papa nicht wiederkommen werde, und sah, wie traurig sie war, da entstand unbewußt in seinem kleinen Herzen das Gefühl, daß er nun alles thun müsse, um sie glücklich zu machen. Er war ja noch ein kleines Kind, aber dies Gefühl lebte in ihm, wenn er auf ihre Kniee kletterte und sie küßte und sein lockiges Köpfchen an ihre Wange drückte, oder wenn er ihr sein Spielzeug und seine Bilderbücher zum Ansehen brachte oder sich schweigend und regungslos neben sie kauerte, wenn sie auf dem Sofa lag.

Er war noch nicht alt genug, um andre Trostesmittel zu finden, aber er that sein Bestes, und er selbst hatte keine Vorstellung davon, wie wohl sein stilles Thun dem armen, vereinsamten Herzen that.

»O Mary!« hörte er seine Mama einmal zu der alten Dienerin sagen, »ich bin überzeugt, er will mir auf seine Weise helfen und mich trösten. Zuweilen sieht er mich an mit großen, verwunderten Augen voll tiefster Liebe, als ob ich ihm im Innersten leid thäte, und dann kommt er und streichelt mich oder zeigt mir etwas. Er ist so merkwürdig reif; ich bin überzeugt, er denkt so weit.«

Als er heranwuchs, hatte er eine Menge wunderlicher Einfälle, die höchst ergötzlich waren, und wußte seine Mama so gut zu unterhalten, daß sie gar nicht nach andrer Gesellschaft verlangte; sie gingen miteinander spazieren und schwatzten und spielten zusammen. Er war noch ein ganz kleiner Bursche, als er lesen lernte, und hernach lag er abends auf dem Teppich vor dem Kamin und las vor – Kindergeschichten, zuweilen auch große Bücher, wie erwachsene Leute sie lesen, und hier und da sogar die Zeitung, und dabei hörte Mary in ihrer Küche Mrs. Errol manchmal hell auflachen über seine wunderlichen Bemerkungen: »Und, meiner Seel‘,« sagte Mary zu dem Spezereihändler, »so verstockt könnte keiner sein, daß er nicht lachen müßte über unsern Jungen, wenn er so altklug schwatzt. In der Nacht, wo der neue Präsident ernannt worden ist, kommt der Jung‘ zu mir in die Küch‘, stellt sich vors Feuer, die Händchen in den kleinen Taschen, wie ein Bild, sag‘ ich Ihnen, und mit so einer feierlichen Mien‘ wie ein Richter im Talar. Und dann sagt er zu mir: ›Mary,‹ sagt er, ›die Wahl ‚tressiert miß sehr,‹ sagt er. ›Iß bin ‚Publikaner und Herzlieb auch. Bist du auch ‚Publikaner, Mary?‹ ›Thut mir leid,‹ sag‘ ich, ›aber ich bin just ein wenig von der andern Partei.‹ Da sieht er mich an, daß es einem ganz durch Mark und Bein geht, und sagt: ›Mary,‹ sagt er, ›die rißten ja das Land zu Grund.‹ Und seither ist kein Tag vergangen, wo er mir nicht zugeredet hat, zur andern Partei zu gehen.«

Mary war sehr entzückt von »unserm Jungen« und sehr stolz auf ihn; sie war schon im Hause gewesen, als er zur Welt kam, und seit seines Vaters Tode war sie Köchin, Hausmädchen und Kinderfrau in einer Person. Sie war stolz auf den kräftigen, beweglichen, kleinen Kerl und sein nettes Benehmen, ganz besonders aber auf sein schimmerndes Haar, das in die Stirn hereingeschnitten war und in leichten Pagenlocken auf seine Schulter fiel. Um seine kleinen Anzüge machen zu helfen, war ihr früh und spät keine Mühe zu viel.

»’Ristokratisch, hm?« pflegte sie zu sagen. »Du lieber Gott, den Jungen auf der Fifth Avenue möcht‘ ich sehen, der so dreinschaut, seine Beine so setzt! Jeder Mensch, Mann und Weib und Kind, alles schaut ihm nach, wenn er den schwarzen Samtanzug anhat, den wir ihm aus meiner Frau ihrem alten Kleide zurecht gemacht haben, wenn er den Kopf so aufwirft und sein Lockenhaar fliegt! Accurat wie ein junger Lord sieht er aus.«

Cedrik hatte keine Ahnung davon, daß er wie ein junger Lord aussah, er wußte auch durchaus nicht, was ein Lord war. Der vornehmste unter seinen Freunden war der Spezereihändler an der Ecke – der grobe Mann, der gegen ihn nie grob war. Er nannte sich Mr. Hobbs und war in Cedriks Augen sehr reich und eine höchst bedeutende Persönlichkeit, die er über die Maßen bewunderte; er hatte ja so viele Dinge in seinem Laden – Pflaumen und Feigen und Apfelsinen und Biskuits – und er hatte ein Pferd und einen Wagen. Cedrik mochte auch den Milchmann, den Bäcker und die Apfelfrau wohl leiden, aber Mr. Hobbs war doch obenan in seinem Herzen, und er stand auf so vertrautem Fuße mit ihm, daß er ihn jeden Tag besuchte und oft lange bei ihm saß, um die Tagesereignisse zu besprechen. Es war ganz merkwürdig, wieviel die beiden immer zu schwatzen hatten, über alles Mögliche. Der 4. Juli namentlich war ein Thema, über welches ihnen das Gespräch nie ausging. Mr. Hobbs hatte eine sehr geringe Meinung von den Engländern und er erzählte ihm die ganze Geschichte der Losreißung, wobei die Schändlichkeit des Feindes und die Tapferkeit der Aufständischen durch schlagende Beispiele beleuchtet wurden, schließlich trug er ihm noch einzelne Teile der Unabhängigkeitserklärung wörtlich vor. Cedrik war dann so aufgeregt, daß seine Augen leuchteten, seine Wangen glühten und all seine Locken eine wirre Masse waren; zu Hause konnte er die Mahlzeit kaum erwarten, um seiner Mama alles Gehörte wiederzugeben, und so war es entschieden Mr. Hobbs, dem er sein erstes Interesse für Politik zu danken hatte. Mr. Hobbs war auch ein eifriger Zeitungsleser, und daher erfuhr Cedrik so ziemlich alles, was in Washington vor sich ging, und wußte immer, ob der Präsident seine Schuldigkeit that oder nicht. Und bei der letzten Präsidentenwahl waren beide sehr erregt gewesen und ohne Mr. Hobbs und Cedrik wäre das Land womöglich aus den Fugen gegangen. Cedrik wurde dann auch zu einem Fackelzug mitgenommen, und mancher Fackelträger erinnerte sich nachher noch des untersetzten Mannes an dem Laternenpfahl mit dem blonden Knaben auf der Schulter, der so energisch sein Mützchen geschwungen und sein Hurra gerufen hatte.

Nicht lange nach dieser Wahl war es – Cedrik war nun zwischen sieben und acht Jahren alt – daß das seltsame Ereignis eintrat, welches sein Leben so ganz und gar umgestaltete. Merkwürdig war, daß er gerade an dem Tage mit seinem Freunde über England und die Königin gesprochen hatte, wobei Mr. Hobbs sich sehr hart über die Aristokratie geäußert und namentlich mit den britischen Grafen und Marquis streng ins Gericht gegangen war. Es war ein sehr heiterer Morgen, und Cedrik war, nachdem er mit ein paar Kameraden Soldaten gespielt hatte, zu Mr. Hobbs gegangen, um sich auszuruhen, und hatte denselben in entrüsteter Betrachtung der »London Illustrated News« gefunden, die eine Hofceremonie wiedergab.

»Ha,« sagte er, »auf die Art treiben sie’s nun, aber sie werden’s schon eingetränkt kriegen eines schönen Tages, wenn die sich aufrichten, die sie jetzt mit Füßen treten, und das ganze Gelichter übern Haufen werfen – Herzöge und Grafen und all den Plunder! Das bleibt nicht aus; sie sollen sich nur vorsehen.«

Cedrik saß wie gewöhnlich rittlings auf dem Comptoirstuhle, den Hut aus der Stirn gerückt, die Händchen in den Taschen, ganz Ohr.

»Haben Sie viele Marquis gekannt, Mr. Hobbs?« fragte er ernsthaft. »Oder viele Grafen?«

»Nein,« erwiderte Mr. Hobbs mit Entrüstung, »ganz und gar nicht. Aber ich möchte wohl mal so einen hier in meiner Bude klein kriegen, dem wollte ich’s klar machen, daß ich keine Räuber und Tyrannen auf meinen Biskuitkasten sitzen und bei mir herumlungern lassen will.«

Dies Bewußtsein erhabenen Bürgerstolzes erfüllte ihn mit großer Befriedigung, und er wischte sich die Stirn mit einem siegreichen Herrscherblick auf seine Kisten.

»Vielleicht sind sie nur Grafen, weil sie es eben nicht besser wissen,« bemerkte Cedrik, in dessen kleinem Herzen ein gewisses Mitgefühl für die Unglücklichen aufstieg.

»Weil sie’s nicht besser wissen!« sagte Mr. Hobbs. »Da bist du ganz auf dem Holzwege, sie bilden sich ja noch Wunder was darauf ein, die Kuckucksbrut!«

Mitten in dieser Unterhaltung erschien Mary. Cedrik nahm erst an, sie werde irgend einen kleinen Bedarf für den Haushalt holen, dem war aber nicht so; sie sah sehr aufgeregt aus und war so bleich, wie man es bei ihrem Teint kaum für möglich gehalten hätte.

»Komm heim, Liebling,« sagte sie, »die Mama will’s haben.«

Cedrik glitt von seinem erhabenen Sitze herunter.

»Soll ich mit der Mama ausgehen, Mary?« fragte er. »Guten Tag, Mr. Hobbs. Ich komme ein andermal.«

»Was ist denn geschehen, Mary?« forschte er unterwegs. »Ist’s die Hitze?«

»Nein, nein,« sagte Mary, »Gott, was bei uns für Geschichten passieren!«

»Hat denn Herzlieb Kopfweh von der Sonne?« fragte der kleine Mann, nach und nach ängstlich werdend.

Das war’s aber auch nicht. Als sie das Haus erreicht hatten, stand ein Wagen davor und im Wohnzimmer war jemand bei Mama; Mary zog ihn eilends die Treppe hinauf, steckte ihn in sein bestes Gewand, den weißen Flanellanzug mit der roten Schärpe, und bürstete seine Haare glatt.

»Ein Lord!« sprach sie dabei vor sich hin. »Lord war’s ja doch! Ach, und die Verwandtschaft. Hol sie der Kuckuck! Lord und Graf, jawohl, um so schlimmer!«

Das war wirklich alles sehr seltsam, allein er wußte ja ganz gewiß, daß seine Mama ihm alles erklären würde, und so ließ er Mary ungestört ihren Gedanken nachhängen. Als er umgekleidet war, lief er die Treppe hinunter und geradeswegs ins Wohnzimmer. Ein großer, magerer alter Herr mit einem scharfgeschnittenen Gesichte saß im Lehnstuhl, seine Mama stand daneben, sie war sehr blaß, und er bemerkte auf den ersten Blick, daß sie Thränen in den Augen hatte.

»O Ceddie!« rief sie, ihrem kleinen Jungen entgegeneilend und ihn scheu und erregt ans Herz drückend. »Ceddie, mein Herzenskind!«

Der große alte Herr stand auf und sah den Knaben scharf an, wobei er sein spitzes Kinn mit der fleischlosen Hand rieb. Der Eindruck schien ihn übrigens zu befriedigen.

»So so,« sprach er langsam, »das ist also der kleine Lord Fauntleroy.«