Neuntes Kapitel

Die Wahrheit war, daß Mrs. Errol bei ihren Besuchen im Dorfe, das ihr erst so malerisch erschienen war, viel Elend, Jammer, Not, Trägheit und Böswilligkeit kennen und nach und nach einsehen gelernt hatte, daß Erleboro nicht mit Unrecht für das ärmste und am meisten vernachlässigte Dorf des ganzen Landesteiles galt. Vieles sah sie mit eignen Augen, vieles erfuhr sie durch Mr. Mordaunt, der ihr gern sein Herz ausschüttete und ihres Anteils froh ward. Die Intendanten, die alles zu verwalten hatten, suchten nur jeglichen Konflikt mit dem Grafen zu vermeiden, und so wurde von Tag zu Tage alles schlimmer, Grafenhof war aber in der That ein Fieberherd, und der Zustand der Häuser sprach laut genug von der Gleichgültigkeit des Gutsherrn gegen seine Leute. Als Mrs. Errol den Ort zum erstenmal betrat, erfaßte sie ein Schauder, und als sie die bleichen, verwahrlosten, zwischen Laster und Schmutz aufwachsenden Kinder sah und ihres Jungen gedachte, der nun in fürstlicher Pracht seine goldne Kindheit verlebte, stieg ein kühner Gedanke in diesem weisen kleinen Mutterherzen auf.

»Der Graf gewährt meinem Kinde jede Bitte,« hatte sie zu Mr. Mordaunt gesagt. »Er befriedigt jeden kleinsten Wunsch. Weshalb soll diese Güte oder Schwäche nicht auch andern zu gute kommen?«

Sie kannte das reine, warme Kinderherz durch und durch, und so erzählte sie ihm von dem entsetzlichen Stande der Dinge im Grafenhof, sicher, daß er mit dem Großvater davon sprechen werde, und hoffend, daß dies gute Früchte tragen möchte.

Und dem war so. Was auf den alten Herrn den stärksten, unwiderstehlichsten Einfluß übte, war seines Enkels felsenfestes, unerschütterliches Vertrauen in seine Großmut und Güte. Er konnte es nicht übers Herz bringen, den Jungen darüber aufzuklären, daß Selbstsucht und Eigenwillen die Grundzüge seines Handelns und Lebens gewesen waren. Als ein Wohlthäter der Menschheit und als Inbegriff aller ritterlichen Tugenden angesehen zu werden, war etwas entschieden Neues, und der Gedanke, diesen liebevollen braunen Augen gegenüber auszusprechen: »Es ist mir ganz einerlei, ob das Gesindel zu Grunde geht oder nicht«, schien ihm vollkommen unausführbar. Schon hatte er den kleinen Blondkopf so lieb gewonnen, daß er sich, um dessen Illusionen zu schonen, lieber auf einer guten That ertappen ließ, wobei er sich freilich selbst sehr lächerlich vorkam. Newick wurde zur Audienz befohlen und nach längerer Beratung der Beschluß gefaßt, daß die elenden Bretterbuden eingerissen und an ihrer Stelle menschliche Wohnungen errichtet werden sollten.

»Lord Fauntleroy dringt darauf,« bemerkte er trocken, »er sieht darin eine Verbesserung des Besitztums. Sie können es die Leute wissen lassen, daß der Gedanke von ihm ausgeht.«

Natürlich verbreitete sich die Kunde von dieser geplanten Verbesserung mit Windeseile. Erst begegnete dieselbe mannigfachem Unglauben, als aber eine Schar fremder Arbeiter eintraf und die baufälligen Hütten einzureißen begann, ward es den Leuten klar, daß dieser kleine Lord wieder Großes für sie gewirkt hatte, und sein Lob wurde in allen Tonarten gesungen und die kühnsten Prophezeiungen für seine Zukunft ausgesprochen. Von dem allem ahnte er nichts. Er lebte sein glückliches Kinderdasein, rannte jauchzend im Park umher, hegte die Kaninchen in ihrem Bau, lag im Grase unter den großen Bäumen oder auf dem Teppiche vor dem Kamine und las wundervolle Geschichtenbücher, deren Inhalt er dann erst dem Grafen und später seiner Mutter wiedererzählte; auch lange Briefe an Dick und Mr. Hobbs wurden abgesandt und von drüben beantwortet.

Als der Neubau der kleinen Häuser begonnen hatte, ritt er häufig mit dem Großvater nach Grafenhof hinüber und nahm lebhaften Anteil an der Arbeit. Er stieg dann womöglich ab und machte die Bekanntschaft der Arbeiter, wobei er über allerlei Handwerksgeheimnisse Aufschluß erhielt und ihnen von Amerika erzählte. Wenn die Herrschaft dann den Bauplatz verlassen hatte, war der kleine Lord mit seinen harmlosen, hier und da komischen Redensarten noch lange das Gesprächsthema. »Das ist ein Rarer,« hieß es, »und gescheit ist er und so gemein mit unsereinem.« Natürlich wurde alles, was Fauntleroy gesprochen hatte, weiter erzählt, und so kam jeder in Besitz einer ganzen Sammlung von Anekdoten über den kleinen Lord, und nach und nach wußte man weit und breit, daß der »wilde Graf« zu guter Letzt noch etwas gefunden hatte, was seinem harten, verbitterten Herzen lieb war.

Wie lieb, das wußte freilich niemand, denn er äußerte sich gegen keinen Menschen über seine Empfindung für Cedrik, und wenn er je von ihm sprach, geschah es mit einem halb ironischen Lächeln. Fauntleroy aber fühlte es wohl, daß er dem Großvater lieb war und daß dieser ihn gern um sich hatte, ob’s nun in seinem behaglichen Bibliothekzimmer war, wenn er im Lehnstuhle saß, oder bei Tische oder draußen beim Reiten und Fahren und dem Abendspaziergange auf der Terrasse.

»Weißt du noch,« begann Cedrik, der mit einem Buche vor dem Kamine lag, einmal plötzlich, »weißt du noch, was ich am ersten Abende hier zu dir gesagt habe? Daß man in dem großen Hause gut zu einander passen müsse? Nun wir zwei passen zu einander, bessre Freunde kann’s doch wohl nicht geben.«

»Jawohl, wir vertragen uns leidlich,« erwiderte der Graf. »Komm ‚mal her.«

Fauntleroy krabbelte in die Höhe und kam.

»Gibt es noch irgend etwas, was dir fehlt, was du gern haben möchtest?«

Die großen braunen Augen hefteten sich plötzlich nachdenklich und ernsthaft auf den Großvater.

»Nur eins,« erwiderte er bestimmt.

»Und das ist?«

Fauntleroy sammelte sich einen Augenblick, er hatte nicht umsonst so viel über die Sache nachgedacht.

»Herzlieb,« sagte er dann halblaut.

Der Graf zuckte ein wenig mit den Augenbrauen.

»Du siehst sie ja fast jeden Tag,« sagte er, »genügt das nicht?«

»Früher sah ich sie den ganzen Tag,« versetzte das Kind, »und wenn ich zu Bett gegangen bin, hat sie mich geküßt, und morgens war sie bei mir, wenn ich aufgewacht bin, und wenn wir uns etwas sagen wollten, konnten wir’s gleich thun und brauchten nicht zu warten.«

»Vergißt du denn deine Mutter nie?« fragte der alte Mann, ihm tief in die Augen blickend.

»Nein, nie! Und sie vergißt mich auch nicht. Ich würde dich auch nie vergessen, wenn ich nicht bei dir wäre, und würde immer an dich denken.«

»Wahrhaftig, du wärst’s im stande?« sagte der Graf nach einer Pause.

Die Eifersucht, die ihn befiel, wenn der Knabe von seiner Mutter sprach, steigerte sich mit der Liebe zu demselben.

Bald aber kamen ernstere Sorgen, die ihn diese kleine Bitterkeit vergessen ließen, ja, die ihn vergessen ließen, daß er seines Sohnes Frau so gehaßt hatte. Kurz bevor der Neubau in Grafenhof beendigt war, wurde in Dorincourt ein großes Diner gegeben – es war lange her, daß sich etwas derartiges im Schlosse ereignet hatte. Einige Tage vorher schon trafen Sir Harry Lorridaile und Lady Lorridaile, des Grafen einzige Schwester, ein und auch dies war ein höchst befremdliches Ereignis, infolgedessen Mrs. Dibbles Ladenglocke wieder harte Arbeit bekam, denn das war ja allgemein bekannt, daß Lady Lorridaile seit ihrer Hochzeit vor fünfunddreißig Jahren das Schloß nicht mehr betreten hatte. Sie war jetzt eine alte hübsche Dame mit weißen Locken und Grübchen in den runden Wangen und einem Herzen wie Gold; sie hatte aber des Bruders Leben und Treiben so wenig gebilligt, als irgend jemand, und da sie nicht schüchterner Natur war und gerade heraus zu reden pflegte, hatte sie ihm dies keineswegs verheimlicht, und das Ergebnis solcher Offenheit war gewesen, daß sie einander aus dem Wege gingen.

Gehört hatte sie mehr von ihm, als ihr lieb war, in dieser Zeit der Trennung; man hatte ihr erzählt, wie er seine Frau vernachlässigte und wie gleichgültig er gegen seine Kinder war; auch von den zwei älteren, schwächlichen, verkommenen, unbegabten Söhnen hatte sie mehr als genug erfahren. Gesehen hatte sie keinen von beiden im Leben, aber eines schönen Tages hatte sich in Lorridaile Park ein hübscher, schlanker junger Mensch von etwa achtzehn Jahren eingefunden und hatte sich ihr als ihr Neffe Cedrik Errol vorgestellt, der, da ihn sein Weg in diese Gegend geführt habe, nicht versäumen wolle, die Tante Constantia zu besuchen, von der ihm seine längst verstorbene Mutter viel erzählt. Der guten Dame war dabei das Herz aufgegangen, und sie hatte den Neffen eine ganze Woche festgehalten und verhätschelt und über die Maßen bewundert und hatte ihn schließlich abreisen sehen in der bestimmten Hoffnung, den frohgemuten, warmherzigen, munteren Gesellen oft und viel wieder bei sich zu sehen. Das war aber nicht geschehen, denn er fand bei seiner Heimkehr den Vater in sehr ungnädiger Laune und erhielt den gemessenen Befehl, Lorridaile Park nicht wieder zu betreten. Trotzdem bewahrte ihm die Tante ein warmes Plätzchen in ihrem Herzen, und wenn sie auch selbst die amerikanische Heirat für etwas übereilt hielt, war sie doch sehr entrüstet, als sie von der Verstoßung durch den Vater und Cedriks völligem Abgeschnittensein hörte. Schließlich drang die Kunde von seinem Tode auch zu ihr, und bald darauf erfuhr sie, daß Bevis infolge eines Sturzes vom Pferde und Maurice am römischen Fieber gestorben seien, und schließlich war dann die Geschichte von dem aus Amerika herübergeholten Lord Fauntleroy aufgetaucht.

»Der wird wohl auch zu Grunde gerichtet werden,« sagte sie zu ihrem Manne, »so gut wie die andern, es müßte denn sein, daß die Mutter energisch und gescheit genug wäre, dem Alten das Gegengewicht zu halten.«

Als sie nun vollends erfuhr, daß diese Mutter gar nicht bei ihrem Kinde sein durfte, fand sie gar keine Worte mehr für ihre Entrüstung.

»Das ist doch himmelschreiend, Harry,« sagte sie. »Stell dir doch vor, ein Kind in dem Alter von der Mutter weg und zu einem Manne wie mein Bruder. Entweder wird er barbarisch roh behandelt oder verwöhnt, daß sein Lebtag nichts Ordentliches mehr aus ihm werden kann. Wenn ich denken könnte, daß ein Brief etwas nutzen würde, so –«

»Das wäre sicher nicht der Fall, Constantia,« bemerkte Sir Harry.

»Freilich nicht, dafür kennen wir Seine Herrlichkeit! Aber ganz und gar abscheulich ist’s.«

Nicht nur bei den Pächtern des Grafen war viel von dem neuen Lord Fauntleroy die Rede, sondern der Ruf seiner Schönheit, Gutherzigkeit und seines zunehmenden Einflusses auf den Großvater drang bald in weitere Kreise, und nach kurzer Zeit verbreiteten sich die kleinen Geschichten und Anekdötchen von ihm in den Landsitzen der englischen Aristokratie. Bei Diners gab er nicht selten das Gesprächsthema ab; die Damen ergingen sich in mitleidigen Betrachtungen über das Schicksal der jungen Mutter und hätten gar zu gern gewußt, ob der Knabe wirklich so hübsch sei, wie behauptet wurde, und wer den Grafen und seine Vergangenheit kannte, lachte herzlich über des kleinen Burschen treuherzigen Glauben an seines Großvaters Güte und Liebenswürdigkeit. Sir Thomas Asshe war zufällig einmal in Erleboro gewesen und war Großvater und Enkel zu Pferde begegnet und hatte ersteren flüchtig begrüßt und ihn zu seinem guten Aussehen und der Ruhepause in seiner Gicht beglückwünscht. »Wie ein Truthahn hat sich der alte Sünder aufgebläht,« erzählte er nachher, »und zu verwundern ist es nicht, denn einen hübscheren Jungen als den amerikanischen Enkel habe ich wahrhaftig nie gesehen! Und auf seinem Pony saß das Kerlchen, stramm und sicher, wie ein kleiner Husar!«

So hatte natürlich auch Lady Lorridaile vielerlei von dem Knaben gehört und die Geschichten von Higgins, dem lahmen Kinde, dem Neubau von Grafenhof und viele andre riefen in ihr den lebhaften Wunsch hervor, ihn kennen zu lernen. Während sie im stillen ihre Pläne schmiedete, wie dies zu bewerkstelligen sei, traf zu ihrer unsäglichen Ueberraschung eine eigenhändige Einladung des Grafen für sie und ihren Gemahl ein.

»Unerhört! Unglaublich!« rief sie ein über’s andre Mal. »Nun ist kein Zweifel mehr, daß der Junge Wunder wirkt; es heißt ja, mein Bruder vergöttere ihn und lasse ihn nicht mehr aus den Augen. Und stolz und eitel sei er auf ihn – wahrhaftig, ich glaube, er will ihn uns nur zeigen.«

Angenommen wurde die Einladung und kurze Zeit darauf trafen Sir Harry und seine Frau eines Nachmittags in Schloß Dorincourt ein. Es war schon ziemlich spät und sie zogen sich, noch ehe sie den Hausherrn begrüßt hatten, auf ihre Zimmer zurück, um Toilette zum Diner zu machen. Als sie nachher den Salon betraten, stand der Graf in seiner imponierenden Größe am Kamin und neben ihm ein kleiner Junge mit einem großen van Dyck-Kragen, welcher der neuen Tante aus einem Paar so ehrlicher brauner Augen ins Gesicht sah, daß sie kaum einen Ausruf freudiger Ueberraschung unterdrücken konnte.

Als sie ihrem Bruder die Hand schüttelte, kam ihr unwillkürlich sein Vorname auf die Lippen, mit dem sie ihn seit Kindeszeiten nicht mehr angeredet hatte.

»Wie, Molyneux,« sagte sie, »ist das der Junge?«

»Gewiß, Constantia,« erwiderte ihr Bruder, »Fauntleroy, dies ist deine Großtante, Lady Lorridaile.«

»Wie geht es dir, Großtante?« sagte Fauntleroy.

Sie legte die Hand auf seine Schulter, und nachdem sie einen Augenblick in das ihr zugewandte süße Gesicht geblickt hatte, küßte sie ihn herzlich.

»Ich habe deinen armen Papa sehr lieb gehabt, und du siehst ihm ähnlich,« sagte sie bewegt. »Nenne du mich nur Tante – Tante Constantia.«

»Das freut mich, wenn man mir das sagt, denn es scheint, daß jedermann meinen Papa lieb gehabt hat, ganz wie Herzlieb auch – Tante Constantia,« setzte er nach einer kleinen Pause nicht ohne Anstrengung hinzu.

Lady Lorridaile war entzückt. Sie beugte sich noch einmal über ihn, um ihn zu küssen, und die Freundschaft war geschlossen.

»Nun, Molyneux,« sagte sie später zu dem Grafen, »besser hatte die Sache nicht ausfallen können.

»Das meine ich auch,« bemerkte ihr Bruder trocken. »Es ist ein hübscher kleiner Kerl, und wir sind sehr gute Freunde. Mich halt er für den sanftmütigsten, liebenswürdigsten Philanthropen der Welt. Da du es doch herauskriegen würdest, Constantia, will ich dir’s lieber gleich sagen: Der Junge kann mich alten Narren um den Finger wickeln.«

»Und was hält seine Mutter von dir?« fragte Lady Lorridaile mit ihrer gewohnten Unverblümtheit.

»Das habe ich sie nicht gefragt,« versetzte der Graf mürrisch.

»Höre, Bruder,« fuhr Lady Lorridaile fort, »ich will von vornherein offen und ehrlich zu Werke gehen und dir nicht vorenthalten, daß ich deine Handlungsweise ganz und gar mißbillige und fest entschlossen bin, Mrs. Errol meinen Besuch zu machen. Wenn du deshalb Streit mit mir anfangen willst, so sprich dich lieber jetzt gleich aus. Alles, was ich von dem jungen Frauchen höre, berechtigt mich zu der Annahme, daß sie den Jungen zu dem gemacht hat, was er ist; sogar deine Pächtersleute sollen sie ja verehren wie eine Heilige.«

»Sie vergöttern Cedrik,« sagte der Graf. »Was Mrs. Errol betrifft, so wirst du eine recht hübsche kleine Frau kennen lernen, und ich bin ihr eigentlich zu Dank verpflichtet, daß sie dem Jungen so viel von ihrer Schönheit abgegeben hat. Mit deinen Besuchen kannst du es nach Belieben halten, nur bitte ich mir aus, daß sie ruhig in Court Lodge bleibt, und daß du nicht etwa von mir verlangst, daß ich sie besuche.«

»So schlimm ist es lange nicht mehr mit seinem Hasse,« äußerte sich Lady Lorridaile nachher gegen ihren Gatten, »er ist überhaupt auf dem Wege, ein andrer Mensch zu werden, und, unglaublich aber wahr, er kann zu guter Letzt noch ein Herz bekommen, alles durch seine Zuneigung für den unschuldigen, goldigen kleinen Burschen. Das Kind hat ihn ja wirklich und wahrhaftig lieb. Er lehnt sich an sein Knie, wenn er mit ihm spricht; Mylords eigne Kinder hätten sich eher bei einem Tiger niedergelassen.«

»Molyneux, sie ist die bezauberndste, anmutigste Frau, die ich je gesehen habe,« erklärte Lady Lorridaile ihrem Bruder, als sie am nächsten Tage von ihrem Besuche bei Mrs. Errol zurückkam. »Ihre Stimme ist wie ein silbernes Glöckchen, und du dankst ihr alles, was du an dem Jungen hast, durchaus nicht nur die Schönheit. Dein größter Mißgriff ist, daß du sie nicht herzlich bittest, bei dir zu wohnen und für dich zu sorgen. Uebrigens lade ich sie nach Lorridaile ein.«

»Sie trennt sich nicht so weit von dem Kinde,« bemerkte der Graf.

»Dann muß der auch mitkommen,« erklärte Lady Lorridaile lachend.

Sie wußte sehr wohl, daß letzteres nicht zu erreichen gewesen wäre. Mit jedem Tage sah sie mehr und mehr, wie fest Großvater und Enkel aneinander hingen und wie alles, was der rauhe alte Mann an Ehrgeiz, Hoffnung und Herzenswärme besaß, sich auf das Kind konzentrierte, dessen liebevolle, reine Seele diese Liebe vertrauensvoll und selbstverständlich erwiderte.

Sie wußte auch, daß die eigentliche Veranlassung, in Schloß Dorincourt nach Jahren der Einsamkeit wieder eine große Gesellschaft zu geben, keine andre war, als das Verlangen, der Welt den Enkel und Erben zu zeigen und sie zu überzeugen, daß der Junge, von dem so viel gesprochen und gefabelt wurde, alle diese Schilderungen noch weit hinter sich ließ.

»Bevis und Maurice haben ihm so tiefe Demütigungen bereitet,« sagte Lady Lorridaile zu ihrem Manne, »daß er sie förmlich gehaßt hat. Jetzt kann sein Stolz endlich einen Triumph feiern.«

Angenommen wurde die Einladung von allen Seiten, und wohl nirgends, ohne daß die Gebetenen in Bezug auf Lord Fauntleroy sehr neugierig waren und die Frage besprochen wurde, ob man ihn wohl zu sehen bekommen werde.

Der Abend kam und Lord Fauntleroy war sichtbar.

»Der Junge hat so gute Manieren,« entschuldigte der Graf diese etwas ungewöhnliche Anordnung seiner Schwester gegenüber. »Er wird niemand im Wege sein. Kinder sind in der Regel Dummköpfe oder Quälgeister – die meinigen waren beides – aber er kann antworten, wenn man mit ihm spricht, und schweigen, wenn dies nicht geschieht. Unangenehm bemerklich macht er sich nie.«

Sein Talent zum Schweigen zu entwickeln fand Fauntleroy wenig Gelegenheit, denn die ganze Gesellschaft schien es darauf abgesehen zu haben, ihn zum Reden zu bringen. Die Damen waren sehr zärtlich gegen ihn und hatten alles mögliche zu fragen, und die Herren trieben ihren Scherz mit ihm, gerade wie es auf der Reise von Amerika an Bord des Dampfers gewesen war. Fauntleroy war sich zuweilen nicht klar, weshalb seine Antworten so herzliches Lachen hervorriefen, aber er hatte die Erfahrung ja schon öfter gemacht, daß die Leute lachen mußten, wenn es ihm vollkommen Ernst war, und so ließ er sich nicht drausbringen, sondern freute sich des festlichen Abends von Herzen. Alles entzückte ihn, der Lichterglanz in den prächtigen Gemächern, die herrlichen Blumen, die jeden Raum schmückten, die fröhlichen Menschen, besonders aber die Damen mit den wunderbaren, glänzenden Toiletten und den schimmernden Juwelen. Eine junge Dame war darunter – er hörte sagen, daß sie eben von London komme, wo sie die Saison mitgemacht – die war so bezaubernd, daß er kaum den Blick von ihr wenden konnte. Sie war ziemlich groß, und auf dem schlanken Halse saß ein stolzes, feines Köpfchen, von dunklem, weichem Haar umrahmt, mit großen, tiefblauen Augen und roten Lippen. Ihr ganzes Wesen hatte einen fremdartigen, wunderbaren Reiz, und weil eine Menge von Herren sie huldigend umringten und ängstlich bestrebt schienen, Eindruck auf sie zu machen, nahm Cedrik entschieden an, daß sie eine Prinzessin sein müsse. In seinem Bilderbuche hatte die Prinzessin ja auch ein weißes Atlaskleid und eine Perlenschnur um den Hals. Sein Interesse war so groß, daß er sich ihr halb unbewußt immer mehr näherte, bis sie sich endlich rasch zu ihm wandte.

»Komm doch her, Lord Fauntleroy,« sagte sie lächelnd, »und sage mir, weshalb du mich so ansiehst?«

»Weil du so schön bist,« erwiderte Seine Herrlichkeit unerschrocken.

Die umstehenden Herren brachen in ein schallendes Gelächter aus, und auch die junge Dame lachte ein wenig und errötete kaum merklich.

»Ach, Fauntleroy,« sagte einer der jungen Herren, »nutze nur deine Zeit gut! Wenn du älter bist, hast du nicht mehr den Mut, so was zu sagen.«

»Aber das muß doch jedermann sagen,« erwiderte Fauntleroy mit seinem hellen Stimmchen. »Finden Sie denn nicht, daß sie schön ist?«

»Wir dürfen aber nicht sagen, was wir denken,« versetzte der Gefragte unter erneuter Heiterkeit, so daß das schöne Mädchen, Miß Vivian Herbert, den etwas verdutzt dreinblickenden Cedrik schützend zu sich heranzog, wobei sie womöglich noch hübscher aussah als zuvor.

»Lord Fauntleroy darf sagen, was er denkt, und ich freue mich darüber – jedenfalls ist es sein voller Ernst,« erklärte sie und küßte ihn auf die Wange.

»Ich glaube, daß du schöner bist als alle Menschen, die ich je gesehen habe,« sagte Cedrik, sie voll tiefer Bewunderung ansehend, »das heißt, außer Herzlieb. Natürlich kann ich niemand ganz so schön finden, wie Herzlieb.«

»Da hast du sicher recht,« stimmte Miß Vivian Herbert lachend bei.

Sie ließ ihn den ganzen Abend nicht mehr von ihrer Seite, und der Kreis, dessen Mittelpunkt die beiden waren, that sich durch besondre Heiterkeit hervor. Cedrik konnte sich nachher nicht mehr genau darauf besinnen, wie es gekommen war, allein plötzlich war er mitten drin, den Fackelzug bei der Präsidentenwahl zu schildern und von seinen Freunden Mr. Hobbs und Dick und Bridget zu erzählen, und schließlich zeigte er mit großem Stolz Dicks Abschiedsgeschenk – das rotseidene Taschentuch.

»Ich habe es heute zu mir gesteckt,« erklärte er wichtig, »weil Gesellschaft ist und ich denke, es würde Dick freuen, wenn ich’s in Gesellschaft trage.«

Mit so großem Ernst und so inniger Zärtlichkeit sah er auf das für Dicks Geschmack nicht gerade empfehlende feuerfarbene Ding mit den Hufeisen, daß seine Zuhörer ihr Lächeln unterdrückten.

Aber trotzdem Cedrik so viel Beachtung zu teil wurde, machte er sich, wie der alte Herr vorher gesagt hatte, nie unangenehm bemerklich. Er konnte schweigen und ruhig zuhören, wenn andre sprachen, und so ward seine Gegenwart keinem Menschen lästig. Wenn er dann von Zeit zu Zeit neben seinem Großvater stand oder saß und ihm mit dem Ausdruck hingebendster Bewunderung zuhörte, glitt ein leises Lächeln über mehr als ein Gesicht. Einmal hatte er sich so nahe an seinen Stuhl gedrängt, daß seine Wange des Grafen Schulter berührte, und dieser lächelte selbst, als er die allgemeine Aufmerksamkeit auf den kleinen Vorgang gerichtet sah. Wußte er doch zu genau, was die Zuschauer dabei dachten, und er fand entschieden eine geheime Befriedigung darin, daß die Leute sahen, welch‘ gute Kameraden er und der Junge, der das landläufige Urteil über seinen Großvater so gar nicht teilte, geworden waren.

Mr. Havisham war am Nachmittag schon erwartet worden, schien sich aber auffallenderweise verspätet zu haben, was ihm in den vielen, vielen Jahren, die er in Schloß Dorincourt verkehrte, noch nicht ein einziges Mal begegnet war. Er kam erst, als man eben im Begriffe stand, zu Tische zu gehen. Als er den Hausherrn begrüßte, sah ihn dieser mit einigem Staunen an, denn der gemessene, ruhige Mann war sichtlich erregt und das scharfgeschnittene alte Gesicht war blaß.

»Ich bin durch ein unvorhergesehenes Ereignis aufgehalten worden,« erklärte er dem Grafen seine Verspätung in leisem Tone.

Aufgeregt zu sein, lag so wenig in der Art des methodischen alten Geschäftsmannes, wie Zuspätkommen, und doch machte er sich heute dieser beiden Dinge schuldig.

Bei Tische aß er kaum einen Bissen, und mehrmals, wenn er von seiner Nachbarin angeredet wurde, schien er aus tiefem Nachsinnen aufzufahren. Als Fauntleroy beim Nachtische hereinkam, blickte er ihn ein paarmal mit einer gewissen Scheu und offenbar peinlich erregt an, was Cedrik wunderte, denn er und Mr. Havisham standen sonst auf sehr gutem Fuße und pflegten sich mit freundlichem Lächeln zu begrüßen, aber an diesem Abend schien der Advokat kein Lächeln fertig bringen zu können.

Er war überhaupt nicht einen Augenblick im stande, den Gedanken an die peinvollen Mitteilungen, die er heute nacht noch dem Grafen zu machen gezwungen war, in den Hintergrund treten zu lassen, wußte er doch zu genau, welchen Stoß die befremdliche Nachricht, deren Ueberbringer er war, dem Herrn des Hauses versetzen und wie furchtbar dieselbe die gesamte Lage der Dinge verwandeln werde. Wenn er die festlich geschmückten herrlichen Räume und die glänzende Gesellschaft überflog, von welcher er besser als irgend jemand wußte, daß sie nur versammelt worden war, um den kleinen Blondkopf sich an seines Großvaters Knie schmiegen zu sehen – wenn er den alten Mann ansah, mit dem Ausdruck befriedigten Stolzes auf den harten Zügen, und den kleinen Lord Fauntleroy mit dem sonnigen Kinderlächeln, da fühlte er sich tiefer erschüttert, als es sich für solch einen eingetrockneten alten Juristen geziemte.

Auf welche Weise das feierliche, üppige Diner zu Ende ging, hätte er nicht angeben können; er war wie in langem Traume befangen und fühlte nur mehr als einmal den Blick des Grafen fragend auf sich ruhen.

Schließlich erhoben sich die Herren, um sich zu den schon nach dem Salon vorangegangenen Damen zu begeben, wo sie Lord Fauntleroy neben Miß Vivian Herbert, der gefeiertsten Schönheit der diesjährigen Londoner Saison, sitzend fanden.

»Du bist so gut gegen mich, ich danke dir schön,« hörte man die helle Kinderstimme sagen. »Ich bin noch nie bei einer Gesellschaft gewesen, und ich habe mich so furchtbar gut unterhalten.«

Er hatte sich so »furchtbar gut« unterhalten, daß, als die jungen Herren sich nun abermals um Miß Herbert scharten und fröhlich geplaudert wurde, ihm allmählich, trotz seines angestrengten Bestrebens, die hin und her fliegenden Witzworte zu verstehen, die Aeuglein zufielen. Zwei- oder dreimal schon waren die Augenlider müde herabgesunken, aber immer hatte Miß Herberts leises sympathisches Lachen ihn veranlaßt, wieder aufzublicken und sie anzusehen. Er war auch ganz entschlossen, um keinen Preis einzuschlafen, aber weil zufällig ein großes gelbes Atlaskissen hinter ihm lag, senkte sich das Köpfchen immer tiefer auf dasselbe, und schließlich fielen die braunen, glückstrahlenden Augen fest zu. Er konnte sie auch nur ein ganz klein wenig aufmachen, als, wie es ihm vorkam, nach langer, langer Zeit ein leichter Kuß seine Wange streifte.

»Gute Nacht, kleiner Lord Fauntleroy,« flüsterte Miß Vivians süße Stimme an seinem Ohr. »Schlaf wohl.«

Am andern Morgen wußte er nicht mehr, daß er mühsam die Augen halb geöffnet und schlaftrunken gemurmelt hatte: »Gute Nacht – ich bin so froh, daß ich dich gesehen habe – du – du bist – – so schön –,« nur ganz dunkel schwebte es ihm vor, daß er die Herren noch einmal hatte lachen hören, ohne zu wissen weshalb.

Kaum hatte der letzte Gast sich empfohlen, als Mr. Havisham seinen Platz am Kamin verließ und zu dem Sofa trat, wo der Knabe schlafend lag. Der kleine Lord Fauntleroy hatte sich höchst wohlig hingestreckt, die übereinandergeschlagenen Beinchen hingen über das Sofa herunter, der eine Arm war leicht um das Köpfchen gelegt, die Fülle der blonden Locken bedeckte das weiche, gelbseidene Kissen, und der rührende Friede eines gesunden, traumlosen, tiefen Kinderschlafes lag auf dem rosig angehauchten Gesicht. Es war des Ansehens wohl wert, das kleine Bild!

Mr. Havisham blickte lange darauf hin und rieb sich öfter als sonst das glatte Kinn mit der schmalen Hand, und der Ausdruck großer Bekümmernis trat immer deutlicher auf seinen Zügen hervor.

»Nun, Havisham,« fragte die rauhe Stimme des Grafen, »um was handelt es sich? Daß etwas vorgefallen sein muß, ist klar, heraus mit der Sprache.«

Mr. Havisham wandte sich langsam und zögernd von dem schlafenden Kinde ab.

»Es sind schlimme Neuigkeiten, Mylord, deren Ueberbringer ich zu meinem größten Leidwesen sein muß, höchst betrübende Dinge.«

Dem Grafen war schon den ganzen Abend unheimlich zu Mute gewesen, so oft er seinen Anwalt angesehen hatte, und dies beängstigende Gefühl machte ihn reizbar und verstimmt.

»Weshalb starren Sie nur immer den Jungen an?« rief er heftig. »Den ganzen Abend haben Sie ihn im Auge behalten, als ob – so hängen Sie doch nicht immer den Kopf über ihn hin wie ein unheilverkündendes böses Omen. Mit Lord Fauntleroy werden doch Ihre Neuigkeiten nichts zu schaffen haben.«

»Mylord, ich will ohne Umschweife zur Sache kommen. Gerade auf Lord Fauntleroy beziehen sich meine Mitteilungen, und wenn dieselben sich als richtig erweisen, so ist der Knabe, der hier schläft, überhaupt nicht Lord Fauntleroy, sondern einfach Cedrik Errol. Und der wirkliche Lord Fauntleroy ist ein Kind Ihres Sohnes Bevis und befindet sich in diesem Augenblick in einem Hotel garni in London.«

Der Graf hatte krampfhaft mit beiden Händen die Armlehnen seines Stuhles umklammert, so daß die Adern dunkelblau darauf hervortraten; auch die Stirnader trat heraus; das Gesicht war totenblaß.

»Was wollen Sie damit sagen?« keuchte er. »Sind Sie wahnsinnig geworden? Das ist eine infame Lüge!«

»Wenn es eine Lüge ist, so sieht sie der Wahrheit zum Verwechseln ähnlich. Heute früh erschien eine Frau auf meinem Bureau. Sie sagt aus, daß Ihr Sohn Bevis sie vor sechs Jahren geheiratet habe – in London; den Trauschein wies sie mir vor. Ein Jahr darauf trennten sie sich im Unfrieden und er unterhielt sie ausreichend, unter der Bedingung, daß sie ihm fernbleibe. Sie hat einen Knaben von fünf Jahren. Die Frau ist Amerikanerin, von niederem Stande, und wußte bis vor kurzem nicht, welche Ansprüche ihr Sohn erheben kann. Von einem Advokaten erfuhr sie dann, daß der Knabe rechtmäßiger Lord Fauntleroy und Erbe der Grafschaft Dorincourt sei, und macht nun natürlich ihre Ansprüche geltend.«

Das Lockenköpfchen auf dem gelbseidenen Kissen rührte sich; ein tieferes Aufatmen, wie ein schwerer Seufzer, drang zwischen den halbgeöffneten frischen Lippen hervor, verriet aber keine Unruhe. Seinen Schlummer störte es nicht, daß man beweisen wollte, daß er ein kleiner Usurpator sei, und durchaus kein Lord Fauntleroy, und nie und nimmer ein Graf und Erbe von Dorincourt werden könne. Er legte einfach sein Gesichtchen auf die andre Seite, wo der alte Mann, der ihn so erschüttert anstarrte, ihn noch besser sehen konnte.

Das Gesicht des Grafen war vollkommen verstört. Ein furchtbar bittres Lächeln verzerrte seine Züge.

»Ich würde trotz alledem und alledem kein Wort von der Geschichte glauben,« sprach er mühsam, »wenn es nicht ein so ganz und gar niederträchtiger Schurkenstreich wäre, der zum Wesen meines Sohnes so vollkommen stimmt. Er ist immer der Schandfleck unsers Namens gewesen; von jeher ein erbärmlicher, lasterhafter, ehrloser Wicht, mit den gemeinsten Instinkten – mein Sohn und Erbe Bevis, Lord Fauntleroy. Die Frau ist eine ungebildete Person?«

»Sie kann kaum ihren Namen schreiben, ist ohne jede Erziehung und ein unverblümt käufliches Geschöpf, In gewissem Sinne ist sie hübsch, aber –«

Der vornehme, alte Jurist hielt inne, offenbar von Widerwillen erfüllt.

Dunkelrot und dick angeschwollen traten die Adern auf des Grafen Stirn hervor, und eisige Schweißtropfen waren es, die er mit seinem Tuche wegwischen mußte. Immer bittrer wurde dies fürchterliche Lächeln.

»Und ich,« sagte er, »ich habe die – die andre Frau, die Mutter dieses Kindes, von mir gewiesen. Ich habe mich geweigert, sie anzuerkennen. Und die kann doch ihren Namen schreiben. Das ist vermutlich, was man Vergeltung nennt.«

Plötzlich sprang er auf und schritt im Zimmer auf und ab, wilde, leidenschaftliche Reden ausstoßend. Wie der Sturm um einen alten Eichbaum, so tobten Wut und Enttäuschung in des alten Mannes stolzem Herzen. Es war ein entsetzlicher Anblick, und doch entging Mr. Havisham nicht, daß er auch im wildesten Ausbruch seines Schmerzes der kleinen schlafenden Kindergestalt nicht vergaß und seine zornerstickte Stimme sorgsam dämpfte.

»Ich hätte es ja wissen können, daß sie mir auch übers Grab hinaus Schande anthun würden, die Söhne, die mir im Leben nichts andres bereitet haben. Wie habe ich sie gehaßt und sie mich! Bevis war der Schlimmere von den beiden. Und doch – ich will, ich will es noch nicht glauben – ich will dagegen ankämpfen, solange ich kann. Aber es sieht Bevis ähnlich – es ist meines Sohnes Art.«

Dann tobte er von neuem, und immer hin und her gehend, stellte er eine Menge Fragen in Bezug auf die Frau und ihre Beweismittel, und dunkle Glut überzog nun das vorher aschfarbene Gesicht.

Als er zuletzt alles erfahren hatte, was zu sagen war, und auch das Schlimmste wußte, überkam Mr. Havisham eine große Angst, so verändert, gebrochen und verstört sah der alte Mann aus. Seine Wutanfälle waren jederzeit unheilvoll für seine Gesundheit gewesen, dieser aber war gefährlicher, als alle früheren, weil noch ein andres als Zorn und Wut dabei mitsprach.

Endlich wurde sein Schritt langsamer und dann blieb er vor dem Sofa stehen.

»Wenn einer mir gesagt hätte, daß ich mein Herz an ein Kind hängen könnte,« sagte er, und die harte Stimme war schwach und unsicher, »ich würde ihn für einen Narren gehalten haben. Ich habe Kinder immer verabscheut – meine eignen in erster Linie. Den Jungen habe ich lieb und er hat mich lieb. Das kann ich von wenig Menschen sagen, aber von ihm. Er hat sich nie vor mir gefürchtet, er hat vom ersten Augenblick an unverbrüchlich an mich geglaubt. Das weiß ich, daß er meine Stellung besser ausgefüllt haben würde, als ich es je gethan habe; er hätte dem Namen Ehre gemacht.« Er beugte sich über das süße, friedlich schlummernde Gesicht. Die dichten Augenbrauen waren finster zusammengezogen, aber trotzdem hätte sein Gesicht in diesem Augenblicke niemand Furcht eingeflößt. Er strich leise das blonde Haar von der reinen, klaren Stirn, dann drückte er rasch auf die Klingel.

»Tragen Sie,« sagte er, auf das Sofa deutend, zu dem eintretenden Diener, »tragen Sie Lord Fauntleroy auf sein Zimmer.«

Seine Stimme habe sonderbar geklungen, dachte der Mann.

Zehntes Kapitel

Nachdem Mr. Hobbs von seinem jungen Freunde Abschied genommen hatte und nun von Tag zu Tage mehr zur Erkenntnis kam, daß der Atlantische Ozean zwischen ihm und dem kleinen liebenswürdigen Kameraden lag, fing es in der »gemischten Warenhandlung« an trübselig auszusehen. Mr. Hobbs gehörte weder zu den hervorragenden Intelligenzen, noch zu den gesellschaftlichen Umgangsmenschen und hatte mit seiner schwerfälligen Art nie viele Verbindungen anzuknüpfen verstanden. Er war viel zu phlegmatisch, um sich auf irgend eine Weise an Vergnügungen zu beteiligen, und seine einzige Unterhaltung bestand im Studium der Zeitung, während seine geistige Arbeit sich auf seine nicht gerade korrekte Buchführung beschränkte. Letztere hatte ihre Schwierigkeiten, denn das Addieren langer Zahlenreihen war des würdigen Mannes Stärke eben nicht, und zuweilen dauerte es sehr lange, bis er damit ins reine kam. In der schönen, nun für immer dahingeschwundenen Zeit ihrer Freundschaft hatte der kleine Lord Fauntleroy, der ganz nett auf der Schiefertafel rechnen konnte, hier und da ausgeholfen und das saure Werk gefördert, und dann war er ein so geduldiger aufmerksamer Zuhörer gewesen und hatte sich für alles, was in den Zeitungen stand, aufrichtig »’tressiert,« und wie gläubig hatte er Mr. Hobbs‘ Ansichten über die Revolution und die Engländer, die Präsidentenwahl und alle Parteifragen entgegengenommen – kein Wunder, daß er in dem Leben des würdigen Krämers eine gähnende Lücke hinterlassen hatte. Anfangs war es dem vereinsamten Freunde vorgekommen, als ob Cedrik gar nicht so weit weg sei und stündlich wiederkehren könnte, als ob es nicht anders sein könnte, als daß er eines Tages, von seiner Schreiberei aufblickend, den kleinen Burschen unter der Ladenthür stehen sehen würde, in dem weißen Anzug mit den roten Strümpfen, den Hut im Nacken sitzend, und mit seinem hellen Stimmchen das bekannte: »Hallo, Mr. Hobbs! Heißer Tag heute – nicht?« rufend. Aber als ein Tag um den andern verging und dieses erfreuliche Ereignis nicht eintrat, da wurde es Mr. Hobbs traurig und unheimlich ums Herz. Nicht einmal an seiner Zeitung fand er den rechten Genuß, und oft und viel legte er das Blatt, nachdem er es durchgelesen, auf den Schoß und blickte lange in Wehmut und trübselige Gedanken versunken auf die hohen gespreizten Beine des Stuhles an seiner Seite, deren Anblick ihn noch weicher und melancholischer stimmte. Trugen diese hohen Stuhlbeine doch tiefe Eindrücke von den kleinen Schuhen des edlen Lord Fauntleroy, künftigen Grafen Dorincourt, dessen blaues Blut ihn merkwürdigerweise nicht abgehalten hatte, im Eifer des Gespräches mit den Beinen zu baumeln und die Absätze kräftig gegen das Stuhlbein zu schlagen. Wenn Mr. Hobbs lange genug auf diese geweihten Fußspuren geblickt hatte, dann zog er wohl die goldne Uhr aus der Westentasche, öffnete sie und las die Inschrift: »Mr. Hobbs von seinem ältesten Freunde, Lord Fauntleroy. Die Uhr, sie spricht, vergiß mich nicht,« worauf er sie mit lautem Knacksen zudrückte, tief aufseufzte und unter die Ladenthür trat, von wo er in geschmackvoller Umrahmung durch Kartoffelsäcke und Aepfelkisten die Straße entlang blickte. Abends, wenn das Geschäft geschlossen war, zündete er dann wohl seine Pfeife an und spazierte wuchtigen, bedächtigen Schrittes bis an das kleine Haus, das Cedrik bewohnt hatte, und das mit seinem weißen Zettel: »Zu vermieten« gar öde und unwohnlich dreinschaute, sah dran hinauf, schüttelte den Kopf, paffte mächtige Rauchwolken aus seiner Pfeife und wandelte gepreßten Herzens wieder nach Hause.

So gingen zwei oder drei Wochen dahin, ehe ein neuer Gedanke in ihm aufdämmerte. Mr. Hobbs‘ Gedanken hatten stets einen gründlichen, langwierigen Entwickelungsprozeß durchzumachen, und wenn einmal wirklich einer ins Leben getreten war, pflegte er ihn so unbequem zu finden, wie ein Paar neuer Stiefel. Nachdem sich aber sein Gemütszustand in dieser Zeit eher verschlimmert, als gebessert hatte, gedieh ein ganz nagelneuer Plan schließlich zur Reife. Er wollte Dick aufsuchen. Es war gut, daß er den Tabak seinem eignen Geschäft entnehmen konnte, denn er mußte unzählige Pfeifen rauchen, bis er zu diesem festen Entschlüsse gelangte. Er wollte Dick aufsuchen, Cedrik hatte ihm viel von dem Freunde erzählt, und es lebte ein unbestimmtes Gefühl in ihm, daß er vielleicht in Dick einigen Ersatz und einige Erleichterung für sein Mitteilungsbedürfnis finden konnte.

Als Dick eines Tages mit größter Energie die Gehwerkzeuge eines Kunden bearbeitete, ereignete es sich, daß ein untersetzter, stämmiger Mann mit einem runden Kopfe und spärlichen Haaren auf dem Trottoir stehen blieb und unverwandt Dicks Schuhputzerzeichen anstarrte und die Inschrift:

Professor Dick Tipton, Schwarzkünstler

studierte, was endlich Dicks Interesse lebhaft erregte, und ihn, nachdem der erste Kunde einstweilen im Besitze spiegelblanker Stiefel abgezogen war, zu der Frage veranlaßte: »Stiefel wichsen, Sir?«

Mit entschlossener Miene trat der Mann vor und setzte den Fuß auf die kleine Bank.

»Ja,« sagte er bestimmt.

Während Dick sein Kunstwerk mit Eifer begann, sah der breitschulterige Mann bald ihn, bald das Schild aufmerksam an.

»Woher haben Sie das Ding?« fragte er.

»Von einem Freunde von mir,« erwiderte Dick, »von einem Knirps. Hat mir die ganze Einrichtung geschenkt. War der beste kleine Kerl, den’s gibt. Ist in England jetzt. Soll so ein – so ein Lord werden da drüben.«

»Lor – Lord?« fragte Mr. Hobbs mit bedeutsamer Langsamkeit. »Lord Fauntleroy, hm? Künftiger Graf Dorincourt?«

Um ein Haar hatte Dick die Bürste fallen lassen.

»Donnerwetter,« rief er, »Sie kennen ihn?«

»Ich habe ihn gekannt,« versicherte Mr. Hobbs, sich die feuchte Stirn trocknend, »seit er überhaupt auf der Welt ist. Jugendfreunde – ja, Jugendfreunde sind wir gewesen.«

Es verursachte ihm wirklich eine gewisse Gemütsbewegung, von seinem Freunde zu sprechen. Er zog die prachtvolle goldne Uhr aus der Tasche, klappte den Deckel auf und wies Dick die Inschrift.

»Das war’s, was er mir als Andenken gab vor der Abreise. ›Ich will nicht, daß Sie mich vergessen,‹ so hat er Wort für Wort gesagt. Hätt‘ ihn auch nicht vergessen, meiner Seel‘!« fuhr er kopfschüttelnd fort, »wenn er mir auch kein Andenken gegeben hätte, und wenn ich auch mein Lebtag nichts mehr von ihm zu sehen kriegte. Den vergißt keiner.«

»Der netteste Bursche war er,« stimmte Dick bei, »den die Sonne je gesehen hat. Und Grütze im Kopf. Hab‘ mein Lebtag nicht so viel Grütze bei so einem Knirps gesehen. Habe große Stücke auf ihn gehalten, das ist wahr, wir sind auch Freunde gewesen, so auf eine Art, das will ich meinen. Seinen Ball habe ich ihm unter einer Kutsche vorgeholt und das, das hat er mir nie nicht vergessen, der kleine Kerl! Und da ist er heruntergekommen zu mir mit seiner Mutter oder seiner Mamsell und dann schrie er: »Hallo, Dick,« als ob er ein sechs Fuß hoher Bengel wäre und gerade der rechte Kamerad für mich, und dabei war der Guck in die Welt nicht so hoch wie mein Kasten und steckte noch im Mädelsrocke. Ein fideles kleines Haus war es, und wenn es einem einmal schief ging, that es einem gut, mit ihm zu diskutieren.«

»So ist’s,« bestätigte Mr. Hobbs, »und Sünd‘ und Schand‘ ist’s, aus dem einen Grafen zu machen. Der hätt’s zu was gebracht in der Spezereibranche oder auch im Ellenwarengeschäft – aus dem hätte sich was machen lassen,« und er schüttelte sein massives Haupt mit tiefem, ehrlichem Bedauern.

Es zeigte sich bald, daß die neuen Bekannten so viel miteinander zu besprechen hatten, daß die Sache sich nicht auf der Straße abmachen ließ, und so wurde verabredet, daß Dick am folgenden Abend sich bei Mr. Hobbs im Geschäft einfinden sollte, was dem jungen Manne außerordentlich einleuchtete. Er war ein Kind der Straße von klein auf, aber in ihm lebte von jeher eine gewisse Sehnsucht nach einer ehrbaren, bürgerlichen Existenz. Seit er sein Gewerbe allein betrieb, hatte sich seine Einnahme so ansehnlich gesteigert, daß er sich ein Nachtlager unter Dach und Fach gönnen konnte, und keine Haustreppen mehr als solches zu benutzen gezwungen war, und allmählich gestattete er sich auch den Luxus, Pläne zu schmieden und nach noch Höherem zu streben. Die Einladung zu einem so umfangreichen, ansehnlichen Manne, der einen eignen Laden und sogar Wagen und Pferde zur Beförderung seiner Waren besaß, war ein bedeutender Schritt auf dem Wege zu einer höheren Lebensstellung.

»Ist Ihnen über Grafen und Schlösser vieles bekannt?« erkundigte sich Mr. Hobbs. »Ich möchte gern mehr Einzelheiten über diese Sachen wissen.«

»In der Penny Story Gazette kommt eine Geschichte, wo sich’s um vornehme Leute handelt. Sie heißt: ›Das Verbrechen einer Krone‹ oder ›Die Rache der Gräfin May.‹ Kurioses Zeug ist’s, aber ganz famos. Ein paar von uns lesen’s.«

»Bringen Sie mir das Blatt mit, ich will’s bezahlen,« erklärte Mr. Hobbs mit Würde. »Bringen Sie mir alles, wo ein Graf drin vorkommt, und wenn’s kein Graf ist, so thut’s auch ein Marquis oder ein Herzog, obwohl er allerdings immer nur von einem Grafen gesprochen hat. Ueber Grafenkronen haben wir uns auch unterhalten, gesehen habe ich aber nie welche. Denk‘ mir, hier herum sind keine zu haben.«

»Wenn’s einer hätte, wär’s Tiffany,« sagte Dick, »weiß aber nicht, ob ich sie kennen würde, wenn ich eine zu sehen kriegte.«

Mr. Hobbs fand es nicht für nötig, zu gestehen, daß er selbst auch keine Vorstellung von der Beschaffenheit eines solchen Dings habe, sondern schüttelte nur bedächtig den Kopf und bemerkte: »Vermutlich keine Nachfrage nach dem Artikel bei uns,« womit die tiefsinnige Frage ihre Erledigung gefunden hatte.

Damit war der Anfang zu einer Freundschaft gemacht, die für den einen Teil auch ihre materiellen Vorteile hatte, denn Mr. Hobbs nahm seinen neuen Bekannten mit großer Gastfreundschaft auf. Er stellte ihm einen Stuhl nahe an die Thüre in der unmittelbaren Nachbarschaft des großen Apfelfasses, und nachdem der Besucher Platz genommen, sagte er mit einer einladenden Handbewegung: »Versehen Sie sich.«

Er besah sich dann die mitgebrachten Blätter mit dem Grafenroman, sie lasen einen Teil der Geschichte miteinander und besprachen die Verhältnisse der englischen Aristokratie mit großer Sachkenntnis. Mr. Hobbs dampfte sein edles Kraut dabei und schüttelte sehr häufig das rundliche Haupt, am häufigsten, als er dem mitfühlenden Dick die denkwürdigen Scharten an den hohen Stuhlbeinen vorwies.

»Die kommen von seinen Füßchen,« sagte er nachdrücklich. »Ich sitze oft stundenlang da und seh‘ mir sie an. Ja, ja, in dieser Welt geht’s bald auf, bald ab mit uns. Da saß er und knabberte Biskuits aus der Büchse und Aepfel aus dem Faß und warf das Kerngehäus auf die Straße ’naus, und jetzt sitzt er in einem Schlosse und ist ein Lord. Die Scharten da an dem Stuhl haben eines Lords Stiefel geschlagen! Manchmal, wenn ich daran denk‘, muß ich immer wieder sagen: Da will ich mich doch gleich räuchern lassen.«

Diese Betrachtungen und Dicks Besuch schienen seinem Gemüt eine große Wohlthat zu gewähren. Ehe Dick sich empfahl, ward in dem kleinen Ladenstübchen eine Mahlzeit, bestehend aus Biskuits, Käse, Sardinen und einigen andern Artikeln der Handlung abgehalten und Mr. Hobbs öffnete nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit eine halbe Weinflasche und goß die Gläser voll.

»Sein Wohl!« sprach er, »und er soll denen drüben was zu raten aufgeben – den Grafen und Marquisen und wie das Volk heißt.«

Von da an ward der Verkehr fleißig fortgesetzt, und Mr. Hobbs fühlte sich nun weit weniger vereinsamt und verlassen. Sie lasen die Penny Story Gazette und vieles andre miteinander und nahmen sichtlich zu an Verständnis für die vornehme Welt, und zwar in einer Weise, welche für die verhaßten Aristokraten manches Ueberraschende gehabt haben würde. Eines Tages raffte sich Mr. Hobbs sogar zu einem richtigen Bücherkauf auf und setzte den in der Buchhandlung thätigen jungen Mann durch seine Frage nach einem Buche über Grafen in einiges Erstaunen. Nachdem lang über ein derartiges litterarisches Erzeugnis hin und her geredet worden war und verschiedene Mißverständnisse sich aufgehellt hatten, trat Mr. Hobbs im Besitz von »Der Tower von London von Mr. Harrison Ainsworth« hochbefriedigt den Rückweg an.

Sobald Dick erschien, machten sie sich über die neue Erwerbung her, und es zeigte sich, daß es ein höchst wunderbares und spannendes Buch war, welches in der Zeit der sogenannten »Blutigen Maria« spielte. Als sie nach und nach daraus ersahen, wie sehr es zu den Liebhabereien dieser englischen Königin gehört hatte, den Leuten die Köpfe abzuhacken und sie lebendig zu verbrennen, geriet Mr. Hobbs in große Unruhe.

Freilich hatten seine Zeitungen, soviel er sich erinnern konnte, aus unsrer Zeit derartige Dinge nicht gemeldet, aber was ließ sich nicht erwarten von einem Land, das einmal eine solche Königin hervorgebracht hatte, und das auch jetzt wieder unter der Oberhoheit eines weiblichen Wesens stand, was Mr. Hobbs in seiner Eigenschaft als überzeugter Junggeselle ohnehin nicht billigen konnte? Was ließ sich erwarten von einem Volk, das, wie Mr. Hobbs »hatte sagen hören«, nicht einmal den vierten Juli feierte!

Mehrere Tage trug Mr. Hobbs bange Sorge im Herzen, und erst als Fauntleroys Brief eintraf, wurde ihm etwas leichter zu Mut. Er las ihn mehrmals, für sich allein und mit Dick, und auch den Brief, welchen Dick um dieselbe Zeit erhielt, studierte er gründlich. Beide waren sehr glücklich im Besitz dieser Schriftstücke, deren Inhalt und Wortlaut sie eingehend miteinander besprachen. Die Antworten nahmen Tage in Anspruch und wurden fast ebenso oft überlesen und überlegt, wie die kürzlich empfangenen Briefe.

Für Dick war es ohnehin kein leichtes Stück Arbeit, einen Brief zu schreiben. Was er von den Geheimnissen der Lese- und Schreibekunst sein eigen nannte, hatte er in ein paar Monaten, in denen er eine Abendschule besuchen konnte, erworben – es war zu der Zeit gewesen, als er mit seinem älteren Bruder zusammenlebte. Er war ein aufgeweckter Bursche und hatte diese einzige Gelegenheit, sich zu bilden, wohl zu benutzen gewußt und sich von da an durch anfangs äußerst mühsames Zeitungslesen weitergeholfen: das Schreiben aber konnte nur durch gelegentliche Versuche mit einem Kreidestücke auf Mauern oder Trottoir fortgesetzt werden. Er erzählte Mr. Hobbs vieles von seinem Leben und dem älteren Bruder, der nach Kräften gut gegen ihn gewesen war, nachdem er als kleiner Kerl schon Vater und Mutter verloren hatte. Der Bruder hieß Ben und hatte sich des Kleinen angenommen, soviel er eben konnte, bis Dick alt genug war, um Zeitungen in der Straße feilzuhalten. Sie hatten sich nie getrennt, und Ben hatte sich ganz ordentlich durchgearbeitet und schließlich einen anständigen Posten in einem Laden errungen.

»Und dann,« rief Dick, noch in der Erinnerung empört, »muß ihn der Teufel reiten, daß er heiratet. Einfach verrückt wird er über ein Mädel und mir nichts dir nichts wird geheiratet! Und eine nette Sorte war’s, der aufgelegte Feuerteufel. Wenn die in Wut kam, schlug sie einfach alles zusammen, und wütend war sie schier den ganzen Tag. Ihr Kind – gerade so! Der Balg plärrte Tag und Nacht. Und wenn ich ihn nicht ‚rumschleppen wollte und das Ding quiekste – brr! da flog mir’s an den Kopf. Einmal war’s ein Teller, der traf aber nicht mich, sondern den Jungen und hat ihms Kinn zerschnitten, daß es zum Erbarmen war. ›Die Narbe behält er sein lebenlang‹ hat der Doktor gesagt. Ne kuriose Mutter war die! Zum Henker! Haben wir ein Höllenleben gehabt alle drei, Ben und ich und das Wurm. Ueber Ben ging’s den ganzen Tag los, weil er nicht mehr zusammenbrachte: schließlich wollt‘ er’s mit was anderm im Westen probieren, mit Viehhandel. Kaum ist er eine Woche fort und ich komm‘ abends heim vom Zeitungsverkaufen – wupp, sind die Stuben leer, die Frau im Hause aber sagt mir, Dame Minna sei mir nichts dir nichts auf und davon – hast du nicht gesehen! Irgendwer hat behauptet, sie sei übers Wasser, um bei einer Dame Kindsfrau zu werden – nett für die! Fort und verschwunden war sie und weder Ben noch ich hörten mehr was von ihr. Ich an seiner Stell‘ war froh gewesen, die los zu sein, aber er war’s nicht; du lieber Himmel, war der verliebt bis über die Ohren, wenigstens im Anfang. Na, sauber war sie, wenn sie aufgeputzt war und gerad‘ nicht in Wut. Ein Paar pechschwarze Augen im Kopfe und schwarzes Haar bis zu den Knieen, das hat sie zu einem Strick gedreht, dick wie mein Arm, sag‘ ich Ihnen, und um den Kopf ‚rum gelegt, weiß nicht, wie oft, Herr, und die Augen, wen sie so damit anblitzen wollte! Es hieß, sie sei halb italienisch – ihre Eltern kamen von dort, drum sei sie so schief gewickelt. Das war eine Person – na so was!«

Ben schrieb seinem Bruder hie und da aus dem Westen. Lang war es ihm schlecht genug ergangen, und er hatte viel umherwandern müssen, schließlich aber hatte er sich in Kalifornien auf einer Farm, wo die Viehzucht im großen betrieben wurde, festgesetzt und hatte um die Zeit, als Dicks Beziehungen zu Mr. Hobbs angeknüpft wurden, seinen regelmäßigen Verdienst.

»Das Weib, das hat ihn um seine fünf Sinne gebracht,« sagte Dick. »Mir hat der arme Teufel oft leid gethan.«

Sie saßen eben miteinander unter der Ladenthüre, und Mr. Hobbs stopfte seine Pfeife.

»Er hätte nicht heiraten sollen,« sprach er orakelhaft, während er aufstand, um sich ein Zündhölzchen zu holen. »Weiber – ich für mein Teil hab‘ nie begreifen können, zu was die gut sein sollen.«

Während er das Zündhölzchen bedächtig aus der Schachtel nahm, warf er einen Blick auf sein Pult.

»Zum Kuckuck!« rief er, »da liegt ja ein Brief! Hab‘ den vorhin gar nicht gesehen. Der Briefträger hat ihn wohl nur so hingelegt, oder hat die Zeitung drüber gelegen?«

Er nahm ihn auf und studierte die Adresse.

»Der ist ja von ihm!« lautete seine Ansicht. »Von ihm und von keinem andern!«

Die Pfeife war vergessen; ganz aufgeregt setzte er sich wieder, zog sein Taschenmesser heraus und schnitt mit liebevoller Vorsicht das Couvert auf.

»Will nur sehen, was er diesmal Neues weiß,« bemerkte er.

Dann entfaltete er das Blatt und las seinem neuen Freunde folgendes vor:

Schloß Dorincourt.

»Mein lieber Mr. Hobbs. ich schreibe das in großer Eile weil ich ihnen etwas wunderliches zu sagen habe worüber sie sich ser erstaunen würden mein lieber Freund wenn sie es hören, es ist alles ein irtum und ich bin kein Lord und ich mus nie ein Graf werden weil eine Dame da ist die war mit meinem Onkel Bevis ferheirathet der jetz tod ist und sie hat einen kleinen son und der ist Lord Fauntleroy denn so ist es in England das der kleine son von dem eltesten son des Grafen Graf wird wenn alle andern tod sind ich meine wenn sein fater und Großvater tod sind, mein Großvater ist nicht tod aber mein Onkel Bevis und deshalb ist sein son Lord Fauntleroy weil mein fater der jüngste son gewesen ist und meine nahme ist Cedrik Errol ganz wie früher in New York und alles gehört dem andern Knaben, im Anfang habe ich gedagt, ich müsse im auch meinen Pony und meinen wahgen geben aber mein Großvater hat gesagt das müsse ich nicht und meinem Großvater tut es ser leid und ich glaube er hat die Dame gar nicht ser gerne aber filleicht denkt er das herzlieb und ich traurig sein weil ich kein Graf werde ich würde jetz fiel lieber ein Graf werden als im anfang weil dis ein schönes schlos ist und ich alle leute lieb habe und wenn man reich ist kann man so fieles tun. und bin jetz nicht reich weil mein Papa nur der jüngste son ist und der jüngste son ist nie ser reich ich wil deshalb arbeiten lernen damit ich für herzlieb sorgen kann ich habe mit Wilkins gesprochen filleicht kan ich reitknecht werden oder kutscher weil ich die ferde ser lieb habe.

Die Dame hat iren kleinen son in das schlos gebracht und mein Großvater und Mr. Havisham haben mit ir gesprochen ich glaube sie ist ser böse geworden und hat ser laut gesprochen und mein Großvater ist auch ser böse geworden und forher habe ich in nie böse gesehn ich habe gedagt ich will es inen und Dick nur schnel erzälen weil es sie ser tressiren wird. Herzlich grüst

ir alter Freund

Cedrik Errol (nicht Lord Fauntleroy).«

Mr. Hobbs sank in seinen Stuhl zurück, der Brief zitterte in seiner Hand, Federmesser und Couvert glitten an die Erde.

»Da bin ich doch gleich geräuchert worden,« stieß er hervor.

So groß war sein Schreck, daß sein Lieblingsausspruch eine andre Form annahm. Vielleicht war er auch geräuchert in dieser Stunde, kein Mensch kann so etwas wissen.

»Na,« sagte Dick, »da wäre also die ganze Herrlichkeit futsch – nicht?«

»Futsch!« wiederholte Mr. Hobbs mit Grabesstimme. »Und eine abgekartete Geschichte ist’s von dem britischen ‚ristokratenvolk, den Jungen auszuräubern, weil er ein Amerikaner – das ist meine Meinung. Die Kerls haben einen Haß gegen uns von der Revolution her, und an ihm lassen sie’s aus. Hab‘ ich’s Ihnen nicht gesagt, als wir von der Wirtschaft von den Königinnen da drüben lasen? – Der Junge ist da nicht sicher – na, da haben’s wir ja. Vermutlich steckt die ganze Regierung dahinter, und ’s ist eine Verschwörung, um dem Jungen sein Recht zu nehmen.«

Die Aufregung war groß. Anfangs hatten ihm die veränderten Lebensumstände seines jungen Freundes keineswegs eingeleuchtet, neuerdings hatte er sich mehr mit dem Gedanken befreundet, und nach Empfang von Cedriks Brief hatte sich sogar eine geheime Genugthuung über dessen Standeserhöhung fühlbar gemacht. Ueber Grafen konnte man ja denken, wie man wollte, aber daß der Reichtum seine Vorzüge hat, wird sogar in Amerika anerkannt, und wenn so großer Besitz zu dem Titel gehörte, so war es doch schwer, denselben wieder abzutreten.

»Plündern wollen sie ihn ganz einfach!« rief er, »und wer das Geld hätte, müßte ohne weiteres nach ihm sehen und ihm zu Hilfe kommen.«

Bis tief in die Nacht hinein zog sich diesmal Dicks Besuch hin, und schließlich gab ihm Mr. Hobbs noch das Geleit bis an die Ecke der Straße, wo er dann eine Weile stehen blieb und auf das wehmütige, immer noch vorhandene Plakat: »Zu vermieten« hinstarrte, bis er endlich in tiefer Bekümmernis seine Pfeife zu Ende rauchte.

Fünftes Kapitel

Es war spät am Nachmittag, als der Wagen, der den kleinen Lord Fauntleroy und Mr. Havisham zum Schlosse brachte, die lange Avenue daherrollte. Der Graf hatte angeordnet, daß sein Enkel kurz vor Tische im Schlosse eintreffen und ferner, daß er, aus nur ihm bekannten Gründen, allein in das Zimmer geführt werden sollte, wo er ihn zu empfangen gedachte. Cedrik lehnte sich behaglich in die Wagenkissen zurück und beobachtete alles mit großem Interesse. Der Wagen selbst, die großen stattlichen Pferde mit ihrem blitzblanken Geschirre, der würdevolle Kutscher und der stattliche Diener in ihren eleganten Livreen, alles fesselte seine Aufmerksamkeit.

Als der Wagen vor dem Parkthore hielt, beugte er sich aus dem Fenster, um die riesigen steinernen Löwen zu studieren, die den Eingang schmückten. Aus der hübschen epheuumrankten Portierswohnung trat eine rundliche, freundliche Frau, um das Thor zu öffnen. Zwei Kinder folgten ihr auf dem Fuße und starrten mit weit aufgerissenen, verwunderten Augen auf den kleinen Jungen im Wagen, indes die Mutter lächelnd knickste.

»Kennt sie mich denn?« fragte Lord Fauntleroy seinen Begleiter. »Ich glaube, sie weiß, wer ich bin,« und dabei nahm er seine schwarze Samtmütze ab und grüßte freundlich.

»Guten Tag!« sagte er mit heller Stimme. »Wie geht’s Ihnen?«

Die Frau war sichtlich erfreut, sie lachte übers ganze Gesicht, und ihre blauen Augen blickten ihn warm und herzlich an.

»Gott segne Eure Herrlichkeit!« sagte sie. »Gott segne Ihr freundliches Gesicht! Glück und Frohsinn Euer Herrlichkeit! Willkommen in Dorincourt!«

Lord Fauntleroy schwenkte seine Mütze und nickte ihr mehrmals zu, indes der Wagen weiter fuhr.

»Die Frau gefällt mir,« sagte er. »Sie sieht aus, als ob sie Freude an Jungens hätte. Ich werde sie besuchen und mit den Kindern spielen – ob sie wohl so viele hat, daß man eine ordentliche Compagnie zusammenbringen könnte?«

Mr. Havisham hielt es nicht für nötig, ihm zu sagen, daß er schwerlich Erlaubnis erhalten werde, mit den Portierskindern Kameradschaft zu schließen – derlei Weisheit kam immer noch zeitig genug.

Der Wagen fuhr rasch dahin zwischen den prachtvollen alten Riesenbäumen, deren Zweige sich bis auf den Boden ausbreiteten. Cedrik wußte nicht, daß das Schloß Dorincourt einer der schönsten Landsitze Englands war und daß der Park und seine alten Bäume ihresgleichen suchten, aber er empfand die Schönheit, die ihn umgab. Die untergehende Sonne warf ihre schrägen Strahlen auf den Rasen, ringsum herrschte tiefe, wundersame Stille. Mehrmals fuhr der Knabe mit einem kleinen Aufschrei in die Höhe, wenn ein Kaninchen aus dem Blätterwerk huschte, und als plötzlich ein Volk Rebhühner vor ihnen aufstieg, klatschte er glückselig in die Hände.

»Hier ist’s aber schön!« rief er. »So was habe ich nie gesehen. Es ist schöner als der Centralpark!«

Die lange Dauer der Fahrt setzte ihn sehr in Erstaunen.

»Wie weit ist es denn,« fragte er endlich, »vom Parkthor bis zum Schlosse?«

»Drei bis vier Meilen,« erwiderte Mr. Havisham.

»Einen langen Weg hat der Großvater bis zu seinem eignen Thore,« bemerkte der kleine Lord nachdenklich.

Jeden Augenblick entdeckte er etwas Neues, als er aber das Hochwild gewahrte, das teils im Grase lag, teils auf das Geräusch des Wagens hin die hübschen Köpfe mit den mächtigen Geweihen erhoben hatte, war er ganz außer sich.

»Ist denn ein Cirkus dagewesen,« rief er jubelnd, »oder leben die immer hier? Wem gehören sie?«

»Deinem Großvater,« belehrte Mr. Havisham.

Bald darauf kam das Schloß in Sicht. Der schöne, stolze Bau erhob sich grau und ehrwürdig vor ihnen, die letzten Strahlen der Abendsonne glitzerten auf den zahlreichen Fenstern. Giebel und Türme und Zinnen hoben sich klar vom Abendhimmel ab, der ganze Bau war von üppigem Epheu umrankt und auf den breiten Terrassen, die zum Eingang hinaufführten, waren reiche, farbenprächtige Blumenbeete.

»Das ist das Allerschönste, was ich je gesehen habe,« rief Ceddie mit leuchtenden Augen. »Wie ein Königsschloß, so war gerade eins in meinem Märchenbuche!«

Er sah, wie die schweren Thürflügel aufgerissen wurden, und sah die Dienerschaft in zwei Reihen antreten, was ihn sehr in Erstaunen setzte, da es ihm nicht in den Sinn kam, daß dies zu Ehren des kleinen Jungen geschah, dem einst all‘ diese Pracht und Herrlichkeit zu eigen sein würde – das Schloß aus dem Märchenbuche, die großen alten Bäume, der herrliche Park, die Gründe voll Farnkraut und Glockenblumen, wo die Hasen und Kaninchen umhersprangen und die großäugigen gefleckten Hirsche und Rehe, die im tiefen Grase lagerten. Kaum ein paar Wochen war es her, daß er in Mr. Hobbs‘ Laden gesessen hatte und seine Beinchen von dem hoben Schreibstuhle herunterbaumelten, und er konnte unmöglich all diese Pracht und Feierlichkeit auf sein kleines Ich beziehen. An der Spitze der Dienerschaft stand eine ältliche Frau in glattem, schwerem schwarzen Seidenkleide, mit einer Haube auf dem grauen Haare. Als er die Halle betrat, stand sie ihm zunächst und Cedrik sah ihr an, daß sie mit ihm sprechen wolle. Mr. Havisham, der ihn an der Hand führte, stand einen Augenblick still.

»Hier bringe ich Lord Fauntleroy, Mrs. Mellon,« sagte er. »Lord Fauntleroy, dies ist Mrs. Mellon, die Haushälterin.«

Cedrik gab ihr mit einem freudigen Aufleuchten die Hand.

»Haben Sie uns die Katze geschickt?« fragte er. »Ich danke Ihnen tausendmal dafür!«

Das hübsche Gesicht der alten Frau glänzte gerade so freudig wie das der Portiersfrau.

»Ich würde Seine Herrlichkeit an jedem Orte erkannt haben,« sagte sie zu Mr. Havisham, »er ist ja ganz und gar sein Vater. Das ist ein großer Tag heute, Sir.«

Cedrik sah sie neugierig an und hätte für sein Leben gern gewußt, weshalb gerade heute ein großer Tag sei. Noch befremdlicher war ihm, daß sie Thränen in den Augen hatte und doch offenbar nicht traurig war, denn sie lächelte ihn freundlich an.

»Die Katze hat zwei wunderhübsche Junge hier gelassen,« sagte sie, »man wird sie sofort auf Eurer Herrlichkeit Zimmer bringen.«

Mr. Havisham richtete halblaut eine Frage an sie.

»In der Bibliothek, Sir,« erwiderte Mrs. Mellon. »Der Lord Fauntleroy soll allein vorgelassen werden.«

Ein paar Minuten darauf öffnete der stattliche Livreebediente, der Cedrik zu der Bibliothek geführt hatte, die Thür derselben und meldete: »Lord Fauntleroy, Mylord.« Er that es mit besondrer Feierlichkeit, denn auch er fühlte, daß es ein großer Moment war, wo der Erbe sein Eigentum betrat und dem Familienhaupte vorgestellt wurde, dessen Rang und Besitz dereinst sein eigen werden sollte.

Cedrik schritt über die Schwelle. Es war ein großer, prächtiger Raum mit schweren, geschnitzten, eichnen Möbeln, die Wände bis hoch hinauf mit Büchergestellen bedeckt. Die Möbel waren so dunkel, die Vorhänge so schwer, die Fensternischen so tief und die Entfernung zwischen Thür und Fenster so groß, daß nun, nach Sonnenuntergang, der ganze Eindruck des Raumes ein düsterer war. Im ersten Augenblicke glaubte Cedrik, daß überhaupt niemand im Zimmer sei, entdeckte aber gleich darauf vor dem Feuer, das trotz des warmen Abends in dem riesigen Kamin brannte, in einem bequemen, Lehnstuhl eine Gestalt, die sich aber nicht nach ihm umwendete.

Bei einem andern Bewohner des Zimmers hatte er jedoch Aufmerksamkeit erregt. Neben dem Lehnstuhle lag an der Erde ein Hund, eine ungeheure braungelbe Dogge, fast so groß und gewaltig wie ein Löwe – majestätisch und langsam erhob sich das mächtige Tier und ging mit schwerem, wuchtigem Schritt auf die schlanke Kindesgestalt zu.

»Dougal,« erklang nun eine Stimme aus dem Lehnstuhle, »hierher.«

Allein dem Herzen des jungen Lord war Furcht so fremd wie alles Böse, und er war von jeher ein tapferer kleiner Geselle gewesen. Vertraulich und ruhig legte er sein Händchen an des Ungeheuers Halsband und dann schritten sie einträchtig miteinander auf den Grafen zu.

Endlich blickte dieser auf und Cedrik sah in das Gesicht eines großen alten Mannes mit wirrem, weißem Haar, buschigen Augenbrauen und einer kühnen Adlernase zwischen den feurigen, blitzenden Augen. Der Graf aber erblickte eine anmutige Kindergestalt in einem schwarzen Samtanzug mit breitem Spitzenkragen und weichen blonden Locken, die das frische, rosige Gesicht umrahmten, aus dem ein Paar großer brauner Augen ihm treuherzig entgegenleuchtete. Wie ein plötzlicher Jubelruf und ein frohlockendes Triumphieren zog’s dem harten alten Manne durchs Herz, als er wahrnahm, was für ein kräftiger, schöner Knabe sein Enkel war, und wie unerschrocken er ihm ins Gesicht sah, die Hand noch immer auf dem Halse seines riesigen Hundes. Es that dem herrischen alten Edelmanne im Innersten wohl, daß der Junge keine Schüchternheit und keine Furcht verriet, weder vor ihm noch vor seinem Hunde.

»Bist du der Graf?« sagte Cedrik mit seinem freundlichen Lächeln. »Ich bin dein Enkel, den Mr. Havisham geholt hat – Lord Fauntleroy.«

Er streckte ihm dabei sein Händchen hin, was er für angemessen und höflich hielt auch bei Grafen. »Ich hoffe, es geht dir gut,« fuhr er herzlich fort, »und ich freue mich sehr, dich zu sehen.«

Der Graf schüttelte ihm die Hand und es zuckte wunderlich über sein Gesicht; fürs erste war er so überrascht, daß er kaum wußte, was er sagen solle. Er blickte unverwandt auf das hübsche kleine Bild, das da in Fleisch und Blut vor ihm stand.

»Du freust dich wirklich, mich zu sehen?«

»Gewiß,« versicherte Lord Fauntleroy, »sehr.«

Ein Stuhl stand neben dem des Grafen und Cedrik setzte sich. Das hochlehnige, breite Möbel war für ein andres Format von Sitzenden berechnet und die Beinchen des Kleinen reichten bei weitem nicht auf den Boden, allein es schien ihm doch ganz behaglich darauf zu sein und er blickte das ehrwürdige Familienhaupt bescheiden aber unverwandt an.

»Ich habe mir immer Gedanken gemacht, wie du wohl aussehen würdest,« begann er wieder. »Auf dem Schiffe, wenn ich so in meinem Bette lag, habe ich immer gedacht, ob du wohl meinem Papa ähnlich siehst.«

»Nun, und findest du das?« fragte der Graf.

»Ach, du weißt ja, ich war noch sehr klein, als er gestorben ist, und da kann’s wohl sein, daß ich mich nicht genau erinnere, aber ich meine, du siehst ganz anders aus.«

»Enttäuscht also – hm?«

»O, ganz und gar nicht!« versicherte der kleine Kritiker höflich. »Natürlich hätte ich mich ja gefreut, wenn du wie mein Papa wärest, aber jedes Kind ist doch ganz zufrieden damit, wie sein Großvater aussieht, auch wenn es ihn sich anders gedacht hat. – Du weißt ja, Verwandte bewundert man immer.«

Der Graf lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sah einigermaßen verblüfft drein. Er hatte im Bewundern seiner Verwandten leider wenig Erfahrung; er hatte seine Mußestunden meist dazu verwendet, sich mit ihnen zu zanken, sie aus dem Hause zu jagen und allerhand schmeichelhafte Benennungen für sie zu erfinden, weshalb er auch bei allen gründlich verhaßt war.

»Jedes Kind hat seinen Großvater lieb,« fuhr Lord Fauntleroy fort, »besonders einen, der so gut ist, wie du es gegen mich gewesen bist.«

Wieder flog ein seltsamer, rascher Blick aus den tiefliegenden Augen zu ihm hinüber.

»Ach so,« sagte er, »ich bin also gut gegen dich gewesen, meinst du?«

»Freilich,« erwiderte Cedrik fröhlich, »und ich bin dir auch so dankbar wegen Bridget und der Apfelfrau und Dick.«

»Bridget?« wiederholte der Graf, »Dick, die Apfelfrau?«

»Ja natürlich,« erläuterte Cedrik, »alle die, für welche du mir das viele Geld gegeben hast – das Geld, das Mr. Havisham mir zu meinem Vergnügen von dir gebracht hat.«

»Ach so! Davon ist die Rede! Das Geld, das du ausgeben durftest. Nun, was hast du dir dafür gekauft? Ich möchte gern etwas darüber erfahren.«

Er zog die dichten Augenbrauen in die Höhe und faßte den Knaben scharf ins Auge; er war wirklich neugierig, in welcher Weise derselbe seine kleinen Launen befriedigt haben mochte.

»O,« begann Lord Fauntleroy, »am Ende hast du gar nichts von Dick und Bridget und der Apfelfrau gewußt. Ich habe gar nicht daran gedacht, wie weit weg du wohnst. Die sind nämlich besondre Freunde von mir und, mußt du wissen, Michael hat das Fieber gehabt.«

»Wer ist denn Michael?« fiel ihm der Graf ins Wort.

»Michael? Ach, das ist Bridgets Mann und die waren in großer Not. Wenn ein Mann krank ist und nicht arbeiten kann und zwölf Kinder hat, kannst du dir ja denken, wie das ist.«

Nun folgte die ausführliche Schilderung aller Leiden der armen Bridget und ihres Jubels, als er ihr das Geld »von dir, Großvater!« hatte geben dürfen, und »deshalb bin ich dir so dankbar,« schloß er seinen Bericht.

»So so!« bemerkte der Graf mit seiner tiefen Stimme, »das war also eins von den Dingen, die du zu deinem Vergnügen thatest. Nun, und was hast du sonst mit deinem Reichtum angefangen?«

Dougal hatte sich, nachdem Cedrik Platz genommen, neben dessen Stuhl gesetzt und hatte ihm mehrmals, wenn er so lebhaft sprach, ernsthaft ins Gesicht geblickt, als ob ihm diese Unterredung höchst interessant wäre. Dougal war ein würdevoller, feierlicher Hund, viel zu ernst und zu groß, um das Leben leicht zu nehmen. Der alte Graf, der ihn genau kannte, hatte ihn insgeheim aufmerksam beobachtet. Es war sonst nicht des Tieres Art, rasch Bekanntschaften zu schließen, und sein Herr war überrascht, wie ruhig er sich unter dem Druck der Kinderhand verhielt, nun aber sah sich Dougal den kleinen Lord noch einmal prüfend und würdevoll an, um gleich darauf seinen gewaltigen Löwenkopf auf das schwarze Samtknie des Jungen zu legen, der den neuen Freund gelassen streichelte, indem er dem Grafen zur Antwort gab: »Ja, da war dann die Geschichte mit Dick. Dick, der würde dir gefallen, der ist ein famoser Bursche.«

Der alte Herr sah etwas verwundert drein.

»Er ist so ehrlich,« fuhr Ceddie mit Wärme fort, »und er greift nie einen Jungen an, der kleiner ist, als er, und die Stiefel macht er so blank, daß sie wie ein Spiegel sind: er ist nämlich Schuhputzer,«

»Und auch ein Bekannter von dir – hm?«

»Ein alter Freund von mir,« versetzte der Enkel, »kein so alter wie Mr. Hobbs, aber wir kennen uns auch schon sehr lange. Gerade ehe das Schiff abgefahren ist, brachte er mir ein Geschenk,« dabei zog er einen sorgfältig zusammengelegten Gegenstand aus der Tasche und entfaltete mit zärtlichem Stolze das pompöse rotseidene Tuch mit den geschmackvollen Hufeisen.

»Das hat er mir gegeben, das soll ich immer tragen. Man kann’s als Halstuch benutzen oder auch als Taschentuch. Er hat’s von dem ersten Gelde gekauft, das er verdient hat, nachdem Jack ausbezahlt war und er die neuen Bürsten von mir bekommen hatte – ’s ist ein Andenken. In die Uhr für Mr. Hobbs hab ich einen Vers schreiben lassen: ›Die Uhr, sie spricht: Vergiß mich nicht,‹ und ich werde Dick auch nicht vergessen; so oft ich das Tuch sehe, werde ich an ihn denken.«

Die Empfindungen Seiner Herrlichkeit des Grafen Dorincourt waren nicht leicht zu schildern. Ein gut Stück Welt und Menschen aller Art hatte er gesehen und war eben nicht leicht zu verblüffen; aber hier trat ihm etwas so Neues und Unerhörtes entgegen, daß es ihm fast den Atem benahm und die merkwürdigste Erregung in dem alten Edelmanne hervorrief. Er hatte sich nie mit Kindern beschäftigt; seine Passionen und Vergnügungen hatten ihm dazu nie Muße gelassen, und seine eignen Jungen waren ihm nie sehr interessant gewesen – höchstens erinnerte er sich dunkel, daß Cedriks Vater ein hübscher, kräftiger Knabe gewesen war. Im allgemeinen war ihm ein Kind immer wie ein höchst lästiges kleines Tier vorgekommen, gefräßig, egoistisch und lärmend, wenn man es nicht in strenger Zucht hielt. Seine beiden Aeltesten hatten ihren Erziehern und Lehrern stets Grund zu Klagen und Verdruß gegeben, und von dem Jüngsten glaubte er nur deswegen weniger Schlimmes gehört zu haben, weil derselbe als solcher für keinen Menschen von Bedeutung war. Daß er seinen Enkel lieb gewinnen könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen – er hatte ihn in sein Haus bringen lassen, weil er seinen Namen dereinst nicht durch einen unerzogenen Lümmel wollte lächerlich machen lassen und er überzeugt war, daß der Junge in Amerika nur ein Halbnarr oder ein clownartiges Geschöpf werden konnte. Er hatte an seinen Söhnen so viel Demütigungen erlebt und war über Kapitän Errols amerikanische Heirat so entrüstet, daß er etwas Erfreuliches bei seiner Nachkommenschaft nicht mehr vermutete, und als der Diener ihm Lord Fauntleroy gemeldet, hatte er sich fast gefürchtet, den Jungen anzusehen. Das war auch der Grund, weshalb er ihn hatte allein sehen wollen; seinem Stolz war der Gedanke eines Zeugen seiner Enttäuschung unerträglich. Aber selbst in den Stunden, wo er mit mehr Hoffnung in die Zukunft geblickt, hatte er sich nie träumen lassen, daß sein Enkel so aussehen könnte, wie die entzückende Kindergestalt, die, das Händchen auf dem Kopfe seines etwas gefährlichen Lieblings, so zuversichtlich und vertrauensvoll vor ihn trat. Diese Ueberraschung brachte den harten alten Mann schier um seine Fassung.

Und dann begann ihre Unterhaltung, in deren Verlauf sein Erstaunen sich mehr und mehr steigerte. Erstens einmal war er seiner Lebtage gewöhnt, die Leute in seiner Gegenwart scheu und verlegen zu sehen, und hatte deshalb von seinem Enkel auch nichts andres erwartet; statt dessen sah der kleine Junge in ihm offenbar nichts als einen Freund, dessen Liebe ihm von Gott und Rechts wegen gehörte, und behandelte ihn als solchen. Wie der kleine Bursche so dasaß in dem großen Stuhle und mit seiner weichen Stimme herzlich und fröhlich plauderte, ward es ihm ganz klar, daß der Gedanke, der große, grimmig dreinschauende alte Mann könnte ihn nicht lieb haben oder sich nicht freuen, ihn bei sich zu sehen, nie in des Kindes Sinn gekommen war, und daß Cedrik seinerseits ebenso kindlich und zuversichtlich bestrebt war, dem Großvater zu gefallen. Hart, grausam und hochfahrend, wie der alte Graf war, konnte er sich doch einer heimlichen Freude bei dieser neuen Empfindung nicht entschlagen und fand es, bei Lichte besehen, recht angenehm, einmal jemand zu begegnen, der ihm nicht mißtraute, nicht vor ihm zurückschreckte und die schlimmen Seiten seiner Natur nicht ahnte, jemand, der ihn mit hellen Augen vertrauensvoll ansah – und wär’s auch nur ein kleiner Junge in einem schwarzen Samtanzuge!

So lehnte sich der alte Mann behaglich in seinen Stuhl zurück und ermunterte seinen jungen Gefährten zum Plaudern, wobei es immer seltsam um seine Mundwinkel zuckte. Lord Fauntleroy entfaltete sein ganzes Konversationstalent und schwatzte unbefangen und vertraulich; die ganze Geschichte von Dick und Jack, die Verhältnisse der Apfelfrau aus altem Geschlecht und seine Freundschaft mit Mr. Hobbs wurden dem Großvater anvertraut, woran sich dann eine begeisterte Schilderung des republikanischen Wahltriumphes in all seiner Pracht und Herrlichkeit samt Bannern, Transparenten, Fackeln und Raketen anschloß. Schließlich kam er auch auf den 4. Juli zu sprechen und geriet in große Ekstase, bis ihm plötzlich etwas in den Sinn kam und er unvermittelt abbrach.

»Nun, was gibt’s?« fragte der Großvater. »Weshalb sprichst du nicht weiter?«

Lord Fauntleroy rückte verlegen auf seinem Stuhle hin und her.

»Es fiel mir eben ein, daß du das vielleicht nicht gerne hörst,« erwiderte er. »Vielleicht ist einer von deinen Angehörigen dabei gewesen. Ich habe gar nicht daran gedacht, daß du ein Engländer bist.«

»Sprich nur ruhig weiter,« sagte Mylord. »Ich habe keine persönlichen Beziehungen zu der Sache. Du hast wohl auch vergessen, daß du ein Engländer bist.«

»O nein,« fiel ihm Cedrik rasch ins Wort, »ich bin ein Amerikaner.«

»Du bist ein Engländer,« erklärte der alte Herr kurz. »Dein Vater war ein Engländer.«

Die Sache war ihm ziemlich spaßhaft. Cedrik dagegen nahm es sehr ernst. Auf eine solche Auffassung der Dinge war er nicht vorbereitet gewesen, und sein Gesichtchen ward dunkelrot.

»Ich bin in Amerika geboren,« protestierte er, »und wenn man in Amerika geboren ist, muß man ein Amerikaner sein. Es thut mir leid, daß ich dir widersprechen muß,« setzte er artig und rücksichtsvoll hinzu. »Mr. Hobbs hat mir gesagt, daß, wenn wieder einmal ein Krieg käme, ich ein Amerikaner sein müßte.«

Der Graf stieß ein kurzes Lachen aus, es klang hart und grimmig, aber es war doch ein Lachen.

»Und das würdest du thun?« sagte er.

Er haßte Amerika und die Amerikaner, aber der ernsthafte eifrige Patriotismus des kleinen Mannes ergötzte ihn, und er sagte sich, daß aus diesem guten Amerikaner seiner Zeit ein guter Engländer werden könne.

Weitere Vertiefung in die Politik ward durch die Meldung, daß aufgetragen sei, abgeschnitten. Cedrik erhob sich sofort und ging zum Großvater hin, mit einem bedenklichen Blick auf dessen gichtisches Bein.

»Soll ich dir helfen?« fragte er freundlich. »Du kannst dich auf mich stützen, weißt du. Einmal hat Mr. Hobbs einen schlimmen Fuß gehabt, weil ihm ein Kartoffelsack darauf gefallen war, da hab‘ ich ihn immer geführt.«

Der feierliche Diener hätte fast seine Stellung und seinen Ruf durch ein unziemliches Lächeln aufs Spiel gesetzt. Es war ein sehr vornehmer Diener, der immer nur in aristokratischen Diensten gestanden hatte und sich vollständig entwürdigt und entehrt gefühlt haben würde, wenn er sich etwas so Unverzeihliches gestattet hätte, wie ein Lächeln in Gegenwart der Herrschaft. Diesmal aber war die Gefahr groß gewesen, und er konnte sich nur dadurch retten, daß er über seines Herrn Schulter hinweg unverwandt auf ein besonders häßliches Bild hinstarrte.

Der Graf maß den ritterlichen kleinen Knirps von Enkel vom Kopf bis zu den Füßen.

»Meinst du, daß du das könntest?« fragte er rauh.

»Ich glaube ja,« erwiderte Cedrik. »Ich bin sehr stark, weißt du, bin auch schon sieben. Du kannst dich auf einer Seite auf deinen Stock stützen und auf der andern auf mich. Dick sagt, daß ich gute Muskeln habe für einen Jungen von sieben.«

Er streckte den Arm stramm aus, damit der Graf die Kraft seiner von Dick belobten Muskeln sehe, und sah dabei so ernsthaft und wichtig drein, daß der Bediente wieder genötigt war, seine volle Aufmerksamkeit dem häßlichen Bilde zuzuwenden.

»Wohl und gut,« entschied der Graf, »du sollst’s versuchen.«

Cedrik reichte ihm seinen Stock und half ihm beim Aufstehen. Dies war in der Regel des Bedienten Amt, der dabei manch‘ derben Fluch zu hören kriegte und oft und viel innerlich vor Empörung knirschte. Heute ging die Sache ohne Fluchen ab, obwohl die Gicht manch bösen Reißer that, allein der Graf wollte nun einmal den Versuch machen. Langsam erhob er sich und legte die Hand auf die schmale Schulter, die ihm so mutig als Stütze geboten wurde. Vorsichtig that Lord Fauntleroy einen Schritt vorwärts und sah dabei sorgfältig auf das kranke Bein.

»Stütze dich nur recht fest auf mich,« sagte er ermutigend. »Ich will ganz langsam gehen.«

Wenn der Graf seinen Diener zum Führer gehabt hätte, würde er sich allerdings weniger auf seinen Stock und mehr auf jenen gestützt haben, und doch hielt er es bei seinem Experiment auch für nötig, den Enkel sein Gewicht fühlen zu lassen, das in der That nicht leicht war. Nach wenig Schritten war denn auch das kleine Gesicht dunkelrot und sein Herz fing an, heftig zu klopfen, allein er stemmte sich mächtig gegen des Großvaters Hand und erinnerte sich Dicks Ausspruch über seine Muskeln.

»Hab nur keine Angst und stütze dich fest auf,« keuchte er, »ich kann es ganz gut, wenn – wenn es nicht zu weit ist.«

Es war eigentlich kein langer Weg zum Speisezimmer, und doch kam es Cedrik wie eine Ewigkeit vor, bis sie den Stuhl am oberen Ende der Tafel erreicht hatten. Die Hand auf seiner Schulter schien mit jedem Schritte wuchtiger zu lasten, sein Köpfchen ward immer heißer und sein Atem kürzer, allein er dachte nicht daran, seinen Dienst aufzugeben; er machte seine Muskeln ganz steif, hielt sich kerzengerade und sprach dem bedenklich hinkenden alten Herrn Trost zu.

»Thut dir der Fuß so sehr weh, wenn du darauf stehst?« fragte er. »Hast du ihn nie in heißes Wasser mit Senfmehl gesteckt? Das hat Mr. Hobbs gut gethan.«

Der große Hund schritt gravitätisch nebenher und der Diener folgte. Mehr als einmal flog ein eigentümliches Lächeln über sein Gesicht, wenn er beobachtete, wie die kleine Gestalt all ihre Kraft zusammennahm und ihre Last so gutwillig trug, und auch des Grafen Blick streifte ein paarmal mit seltsamem Ausdrucke das erhitzte Kindergesicht.

Als sie das Speisezimmer betraten, bemerkte Cedrik, daß auch dies ein sehr großer, imposanter Raum war, und daß der Diener, welcher hinter des Grafen Stuhl stand, die Eintretenden höchst erstaunt anstarrte. Endlich war der Stuhl erreicht; die Hand löste sich von seiner Schulter und der Graf ward bequem installiert.

Cedrik zog Dicks Taschentuch hervor und trocknete sich die Stirn.

»Es ist heiß heute abend, nicht?« fragte er. »Wahrscheinlich mußt du ein Feuer haben wegen – wegen deinem Fuß, nur mir kommt’s ein wenig heiß vor.«

Sein angeborener Takt bewahrte ihn davor, irgend etwas auch nur scheinbar zu tadeln.

»Du hast soeben ein hartes Stück Arbeit gehabt,« bemerkte der Graf.

»O nein! Das war gar nicht hart, nur heiß ist mir’s geworden,« und damit behandelte er seine feuchten Locken energisch mit dem Taschentuche.

Lord Fauntleroys Platz am Tische war seinem Großvater gegenüber, ein breiter Armstuhl nahm auch hier die schmale Gestalt auf. Alles, was er bis jetzt gesehen hatte, die hohen weiten Räume, die kolossalen Möbel, die stattlichen hochgewachsenen Diener, der ungeheure Hund und der Großvater selbst, alles war dazu angethan, ihm die eigne Kleinheit vor Augen zu bringen. Dies beunruhigte Cedrik jedoch keineswegs; für sehr groß oder sehr wichtig hatte er sich nie gehalten, und er war mit Freuden bereit, sich auch Verhältnissen anzupassen, die etwas Ueberwältigendes für ihn zu haben schienen. Freilich hatte er kaum je so winzig ausgesehen, als in dem weiten Lehnstuhle an der feierlichen Tafel.

Trotzdem er so einsam lebte, hielt der Graf seinen Haushalt auf großem Fuße, und das Diner war ein wichtiges Moment in seinem Leben und natürlich auch in dem des Koches, für den die Tage, an welchen Seine Herrlichkeit keinen Appetit hatte, schwere Prüfungen brachten. Heute jedoch schien der Appetit besser als sonst, und die Kritik über die »Entrees« und die Bereitung der Saucen war nicht so gründlich, weil er häufig über den Tisch hinüber nach seinem Enkel blicken mußte. Er selbst sprach wenig, erhielt aber sein kleines Gegenüber gut im Zuge und fand es zu seinem eignen Erstaunen ganz unterhaltend, ihm zuzuhören. Dabei freute er sich im stillen darüber, wie fest er sich auf den kleinen Kerl gestützt hatte, um dessen Mut und Ausdauer zu prüfen, und wie vortrefflich dieser die Probe bestanden.

»Du hast deine Grafenkrone nicht immer auf?« fragte Lord Fauntleroy bescheiden.

»Nein,« erwiderte der Graf mit seinem merkwürdig grimmigen Lächeln, »sie steht mir nicht besonders.«

»Mr. Hobbs hat zuerst gemeint, du werdest sie immer tragen, dann sagte er aber auch, du werdest sie hier und da ablegen, wenn du den Hut aufsetzest zum Beispiel.«

»Ja, ja,« sagte der Graf, »gelegentlich lege ich sie ab.«

Einer der Diener mußte sich plötzlich abwenden, um hinter der vorgehaltenen Hand ein eigentümliches Husten hervorzustoßen.

Cedrik hatte seine Mahlzeit zuerst beendet, lehnte sich in seinem Stuhle zurück und sah sich im Zimmer um.

»Du mußt sehr stolz sein auf dein Haus,« bemerkte er, »es ist so schön und der Park, der ist so herrlich.« Dann hielt er einen Augenblick inne und sah merkwürdig bedeutungsvoll zum Grafen hinüber. »Ist das Haus nicht sehr groß für nur zwei Menschen, die drin leben?«

»Groß genug jedenfalls,« versetzte der Graf. »Ist dir’s zu groß?«

Seine kleine Herrlichkeit zögerte einen Augenblick.

»Ich dachte nur so, daß, wenn zwei Leute drin wohnten, die nicht gut zusammen passen, dann könnte man sich recht einsam vorkommen.«

»Glaubst du, daß wir gut zusammen passen werden?«

»O ja, gewiß. Mr. Hobbs und ich, wir sind sehr gute Freunde gewesen. Er war der beste Freund, den ich hatte, außer Herzlieb.«

Der Graf zog die buschigen Augenbrauen ein wenig in die Höhe.

»Wer ist das, Herzlieb?«

»Meine Mama,« sagte Lord Fauntleroy mit seltsam leisem, ruhigem Tone.

Die Tafel war aufgehoben und man begab sich wieder in die Bibliothek. Diesmal führte der Diener den Grafen auf der einen Seite, die andre Hand aber stützte derselbe wieder auf des Enkels Schulter, nur nicht so wuchtig wie zuvor. Nachdem der Diener sich zurückgezogen hatte, lagerte sich Cedrik auf dem Teppiche vor dem Kamine neben Dougal, streichelte den Hund und blickte schweigend auf das Feuer.

Der Graf beobachtete ihn scharf. Es war ein Ausdruck von Sehnsucht und tiefem Nachsinnen in des Kindes Augen, und ein paarmal seufzte er leise.

»Fauntleroy,« begann der alte Herr schließlich, »woran denkst du?«

»An Herzlieb,« erwiderte er, »und – und es wird besser sein, wenn ich ein wenig aufstehe und im Zimmer herumgehe.«

Er erhob sich, steckte die Hände in die Taschen und fing an, auf und ab zu gehen. Seine Augen leuchteten verdächtig, und er hatte die Lippen aufeinander gepreßt. Aber er hielt den Kopf hoch und trat sicher und fest auf. Langsam stand Dougal auch auf, sah eine Weile zu ihm hinüber, dann schritt er auf das Kind zu und folgte ihm. Cedrik zog eine Hand aus der Tasche und legte sie dem Hunde auf den Kopf.

»Ein guter Hund, der,« sagte er. »Er ist schon ganz mein Freund und weiß, wie mir’s zu Mute ist.«

»Wie ist dir’s denn zu Mute?“ fragte der Graf.

Es war ihm unbehaglich, mit anzusehen, wie der kleine Mensch da zum erstenmal mit seinem Heimweh kämpfte, und doch freute er sich, daß Cedrik sich so tapfer hielt: der kindliche Mut gefiel ihm.

»Komm her,« sagte er.

Fauntleroy kam sofort.

»Ich bin noch nie von Hause weg gewesen,« sagte das Kind, die großen braunen Augen etwas mühsam aufreißend, »’s ist eine sonderbare Sache, wenn man auf einmal die ganze Nacht in jemandes Schloß bleiben soll, statt nach Hause zu gehen. Aber Herzlieb ist ja nicht so sehr weit weg, daran soll ich denken, hat sie gesagt, und – und ich bin ja schon sieben – und ich kann auch ihr Bild ansehen, sie hat mir’s gegeben,«

Er fuhr mit der Hand in die Tasche und zog ein kleines Etui von dunkelblauem Samt hervor.

»Hier ist es. Sieh, wenn man daran drückt, so springt es auf und drin ist sie!«

Er lehnte sich dabei so vertrauensvoll an des Grafen Arm, als ob dies von jeher sein Platz gewesen wäre.

»Das ist sie,« sagte er und sah lächelnd zu ihm auf.

Der Graf zog finster die Augenbrauen zusammen. Er wollte das Bild nicht sehen und warf trotzdem einen Blick darauf. Es erschreckte ihn förmlich, ein so junges, hübsches Gesicht vor sich zu haben, mit den nämlichen braunen Augen, wie das Kind an seiner Seite.

»Vermutlich glaubst du, sie sehr lieb zu haben?«

»Ja,« erwiderte Cedrik sanft und einfach, »das glaube ich und das ist auch so. Weißt du, Mr. Hobbs war mein Freund, und Dick auch und Mary, aber Herzlieb und ich, wir sind doch die aller-allerbesten Freunde und sagen einander alles. Und ich muß auch für sie sorgen, weil mein Papa das nicht mehr thun kann – wenn ich groß bin, werd‘ ich arbeiten und Geld verdienen.«

»Wie gedenkst du denn das anzufangen?« erkundigte sich der Großvater.

Seine kleine Herrlichkeit setzte sich wieder auf den Kaminvorsetzer, hielt das Bild in der Hand und schien sich seine Antwort reiflich zu überlegen.

»Ich habe schon gedacht, ich könnte in Mr. Hobbs‘ Geschäft eintreten,« sagte er, »aber lieber würde ich Präsident.«

»Da schicken wir dich besser ins Oberhaus,« sagte der Graf.

»Ja nun, falls ich nicht Präsident werden kann und das auch ein gutes Geschäft ist, will ich’s wohl thun. Spezereigeschäfte sind nicht immer unterhaltend.«

Vielleicht dachte er noch weiter über den Gegenstand nach, denn er blieb ganz ruhig sitzen und sah ins Feuer. Der Graf sprach nichts mehr, lehnte sich in seinen Fauteuil zurück und beobachtete das Kind. Manch neuer, ihm fremder Gedanke mochte den alten Edelmann beschäftigen. Dougal hatte sich lang ausgestreckt, den mächtigen Kopf auf die breiten Tatzen gelegt und schlief – tiefes Schweigen herrschte.

Als eine halbe Stunde später Mr. Havisham in das Zimmer geführt wurde, machte ihm der Graf halb unwillkürlich ein hastiges Zeichen, leise aufzutreten, Dougal schlief noch immer, und neben ihm, das lockige Köpfchen auf den kleinen Arm gelegt, schlummerte Lord Fauntleroy.

Sechstes Kapitel

Als Lord Fauntleroy am andern Morgen erwachte, hörte er ein Stimmengeflüster, und als er sich umdrehte und die Augen aufschlug, entdeckte er zwei Frauen in seinem Zimmer. Alles sah lustig und hell aus, der Sonnenschein fiel durch das epheuumrankte Fenster und tanzte fröhlich auf dem bunten, großblumigen Kattun, mit dem alles bezogen war. Die Frauen traten an sein Bett und er erkannte nun eine derselben als Mrs. Mellon, die Haushälterin; die andre dagegen war ihm fremd, hatte aber ein so gutmütiges, wohlwollendes Gesicht, als man sich’s nur wünschen konnte.

»Guten Morgen, Mylord,« sagte Mrs. Mellon. »Gut geschlafen?«

Seine Herrlichkeit rieb sich die Augen und lachte.

»Guten Morgen,« sagte er, »ich weiß gar nicht, wo ich bin.«

»Sie wurden gestern abend schlafend hier heraufgetragen in Eurer Herrlichkeit Schlafzimmer, und hier ist Dawson, die Sie zu bedienen hat,« erläuterte Mrs. Mellon.

Fauntleroy saß im Bette auf und bot Dawson die Hand, gerade wie er sie auch dem Grafen geboten hatte.

»Guten Morgen,« sagte er, »ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie für mich sorgen wollen. Miß Dawson oder Mrs. Dawson bitte?«

»Ganz einfach Dawson, Mylord!« erwiderte die Angeredete, freudestrahlend und knicksend. »Weder Miß noch Mrs., Gott segne Eure Herrlichkeit! Wollen Sie jetzt aufstehen und sich ankleiden lassen und dann im Kinderzimmer frühstücken?«

»Anziehen kann ich mich schon seit ein paar Jahren allein. Danke,« erwiderte Cedrik. »Herzlieb hat es mir gezeigt, Herzlieb ist meine Mama. Mary mußte ja bei uns ganz allein alle Arbeit thun und waschen, da hätte man ihr nicht auch noch die Mühe machen können. Auch mein Bad kann ich so ziemlich allein besorgen, wenn Sie dann nur so gut sein wollen und die Ecken ‚xaminieren, wenn ich fertig bin.«

Dawson und die Haushälterin wechselten Blicke.

»Dawson wird alles thun, was Sie wünschen,« sagte Mrs. Mellon.

»Das will ich wahrhaftig und von Herzen gern,« versicherte die behäbige Matrone. »Wenn Mylord sich lieber selbst ankleidet, soll er’s nur thun, und ich werde dabei stehen und warten, ob ich nicht etwas helfen kann.«

»Das ist nett von Ihnen, denn manchmal ist’s ein bißchen schwierig mit den vielen Knöpfen, und dann kann ich Sie doch fragen.«

Er fand, daß diese Dawson eine sehr gute Frau sei, und als sie mit dem Bade und dem Ankleiden zu Ende waren, hatte er schon viel Interessantes erfahren und die Freundschaft war geschlossen. Er wußte, daß ihr Mann Soldat gewesen und in einer richtigen Schlacht ums Leben gekommen war, daß ihr Sohn Matrose sei, und daß sie selbst ihr lebenlang für die verschiedensten Kinder gesorgt und jetzt eben aus einem sehr vornehmen Hause kam, wo sie ein wunderschönes kleines Mädchen, Namens Lady Gwyneth Vaughn, bedient hatte.

»Und die ist auf eine Art mit Mylord verwandt,« schloß Dawson, »vielleicht werden Sie sie einmal sehen.«

»Glauben Sie wirklich?« sagte Cedrik erfreut. »Das würde mich sehr freuen! ich kenne noch gar kein kleines Mädchen, aber ich habe sie immer gern angesehen.«

Als er in das anstoßende Zimmer trat, das ebenfalls sehr groß und hoch war, und von Dawson hörte, daß das nächste, dritte Zimmer auch ihm gehöre, überkam ihn das Gefühl seines Kleinseins wieder so mächtig, daß er sich gegen Dawson darüber aussprach, während er an dem hübsch gedeckten Frühstückstische Platz nahm.

»Ich bin ein sehr, sehr kleiner Junge,« sagte er ziemlich gedrückt, »dafür, daß ich in so einem großen Schlosse leben und so viele Zimmer haben soll – meinen Sie nicht auch?«

»Ach du liebe Zeit,« tröstete Dawson, »das kommt Ihnen nur jetzt im Anfang alles fremd vor, das wird bald vorbei sein, dann gefällt’s Ihnen herrlich, ’s ist ja so schön hier!«

»Freilich ist es schön,« stimmte Fauntleroy mit einem halben Seufzer bei, »aber es würde noch viel schöner sein, wenn mir Herzlieb nicht so fehlte. Ich habe jeden Morgen mit ihr gefrühstückt und ihr Zucker und Sahne in die Tasse gethan, und ihr den Toast gereicht. Das war natürlich viel angenehmer.«

»Ach was, Mylord kann sie ja jeden Tag sehen, und da wird’s denn kein Ende nehmen mit Erzählen. Du lieber Himmel! Warten Sie’s nur ab, bis Sie überall gewesen sind, und sich alles angesehen haben, die Hunde und die Ställe ganz voll mit Pferden. Es ist eins darunter, das Ihnen gewiß gefallen wird –«

»Wirklich?« rief Fauntleroy. »Ich habe die Pferde sehr gern. Zu Hause, da hatt‘ ich Jim so gern; das war Mr. Hobbs‘ Pferd und ging am Spezereiwagen. O, Jim war ein schönes Pferd, wenn es nicht ausschlug.«

»Nun, warten Sie’s nur ab, was Sie hier in den Ställen zu sehen kriegen. Ach, und meiner Seel‘, Sie haben ja noch nicht einmal ins andre Zimmer geguckt.«

»Was gibt’s denn da?« fragte Cedrik neugierig.

»Frühstücken Sie nur erst, dann wollen wir schon sehen.«

Nach dieser geheimnisvollen Andeutung ging es natürlich sehr rasch mit dem Frühstück, und mit einem erleichterten: »So, jetzt bin ich fertig,« glitt Seine Herrlichkeit vom Stuhle herab.

Dawson nickte und wies nach der Thür, wobei sie äußerst geheimnisvoll und vielsagend drein schaute, so daß seine Spannung sich gewaltig steigerte. Nachdem sie die Thür geöffnet hatte, blieb er auf der Schwelle stehen, sprachlos, die Hände in den Taschen, ganz rot vor Aufregung; was er sah, war auch ganz dazu angethan, ein Kinderherz zu überwältigen.

Das Zimmer war ebenfalls groß, wie hier alles zu sein schien, und es kam ihm noch weit schöner vor, als all die übrigen, nur ganz anders. Die Möbel waren nicht so altertümlich und schwerfällig wie die unten, die Stoffbehänge an Fenstern und Thüren waren heller und leichter, ringsum waren Bücherbretter voll besetzt, und auf den Tischen stand eine ganze Menge Spielsachen, wunderbare, kunstvolle Dinge, wie er sie an den großen Schaufenstern in New York so manches Mal sehnsüchtig angestaunt hatte.

»Das sieht aus wie eines Jungen Zimmer,« sagte er endlich, tief aufatmend. »Wem gehört das alles?«

»Gehen Sie doch hinein und sehen sich’s an,« sagte Dawson. »Das ist alles für Sie!«

»Für mich!« rief er. »Mir gehört das? Warum? Wer hat mir das geschenkt?« Und mit einem Jubelschrei sprang er mitten in das Zimmer. »Das kommt vom Großpapa,« sagte er mit funkelnden Augen. »Ich weiß es gewiß, das kommt vom Großpapa!«

»Gewiß,« bestätigte Dawson, »und wenn Sie ein artiger junger Herr sein und nicht bei jeder Kleinigkeit ärgerlich werden wollen und den ganzen Tag vergnügt und lustig sein, so gibt er Ihnen, wonach Ihr Herz begehrt.«

Das war ein aufregender Vormittag. Was gab es da alles zu besehen und zu untersuchen, jedes einzelne Ding war so interessant, daß man kaum davon loskommen konnte. Und dann war es doch gar zu merkwürdig, zu denken, daß das alles für ihn herbeigeschafft worden war, daß, noch ehe er New York verlassen, alle diese Herrlichkeit für ihn vorbereitet worden war.

»Haben Sie je von so einem guten Großvater gehört?« fragte er Dawson mit Begeisterung.

Dawson war erst seit wenigen Tagen im Hause, aber im Dienerschaftszimmer hatte sie schon mancherlei von den Eigenheiten des alten Herrn gehört.

»Von all den sündhaften, jähzornigen, wilden alten Kerls, deren bunten Rock zu tragen ich das Pech gehabt, ist der hier der ärgste Wüterich,« hatte sich Thomas, der lange Bediente, geäußert.

Und dieser selbe Thomas hatte auch mit angehört, in welchen Worten der Graf Mr. Havisham gegenüber diese zarte Fürsorge für seinen Enkel begründet hatte, und hatte nicht verfehlt, dieselben in den unteren Regionen zu wiederholen.

»Man läßt ihm den Willen und füllt seine Zimmer mit Spielzeug,« hatte Mylord gesagt. »Gebt ihm, was ihm Spaß macht, dann wird die Mutter schnell vergessen sein – das ist Kinderart.«

Bei diesen liebenswürdigen Absichten war die dem Grafen vorbehaltene Entdeckung, daß es dieses Kindes Art nun eben nicht sei, keine erfreuliche für denselben. Er hatte eine schlechte Nacht gehabt und war den Vormittag über in seinem Zimmer geblieben. Nach dem zweiten Frühstück ließ er aber den Enkel doch rufen.

Sofort vernahm er kurze, hastige Schritte in der Halle, und mit heißen Wangen und blitzenden Augen trat Cedrik bei ihm ein.

»Ich habe immer gewartet, ob du nicht nach mir schicken würdest,« sagte er, »und ich danke dir viel tausend-, tausendmal für all die schönen Sachen! Den ganzen Vormittag hab‘ ich damit gespielt!«

»So, so!« versetzte der Graf. »Sie gefallen dir also – hm?«

»O, und wie! Das kann ich dir gar nicht sagen!« beteuerte Lord Fauntleroy freudestrahlend. »Eins ist dabei, das ist gerade wie base-ball, nur daß man’s auf einem Brett spielt mit schwarz und weißen Zapfen. Ich hab’s Dawson zeigen wollen, aber sie hat’s nicht recht verstanden – natürlich, weil sie eine Dame ist, hat sie ja nie Ball gespielt, und ich hab’s wahrscheinlich nicht gut erklärt. Aber du kennst’s doch?«

»Ich fürchte, nein,« versetzte der Graf. »Das ist wohl ein amerikanisches Spiel, nicht? Etwa wie Cricket?«

»Cricket habe ich nie gesehen; aber Mr. Hobbs hat mich einigemal mitgenommen, um base-ball spielen zu sehen. Ein ganz famoses Spiel! O, man wird so aufgeregt! Soll ich das Spiel holen und dir zeigen? Vielleicht gefällt dir’s so gut, daß du deinen Fuß ganz vergißt – thut er dir heute sehr weh?«

»Mehr, als mir lieb ist, wenigstens.«

»Dann kannst du’s vielleicht nicht vergessen,« sagte Ceddie mit besorgter Miene. »Vielleicht wär dir’s dann lästig, das Spiel zu lernen.«

»Geh nur immerhin und hole es,« entschied der Graf.

Es lag wieder ein ironisches Lächeln um seinen Mund, als Cedrik mit der Schachtel im Arm und dem größten Feuereifer in seinem frischen Gesichte zurückkam.

»Darf ich den kleinen Tisch zu dir hinschieben?« fragte er.

»Klingle nur – Thomas besorgt das.«

»O, das kann ich ganz gut allein! Er ist gar nicht schwer!«

»Auch gut,« bemerkte der Großvater, den es sichtlich belustigte, wie eifrig sein kleiner Kamerad die Vorbereitungen zum Spiele betrieb. Der Tisch wurde glücklich herbeigeschleppt und dann begann eine gründliche, ausführliche Auseinandersetzung und eine sehr dramatische Schilderung des großen base-ball-Wettspieles, das er mit Mr. Hobbs gesehen hatte. Schließlich konnte das Spiel allen Ernstes beginnen, und der alte Herr fand es zu seinem Erstaunen keineswegs langweilig. Sein Partner war mit Leib und Seele dabei, sein fröhliches Lachen, wenn er einen »famosen Wurf« gethan hatte, seine unparteiische Freude, wenn er selbst, oder wenn der Gegner Glück hatte, belebten die Sache ungemein. Wer dem Grafen vor einigen Tagen gesagt hätte, daß er Gicht und üble Launen vergessen würde überm Spiele mit schwarz und weißen Holzzäpfchen und einem blondlockigen, kleinen Jungen als Partner! Und nun war er so vertieft darin, daß er’s beinahe überhörte, als Thomas einen Besuch meldete.

Der in Rede stehende Besucher war ein älterer Herr in schwarzer Kleidung und kein Geringerer, als der Geistliche des Ortes; derselbe war so verblüfft über das Bild, das sich ihm bei seinem Eintritt darbot, daß er, einen Schritt zurückprallend, fast mit Thomas zusammengestoßen wäre.

Es gab keinen Teil seiner Amtspflicht, den Mr. Mordaunt so schwierig und so peinlich zu erledigen fand, als den Verkehr mit seinem Gutsherrn, der die Besuche bei ihm stets zu überaus unerquicklichen Stunden gestaltete. Gegen Kirchen und Wohlthätigkeitsanstalten hatte derselbe nun einmal ein entschiedenes Vorurteil; war die Gicht sehr schlimm, so erklärte er ohne weiteres, daß er nicht durch Erzählungen über das Bettlerpack mißhandelt werden wolle. Waren die Schmerzen etwas geringer und die Stimmung menschlicher, so gab er zuletzt einiges Geld her, aber nie, ohne möglichst viel Sarkasmen und verletzende Bemerkungen über den Pfarrer ausgegossen zu haben, der es äußerst schwierig fand, seine christlichen Gesinnungen auch auf den edlen Lord in Anwendung zu bringen. Aus freiem Willen etwas Gutes thun oder einen freundlichen Gedanken für andre hegen, waren Dinge, welche Mr. Mordaunt in all den Jahren an seinem Gebieter nicht kennen gelernt hatte.

Heute war er gekommen, um über einen besonders dringenden Fall zu reden, und er hatte sich noch mehr als sonst mit Furcht und Zittern auf den Weg gemacht. Einmal wußte er, daß der Graf seit mehreren Tagen an einem besonders heftigen Gichtanfall litt und daß das Barometer auf Sturm stand, so daß Gerüchte darüber sogar bis ins Dorf gedrungen waren – Mrs. Dibble, die einen kleinen Laden mit Nähnadeln, Strickgarn, Pfefferminzzeltchen und Klatsch hielt, besaß als Hauptbezugsquelle für letzteren gesuchten Artikel eine Schwester, die als Hausmädchen im Schlosse diente, mit Mr. Thomas auf gutem Fuße stand und einfach »alles« wußte.

»Wie’s der Lord jetzt treibt,« hatte Mrs. Dibble erzählt, »das ist nicht mehr zu sagen, und was er für Ausdrücke braucht – Mr. Thomas hat selbst zu meiner Jane gesagt, das halte kein Christenmensch mehr aus, und wenn der Dienst sonst nicht gut wäre, und die Gesellschaft im Unterstocke so nett, hätt‘ er ihm neulich, nachdem Mylord ihm die heiße Platte mit dem Toast an den Kopf geworfen, rundweg aufgesagt!«

Dies alles war auch ins Pfarrhaus gedrungen, denn der Lord war nun einmal das »schwarze Schaf« in der Gemeinde, von dem man nicht genug Schauergeschichten erzählen und hören konnte.

Und noch ein andres ließ den wackeren Geistlichen gerade heute einen üblen Empfang im Schlosse fürchten. Jedermann wußte, wie wütend der Graf über seines Sohnes amerikanische Heirat gewesen war, jedermann wußte, wie hart er ihn behandelt hatte, und daß der frische, hübsche junge Mann – der einzige seiner Familie, der allgemein beliebt gewesen – arm und unversöhnt im fremden Lande gestorben war. Jedermann wußte ferner, daß er ohne jede Neigung oder Freude der Ankunft jenes Enkels entgegensah und daß er sich in den Kopf gesetzt hatte, einen ungeschlachten, plumpen Lümmel von Amerikaner in ihm zu finden, der seinem Namen Schande machen mußte. Das alles wußte man, obgleich der harte, stolze Mann sein Inneres vor jedem Menschen zu verbergen glaubte! Und während er sich völlig gesichert vor jedem Einblick in sein Leben hielt, hieß es am Dienerschaftstische: »Wenn der Alte an des Kapitäns Jungen denkt, treibt er’s noch toller als sonst, weil er eine Hundeangst vor dem Bengel hat. Geschieht ihm aber ganz recht, er ist selber schuld daran, und was kann er von einem Kinde erwarten, das da drüben in dem Amerika unter geringen Leuten aufgezogen ist?«

Dies alles überlegte sich Seine Ehrwürden, als er, im Schatten der herrlichen alten Bäume dahinschritt, und er sagte sich, daß dieser besagte Enkel gestern angekommen und zehn gegen eins der Graf infolge des ersten Eindruckes in einer Berserkerwut sei, und doch mußte es sein!

Dann hatte Thomas ihm die Thür geöffnet, und sein erster Blick war auf das merkwürdigste Bild gefallen: der Graf in seinem Lehnstuhle, den gichtischen Fuß weich unterstützt, und dicht neben ihm, an das gesunde Knie gelehnt, ein kleiner Junge mit heißen Wangen und vor Uebermut blitzenden Augen.

»Zwei heraus!« jauchzte die helle Kinderstimme. »Diesmal hast du kein Glück gehabt, gelt?«

Da wurden beide Spieler plötzlich des Eintretenden ansichtig.

Der Graf blickte auf, zog die Augenbrauen zusammen, wie es seine Art war, und zu Mr. Mordaunts ungemessenem Erstaunen verdüsterte sich seine Miene keineswegs, als er ihn erkannte, ja er sah sogar aus, als ob er ganz vergessen hätte, daß es zu seinen Lebensgewohnheiten gehörte, Furcht und Schrecken um sich zu verbreiten.

»Ach!« sagte er mit seiner rauhen Stimme, reichte ihm aber mit verhältnismäßiger Artigkeit die Hand. »Guten Morgen, Mordaunt. Sie sehen, ich bin auf eine ganz neue Art beschäftigt.«

Die andre Hand legte er auf Cedriks Schulter – möglich daß sich insgeheim etwas wie Stolz in seinem Herzen regte, solch einen Erben vorstellen zu können.

»Dies ist der neue Lord Fauntleroy,« fuhr er fort, »Fauntleroy, dies ist Mordaunt, unser Geistlicher.«

Fauntleroy blickte zu dem steifen, schwarz gekleideten Herrn auf und reichte ihm die kleine Hand.

»Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir,« sagte er, eingedenk der Redensart, mit welcher Mr. Hobbs hier und da einen neuen, hochgeschätzten Kunden beehrte. Cedrik war überzeugt, daß man einem Geistlichen gegenüber in der Höflichkeit ein übriges thun müsse.

Mr. Mordaunt hielt das Händchen einen Augenblick in der seinen und blickte, unwillkürlich lächelnd, in das blühende Kindergesicht. Er hatte den kleinen Gesellen bereits lieb – wie es ja den meisten Menschen erging. Nicht die Schönheit und Anmut des Knaben sprach zu seinem Herzen, sondern die Einfachheit und Kindlichkeit, die all seine Worte, so wunderlich und komisch dieselben oft waren, liebenswürdig und herzgewinnend machten.

»Und ich freue mich von ganzem Herzen der Ihrigen, Lord Fauntleroy,« erwiderte der Pastor die Anrede. »Sie haben eine lange Reise machen müssen und wir sind alle erfreut, daß Sie dieselbe so glücklich überstanden haben.«

»Die Reise war sehr lang,« versetzte Fauntleroy, »aber Herzlieb, meine Mama, ist mit mir gekommen, und da bin ich natürlich gar nicht einsam gewesen. Man ist ja nie einsam, wenn man seine Mutter bei sich hat, und das Schiff war wunderschön.«

»Setzen Sie sich, Mordaunt,« sagte der Graf.

»Eure Herrlichkeit ist sehr zu beglückwünschen,« sprach der Geistliche mit Wärme, indem er sich einen Stuhl zurechtrückte: der Graf schien jedoch nicht geneigt, seine Gefühle über den Punkt laut werden zu lassen.

»Er sieht seinem Vater ähnlich,« bemerkte er ziemlich kurz angebunden. »Hoffentlich führt er sich einmal verständiger auf. Nun, und was gibt’s heute, Mordaunt?« setzte er hinzu. »Wer ist wieder einmal im Elend?«

Das klang lange nicht so schlimm, als Mr. Mordaunt erwartet hatte, und doch begann er erst nach einigem Zögern sein Anliegen vorzutragen.

»Es handelt sich um Higgins – Higgins von der äußeren Farm. Der Mann hat Unglück gehabt. Ich will nicht gerade behaupten, daß er ein sehr guter Wirtschafter ist, allein die Verhältnisse sind derart, daß er zurückkommen mußte. Er selbst war letzten Herbst krank, dann hatten die Kinder das Scharlachfieber und nun liegt die Frau. Es handelt sich um den Pachtzins und Newick droht, ihm sofort zu kündigen, wenn er nicht zahlt. Die Sache steht natürlich sehr schlimm für ihn, und er kam gestern zu mir mit der Bitte, mich bei Ihnen für die Gewährung einer längern Frist zu verwenden.«

»Das alte Lied,« sagte der Graf sichtlich verstimmt.

Fauntleroy stand zwischen dem Großvater und dem Besucher und war ganz Ohr. Er »’tressierte« sich natürlich sofort für Higgins und die Kinder und hätte gar zu gern gewußt, wie viele es ihrer seien, und ob sie sehr krank gewesen.

»Higgins ist ein wohlgesinnter Mann,« bemerkte der Geistliche, bemüht, sein Gesuch zu unterstützen.

»Und ein schlechter Pächter, der immer im Rückstande ist,« erwiderte Seine Herrlichkeit. »Ich weiß das von Newick.«

»Augenblicklich ist die Not groß. Der Mann hängt sehr an seiner Familie, und wenn ihm die Pacht gekündigt wird, so können sie alle miteinander verhungern. Zudem verordnet der Arzt Wein und kräftige Kost für die Kinder, und Higgins weiß nicht, woher das nehmen.«

»So war’s gerade bei Michael,« warf Lord Fauntleroy, näher tretend, ein.

Der Graf blickte überrascht auf. »Dich hatte ich ganz vergessen,« sagte er. »Dachte gar nicht mehr daran, daß wir einen Philanthropen im Zimmer haben. Nun, wer war denn Michael?« Und das belustigte Lächeln flog wieder über des alten Herrn Gesicht.

»Bridgets Mann, der das Fieber gehabt hat,« erklärte Fauntleroy eifrig. »Du weißt ja doch, Großvater! Der hat auch die Miete nicht zahlen und keinen Wein und solche Sachen kaufen können. Dann hast du mir das Geld für ihn gegeben, damit ich ihm helfen konnte.«

Der Graf warf Mr. Mordaunt einen raschen Blick zu.

»Ich weiß nicht, was für eine Sorte von Gutsherren der Junge abgeben wird,« bemerkte er. »Ich hatte Havisham gesagt, der Knirps solle haben, was ihm Spaß macht – und was ihm Spaß gemacht, war offenbar, Bettelleuten Geld zu geben.«

»O nein, Bettelleute waren es gar nicht!« rief Cedrik. »Michael war – Michael ist ein sehr ausgezeichneter Maurer. Sie haben alle gearbeitet.«

»Aha,« beruhigte ihn der Graf. »Bettelleute waren es also nicht, sondern sehr ausgezeichnete Maurer, Stiefelputzer und Apfelfrauen.« Plötzlich schien ihm ein Einfall zu kommen und er sah den Jungen ein paar Sekunden scharf an. »Komm ‚mal her,« sagte er dann.

Fauntleroy trat so nahe zu ihm, als es irgend anging, ohne an das kranke Bein zu stoßen.

»Was würdest du in diesem Falle thun?« fragte der alte Edelmann.

Eine seltsame Empfindung bemächtigte sich Mr. Mordaunts bei dieser unvorhergesehenen Frage. Er war seit Jahren in der Gemeinde angestellt, kannte die Armen und Reichen, die Ehrlichen und die Schlimmen, und wußte, welch ungeheure Macht zum Bösen oder Guten dereinst diesem kleinen Jungen gegeben sein werde, der mit weit offnen Augen, die Hände in den Taschen vor ihm stand, und dabei durchzuckte ihn der Gedanke, daß, wenn der herrische, eigensinnige alte Mann die Laune haben sollte, diese Macht schon jetzt in diese kleine Hand zu legen und diese Kindesnatur keine großmütige und wahre wäre, der Schaden für den Knaben selbst, wie für die von ihm Abhängigen, ein unabsehbarer sein würde.

»Was würdest du in diesem Falle thun?« fragte der Graf.

Fauntleroy legte die Hand zutraulich auf des Großvaters Knie.

»Wenn ich sehr reich wäre, und nicht nur ein kleiner Junge, dann würde ich ihn ruhig in seinem Hause wohnen lassen und würde ihm alles geben, was die Kinder brauchen, aber ich, ich bin ja nur ein Kind!« Aufleuchtend setzte er gleich darauf hinzu: »Du kannst das alles thun, nicht wahr?«

»Hm, da hätten wir also deine Meinung,« sagte der Graf.

»Nicht wahr, du kannst allen Leuten geben, was du willst?« fragte Fauntleroy noch einmal. »Was ist denn Newick?«

»Mein Intendant, für den meine Pächter eben keine sonderliche Zuneigung hegen.«

»Willst du ihm jetzt gleich schreiben?« drängte Cedrik. »Soll ich dir Feder und Tinte bringen? Ich kann ja das Spiel hier wegnehmen.« Die Möglichkeit, daß man diesen Herrn Newick seine Drohung ausführen lassen könnte, kam ihm offenbar gar nicht in den Sinn.

Der Graf schwieg eine Weile, den Knaben immer fest ins Auge fassend.

»Kannst du schreiben?« fragte er.

»Ja,« erwiderte Cedrik kleinlaut, »aber nicht sehr gut.«

»Nimm die Sachen hier weg und bring Feder und Tinte und ein Blatt Papier von meinem Pulte.«

Mr. Mordaunt folgte der Verhandlung mit wachsendem Interesse. Fauntleroy führte den erhaltenen Befehl rasch und geschickt aus; nach wenig Augenblicken war alles bereit.

»Hier,« sagte er fröhlich, »nun kannst du schreiben.«

»Du sollst schreiben,« versetzte der Graf.

»Ich?« rief Fauntleroy bis unter die Locken errötend. »Nutzt denn das etwas, wenn ich schreibe? Und wenn ich kein Wörterbuch habe, dann mache ich viele Fehler!«

»Einerlei! Higgins wird’s mit der Orthographie nicht so streng nehmen. Ich bin nicht der Menschenfreund, sondern du – vorwärts, tauch deine Feder ein!«

Fauntleroy setzte sich feierlich und etwas mühsam zurecht.

»Nun,« fragte er, »was soll ich schreiben?«

»Schreibe: Gegen Higgins soll vorderhand nicht eingeschritten werden, und das unterzeichnest du mit ›Fauntleroy‹, dann ist’s gut.«

Die Sache ging nicht gerade rasch vor sich, so ernstlichen Eifer Cedrik auch an den Tag legte, schließlich überreichte er jedoch, freilich mit etwas besorgter Miene, dem Großvater sein Manuskript, das dieser überflog und lächelnd Mr. Mordaunt reichte.

Das Schriftstück lautete:

»Lieber Mr. Newick wollen sie bitte so gutt sein und forterhand gegen Mr. Higgins nicht einschreitten, woführ ich Ihnen dankbahr bin.

Achdungsfol der ihrige

Fauntleroy.«

»Mr. Hobbs hat seine Briefe immer so unterschrieben,« bemerkte Cedrik, »und ich dachte, es sei besser, wenn ich sage ›bitte‹. Ist ›einschreiten‹ richtig geschrieben?«

»Im Wörterbuch steht es etwas anders,« bemerkte der Graf.

»Das dacht‘ ich mir doch,« sagte Fauntleroy bekümmert, »ich hätte dich fragen sollen. Wenn die Wörter mehr als eine Silbe haben, muß ich immer noch fragen. Ich will es noch einmal schreiben.«

Er machte sich sofort ans Werk und fertigte eine sehr sorgfältige Kopie, wobei er so vorsichtig war, den Grafen mehrmals zu Rate zu ziehen.

»O’thographie ist eine kuriose Sache,« bemerkte er, »so oft ist es ganz anders, als man denkt. Ich habe immer gedacht, lieb schreibe man lihb, und dann war’s doch nicht so – ’s ist oft recht schwierig.«

Nachdem Mr. Mordaunt sich im glücklichen Besitz der eigentümlichen Kabinettsorder entfernt hatte, kehrte Fauntleroy, der ihm das Geleit gegeben, eilends zum Grafen zurück.

»Darf ich jetzt zu Herzlieb gehen?« fragte er. »Sie wartet gewiß auf mich.«

»Im Stalle ist etwas, das du dir noch besehen mußt. Drücke einmal auf die Klingel!«

»Bitte, bitte,« sagte Cedrik eifrig, »ich danke dir schön, aber ich glaube, es wird besser sein, wenn ich’s erst morgen sehe. Herzlieb wartet schon so lange.«

»Wie du willst. Dann wollen wir den Wagen bestellen. – Es ist auch nur ein Pony,« setzte er trocken hinzu.

Fauntleroy hielt den Atem an.

»Ein Pony,« rief er. »Wem gehört der Pony?«

»Dir,« versetzte der Graf.

»Mir?« rief der kleine Bursche außer sich. »Mir – gerade wie das Spielzeug oben?«

»Gewiß! Willst du ihn sehen? Soll ich ihn vorführen lassen?«

Fauntleroys Wanden waren dunkelrot.

»Daran hab‘ ich nie gedacht, daß ich einen Pony kriegen könnte. So was ist mir nie eingefallen. Wie wird Herzlieb sich freuen! Du gibst mir alles, nicht wahr?«

»Du willst ihn also sehen?«

Cedrik atmete tief auf. »Ich möchte ihn so gern sehen, o, so furchtbar gern. Aber ich habe jetzt keine Zeit.«

»Könntest du den Besuch nicht auf morgen verschieben?«

»O nein,« sagte Fauntleroy. »Herzlieb hat den ganzen Tag immerfort an mich gedacht, und ich an sie.«

»So so, wahrhaftig,« sagte der Graf. »So klingle nur.«

Während sie die Avenue entlang fuhren, war der alte Herr ziemlich schweigsam, Fauntleroys Züngchen dagegen stand nicht still. Er sprach natürlich nur von dem Pony – wie groß er sei, wie er heiße, wie alt er sei, von welcher Farbe, was er am liebsten esse, und wann er ihn morgen früh sehen dürfe.

»Wie wird Herzlieb sich freuen!« rief er dazwischen immer wieder. »Sie wird dir auch so dankbar sein! Sie weiß ja, wie gern ich Ponies habe, aber daß ich je ‚mal einen eigen haben würde, daran hat keins von uns gedacht. In der Fifth Avenue wohnte ein Junge, der hatte einen, und da haben wir oft einen Umweg gemacht, um ihn reiten zu sehen.«

Fast müde vom Fragen und Reden lehnte er in die Kissen zurück und sah ein paar Minuten lang den Grafen ganz verklärt an, ohne ein Wort zu sagen.

»Ich glaube, daß es auf der ganzen Welt niemand gibt, der so gut wäre, wie du,« kam es endlich aus Herzensgrunde. »Du thust immerfort und immer nur Gutes. Herzlieb sagt, an andre denken und nicht an sich, das sei die wahre Güte, und das thust du!«

Seine Herrlichkeit schwieg – diese Charakteristik war geeignet, ihn schwindeln zu machen! Dabei waren die klaren, großen, unschuldigen Kinderaugen mit dem Ausdruck schrankenloser Bewunderung auf ihn geheftet – das hatte etwas Verwirrendes, sogar für diesen ziemlich abgehärteten Mann!

»So viele Menschen machst du glücklich!« fuhr Cedrik fort. »Michael, Bridget und ihre zwölf Kinder, und die Apfelfrau, und Dick, und Mr. Hobbs, und Mr. Higgins und seine Frau und ihre Kinder, und Mr. Mordaunt, und Herzlieb und mich – ich hab’s an den Fingern gezählt: Siebenundzwanzig! Weißt du,« setzte er dann zögernd hinzu, »daß Leute, die keine Grafen kennen, sich manchmal sehr täuschen? Mr. Hobbs hat sich getäuscht, aber ich werde ihm schreiben und ihm alles von dir erzählen.«

»Nun, was war denn Mr. Hobbs‘ Ansicht über Grafen im allgemeinen und besondern?« fragte der alte Herr.

»Ja, siehst du, die Geschichte war eben die, daß er nie einen lebendig gesehen hatte, sondern nur in Büchern von ihnen gelesen, und deshalb hat er geglaubt – du mußt dir nichts daraus machen, bitte! – sie seien blutbefleckte Tyrannen, und hat gesagt, er möchte keinen in seinem Laden herumlungern haben. Aber wenn er dich kennen würde, dann wär‘ er wohl andrer Meinung. Ich werd’s ihm aber schreiben!«

»Was wirst du ihm schreiben?«

»Daß du der beste, gütigste Mann bist, von dem ich je gehört, und daß du immer an andre denkst, und daß ich, wenn ich einmal groß bin, gerade so werden möchte wie du!«

»Wie ich?« wiederholte der Graf mit einem Blick in das leuchtende Kindergesicht –- dann wandte er sich rasch ab und sah zum Fenster hinaus nach den Buchen, deren lichtgrüne Blätter im Sonnenlicht erglänzten.

»Ja, wie du!« versicherte Fauntleroy, und setzte bescheiden hinzu: »Das heißt, wenn ich kann. Vielleicht kann ich nie so gut werden, aber versuchen will ich’s.«

Der Wagen rollte weiter und Cedrik sah wieder die herrlichen Bäume und die grünen Farne, und die Rebhühner und Kaninchen, und alles kam ihm noch weit schöner vor, als das erste Mal, und sein kleines Herz war voll lauterer, großer Glückseligkeit. Auch der Graf blickte hinaus in die herrliche Welt, die ihn umgab, aber sein Gemüt war unempfindlich für all die Schönheit. Was er vor Augen hatte, war ein langes Leben, ein Leben ohne ideale Ziele und gute Gedanken; er sah sich selbst als jungen, kräftigen Mann, der diese Kraft und die Macht, die in seiner Hand lag, nur für seine Launen vergeudete, und dessen einziger Lebenszweck es war, die Zeit totzuschlagen, und dann sah er diesen Mann alt, einsam, ohne einen einzigen Freund inmitten all seiner Pracht und Herrlichkeit, umgeben von Menschen, die ihn haßten oder fürchteten, die ihm schmeichelten oder vor ihm krochen, aber ohne einen einzigen, dem etwas an seinem Leben oder Sterben gelegen hätte. Und er wußte, daß in all den Häusern und Hütten um ihn her wohl mancher ihm sein Geld und Gut neidete, nicht einer aber den Herrn über all diese Schätze hätte »gut« nennen oder gar wünschen mögen, zu sein wie er – keiner außer diesem Kinde.

Es waren das keine besonders erfreulichen Betrachtungen, auch nicht für den cynischen, harten Mann, der sich nie um eines Menschen Urteil gekümmert und der sich solcher Gedanken noch immer hatte entschlagen können, bis dies Kind durch seinen Entschluß, seinem Beispiel nachzueifern, ihm die Frage aufgedrängt hatte, ob ein Mensch wohl daran thue, ihn zum Vorbilde zu nehmen.

Fauntleroy sah, wie die Augenbrauen des Großvaters sich immer finsterer zusammenzogen, während er auf den sonnenbeschienenen Park hinausblickte, und er nahm an, daß jenen sein Bein schmerze. Rücksichtsvoll und bescheiden verhielt er sich still und freute sich an allem, was er sah, ohne seine Bewunderung mitzuteilen. Schließlich aber fuhr der Wagen an Court Lodge vor, und Cedrik war mit einem Satze draußen, noch ehe Thomas Zeit gehabt, den Schlag regelrecht zu öffnen.

»Schon da?« fragte der Graf, aus seinem Brüten auffahrend.

»Ja freilich,« erwiderte Cedrik. »Ich will dir deinen Stock geben und dann stütze dich nur fest auf mich.«

»Ich steige nicht aus,« erklärte Mylord kurz und hart.

»Du – du kommst nicht zu Herzlieb?« rief Fauntleroy sehr erstaunt.

»Herzlieb wird mich entschuldigen,« versetzte der Graf trocken. »Geh nur zu ihr und erzähl ihr, daß du nicht einmal durch einen eignen Pony von deinem Besuche abzuhalten warst.«

»Ja, das wird ihr aber sehr leid sein! Sie hat sich so auf dich gefreut!«

»Schwerlich,« war die Antwort. »Ich nehme dich auf dem Rückwege wieder mit. Weiter, Thomas.«

Der Wagen ward zugemacht; einen bestürzten, fragenden Blick warf Cedrik noch auf den Großvater, dann hatte dieser, wie einst Mr. Havisham, Gelegenheit, die flinken Beine zu bewundern, mit denen der Kleine auf das Haus zulief, m dessen Thür eine schlanke jugendliche Gestalt ihn in ihren Armen auffing und innig an sich drückte.

Siebentes Kapitel

Am Sonntag darauf fand Mr. Mordaunt seine Gemeinde so zahlreich versammelt, wie nie zuvor, und entdeckte manches Gesicht, das er sonst selten in der Kirche sah, darunter sogar Leute aus dem nächsten Dorfe. Die Frau des Arztes war da mit ihren vier Töchtern und Mr. und Mrs. Kimsey, der Apotheker mit Gattin, saßen in ihrem Kirchenstuhle. Mrs. Dibble, die wohlunterrichtete fehlte nicht, und Miß Smiff, die dörfliche Kleiderkünstlerin, samt ihrer Freundin Miß Perkins, der Putzmacherin, hatte sich eingefunden, und jede Familie war allermindestens durch ein Glied vertreten.

Kein Wunder! Mrs. Dibbles Laden war ja die ganze Woche kaum leer geworden, die kleine, schüchterne Ladenglocke hatte sich fast die Schwindsucht an den Hals gebimmelt, und der Absatz an Nähnadeln und Faden war ein ungemein erfreulicher gewesen – alles, weil Mrs. Dibble so unerhörte Dinge vom Schlosse und seinem neuesten Bewohner zu erzählen wußte. Sie konnte haarklein beschreiben, wie die Zimmer Seiner kleinen Herrlichkeit eingerichtet waren; was die wundervollen Spielsachen gekostet hatten, wußte sie auch, und die Lebensgeschichte des braunen Pony und des dazu gehörigen kleinen Groom war ihr ebenfalls geläufig. Natürlich war der weibliche Teil der Dienerschaft vollkommen einig darüber, daß es ein Verbrechen sei, den hübschen kleinen Kerl von seiner Mutter zu trennen, und samt und sonders hatten sie »an allen Gliedern gezittert«, als das Kind so mutterseelenallein in die Löwenhöhle, respektive Bibliothek, hatte geführt werden müssen, da doch kein Mensch wissen konnte, wie er dort behandelt werden würde.

»Aber ich kann Ihnen nur sagen, Mrs. Jennifer,« setzte Mrs. Dibble hinzu, »das Kind weiß nicht, was Angst heißt! Mr. Thomas hat’s selbst erzählt, kommt der Junge hinein und setzt sich hin und spricht mit dem alten Grafen, als ob ihm das gar nichts Besondres wäre und als ob sie gute Freunde wären. Der, sagt Mr. Thomas, habe nur so aufgehorcht und ihn unter seinen Augenbrauen hervor angestarrt. Und Mr. Thomas sagt, denken Sie nur, Mrs. Bates, daß, so bös der Alte auch ist, er doch im stillen vergnügt gewesen sei und ganz stolz, denn einen hübscheren Jungen und mit bessern Manieren, nur hier und da ein wenig altväterisch, habe er seiner Lebtage nicht gesehen, sagt Mr. Thomas.«

Dann war noch die Geschichte mit Higgins dazu gekommen, und Newick selbst hatte zwei oder drei Leuten das mit »Fauntleroy« unterzeichnete Schreiben gezeigt, so daß der Gesprächsstoff gar nicht ausging und am Sonntag alles zusammenströmte, um womöglich den neuen kleinen Lord selbst in Augenschein zu nehmen.

Der Graf war kein sehr eifriger Kirchgänger, aber an diesem ersten Sonntag gefiel es ihm, beim Gottesdienst zu erscheinen: Fauntleroy in dem großen Kirchenstuhle neben sich sitzen zu haben, hatte einen gewissen Reiz für ihn.

Man stand heute lange plaudernd auf dem Kirchhofe umher; an der Kirchenthür und draußen auf dem Wege, überall bildeten sich Gruppen, und die Frage, ob Mylord kommen werde oder nicht, wurde immer wieder aufgeworfen und besprochen. Plötzlich stieß eine der Frauen die andre an – »dort,« flüsterte sie, »das muß die Mutter sein, das arme junge Ding.«

Aller Augen richteten sich auf die schlanke Gestalt in schwarzer Kleidung, die den Fußweg herauf kam. Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen, so daß man das süße, liebliche Gesicht und das lockige Haar, das weich und schimmernd unter dem Hute der jungen Witwe hervorquoll, deutlich sehen konnte.

Sie nahm die Leute nicht wahr, die sie anstarrten – sie dachte an Cedrik und seine Besuche, sein Glück über den eignen Pony und an sein liebes strahlendes Gesicht. Nach einiger Zeit aber ward sie sich doch bewußt, daß sie der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit war. Zuerst fiel ihr eine alte Frau in einem roten Mantel auf, die ihr einen Knicks machte, dann kam eine andre, die desgleichen that und dazu »Gott segne, Mylady!« sagte, und alle Männer nahmen die Hüte ab, als sie vorbeiging. Im ersten Augenblicke begriff sie die Sache nicht recht, dann aber ward ihr klar, daß diese Art von Huldigung der Mutter des kleinen Lords gelte, und ziemlich schüchtern und leise errötend erwiderte sie die Grüße und sagte mit sanfter Stimme zu der Frau, die ihr Segen gewünscht hatte: »Ich danke Ihnen.« Für jemand, der sein lebenlang im Hasten und Treiben einer amerikanischen Großstadt gestanden hat, waren diese ländlichen Ehrfurchtsbezeigungen befremdend und fast peinlich, schließlich thaten sie ihr aber doch wohl und die Warmherzigkeit, von der sie zeugten, rührte sie.

Kaum war sie in die kleine Kirche getreten, als das große, mit so viel Spannung erwartete Ereignis vor sich ging: Der Wagen vom Schlosse bog um die Ecke.

»Sie kommen,« flog es von Mund zu Munde.

Thomas stieg ab, riß den Schlag auf, und ein kleiner Junge in schwarzem Samt mit einer schimmernden, blonden Mähne sprang heraus.

»Auf und nieder der Kapitän,« hieß es unter den älteren Zuschauern. »Sein leibhaftiger Vater.«

Da stand er im hellen Sonnenscheine und beobachtete mit der liebevollsten Sorgfalt, wie Thomas dem alten Herrn beim Aussteigen half, und sobald er die Gelegenheit gekommen glaubte, streckte er ihm die Hand hin und bot seine Schulter zur Stütze, als ob er sieben Schuh hoch wäre – Angst hatte der nicht vor seinem Großvater, so viel war gewiß!

»Stütz dich nur auf mich!« hörte man ihn mit seiner hellen Stimme sagen. »Wie sich die Leute freuen, wenn sie dich sehen, und wie sie dich alle kennen!«

»Nimm deine Mütze ab, Fauntleroy,« sagte der Graf. »Das Grüßen gilt dir.«

»Mir?« rief Cedrik, riß die Mütze im Nu herunter und drehte sich mit leuchtenden, verwunderten Augen nach allen Seiten, um doch gewiß jeden Gruß zu erwidern.

»Gott segne Eure Herrlichkeit,« sagte die alte Frau, die vorhin seine Mutter angeredet hatte. »Gott schenke Ihnen langes Leben!«

Als Fauntleroy dann neben dem Großvater in dem großen Kirchenstuhle mit den roten Kissen und Vorhängen saß, entdeckte er sofort mehreres, was ihn freute und »’tressierte«. Erstens, daß seine Mutter ihm gerade gegenübersaß und ihm zulächelte, und dann zwei ganz wunderliche in Stein gehauene knieende Figuren, mit einer Tafel darüber, auf der er die Worte entziffern konnte:

HIR · RVHET · DER · LEYB · VON · GREGORIVS · ARTHVR · ERSTEN · GRAFEN · DORINCOVRT · VND · AVCH · DER · VON · ALISONE · HILDEGARTIS · SEINER · CHRISTLICHEN · EHEFRAVEN.

»Darf ich leis‘ was sagen?« fragte er den Grafen, unfähig, seine Neugierde länger zu beherrschen. »Was denn?« versetzte der Großvater.

»Wer sind denn die dort?«

»Zwei von deinen Vorfahren, die vor mehreren hundert Jahren gelebt haben.«

»Vielleicht,« dachte Cedrik, die ihm so merkwürdigen Vorfahren mit Ehrfurcht betrachtend, »hab‘ ich von denen meine Orthographie geerbt.«

Als die Musik begann, stand er auf und sah mit einem sonnigen Lächeln zu seiner Mutter hinüber. Cedrik hatte große Freude daran, und Herzlieb und er sangen oft und viel miteinander, so stimmte er nun herzhaft mit ein und wie ein Vogelstimmchen drang der klare, liebliche, helle Ton durch den Raum. Er vergaß sich und seine Umgebung darüber und dem Grafen, der, halb hinter seinem Vorhang verborgen, den Jungen beobachtete, ging es schier ebenso. Das große Gesangbuch in den kleinen Händen, das Gesichtchen mit strahlendem Ausdrucke empor gerichtet, stand Cedrik da und sang so andächtig und so laut er konnte, und durch eine der kleinen farbigen Scheiben stahl sich ein Sonnenstrahl herein und spielte auf seinen goldnen Locken. Als seine Mutter zu ihm hinüberblickte, zog es wie ein heiliger Schauer durch ihr Herz, aus dem ein heißes Gebet zum Himmel aufstieg, daß die sonnige Reinheit seines Kinderglückes und Kinderherzens dauern möge, und daß jenes neue, seltsame Schicksal, das ihm zu teil geworden, ihm keinen Schaden thun möge an seiner Seele.

»O, Ceddie,« hatte sie gestern abend bei dem langen, innigen Gutenachtkusse zu ihm gesagt: »O, Ceddie, wie möcht‘ ich um deinetwillen klug und weise sein, um dir viel, viel Wichtiges sagen zu können. Sei nur immer gut, mein Herzenskind, gut und wahr und treu, dann wirst du keinem wehe thun und dein Leben wird vielen zum Segen werden und die ganze, große, weite Welt wird ein wenig besser, weil mein Kind gut ist. Denn weißt du, Ceddie, das ist das Allerbeste und Allerhöchste, daß es allen zu gute kommt, wenn ein einzelner Mensch von Herzen gut ist.«

Fauntleroy hatte daheim dem Großvater diese Worte wiederholt und hinzugesetzt: »Da hab‘ ich natürlich an dich denken müssen und habe Herzlieb gesagt, daß die Welt viel besser geworden sei durch dich und daß ich suchen wolle, einmal gerade so zu werden wie du.«

»Und was hat sie darauf gesagt?« hatte der Graf mit einigem Unbehagen gefragt.

»Das sei recht,« hat sie gesagt, »und wir sollen immer an andern das Gute herausfinden und streben, auch so zu werden.«

Vielleicht dachte der alte Mann an diese Worte, während er zwischen den Falten des Vorhanges nach der gegenüberliegenden Bank sah, und sein Blick flog oft hinüber nach dem lieblichen Gesichte, das seinem Sohne so teuer gewesen, und nach den braunen Augen, die so ganz und gar denen des Kindes glichen – was für Gedanken ihn dabei bewegten, konnte niemand erraten.

Als »die Herrschaft« aus der Kirche trat, standen die Leute umher, um sie vorbeigehen zu sehen, und am Kirchhofthore wartete ein Mann, den Hut in der Hand, auf sie, trat einen Schritt vor und blieb wieder zögernd stehen.

»Nun, Higgins?« sagte der Graf.

»Ist das Mr. Higgins?« fragte Fauntleroy, zu dem Manne mit dem sorgendurchfurchten Gesichte aufblickend.

»Ja,« antwortete Mylord trocken, »vermutlich möchte er seinen neuen Gutsherrn in Augenschein nehmen.«

»Ja, Mylord,« bestätigte der Mann. »Mr. Newick hat mir gesagt, daß der junge Lord ein gutes Wort für mich eingelegt habe, und da hätt‘ ich mich gern bedankt, wenn’s gestattet ist, Mylord.«

Vielleicht war er etwas erstaunt, daß ein so kleiner Bursche in seiner Unschuld so Großes für ihn bewirkt hatte, und daß er nun vor ihm stand, gerade wie eins seiner weniger vom Glück begünstigten Kinder auch hätte dastehen können, sichtlich ohne eine Ahnung von der Bedeutung seiner kleinen Person.

»Ich bin Eurer Herrlichkeit vielen Dank schuldig,« begann er, »vielen Dank.«

»O nein,« sagte Fauntleroy, »ich habe ja nur den Brief geschrieben, gethan hat der Großvater alles, Sie wissen ja, wie gut er gegen alle Menschen ist. Ist Mrs. Higgins jetzt wieder gesund?«

Higgins sah einigermaßen verblüfft aus. Von seinem Gutsherrn als von einem Wohlthäter der Menschheit sprechen zu hören, war ihm allzu neu.

»Ich – ja – wohl, Euer Herrlichkeit,« stotterte er, »der Frau geht’s schon besser, seit sie sich nicht mehr so absorgt; ’s hat ihr schier das Herz abgedrückt.«

»Das freut mich, daß es besser geht,« sagte Fauntleroy. »Meinem Großvater hat’s so leid gethan, daß Ihre Kinder das Scharlachfieber gehabt haben. Er hat ja selber auch Kinder gehabt; ich bin seines Sohnes kleiner Junge.«

Higgins war einigermaßen in Gefahr, vom Schlage gerührt zu werden, und hielt es für alle Fälle für geraten, den Grafen nicht anzusehen, dessen väterliche Zärtlichkeit sich, wie jedermann wußte, damit begnügt hatte, seine Söhne ein- oder zweimal im Jahre zu sehen, und der, sobald eins von der Familie erkrankte, sofort nach London abgereist war, um »dem Volk von Aerzten und Krankenpflegerinnen« aus dem Wege zu gehen. So eisern Mylords Nerven auch waren, ganz leicht war es nicht für ihn, mitanhören zu müssen, wie sein warmer Anteil an dem Scharlachfieber der Higginsschen Kinder gerühmt wurde.

»Ihr seht, Higgins,« fiel er mit seinem grimmigen Lachen plötzlich ein, »wie gründlich ihr Leute euch in mir getäuscht habt. Steig rasch ein, Fauntleroy.«

Achtes Kapitel

Das grimmige Lächeln wurde in der nächsten Zeit fast ein stehender Zug auf des Grafen Gesicht, und je mehr er sich daran gewöhnte, desto weniger grimmig wurde es, und sah schließlich einem richtigen Lächeln zum Verwechseln ähnlich. Der alte Herr war der Gicht, Einsamkeit und seiner siebzig Jahre etwas überdrüssig gewesen; nach einem langen Leben voll rauschender Vergnügungen und Zerstreuungen war die Existenz in einem noch so bequemen Fauteuil, mit dem einen Beine auf dem Gichtstuhle und als einzige Abwechslung Zornesausbrüche gegen die Dienerschaft etwas eintönig. Der Graf wußte sehr genau, daß seine Untergebenen ihn verabscheuten und daß auch die seltenen Besucher nicht gerade aus reiner Neigung sich einfanden – einzelne ausgenommen, die an seinen scharfen, keinen Menschen verschonenden Sarkasmen Geschmack fanden. Lesen konnte er auch nicht immer, und so waren ihm allmählich die langen Nächte und die Tage zuwider geworden und seine Reizbarkeit und üble Laune hatten sich mehr und mehr gesteigert. Da war Fauntleroy erschienen, und zum Glück für den Knaben hatte schon seine äußere Erscheinung den großväterlichen Stolz befriedigt, der in seiner Schönheit und seinem furchtlosen Auftreten das Blut der Dorincourts zu erkennen glaubte. Dann hatte er sein kindliches Geplauder begonnen, das den Grafen erst überrascht und dann belustigt hatte, und das er bald angenehm und unterhaltend fand. Dem armen Higgins durch diese kindliche Hand helfen zu lassen, war nichts als eine Laune gewesen. Mylord nahm nicht den geringsten Anteil an Higgins‘ Schicksalen, aber daß nun die ganze Gegend von seinem Enkel sprach, und daß dieser dadurch jetzt schon eine gewisse Popularität erwarb, befriedigte ihn, wie ihn die Neugierde und das Interesse der Leute am Sonntag befriedigt hatte. Mylord von Dorincourt war ein hochfahrender alter Herr, stolz auf seinen Namen und Rang und deshalb stolz, der Welt zu guter Letzt noch einen Erben vorweisen zu können, der würdig war, dereinst beides zu tragen.

Der Morgen, an dem der Pony vorgeführt wurde, war für den Grafen so erfreulich gewesen, daß er beinahe seine Gicht vergessen hätte. Er saß am offnen Fenster der Bibliothek und sah zu, wie der Reitknecht das hübsche Tier am Zügel herführte und wie Fauntleroy seine ersten Reitstudien machte. Ob der Junge sich fürchten werde, darauf war er sehr gespannt; der Pony gehörte nicht zu den kleinen, und er hatte des öftern Kinder den Mut verlieren sehen, wenn es sich nun wirklich ums Aufsteigen handelte.

Fauntleroy war vor Entzücken ganz außer sich und stieg seelenvergnügt auf – er hatte noch nie auf einem Pferde gesessen und sein Glück war grenzenlos. Wilkins, der Reitknecht, führte den Pony vor dem Bibliothekzimmer auf und ab.

»Der Jungherr hat höllisch Courage,« äußerte sich Wilkins später im Stalle, »den rauf zu kriegen, hat keine Mühe gekostet und sitzen that er kerzengrad‘, trotz seinem Alter. ›Wilkins,‹ sagt‘ er zu mir, ›sitz ich gerad‘? Im Cirkus sitzen sie sehr gerade.‹ ›Als ob Sie einen Ladstock verschluckt hätten, Mylord,‹ sag‘ ich; da lacht‘ er ganz vergnügt und sagt: ›Wilkins, Sie müssen mir’s sogleich sagen, wenn ich nicht gerad‘ sitze, nicht wahr, Wilkins,‹ sagt er.«

Aber gerade sitzen auf einem Pony, der am Zügel geführt wird, war noch nicht der Höhepunkt der erträumten Glückseligkeit. Nach einigen Minuten fragte Fauntleroy zum Fenster herein: »Darf ich nicht allein reiten? Darf ich nicht schneller reiten? Der Junge aus der Fifth Avenue konnte traben und galoppieren.«

»Meinst du, daß du traben und galoppieren könntest?« erwiderte der Graf.

»Versuchen möcht‘ ich’s gern,« rief Fauntleroy bittend.

Mylord machte dem Groom ein Zeichen, worauf dieser auf sein Pferd aufsaß und den Pony am Trensenzügel führte.

»Nun,« befahl der Graf, »lassen Sie ihn Trab gehen.«

Das war nun für den jungen Reitkünstler sehr aufregend und nicht gerade behaglich, denn daß Traben etwas anders wirkt als Schritt, erfuhr er gründlich.

»D–das w–wirft einen tü–tüchtig – gelt?« sagte er zu Wilkins. »Stö–stößt es S–Sie auch so?«

»Nein, Mylord,« erwiderte dieser. »Das verliert sich mit der Zeit. Heben Sie sich nur in den Bügeln.«

»I–ich h–hebe mich d–die ga–ganze–Zeit,« keuchte Fauntleroy.

Er flog auf und ab und hatte manch derben Stoß auszuhalten, sein Gesicht war dunkelrot und er kam kaum mehr zu Atem, aber er hielt stand und saß so gerade als möglich. Ein paar Minuten lang waren die Reiter dem Blicke des Grafen durch die Bäume entzogen, dann kamen sie wieder in Sicht, Cedrik ohne Hut, mit blutroten Wangen und fest aufeinandergepreßten Lippen, aber noch immer mannhaft trabend.

»Halt einen Augenblick!« rief der Graf. »Wo ist dein Hut?«

Wilkins griff an den seinigen. »Fortgeflogen, Mylord,« berichtete er mit sichtlicher Freude. »Der junge Herr ließ mich nicht halten, Mylord.«

»Angst hat er nicht viel?« fragte der Graf trocken.

»Der und Angst, Euer Herrlichkeit?« rief Wilkins begeistert aus. »Glaube, daß er das Ding nicht vom Hörensagen kennt. Hab‘ schon manchen jungen Herrn reiten gelehrt, aber so couragiert ist noch keiner droben gesessen.«

»Müde?« fragte der Graf Cedrik. »Willst du absteigen?«

»Es schüttelt einen mehr, als ich mir gedacht habe,« gab Seine kleine Herrlichkeit ehrlich zu. »Und müde wird man auch ein wenig, aber absteigen will ich nicht. Ich will’s lernen, und wenn ich ein bißchen ausgeschnauft habe, möchte ich meinen Hut holen.«

Der feinste Diplomat hätte Cedrik keine bessere Anleitung geben können, des Großvaters Herz zu erobern. Als der Pony abermals davon trabte, lag ein Ausdruck von Freude in den lebhaften Augen des alten Herrn, den er sich selbst nicht mehr zugetraut hatte, und er saß und wartete mit wahrer Spannung, bis der Hufschlag wieder näher kam. Erst nach längerer Zeit erschienen die Reiter wieder, diesmal in rascherer Gangart. Wilkins hielt Cedriks Hut in der Hand, die Wangen des Knaben glühten noch mehr als zuvor und seine Haare flogen im Winde, aber es war ein richtiger, flotter Galopp, in dem er dahersauste.

»Hier!« stieß er hervor. »Ich – ich hab‘ galoppiert. So gut ging’s noch nicht, wie bei dem Jungen in der Fifth Avenue, aber im Sattel bin ich doch!«

Von da ab war die Freundschaft mit Wilkins und dem Pony geschlossen, kaum ein Tag verging, an dem man die beiden nicht fröhlich auf der Landstraße und den grünen Wiesen dahin traben sah, und aus allen den Bauernhäusern liefen die Kinder herbei, um den stolzen, braunen Pony und seinen ritterlichen kleinen Reiter zu sehen, der so kerzengerade im Sattel saß, und der junge Lord schwang dann seine Mütze und rief: »Hallo! Guten Morgen!« was vielleicht nicht ganz gräflich, aber sehr herzlich klang. Zuweilen hielt er auch an und schwatzte mit den Kindern, und eines Tages kam Wilkins ziemlich aufgeregt nach Hause, weil Lord Fauntleroy darauf bestanden hatte, einen lahmen Knaben, der Schmerzen im Beine gehabt hatte, auf seinem Pony von der Schule nach Hause reiten zu lassen.

»Hol‘ mich der Kuckuck,« lautete der Bericht im Stalle, »wenn’s ein andrer fertig gekriegt hätte, ihn abzubringen. Mich läßt er nicht absteigen, weil er behauptet, der Junge hätte Angst vor dem großen Gaul, und, sagt er: ›ich hab‘ gesunde Beine und der nicht.‹ Muß ich den Bengel hinaufsetzen, und nebenher schlendert Mylord und schwatzt, die Hände in den Taschen, als ob das ganz natürlich wär‘. Und wie die Mutter aus’m Haus rennt und sehen will, was los ist, zieht er die Mütze und sagt: ›Ich habe Ihren Sohn heimgebracht und ich werde Großvater bitten, daß er ihm Krücken machen läßt, der Stock ist zu schwach.‹ Herrgott, dem Weibe fuhr’s in alle Glieder vor Schreck – um ein Haar hätt‘ sie der Schlag gerührt.«

Wilkins war nicht recht wohl bei der Sache, da ihm sehr zweifelhaft war, wie der Graf sie aufnehmen werde. Dieser wurde jedoch merkwürdigerweise nicht böse, ließ sich sogar die Geschichte von Fauntleroy haarklein erzählen und lachte dann ganz laut. Und wahrhaftig geschah’s, daß nach ein paar Tagen die Dorincourter Equipage vor dem armseligen Häuschen hielt, Fauntleroy heraussprang und, ein Paar neuer, starker und doch leichter Krücken wie ein Gewehr schulternd, in die Behausung des lahmen Knaben hineinmarschierte, wo er sein Geschenk mit den Worten: »Mein Großvater läßt Sie freundlich grüßen« überreichte.

»Ich habe Grüße von dir bestellt,« sagte er, als er wieder bei dem Grafen im Wagen saß. »Du hattest mir’s zwar nicht aufgetragen, aber es war doch recht?«

Der Graf lachte wieder, hatte aber nichts gegen dieses Uebermaß an Höflichkeit einzuwenden. Die Freundschaft zwischen Großvater und Enkel befestigte sich jeden Tag mehr, und Fauntleroys unbedingtes Vertrauen in des Grafen Großmut, Herzensgüte und Edelsinn wuchs in gleichem Maße. Freilich wurde ihm jeder Wunsch erfüllt, noch eh‘ er ihn ausgesprochen hatte, und seine kleine Existenz dermaßen mit Freuden und Genüssen überschüttet, daß er manchmal beinahe hilflos davor stand und er möglicherweise, trotz all seiner guten Anlagen, in Gefahr gekommen wäre, sich verziehen zu lassen, wenn er nicht von jedem Besuche in Court Lodge ein gutes, warmes Wort mit heimgebracht und das Mutterherz, »sein bester Freund«, so treu über seine junge Seele Wache gehalten hätte.

Eins war es, was dem Kinde unendlich viel zu denken gab, ohne daß es sich darüber gegen Herzlieb ausgesprochen hätte und ohne daß der Graf eine Ahnung davon hatte. Bei seiner scharfen Beobachtungsgabe konnte dem Knaben nicht entgehen, daß der Großvater und seine Mama nicht miteinander verkehrten. Und doch ging jeden Tag eine Sendung von Blumen und Früchten aus den Gewächshäusern von Schloß Dorincourt nach Court Lodge, und zur Vollendung des Heiligenscheins, den das kleine Herz um den Großvater wob, hatte eine Aufmerksamkeit gedient, welche dieser kurz nach jenem ersten Sonntag Mrs. Errol erwiesen hatte. Etwa acht Tage darauf war es, daß Cedrik, als er sich anschickte, die Mama zu besuchen, an der Thür statt des stattlichen Landauers mit dem stolzen Gespanne einen eleganten leichten Brougham mit einem Schimmel vorfand.

»Das ist ein Geschenk, das du deiner Mutter machst,« erklärte der Graf kurz. »Sie kann nicht zu Fuße gehen und muß einen Wagen haben. Der Kutscher gehört auch dazu. Das Ganze ist dein Geschenk.«

Cedrik war so selig darüber, daß sie es nicht übers Herz brachte, ihm die Freude zu verderben und die Gabe zurückzuweisen. Sie mußte, nachdem er mit »seinem« Geschenk bei ihr angelangt war, wie sie ging und stand, einsteigen und mit ihm spazieren fahren, und unterwegs erzählte er ihr zahllose kleine Geschichten, die alle des Großvaters Güte zur Anschauung brachten. Manchmal mußte sie ein wenig dabei lachen, dann zog sie aber das Kind noch näher an sich und küßte den frischen Mund, der so gut zu plaudern wußte, und freute sich, daß sein Auge an dem alten Manne, der sich so wenig Freunde zu machen verstanden, nur das Gute entdeckte.

Am Tage darauf schrieb Fauntleroy den versprochenen langen Brief an Mr. Hobbs und brachte dem Großvater die Reinschrift zur Durchsicht – vorsichtshalber wegen der »O’thographie.«

Das Schreiben lautete:

»Lieber Mr. Hobbs ich möchte ihnen alles von meinem Großvater erzählen er ist der allerbeste Graf den sie je gesehen haben es ist ein irdum das Grafen tiranen sind er ist gar kein tiran sie und er würden gewis gute Freunde sein er hat die gicht in seinem Bain und ist ein sehr leitender aber er ist so gedulldich ich liebe in jeden tag mer man mus einen Grafen lieb haben der so guth ist gegen alle leutte ich wolte sie könten mit im sich unterhalten er weis alles aber base-ball hat er ni gesbilt er hat mir einen Pony gegeben und einen Korbwahgen und meiner mama einen schönen wahgen und ich habe drei zimer und sbilsachen sie würden sich nur wundern das schloß würde ihnen ser gefalen und der Park ist so schön ein unterihrtisches gehfengnis ist unter dem schloß mein Großvater ist ser reich aber er ist nicht stols und hochmütich wie sie gemeint haben das Grafen seihen ich bin ser gerne bei im die Leute sind so gut und hövlich sie nemen die Hüte ab for uns und die Frauen machen ein komblümend ich kann jets reiten aber im anfang hat es mich ser geschütelt im Trab ich würde sie ser gern sehen und besuchen und ich möchte das Herzlieb auch im schloß wonen könte aber ich bin sehr glücklich wenn ich nicht ser heimwe nach ir habe und ich habe meinen Großvater ser lieb bitte schreiben sie bald ihrem sie herslich liebenden alten Freunde

Cedrik Errol.

p. s. in dem unterihrtischen gehfengnis ist niemand mein Großvater hat nie jemand darin schmagten lassen.

p. s. er ist so ein guter Graf er erinnert mich an sie alle haben in so gern.«

»Hast du denn oft Heimweh nach deiner Mama?« fragte der Graf, nachdem er die nicht ganz leichte Lektüre beendet hatte.

»Ja,« sagte Fauntleroy, »sie fehlt mir immer.«

Er legte die Hand auf des Grafen Knie und sah ihm fragend in die Augen.

»Du hast nie Heimweh nach ihr?« sagte er nachdenklich.

»Ich kenne sie ja nicht,« versetzte Mylord ziemlich bärbeißig,

»Das weiß ich und das wundert mich immer. Sie hat mir gesagt, ich soll keine Fragen darüber an dich richten, und ich will das auch nicht, aber daran denken muß ich doch sehr oft und mich darüber besinnen. Aber ich frage dich gewiß nicht. Wenn ich sehr Heimweh nach ihr habe, dann geh‘ ich in mein Zimmer und sehe hinaus und da kann ich jeden Abend durch eine Lücke in den Bäumen ihr Licht sehen, ’s ist weit weg, aber sie stellt es ans Fenster, sobald es dunkel ist, und ich seh‘ es schimmern und weiß, was es mir sagt.«

»Was sagt es denn?«

»Es sagt: ›Gute Nacht! Schlaf wohl in Gottes Hut!‹ Das hat sie jeden Abend zu mir gesagt und morgens hat sie immer gesagt: ›Gott sei mit dir, mein Kind.‹ Und siehst du, so bin ich ja immer ganz in Sicherheit,«

»Gewiß! Zweifle nicht daran!« bemerkte der Graf trocken, aber er sah den Knaben so lange und unverwandt an, daß dieser gar gern gewußt hätte, was der Großvater dachte.

Die Sache war die, daß der Großvater in letzter Zeit an vieles dachte, was ihm früher nie in den Sinn gekommen war, und all diese Gedanken hatten in der einen oder andern Weise Bezug auf seinen Enkel. Der Stolz war der stärkst ausgeprägte Zug seines Wesens, und diesen befriedigte der Junge in jeder Hinsicht, und dieser Stolz war es, durch den der Graf zuerst wieder Interesse am Leben gewann. Er hatte es tragen müssen, nicht nur, daß seine Söhne ihm Kummer und Schande gemacht, sondern auch, daß die Welt dies erfahren und gewußt hatte. Nun war es ein nachträglicher Triumph, dieser Welt einen Erben zeigen zu können, an dem auch das schärfste Auge keinen Tadel oder Fehl entdecken konnte. Er machte nun gern Zukunftspläne, und zuweilen überkam ihn ein bittrer Schmerz darüber, daß seine Vergangenheit nicht so war, wie das arglose Kindergemüt sie voraussetzte, und ihm bangte oft innerlich vor der Möglichkeit, daß ein Zufall dem Kinde verraten könnte, daß man seinen Großvater mehr als ein Menschenalter lang den wilden Dorincourt genannt hatte, und daß dann die braunen Augen sich mit einem Ausdruck des Schreckens auf ihn heften könnten. Er hatte so viel zu denken, daß er häufig die Gicht vergaß, und nach einiger Zeit fand der Arzt seinen Patienten in einem so erfreulichen Gesundheitszustande, wie er ihn nie mehr für ihn zu hoffen gewagt hatte – vielleicht, daß es dem alten Egoisten auch körperlich wohl that, nicht mehr allein an sich zu denken, es war wenigstens eine bisher nicht an ihm versuchte Kur!

Eines schönen Morgens waren die Leute höchlichst erstaunt, Lord Fauntleroy, in ganz andrer Begleitung, als der seines Grooms ausreiten zu sehen. Der neue Begleiter ritt einen schweren, mächtigen Schimmel und war kein andrer, als der Graf in Person. Fauntleroy hatte diesen großen Gedanken angeregt, indem er eines Morgens beim Aufsteigen bemerkte: »Ich wollte nur, du kämest auch mit. Das Reiten macht mir gar nicht so viel Freude, weil ich dann immer denke, wie ganz allein du in dem großen Schlosse bist,« und dabei sah er den Großvater erwartungsvoll an.

Ein paar Minuten darauf herrschte unerhörte Aufregung im Stalle; es war der Befehl eingetroffen, daß Selim für Seine Herrlichkeit gesattelt werden solle. Von da an ward Selim fast täglich gesattelt, und die Leute gewöhnten sich ganz daran, den großen alten Herrn mit den weißen Haaren und dem scharf geschnittenen, noch immer schönen Gesichte auf dem wuchtigen, breit gebauten Schimmel zu sehen, und daneben den hübschen braunen Pony mit Lord Fauntleroy. Während dieser gemeinsamen Ritte wußte Cedrik immer viel zu plaudern in seiner heiteren, harmlosen Weise, und der Großvater wurde allmählich über »Herzlieb« und ihr Leben aufs genaueste unterrichtet und schien seinem kleinen Freunde nicht ungern zuzuhören. Zuweilen hieß er ihn dann galoppieren und sah ihm mit wahrer Herzensfreude nach, wenn der Bursche stramm und flott dahinsauste, und wenn er dann zum Großvater zurückkehrte, seine Mütze schwenkend und ihm ein lustiges »Hallo« entgegen schmetternd, fühlten beide, daß sie sehr gute Freunde geworden waren.

Der Graf erfuhr auch bald, daß die Mutter seines Erben kein müßiges Leben führte; er erfuhr, daß sie den Armen und Kranken wohl bekannt war und daß der leichte Brougham unfehlbar vor jedem Hause hielt, wo Sorge oder Krankheit eingekehrt war.

»Denke dir,« berichtete Ceddie, »wo sie nur sich zeigt, sagen die Leute: ›Gott segne Sie‹, und die Kinder laufen herbei, um ihr die Hand zu geben. Den größeren gibt sie auch Nähstunde bei sich und sie sagt, sie komme sich nun so reich vor, daß sie den Armen helfen müsse.«

Es war dem Grafen keine unangenehme Entdeckung gewesen, daß seines Enkels Mutter hübsch und in ihrer ganzen Erscheinung eine vollkommene Dame war; auch daß sie bei den Leuten beliebt war, behagte ihm. Und doch kam es oft wie Eifersucht über ihn, wenn der Junge von seiner Mutter sprach, und er hätte die erste Stelle in dem jungen Herzen einnehmen mögen.

An diesem Morgen zeigte der Graf von einer kleinen Anhöhe aus mit seiner Peitsche auf das unermeßlich weite, blühende Land vor ihnen.

»Weißt du eigentlich, daß das alles mir gehört?« fragte er Cedrik.

»Wahrhaftig? Das alles dir – dir ganz allein?« rief der Junge aus.

»Und weißt du auch, daß es eines Tages dein Eigentum sein wird?«

»Meins?« sagte Fauntleroy, mehr erschrocken, als erfreut. »Wann?«

»Nach meinem Tode.«

»Dann will ich’s nicht. Du sollst nie sterben, Großvater!«

»Nett von dir,« bemerkte der Graf trocken. »Trotzdem wird es eines Tages so kommen und du bist dann Graf Dorincourt.«

Der kleine Lord schwieg einen Augenblick und sah in die weite, grüne Ebene hinaus, in der das Dorf zerstreut lag, dann seufzte er tief auf.

»Woran denkst du?« fragte der Graf.

»Ich denke, daß ich doch noch ein recht kleiner Junge bin, und dann auch an das, was Herzlieb mir gesagt hat.«

»Was hat sie dir denn gesagt?«

»Sie sagt, es sei gar nicht leicht, reich zu sein, und daß, wenn man so viel besitze, es einem leicht geschehen könne, zu vergessen, daß andre weniger haben, und daß man daran immer denken müsse, wenn man reich sei. Ich hab‘ ihr erzählt, wie gut du seiest, und da hat sie gesagt, das sei um so mehr ein Glück, als ein Graf so große Macht in Händen habe, und wenn er nur an sich denken würde, könnte das für viele ein Unglück sein. Und nun hab‘ ich eben all die vielen Häuser angesehen und hab‘ mich besonnen, wie ich’s wohl machen werde, um immer zu wissen, was die Leute brauchen, wenn ich Graf bin. Wie hast denn du das gemacht?«

Da Seine Herrlichkeit an seinen Pächtern nur insoweit Anteil nahm, daß er sie fortjagte, wenn sie nicht zahlen konnten, war die Frage etwas schwierig zu beantworten. »Newick besorgt das,« sagte er kurz und strich sich den grauen Schnurrbart. »Wir wollen jetzt nach Hause,« setzte er hinzu, »und wenn du ein Graf bist, so sieh zu, daß du ein besserer wirst, als ich gewesen!«

Etwa eine Woche nach diesem Ritt kam Fauntleroy, mit sehr bekümmertem, traurigem Gesicht von dem Besuche bei seiner Mutter zurück. Er setzte sich auf den hochlehnigen Stuhl, in dem er am Abend seiner Ankunft gesessen hatte, und sah eine ganze Weile in die noch glühende Asche im Kamin. Der Graf beobachtete ihn im stillen und war gespannt, was nun folgen würde, denn daß er etwas auf dem Herzen hatte, war sicher. Endlich blickte Cedrik auf: »Weiß Newick alles von den armen Leuten?« fragte er.

»Er sollte alles wissen,« erwiderte der Graf. »Hat er etwas vernachlässigt – hm?«

So voll Widerspruch ist die menschliche Natur, daß der alte Herr, der sich sein lebenlang nicht um seine Gutsangehörigen bekümmert hatte, an dem Interesse des Kindes für die Leute und an der ersten Gedankenarbeit, die der kleine Lockenkopf in dieser Richtung vollbrachte, seine ganz besondre Freude hatte.

»Es gibt im Dorfe,« sagte Fauntleroy, ihn mit weitgeöffneten, schreckerfüllten Augen anblickend, »eine Gegend, am äußersten Ende, Herzlieb hat es gesehen, dort stehen die Häuser ganz nahe bei einander und sind alle am Einfallen, man kann kaum atmen drin, und die Leute sind so arm, und alles ist so gräßlich! Oft haben sie Fieber, und die Kinder sterben und vor lauter Elend werden die Menschen bösartig! ’s ist viel schlimmer als bei Bridget! Der Regen läuft zum Dache herein! Herzlieb hat eine arme Frau besucht, die dort wohnt, und dann hab‘ ich sie gar nicht küssen dürfen, eh‘ sie sich anders angezogen hatte. Wie sie mir es erzählt hat, sind ihr die Thränen aus den Augen gestürzt.«

Auch in seinen Augen standen Thränen, aber trotzdem lächelte er voll Zuversicht, als er aufsprang und sich an des Großvaters Knie schmiegte.

»Ich hab‘ ihr gesagt, daß du das nur nicht wüßtest, und daß ich dir’s sagen wolle. Du kannst ja alles besser machen, wie du’s bei Higgins gut gemacht hast. Du hilfst ja allen Menschen! Newick muß nur vergessen haben, dir das zu sagen.«

Newick hatte es nicht vergessen, er hatte seinem Herrn sogar mehr als einmal die verzweifelte Lage der Leute in diesem »Grafenhof« genannten Teile des Dorfes geschildert. Er kannte sie wohl, die windschiefen, elenden Spelunken mit den nassen Wänden und zerbrochenen Fensterscheiben und löcherigen Dächern, in denen Fieber und Elend hauste. Mr. Mordaunt hatte ihm das alles oft und viel in den schwärzesten Farben gemalt, und dann hatte der Graf eine sarkastische Antwort gegeben, und wenn die Gicht gerade schlimm war, hatte er erklärt, je früher das Gesindel draufgehe, desto besser. Aber als er jetzt auf die kleine Hand auf seinem Knie heruntersah und von der Hand in die ehrlichen, offnen, vertrauensvollen Augen, da überkam ihn ein Gefühl, das mit dem der Scham starke Ähnlichkeit hatte.

»Was?« sagte er. »Nun willst du auch noch einen Erbauer von Musterwohnhäusern aus mir machen? Was für eine Idee!«

»Die greulichen Häuser müssen abgerissen werden,« erklärte Cedrik eifrig. »Herzlieb sagt es. O bitte – bitte, wir wollen sie morgen schon abbrechen lassen! Und wir wollen selbst hingehen; die Leute freuen sich so, wenn sie dich sehen – sie wissen’s dann schon, daß du kommst, um ihnen wieder zu helfen.«

Der Graf stand auf. »Komm, wir wollen unsern Abendspaziergang auf der Terrasse machen,« sagte er mit einem kurzen Auflachen, »und uns die Geschichte überlegen.«

Viertes Kapitel

Unterwegs teilte die Mutter ihrem Lieblinge mit, daß sie in Zukunft nicht mehr zusammenleben würden. Es kostete Mühe, bis er sich von einer solchen Möglichkeit überzeugen ließ, und sein Jammer darüber war so grenzenlos, daß Mr. Havisham im stillen nur den glücklichen Gedanken des Grafen, die Mutter in der Nähe wohnen zu lassen, pries, denn ohne diesen Trost hätte das Kind die Trennung schwerlich ertragen. Die Mutter that alles, um ihm die Vorstellung freundlicher zu machen, und tröstete ihn so herzlich und erzählte ihm immer wieder, wie nah sie ihm sein werde, daß ihm der Gedanke allmählich weniger schrecklich erschien.

»Mein Haus ist gar nicht weit vom Schlosse, Ceddie,« sagte sie, so oft die Rede darauf kam, »ganz nahe sogar, und du kannst immer herüberlaufen und nach mir sehen. Und denke dir nur, wieviel du mir dann zu erzählen haben wirst, und wie glücklich wir miteinander sein werden. Ach, es muß ja so schön dort sein! Wie oft hat mir dein Papa alles beschrieben. Ihm war das Schloß ganz ans Herz gewachsen, und du wirst es auch bald lieb gewinnen.«

»Wenn du auch dort wärst, dann wohl,« versetzte der betrübte kleine Lord mit einem tiefen Seufzer.

Es war ja ganz natürlich, daß ihm eine Einrichtung, die ihn von »Herzlieb« trennte, als etwas sehr Widersinniges und Unbegreifliches erschien. Mrs. Errol hielt es zudem für richtig, ihn über die Gründe dieser Trennung nicht aufzuklären.

»Verstehen könnte er es doch nicht,« sagte sie zu Mr. Havisham, »es würde ihn also nur alterieren und beängstigen, und ich bin überzeugt, daß er sich weit eher an seinen Großvater anschließt, wenn er nicht weiß, daß dieser einen Widerwillen gegen mich hat. Haß und Bitterkeit sind ihm ganz fremd, und ich glaube, der Gedanke, daß jemand mich haßt, würde ihn unglücklich machen! Sein Herz ist voll Liebe! Es ist viel besser, wenn er das alles erst später erfährt – viel besser im Interesse des Grafen namentlich, denn dies Bewußtsein würde eine Scheidewand zwischen ihm und dem Großvater bilden, wenn Ceddie auch noch ein Kind ist.«

Cedrik erfuhr also nur, daß diese Trennung aus Gründen, die er noch nicht verstehen könne, beschlossen sei, und daß er später einmal alles erfahren und begreifen werde. Das machte ihn wohl nachdenklich, allein schließlich war es ihm ja weniger um die Gründe, als um die Sache zu thun, und nachdem ihm sein Mütterchen wieder und wieder die Zukunft im rosigsten Lichte ausgemalt hatte, fingen seine Bedenken an schwächer zu werden, obgleich Mr. Havisham ihn noch mehr als einmal in einer seiner wunderlich altväterischen Stellungen dasitzen und aufs Meer hinausstarren sah, wobei sich mancher Seufzer aus seiner Brust stahl, der viel zu ernsthaft klang für ein Kind.

»Es gefällt mir gar nicht,« sagte er in einem seiner ehrbaren Gespräche mit dem Advokaten. »Sie glauben nicht, wie wenig mir die Sache gefällt, aber es gibt ja viel Kummer auf der Welt, den man eben ertragen muß. Das sagt Mary immer, und auch Mr. Hobbs hab‘ ich das sagen hören. Und Herzlieb will, daß ich gern zum Großpapa gehen soll, weil all‘ seine Kinder tot sind und das sehr traurig ist. Natürlich thut einem ein Mann leid, der all‘ seine Kinder verloren hat – und eins war so plötzlich tot.«

Wer Seine kleine Herrlichkeit kennen lernte, fand die altkluge Weisheitsmiene, die er gelegentlich in der Unterhaltung aufsetzte, bezaubernd: wenn man dabei in sein unschuldiges rundes Gesichtchen sah, hatten die weisen Bemerkungen einen unwiderstehlichen Reiz, und wenn der hübsche, blühende, goldlockige kleine Mann sich hinsetzte, die Hände ums Knie schlang und sich mit großer Würde unterhielt, war er das Entzücken seiner Umgebung und namentlich fand Mr. Havisham jeden Tag mehr Freude an ihm.

Als der minder glückliche Teil der Passagiere, der, welcher der Seekrankheit seinen Tribut zu bezahlen gehabt hatte, wieder auf Deck sichtbar ward und sich auf den bequemen Stühlen niederließ, schien auch kein einziger darunter zu sein, der die merkwürdige Geschichte des kleinen Lord Fauntleroy nicht kannte, und jedermann interessierte sich für den Jungen, der sich überall herumtrieb, wenn er nicht gerade mit seiner Mutter und dem steifen alten Engländer auf und ab ging oder mit den Matrosen plauderte. Mit allen schloß er Freundschaft, wozu er ja stets bereit war. Hatte er sich einer Gruppe von Herren angeschlossen, so marschierte er mit großen, festen Schritten neben ihnen her und ging bereitwillig auf jeden Scherz ein; war er im Kreise der Damen, so war des fröhlichen Lachens kein Ende, und spielte er mit den Kindern, so war das Spiel immer ganz besonders lebendig und lustig.

Seine Hauptfreunde aber waren die Matrosen – er erfuhr die wunderbarsten Geschichten von Seeräubern, Schiffbruch und einsamen, menschenleeren Inseln, er lernte Taue splissen und kleine Schiffe auftakeln, und erwarb sich in Bezug auf Topsegel und Mainsegel eine erstaunliche Gelehrsamkeit. Seine Redeweise bekam einen entschiedenen Anflug von Teerjackentum, und er rief einmal unauslöschliches Gelächter hervor, als er sich an einem kühlen Morgen, wo Damen und Herren sich warm eingehüllt hatten, mit der liebenswürdigsten Miene von der Welt und weicher Stimme äußerte: »Da fahr‘ mir doch gleich der Klabautermann in die Planken, heut ist’s frisch.«

Er war sehr überrascht, daß diese seemännische Bemerkung solche Heiterkeit hervorrief; er hatte sie von einem älteren Seehelden, Namens Jerry, vernommen, in dessen Erzählungen sie öfter wiederkehrte. Jerry mußte, nach seinen Beschreibungen zu schließen, mindestens zwei- oder dreitausend Fahrten gemacht haben, wobei er unfehlbar jedesmal Schiffbruch gelitten und an ein mit Menschenfressern bevölkertes Eiland verschlagen worden war; daß ihm bei solchen Gelegenheiten mehr als einmal passiert war, teilweise gebraten und vollständig aufgezehrt und etliche zwanzigmal skalpiert zu werden, verstand sich von selbst.

»Deshalb hat er gar keine Haare mehr,« erklärte Lord Fauntleroy seiner Mama. »Wenn man ein paarmal skalpiert worden ist, wächst das Haar nie mehr. Jerry seins kam nicht wieder, nach dem letzten Mal, als ihn der König der Parromachaweekins mit einem Messer, das aus dem Schädel des Häuptlings der Wopslemumpkies gemacht war, skalpiert hatte. Er sagt, das sei fast das Schlimmste gewesen, was ihm je vorgekommen, und seine Haare seien ihm ganz zu Berge gestanden, wie der König das Messer wetzte, und hätten sich auch nachher nicht mehr gelegt, und der König trage nun den Skalp so, und er sehe aus wie eine Haarbürste. Nein, was für ›Verlebnisse‹ dieser Jerry gehabt hat! Ich wollt‘, ich könnte Mr. Hobbs alles erzählen!«

Zuweilen, wenn das Wetter schlecht war und man im Salon beisammen saß, gab Cedrik, der immer bereit war, das Seinige zur Unterhaltung beizutragen, Jerrys »Verlebnisse« preis, wobei er sehr aufmerksame Zuhörer fand.

»Jerrys Geschichten ‚tressieren alle so,« sagte er dann zu seinem Mütterchen. »Manchmal denke ich beinahe – du mußt nicht böse sein, Herzlieb – es könnte nicht alles dran wahr sein, aber doch hat Jerry es selbst erlebt, aber, weißt du, vielleicht weiß er’s hier und da nicht mehr so genau, weil er so oft skalpiert worden ist. Skalpiert werden, davon kann man ein schlechtes Gedächtnis kriegen.«

Elf Tage, nachdem er Dick sein Lebewohl zugerufen hatte, traf der kleine Lord in Liverpool ein, und am Abend des zwölften Tages fuhr der Wagen, der ihn, seine Mutter und Mr. Havisham an der Bahn abgeholt hatte, an Court Lodge vor.

Mary, die zu Mrs. Errols Bedienung mit herübergekommen war, hatte das Haus schon etwas früher erreicht, und als Cedrik aus dem Wagen sprang, sah er einige Dienstboten in der glänzend erleuchteten Halle stehen, Mary aber unter der Hausthür. Mit einem fröhlichen Ausrufe eilte er auf sie zu und küßte sie auf die knallroten Wangen.

»Bist du schon da, Mary? Herzlieb, Mary ist da!«

»Ich bin froh, daß Sie da sind, Mary,« sagte Mrs. Errol halblaut zu ihr. »Ich fühle mich weit weniger fremd, nun ich ein bekanntes Gesicht um mich habe.« Dabei reichte sie ihr die schmale Hand, die Mary kräftig schüttelte. Ach, sie verstand wohl, wie der jungen Frau zu Mute sein mußte, die ihre Heimat verlassen hatte und nun ihr Kind hergeben sollte.

Die englischen Dienstboten beobachteten Mutter und Sohn mit großer Neugierde. Alle möglichen Gerüchte waren natürlich über die beiden im Umlauf; jedermann wußte, weshalb Mrs. Errol hier wohnen mußte, und der kleine Lord im Schlosse, jedermann wußte genau, welch ungeheures Vermögen seiner harrte und was für ein jähzorniger Großvater mit Gichtanfällen und bösen Launen.

»Leicht kriegt er’s nicht, der arme kleine Kerl!« Das hatten sie längst untereinander ausgemacht.

Was es aber für eine Art von Kind war, dieser Lord Fauntleroy, das wußten sie nicht, und das Wesen des künftigen Herrn von Dorincourt war für sie eben nicht leicht verständlich. Er zog sehr selbständig seinen kleinen Ueberrock aus, gerade, als ob er gewöhnt wäre, sich selbst zu bedienen, und dann sah er sich um in der weiten Halle, betrachtete die Bilder und die Hirschgeweihe und alle möglichen Dinge, die ihm sehr merkwürdig vorkamen, weil er noch nichts derartiges gesehen hatte.

»Herzlieb,« rief er, »das ist ja ein goldiges Haus, nicht wahr? Ich bin so froh, daß du da wohnst! Und ein ganz großes Haus ist es!«

Freilich war es groß im Vergleiche mit dem engbrüstigen Gebäude in der ärmlichen New Yorker Straße, und hübsch und freundlich war es auch. Mary führte die Ankömmlinge hinauf in ein helles, ganz mit buntem Kattun tapeziertes und ausgestattetes Schlafzimmer, wo ein fröhliches Feuer brannte und eine riesengroße, schneeweiße Angorakatze behaglich hingestreckt auf dem Teppich vor dem Kamine lag.

»Die Haushälterin vom Schlosse schickt sie,« erklärte Mary. »Die ist eine brave Dame und hat überall nach dem Rechten gesehen und alles eingerichtet. Ich hab‘ sie auch schon gesehen, und sie hat den Herrn Kapitän selig arg gern gehabt und ist betrübt, daß er tot ist, und dann hat sie gesagt, ’s könne leicht sein, daß die Katze Ihnen die Stube heimeliger macht, wenn sie so faul daliegt. Den Herrn Kapitän selig hat sie schon gekannt, wie er ein Kind war, und er sei ein schöner Jung‘ gewesen, sagte sie, und dann ein feiner Herr, der auch für geringe Leute ein gutes Wort gehabt hat. Da hab‘ ich zu ihr gesagt: ›Er hat gerade so einen Sohn zurückgelassen‹ ja und dann hab‘ ich gesagt: ›Kein hübscherer Junge hat je Schuhe zerrissen, solange die Welt steht.‹«

Nachdem Mutter und Sohn etwas Toilette gemacht, gingen sie wieder ins Erdgeschoß in ein ebenfalls großes, helles Zimmer. Die Decke war getäfelt, der Raum nicht hoch, die tiefen, breiten Stühle hatten hohe geschnitzte Lehnen, und allerhand kleine Wandschränkchen, Schlüsselbretter und eigentümliche Verzierungen waren in den ebenfalls getäfelten Wänden angebracht; vor dem Kamin lag ein mächtiges Tigerfell und zwei bequeme Lehnstühle standen zu beiden Seiten. Die würdevolle weiße Katze fand es offenbar recht angenehm, sich von Lord Fauntleroy streicheln zu lassen, und hatte sich ihm sofort angeschlossen, und als er sich nun auf das prächtige Fell legte, rollte sie sich majestätisch an seiner Seite auf, wodurch die Freundschaft besiegelt war. Cedrik schmiegte sein Köpfchen neben ihr in das weiche Fell und nahm keine Notiz von dem Gespräch zwischen seiner Mutter und Mr. Havisham, zumal beide halblaut sprachen. Mrs. Errol war sehr blaß und sichtlich bewegt.

»Heute nacht muß er doch nicht schon gehen?« fragte sie, »Heute nacht darf er doch noch bei mir bleiben?«

»Gewiß,« erwiderte Mr. Havisham, »es ist keineswegs nötig, daß er heute nacht geht. Ich werde mich nach Tische aufs Schloß begeben und Seine Herrlichkeit von unsrer Ankunft in Kenntnis setzen.«

Mrs. Errol warf einen Blick auf Cedrik, der mit unbewußter Anmut auf dem bunten Fell hingestreckt lag, während das Feuer im Kamin wechselnde Lichter auf sein golden schimmerndes Haar warf.

»Der Graf weiß nicht, was er mir nimmt,« sagte sie mit schmerzlichem Lächeln und setzte dann, zu dem Advokaten aufblickend, hinzu: »Wollen Sie die Güte haben, ihm zu sagen, daß ich sein Geld nicht will?«

»Sein Geld? Sie sprechen doch nicht von dem Jahreseinkommen, das er für Sie ausgesetzt hat?«

»Doch,« antwortete sie einfach, aber bestimmt. »Ich möchte dasselbe lieber nicht haben. Die Wohnung hier muß ich annehmen und bin dankbar dafür, denn ich könnte ja sonst nicht in der Nähe meines Kindes bleiben; aber ich habe ein kleines Vermögen, das hinreicht, um bescheiden davon leben zu können, und mehr brauche ich nicht. Bei der Natur unsrer Beziehungen könnte ich keine Wohlthaten von ihm annehmen, ohne das Gefühl zu haben, ihm Cedrik zu verkaufen, und ich lasse ihn doch nur von mir, weil ich nicht an mich denke, sondern an sein Bestes, und weil sein Vater es wünschen würde.«

»Seltsam, sehr seltsam,« sagte Mr. Havisham, sein Kinn reibend. »Der Graf wird sich ärgern, wird es ganz und gar nicht verstehen.«

»Ich glaube doch, wenn er sich’s überlegt. Nötig habe ich das Geld nicht, und Luxus annehmen von seiten eines Mannes, der mich so sehr haßt, daß er mir meinen Sohn nimmt, könnte ich nicht.«

Kurz darauf wurde die Mahlzeit aufgetragen, an der alle drei teilnahmen und bei der sich auch die Katze einfand, die unter vergnüglichem Schnurren den Stuhl neben Ceddie für sich in Anspruch nahm.

Im Verlaufe des Abends begab sich Mr. Havisham noch nach dem Schlosse, wo er sofort von dem Hausherrn empfangen wurde. Er fand ihn in einem bequemen Fauteuil am Kamin, das gichtkranke Bein auf einer Fußbank. Ein scharfer, fragender Blick flog unter den buschigen Augenbrauen hervor, und Mr. Havisham erkannte wohl, daß er trotz aller zur Schau getragenen Gleichgültigkeit in großer Unruhe und gespannter Erwartung war.

»Da sind Sie ja, Havisham! Gut angekommen? Was gibt’s Neues?«

»Lord Fauntleroy und seine Mutter sind in Court Lodge angelangt. Beiden ist die Reise gut bekommen und ihr Befinden ist vortrefflich.«

»Freut mich, zu hören,« sagte der Graf mit einer etwas ungeduldigen Handbewegung. »Machen Sie sich’s bequem und nehmen Sie ein Glas Wein. Was sonst?«

»Der junge Lord bleibt heute nacht bei seiner Mutter. Morgen werde ich ihn ins Schloß bringen.«

Der Arm des Grafen hatte auf der Stuhllehne geruht, nun hielt er sich plötzlich die Hand vor die Augen.

»Nun so reden Sie doch weiter. Briefliche Mitteilungen hatte ich mir ja verbeten, und so weiß ich noch von gar nichts. Was für eine Sorte ist der Bursche? Von der Mutter will ich nichts hören, nur von dem Jungen.«

Mr. Havisham kostete den alten Portwein, den er sich eingegossen hatte, und hielt das Glas in der Hand.

»Es ist schwierig, über den Charakter eines Kindes von sieben Jahren ein Urteil abzugeben,« begann er vorsichtig.

»Er ist also ein Schafskopf?« rief der alte Herr rasch aufblickend. »Oder ein schwerfälliger Tölpel? Das amerikanische Blut schlägt vor, hm?«

»Ich glaube kaum, daß ihm dasselbe zum Nachteil gereichte, Mylord,« erwiderte der Advokat in seiner trockenen, kühlen Weise. »Ich verstehe mich nicht besonders auf Kinder, aber ich halte ihn für einen hübschen Jungen.«

Vorsichtig und zurückhaltend in seinen Aeußerungen zu sein, war Havishams Art, und er kehrte sie heute mehr als je hervor, denn er wollte, daß der Graf selbst urteilen und seinen Enkel kennen lernen sollte, ohne irgendwie beeinflußt zu sein.

»Gesund? Gut gewachsen?«

»Offenbar ganz gesund und gut gewachsen.«

»Gerade Glieder – menschliche Physiognomie?«

Ein leises Lächeln flog um Mr. Havishams dünne Lippen, als er an den rosigen Blondkopf dachte, wie er ihn zuletzt auf dem Tigerfell hatte liegen sehen.

»Ein ziemlich hübsches Kind, soweit man das von einem Jungen sagen kann, und soweit ich mich drauf verstehe. Aber Sie werden ihn einigermaßen verschieden von den englischen Kindern finden.«

»Zweifle nicht daran,« brummte der Graf mit einem Zucken in dem kranken Beine. »Freches, vorlautes Volk, diese amerikanischen Kinder! Habe oft genug davon gehört.«

Mr. Havisham trank seinen Portwein und eine kleine Pause folgte.

»Ich habe einen Auftrag von Mrs. Errol zu bestellen,« bemerkte er ruhig.

»Verschonen Sie mich damit! Je weniger ich von der Person höre, desto besser!«

»Die Sache muß doch erörtert werden. Sie zieht es vor, die ihr von Ihnen ausgesetzte Jahresrente nicht anzunehmen.«

»Was soll das heißen?« rief der Graf auffahrend. »Was soll das heißen?«

Mr. Havisham wiederholte seine Mitteilung und setzte hinzu: »Sie sagt, sie bedürfe der Summe nicht, und da die Beziehungen zwischen ihr und Ihnen nicht freundlicher Art seien –«

»Nicht freundlicher Art! Das will ich meinen! Der bloße Gedanke an sie ist mir zuwider. Eine geldgierige Amerikanerin mit schriller Stimme! Ich will sie nicht sehen!«

»Mylord, geldgierig können Sie die Dame doch kaum nennen. Sie hat nicht nur nichts verlangt, sondern das ihr Angebotene abgelehnt.«

»Bloßer Kunstgriff,« grollte der edle Lord. »Damit will sie mich dran kriegen, daß ich sie sehen soll und womöglich ihren Geist bewundern, wovor ich mich wohl hüten werde. Amerikanischer Trotz! Ich will nicht, daß sie als Bettlerin vor meinem Thore wohnt. Sie ist die Mutter des Jungen und hat als solche eine Stellung zu wahren und soll sie wahren. Sie wird das Geld bekommen, ob sie will oder nicht! Damit will sie nur ihrem Jungen eine schlechte Meinung von mir beibringen! Wird ihn ohnehin schon genügend gegen mich eingenommen haben.«

»Nein,« sagte Mr. Havisham. »Ich habe Ihnen in dieser Hinsicht noch etwas von Mrs. Errol zu bestellen.«

»Was ich nicht hören will!« stieß Seine Herrlichkeit, keuchend vor Aerger und Gichtschmerzen, hervor.

Mr. Havisham aber fuhr ungerührt fort: »Sie läßt Sie bitten, in Lord Fauntleroys Gegenwart nichts zu äußern, was ihm klar machen könnte, daß Sie ihr nicht wohlwollen. Der Knabe hängt sehr an ihr, und sie ist überzeugt, daß ihn dies Ihnen entfremden würde. Sie hat ihm einfach gesagt, daß er noch zu jung sei, um die Gründe der Trennung von ihr zu verstehen, und zwar, weil sie wünscht, daß auch kein Hauch des Mißtrauens gegen Sie in des Knaben Herz aufkomme.«

Der Graf war in seinen Stuhl zurückgesunken; seine tiefliegenden, feurigen Augen funkelten hinter den starken Augenbrauen.

»Seien Sie vernünftig, Havisham,« sprach er mühsam, »Sie werden mir nicht weismachen wollen, daß die Mutter ihm nichts gesagt hat.«

»Nicht eine Silbe, Mylord,« versetzte der Advokat ruhig. »Der Knabe sieht in Ihnen nichts als den zärtlichen Großpapa. Nichts – absolut nichts ist je geäußert worden, was ihm auch nur den leisesten Zweifel an Ihrer Vollkommenheit erwecken könnte, und da ich Ihre Befehle in Bezug auf seine etwaigen Wünsche genau ausgeführt habe, sieht er in Ihnen den Inbegriff aller Großmut und Güte.«

»Wahrhaftig? Allen Ernstes?«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß es einzig in Ihrer Hand liegt, wie Sie das Verhältnis zu Lord Fauntleroy gestalten wollen, und wenn ich mich unterfangen dürfte, Eurer Herrlichkeit einen Rat zu geben, so wäre es der, nie verletzend von seiner Mutter zu sprechen.«

»Pah, pah! Ein Junge von sieben Jahren!«

»Der diese sieben Jahre an der Seite einer Mutter verlebt hat, der sein ganzes Herz gehört.«

Dreizehntes Kapitel

Es ist erstaunlich, in wie kurzer Zeit manchmal gerade die allermerkwürdigsten Dinge es fertig bringen, sich zu ereignen. Ein paar Minuten hatten einst hingereicht, den kleinen Jungen, der seine rotbestrumpften Beine von Mr. Hobbs‘ Schreibstuhl herunterbaumeln ließ und ein höchst anspruchsloses Dasein in einer weltentlegenen Straße führte, in einen englischen Edelmann und den Erben eines unermeßlichen Besitztums zu verwandeln. Und wieder hatten ein paar hundert Worte genügt, diesen Edelmann zu einem kleinen Usurpator zu stempeln, der keinen Heller besaß und auf den Glanz, der ihn umgab, nicht das geringste Anrecht hatte. Und so unglaublich es scheinen mag, nahm es wieder nicht allzu lange Zeit in Anspruch, von neuem alles umzugestalten und dem, der in Gefahr gestanden hatte, alles zu verlieren, alles zurückzugeben.

Daß diese letzte Wandlung der Dinge verhältnismäßig rasch vollzogen werden konnte, rührte besonders daher, daß die Frau, die sich Lady Fauntleroy nannte, ihrer Rolle in keiner Weise gewachsen war. Als Mr. Havisham sie einem ziemlich scharfen Kreuzverhör über ihre Verheiratung und über ihr Kind unterworfen hatte, war ihr begegnet, zwei- oder dreimal mit ihren eignen Aussagen in Widerspruch zu geraten, was sein Mißtrauen in hohem Grade erweckte. Sobald ihr aber dies zum Bewußtsein gekommen war, hatte sie alle Selbstbeherrschung und Geistesgegenwart verloren und sich in ihrer Wut immer mehr ins Verderben geredet. Ihre Angaben waren nur in bezug auf den Knaben unrichtig und schwankend; über die Thatsache ihrer Heirat mit Bevis Lord Fauntleroy, und ihre darauf folgende Entzweiung hatte auch Mr. Havisham keinerlei Zweifel. Dagegen brachte er heraus, daß ihre Aussage über den Ort, wo das Kind geboren war – eine Vorstadt von London – auf Erfindung beruhte, und als er auf Grund dieser ersten Unwahrheit mit mehr Hoffnung auf Erfolg als bisher seine Nachforschungen zu betreiben anfing, kam der Brief des jungen New Yorker Advokaten, sowie die beiden Schreiben von Mr. Hobbs.

Das war ein Abend, als der Graf und Mr. Havisham, die Briefe vor sich, in der Bibliothek saßen und ihre weiteren Plane besprachen!

»Von der dritten Unterredung an,« sagte Mr. Havisham, »war mir die Person in hohem Maße verdächtig. Das Kind schien mir älter zu sein, als sie angab, und sie irrte sich plötzlich einmal in der Jahreszahl seiner Geburt und versuchte dann, die Sache wieder zu vertuschen. Verschiedene Verdachtsmomente, die mir aufgestoßen waren, stimmen genau zu der in diesen Briefen erzählten Geschichte. Das Beste ist jedenfalls, diese beiden Tiptons telegraphisch zu benachrichtigen, daß sie sofort herüberkommen sollen, sie darf keine Ahnung davon haben und muß gänzlich unvorbereitet mit ihnen konfrontiert werden. Bei Licht betrachtet, ist sie eine ziemlich armselige Intrigantin und wird höchst wahrscheinlich die Geistesgegenwart verlieren und sich sofort verraten.«

Und so geschah es. Mr. Havisham setzte, um sie keinen Verdacht schöpfen zu lassen, seine Unterredungen mit der Prätendentin in der bisherigen Weise fort und versicherte sie, daß er eifrig damit beschäftigt sei, die Berechtigung ihrer Ansprüche gesetzlich prüfen und feststellen zu lassen, so daß ihr der Kamm außerordentlich schwoll und sie im Gefühl der Sicherheit jeden Tag anmaßender und kecker wurde.

Eines schönen Morgens, als sie, Zukunftsträumen nachhängend, in ihrem kleinen Wohnzimmer in dem einfachen Gasthause saß, ward Mr. Havisham bei ihr gemeldet: als er aber auf ihren Wunsch eintrat, folgten ihm nicht weniger als drei unangemeldete Besucher, der erste ein pfiffig dreinschauender halbwüchsiger Junge, dann ein hochgewachsener, breitschulteriger junger Mann und schließlich Seine Herrlichkeit der Graf in eigner Person.

Sie sprang auf und stieß einen gellenden Schreckensschrei aus – sie hatte weder Zeit noch Kraft, einen solchen zu unterdrücken. Seit Jahren hatte sie der beiden, die da hereintraten, höchstens hier und da einmal flüchtig gedacht, und wenn sie es gethan, so hatten ihre Gedanken ein Weltmeer und viele Tausende von Meilen zwischen sie und jene gelegt – die Möglichkeit eines Wiedersehens war ihr nie in den Sinn gekommen.

»Hallo, Minna!« sagte Dick, dessen Manieren leider nicht so vollendet waren, um in des Grafen erlauchter Gegenwart ein Grinsen zu vermeiden.

Der hochgewachsene junge Mann – Ben Tipton – sah sie schweigend an.

»Die Dame ist Ihnen bekannt?« fragte Mr. Havisham, von einem zum andern blickend.

»Jawohl,« sagte Ben, »wir kennen uns!« Damit wandte er ihr den Rücken, als ob er den verhaßten, widerlichen Anblick nicht länger ertragen könnte, und trat ans Fenster. Die Frau, die sich so vollständig entlarvt und preisgegeben sah, geriet nun in eine an Wahnsinn grenzende Wut, die freilich für Ben und Dick nichts Neues war, und erging sich in entsetzlichen Schimpfreden, Drohungen und Verwünschungen, was auf Dick die Wirkung hatte, daß sein Grinsen sich nicht mehr ganz innerhalb der Grenzen des Schönen hielt. Ben blieb abgewandt, regungslos stehen.

»Ich kann es vor jedem Gerichtshof beschwören, daß sie es ist,« sagte er dann zu Mr. Havisham, »und wenn es nötig ist, kann ich außerdem noch ein Dutzend Zeugen dafür beibringen. Ihr Vater ist von Haus aus ein anständiger Mann, freilich sehr heruntergekommen, die Mutter war gerade wie sie. Der Vater lebt noch und hat Ehrgefühl genug, sich seiner Tochter zu schämen. Er kann’s Ihnen sagen, wer sie ist, und ob sie mich geheiratet hat oder nicht.«

Dann, plötzlich die Faust ballend, wandte er sich zu ihr.

»Wo ist das Kind?« fragte er. »Es geht mit mir! Mit dir ist der Knabe fertig, so gut wie ich!«

Kaum hatte er ausgesprochen, als sich die in das Schlafzimmer führende Thüre ein wenig aufthat und das Kind, vermutlich durch das laute Sprechen neugierig gemacht, hereinguckte. Es war kein hübsches Kind, aber das Gesicht war klug und angenehm, ganz und gar dem Vater ähnlich, und am Kinn war die sehr sichtbare, dreizackige Narbe.

Ben ging auf ihn zu und nahm ihn bei der Hand; seine eigne zitterte heftig.

»Ja,« sagte er, »daß der der meine ist, kann ich auch beschwören. Tom,« wandte er sich zu dem Kleinen, »ich bin dein Vater und ich will dich mitnehmen. Wo ist dein Hut?«

Der Junge deutete auf einen Stuhl, wo derselbe lag. Das Mitgenommenwerden schien ihm offenbar eher erfreulich, und er hatte in den paar Jahren seines Erdenlebens des Ueberraschenden schon so viel erfahren, daß es ihm gar nicht verwunderlich vorkam, in diesem Fremden seinen Vater sehen zu sollen. Die Frau, die vor wenig Monaten zu ihm gekommen war, in das Haus, wo er von seiner ersten Kindheit an lebte, und ihm gesagt hatte, daß sie seine Mutter sei, war dem kleinen Manne so zuwider, daß er sehr bereitwillig war, sich von ihr zu trennen. Ben nahm den Hut und ging nach der Thüre.

»Wenn Sie mich wieder brauchen,« sagte er zu Mr. Havisham, »so wissen Sie ja, wo ich zu finden bin.«

Damit ging er hinaus, sein Kind an der Hand, ohne sich nur ein einziges Mal nach der Frau umzusehen. Diese schäumte jetzt buchstäblich vor Wut, wobei der Graf sie mit großer Ruhe fixierte.

»Kommen Sie, kommen Sie,« sagte Mr. Havisham. »So geht das nicht. Wenn Sie nicht in die Zwangsjacke wollen, so müssen Sie sich zusammennehmen.«

Der geschäftsmäßige, kühle Ton dieser Bemerkung schien ihr klar zu machen, das ihre Zornausbrüche hier ganz wirkungslos waren, und mit einem fürchterlichen Blicke auf den Anwalt rauschte sie ins andre Zimmer, die Thüre dröhnend hinter sich zuschlagend.

»Die macht uns weiter keine Not mehr,« bemerkte Mr. Havisham gelassen, und er hatte recht. Noch in derselben Nacht verließ sie die »Dorincourt Arms« und fuhr nach London, wo ihre Spur verloren ging.

Nach diesem Abschluß der widerlichen Szene bestieg der Graf sofort seinen Wagen.

»Nach Court Lodge,« lautete sein Befehl.

»Nach Court Logde!« rief Thomas im Aufsteigen dem Kutscher zu, »können sich darauf verlassen, da passiert wieder ‚mal was Besondres,« setzte er hinzu.

Als der Wagen vor Court Lodge anfuhr, war Cedrik eben bei seiner Mutter im Wohnzimmer.

Ohne sich melden zu lassen, trat der Graf ein, er sah um einen halben Schuh größer aus als sonst und um viele, viele Jahre jünger; seine Augen leuchteten.

»Wo ist Lord Fauntleroy?« rief er.

Vor Erregung errötend, trat Mrs. Errol ein paar Schritte vor.

»Ist er Lord Fauntleroy?« fragte sie bebend. »Ist er’s wirklich?«

Der Graf ergriff ihre Hand.

»Ja,« erwiderte er, »ja, er ist’s!«

Dann legte er die andre Hand auf Cedriks Schulter.

»Fauntleroy,« sagte er in seinem gebieterischen Tone, »frage deine Mutter, wann sie zu uns aufs Schloß kommen will!«

Fauntleroy schlang jauchzend die Arme um des Mütterchens Hals.

»Ganz bei uns bleiben sollst du! Hörst du, bei uns wohnen!«

Der Graf sah Mrs. Errol an und sie ihn. Es war sein voller Ernst; er hatte es für angemessen erkannt, mit der Mutter seines Erben Frieden zu schließen, und einmal zum Entschluß gelangt, wollte er die Angelegenheit mit gewohnter Bestimmtheit und Raschheit erledigt haben.

»Sind Sie ganz gewiß, daß Sie mich brauchen können?« fragte Mrs. Errol mit ihrem reizenden, sanften Lächeln.

»Ganz gewiß,« versetzte er kurz, »wir hätten Sie von Anfang an haben sollen – wir haben’s nur nicht gewußt. Ich hoffe, daß Sie kommen!«

Vierzehntes Kapitel

Ben kehrte mit samt seinem Jungen zu seiner Farm in Kalifornien zurück und zwar unter den denkbar günstigsten Verhältnissen. Kurz vor seiner Abreise von England hatte ihm Mr. Havisham die Mitteilung gemacht, daß Mylord für den Knaben, der unter Umständen Lord Fauntleroy hätte werden können, etwas thun wolle, und daß er es für das Beste halte, seinerseits eine größere Summe in Grundbesitz in Kalifornien anzulegen, dessen Bewirtschaftung, beziehungsweise die auf demselben zu betreibende Viehzucht Ben unter Bedingungen übernehmen solle, die ihn in den Stand setzen würden, für die Zukunft seines Sohnes ausreichend zu sorgen. Ben verließ also Europa als zukünftiger Herr einer kalifornischen Farm, die so gut wie sein Eigen war, und die er in wenig Jahren als sein alleiniges Besitztum zu sehen hoffen konnte, was auch in der That geschah, und Tom wuchs heran, kräftig und tüchtig und mit ganzem Herzen an seinem Vater hängend. Die beiden hatten überall und in allem Glück und Erfolg, und Ben pflegte zu sagen, daß sein Sohn ihn reichlich für alles frühere Mißgeschick entschädige.

Dick und Mr. Hobbs dagegen – letzterer war mitgekommen, um »allerorten nach dem Rechten zu sehen« – segelten nicht so bald in die Neue Welt zurück. Der Graf hatte von Anfang an im Sinne gehabt, für Dick zu sorgen, und es ward beschlossen, ihm vor allen Dingen eine richtige Erziehung zu teil werden zu lassen, Mr. Hobbs aber hatte bei sich erwogen, daß in Anbetracht des tüchtigen Vertreters, den er für sein Geschäft in Blankstreet gefunden hatte, er sich wohl den Luxus erlauben könne, den Festlichkeiten noch beizuwohnen, die für Lord Fauntleroys achten Geburtstag vorbereitet wurden. Sämtliche Pächter und sogar Tagelöhner waren mit Kind und Kegel dazu geladen, und im Park sollte ein Festschmaus, Spiele und Tanz abgehalten werden und für den Abend waren Freudenfeuer und allerlei Feuerwerk geplant.

»Ganz wie der 4. Juli!« sagte Lord Fauntleroy. »Schade, daß mein Geburtstag nicht am vierten ist, dann könnten wir’s miteinander feiern – gelt?«

Es muß leider zugestanden werden, daß die Freundschaft zwischen dem Grafen und Mr. Hobbs sich vor der Hand noch nicht bis zu der im Interesse der britischen Aristokratie dringend wünschenswerten Innigkeit entwickelt hatte. Mylord hatte im Umgange mit Spezereihändlern unglücklicherweise ebensowenig Erfahrung wie Mr. Hobbs in dem mit »’ristokraten«, und es mochte wohl daran liegen, daß das Gespräch zwischen ihnen nicht recht in Fluß kommen wollte. Ferner muß zugegeben werden, daß die Herrlichkeiten, welche Fauntleroy dem Freunde zu zeigen für seine Pflicht hielt, einen einigermaßen überwältigenden Eindruck auf ihn gemacht hatten, so daß sein Selbstgefühl etwas an fröhlicher Sicherheit eingebüßt zu haben schien.

Das äußere Thor, die steinernen Löwen und die Avenue hatten ihre Wirkung auf das Gemüt des stolzen Republikaners schon nicht ganz verfehlt, und der Anblick des Schlosses selbst, der Terrassen und Blumenbeete, der Gewächshäuser und des unterirdischen Gefängnisses, der Pfauen und Hunde, der Ställe und Waffen, des großen Treppenhauses und der zahllosen Livreediener hatte ihn dann etwas aus der Fassung gebracht, der Ahnensaal jedoch war es, der ihn um den Rest seiner Gemütsruhe brachte.

»Na, scheint so was wie ein Museum, hm?« fragte er, als Fauntleroy ihn in den großen, herrlichen Raum führte.

»Nein, ich – ich glaube nicht,« sagte Cedrik etwas unsicher. »Ich glaube nicht, daß es ein Museum ist. Großvater sagt, das alles seien Verwandte, Onkel und Tanten von ihm.«

»Die alle,« stieß Mr. Hobbs erschüttert hervor. »Die alle, Onkel und Tanten, der Großonkel muß aber eine Familie gehabt haben! Hat er sie alle aufgezogen?«

Er sank ergriffen von der Größe solchen Familienglücks in einen Stuhl und sah ganz aufgeregt um sich, bis es Lord Fauntleroy nicht ohne Schwierigkeit gelang, ihm auseinander zu setzen, daß es sich bei den sämtliche Wände vollständig bedeckenden Porträts nicht um die Nachkommenschaft eines einzigen Großonkels handle.

Zu guter Letzt fand er es aber doch geraten, Mrs. Mellon zu Hilfe zu rufen, welche die Geschichte jedes einzelnen Bildes und die Namen der Maler kannte, und die noch überdies höchst romantische und merkwürdige Dinge aus dem Leben der hier verewigten Lords und Ladies zu erzählen wußte. Nachdem Mr. Hobbs den Stammbaum des Hauses Dorincourt einigermaßen begriffen und einige derartige Erzählungen gehört hatte, fing er an, unter den Schätzen Schloß Dorincourts die Ahnengalerie fast am höchsten zu stellen, und manch liebes Mal sah man ihn von den »Dorincourts Arms«, wo er Quartier genommen hatte, herüberwandeln, um eine Stunde im Ahnensaale zu verbringen und unter stetem Kopfschütteln die gemalten Damen und Herren anzustarren, die ihn ihrerseits ebenso verwundert wieder anstarrten.

»Und lauter Grafen oder beinahe Grafen,« sagte er dann vor sich hin. »Und er wird auch so einer!«

Im Innersten waren ihm die »’ristokraten« und ihre Art zu leben keineswegs so sehr zuwider, als er sich gedacht hatte, und es ist sehr zweifelhaft, ob seine republikanischen Grundsätze durch die nähere Bekanntschaft mit Schlössern und Ahnen und all den sonstigen Annehmlichkeiten nicht in ein bedauerliches Schwanken gerieten. Eines Tages wenigstens vernahm man eine Aeußerung aus seinem Munde, die zu solchem Verdacht Anlaß zu geben ganz geeignet war.

»Na, ich würd‘ mir am End‘ nichts draus machen, auch so ein Graf zu sein.« Das ließ tief blicken.

Es war ein großer Tag für alle, Lord Fauntleroys achter Geburtstag, und Seine kleine Herrlichkeit war glückselig dabei. Wie schön sah der Park nicht aus, gedrängt voll Menschen in ihren besten, buntesten Kleidern und die Zelte mit flatternden Fähnlein darauf, und die große Flagge, die vom Schlosse wehte. Kein einziger, der kommen durfte und konnte, war zu Hause geblieben, denn alle, alle waren ja von Herzen froh, daß ihr kleiner Lord Fauntleroy auch gewiß und wahrhaftig ihr Lord Fauntleroy bleiben und dereinst ihr Herr werden sollte. Jedermann wollte ihn heute sehen, ihn und seine hübsche kleine Mutter, die schon so viele Herzen gewonnen hatte, und jedermann hatte etwas mehr Achtung und weniger Furcht vor dem alten Herrn, weil der kleine Junge ihn so lieb hatte und so unverbrüchlich an ihn glaubte, und auch weil der Graf endlich mit seines Erben Mutter Frieden geschlossen hatte und ihr mit Achtung begegnete. Ja, einige waren sogar der Ansicht, daß die einstige Feindschaft im Begriff stehe, sich in warme Freundschaft zu verwandeln, und daß unter dem zweifachen Einfluß des Kindes und der Mutter noch ein ganz manierlicher alter Edelmann aus ihm werden könne, was dann jedenfalls männiglich zu gute käme.

Welche Scharen von Menschen sich unter den Bäumen und auf dem großen offnen Rasenplatz und unter den Zelten umhertrieben! Pächter und Pächtersfrauen in ihren Sonntagskleidern, Hüten und Shawls; junge Burschen mit ihren Mädchen; Kinder, die sich jagten und fröhlich umhersprangen, und alte Frauen, die in ihren roten Mänteln bei einander standen und schwatzten. Auch im Schlosse gab es Gäste, Damen und Herren, die gekommen waren, um sich den Spaß mit anzusehen, dem kleinen Lord ihren Glückwunsch darzubringen und Mrs. Errols Bekanntschaft zu machen. Lady Lorridaile und Sir Harry hatten sich eingefunden, Sir Thomas Asshe mit seinen Töchtern und selbstverständlich Mr. Havisham, und vor allem die schöne Vivian Herbert in einem ganz entzückenden weißen Kleide, mit einem Spitzenschirm und dem unvermeidlichen Geleite von Verehrern, die ihr aber samt und sonders nicht so interessant zu sein schienen, wie ihr allerjüngster. Als er sie sah, flog er auf sie zu und schlang die Arme um ihren Hals, und sie küßte ihn so herzlich, als ob er ihr kleiner Lieblingsbruder wäre, und sagte: »Lieber Fauntleroy! Herzensjunge! Ach, ich bin so froh, so von Herzen froh –«

Und nachher wandelten die beiden Hand in Hand durch den Park, und er zeigte ihr sämtliche Merkwürdigkeiten, und schließlich führte er sie dahin, wo Mr. Hobbs und Dick sich aufgepflanzt hatten, und stellte ihr die beiden vor.

»Das ist mein alter, ganz alter Freund,« sagte er, »Mr. Hobbs – Miß Herbert – und das ist mein andrer alter Freund, Dick, und ich habe ihnen schon lange erzählt, wie schön du bist, und habe ihnen versprochen, daß sie dich sehen dürften, wenn du zu meinem Geburtstage kommst.«

Miß Herbert reichte beiden in ihrer liebenswürdigen Weise die Hand und plauderte eine Weile mit ihnen, stellte Fragen über Amerika und erkundigte sich, wie ihnen England gefalle, und Cedrik schwieg dazu und sah nur von der Seite mit strahlenden, bewundernden Blicken zu ihr auf und wurde ganz rot vor Freude, als er wahrnahm, daß Mr. Hobbs und Dick sein Entzücken teilten.

»Na, aber,« erklärte Dick nachher mit feierlicher Kennermiene, »das muß ich sagen, so ‚was hab‘ ich noch nicht gesehen. Die – die ist akkurat wie ein Bild – so ‚was, hab‘ ich gedacht, kommt nur in Geschichten vor.«

Jedermann sah ihr nach, wo sie vorüberging, und jedermann sah dem kleinen Lord Fauntleroy nach, und dazu schien die Sonne, die Fahnen flatterten, die Spiele nahmen ihren Verlauf, die Tanzenden flogen unermüdlich dahin, und inmitten der allgemeinen Freude schwamm Seine kleine Herrlichkeit förmlich in einem Meer von Wonne, und die ganze Welt erschien ihm so rosig, als sie nur je einem kleinen Jungen an seinem achten Geburtstag vorgekommen sein kann.

Und noch ein andrer war im innersten Herzen beglückt und glücklich – ein alter Mann, der, wenn er auch sein Lebenlang reich und vornehm gewesen war, doch im rechten Glücklichsein wenig Erfahrung hatte. Vielleicht war’s auch, weil er gelernt hatte, gegen andre gut zu sein, daß er plötzlich auf seine alten Tage erfahren hatte, wie es thut, von Herzen froh zu sein. Allerdings hatte er’s im Gutsein noch lange nicht so weit gebracht, als Fauntleroy glaubte, aber er hatte mindestens gelernt, etwas lieb zu haben in der Welt, und er hatte sich mehrmals darüber ertappt, daß er die wohlthätigen Dinge, zu denen ihn das arglose Vertrauen seines Enkels moralisch nötigte, eigentlich gar nicht ungern that – und das war immerhin ein Anfang. Ueberdies gefiel ihm seines Sohnes Frau mit jedem Tage besser, und es war keine ganz unwichtige Beobachtung, daß er im Begriff stand, auch sie lieb zu gewinnen. Er hörte gern ihre liebliche Stimme und sah gern in ihr reizendes Gesicht, und wenn er abends in seinem Lehnstuhl saß und sie mit ihrem Jungen am Kamin plauderte, hörte er gern unbemerkt zu und vernahm mit einer gewissen Neugier zärtliche, kluge und fein empfundene Worte, wie er sie vordem nie gehört hatte, und er begriff nun wohl, weshalb der kleine Geselle trotz der armseligen Straße in New York und trotz des Umgangs mit Krämern und Stiefelputzern eine vornehme, ritterliche Natur war, deren sich niemand zu schämen hatte, auch wenn es dem Geschick gefiel, ihn plötzlich wie im Märchen in ein Schloß zu versetzen und ihn zum Erben all der Herrlichkeit zu machen.

Die Sache war ja so einfach, es war ein reines, gutes, edelfühlendes Mutterherz, das ihn umgeben und geleitet hatte, und ihn gelehrt, gute Gedanken zu denken und für andre zu sorgen. Das ist sehr wenig und ist sehr einfach und ist vielleicht höher und besser, als alles andre. Er wußte nichts von Titel und Rang, von vornehmem Leben und vornehmen Sitten, aber er war überall und in jeder Lage liebenswert, weil er wahr und einfach und liebenden Herzens war. Und wer das ist, ist auch ein Königskind.

Und der alte Graf Dorincourt war heute wohl mit ihm zufrieden, wenn er ihn im Park sich unter den Leuten umhertreiben, mit manchen plaudern und jeden Gruß mit seinem kleinen, höflichen Komplimentchen erwidern sah, oder wenn er gegen seine Freunde, Mr. Hobbs und Dick, den aufmerksamen Wirt machte, oder sich leise neben seine Mutter oder Miß Herbert schlich und andächtig ihrer Unterhaltung lauschte. Am meisten befriedigt aber war er, als sie alle miteinander zu dem größten Zelt traten, wo die wohlhabenderen, bedeutenderen Pächter mit ihren Familien saßen und sich an Speisen und Getränk gütlich thaten.

Die Trinksprüche hatten eben angefangen, und der offizielle Toast auf den Grafen wurde heute mit einer gewissen Wärme aufgenommen, wie sie noch vor wenig Monaten undenkbar gewesen wäre. Dann aber brachte ein wohlbestallter Landmann die Gesundheit Lord Fauntleroys aus, und wenn an der Popularität Seiner kleinen Herrlichkeit auch noch der geringste Zweifel möglich gewesen wäre, so hätten diese endlosen, jubelnden Hurras, das Gläserklirren und Händeklatschen ihn beseitigen müssen. Ja, die Begeisterung war so groß unter den gutherzigen Leuten, daß nicht einmal die Gegenwart der Damen und Herren vom Schloß ihnen den geringsten Zwang auferlegen konnte. Es entstand ein ganzer Tumult und viel gerührte Blicke der Frauen ruhten auf der blühenden Kindergestalt, die zwischen Großvater und Mutter stand, und feuchten Auges flog es von Mund zu Mund: »Gott segne ihn, den herzigen, kleinen Jungen!«

Der kleine Lord Fauntleroy war glückselig. Er lächelte und machte zahllose Verbeugungen und war ganz purpurrot vor Stolz und Freude.

»Thun sie das, weil sie mich gern haben, Herzlieb?« fragte er stürmisch. »Ganz gewiß? Deshalb, Herzlieb, wirklich? O, wie bin ich froh!«

Und dann legte der Graf seine Hand auf des Knaben Schulter und sagte:

»Fauntleroy, du mußt ihnen danken für ihre Freundlichkeit.«

Cedrik sah betroffen zu ihm auf und blickte dann seine Mutter an.

»Muß ich das?« fragte er mit einem Anflug von Schüchternheit, und als sowohl Herzlieb als Miß Herbert ihm lächelnd zunickten, nahm er sein kleines Herz in beide Hände und trat entschlossen einen Schritt vor. Aller Augen richteten sich auf ihn, und er stand da mit seinem schönen, unschuldigen Kindergesicht, das einen rührenden Ausdruck von Tapferkeit trug, und begann, so laut er konnte, zu sprechen, so daß die hohe klare Stimme weithin vernehmbar war.

»Ich danke Ihnen so sehr! und ich hoffe, daß Sie an meinem Geburtstag recht vergnügt sind – weil ich auch so sehr vergnügt bin – und ich – ich freue mich auch sehr, daß ich Graf werden soll – im Anfang, da hab‘ ich mich nicht so gefreut – und ich – ich habe das Schloß so gern und das Dorf auch – es ist so schön hier – und – und – und wenn ich einmal Graf bin, will ich’s versuchen, gerade so ein guter zu werden, wie mein Großvater.«

Unter donnerndem Jubelruf der begeisterten Menge trat er zurück, schob mit einem leisen Seufzer der Erleichterung seine Hand in die des Grafen und schmiegte sich mit einem fragenden Blick, ob er es so recht gemacht habe, an den alten Herrn.

Das wäre eigentlich das Ende meiner Geschichte, allein ich kann mich nicht enthalten, noch von einer höchst eigenartigen Erscheinung zu berichten, und diese ist, daß der stolze Republikaner Mr. Hobbs sich von Alt-Englands »’ristokraten« so angezogen fühlte und es so unmöglich fand, seinen jungen Freund ohne seine Aufsicht heranwachsen zu lassen, daß er den Eckladen in New York verkaufte und in Seiner Herrlichkeit Dorf Erleboro eine gemischte Warenhandlung errichtete, die bald sehr viele Kunden hatte – die Schloßherrschaft inbegriffen – und Mrs. Dibble viel Herzeleid bereitete. Und wenn auch das persönliche Verhältnis zwischen dem Grafen und ihm kein eigentlich intimes zu nennen war, so wurde der wackere Hobbs mit der Zeit doch »’ristokratischer« als Mylord selbst, studierte jeden Morgen die Hofzeitung und verfolgte die Thätigkeit des Oberhauses mit höchstem Interesse. Etwa nach zehn Jahren war’s, daß Dick, der seine Studienzeit hinter sich hatte und den Bruder in Kalifornien besuchen wollte, an den würdigen Spezereikrämer die Frage richtete, ob er nicht Lust hätte, auch wieder nach Amerika zurückzukehren.

»Könnt’s nicht aushalten dort drüben,« sagte er, bedächtig das Haupt schüttelnd. »Muß in der Nähe von ihm bleiben und nach dem Rechten sehen. Und das Land drüben – solange man jung ist und sich rühren mag, ist’s ja schon gut, aber – es hat keine Traditionen – ja, ja, keine Traditionen!«

Drittes Kapitel

Während der folgenden Woche erfuhr Cedriks günstige Meinung über Grafen im allgemeinen und besondern noch eine wesentliche Steigerung. Es wurde ihm anfangs schwer, zu begreifen, daß es kaum mehr etwas gab, was er nicht erlangen konnte, und völlig wurde er sich über diese Thatsache überhaupt nicht klar. Das aber hatte er nach einigen Gesprächen mit Mr. Havisham erkannt, daß die Wünsche, die er auf dem Herzen hatte, in Erfüllung gehen sollten, und er machte sich dies mit einem Entzücken und einer Selbstlosigkeit zu nutze, die den würdigen Herrn sehr ergötzten. In der Woche, ehe sie sich nach England einschifften, geschahen merkwürdige Dinge, und dem Advokaten blieb es unvergeßlich, wie sie morgens einen gemeinsamen Besuch bei Dick machten, und wie sie nachmittags die Apfelfrau »aus altem Geschlecht« in großes Erstaunen versetzten durch die Mitteilung, daß ein Zelt und ein Ofen und ein Shawl ihr zu teil werden solle, und überdies noch eine Summe Geldes, die ihr ganz abenteuerlich vorkam.

»Denn ich muß nach England gehen und ein Lord werden,« erklärte Ceddie mit herzgewinnender Freundlichkeit. »Und ich möchte nicht, so oft es regnet, an Ihre armen Knochen denken müssen. Meine Knochen schmerzen mich nie, deshalb kann ich mir nicht recht vorstellen, wie das ist, aber Sie haben mir immer sehr leid gethan und ich hoffe, daß jetzt alles besser wird.«

»Sie ist eine sehr gute Frau,« sagte er zu Mr. Havisham im Weggehen. »Einmal bin ich hingefallen und hatte ein Loch im Knie, da hat sie mir einen Apfel geschenkt, das hab‘ ich ihr nie vergessen. Sie wissen ja, das vergißt man nie, wenn jemand uns etwas Gutes gethan hat.«

Die Besprechung mit Dick war sehr aufregend. Dick hatte eben großen Verdruß mit Jack gehabt und war in sehr gedrückter Stimmung, als sie ihn begrüßten. Seine Verblüffung, als Cedrik ihm ganz ruhig mitteilte, daß er aller Not ein Ende machen wolle, war derart, daß er ganz sprachlos war. Lord Fauntleroys Art und Weise, den Zweck seines Besuches darzulegen, war von größter Einfachheit und Formlosigkeit, und auf den daneben stehenden Mr. Havisham machte die Geradheit, mit der er auf sein Ziel lossteuerte, großen Eindruck. Die Mitteilung, daß sein alter Freund ein Lord geworden und in Gefahr stehe, ein Graf zu werden, wenn er am Leben bleibe, veranlaßte Dick, Mund und Nase aufzusperren und so erstaunt ins Blaue zu starren, daß ihm die Mütze vom Kopfe fiel. Nachdem er dieselbe aufgehoben, stieß er eine Bemerkung aus, die Mr. Havisham etwas befremdete, Seiner Herrlichkeit aber nichts Neues zu sein schien.

»Was gibst du mir, wenn ich das Zeug glaube?«

Verletzt fühlte sich der kleine Lord keineswegs von dieser Bemerkung, wohl aber versetzte ihn dieselbe in einige Verlegenheit, aus der er sich aber tapfer herausarbeitete.

»Es denkt jeder, es sei nicht wahr,« sagte er. »Mr. Hobbs meinte, ich hatte einen Sonnenstich. Anfangs war es mir selbst auch gar nicht angenehm, aber nun habe ich mich schon daran gewöhnt. Der, welcher jetzt Graf ist, der ist mein Großpapa und der will, daß ich alles thun soll, was mir Freude macht. Er ist sehr gütig, wenn er auch ein Graf ist, und er hat mir durch Mr. Havisham eine Menge Geld geschickt, und davon sollst du welches haben, um Jack auszubezahlen.«

Das Ende vom Liede war, daß Dick dies wirklich that, und daß er mit neuen Bürsten, einem sehr in die Augen fallenden Schilde und einer prächtigen Ausrüstung Alleinherrscher in seinem Geschäfte wurde. Er konnte erst ebensowenig an sein Glück glauben wie die Apfelfrau »aus altem Geschlechte«; er starrte seinen Wohlthäter ratlos an und erwartete jeden Augenblick, daß der Traum ein Ende haben werde. Erst als Cedrik ihm die Hand zum Abschied reichte, ward er sich der Thatsächlichkeit des ganzen Vorganges bewußt.

»Und nun leb wohl,« sagte Ceddie mit einem ernstlichen Versuche, ihn das Zittern seiner Stimme nicht merken zu lassen, und mit einem etwas krampfhaften Zwinkern der großen braunen Augen. »Ich hoffe, daß dein Geschäft jetzt gut geht. Mir thut’s leid, daß ich fort muß, vielleicht komme ich wieder, wenn ich ein Graf bin, und hoffentlich schreibst du mir auch, denn wir sind ja immer gute Freunde gewesen. Hier hab‘ ich dir’s aufgeschrieben, wie du die Adresse an mich machen mußt, ich heiße nicht mehr Cedrik Errol, sondern Lord Fauntleroy und – jetzt lebe wohl, Dick!«

Dick zwinkerte auch angestrengt mit den Augen, und doch waren seine Wimpern verräterisch feucht. Er war kein sehr gebildeter Schuhputzer, und es wäre ihm schwer geworden, seine Empfindungen in Worte zu fassen, deshalb machte er auch gar keinen Versuch dazu, sondern begnügte sich, zu blinzeln und etwas zu verschlucken, was ihm immer wieder im Halse aufstieg.

»Wollte, du bliebest hier,« sagte er mit heiserer Stimme. Dann lüftete er seine Mütze und wandte sich an Mr. Havisham: »Danke auch, Sir, daß Sie ihn hergebracht, und für alles. Er – er ist ein kurioser kleiner Kerl,« setzte er hinzu, »ich hab‘ immer große Stücke auf ihn gehalten. Und Grütz‘ im Kopfe hat er und ist so ein ganz aparter Jung‘.«

Und nachdem die beiden von ihm weggegangen, stand Dick noch lange da und sah ihnen nach, und solange er die kleine biegsame Gestalt so elastisch neben ihrem großen, ernsten Begleiter dahinwandeln sah, wollte der Nebel vor seinen Augen nicht weichen.

Bis zum Tage der Abreise brachte Seine Herrlichkeit so viel Zeit als möglich in Mr. Hobbs‘ Laden zu. Mr. Hobbs selbst war in sehr gedrückter Stimmung, aus der er sich kaum mehr aufzuraffen wußte, und als sein kleiner Freund ihm triumphierend sein Abschiedsgeschenk, eine goldne Uhr mit Kette überreichte, war er kaum im stande, die Gabe gehörig zu würdigen. Er legte das Etui auf sein Knie und schneuzte sich mehrmals mit großem Geräusche.

»Es steht was drin,« sagte Cedrik, »innen drin. Ich hab’s dem Manne selbst gesagt, was er hineinschreiben müsse: ›Mr. Hobbs von seinem ältesten Freunde, Lord Fauntleroy. Die Uhr, sie spricht: Vergiß–mich–nicht!‹ Ich will nicht, daß Sie mich vergessen.«

Mr. Hobbs machte abermals energischen Gebrauch von seinem Taschentuche.

»Ich werde dich auch nicht vergessen,« sagte er und seine Stimme klang ebenso merkwürdig heiser wie die von Dick, »vergiß nur du mich nicht, wenn du unter die englischen Aristokraten kommst.«

»Sie werde ich nicht vergessen, unter was für Menschen ich auch komme,« versicherte der kleine Lord. »Bei Ihnen bin ich immer am glücklichsten gewesen, fast am glücklichsten, und ich hoffe, Sie besuchen mich einmal. Mein Großpapa würde sich ganz gewiß furchtbar freuen; vielleicht schreibt er Ihnen selbst und ladet Sie ein, wenn ich ihm alles erzähle. Und – und nicht wahr, Sie würden dann nicht daran denken, daß er ein Graf ist? Ich meine, Sie würden deshalb doch kommen, wenn er Ihnen schreibt?«

»Ich würde dir zuliebe kommen,« erklärte Mr. Hobbs huldvoll, und damit war zugestanden, daß er im Falle einer dringenden Einladung von seiten des Grafen seine republikanischen Vorurteile überwinden, sein Bündel schnüren und ein paar Monate auf Schloß Dorincourt zubringen würde.

Endlich waren alle Vorbereitungen abgethan. Der Tag erschien, an dem die Koffer an Bord geschafft wurden, und die Stunde, da der Wagen vor der Hausthür hielt. Ein seltsames Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit überkam dann den kleinen Jungen. Die Mutter hatte sich ein paar Stunden in ihrem Zimmer eingeschlossen gehabt, und als sie nachher die Treppe herabkam, waren ihre Augen naß und ihr lieblicher Mund bebte seltsam. Cedrik eilte ihr entgegen, sie beugte sich zu ihm nieder, und er schlang seine Aermchen um ihren Hals und küßte sie. Was es war, wußte er nicht recht, aber er fühlte, daß sie beide traurig waren, und unwillkürlich kam’s ihm auf die Lippen: »Gelt, Herzlieb, wir haben unser kleines Haus lieb gehabt? Und wir werden’s immer lieb behalten?«

»Ja, ja,« versetzte sie mit leiser Stimme. »Ja, mein Herzenskind.«

Und dann stiegen sie in den Wagen und Ceddie setzte sich ganz nahe zu seiner Mama, sah sie unverwandt an, hielt ihre Hand fest und streichelte sie ganz leise, indes sie nach dem verödeten Hause zurückblickte.

Unglaublich kurze Zeit darauf befanden sie sich auf dem Dampfer, mitten im wildesten Lärm und Getriebe. Wagen fuhren an und setzten Passagiere ab, Reisende gerieten in Verzweiflung über ihr Gepäck, das noch nicht da war und möglicherweise zu spät kam, Reisekoffer und Kisten wurden hin und her gezerrt und geschleppt, Matrosen rollten Taue auf und eilten ab und zu, Befehle wurden erteilt, Damen und Herren, Kinder und Kinderfrauen kamen an Bord, die einen lachend und fröhlich, die andern still und gedrückt, einzelne mit Thränen in den Augen. Ueberall entdeckte Cedrik etwas Interessantes; die Berge von Tauen, die aufgerollten Segel, die in den blauen Himmel hineinragenden Masten, alles fesselte seine Aufmerksamkeit, und er nahm sich fest vor, mit den Matrosen Freundschaft zu schließen und womöglich Näheres über Seeräuber zu erfahren.

Gerade im allerletzten Augenblicke – Cedrik stand am Geländer des oberen Deckes, beobachtete die Zeichen zur Abfahrt und erfreute sich an den Zurufen der Matrosen und der Leute auf dem Damme – bemerkte er in einer wenige Schritte von ihm entfernten Gruppe einen kleinen Kampf. Jemand drängte sich mit Gewalt durch und zwar in seiner Richtung, es war ein Junge, der etwas Rotes in der Hand hielt – Dick! Ganz atemlos gelangte er endlich in Cedriks Nähe.

»Bin ich gelaufen,« keuchte er, »wollte dich doch abfahren sehen. Geschäft ist prima. Von dem, was ich gestern gemacht, hab‘ ich das für dich gekauft, kannst’s brauchen, wenn du unter die feinen Leute kommst. Das Papier habe ich verloren im Gedränge, die Kerls wollten mich nicht ‚rauf lassen, ’s ist ein Taschentuch.«

In einem Atemzuge stieß er den Satz heraus, und ehe Cedrik Zeit hatte, etwas zu erwidern, erklang das letzte Zeichen, und mit einem gewaltigen Satze flog Dick davon.

»Leb wohl!« rief er noch. »Trag’s, wenn du zu den Vornehmen kommst!« und damit war er verschwunden.

Ein paar Sekunden darauf sah man ihn sich auf dem unteren Decke durch die Leute drängen und in dem Augenblicke, ehe die Planke weggezogen ward, sprang er ans Ufer und schwenkte seine Mütze.

Cedrik hielt sein hochrotes, seidenes Tuch, das mit ungeheuern dunkelblauen Hufeisen und Pferdeköpfen geschmückt war, in der Hand. Allgemeines Durcheinanderrennen und großer Tumult entstand. Vom Dampfer hinüber und herüber von den am Ufer Stehenden klangen die Rufe: »Leb wohl, altes Haus! Leb wohl! Leb wohl! Vergiß uns nicht. Nicht wahr, du schreibst von Liverpool? Gute Fahrt! Leb wohl!«

Der kleine Lord Fauntleroy beugte sich weit hinaus und ließ sein rotes Tuch flattern.

»Leb wohl, Dick!« rief er, so laut er konnte. »Ich danke dir! Leb wohl, Dick.«

Und das mächtige Schiff setzte sich langsam in Bewegung, die Leute riefen Hurra, Cedriks Mutter zog den Schleier vors Gesicht, auf dem Damme herrschte große Bewegung, Dick aber sah von alledem nichts, als das liebliche Kindergesicht mit seinem blonden Heiligenschein, auf den die Sonne fiel, und hörte nichts, als die herzliebe, frische Stimme, die immer wieder: »Leb wohl, Dick!« rief. So segelte der kleine Lord Fauntleroy von seinem Heimatlande weg in die ihm fremde Welt seiner Ahnen.