XIX. Das Schlachtfeld in der Nacht.

Wir müssen nach dem Plane dieses Buches noch einmal auf dieses grausige Schlachtfeld zurückkehren.

Am 18. Juni 1815 war Vollmond. Sein heller Schein begünstigte die wilde Verfolgung Blüchers, verrieth die Spuren der Fliehenden, überlieferte die unselige Masse der erbitterten preußischen Cavallerie und unterstützte die Metzelei. Bei mancher Katastrophe zeigt sich die Nacht so tragisch-gefällig.

Nach dem letzten Kanonenschusse war die Ebene von Mont-Saint-Jean still und verlassen.

Die Engländer besetzten das Lager der Franzosen. Es ist die gewöhnliche Constellation des Sieges, daß der Sieger sich in das Bett des Besiegten legt. Sie nahmen ihr Bivouac jenseit Rossomme. Die Preußen, denen die Verfolgung zugefallen war, drängten weiter. Wellington begab sich in das Dorf Waterloo und schrieb daselbst seinen Bericht an Lord Bathurst. Wenn jemals das sic vos, non vobis anwendbar ist, so gilt es gewiß von diesem Dorfe Waterloo.

Waterloo that gar nichts; es blieb eine halbe Stunde von dem Kampfe. Mont-Saint-Jean wurde beschossen, Hougomont niedergebrannt, ebenso Papelote und Planchenois, La Haie-Sainte mit Sturm genommen. La Belle-Alliance sah die Umarmung der beiden Sieger. Alle diese Namen kennt man kaum und Waterloo, das in der Schlacht selbst nichts that, trug alle Ehren davon.

Wir gehören nicht zu denen, welche dem Kriege schmeicheln; wir sagen ihm bei Gelegenheit die Wahrheit. Schauerliche Schönheiten besitzt er, aber auch, gestehen wir es nur, manche Häßlichkeit. Eine der überraschendsten und empörendsten ist die Beraubung der Todten nach dem Siege. Die Morgenröthe, die nach einer Schlacht aufgeht, sieht stets nackte Leichen.

Wer thut das? Wer befleckt also den Triumph? Welche häßliche Hand greift diebisch in die Tasche des Sieges? Welches sind die Schurken, welche ihren Coup hinter dem Rücken des Ruhmes machen? Einige Philosophen, unter andern Voltaire, versichern, es wären eben die, welche den Ruhm erworben. Es sind dieselben, sagen sie, denn es kommen keine Andern. Die Ueberlebenden plündern die Todten. Der Held des Tages ist der Vampyr der Nacht. Allerdings hat er wohl einiges Recht, den Leichnam zu plündern, welchen er geschaffen. Wir aber glauben es nicht. Eine und dieselbe Hand kann unmöglich Lorbeeren pflücken und einem Todten die Schuhe [stehlen].

Gewiß ist, daß gewöhnlich nach den Siegern die Diebe kommen. Aber unter den Soldaten, namentlich unter den Soldaten der Jetztzeit, wollen wir diese nicht suchen.

Die Nachzügler, welche jede Armee hat, muß man anklagen: Fledermauswesen, halb Räuber, halb Sklaven, alle Art Gezücht, welches jenes Dunkel, der Krieg, erzeugt, Uniformen, welche nicht kämpfen, angebliche Kranke, Lahme, welche geeignet sind Einem zur gelegenen Zeit Furcht einzujagen; Marketender, welche bisweilen mit ihren Weibern auf kleinen Wagen fahren, stehlen, das Gestohlene verkaufen; Bettler, welche sich den Officieren als Führer anbieten, Marodeurs – alles dieses schleppte oder zog die damalige Armee auf dem Marsche hinter sich her und zwar so sehr im eigentlichen Sinne des Wortes, daß man dieses Alles ausdrücklich »Nachzügler« nennt. Keine Armee, keine Nation war für diese Menschen verantwortlich. Sie sprachen italienisch und folgten den Deutschen, sie sprachen französisch und folgten den Engländern. Allein eine kräftige Disciplin kann diesen Aussatz heilen. Je nach der größeren oder geringeren Strenge der Führer sah man eine größere oder geringere Anzahl Marodeure im Gefolge der Armeen. Hiermit hängt es zusammen, daß mancher Ruf täuscht. Die Popularität mancher großen Generale hat hier ihren Grund. Turenne wurde von seinen Soldaten vergöttert, weil er ihnen die Plünderung freigab. Gestattung des Bösen gilt für Güte und Turenne war so gut, daß er die ganze Rheinpfalz durch Feuer und Schwert verwüsten ließ. Hoche und Marceau hatten keine Nachzügler, Wellington – diese Gerechtigkeit lassen wir ihm gern wiederfahren – nur wenige. Trotzdem wurden die Todten in der Nacht vom 18. zum 19. Juni ausgeplündert. Wellington war zwar streng. Er hatte Befehl gegeben, daß Jeder, welcher bei der That betroffen wurde, auf der Stelle niedergeschossen werde. Die Raubsucht ist aber zäh. Hier stahlen die Marodeurs, während man sie dort füsilirte.

Düster schaute der Mond über diese Ebene.

Gegen Mitternacht schlich oder kroch vielmehr ein Mann vom Hohlwege von Ohain her. Er war allem Anschein nach einer von denen, welche wir so eben charakterisirt haben, weder Engländer noch Franzose, weder Bauer noch Soldat, weniger Mensch als Vampyr, welchen der Fleischgeruch der Todten angelockt hatte, dessen Sieg im Diebstahl bestand. Wer war dieser Mann? Jedenfalls wußte die Nacht mehr von ihm als der Tag. Er trug zwar keinen Sack, hatte aber unter seiner Blouse ungeheure Taschen. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, musterte die Ebene, sah sich um, ob er vielleicht beobachtet werde, dann bückte er sich plötzlich, nahm Etwas weg von einem stillen, unbeweglich daliegenden Gegenstände, richtete sich wieder in die Höhe und schlich weiter. Sein Schleichen, sein Gang, seine Stellungen, seine geheimnißvollen Bewegungen gaben ihm mit jenen Dämmerungs-Larven eine gewisse Aehnlichkeit, welche alte Ruinen bewohnen und die wir in normännischen Legenden beschrieben finden.

Wenn man mit aufmerksamem Blick umhergeschaut hätte, so würde man in einiger Entfernung, hinter dem Gebäude an der Stelle, wo die Straße von Nivelles und der Weg von Mont-Saint-Jean nach Braine-l’Alleud zusammentreffen, versteckt einen kleinen Marketenderwagen von Weidenruthen, mit einer abgemagerten Mähre bespannt, welche hungrig die Nesseln vor sich abfraß, so wie in dem Wagen eine Art Weib bemerkt haben, welches auf Kisten, Kasten und Paketen saß. Vielleicht bestand eine Beziehung zwischen diesem Wagen und diesem Marodeur.

Die Luft war klar. Am Zenith war nicht ein Wölkchen zu sehen. Was geht es den Mond an, daß die Erde roth ist, er bleibt weiß. Dies gehört zur Gleichgiltigkeit des Himmels. Baumäste, welche die Kanonade zerbrochen, die aber noch an der Rinde fest hingen und nicht herab gefallen waren, schaukelten sanft im Winde der Nacht hin und her. Ein Hauch, so zu sagen ein Athem, bewegte die Gebüsche. Das Gras zitterte. Dieses Zittern glich dem Abschied scheidender Seelen.

In der Ferne hörte man undeutlich die Patrouillen kommen und gehen.

Hougomont und La Haie-Sainte standen noch in Flammen und bildeten, das eine im Westen, das andere im Osten, zwei ungeheure Flammen, denen sich wie eine aufgelöste Rubinenschnur mit zwei Karfunkeln an den Enden die Reihe der englischen Wachtfeuer anschloß, welche in einem ungeheuren Halbkreise über die Hügel des Horizonts ausgebreitet waren.

In dem Hohlwege von Ohain, dort, wo jenes schreckliche, beklagenswerthe Unglück sich ereignete, war jetzt alles still. Der Paß war mit Menschen und Pferden ausgefüllt, welche unentwirrbar unter einander gemischt waren – schreckliche Verwickelung! Den Abhang sah man nicht mehr. Die Leichname glichen das Niveau zwischen Straße und Ebene aus. Ein Leichenhaufen oben, ein Blutbach unten: das war dieser Weg am Abend des 18. Juni 1815. Das Blut floß bis auf die Straße von Nivelles und verbreitete sich hier in eine große Pfütze an einer Stelle, welche man noch heut zu Tage zeigt.

Nach dieser Seite zu wendete sich jener nächtliche Schleicher.

Er durchstöberte dieses ungeheure Grab. Er hielt wer weiß welche grauenvolle Todtenmusterung. Er watete in Blut.

Plötzlich blieb er stehen.

Einige Schritte von ihm, in dem Kreuzwege, an der Stelle, wo der Leichenhaufen endete, unter dieser Masse von Menschen und Pferden, guckte eine geöffnete, vom Monde hell beschienene Hand hervor.

Diese Hand hatte etwas Glänzendes am Finger. Es war ein goldener Ring.

Der Mann bückte sich und blieb einen Augenblick in dieser Stellung. Als er sich wieder in die Höhe richtete, glänzte nichts mehr an der Hand.

Ganz richtete er sich nicht auf. Er blieb in einer scheuen, erschreckten Haltung, den Rücken dem Todtenhaufen zuwendend, auf den Knieen den Horizont betrachtend. Den Vorderkörper stützte er auf die in den Boden gedrückten Vorderfinger, den Kopf hob er spähend über den Rand des Hohlweges. Zu manchen Thaten passen die vier Pfoten des Schakals.

Endlich hatte er einen Entschluß gefaßt und richtete sich auf.

In diesem Augenblick zuckte er zusammen. Er fühlte, daß ihn Jemand von hinten festhielt. Er wendete sich um. Es war die offene Hand, welche sich wieder geschlossen und den Schoß seines Rockes gefaßt hatte.

Ein ehrlicher Kerl hätte Furcht gehabt. Der aber lachte.

»Ha,« dachte er, »das ist ja nur der Todte. Lieber ein Gespenst, als ein Gensd’arm.«

Indessen wurde die Hand schwach und ließ ihn wieder los. Im Grabe lassen die Kräfte bald nach.

»Er lebt also, der Todte? Wir wollen doch sehen.«

Er bückte sich noch einmal, durchstöberte den Haufen, entfernte die Hindernisse, ergriff die Hand, faßte den Arm, machte den Kopf frei und zerrte am Körper. Einige Augenblicke nachher schleppte er im Dunkel des Hohlweges einen entseelten, wenigstens ohnmächtigen Körper hin. Es war ein Kuirassier, ein Officier, sogar ein Officier von höherem Rang. Eine dicke, goldene Epaulette guckte unter dem Kuiraß hervor. Ein wüthender Säbelhieb hatte ihm das Gesicht zerschnitten, in welchem man nur Blut sah. Ein Glied schien ihm übrigens nicht gebrochen zu sein. Die Leichen hatten sich durch einen glücklichen Zufall – wenn dieses Wort hier erlaubt ist – so um ihn her geschichtet, daß sie ihn vor jeder Zerquetschung sicherten. Seine Augen waren geschlossen.

Auf seinem Kuiraß hatte er das silberne Kreuz der Ehrenlegion.

Der Mann nahm das Kreuz an sich und ließ es in seinen ungeheuren Taschen verschwinden.

Darauf betastete er die Taschen des Officiers und fühlte eine Uhr. Er nahm sie. Dann durchsuchte er die Westentasche. Er fand eine Börse darin und steckte sie ein.

Als er bei diesem Stadium seiner Hülfsleistungen angekommen war, öffnete der Officier die Augen.

»Ich danke,« sagte er mit schwacher Stimme.

Die rohen, rücksichtslosen Bewegungen des Mannes, der sich an ihm zu schaffen machte, die Kühle der Nacht, die frische Luft, welche er einathmete, hatten ihn aus seinem todtenähnlichen Zustande befreit.

Der Marodeur antwortete nicht. Er erhob den Kopf. In der Ferne hörte man Geräusch von Schritten in der Ebene. Wahrscheinlich nahte eine Patrouille.

Der Officier murmelte – denn noch lag der Todeskampf in seiner Stimme –:

»Wer hat die Schlacht gewonnen?«

»Die Engländer,« antwortete der Marodeur.

Der Officier erwiederte:

»Durchsuchen Sie meine Taschen, Sie werden eine Börse und eine Uhr in denselben finden. Nehmen Sie Beides.«

Das war schon geschehen.

Der Marodeur that so als suche er und sagte:

»Es ist nichts da.«

»So hat man mich bestohlen,« erwiederte der Officier. »Es thut mir leid. Ich hätte es Ihnen gern gegeben.«

Die Schritte der Patrouille wurden immer deutlicher.

»Man kommt,« sagte der Marodeur und machte eine Bewegung, als wenn er gehen wollte.

Der Officier hob mit Anstrengung den Arm in die Höhe, hielt ihn zurück und sagte:

»Sie haben mir das Leben gerettet. Wer sind Sie?«

Der Marodeur antwortete schnell und leise:

»Ich gehöre wie Sie der französischen Armee an. Jetzt muß ich Sie verlassen. Wenn man mich ergriffe, würde man mich füsiliren. Ich habe Ihnen das Leben gerettet. Im Uebrigen müssen Sie sich jetzt selbst zu helfen suchen.

»Welche Charge haben Sie?«

»Sergeant.«

»Wie heißen Sie?«

»Thénardier.«

»Ich werde niemals diesen Namen vergessen«, sagte der Officier. »Merken Sie sich auch den meinigen. Ich heiße Pontmercy.«

I. Was man sieht, wenn man von Nivelles kommt.

An einem schönen Maimorgen des vergangenen Jahres (1861) machte ein Reisender, derselbe, welcher diese Geschichte erzählt, die Tour von Nivelles nach La Hulpe. Er ging zu Fuß. Der Weg ging zwischen zwei Baumreihen auf einer großen gepflasterten Chaussée hin, welche wellenförmig sich über Hügel hinaufschlängelt. Lillois und Bois-Seigneur-Isaac hatte er schon passirt. Im Westen gewahrte er den aus Schiefer gebauten Kirchthurm von Braine-l’Alleud, welcher die Gestalt einer umgekehrten Vase hat. Er hatte so eben ein auf einer Anhöhe befindliches Gehölz und an der Wende eines Seitenweges neben einer Art wurmstichigen Galgens, welcher die Inschrift »Alte Barriere Nr. 4« trug, ein Wirthshaus hinter sich gelassen, welches an seiner Vorderseite folgendes Schild hatte: »Zu den vier Wänden. Echabeau, Kaffeehaus.«

Eine Viertelstunde weiter kam er in einen Thalgrund, wo unter einem Brückenbogen Wasser in den Straßengraben fließt. Die einzelnen grünen Bäume, welche nach der Chaussée zu das Thal ausfüllen, zerstreuen sich nach der anderen Seite zu in den Wiesen und ziehen sich unordentlich und anmuthsvoll nach Braine-l’Alleud zu.

Rechts an der Straße stand ein Wirthshaus, davor ein vierrädriges Fuhrwerk, ein großes Bündel Hopfenstangen, ein Pflug, ein Haufen dürres Reisholz neben einer lebendigen Hecke, Kalk, der in einer viereckigen Grube rauchte und eine an einem strohenen Schuppen angebrachte Leiter. Ein junges Mädchen jätete auf dem Felde, wo ein großer gelber Zettel, wahrscheinlich die Ankündigung einer Kirmiß enthaltend, im Winde herum flatterte. Von der Ecke des Wirthshauses, neben einer Pfütze hin, in welcher zahlreiche Enten schwammen, führte ein schlecht gepflasterter Weg in das Gebüsch. Der Wanderer betrat dasselbe.

Nachdem er so etwa hundert Schritte längs einer Mauer aus dem fünfzehnten Jahrhundert mit spitzem Ziegeldache gemacht hatte, befand er sich einer großen gewölbten Steinpforte gegenüber mit einer gradlienigen Imposte im ernsten Style Ludwig XIV., an beiden Seiten mit zwei hervorragenden runden Flächen versehen, in welcher Brustbilder angebracht waren. Auf dem Boden vor der Pforte lagen drei Eggen, durch welche hindurch alle Blumen des Mai durcheinander wuchsen. Die Pforte war verschlossen. Sie hatte zwei alte morsche Flügelthüren zum Verschluß, welche mit einem alten verrosteten Klopfer geschmückt waren.

Die Scene war reizend; die Aeste hatten jenes sanfte Zittern des Mai, welches mehr von den Nestern als vom Winde herzukommen scheint. Auf einem Baume sang ein braver kleiner, wahrscheinlich verliebter Vogel, so eifrig wie er nur konnte.

Der Reisende bückte sich und betrachtete in dem links daliegenden Stein am rechten Thürflügel eine ziemlich große runde Aushölung, welche einer runden Honigzelle nicht unähnlich sah. In diesem Augenblicke öffneten sich die Thorflügel und eine Bäuerin trat heraus.

Sie sah den Reisenden und bemerkte, daß er sich in Betrachtungen erging.

»Eine französische Kugel hat das gethan,« sagte sie zu ihm.

»Was Sie da höher oben an der Thür sehen,« fügte sie hinzu, »neben einem Loche, das rührt von einer großen Kartätschenkugel her, welche aber nicht ganz durch das Holz durchgegangen ist.«

»Wie heißt der Ort?« fragte der Reisende.

»Hougomont,« sagte die Bäuerin.

Der Reisende richtete sich auf, ging einige Schritte weiter, sah über die Hecken und gewahrte am Horizont zwischen den Bäumen hindurch eine Art Hügel und auf demselben Etwas, das von Ferne wie ein Löwe aussah. Er befand sich auf dem Schlachtfelde von Waterloo.

X. Das Plateau von Mont-Saint-Hean.

Gleichzeitig mit dem Hohlwege wurde die Batterie demaskirt.

Sechzig Kanonen und dreizehn Carré’s feuerten auf die Cuirassire, welchen die Geschosse so zu sagen beinahe auf die Brust gesetzt wurden. Der unerschrockene General Delord machte der englischen Batterie seinen militairischen Gruß.

Die ganze fliegende englische Artillerie hatte sich im Galopp in die Carrés begeben. Die Cuirassire hatten nicht einmal Zeit festen Fuß zu fassen. Das Unglück im Hohlwege hatte sie zwar decimirt, aber nicht entmuthigt. Je geringer ihre Zahl wurde, desto größer wurde ihr Muth.

Im gestreckten Galopp, mit losgelassenen Zügeln, den Säbel zwischen den Zähnen, die Pistole in der Faust stürzten sie sich auf die englischen Carrés.

Es giebt in den Schlachten Augenblicke, wo die Seele den Körper bis zu dem Grade verhärtet, daß sie den Soldaten zu einer Statue macht, an welcher alles Fleisch Granit geworden ist.

Aber auch die in so heftiger Weise angegriffenen englischen Bataillone wichen nicht.

Es war schrecklich.

Alle Fronten der englischen Armee wurden zugleich angegriffen. Ein rasender Wirbel umhüllte sie. Die Infanterie aber blieb kalt und wankte nicht. Das erste Glied war nieder gekniet und empfing die Cuirassire mit dem Bajonett, während das zweite auf sie feuerte. Hinter diesem stand die Artillerie.

Von Zeit zu Zeit öffnete sich die Front des Carrés, ließ den Ausbruch einer Kartätschenladung durch und schloß sich wieder. Die Kuirassire blieben die Antwort nicht schuldig, wüthend säbelten sie Alles vor sich nieder. Mit ihren sich bäumenden Pferden setzten sie über die Bajonette, über die Glieder des Carrés mitten in dasselbe hinein, mitten in jene vier lebenden Mauern. Die Kugeln der Infanterie durchlöcherten die Reihen der Cuirassire, die Cuirassire brachen Bresche in die Carrés. Die durch die wüthende Kavallerie zusammengehauenen Carré’s zogen sich ohne zu wanken zusammen. Unerschöpflich im Schuß bewirken sie mitten unter den Angreifenden Explosionen. Sie waren Krater, die angreifende Kavallerie ein Sturm: die Lava kämpfte mit dem Blitz.

Das letzte Carré rechts, welches am meisten von allen ausgesetzt war, wurde schon beim ersten Anprall beinahe gänzlich vernichtet. Es war aus dem fünfundsiebzigsten Hochländer-Regiment gebildet. Der Dudelsackpfeifer saß in der Mitte auf einer Trommel und spielte, mit seinem melancholischen Auge, in welchem See und Hain der Heimath sich spiegelten, in tiefe Erinnerungen versunken, achtlos auf seine schreckliche Umgebung, Melodien der heimathlichen Berge, bis der Säbel eines Cuirassirs Sang und Sänger tödtete. Diese Schotten starben mit Erinnerungen an Ben Lothian wie die Griechen mit Erinnerungen an Argos. Die verhältnißmäßig wenig zahlreichen Cuirassire, welche durch die Katastrophe im Hohlwege noch mehr geschmolzen waren, hatten beinahe die ganze englische Armee gegen sich. Jeder aber galt so viel wie zehn. Das vergrößerte ihre Anzahl. Indessen begannen einige Hanoversche Regimenter zu weichen. Wellington sah es und dachte an seine Cavallerie. Hätte Napoleon in diesem Augenblicke an seine Infanterie gedacht, er würde die Schlacht gewonnen haben. Dieses Vergessen war ein großer verhängnißvoller Fehler von ihm.

Plötzlich sahen die angreifenden Kuirassire sich angegriffen. Die englische Cavallerie erschien hinter ihnen. Vor ihnen die Carré’s, hinter ihnen Somerset, d. h. vierzehnhundert Garde-Dragoner. Zu seiner Rechten hatte Somerset Dörnberg mit den deutschen Cheveauxlegers, zur Linken Trip mit den belgischen Carabiniers. So mußten die von allen Seiten angegriffenen Kuirassire nach überall hin Front machen. Was ging es sie an! Sie waren ein Wirbelwind.

Die hier auf allen Seiten bewiesene Tapferkeit ist unbeschreiblich: für solche Franzosen mußte es wenigstens solche Engländer geben.

Obwohl Ney mit Unterstützung herbeieilte und zwölf Angriffe erfolgten, hielten, sich die Carré’s immer noch. Ney wurden vier Pferde unter dem Leibe getödtet, die Hälfte der Kuirassire blieb auf dem Platze. Zwei Stunden dauerte der Kampf. Die Lage Wellingtons hatte sich verschlimmert. Diese seltsame Schlacht war wie ein Duell zwischen zwei bis auf den Tod erbitterter Verwundeten, die, ohne daß einer nachgiebt, bis auf den letzten Blutstropfen mit einander kämpfen. Wer von ihnen beiden wird zuerst fallen?

Wellington fühlte sich seinem Untergänge nahe: die Krisis war im Anzüge.

Die Kuirassire hatten zwar insofern ihren Zweck nicht erreicht, als sie das Centrum nicht durchbrochen hatten und sogar der größte Theil des Plateau’s, das Dorf und der Höhepunkt, den Engländern gehörte, während Ney nur den Abhang und den Kamm inne hatte. Die Schwächung der Engländer schien jedoch unheilbar, der Blutverlust dieser Armee war schrecklich. Die wüthenden Stöße der gewaltigen, eisenbepanzerten Schwadronen hatten die Infanterie zermalmt. Um fünf Uhr zog Wellington seine Uhr aus der Tasche und man hörte ihn dabei die düstern Worte murmeln: »Blücher oder die Nacht!«

Beinah in demselben Augenblicke blitzte in der Entfernung auf den Höhen nach Frischemont zu eine Bajonetlinie.

Das ist der Wendepunkt in diesem riesigen Drama.

XI. Napoleon hat einen schlechten, Bülow einen guten Führer.

Man kennt die schmerzliche Enttäuschung Napoleons: Grouchy wird erwartet, Blücher erscheint; der Tod statt des Lebens. Das Schicksal hat solche Wandlungen. Man erwartet den Thron der Weltherrschaft und sieht St. Helena vor sich. Wenn der kleine Hirte, welcher Bülow als Führer diente, diesem gerathen hätte, lieber oberhalb Frischemont statt unterhalb Planchenois aus dem Walde herauszukommen, so würde das neunzehnte Jahrhundert vielleicht eine andere Gestalt erhalten haben. Napoleon hätte die Schlacht von Waterloo gewonnen. Auf jedem andern Wege als auf dem unterhalb Planchenois wäre die preußische Armee auf eine für die Artillerie unübersteigliche Schlucht gestoßen und Bülow wäre nicht eingetroffen.

Eine einzige Stunde später – erklärt der preußische General Müffling – und Blücher hätte Wellington nicht mehr gefunden, »die Schlacht wäre verloren gewesen.«

Es war, wie man sieht, die höchste Zeit, daß Bülow ankam. Uebrigens war er sehr aufgehalten worden. Er hatte in Dion-le-Mont bivouakirt und war mit Anbruch des Tages aufgebrochen. Die Wege aber waren ungangbar und die Divisionen waren im Koth stecken geblieben. Die Gleise gingen bis an die Achsen der Kanonen. Außerdem hatte man den Dyle über die schmale Brücke zu Wavre passiren müssen; die zur Brücke führende Straße war von den Franzosen in Brand gesteckt; die Pulverwagen, die zwischen zwei Reihen brennender Häuser nicht hindurchfahren konnten, mußten warten, bis der Brand gelöscht war. Es war Mittag, als die Avantgarde Bülow’s Chapelle-Saint-Lambert noch nicht hatte erreichen können.

Wäre die Schlacht zwei Stunden früher begonnen worden, so würde sie um vier Uhr zu Ende gewesen und Blücher würde auf dem Schlachtfelde angelangt sein, wenn sich dasselbe bereits in den Händen des siegreichen Napoleon befunden. So sind diese unermeßlichen Zufälligkeiten mit dem Unendlichen in Uebereinstimmung gebracht, welches unserem sterblichen Auge entgeht.

Schon seit Mittag hatte der Kaiser zuerst mit seinem Fernrohre am äußersten Horizonte Etwas bemerkt, das seine Aufmerksamkeit fesselte. Er sagte: »ich sehe da unten eine Wolke, die mir von Truppen herzurühren scheint.« Dann fragte er den Herzog von Dalmatien: »Soult, was sehen Sie in der Richtung nach Chapelle-Saint-Lambert zu?« – Der Marschall richtete sein Fernrohr dahin und antwortete: »Vier bis fünftausend Mann, Sire. Offenbar Grouchy,« Jenes Etwas blieb indeß unbeweglich in dem Nebel. Alle Fernrohre des Generalstabes beobachteten die von dem Kaiser bemerkte »Wolke«. Einige sagten: »es sind Colonnen, die Halt machen.« Die Meisten erklärten aber: »es sind Bäume.« Allerdings bewegte sich die Wolke nicht und der Kaiser sandte Domons Division leichter Reiterei auf Recognoscirung dieses dunkeln Punktes aus.

Bülow hatte sich in der That nicht gerührt. Seine Avantgarde war sehr schwach und vermochte nichts. Er mußte auf das Gros des Armeecorps warten und hatte den Befehl, sich zu concentriren, ehe er in die Schlachtlinie einrücke. Um fünf Uhr aber befahl Blücher, da er die Gefahr Wellingtons sah, Bülow, anzugreifen und sprach dabei das beachtenswerthe Wort: »Man muß der englischen Armee Luft machen.«

Bald nachher entfalteten sich die Divisionen Losthin, Hiller, Hacke und Ryssel vor dem Lobau’schen Corps, die Cavallerie des Prinzen Wilhelm von Preußen brach aus dem Walde hervor, Planchenois stand in Flammen und die preußischen Kugeln begannen selbst bis in die Reihen der Garde-Reserve hinter Napoleon hinein zu regnen.

XII. Die Garde.

Das Uebrige kennt man: daß eine dritte Armee einbrach, die Schlacht verschoben wurde, plötzlich sechs und achtzig Feuerschlünde donnerten, Pirch I. mit Bülow und die Kavallerie Ziethens unter. Blüchers eigener Führung die Franzosen überraschte; daß die Franzosen zurückgeworfen, Macognet von dem Plateau Ohains hinweggefegt, Darutte aus Papolette vertrieben wurde, daß Donzelot und Quiot wichen und mit Einbruch der Nacht eine neue Schlacht sich auf die ermatteten französischen Regimenter stürzte; daß die ganze englische Linie von Neuem die Offensive ergriff und, vorwärts gedrängt, in die französische Armee wie ein gigantischer Keil einbrach; wie die englischen und preußischen Kartätschen einander unterstützten zur Vernichtung der Franzosen; wie endlich bei diesem Unglück auf allen Seiten die Garde in diesem entsetzlichen Zusammensturz, in die Schlachtlinie einrückte.

Da sie fühlte, daß sie in den Tod gehe, rief sie: »es lebe der Kaiser!« Die Geschichte kennt nichts Ergreifenderes als diesen in Jubelrufe ausbrechenden Todeskampf.

Der Himmel war den ganzen Tag über bedeckt gewesen. Plötzlich und grade in diesem Augenblicke, es war acht Uhr Abends, zogen sich die Wolken vom Horizont zurück und ließen durch die Ulmen an der Straße von Nivelles den mächtigen unheimlichen rothen Glanz der untergehenden Sonne durchdringen. In Austerlitz hatte man sie aufgehen sehen.

Jedes Bataillon der Garde war bei diesem Entscheidungskampf von einem General commandirt. Es waren Friant, Michel, Roquet, Harlet, Mallet, Poret von Morvan. Als die hohen Mützen der Grenadiere der Garde mit der breiten Adlerplatte, symmetrisch in schnurgrader Linie, ruhig, im Düster dieses Gedränges erschienen, fühlte der Feind Achtung vor Frankreich; man glaubte zwanzig Siege mit entfalteten, flatternden Fahnen auf dem Schlachtfelde erscheinen zu sehen, und diejenigen, welche die Sieger waren, hielten sich für besiegt und wichen zurück. Wellington aber rief: »Auf Garden, zielt gut!« Das rothe Regiment der englischen Garde, das hinter den Hecken lag, erhob sich, und ein Hagel von Kugeln durchlöcherte die dreifarbige, um die französischen Adler zitternd flatternde Fahne, Alles stürzte hervor – das letzte Gemetzel begann. Die kaiserliche Garde fühlte im Dunkel, daß die Armee um sie her wankte, die beginnende Verwirrung der ungeheuren Flucht; sie vernahm das sauve qui peut (es rette sich wer kann), das «n die Stelle des »es lebe der Kaiser!« getreten war. Während man hinter ihr floh, rückte sie vor, mehr und mehr niedergeschmettert, von Schritt zu Schritt dem Tode näher rückend. Zögernde und Furchtsame gab es da nicht. Der Soldat in dieser Truppe war ein ebenso großer Held wie sein General. Kein Mann entzog sich dem Tode, welcher hier einem Selbstmorde in gewisser Beziehung nicht unähnlich war. Ney, außer sich, groß im großartigen Bewußtsein des freiwilligen Todes, bot sich in diesem Unwetter allen Kugeln dar. Das fünfte Pferd schon war unter ihm gefallen. Mit flammenden Augen, triefend von Schweiß, Schaum auf den Lippen, mit aufgeknöpfter Uniform, eine seiner Epauletten von einem englischen Cavalleristenhiebe halb durchschnitten, sein Ordenstern auf der Brust durch eine Kugel verbogen, blutend, von Schmutz bedeckt, großartig, einen zerbrochenen Degen in der Hand, rief er: »Seht, wie ein Marschall Frankreichs auf dem Schlachtfelds stirbt!« Es war jedoch vergebens, er starb nicht. Wild und aufgebracht fragte er Drouet von Erlon: »Läßt Du Dich denn nicht tödten?« Mitten unter dieser Kanonade, welche diese Handvoll Männer niederwarf, rief er: »Giebt es denn nichts für mich? Ach! daß doch alle diese englischen Kugeln mir in den Leib führen!«. Unglücklicher! Du warst für französische Kugeln aufgespart!

XIII. Die Katastrophe.

Die Flucht hinter der Garde war schauerlich. Die Armee zog sich plötzlich auf allen Zeiten zurück, von La Haie-Sainte, von Papelotte, von Planchenois. Dem Rufe: Verrath! folgte der andere: Rette sich wer kann! Eine Armee, die sich auflöset, ist wie Eisgang. Alles zerreißt, zerspringt, senkt sich, schwimmt, fällt, stößt, wälzt und überstürzt sich. Unerhörte Auflösung! Ney, borgt sich ein Pferd, springt auf dasselbe und ohne Hut, ohne Halsbinde, ohne Degen stellt er sich quer auf die Straße nach Brüssel und hielt zugleich die Engländer und die Franzosen auf. Er bemühte sich die Armee zu halten; er rief sie an, er schimpfte sie, krampfhaft hängt er sich an die Flucht, um sie aufzuhalten. Diese aber überfluthet ihn. Die Soldaten wichen ihm aus, und riefen: »es lebe der Marschall Ney!« Zwei Regimenter Durutte’s zogen hin und her wie herumgeworfen zwischen den Säbeln der Uhlanen und den Kugeln der Brigaden Kempt, Best, Pack und Rylandt. Das schlimmste Gedränge ist die Flucht. Freunde ermorden sich, um fliehen zu können; die Schwadronen und Bataillone lösen sich auf und zerstreuen sich unter- und gegeneinander wie ungeheurer Schaum der Schlacht. Lobau an dem einen und Reille an dem anderen Ende werden in die Flut hineingezogen. Vergebens baut Napoleon mit dem Reste der Garde, die ihm geblieben, Mauern auf; vergebens verschwendet er seine Schwadronen zu einer letzten Anstrengung. Guyot, der die Kaiser-Schwadronen zum Angriffe führte, fällt unter den Hufen der englischen Dragoner. Napoleon galoppirt an den Fliehenden hin, redet sie an, drängt, droht, bittet. Jeder Mund, der des Morgens »es lebe der Kaiser!« gerufen hatte, blieb stumm. Man kannte ihm kaum. Die frisch angekommene preußische Cavallerie stürzt im Fluge herbei, säbelt nieder, zerhackt, mordet, vernichtet. Die Kanonen fliehen. Die Trainsoldaten spannen die Pferde ab und retten sich auf denselben; allerlei umgestürzte Wagen versperren die Straße und werden Veranlassung zu neuen Metzeleien. Einer tritt den Anderen, man metzelt sich gegenseitig nieder. Man läuft über Lebende und Todte hinweg. Die Arme wissen nicht was sie thun. Eine vom Schwindel ergriffene Menge füllt die Straßen und Wege, die Brücken, die Ebenen, die Hügel, die Thäler und die Wälder aus, welche von dieser Flut verdunkelt werden. Wilde Rufe, ins Getreide weggeworfne Tornister und Gewehre, keine Kameraden, keine Offiziere, keine Generäle mehr, nichts als ein unaussprechlicher Schrecken! Mit Säbeln bahnt man sich einen Weg. Ziethen säbelt Frankreich mit aller Bequemlichkeit nieder. Aus den Löwen sind Lämmer geworden. Das war die Flucht.

In Genappe versuchte man sich umzuwenden, Front zu machen, sich zu sammeln, Lobau sammelte dreihundert Mann. Man verbarricadirte den Eingang des Dorfes, aber schon beim ersten Einschlagen der preußischen Kugeln wendete man sich von Neuem zur Flucht und Lobau wurde gefangen genommen.

Die Preußen stürzten sich nach Genappe, wüthend ohne Zweifel, daß sie so wenig gesiegt. Die Verfolgung war grauenhaft. Blücher befahl Alles nieder zu machen. Roguet hatte zuerst jenes betrübende Beispiel gegeben, als er gedroht, jeden französischen Grenadier erschießen zu lassen, der ihm einen preußischen Gefangenen bringe. Blücher übertraf Roguet. Der General der jungen Garde, Duhesme, lehnte an der Thür eines Wirthshauses in Genappe, übergab seinen Degen einem Todten-Husaren, der den Degen nahm und den Gefangenen niederstach. Nach dem Siege die Niedermetzelung der Besiegten. Wir sind die Geschichte. Deshalb wollen wir strafend das Wort aussprechen: »der alte Blücher befleckte seine Ehre.« Diese Grausamkeit setzte dem Unglück die Krone auf. Die verzweiflungsvolle Flucht ging durch Genappe, Quatre-Bras, Sombresse, durch Frasnes, Thuin Charleroi, und machte erst an der Grenze Halt. Ach! und wer floh in solcher Weise? Die große Armee!

Hat dieser Schwindel, dieser Schrecken, dieser Sturz der höchsten Tapferkeit, welche jemals die Geschichte in Erstaunen setzte, keine Ursache? Nein! Der Schatten des gewaltigen Rechts wirft sich auf Waterloo. Es ist der Tag des Geschickes. Die Macht über den Menschen schuf diesen Tag. Daher die allgemeine Verwirrung; daher kommt es, daß alle diese großen Seelen ihre Waffen streckten. Die, welche Europa besiegt hatten, waren niedergeworfen. Sie hatten nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu thun; sie ahnten im Dunkel das Dasein von etwas Schrecklichem. Hoc erat in fatis. (So wollte es das Schicksal.) An diesem Tage änderte sich die Perspective des menschlichen Geschlechts. Waterloo ist der Angelpunkt des neunzehnten Jahrhunderts.

Der große Mann mußte verschwinden, damit das große Jahrhundert erscheinen konnte. Einer übernahm es, dem man niemals wiederspricht. Daraus erklärt sich der panische Schrecken der Heroen. In der Schlacht von Waterloo sehen wir mehr als eine Wolke, wir sehen ein Meteor. Gott war in derselben. Bei einbrechender Nacht ergriffen Bernard und Bertrand auf einem Felde bei Genappe einen in Gedanken versunkenen, finstern, düster blickenden Mann, welcher, von der Strömung der Flucht mit fortgetrieben, so eben von seinem Pferde abgestiegen war und den Zügel seines Pferdes unter dem Arm, neben demselben her zu Fuß und allein nach Waterloo hin zurückging. Es war Napoleon, welcher noch vorwärts zu gehen versuchte: schlafwandelnder Titan gestürzten Traumes.

XIV. Das letzte Carré.

Einige Carrés der Garde, unbeweglich in der Fluth der Flucht, wie Felsen im fließenden Wasser, hielten aus bis zur Nacht. In der Nacht erwarteten auch sie den Tod und unerschütterlich ließen sie sich einhüllen von diesem zweifachen Dunkel.

Ein jedes Regiment starb für sich, denn die Verbindungen mit den andern waren abgebrochen. Einige hatten auf den Höhen von Rossomme, andere in der Ebene Mont-Saint-Jean Stellung genommen, um diesen letzten Kampf zu kämpfen. Hier kämpften diese düsteren Carrés, verlassen, besiegt, schrecklich, einen furchtbaren Todeskampf. Ulm, Wagram, Jena, Friedland starben in ihm.

Gegen neun Uhr Abends in der Dämmerung war unten am Plateau von Mont-Saint-Jean noch Eines übrig. In diesem düstern, von englischen Massen übergossenen Thale am Fuße des Abhanges, welchen die Kürassiere erklommen hatten, kämpfte dieses Carré unter dem Kreuzfeuer der siegreichen feindlichen Artillerie, unter einem furchtbar dichten Kugelregen. Der Commandant desselben hieß Cambronne, ein unbekannter Offizier. Mit jeder Kugelladung wurde das Carré kleiner. Es gab jedoch Widerpart. Den Kartätschenkugeln antwortete es mit Flintenkugeln und dabei zog es seine vier Mauern immer mehr zusammen. Von Fern hörten die Fliehenden, wenn sie erschöpft einen Augenblick stehen blieben, dieses in der Dunkelheit schwächer und schwächer werdende, düstere Donnern.

Als diese Legion nur noch eine Hand voll Soldaten war, ihre Fahne nur noch ein Fetzen, ihre Gewehre wegen Mangel an Munition nur noch Stücke, als der Haufen der Gefallenen größer war als die Gruppe der Lebenden, empfanden die siegreichen Gegner diesen erhabenen Sterbenden gegenüber einen heiligen Schrecken. Die englische Artillerie schwieg. Es war ein Aufschub.

Die Kämpfenden hatten um sich herum gleichsam ein Gewimmel von Gespenstern, Silhouetten von Menschen zu Pferde, die dunkeln Umrisse der Kanonen, den zwischen Rädern und Lafetten hindurch schimmernden hellen Himmel. Der colossale Kopf des Todes, welchen die Helden im Pulverdampfe im Hintergrunde der Schlacht stets undeutlich erblickten, näherte sich ihnen immer mehr und schaute sie an.

Im Dämmerungsdunkel konnten sie die neue Ladung der Kanonen hören; die angezündeten Lunten, welche in dem Dunkel der Nacht wie Tiegeraugen aussahen, bildeten einen Kreis um ihre Köpfe. Alle Lunten wurden dicht an die Kanonen gebracht. Da rief in höchster Erregung ein englischer General (nach einigen Colville, nach andern Maitland), die letzte über dem Haupte der Helden schwebende Minute aufhaltend: »Ergebt Euch, tapfere Franzosen!« Cambronnes Antwort lautete: »Dreck!«

XV. Cambronne.

Mit Erlaubniß des französischen Lesers sei es gesagt, daß das schönste Wort, welches vielleicht je ein Franzose ausgesprochen, nicht einmal wiederholt werden kann; daß es verboten ist, das Erhabene in die Geschichte niederzulegen. Wir haben uns auf unsre Gefahr von diesem Verbot dispensirt.

Unter jenen Riesen gab es einen Titanen und dieser war Cambronne.

Was giebt es Größeres, als dieses Wort zu sagen und dann zu sterben! Denn sterben heißt, sterben wollen, es ist nicht seine Schuld, wenn er die Kanonade überlebt.

Der Mann, welcher die Schlacht von Waterloo gewonnen hat, ist nicht der fliehende Napoleon, nicht Wellington, welcher um 4 Uhr zu weichen begann und um 5 Uhr verzweifelte; es ist nicht Blücher, der sich gar nicht geschlagen hat! Der Mann, welcher die Schlacht von Waterloo gewonnen hat, ist Cambronne. Ein solches Wort dem euch tödtenden Donner ins Gesicht zu schleudern, heißt siegen. Diese Antwort der Catastrophe geben, dieses dem Schicksal ins Gesicht sagen, ironisch im Grabe zu sein, in einer Silbe die europäische Coalition zu ertränken, aus dem Letzten der Worte das Erste zu machen, Leonidas durch Rabelais zu vervollständigen, auf eigene Faust Waterloo mit einem Fastnachtsdienstag zu beschließen, diesen Sieg in ein letztes, unmöglich auszusprechendes Wort zusammen zu fassen, den Boden unter den Füßen zu verlieren und dabei die Geschichte im Auge zu behalten, nach solcher Metzelei die Lacher für sich zu haben – das ist ungeheuer, es ist eine dem Blitz angethane Beschimpfung, das ist äschyleische Größe. Das Wort Cambronnes brach verachtungsvoll hervor aus der Brust, in welcher der Todeskampf wüthete. Wer hat gesiegt? Wellington? Nein, denn ohne Blücher wäre er verloren gewesen. Blücher? Nein, denn wenn Wellington nicht begonnen hätte, hätte er nicht endigen können. Dieser Cambronne, welcher in der letzten Stunde erscheint, dieser unbekannte Soldat, dieser unendlich kleine Kriegsmann fühlt, daß die Catastrophe eine Lüge enthalt, welche ihn doppelt peinigt. Und in dem Augenblicke, wo er darüber vor Zorn außer sich geräth, bietet man ihm zum Hohn das Leben. Wie sollte er da nicht auffahren! Da suchte er nach einem Worte, wie man nach einem Schwerte sucht. Der Schaum kommt ihm auf die Lippen und dieser Schaum ist das Wort. Vor diesem großen und doch mittelmäßigen Siege, vor diesem Siege ohne Sieger richtet sich dieser Verzweifelte in die Höhe, er unterliegt der Massenhaftigkeit, er constatirt aber ihr Nichts. Und das heißt, Sieger sein.

Auf das Wort Cambronne’s antwortete die englische Stimme: »Feuer!« Die Batterien flammten, der Hügel zitterte, ein letztes schreckliches Geheul entstieg allen diesen Rachen von Erz. Eine ungeheure Rauchwolke, matt erleuchtet von dem aufgehenden Mond, rollte dahin. Als der Rauch sich verzog, war nichts mehr da. Jener ungeheure Ueberrest war vernichtet, die Garde war todt.

So endeten die französischen Legionen, welche höher zu stellen sind als die römischen, zu Mont-Saint-Jean auf der von Regen und Blut getränkten Erde an der Stelle, wo heut zu Tage 4 Uhr früh, pfeifend und lustig mit der Peitsche knallend der Postillon mit der Post, welche von Nivelles kommt, vorüberfährt.