II. Zwei vervollständigte Portraits.

Bisher hat man die Thenardiers nur im Profil gesehen; jetzt ist es Zeit, um dies Paar herumzugehen und dasselbe in ihrem vollen Gesicht zu betrachten.

Thenardier hatte sein fünfzigstes Jahr überschritten, sie näherte sich dem vierzigsten, welches bei der Frau das fünfzigste ist, so daß also zwischen Mann und Frau ein Gleichgewicht der Jahre Statt fand.

Vielleicht haben die Leser von dem ersten Auftreten der Thenardier diese große, blonde, rothe, fette, fleischige, vierschrötige, colossale und gewandte Frau nicht vergessen. Sie besorgte alles in der Wirthschaft: Betten, Zimmer, Wäsche, die Küche, Regen, gutes Wetter und den Teufel. Ihr einziger Dienstbote war Cosette, ein Mäuschen im Dienste eines Elephanten. Alles zitterte bei dem Ton ihrer Stimme, die Fensterscheiben, die Möbels und die Leute. Sie hatte einen Bart, welcher in ihrem mit Sommersprossen gesprenkelten Gesicht paradirte. Sie war das Ideal eines Riesen der Halle in Weiberkleidung. Sie fluchte splendid und rühmte sich eine Nuß mit einem Faustschlage zerschlagen zu können. Ohne die Romane, welche sie gelesen hatte und welche sie wunderlicher Weise auf Augenblicke wie einen Affen in Wolfsgestalt aussehen ließen, würde es Niemanden eingefallen sein zu sagen: Das ist ein Weib. Diese Thenardier sah aus wie ein Wesen, welches seine Entstehung dem Umstande verdankt, daß man ein Mädchen auf ein Fischweib inoculirt hat. Wenn man sie reden hörte, glaubte man, ein Gensdarm spreche; sah man sie trinken, so sagte man: das ist ein Fuhrmann. Sah man wie sie Cosetten behandelte, so sagte man: sie ist ein Folterknecht. Waren ihre Gesichtszüge im Zustande der Ruhe, so sah ein Zahn aus ihrem Munde hervor.

Der Thenardier war ein kleiner, magerer, blasser, dürrer, knochiger, schwächlicher Mann, der kränklich aussah, sich aber sehr wohl befand. Hier begann seine Betrügerei. Aus Vorsicht lächelte er gewöhnlich und war fast gegen alle Leute höflich, selbst gegen den Bettler, dem er den Sou abschlug. Er sah wie ein Hausmarder aus und zugleich wie ein Gelehrter. Den Portraits des Abbé Delille glich er sehr. Seine Koketterie bestand darin, daß er mit den Fuhrleuten trank. Noch Niemand hatte ihn betrunken machen können. Er rauchte aus einer dicken Pfeife, trug eine Blouse und unter dieser einen alten, schwarzen Rock. In Beziehung auf Literatur und materialistische Philosophie trat er mit gewissen Prätentionen auf. Um das, was er sagte, zuweilen zu bekräftigen, bediente er sich häufig der Namen Voltaires, Raynals, Parnys und seltsamer Weise auch des des heiligen Augustin. Er behauptete ein »System« zu haben. Uebrigens war er ein arger Gauner, ein Filousoph 8 – solche Nuancen kommen vor. Man erinnert sich, daß er Soldat gewesen zu sein behauptete. Mit vielem Wohlbehagen erzählte er, daß er bei Waterloo als Sergeant in irgend einem sechsten oder neunten leichten Regiment allein gegen eine Schwadron Todten-Husaren mit seinem Leibe »einen gefährlich verwundeten General« gedeckt und mitten durch den Kugelregen hindurch gerettet habe. Daher schrieb sich sein flammendes Schild an der Mauer seines Hauses und die Benennung seines Wirthshauses: »Zum Sergeanten von Waterloo.« Er war liberal, classisch und bonapartistisch. Im Dorfe erzählte man, er habe studirt, um Geistlicher zu werden.

Wir glauben, daß er einfach in Holland Gastwirth studirt hatte. Dieser Lump aus jener, aus Allerlei zusammengesetzten Menschenklasse war aller Wahrscheinlichkeit nach in Flandern ein Flamänder von Lille, in Paris ein Franzose, in Brüssel ein Belgier. Seine Heldenthat von Waterloo kennt man. Wie man sieht, übertrieb er sie ein wenig. Ebbe und Flut, Krümmungen, Abenteuer waren sein Lebenselement. Ein zerrissenes Gewissen zieht ein zerstückeltes Leben nach sich und wahrscheinlich gehörte Thenardier an dem stürmischen Tage des 18. Juni 1815 zu jenen Marketendern und Marodeuren, von denen wir gesprochen haben. Nach Beendigung des Feldzuges hatte er in Montfermeil eine Kneipe eröffnet, da er, wie er sagte, Etwas besaß »wovon«.

Das »Wovon«, welches in Börsen und Uhren, goldenen Ringen und silbernen Kreuzen bestand, die er in der Erntezeit in den mit Leichen besäeten Feldern eingeerntet hatte, wollte jedoch nicht viel sagen und brachte den zum Wirth gewordenen Marketender nicht weit.

Thenardier hatte etwas Rechtwinkliges in seiner Geberde, welche in Verbindung mit einem Fluche, an die Caserne und mit dem Zeichen des Kreuzes an das Seminar erinnert. Er war ein Schönredner und ließ sich gern für einen Gelehrten halten. Nichts destoweniger hatte der Schulmeister bemerkt, daß er »Schnitzer« machte. Mit Ueberlegenheit des Geistes schrieb er für die Reisenden die Rechnung, aber geübte Augen fanden bisweilen orthographische Fehler. Thenardier war ein Duckmäuser, ein Feinschmecker, ein Bummler, ein gewandter Kerl. Seine Dienstmädchen verschmähete er nie, weshalb seine Frau keine mehr hielt. Diese Riesin war eifersüchtig. Nach ihrer Meinung mußte der kleine magere, gelbliche Mann der Gegenstand des allgemeinen Wunsches sein.

Obwohl Thenardier zu der gefährlichen Sorte der scheinheiligen Schurken gehörte, so konnte er doch auch, ebenso gut wie seine Frau zornig werden. Das geschah aber selten. Da er der ganzen menschlichen Gesellschaft grollte, einen wahren Glutofen von Haß in sich hatte, da er zu den Leuten gehörte, welche sich ewig rächen, welche Alles, was vor ihnen sich ereignet, anklagen, zu jenen Leuten, welche stets bereit sind dem Ersten Besten alle Täuschungen, alle zernichteten Hoffnungen, alle Unfälle ihres Lebens zur Last zu legen, so war Thenardier in den Augenblicken des Zornes, wo diese ganze Erbitterung sich in ihm erhob, dieser ganze Sauerteig in ihm aufstieg und ihm im Munde und in den Augen kochte, fürchterlich. Wehe dem, der da seiner Wuth in die Zähne lief!

Außer allen seinen andern Eigenschaften war Thenardier aufmerksam und scharfblickend, je nach Gelegenheit schweigsam oder geschwätzig. Er hatte etwas von dem Blick der Seeleute, die daran gewöhnt sind zu blinzeln, um durch ein Fernrohr zu sehen. Thenardier war ein Staatsmann.

Jeder, der das erste Mal bei ihm eintrat, sagte bei dem Anblicke der Frau Thenardier: Sie ist Herr im Hause. Ein Irrthum. Sie war nicht einmal die Herrin. Der Herr und die Herrin zugleich war der Mann. Sie arbeitete, er schuf. Er leitete alles durch eine gewisse unsichtbare und ununterbrochene magnetische Kraft. Ein Wort genügte, bisweilen ein Wink; die Riesin gehorchte. Er war für sie, ohne daß sie sich Rechenschaft darüber gab, eine Art eigentümlichen und souveränen Wesens. Sie wußte sich trefflich in ihn zu schicken, und wäre sie auch über irgend ein Detail mit »Herrn Thenardier« nicht einig gewesen – eine übrigens gar nicht zulässige Voraussetzung – so würde sie doch vor den Leuten nie ihrem Manne Unrecht gegeben haben. Niemals hätte sie »vor Fremden« jenen Fehler begangen, den die Frauen so häufig begehen und den man mit dem parlamentarischen Ausdruck »die Krone bloßstellen« bezeichnet. Obgleich ihre Einigkeit kein anderes Resultat als das Schlechte hatte, lag doch Ueberlegung in der Unterwürfigkeit der Frau Thenardier gegen ihren Mann. Dieser Riese von Fleisch und Lärm bewegte sich unter dem Commando des kleinen Fingers dieses schwächlichen Despoten. Es war, von der zwergartigen und grotesken Seite angesehen, jene allgemeine großartige Erscheinung: die Beherrschung der Materie durch den Geist; denn gewisse Häßlichkeiten haben das Recht, selbst in den Tiefen der ewigen Schönheit zu sein. In Thenardier lag etwas Unbekanntes; daher die unbeschränkte Herrschaft dieses Mannes über dieses Weib. In gewissen Augenblicken sah sie in ihm eins brennende Kerze, in andern fühlte sie ihn wie eine Klaue.

Dieses Weib war ein entsetzliches Geschöpf, das nichts liebte als ihre Kinder, und nichts fürchtete als ihren Mann. Mutter war sie, weil sie als Mensch zugleich Säugethier war. Uebrigens beschränkte sich ihre Mutterliebe auf die Töchter und erstreckte sich, wie man sehen wird, nicht auf den Knaben. Er, der Mann, hatte nur einen Gedanken: reich werden.

Es glückte ihm nicht. Diesem großen Talent fehlte ein würdiger Schauplatz. Thenardier ging in Montfermeil zu Grunde, wenn das überhaupt bei einer Null noch möglich ist. In der Schweiz oder in den Pyrenäen würde dieser Mann ohne Sou ein Millionär geworden sein. Aber da, wo das Schicksal, den Gastwirth festsetzt, muß er abgrasen. Selbstverständlich ist das Wort »Gastwirth« hier in einem engeren Sinne zu nehmen und bezeichnet keineswegs die ganze Klasse.

Im Jahre 1823 hatte Thenardier etwa fünfzehnhundert Francs drängende Schulden, was ihn bekümmert machte.

Wie aber auch die hartnäckige Ungerechtigkeit des Schicksals gegen ihn gewesen, Thenardier gehörte zu den Leuten, welche vortrefflich und aus dem Fundament das, was bei barbarischen Völkern eine Tugend, bei den civilisirten eine Waare ist, vollkommen verstehen: die gastliche Aufnahme der Fremden. Er war überdies ein bewunderungswürdiger Wilddieb und berühmt wegen seines Büchsenschusses. Es war ihm ein gewisses kaltes und friedliches Lachen eigenthümlich, das ganz besonders gefährlich war.

Seine Theorieen sprühten bisweilen in Blitzen aus ihm heraus. Er hatte Professionssprüche, professionsmäßige Sentenzen, welche er seiner Frau einprägte. »Die Pflicht des Wirths,« sagte er eines Tages heftig, aber leise zu ihr, »besteht darin, an den Ersten Besten Fleisch, Ruhe, Licht, Feuer, gebrauchte Wäsche, Flöhe und Lächeln zu verkaufen; Reisende anzuhalten, die kleinen Börsen zu leeren, die großen in honetter Weise zu erleichtern, respektvoll reisende Familien unter Dach und Fach zu nehmen, Männer, Weiber, Kinder zu rupfen, das aufgemachte wie das zugemachte Fenster, den Platz, am Kamine, den Lehnstuhl, den gewöhnlichen Stuhl, den Sessel, die Fußbank, das Federbett, die Matratze und das Bund Heu sich bezahlen lassen; zu wissen, wie viel der Schatten den Spiegel abnutzt und dies zu taxiren, und, bei den fünfmalhunderttausend Teufeln sich von den Reisenden alles bezahlen zu lassen, selbst die Fliege, welche sein Hund frißt.«

Dieser Mann und dieses Weib waren wie eine Ehe zwischen Wuth und List: ein häßliches und schreckliches Gespann.

Während der Mann grübelte und combinirte, dachte sie nicht an die abwesenden Gläubiger, kümmerte sie sich weder um gestern noch um morgen und lebte flüchtig ganz dem Augenblick.

So waren diese beiden Wesen. Cosette stand zwischen ihnen und litt ihren doppelten Druck wie ein Wesen, welches gleichzeitig von einem Mühlsteine gequetscht und von einer Zange zerrissen wird. Er und sie, jedes hatte eine verschiedene Art. Cosette wurde mit Schlägen überschüttet, das kam von ihr; im Winter ging sie barfuß, das kam von ihm.

Cosette lief Treppe auf und Treppe ab, wusch, bürstete, putzte, kehrte, lief, schleppte schwere Dinge und verrichtete, so klein sie war, große Arbeit. Kein Mitleid; die Herrin wüthend, der Herr giftig. Die Kneipe Thenardiers war wie eine Spinnewebe, in der Cosette gefangen war und zitterte. Es war als wenn die Fliege die Magd der Spinne wäre.

Das arme Kind schwieg und duldete.

Was geht in solchen Seelen vor, die so eben erst Gott verlassen haben, wenn sie von Sonnenaufgang an ganz klein und nackt unter den Menschen sich befinden?

  1. Wort im Originaltext, so viel bedeutend als philosophischer Filou.

III. Die Männer wollen Wein, die Pferde Wasser.

Es waren vier neue Reisende angekommen.

Cosette war in trauriges Nachdenken versunken; denn, obschon sie erst acht Jahre alt war, hatte sie schon so viel erduldet, daß sie oft träumerisch mit dem düsteren Blick alter Weiber da saß.

Von einem Faustschlage, welchen ihr die Thenardier gegeben, hatte sie ein ganz schwarz angelaufenes Auge, weshalb das Weib öfter sagte:

»Wie häßlich sie mit ihrem Buckel auf dem Auge ist!«

Cosette dachte daran, daß es schon Nacht sei, finstere Nacht, daß sie die Krüge in den Zimmern der so eben angekommenen Reisenden mit Wasser zu füllen habe und daß keines mehr da sei.

Es gab ihr zwar ein wenig Trost, daß man im Hause nicht viel Wasser trank. Wenn Einer Durst hatte, so wandte er sich lieber an die Flasche als an den Krug. Wer unter diesen Weingläsern ein Glas Wasser verlangt haben würde, wäre Allen wie ein Wilder vorgekommen. Trotzdem gab es einen Augenblick, wo das Kind zitterte: die Thenardier hob den Deckel eines auf dem Heerde kochenden Topfes in die Höhe, ergriff sodann ein Glas und ging schnell zum Wasserbehälter. Sie drehte den Hahn. Das Kind hatte den Kopf erhoben und folgte jeder ihrer Bewegungen. Ein dünner Wasserfaden kam aus dem Hahn herausgeflossen und füllte das Glas bis zur Hälfte. – »Es ist ja kein Wasser mehr da,« sagte sie. Darauf trat einen Augenblick Stillschweigen ein. Das Kind athmete nicht mehr.

»Bah,« begann die Thenardier wieder, indem sie das halb volle Glas betrachtete, »es wird wohl genug sein.«

Cosette setzte sich wieder zu ihrer Arbeit. Es dauerte aber wenigstens noch eine Viertelstunde, während welcher sie ihr Herz im Busen wie einen großen Flocken hin und her springen fühlte.

Sie zählte die Minuten, welche so verflossen und dachte: »wenn es doch schon morgen früh wäre.«

Von Zeit zu Zeit sah einer der Gäste auf die Straße und rief: »Es ist ja so dunkel heut draußen, wie im Backofen!« oder: »wenn man heute ohne Laterne ausgehen will, so muß man gradezu eine Katze sein.«

Cosette zitterte.

Da trat plötzlich ein Hausirer, welcher in der Kneipe Quartier genommen, ein und sagte mit auffahrendem Tone:

»Mein Pferd hat noch nichts zu trinken bekommen.«

»Gewiß, ganz gewiß,« sagte die Thenardier.

»Ich sage ihnen aber, nein, es hat noch nichts zu trinken bekommen,« erwiederte der Kaufmann.

Cosette war unter dem Tische hervorgekrochen.

»O ja, mein Herr,« sagte sie. »Das Pferd hat getrunken, es hat aus dem Eimer getrunken. Der Eimer war ganz voll. Ich selbst habe ihm zu trinken gegeben.«

Es war nicht wahr. Cosette log.

»Seht ein Mal an, die ist so groß wie eine Faust, und lügt so groß wie das Haus;« rief der Hausirer. »Ich sage Dir, daß es noch nicht getrunken hat. Ich kenne sein Schnaufen. Wenn es so schnauft, hat es noch nicht getrunken.«

Cosette blieb bei ihrer Behauptung und rief mit von Angst erstickter, kaum hörbarer Stimme:

»Und es hat doch getrunken!«

»Jetzt ist’s genug!« schrie der Hausirer. »Gebt meinem Pferde zu trinken und damit basta.«

Cosette kroch wieder unter den Tisch zurück.

»Wenn das Pferd noch nicht getrunken hat, so muß es zu trinken bekommen,« sagte die Thenardier; »das ist nicht mehr als billig.«

Darauf sah sie um sich und fügte hinzu:

»Wo steckst Du denn?«

Sie bückte sich und entdeckte Cosette, welche sich unter dem Tische beinahe unter die Füße der zechenden Gäste verkrochen hatte.

»Willst Du wohl hervorkommen,« schrie die Thenardier.

Cosette kroch hervor.

»Bringe dem Pferde zu trinken, Du namenloser Hund!«

»Ach, Madame,« sagte Cosette mit leiser Stimme »es ist ja kein Wasser mehr da.«

Die Thenardier machte die Straßenthür weit auf und schrie:

»So hole welches!«

Cosette ließ den Kopf sinken und nahm einen leeren Eimer, welcher im Winkel beim Heerde stand.

Dieser Eimer war größer als sie selbst. Das Kind hatte sich bequem hinein setzen können.

»Halt, Mamsell Kröte,« rief plötzlich die Thenardier. »Wenn Du zurückkommst, so holst Du beim Bäcker ein großes Brod. Hier hast Du ein Fünfzehn-Sous-Stück.«

Cosette hatte an der Seite ihrer Schürze eine kleine Tasche. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie das Stück Geld und steckte es in diese Tasche.

Darauf blieb sie mit dem Eimer in der Hand unbeweglich vor der geöffneten Thür stehen. Sie schien zu warten, ob ihr nicht Jemand zu Hilfe kommen würde.

»Vorwärts!« rief die Thenardier.

Cosette ging. Hinter ihr schloß sich die Thür.

IV. Eine Puppe erscheint in der Scene.

Die Reihe der Buden unter freiem Himmel, welche bei der Kirche begann, erstreckte sich, wie man sich erinnert, von da an bis zur Herberge Thenardier. Diese Buden waren, weil die Passage der Kirchenbesucher, welche sich in die Mitternachtsmesse begeben wollten, hier vorüberging, alle mit Lichtern erleuchtet, welche in papiernen Trichtern steckten, was, wie der Schulmeister sagte, der an jenem Abend auch bei Thenardiers war, »einen magischen Eindruck« hervorbrachte. Dafür sah man aber auch am Himmel nicht einen einzigen Stern.

Die letzte dieser Baracken, welche sich grade der Thenardierschen Kneipe gegenüber befand, war eine Bude mit Kinderspielwaaren, glänzend von allerlei Spielsachen von Glas und Blech. Ganz vorn im Vordergrunde hatte der Trödler auf weißen Tüchern eine ungeheure, ungefähr zwei Fuß hohe Puppe hingestellt, die in ein Rosakrepkleid mit goldenen Aehren auf dem Kopfe gekleidet war und wirkliche Haare, sowie Augen von Email hatte. Alle Tage war dieses Wunder zum Staunen aller derjenigen Vorübergehenden, welche noch nicht zehn Jahre alt waren, ausgestellt gewesen, ohne daß sich in Montfermeil eine Mutter gefunden hätte, welche entweder reich oder verschwenderisch genug gewesen wäre, die Puppe für ihr Kind zu kaufen. Stundenlang hatten Eponine und Azelma sich vor die Bude hingestellt und die Puppe betrachtet, und Cosette selbst hatte es gewagt, hin und wieder einen verstohlenen Blick auf dieselbe zu werfen.

In dem Augenblick, als Cosette aus dem Hause trat, mit ihrem Eimer in der Hand, traurig und niedergeschlagen wie sie war, konnte sie nicht umhin die Augen zu dieser wunderbaren Puppe zu erheben, zu »der Dame«, wie sie dieselbe nannte. Das arme Kind blieb wie versteinert vor der Puppe stehen. So nahe hatte es die Puppe noch nicht gesehen. Die ganze Bude kam ihr wie ein Palast vor. Die Puppe war keine Puppe mehr, sie war eine Erscheinung. Freude, Glanz, Reichthum, Glück erschienen diesem unglücklichen, so tief in kaltes, düsteres Unglück versunkenen kleinen Wesen in einer Art fabelhafter, strahlender Pracht. Cosette bemaß mit jenem, der Kindheit eigentümlichen, naiven und traurigen Scharfsinn die Kluft, welche sie von dieser Puppe trennte. Nach ihren Gedanken mußte sie entweder eine Königin oder wenigstens eine Prinzessin sein, wenn sie »Etwas wie das« besitzen könnte. Sie betrachtete das schöne Rosakleid, die schönen glatten Haare und dachte: »Wie glücklich muß doch diese Puppe sein!« Sie konnte sich nicht satt genug sehen, sie konnte ihre Augen von dieser phantastischen Bude nicht los bekommen. Je länger sie hinsah, desto mehr wurde sie geblendet. Sie glaubte das Paradies zu sehen. Hinter der großen Puppe standen noch andere, die kamen ihr wie Feen und Genien vor. Der Trödler, welcher im Hintergrund der Bude auf und nieder ging, machte auf sie den Eindruck des lieben Gottes.

In diese Andacht versunken vergaß sie Alles, selbst den Auftrag, der ihr ertheilt worden war. Plötzlich rief sie die rauhe Stimme der Thenardier in die Wirklichkeit zurück: – »Wie, Du Faulenzerin, Du bist noch nicht fort! Warte! Ich werde Dir schon Beine machen! Was thust Du denn da? Du Ungethüm!«

Die Thenardier hatte einen Blick auf die Straße geworfen und Cosetten in ihrer Verzückung bemerkt.

Cosette machte, daß sie fort kam, und lief, den Eimer in der Hand, so schnell sie konnte davon.

II. Hougomont

Hougomont war ein trauriger Ort. Der Anfang des Hindernisses, der erste Widerstand, welchem in Waterloo jener große Holzfäller Europas begegnete, den man Napoleon nannte: der erste Knorren unter dem Axthiebe.

Damals war es ein Schloß, jetzt ist es nur noch eine Meierei. Für den Alterthumsforscher ist Hougomont » Hugonis mons.« Das Schloß wurde von Hugo, Herrn von Somerel, gebaut, demselben, welcher die sechste Kapellanstelle der Abtey von Villers dotirte.

Der Reisende stieß die Thür auf, stieß mit dem Ellenbogen unter dem Eingange an eine alte Kalesche und trat in den Hof ein.

Das Erste, was ihm auffiel, war eine Thür aus dem sechszehnten Jahrhundert, die einer Arcade glich, um welche herum Alles zusammengestürzt war. Das Ruinenhafte hat oft ein monumentales Aussehen. Bei der Arcade öffnet sich in der Mauer eine zweite Thür mit Schlußsteinen aus der Zeit Heinrich IV., durch welche man die Bäume eines Gartens sieht. Zur Seite dieser Thür ein Düngerhaufen, Hacken und Schaufeln, einige Karren, ein alter Brunnen, ein umherspringendes Füllen, ein radschlagender Truthahn, eine Kapelle mit einem Thürmchen, ein an der Wand dieser Kapelle am Spalier gezogener blühender Birnbaum – das zeigte dieser Hof, dessen Eroberung der Traum Napoleons war. Hätte er dieses Fleckchen Erde erlangen können, so wäre ihm vielleicht damit zugleich die Welt zugefallen.

Hühner scharren Staub auf. Man hört ein Knurren – von einem großen Hunde, der die Zähne zeigt und jetzt die Engländer vertritt.

Die Engländer waren hier bewunderungswürdig.

Die vier Gardecompagnien Cooke’s hielten sieben Stunden lang dem Andringen einer Armee Stand.

Sieht man den Plan von Hougomont auf der Karte, mit Gebäuden und Garten, so bildet er ein unregelmäßiges Rechteck, an dem ein Winkel eingedrückt ist. An diesem Winkel befindet sich die südliche Thür, geschützt von jener Mauer, die dicht daran stößt. Hougomont hat zwei Eingänge: den südlichen, den des Schlosses, und den nördlichen, jenen der Meierei. Napoleon schickte seinen Bruder Hieronymus gegen Hougomont. Die Divisionen Guillemminot, Foy und Bachele drangen vor. Fast das ganze Corps Reilles wurde aufgeboten und scheiterte. Die Kugeln Kellermanns vermochten nichts gegen diese heroische Mauer. Die Brigade Baudoin konnte Hougomont nicht im Norden überwinden, die Brigade Soye griff es im Süden an ohne es einzunehmen.

Die Gebäude der Meierei begrenzen den Hof im Süden. Ein Stück der nördlichen Thür, welche die Franzosen zertrümmert hatten, hängt noch angenagelt an der Mauer, Es sind vier über zwei Latten genagelte Bretter, an welchen die Spuren des Kampfes noch wahrnehmbar sind.

Dieses nördliche Thor welches die Franzosen zertrümmert hatten und in das man ein Stück eingesetzt hat, um die an der Mauer aufgehängte Thürfüllung zu ersetzen, befindet sich im Hintergrunde des Gehöftes, es ist viereckig in einer Mauer angebracht, welche unten von Stein, oben von Ziegel ist und den Hof nach Norden schließt. Es ist ein einfacher Thorweg, wie man ihn auf allen Gütern findet, mit zwei großen aus schwerfälligen Balken gemachten Flügeln: jenseits Wiesen. Der Kampf um diesen Eingang war ein wüthender gewesen. Lange Zeit sah man am oberen Rande des Thores allerlei Abdrücke von blutenden Händen. Hier wurde Bauduin getödtet.

Noch heute ist der Sturm des Kampfes in diesem Hofe, noch ist der Schrecken sichtbar, die Zerrüttung des Schlachtgetümmels hat sich hier versteinert. Es lebt und stirbt hier, als wenn erst gestern dies Alles gewesen wäre! Die Mauern liegen im Todeskampf, die Steine fallen, die Breschen schreien, die Löcher sind Wunden, die gebeugten und zitternden Bäume scheinen entfliehen zu wollen.

Im Jahre 1815 war dieser Hof mehr bebaut als jetzt. Gebäude, welche jetzt abgetragen, bildeten damals allerlei Ecken, Winkel und Absätze.

Hier hatten sich die Engländer verbarrikadirt. Die Franzosen drangen ein, konnten sich aber nicht behaupten. Bei der Kapelle steht noch ein Schloßflügel, ganz eingestürzt, man könnte beinahe ausgeweidet sagen. Es ist ein Rest des Herrenhauses von Hougomont. Das Schloß diente als Warte, die Kapelle als Blockhaus. Hier war das Gemetzel am größten. Die Franzosen, auf welche von allen Seiten her, von hinter der Mauer, von den Böden herunter, aus den Kellern, aus allen Fenstern, allen Löchern, allen Steinplatten geschossen wurde, brachten Faschinen herbei und zündeten die Mauern und Menschen an. Die Kartätschen wurden mit Brand beantwortet.

In dem zerfallenen Flügel des Gebäudes sieht man mit mitten durch die mit Eisenstäben versehenen Fenster die eingestürzten Mauern der Wohnung. In diesen Zimmern hatten sich die englischen Garden verschanzt. Der Treppenzug, vom Erdgeschoß an bis hinauf ins Dach zu mit Rissen versehen, erscheint wie das Innere einer zerbrochenen Muschel. Die Treppe hat zwei Absätze. Die Engländer, welche auf derselben belagert wurden und sich auf den oberen Stufen zusammendrängen mußten, hatten die unteren abgebrochen. Es sind große blaue Steinplatten, welche in den Brennnesseln einen Haufen bilden. Ein Dutzend Stufen hängt noch an der Mauer. Auf der ersten ist das Bild eines Dreizacks eingeschnitten. Diese unbesiegbaren Stufen hängen fest in ihrem Gemäuer. Es gleicht dieses Alles einem zahnlosen Kinnbacken. Zwei alte Bäume stehen da, von denen der eine ganz abgestorben ist, der andere am Untertheil verletzt ist und noch im April grünt. Seit 1815 ist er durch die Treppe gewachsen.

In der Kapelle metzelte man sich nieder. Das Innere derselben, wenn es auch wieder ruhig geworden, hat ein sonderbares Aussehen. Seit dem Blutbade ist keine Messe wieder darin gelesen worden.

Der Altar aber aus groben Holz und an rohe Steine angelehnt, ist stehen geblieben. Vier mit weißem Kalk bestrichene Wände, eine dem Altar gegenüber befindliche Thür, zwei kleine Bogenfenster, an der Thür ein großes hölzernes Cruzifix, über dem selben ein viereckiges, mit einem Bund Heu zugestopftes Luftloch, in einem Winkel am Fußboden ein alter ganz zerbrochener Fensterrahmen: das ist die Kapelle. Ueber dem Altar ist eine Holzstatue der heiligen Anna aus dem fünfzehnten Jahrhundert angenagelt. Den Kopf des Jesuskindes hat eine Kartätschenkugel weggerissen. Die Franzosen, welche kurze Zeit im Besitz der Kapelle, dann aber verdrängt worden waren, hatten sie angezündet. Das ganze Gebäude war voll von Flammen, es war ein Brennofen. Die Thür war verbrannt, der Fußboden war verkohlt, nicht aber das aus Holz bestehende Christusbild. Das Feuer hatte zwar an den Füßen desselben geleckt, von welchen man jetzt nur noch die schwarzen Stumpfe sieht, weiter war es aber nicht gekommen. Es war ein Wunder, wie die Leute dort sagen. Das geköpfte Jesuskind war nicht so glücklich, wie Christus gewesen. Die Wände sind mit Inschriften bedeckt. Unter den Füßen des Christus liest man den Namen Henquinez, dann Conde de Rio Maïor. Marques et Marquesa de Almagro (Habana). Auch französische Namen mit Ausrufungszeichen, Aeußerungen des Zornes. Im Jahre 1843 wurde die Wand neu angestrichen. Die Nationen beschimpften sich auf derselben.

An der Thür dieser Kapelle wurde ein Leichnam gefunden, welcher ein Beil in der Hand trug. Dieser Leichnam war der Seconde-Lieutenant Legros.

Wenn man aus der Kapelle herausgeht, so sieht man links einen Brunnen. Es giebt deren zwei im Hofe. Man fragt sich, warum derselbe ohne Schwengel und überhaupt nicht in Ordnung gebracht ist und warum man kein Wasser aus demselben schöpft?

Warum man kein Wasser aus demselben schöpft? Weil er voller Skelette ist.

Der Letzte, welcher Wasser aus diesem Brunnen schöpfte, hieß Wilhelm Van Kylson. Er war ein Bauer, welcher in Hougomont wohnte und daselbst Gärtner war. Am achtzehnten Juni 1815 ergriff seine Familie die Flucht und verbarg sich im Walde.

Der bei der Abtei von Villers befindliche Wald verbarg damals während mehrerer Tage und Nächte jene ganze zersprengte Bevölkerung der Umgegend. Noch heut zu Tage bezeichnen einige sichtbare Spuren, z. B. alte verbrannte Baumstämme den Ort, wo jene Unglücklichen zitternd, mitten im Gebüsch, bivouakirten. Wilhelm Van Kylson blieb in Hougomont, »um das Schloß zu bewachen«, und versteckte sich in einem Keller. Die Engländer entdeckten ihn da, rissen ihn aus seinem Versteck und zwangen den erschreckten Menschen mit flachen Säbelhieben, sie zu bedienen. Da sie Durst hatten, so mußte er ihnen zu trinken bringen. Aus jenem Brunnen schöpfte er das Wasser. Viele tranken damals ihren letzten Trank, und auch der Brunnen, aus welchem so viele Sterbende tranken, mußte sterben.

Nach der Schlacht beeilte man sich, die Todten zu begraben. Der Tod hat seine eigne Art und Weise, den Sieg zu necken. Er treibt die Pest hinter dem Ruhme her. Der Typhus ist ein Annexum des Triumphes. Der Brunnen war tief, man machte ein Grab aus ihm. Dreihundert Todte warf man hinein, vielleicht zu voreilig! Waren sie alle todt? Die Legende sagt nein.

In der Nacht nach dieser Beerdigung will man schwache Hilferufe aus dem Brunnen gehört haben.

Dieser Brunnen steht isolirt mitten im Hofe. Drei, halb aus Stein, halb aus Ziegel bestehende Mauern, welche wie die Blätter eines Schirmes gebaut sind und einen viereckigen Thurm darstellen sollen, umgeben ihn von drei Seiten. Die vierte Seite ist offen; auf dieser schöpfte man das Wasser. In der hinteren Mauer befindet sich eine Art unförmlichen Kapfensters, vielleicht ein von einer Haubitze herrührendes Loch. Dieses Thürmchen hatte eine Decke, wovon nur noch die Balken übrig sind. Der Widerhalt-Beschlag der rechten Mauer hat die Gestalt eines Kreuzes. Wenn man sich über den Brunnen beugt, so verliert sich das Auge in einen tiefen, ausgemauerten Schacht, welchen dichte Finsternis erfüllt. Alles um den Brunnen herum, sowie der untere Theil der Mauern verschwindet in den Brennnesseln.

Als Decke hat der Brunnen nicht jene große bläuliche Steinplatte, welche man sonst in Belgien an den Brunnen findet. Dieselbe ist hier durch einen Querbalken ersetzt, auf den fünf oder sechs unförmliche, knorrige Holzstücke sich stützen, welche riesigen Knochen ähnlich sehen. Eimer, Kette und Kloben fehlen; nur der hohle Stein ist noch da, welcher als Ausguß diente. Jetzt sammelt sich darin das Regenwasser. Zuweilen kommt ein Vogel aus den benachbarten Waldungen hierher, um zu trinken und wieder weg zu fliegen.

In dieser Ruine ist noch ein Haus, das Meiereigebäude, bewohnt. Die Thüre desselben geht auf den Hof. Neben einer hübschen gothischen Schloßblechplatte befindet sich auf dieser Thür ein eiserner Drücker in Gestalt eines querliegenden Kleeblattes. In dem Augenblicke, wo der hannoversche Lieutenant Wilda diesen Drücker ergriff, um sich in das Pachthaus zu flüchten, hieb ihm ein französischer Sappeur mit einem Beile die Hand ab.

Die Familie, welche jetzt das Haus bewohnt, hat den längst Verstorbenen alten Gärtner Van Kylson zum Großvater. Eine Frau mit grauen Haaren erzählte uns: – »Ich war auch da. Ich war damals drei Jahre alt. Meine ältere Schwester hatte Furcht und weinte. Man brachte uns in den Wald, wobei mich meine Mutter in ihren Armen trug. Man legte das Ohr auf den Erdboden, um zu horchen. Ich wollte es den Kanonen nachmachen und rief: Bumm! bumm!«

Wie wir gesagt haben, führt eine Thür des Hofes zur linken Seite in den Garten.

Derselbe ist schrecklich.

Er besteht aus drei Theilen oder, wie man richtiger sagen könnte, aus drei Akten. Der erste ist ein Blumengarten, der zweite der Obst- oder Baumgarten, der dritte ein Gehölz. Diese drei Theile haben eine gemeinschaftliche Umzäunung: nach dem Eingange zu die Gebäude des Schlosses und der Meierei, links eine Hecke, rechts und im Hintergrunde eine Mauer, wovon die erstere von Ziegeln, die letztere von Stein ist. Zunächst gelangt man in den Blumengarten. Derselbe ist von unten nach oben mit Johannisbeersträuchern bepflanzt, von wilder Vegetation bedeckt und von einer Terrasse geschlossen. Derselbe war früher ein herrschaftlicher Garten in jenem ersten französischen Style, wie er vor dem unsrigen Mode war. Jetzt ist er Ruine und Unkraut. Auf den Wandpfeilern ruhen Globusse, welche wie steinerne Kanonenkugeln aussehen. Man zählt noch dreiundvierzig Säulen auf ihren Würfeln, die andern liegen im Grase. Beinahe an Allen nimmt man Spuren von Gewehrfeuer wahr. Eine liegt zerbrochen da wie ein abgeschossenes Bein.

In diesen, niedriger als der Obstgarten gelegenen Blumengarten waren sechs Voltigeure vom ersten leichten Regiment eingedrungen.

Da sie in demselben angegriffen und, wie Bären in der Grube gehetzt, nicht mehr heraus konnten, so nahmen sie mit zwei hanoverschen Compagnieen, von denen die eine mit Karabinern bewaffnet war, den Kampf an.

Die Hanoveraner hatten die Säulen erstiegen und schossen von oben. Die Voltigeure gaben von unten Widerpart. Sechs, gegen zweihundert, unerschrocken, brauchten sie, indem sie nur die Johannisbeersträucher zum Schutz hatten, eine Viertelstunde Zeit, um zu sterben.

Man steigt einige Stufen in die Höhe, und gelangt so von dem Blumen- in den eigentlichen Obstgarten. Hier fielen auf einem Raume von wenigen Quadratruthen in nicht ganz Einer Stunde fünfzehnhundert Mann.

Die Mauer scheint heute noch bereit zu sein, den Kampf wieder aufzunehmen; denn noch heute befinden sich in derselben die von den Engländern in unregelmäßiger Entfernung von einander gemachten achtunddreißig Schießscharten. Vor der sechzehnten liegen zwei englische Grabsteine von Granit. Nur an der südlichen Mauer giebt es solche Schießscharten, denn von da erfolgte der Hauptangriff.

Von außen wird die Mauer durch eine hohe, lebendige Hecke verdeckt. Als die Franzosen hier ankamen, glaubten sie nur die Hecke vor sich zu haben, sie überstiegen sie und stießen auf die Mauer, hinter welcher die englischen Garden im Hinterhalt lagen. Die achtunddreißig Schießscharten gaben zu gleicher Zeit Feuer: ein Sturm von Kugeln und Kartätschen! Die Brigade Soye ging zu Grunde. So fing Waterloo an.

Trotzdem wurde der Garten genommen. Da man keine Leitern hatte, kroch man mit den Nägeln in die Höhe. Unter den Bäumen schlug man sich Mann gegen Mann. Es wäre nicht ein einziges Grashälmchen aufzufinden gewesen, welches nicht von Blut getrieft hätte. Ein Bataillon von Nassau, siebenhundert Mann stark, wurde hier niedergeschmettert. An der Außenseite, gegen welche die beiden Kellermannschen Batterieen gerichtet waren, ist die Mauer von dem Geschoß wie zerfressen.

Im Monat Mai macht dieser Garten auf das Gemüth denselben wohlthuenden Eindruck, wie jeder andere Garten. Er hat seine Goldknospen und seine Gänseblümchen; Ackerpferde werden in dem hochgewachsenen Grase, Wäsche trocknet an den zwischen den Bäumen gezogenen Leinen. Wenn man hindurch gehen will, muß man sich bücken und sinkt wohl auch mit dem Fuße in das Loch eines Maulwurfs. Mitten im Grase sieht man einen entwurzelten grünen Baumstamm liegen, an welchen sich der Major Blackmann lehnte, um seinen letzten Athemzug zu thun. Unter einem großen Baum in der Nähe fiel der deutsche General Duplat, welcher aus einer französischen, nach dem Widerruf des Edictes von Nantes flüchtig gewordenen Familie stammte. Daneben neigt sich ein alter mit Stroh und Lehm verbundener Apfelbaum. Und beinahe alle Apfelbäume in dem Garten sterben vor Altersschwäche ab. Es ist nicht ein einziger darin, welcher nicht seine Kugel oder seine Kartätsche erhalten hätte. Der Garten wimmelt von Baumskeletten.

Bauduin wurde getödtet, Foy verwundet. Der Brand, das Gemetzel, das Blutbad, ein Strom wüthend unter einander gemischten englischen, französischen und deutschen Blutes, ein mit Leichnamen angefüllter Brunnen, das Regiment Nassau und das Regiment Braunschweig aufgerieben, Duplat getödtet, Blackmann getödtet, die englische Garde verstümmelt, zwanzig französische Bataillone decimirt, dreitausend Menschen allein in diesem Hougomont niedergesäbelt, in die Pfanne gehauen, erwürgt, erschossen, verbrannt! Und alles das, damit heute ein Bauer zu dem Reisenden sagen könne: »Mein Herr, geben Sie mir drei Francs, wenn Sie wollen, so erkläre und zeige ich Ihnen Alles, wie es bei Waterloo zuging.«

I. Nummer 24,601 wird Nummer 9,430.

Johann Valjean war wieder ergriffen worden.

Man wird es uns Dank wissen, wenn wir uns bei diesen traurigen Einzelnheiten nicht aufhalten, sondern uns darauf beschränken, zwei durch die damaligen öffentlichen Blätter einige Monate nach den überraschenden Ereignissen in M… am M… mitgetheilten Nachrichten hier wieder zu geben.

Dieselben sind ein wenig kurz. Man mag sich jedoch daran erinnern, daß damals noch keine Gerichtszeitung existirte. Die erste Nachricht entnehmen wir dem Drapeau blanc. Sie ist vom 25. Juli 1823 datirt und lautet:

»Ein Arrondissement des Pas de Calais ist der Schauplatz einer nicht ungewöhnlichen Begebenheit gewesen. Ein im Departement nicht ortsangehöriger, dorthin zugegangener Mann Namens Madeleine hatte zufolge einiger neuen Vorrichtungen einen alten, in der Gegend von Alters her gepflegten Industriezweig, die Fabrikation grüner Glaswaaren sehr gehoben. Er hatte nicht nur sein Glück dabei gemacht, sondern auch das des Arrondissements und wurde er in Anerkennung dessen zum Maire ernannt. Die Polizei entdeckte aber, daß Madeleine ein früherer Sträfling Namens Johann Valjean sei, welcher im Jahre 1796 wegen Diebstahls verurtheilt worden und nachträglich die ihm durch die Polizei-Aufsicht auferlegten Beschränkungen verletzt hatte, weshalb er wieder in den Bagno gebracht worden ist. Vor seiner Verhaftung scheint es ihm geglückt zu sein, diejenigen Summen, welche er bei Lafitte in Höhe von wohl einer halben Million deponirt hatte, erhoben zu haben, welches Geld er übrigens, wie man sagt, ehrlich im Handel erworben haben soll. Der Ort, wo er die Summen vor seiner Verhaftung zu verbergen gewußt, ist bis jetzt unbekannt geblieben.«

Der zweite Artikel aus dem Journal de Paris von demselben Datum ist ein wenig umständlicher und lautet wie folgt:

»Ein früherer, aus dem Bagno zu Toulon freigelassener Sträfling Namens Johann Valjean hat dieser Tage unter Aufsehen erregenden Umständen vor den Assisen zu Var gestanden. Es war dem Verbrecher gelungen die Wachsamkeit der Polizei zu täuschen. Nachdem er sich einen anderen Namen gegeben, war es ihm geglückt, sich zum Maire einer kleinen Stadt im Norden ernennen zu lassen, woselbst er einen ziemlich beträchtlichen Handel betrieb. Endlich, in Folge unermüdlichen Eifers des öffentlichen Ministeriums, wurde er entlarvt und verhaftet. Seine Concubine, ein öffentliches Mädchen, starb vor Schreck hierüber. Der mit herculischer Kraft ausgestattete Bösewicht hatte Mittel gefunden, aus dem Gefängnisse zu entfliehen. Drei oder vier Tage nach seiner Flucht wurde er jedoch von der Polizei und zwar in Paris wieder ergriffen, als er in einen jener kleinen Wagen steigen wollte, welche von der Hauptstadt nach dem Dorfe Montfermeil die Tour machen. Er soll die kurze Zeit seiner Freiheit dazu benutzt haben, beträchtliche Summen, die er bei einem der ersten Bankiers deponirt hatte, zu heben. Man schätzt dieselben auf 6-700,000 Francs. Nach dem Anklageakte hat er sie an einem Orte verborgen, welcher nur ihm allein bekannt ist und welchen man bisher noch nicht hat entdecken können. Wie dem aber auch sei, der erwähnte Johann Valjean ist vor die genannten Assisen wegen auf öffentlicher Straße mit Gewalt verübten Diebstahls gestellt worden, welchen er vor ungefähr acht Jahren gegen einen armen Savoyardenknaben verübt haben soll. Der Bandit hatte auf die Verteidigung verzichtet. Die gewandte und beredte Rede des Staatsanwalts wies nach, daß Johann Valjean Complicen gehabt und zu einer Räuberbande gehört habe, welche damals im Süden hauste. Johann Valjean wurde in Folge dessen für schuldig befunden und zum Tode verurtheilt. Das Rechtsmittel der Cassation weigerte er sich zu ergreifen. Der König aber in seiner unerschöpflichen Milde hat geruht, seine Strafe in lebenswierige Zwangsarbeit zu verwandeln. Johann Valjean verbüßt seine Strafe im Bagno zu Toulon.«

Diesmal bekam Johann Valjean im Bagno eine andere Nummer. Er hieß jetzt 9430.

Uebrigens war mit Madeleine der Segen aus M… am M… verschwunden. Alles, was er in jener Fiebernacht vorausgesehen hatte, trat ein: mit ihm fehlte die Seele des Ganzen. Neid und Eifersucht erhoben sich. Alles geschah jetzt im Kleinen, statt im Großen; alles geschah des Gewinnes wegen, anstatt auch im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt. Der Mittelpunkt fehlte, überall herrschte Concurrenz und Erbitterung. Man verfälschte die Zubereitungsart, man untergrub das Vertrauen, Absatz und Aufträge verringerten sich. Das Arbeitslohn wurde gedrückt, die Werkstätten geschlossen, der Bankerutt blieb nicht aus. Nach seinem Falle war in M… am M… jene egoistische Theilung gefallener großer Existenzen eingetreten, jene verderbliche Zerstückelung alles Blühenden, welche in der menschlichen Gesellschaft täglich im Schatten derselben vor sich geht und welche die Geschichte nur Ein Mal vermerkt hat, das ist nach dem Tode Alexanders, wo die Generale sich als Könige krönen ließen. Hier machten sich die Gesellen zu Meistern.

Auch der Staat merkte, daß hier irgendwo eine Vernichtung Statt gefunden. Weniger als vier Jahre schon nach der Constatirung der Identität Madeleine’s mit Johann Valjean betrugen die Steuereinziehungskosten im Arrondissement M… am M… doppelt so viel als früher. Der Finanzminister Villéle bemerkte dies im Februar 1827 auf der Rednerbühne.

II. Wo man zwei Verse lesen wird, welche vielleicht den Teufel zum Autor haben.

Ehe wir weiter fortfahren, ist es nothwendig eines eigenthümlichen Ereignisses zu gedenken, welches sich ungefähr zu derselben Zeit in Montfermeil zutrug und vielleicht mit gewissen Muthmaßungen des öffentlichen Ministeriums in Verbindung steht.

In der Gegend von Montfermeil herrscht ein alter Aberglaube, welcher desto sonderbarer ist, als ein Aberglaube in der Nachbarschaft von Paris wie eine Aloe in Sibirien erscheint. Man glaubte nämlich, daß seit undenklichen Zeiten der Teufel den Wald bei Monfermeil sich auserwählt habe, um darin seine Schätze zu verbergen.

Die alten Frauen erzählen, daß man nicht selten beim Untergange der Sonne in abgelegenen Theilen des Gehölzes einen schwarz gekleideten Mann mit Holzschuhen, leinenen Hosen und einem leinenen Kittel begegne, welcher wie ein Kärrner oder Köhler aussehe und an der Stelle, wo andere Leute einen Hut oder eine Mütze tragen, zwei ungeheuere Hörner auf dem Kopfe habe. Das ist allerdings ein unbestreitbares Kennzeichen. Gewöhnlich sei dieser Mann damit beschäftigt ein Loch in die Erde zu graben. Es gebe drei Arten, wie man sich bei diesem Begegnen aus der Affaire ziehen könne. Ein Mal, wenn man an den Mann herantritt und ihn anspricht. Dabei gewahrt man, daß der Mann ein ganz gewöhnlicher Bauer ist, der nur wegen der Dunkelheit schwarz aussieht, daß er gar kein Loch gräbt, sondern Gras für die Kühe abschneidet und daß das, was man auf seinem Kopfe für Hörner angesehen, nichts anderes als eine Heugabel ist, welche er auf seinem Rücken trägt und die im Abenddunkel so aussieht, als wäre sie ihm aus dem Kopfe gewachsen. Kommt man aber nach Hause, so stirbt man noch in derselben Woche. Die zweite Methode besteht darin, daß man ihn von Ferne beobachtet, ihn ruhig sein Loch graben läßt und abwartet bis er damit fertig ist und wieder weiter geht, und daß man dann schnell herzu läuft und das Loch aufmacht, um den »Schatz« herauszunehmen. In diesem Falle stirbt man noch in demselben Monate. Die dritte Art endlich ist die, daß man zu dem schwarzen Manne gar nicht spricht, ihn gar nicht ansieht und schnellstens davon läuft. Dann stirbt man erst im Laufe des Jahres.

Da alle diese drei Methoden ihre Inconvenienzen haben, die zweite aber doch wenigstens einige Vortheile bietet, unter andern den, einen Schatz und wenn auch nur einen Monat lang zu besitzen, so machte man gewöhnlich von dieser Gebrauch, Die alle Chancen Versuchenden muthigen Menschen haben also, wie Versichert wird, oft genug versucht, die von dem Schwarzen gegrabenen Löcher zu öffnen und den Teufel zu bestehlen.

Der Erfolg scheint jedoch ein nur mittelmäßiger gewesen zu sein, wenigstens wenn man der Tradition glauben will und namentlich den beiden räthselhaften Versen im barbarischesten Latein, welche ein schlechter normannischer Mönch, eine Art Zauberer mit Namen Tryphon hierüber hinterlassen hat:

Fodit et in fossa thesauros condit opaca,
As, nummos, lapides, simulacra, cadaver, nihilque
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Denn was findet man, wenn man nach den ungeheuersten Anstrengungen endlich so weit zu sein glaubt, den »Schatz« zu heben? Worin besteht der Schatz des Teufels?

Ein Sous, manchmal ein Thaler, ein Stein, ein Todtengerippe, ein blutiger Leichnam, zuweilen auch gar nichts.

Heutzutage findet man wahrscheinlich auch hin und wieder ein Pulverhorn mit Kugeln oder ein etwas abgenutztes Spiel Karten, mit dem der Teufel wahrscheinlich gespielt hatte. Von solchem Fund kann Tryphon nicht sprechen, weil er im zwölften Jahrhundert lebte und der Teufel nicht so gescheidt gewesen zu sein scheint, vor Roger Bacon das Pulver und vor Karl VI. die Karten erfunden zu haben. Wenn man übrigens mit diesen Karten spielt, so verliert man gewiß sein ganzes Hab und Gut, und wenn man mit dem Pulver schießt, so zerspringt Einem die Flinte gewiß in der Hand. –

Kurz nach der Zeit, als das öffentliche Ministerium vermuthete, der freigelassene Sträfling Johann Valjean habe sich während der wenigen Tage seiner Flucht in der Gegend von Montfermeil herumgetrieben, machte man in dem Dorfe die Bemerkung, daß ein alter Straßenarbeiter mit Namen Boulatruelle im Gehölz »seine Gänge« habe.

Man glaubte in der Gegend zu wissen, daß dieser Boulatruelle im Bagno gesessen. Er stand gewissermaßen unter Polizeiaufsicht und da er nirgends Arbeit fand, so verwendete ihn die Verwaltungsbehörde als Arbeiter auf der Querstraße von Gagny nach Lagny.

Dieser Mann hatte nur Eins für sich, daß er meist betrunken war. Sonst war er über alle Maaßen höflich, demüthig, nahm vor Jedermann die Mütze ab, zitterte und lächelte vor den Gensdarmen und stand wahrscheinlich mit Diebesbanden in Verbindung, wie man wenigstens sagte, und wurde auch verdächtigt, in der Dämmerung in abgelegenen Orten im Hinterhalt zu liegen.

Man glaubte nun Folgendes bemerkt zu haben:

Seit einiger Zeit verließ Boulatruelle sehr zeitig seine Arbeit und ging mit seiner Hacke in den Wald. Gegen Abend begegnete man ihm in den ödesten Lichtungen, in den wildesten Dickichten, als suche er etwas, zuweilen sah man ihn auch Löcher graben. Die alten Weiber, welche vorüber gingen, hielten ihn Anfangs für den Beelzebub, dann erkannten sie ihn zwar, waren aber dadurch keineswegs beruhigt und fürchteten sich nicht weniger. Diese Begegnungen schienen Boulatruelle selbst sehr unangenehm zu sein. Es war offenbar, daß er ungesehen sein wollte und daß er sich mit etwas Geheimnißvollem beschäftigte.

In dem Dorfe hieß es: »Ganz gewiß hat sich der Teufel wieder gezeigt. Boulatruelle hat ihn gesehen und sucht ihn. Er möchte den Schatz des Schwarzen finden.« – Die Ungläubigen fügten hinzu: »Wird Boulatruelle den Teufel oder der Teufel Boulatruelle attrapiren?« – Die alten Weiber machten fleißig das Zeichen des Kreuzes.

Unterdeß hörte das Treiben Boulatruelle’s in dem Walde auf und er nahm regelmäßig seine Straßenarbeiten wieder auf. Man sprach von etwas Anderem.

Einige Personen indeß waren neugierig geblieben und meinten, es handele sich hier wahrscheinlich nicht um fabelhafte Sagenschätze, sondern um einen ernsthafteren und fühlbareren Fund als die Banknoten des Teufels, hinter dessen Geheimniß der Straßenarbeiter mehr oder weniger gekommen sein muß. Diejenigen, welche sich am meisten hierauf »verspitzt« hatten, waren der Schulmeister und der Schankwirth Thenardier, welcher letztere Jedermanns Freund war und es auch nicht verschmäht hatte, sich mit Boulatruelle zu liiren.

»Er ist im Zuchthause gewesen,« sagte Thenardier, »Ach du mein Gott, wer weiß, wer jetzt darin ist und noch hinein kommen kann.«

Eines Abends behauptete der Schulmeister, daß früher die Justiz sich darum gekümmert haben würde, was Boulatruelle in dem Walde vornehme, ihn auch sehr bald zum Sprechen, und zwar im Nothfalle durch die Folter gebracht haben würde. Der Wasserprobe zum Beispiel hatte er gewiß nicht Stand gehalten. »Wir wollen ihn auf die Weinprobe nehmen,« sagte Thenardier.

Man that sich zusammen und gab dem alten Straßenarbeiter zu trinken.

Er trank ungeheuer viel und sprach sehr wenig. Er vereinigte mit bewunderungswürdiger Kunst den Durst eines Schlemmers mit der Vorsicht eines Richters. Man ließ ihm indeß keine Ruhe und bedrängte ihn immer mehr, so daß er einige dunkele Worte fallen ließ, aus denen der Schulmeister und Thenardier Folgendes abnehmen zu können glaubten.

Boulatruelle sei eines Morgens, als er bei Tagesanbruch an seine Arbeit gegangen, durch den Anblick einer Hacke und einer Schaufel an einer Stelle des Waldes, unter Gebüsch versteckt, überrascht worden; er habe geglaubt, sie gehörten dem Vater Fix Fours, dem Wasserträger, und nicht weiter daran gedacht. Am Abend desselben Tages aber habe er, ohne selbst gesehen zu werden, da ihn ein dicker Baum verborgen, von der Straße nach dem dichtesten Walde einen Mann gehen sehen, »einen sonderbar aussehenden Mann, der nicht aus der Gegend gewesen, den er, Boulatruelle aber sehr wohl gekannt,« d. h. (wie Thenardier übersetzte) einen Kameraden aus dem Bagno. Boulatruelle hatte jedoch hartnäckig den Namen nicht genannt. Der Mann habe ein Packet getragen, etwas Viereckiges, das wie eine große Schachtel oder ein kleiner Koffer ausgesehen. Boulatruelle sei überrascht gewesen, aber erst nach sieben oder acht Minuten auf den Gedanken gekommen, dem sonderbaren Manne nachzugehen. Da sei es schon zu spät gewesen, weil es Nacht geworden, der Mann im Dickicht verschwunden und Boulatruelle ihn nicht mehr habe einholen können. Er hätte sich nun entschlossen, an dem Waldrande zu warten und Acht zu geben. »Es war nämlich Mondschein.« Zwei oder drei Stunden nachher habe Boulatruelle den sonderbaren Mann aus dem Walde wieder herauskommen sehen, welcher aber jetzt nicht mehr das Kästchen, wohl Hacke noch und Schaufel getragen. Er habe ihn gehen lassen und nicht daran gedacht, ihn anzureden, weil er sich gesagt, daß der Andere dreimal stärker als er und mit einer Hacke bewaffnet sei, und er ihn wahrscheinlich todtschlagen würde, wenn er ihn erkenne und sich erkannt sehen möchte. Eine rührende Begegnung zweier aller Kameraden! Die Schaufel und die Hacke waren aber ein Lichtstrahl für Boulatruelle gewesen; des Morgens sei er ins Gebüsch gegangen, hätte jedoch weder Hacke noch Schaufel wieder gefunden. Daraus habe er geschlossen, der Sonderbare habe im Dickicht ein Loch gegraben, das Kästchen hineingelegt und das Loch mit der Schaufel wieder zugemacht. Da der Kasten zu klein gewesen, als daß er einen Leichnam hätte enthalten können, so müsse Geld darin gewesen sein. Dieser Grund habe seine Nachforschungen veranlaßt. Er habe den ganzen Wald durchforscht, sondirt und durchstöbert und überall gegraben, wo ihm die Erde frisch aufgeschüttet vorgekommen. Vergebens.

Er hatte nichts gefunden. Niemand in Montfermeil dachte mehr daran, nur einige Klatschschwestern sagten: »Der Kerl, der Straßenarbeiter von Gagny hat gewiß das Alles nicht umsonst gethan; es ist gewiß, der Teufel ist dagewesen.«

  1. Er gräbt und verbirgt in dunkler Grube Schätze: ein As, Kupfermünzen, Steine, Leichname – weiter nichts.

III. Die Kette der Beinschelle mußte wohl vorher schon bearbeitet gewesen sein, weil sie beim ersten Hammerschlage schon zerbrach.

Gegen das Ende des Octobers in demselben Jahre 1823 sahen die Bewohner von Toulon das Schiff »Orion«, das später in Brest als Schulschiff benutzt wurde und damals zum Mittelmeergeschwader gehörte, in Folge eines großen Sturmes in den Hafen kommen, um einige Schäden auszubessern, ^

Dieses ganz krüppelhaft gemachte Schiff, denn das Meer hatte es tüchtig mißhandelt, machte bei der Einfahrt in die Rhede Aufsehen. Es führte ich weiß nicht mehr welche Flagge, welche ihm eine reglementsmäßige Begrüßung von elf Kanonenschüssen einbrachte, die es Schuß auf Schuß erwiederte, so daß dabei im Ganzen 22 Kanonenschüsse fielen. Man hat berechnet, daß in Salven, königlichen und militärischen Artigkeiten und höflichem Donneraustausch, in Etiquettesignalen, Rhede- und Citadelleformalitäten, täglicher Begrüßung des Sonnenauf- und Unterganges durch alle Festungen und Kriegsschiffe, die civilisirte Welt auf der ganzen Erde alle vierundzwanzig Stunden hundertundfünfzigtausend nutzlose Kanonenschüsse verschießt. Den Schuß zu sechs Francs gerechnet, macht täglich 900,000 Francs, die in Rauch aufgehen. Das ist nur Eins. Unterdeß sterben die Armen vor Hunger.

Das Jahr 1823 war dasjenige, welches die Restauration »die Zeit des spanischen Kriegs« nannte.

Dieser Krieg enthielt viel Ereignisse und viele Seltsamkeiten. Er war weiter nichts als eine große Familienangelegenheit für das Haus Bourbon, wobei die französische Linie der in Madrid Hilfe leistete, d. h. einen Act der Aeltergeburt ausübte. Er war scheinbar eine Rückkehr zu den französischen nationalen Traditionen, aber in Verbindung mit der Unterwürfigkeit unter die nordischen Cabinete. Der Herzog von Angoulême, den die liberalen Blätter »den Helden von Andujar« nannten, drückte in einer triumphirenden Stellung, der aber sein friedliches Aussehen ein Wenig widersprach, den alten, sehr reellen Terrorismus des Inquisitionsgerichtes nieder, welcher mit dem chimärischen Terrorismus der Liberalen im Kampfe war; die Sansculotten waren zum großen Entsetzen der vornehmen alten Weiber unter dem Namen der descamisades wieder aufgestanden; der Monarchismus widerstand dem Anarchie genannten Fortschritte; die Theorieen von 1789 waren plötzlich auf ihrem Wege unterbrochen worden; es war ein Holla, das Europa der französischen Idee auf ihrem Wege um die Welt freundschaftlich zurief. Neben dem Sohne Frankreichs als Generalissimus hatte sich der Prinz von Carignan, später Carl Albert, in diesem Kreuzzuge der Könige gegen die Völker als Freiwilliger mit rothwollenen Grenadier Epauletten anwerben lassen. Die Soldaten des Kaiserreichs zogen wiederum in das Feld, aber nach achtjähriger Ruhe, alt geworden, traurig und mit weißer Cocarde. Die dreifarbige Fahne wurde in der Fremde von einer Handvoll heldenmüthiger Franzosen geschwungen, wie dreißig Jahre vorher die weiße Fahne zu Coblenz; Mönche mischten sich unter die Truppen; der Geist der Freiheit und der Neuerung wurde durch Bayonette zurecht gewiesen, Prinzipien wurden durch Kanonen matt gesetzt; Frankreich riß durch seine Waffen ein, was sein Geist gebaut hatte. Uebrigens wurden die feindlichen Führer erkauft und Städte mit Geld belagert. Es gab keine militärischen Gefahren und doch möglicherweise Explosionen wie in jeder unterirdischen Mine, welche man das erste Mal betritt. Es wurde wenig Blut vergossen, wenig Ehre erworben, Schande für Einige, Ruhm für Niemanden.

So war dieser Krieg, welchen Fürsten gemacht, die von Ludwig XIV. abstammten, und Generale anführten, die aus der napoleonischen Schule stammten.

Noch von einem andern Gesichtspunkte aus betrachtet, den wir ebenfalls angeben müssen, erzürnte dieser Krieg, welcher in Frankreich den militärischen Geist verletzte, den demokratischen Geist. Es war ein Knechtungsunternehmen.

In diesem Feldzuge war der Zweck des französischen Soldaten, des Sohnes der Demokratie, die Eroberung eines Joches für einen Andern, ein scheußlicher Widersinn. Frankreich ist dazu da, die Seele der Völker zu wecken, nicht sie zu ersticken. Seit 1792 sind alle Revolutionen Europa’s die französische Revolution. Die Freiheit breitet ihre Strahlen von Frankreich aus. Dies ist die Sonne. Ein Blinder, der es nicht sieht. Bonaparte hat es gesagt.

Der Krieg von 1823, ein Attentat gegen die edle spanische Nation, war also gleichzeitig ein Attentat gegen die französische Revolution. Diese ungeheuerliche That beging Frankreich, aber gezwungen, denn, abgesehen von Freiheitskriegen, thun die Armeen alles gezwungen. Der Ausdruck »passiver Gehorsam« zeigt es an. Eine Armee ist ein seltsam combinirtes Meisterstück: hier ist die Macht das Resultat einer ungeheuren Masse von Ohnmacht. So erklärt sich der Krieg, den die Menschheit gegen die Menschheit trotz der Menschheit führt.

Den Bourbons war der Krieg von 1823 verhängnißvoll. Sie hielten ihn für einen Erfolg und sahen die Gefahr nicht, eine Idee durch eine Ordre tödten zu lassen. Sie verfielen in den furchtbaren Irrthum, den Gehorsam des Soldaten für die Einwilligung der Nation zu halten. Dieses Vertrauen richtet die Throne zu Grunde. Man darf weder im Schatten des Manzanillo 6, noch im Schatten einer Armee einschlafen.

Kehren mir zu dem Kriegsschiffe Orion zurück.

Während der Operation der Armee unter dem Commando des Prinzen-Generalissimus kreuzte ein Geschwader im Mittelmeere. Wir haben schon erwähnt, daß der »Orion« zu diesem Geschwader gehörte, so wie auch, daß ihn Sturm in den Hafen von Toulon geführt hatte.

Die Anwesenheit eines Kriegsschiffes in einem Hafen hat ein gewisses Etwas, das stets in hohem Maaße die Menge anzieht und beschäftigt. Es ist etwas Großartiges und das liebt das Volk.

Ein Linienschiff gehört zu dem Großartigsten, was der Geist des Menschen der Macht der Natur entgegenstellt.

Ein Linienschiff besteht gleichzeitig aus dem Schwersten und aus dem Leichtesten, weil es gleichzeitig mit den drei Formen der Substanz zu thun hat, mit dem Festen, mit dem Flüssigen und der Luft, und weil es mit allen Dreien kämpfen muß. Es hat elf eiserne Klauen um den Granit aus dem Grunde des Meeres fassen zu können, und mehr Flügel und mehr Fühlhörner als die Insekten, welche in den Wolken stiegen. Sein Athem steigt empor aus seinen hundertundzwanzig Kanonen wie aus ungeheuren Trompeten und stolz antwortet es dem Blitze. Der Ocean sucht es irre zu führen in der schrecklichen Aehnlichkeit seiner Wogen, das Schiff aber hat seinen Geist, die Magnetnadel, die ihm Rath ertheilt und es immer nach Norden weiset. In dunkeln Nächten ersetzen seine Laternen die Sterne. So hat es gegen den Wind Tau und Segel, gegen das Wasser Holz, gegen den Felsen Eisen, Kupfer und Blei, gegen die Dunkelheit Licht, gegen die Unermeßlichkeit eine Nadel.

Wenn man sich eine Vorstellung von allen diesen riesenhaften Verhältnissen machen will, die zusammen ein Linienschiff bilden, so braucht man nur in einen der sechsstöckigen, bedeckten Kiele in einem Hafen, von Brest oder Toulon, sich zu begeben. Da liegen die im Bau begriffenen Schiffe so zu sagen unter der Glocke. Dieser ungeheure Balken ist eine Raa; diese dicke, hölzerne Säule, die unabsehbar lang am Boden liegt, ist der große Mast. Von seiner Wurzel aus im Kielräume bis zu seiner Spitze in den Wollen ist er sechszig Klaftern lang und an der Basis hat er einen Durchmesser von drei Fuß. Der große englische Mast erhebt sich zweihundertundsiebzehn Fuß über die Wasserlinie empor. Die Marine unserer Vorfahren benutzte Taue, die unsrige Ketten. Der Kettenhaufe eines gewöhnlichen Schiffes von hundert Kanonen ist vier Fuß hoch, zwanzig Fuß breit und acht Fuß tief. Und wieviel Holz braucht man zum Bau eines solchen Schiffes? Dreitausend Steren. Es ist ein schwimmender Wald.

Und dann berücksichtige man, daß es sich hier nur um ein Kriegsschiff vor vierzig Jahren, um ein einfaches Segelschiff handelt. Der Dampf, welcher damals noch in der Kindheit war, hat jenem Wunder, das man ein Kriegsschiff nennt, neue Wunder hinzugefügt. Jetzt ist ein Schraubendampfer z. B. eine überraschende Maschine, welche über eine Segelfläche von dreitausend Quadratmeter durch einen Kessel von dritthalbtausend Pferdekraft in Bewegung gesetzt wird.

Ohne von diesen neuen Wundern zu sprechen, ist das alte Schiff des Columbus und Ruyters eines der größten Meisterwerke des Menschen. Es ist ebenso unerschöpflich an Kraft, wie das Unendliche an Winden; es sammelt den Wind in seinen Segeln, ist genau in der unermeßlichen Zertheilung der Wogen, schwimmt und regiert. Aber es kommt eine Stunde, in welcher der Sturm diese Raa von sechszig Fuß Länge wie einen Strohhalm zerbricht, der Wind diesen Mast von Vierhundert Fuß Höhe beugt wie eine Binse, in welcher der centnerschwere Anker in dem Wogenschlunde sich krümmt wie der Angelhaken eines Fischers in der Kinnlade eines Hechtes, in welcher die ungeheuren Kanonen ein klagendes, nutzloses Brüllen ausstoßen, das der Orkan in die Oede und in die Nacht hinausträgt, in welcher alle diese Macht und Majestät stürzen in den Abgrund einer höheren Macht und Majestät.

So oft eine unermeßliche Kraft unermeßliche Schwäche geworden, wird der Mensch nachdenklich. Das ist der Grund, weshalb sich in den Häfen so viele Neugierige einfinden, ohne daß sie selbst sich das Warum erklären könnten und diese wunderbaren Maschinen des Kriegs und der Schifffahrt betrachten.

Alle Tage also, vom Morgen bis zum Abend waren die Quais und Dämme des Hafens von Toulon mit einer Menge Müßiger und Neugieriger bedeckt, die nichts weiter zu thun hatten, als den »Orion« zu betrachten.

Der »Orion« war ein seit langer Zeit krankes Schiff. Auf seinen früheren Fahrten hatten sich dichte Lager von Muscheln an seinem Kiel angehäuft, so daß er die Hälfte seiner Schnelligkeit verlor. Im Jahre vorher hatte man ihn auf das Trockene gebracht, um die Muscheln abzukratzen, dann war er wieder in das Meer gegangen. Dadurch aber, durch das Abkratzen, hatten die Kiel-Bolzen gelitten. Auf der Höhe der Balearen war die Bordirung schwach geworden und hatte sich geöffnet, so daß Wasser in das Schiff eindrang. Dazu kam, daß ein heftiger Aequinoctialsturm das Schiff überraschte. In Folge des dadurch erlittenen Schadens war der Orion nach Toulon zurückgekehrt.

Er hatte in der Nähe des Arsenals Anker geworfen, wo man ihn ausbesserte. Die Schale am Steuerbord war nicht beschädigt, einige Planken aber waren hier und da losgenagelt, um Luft in den inneren Schiffsraum zu lassen.

Eines Morgens war die zuschauende Menge Zeuge eines Vorfalls.

Die Mannschaft war beschäftigt, die Segel an die Raaen zu befestigen. Ein Mann, welcher am Marssegel des Steuerbords beschäftigt war, verlor das Gleichgewicht. Man sah ihn wanken; die auf dem Quai versammelte Menge stieß einen Schrei aus; der Kopf riß den Körper mit fort und der Mann drehte sich, die Hände nach dem Abgrunde zu ausgestreckt, um die Ran herum. Es gelang ihm hierbei zuerst mit der einen, dann mit der andern Hand ein Tau zu erfassen. In dieser Stellung blieb er hängen. Das Meer lag in schwindelnder Tiefe unter ihm. Der Mann schwang auf seiner Strickschaukel, an dem Ende des Taues hin und her wie der Stein einer Schleuder.

Ihm helfen hieß sich grauenhafter Gefahr aussetzen. Keiner der Matrosen, keiner der neu zum Dienst ausgehobenen Fischer wagte es, sich in dieses Abenteuer zu stürzen. Unterdeß ermüdete der Unglückliche; man konnte zwar die Todesangst in seinem Gesicht nicht erkennen, an allen seinen Gliedern aber bemerkte man seine Erschöpfung. Seine Arme wanden sich in krampfhafter Pein. Jede seiner Anstrengungen sich emporzuarbeiten, vermehrte die schwankenden Bewegungen des Taues. Aus Furcht nicht noch mehr Kräfte zu verlieren, schrie er nicht. Man wartete nur noch auf die Minute, in welcher er das Tau werde loslassen müssen und mehrmals wendeten sich aller Augen ab, um ihn nicht stürzen zu sehen. Es giebt Augenblicke, in denen ein Tauende, eine Stange, ein Baumast das Leben selbst ist. Es ist schrecklich, wenn man ein lebendes Wesen sich davon loslösen und fallen sieht, wie eine reife Frucht.

Plötzlich sah man einen Mann, welcher mit der Gewandheit einer Tigerkatze in dem Takelwerk emporkletterte. Dieser Mann war roth gekleidet, er war ein Sträfling. Er hatte eine grüne Mütze, er war also ein lebenswierig Verurtheilter. Als er bis in die Höhe des Mastkorbes gekommen war, entführte ihm ein Windstoß die Mütze und ließ einen ganz weißen Kopf erblicken. Es war kein junger Mann.

Ein Sträfling nämlich, der mit einer Schaar Arbeiter aus dem Bagno am Bord arbeitete, war gleich beim Eintreten der Gefahr zu dem wachthabenden Offizier gelaufen und hatte, mitten in dem Schreck und der Verwirrung der Mannschaft, um die Erlaubniß gebeten, sein Leben wagen zu dürfen, um den Mann im Mast zu retten. Auf den bejahenden Wink des Offiziers hatte er mit einem einzigen Hammerschlage die Ketten an seiner Beinschelle zerschlagen, dann ein Tau erfaßt und sich an der Strickleiter der Masten emporgeschwungen. Niemand beachtete in diesem Augenblicke, mit welcher Leichtigkeit die Kette zerbrochen worden war. Erst später erinnerte man sich daran.

In einem Nu war er oben auf der Raa. Einige Secunden blieb er stehen und schien sie mit dem Blicke zu messen. Diese Secunden, in denen der Wind den Mann wie an einem Faden schaukelte, kamen den Zuschauern wie Jahre vor. Endlich erhob der Sträfling die Augen zum Himmel und that einen Schritt vorwärts. Die Menge athmete auf. Rasch lief er auf der Raa hin. Am Ende derselben angelangt, befestigte er ein Ende des Taues, das er mit sich genommen hatte, und ließ das andere herunterhängen, dann begann er mit den Händen längs des Taues hinunter zu steigen, und endlich sah man mit unbeschreiblicher Angst über dem Abgrunde statt eines Menschen zwei hängen.

Es war als wenn eine Spinne eine Fliege ergriff: nur brachte hier die Spinne Leben, nicht Tod. Zehntausend Augen waren auf diese Gruppe gerichtet. Nicht ein Schrei, nicht ein Wort ließ sich hören; dasselbe Beben zog alle Brauen zusammen. Jeder Mund hielt den Athem an, als fürchte er dem Winde, der die beiden Unglücklichen schüttelte, auch nur noch einen Hauch hinzuzufügen.

Unterdessen war es dem Sträflinge gelungen, mit dem Tau bis in die Nähe des Matrosen sich hinunterzulassen. Es war die höchste Zeit, denn eine Minute länger und der Mann würde ermattet und verzweifelt in den Abgrund gestürzt sein. Der Sträfling hatte ihn fest mit dem Tau angebunden, an das er sich mit der einen Hand hielt, während er mit der andern arbeitete. Endlich sah man ihn auf die Raa wieder hinaufsteigen und den Matrosen auf dieselbe hinaufziehen. Hier hielt er ihn eine Zeitlang fest, damit er seine Kräfte wieder sammle, dann nahm er ihn in seine Arme und trug ihn auf der Raa hin bis zum Eselskopf 7 und von da in den Mastkorb, wo er ihn den Händen der Kameraden überließ.

In diesem Augenblicke jubelte die Menge Beifall. Mancher alte Sträflingsaufseher weinte, die Frauen auf dem Quai umarmten sich. Alles rief mit einer so zu sagen durch milde Stimmung gedämpften Wuth: »Gnade für den Mann!«

Dieser selbst hatte sich angeschickt, sogleich wieder herunterzusteigen und zu den anderen Sträflingen zurückzukehren. Um dies schneller zu können, ließ er sich in dem Takelwerke heruntergleiten und lief auf einer der unteren Raaen hin. Aller Augen folgten ihm. In einem gewissen Augenblicke fürchtete man für ihn, denn man glaubte ihn zögern und schwanken zu sehen, entweder weil er ermattet war, oder weil ihm der Kopf drehte. Plötzlich stieß die Menge einen gewaltigen Schrei aus, der Sträfling war in das Meer gefallen.

Der Fall war gefährlich. Die Fregatte Algesiras ankerte neben dem Orion und der arme Sträfling war zwischen die beiden Schiffe gefallen. Es stand zu befürchten, daß er unter das eine oder das andere komme. Vier Mann warfen sich eilig in ein Boot. Die Menge ermuthigte sie, noch einmal hatte Alle die Angst ergriffen. Der Mann war nicht wieder auf die Oberfläche empor gekommen. Er war im Meere verschwunden, ohne daß auch nur die leiseste Welle dadurch entstand, als wenn er in eine Oeltonne gefallen wäre. Man sondirte, man tauchte. Es war vergebens. Man suchte bis zum Abend; man fand nicht einmal den Leichnam.

Am folgenden Tage standen in der Zeitung von Toulon nachstehende Zeilen abgedruckt: »17. November 1823. Gestern fiel Einer von den an Bord des Orion beschäftigten Sträflingen, nachdem er so eben einen Matrosen gerettet hatte, in das Meer und ertrank. Den Leichnam hat man nicht auffinden können. Man vermuthet, daß er unter das Mahlwerk der Spitze am Arsenal gerathen ist. Der Mann war unter Nummer 9430 eingetragen und hieß Johann Valjean!«

  1. Ein giftiger Baum auf den Antillen.
  2. Eine Stelle in den Masten.

XVI. Quot libras in duce!

3

Die Schlacht von Waterloo ist ein Räthsel, sie ist sowohl für diejenigen dunkel, welche sie gewonnen haben, als auch für diejenigen, welche sie verloren. Für Napoleon ist sie ein panischer Schrecken 4, Blücher sieht nur Feuer in ihr, Wellington begreift Nichts von derselben. Man sehe die Berichte an; die Bulletins wie die Commentare dazu sind verworren und unklar. Jomini theilt die Schlacht in vier Momente. Müffling in drei Phasen. Charras, obwohl wir in einigen Punkten eine andere Auffassung als er haben, ist der einzige, welcher die charakteristischen Linien dieser Katastrophe, in welcher das menschliche Genie mit dem göttlichen Geschick in Kampf verwickelt ist, mit seinem ihm eigenthümlichen scharfen Blicke erfaßt hat. Alle andern Geschichtsschreiber sind wie geblendet und tappen wie geblendet umher. Das Urtheil der Menschen ist nichts in diesem von übermenschlicher Nothwendigkeit durchdrungenen Ereignisse.

Man verkleinert weder Deutschland noch England, wenn man den Feldherren Wellington und Blücher die Ehre Waterloo’s abspricht. Weder das erlauchte England noch das erhabene Deutschland stehen bei dem Waterloo-Probleme in Frage. Dem Himmel sei Dank, die Größe der Völker geht über diese schauerlichen Schlachtenabenteuer hinaus. Weder Deutschland noch England noch Frankreich haben in einer Säbelscheide Platz. In der Zeit, in welcher Waterloo nur ein Säbelgeklirr ist, hat Deutschland über Blücher stehend seinen Göthe, und England über Wellington hervorragend seinen Byron. Ein unermeßlicher Ideen-Aufgang ist unserem Jahrhunderte eigentümlich, und England wie Deutschland haben in dieser Morgenröthe einen herrlichen Glanz. Der Reichthum an Gedanken macht sie majestätisch. Durch sie selbst und nicht in Folge eines Zufalls hat sich das Niveau der Civilisation erhöhet. Der Antheil, welchen sie an dem Sonnenaufgang des neunzehnten Jahrhunderts haben, hat seine Quelle nicht in Waterloo. Nur Barbaren-Völker wachsen plötzlich nach einem Siege: die Eitelkeit eines nach einem Gewitter anschwellenden Baches. Die civilisirten Völker, namentlich in der Zeit, in welcher wir leben, steigen und fallen nicht in Folge des Glücks oder Unglücks eines Feldherrn. Ihr specifisches Gewicht im Menschengeschlecht folgt aus etwas ganz anderem, als aus einem Kampfe. Ihre Ehre, ihre Würde, ihre Aufklärung, ihr Geist sind Gott sei Dank nicht Nummern, welche die Helden und Eroberer, diese Spieler, in die Schlachtenlotterie setzen können. Oft wird durch eine verlorne Schlacht ein Fortschritt erobert. Weniger Ruhm, mehr Freiheit. Der Tambour schweigt, der Geist ergreift das Wort. Es ist das Spiel, in dem der Gewinnende verliert. Sprechen wir also mit kaltem Blute von Waterloo. Geben wir dem Zufalle, was des Zufalles, und Gott, was Gottes ist. Was ist Waterloo? Ein Sieg? Nein. Eine Quinterne.

Eine von Europa gewonnene, von Frankreich bezahlte Quinterne.

Es war kaum der Mühe werth, einen Löwen da aufzustellen. Waterloo ist übrigens der wunderlichste Kampf, den die Geschichte kennt. Napoleon und Wellington! Es sind nicht Feinde, sondern Gegner. Niemals hat Gott, welcher sich in Gegensätzen gefällt, einen ergreifenderen Contrast, eine außerordentlichere Gegenüberstellung geschaffen. Auf der einen Seite Genauigkeit, Vorsicht, Geometrie, Klugheit, gesicherter Rückzug, geschonte Reserve, hartnäckig kaltes Blut, unerschütterliche Methode, vom Terrain profitirende Strategie, selbst die Stellung der Bataillone abwägende Taktik, nach der Schnur gezogenes Morden, mit der Uhr in der Hand geregelter Krieg, nichts freiwillig dem Zufall überlassen, alter classischer Muth, absolute Correctheit. Auf der andern Seite Anschauung, Vorausahnung, militärische Seltsamkeit, übermenschlicher Instinct, flammender Ueberblick, ein gewisses Etwas, das um sich schaut wie der Adler, und zerschmettert wie der Blitz, wunderbare Kunst in geringschätzigem Ungestüm, alle Geheimnisse einer unergründlichen Seele, Verbindung mit dem Schicksal. Der Fluß, die Ebene, der Wald, der Hügel aufgefordert und gewissermaßen gezwungen zu gehorchen, der Despot, so weit gehend, daß er das Schlachtfeld tyrannisirt, der Glaube an die Sterne im Verein mit strategischer Wissenschaft, die er erweitert, aber auch trübt. Wellington war der Bareme, Napoleon der Michel Angelo des Krieges, und diesmal wurde das Genie von der Berechnung besiegt.

Auf beiden Seiten erwartete man Jemand. Der genaue Rechner reussirte. Napoleon erwartete Grouchy; er kam nicht. Wellington erwartete Blücher, der kam. Wellington ist der classische Krieg, der Wiedervergeltung übt. Bonaparte war ihm im Morgenroth seiner Laufbahn in Italien begegnet und hatte ihn stolz geschlagen. Die alte Eule hatte vor dem jungen Geier fliehen müssen. Die alte Taktik war nicht nur niedergeschmettert, sondern lächerlich gemacht worden. Was war jener sechsundzwanzigjährige Corse? Was wollte der glänzende Ignorant, der Alles gegen, nichts für sich hatte, der sich ohne Lebensmittel, ohne Munition, ohne Kanonen, ohne Schuhe, fast ohne Armee, mit einer Handvoll Leute gegen Massen, auf das verbündete Europa stürzte und absurderweise unmöglich scheinende Siege gewann? Wer war der neue Kriegsemporkömmling, welcher die Unverschämtheit eines Gestirns hatte? Die academische Militairschule that ihn in den Bann, während sie vor ihm floh. Daher der ungewöhnliche Groll des alten Cäsarismus gegen den neuen, des correcten Säbels gegen das Flammenschwert, des Rechners gegen das Genie. Am 18. Juni 1815 hatte dieser Groll das letzte Wort, und unter Lodi, Montebello, Montenotte, Mantua, Marengo, Arcole schrieb er: Waterloo. Triumph der Mittelmäßigkeit, welcher der Mehrheit angenehm ist! Das Geschick willigte in diese Ironie. Bei seinem Untergange fand Napoleon wieder einen jungen Suwarow vor sich. Und um einen Suwarow zu haben, reicht allerdings ein Wellington mit weißen Haaren aus. Waterloo ist eine von einem Feldherrn zweiten Ranges gewonnene Schlacht ersten Ranges. England muß man in dieser Schlacht von Waterloo bewundern, die englische Tüchtigkeit, die englische Entschlossenheit, das englische Blut. Das Herrliche, das England da hatte, war es selbst, nicht sein Feldherr, sondern seine Armee.

Der sonderbar undankbare Wellington erklärt in seinem Briefe an Lord Bathurst, seine Armee, die Armee, welche sich am 18. Juni 1815 geschlagen hatte, sei eine »abscheuliche« gewesen. Was meint der Haufe von Gebeinen unter den Furchen Waterloo’s?

England war Wellington gegenüber zu bescheiden. Wellington so groß machen heißt England verkleinern. Wellington ist nur ein Held wie ein anderer. Die grauen Schotten, die Garde-Cavallerie, die Regimenter Maitlands und Mitchels, die Infanterie Packs und Kempts, die Kavallerie Ponsonbys und Somersets, die unter dem Kartätschenhagel den Dudelsack spielenden Hochländer, die Bataillone Rylands, die jungen Rekruten, welche kaum die Muskete handtieren konnten und doch gegen die alten Soldaten von Esslingen und Rivoli Stand hielten, – sie sind groß. Wellington war zäh, das war sein Verdienst, und wir handeln ihm nichts davon ab; der Geringste aber seiner Infanteristen und seiner Cavallerie war ebenso fest wie er. Der eiserne Soldat gilt so viel wie der eiserne Herzog. Alle unsere Verherrlichung wenigstens gilt der englischen Armee, dem englischen Volke. Giebt es hier eine Trophäe, so gebührt sie England. Es wäre gerechter, wenn die Waterloo-Säule, statt die Gestalt eines Mannes, die Statue eines Volles in die Wolken hinauftragen würde.

Das große England aber wird sich über das, was wir hier sagen, erzürnen. Es besitzt noch, selbst nach seinem 1688 und dem französischen 1789, feudale Illusionen. Es glaubt an Erblichkeit und Hierarchie. Dieses Volk, das von keinem an Macht und Ruhm übertroffen wird, achtet sich als Nation, nicht als Volk, und zwar so sehr, daß es sich als Volk gern unterordnet und einen Lord für ein Haupt hält. Als Arbeiter läßt es sich verachten, als Soldat läßt es sich prügeln. Man erinnert sich, daß in der Schlacht bei Inkerman ein Sergeant, der, wie es scheint, die Armee gerettet hatte, von Lord Raglan gar nicht erwähnt werden konnte, weil die englische Militär-Hierarchie in einem Berichte einen Helden unter dem Range eines Officiers zu nennen nicht gestattet. Ueber Alles aber bewundern wir bei einem Kampfe, wie der von Waterloo, die wunderbare Geschicklichkeit des Zufalles. Der nächtliche Regen, die Mauer von Hougomont, der Hohlweg von Ohain, der für Kanonendonner taube Grouchy, der Napoleon täuschende, Bülow den rechten Weg zeigende Führer, – dieser ganze Wirrwarr ist wunderbar geleitet.

In Summa war Waterloo mehr ein Schlachten, als eine Schlacht.

Waterloo ist von allen regelmäßigen Schlachten die, welche bei einer solchen Zahl von Kämpfenden die kleinste Front hatte. Napoleon hatte drei Viertel Meilen, Wellington eine halbe, und dabei 70,000 Streiter auf jeder Seite. Diese Dichtigkeit der Massen war der Grund der großen Metzelei.

Man hat folgende Berechnung gemacht und folgende Verhältnisse aufgestellt. Menschenverlust: bei Austerlitz vierzehn Procent Franzosen, dreißig Procent Russen, vierundzwanzig Procent Oesterreicher; bei Wagram dreißig Procent Franzosen, vierzig Procent Oesterreicher; an der Moskwa siebenunddreißig Procent Franzosen und vierundvierzig Procent Russen; bei Bautzen dreizehn Procent Franzosen, vierzehn Procent Russen und Preußen; bei Waterloo sechsundfunfzig Procent Franzosen und einunddreißig Procent Alliirte, im Ganzen bei Waterloo einundvierzig Procent. Bei einhundertundvierzigtausend Streitern sechzigtausend Todte.

Heut zu Tage hat das Schlachtfeld von Waterloo die Ruhe, welche der Erde angehört, geduldig trägt es den Menschen und gleicht jeder anderen gewöhnlichen Ebene.

In der Nacht indeß erhebt sich eine Art geisterhafter Nebel und wenn ein Wanderer da umhergeht, um sich schaut, aufhorcht und träumt wie Virgil auf der düsteren Ebene von Philippi, ergreift ihn gespenstisch die Erscheinung der Catastrophe. Der schreckliche 18. Juni erhebt sich von Neuem, der gemachte Hügel sinkt ein, der Löwe verschwindet, das wirkliche Schlachtfeld erscheint. Infanterie überschwemmt die Ebene, wüthende Galoppaden durchschneiden den Horizont; bestürzt sieht der träumende Wanderer Säbel blitzen, Bayonnette leuchten, Bomben platzen, hört grausige Donner. Er vernimmt, gleich dem Röcheln aus einem Grabe heraus, den dumpfen Lärm der gespenstigen Schlacht. Die Schatten sind die Grenadiere, diese leuchtenden Punkte die Kürassiere, dieses Skelett ist Napoleon, jenes Wellington. Alles das ist nicht mehr und stößt doch auf einander und kämpft. Die Hohlwege färben sich blutig roth, die Bäume zittern, selbst die Wolken ergreift die Wuth und auf allen diesen wilden Höhen, Mont-Saint-Jean, Hougomont, Frischemont, Papelotte, Plagenois, zeigen sich in der Finsterniß undeutlich gespenstische Gestalten, welche auf Tod und Leben sich bekämpfen.

  1. Wieviel wiegt der Feldherr?
  2. Eine beendigte Schlacht, ein abgeschlossener Schlachttag, wieder gut gemachte falsche Maßregeln, für den nächsten Tag noch größere gesicherte Erfolge, Alles wurde durch einen Augenblick panischen Schreckens vernichtet. (Napoleon, Dictate auf St. Helena.)

XVII. Soll man Waterloo loben?

Es giebt in Frankreich eine sehr respectable Schule unter den Liberalen, welche gegen Waterloo durchaus keinen Haß empfindet. Wir gehören derselben nicht an; denn für uns ist Waterloo nur das erstaunte Datum der Freiheit. Es ist sicherlich unerwartet, daß aus einem solchen Ei ein solcher Adler hervorging.

Wenn man sich in den eigentlichen Schwerpunkt der Frage stellt, so ist Waterloo der absichtslose Sieg der Contrerevolution, Europa’s gegen Frankreich, Petersburgs, Wiens und Berlins gegen Paris, des Statusquo gegen die Initiative, der Angriff des 20. März gegen den 14. Juli 1789, das »Hängematten herunter« der Monarchien gegen die bis dahin ungezähmte französische Emeute. Endlich dieses ungeheure Volk erdrücken, welches seit 26 Jahren sich im Zustande eines kraterähnlichen Ausbruches befand, das war der Traum: die Solidarität Braunschweigs, Nassaus, der Romanow, Hohenzollern und Habsburger mit den Bourbonen. Auf Waterloo ritt das Recht der Königsgewalt von Gottes Gnaden in das neunzehnte Jahrhundert hinein. Allerdings war das Kaiserreich despotisch und mußte zufolge einer natürlichen Rückwirkung der Dinge das Königthum nothwendigerweise loyal werden, so daß aus Waterloo zur großen Betrübniß der Sieger ein constitutionelles Regiment hervorging. In Wirklichkeit kann aber die Revolution nicht besiegt werden. Sie gehört der Vorsehung und dem Fatum an. Immer erscheint sie wieder: vor Waterloo in Napoleon, welcher die alten Throne über den Haufen stürzte, nachher in Ludwig XVIII., welcher eine Verfassung octroyirte. Bonaparte setzt einen Postillon auf den Thron von Neapel und einen Sergeanten auf den Thron Schwedens. Am Ungleichen bewies er die Gleichheit. Ludwig XVIII. unterzeichnet zu Saint-Ouen die Erklärung der Menschenrechte. Wenn man sich von dem, was die Revolution ist, Rechenschaft geben will, so nenne man sie Fortschritt, und wenn man sich von diesem Letzteren Rechenschaft geben will, so nenne man ihn Morgen. Das Morgen verrichtet unwiderstehlich seine Aufgabe, schon heute beginnt es damit und immer gelangt es zum Ziele. Es braucht einen Wellington, um aus Foy, der nur ein Soldat war, einen Redner zu machen.

In Hougomont fiel Foy, um auf der Rednerbühne wieder aufzuerstehen. Das ist die Art des Fortschritts; für diesen Arbeiter giebt es kein schlechtes Werkzeug. Waterloo, welches vermittelst des Degens dem Umsturz der europäischen Throne mit einem Male ein Ende machte, hat keine andere Wirkung gehabt, als die Arbeit der Revolution in anderer Art fortzusetzen. An die Stelle des Säbels trat die Macht des Gedankens. Waterloo hat das Jahrhundert nicht aufhalten können. Dieses ist darüber hinweggegangen und hat unbeirrt seinen Weg weiter fortgesetzt. Es steht noch ein Sieger über diesem Sieg – die Freiheit. Mit einem Worte, dasjenige, was zu Waterloo triumphirte, hinter Wellington lächelte, ihm alle Marschallsstäbe Europas und, wie man sagt, auch den Frankreichs einbrachte, was triumphirend das Löwendenkmal errichtet und stolz das Datum des 18. Juni 1815 auf dasselbe geschrieben; dasjenige, was den mit vernichtender Wuth die Flüchtigen verfolgenden Blücher mit Muth erfüllte: das war die Contrerevolution, die Gegenrevolution, welche jenes infame Wort »Zerstückelung« aussprach. Bei ihrer Ankunft in Paris sah sie den Krater in der Nähe, sie fühlte die brennende Asche desselben unter ihren Füßen, sie besann sich und stotterte eine Verfassung heraus.

Wir müssen in Waterloo nichts als Waterloo sehen. Freiheit, beabsichtigte Freiheit – niemals! Die Contrerevolution ist gegen ihren eigenen Willen liberal geworden, ebenso wie Napoleon – eine correspondirende Erscheinung – ohne daß er es wollte revolutionär war. Robespierre zu Pferde – am 18. Juni 1815 wurde er aus dem Sattel gehoben.

XVIll. Wiederaufleben des Rechts von Gottes Gnaden.

Mit dem Ende der Dictatur stürzte das ganze bis dahin bestandene System Europas über den Haufen.

Das Kaiserreich verschwand in einem Schatten, welcher dem nicht unähnlich war, welchen das untergehende römische Reich hinter sich zurück ließ. Wie zur Zeit der Barbaren sah man wieder einen Abgrund vor sich, nur mit dem Unterschiede, daß das Barbarenthum von 1815, welches mit seinem eigentlichen Namen Contrerevolution heißt, einen kurzen Athem hatte und sehr zeitig halt machen mußte, weil ihm der Athem ausging. Sagen wir es nur: das Kaiserreich wurde beweint, Heroen beweinten es. Wenn der Ruhm im Kriegeshandwerk allein besteht, so war das Kaiserreich der personifizirte Ruhm. Dasselbe hatte auf der Welt all das Licht verbreitet, welches Tyrannei nur erzeugen kann: ein düsteres, ein dunkeles Licht, welches in Vergleichung mit der wahren Helle Nacht ist. Nachdem diese Nacht von der Erde sich gelöst, trat Dämmerungshelle ein.

Die Könige nahmen ihre Throne wieder ein, der Heros Europas wurde in einen Käfig gesteckt, das frühere Regime wurde wieder neu. Und warum diese Umstellung von Licht und Schatten auf der Erde? Weil an einem Nachmittage eines Sommertages in einem Gehölz ein Hirte zu einem Preußen gesagt hatte: »Hier, nicht dort ist der Weg!«

1815 war eine Art düsterer April. Die alten ungesunden und giftigen Wirklichkeiten bedeckten sich mit einem neuen äußeren Schein. Die Lüge vermählte sich mit 1789, das Gottes-Gnadenrecht masquirte sich hinter einer Verfassung, Aberglauben und Hintergedanken übertünchten sich mit dem Firniß des Liberalismus.

Die Menschheit war von Napoleon zugleich erhoben und gedemüthigt; das Ideal war unter dieser splendiden Herrschaft des Liberalismus sonderbarerweise Ideologie genannt worden. Welch bedeutende Unklugheit eines großen Mannes, der Art die Zukunft lächerlich zu machen! Die Völker aber, dieses dem Artilleristen so liebe Futter, suchten ihn. Wo ist er? Was thut er? »Napoleon ist todt«, sagte ein Vorübergehender zu einem Invaliden von Marengo und Waterloo. »Er todt!« rief der Soldat; »da kennen Sie ihn schlecht!« In der Einbildung war dieser gestürzte Mensch ein Gott geworden und lange, nachdem Napoleon verschwunden war, blieb ein ungeheurer Platz in Europa leer.

Die Könige suchten ihn auszufüllen. Das alte Europa benutzte dies zu Reformen. Es entstand eine heilige Allianz.

Auch die Umrisse Frankreichs wurden andere. Die durch den Kaiser verhöhnte Zukunft hielt ihren Einzug, die Freiheit glänzte auf ihrer Stirn. Die Augen der jungen Generation wendeten sich ihr zu, und seltsamer Weise verliebte man sich zugleich in diese Zukunft, die Freiheit, und in jene Vergangenheit, Napoleon. Die Niederlage hatte den Besiegten größer gemacht. Der gestürzte Bonaparte erschien großartiger als der mächtige Napoleon. Die Sieger hatten Furcht. England ließ ihn durch Hudson Lowe bewachen, Frankreich durch Montchenu. Seine gekreuzten Arme waren die Unruhe Europas. Alexander nannte ihn seine schlaflosen Nächte. Der Grund dieser Angst war die Revolution, welche in ihm lag. Das entschuldigt den bonapartistischen Liberalismus.

Während Napoleon in Longwood langsam hinstarb, vermoderten ruhig die 60,000, welche bei Waterloo gefallen waren und theilten Etwas von ihrem Frieden dem übrigen Europa mit. Daraus machte der Wiener Congreß die Verträge von 1815, Europa nannte dies die Restauration.

Das ist Waterloo.

Welche Bedeutung aber hat es für die Unendlichkeit? Nicht einen Augenblick trübte dieser Sturm, dieser Krieg, dann dieser Frieden, dieser ganze Schatten das Licht des unendlichen Auges, vor welchem ein Insekt, das von einem Blatte zum anderen springt, so viel gilt wie der Adler, welcher die himmelanstürmenden Felsen umkreist.