I. Meister Gorbeau.

Wenn vor vierzig Jahren ein einsamer Spaziergänger sich in die verlorne Gegend der Salpetriere gewagt und über den Boulevard bis zur italienischen Barriere gegangen wäre, so würde er an Stellen gelangt sein, wo man sagen konnte, da hört Paris auf. Einsamkeit war nicht da, man begegnete Leuten; es gab kein Feld, es gab Häuser und Straßen, es war aber auch keine Stadt, denn in den Straßen gab es tiefe Geleise wie auf den Landstraßen und es wuchs Gras auf denselben. Es war kein Dorf, dazu waren die Häuser zu hoch. Was also war es? Ein bewohnter Ort ohne Menschen, ein verlassener Ort mit Menschen, ein Boulevard der großen Stadt, eine Straße von Paris, des Nachts schauerlicher als ein Wald, am Tage düsterer als ein Kirchhof.

Das war das alte Stadtviertel des »Pferdemarkts«. Wenn sich der Spaziergänger über die vier verfallenen Mauern dieses Pferdemarktes hinauswagte, wenn er sich sogar darauf eingelassen die Kleine Bankierstraße zu überschreiten, rechts bei einem Hofe mit hohen Mauern, dann bei einem Platz vorbei, wo hohe Kerichthaufen gleich riesigen Biberbauten dalagen, dann vorbei bei einem Zimmerplatz voll Stämme, Säge- und anderen Spänen, auf denen ein großer Hund bellte, darauf vorbei bei einer niedrigen, ganz verfallenen langen Mauer mit einer kleinen schwarzen, mit Moos beladenen Thür, auf welcher im Frühjahr Blumen wuchsen, und weiter im einsamsten Theile vorbei, bei einem scheußlichen steinalten Gebäude, an dem man mit großen Buchstaben las: »Hier darf nichts angeschlagen werden« – so würde der kühne Spaziergänger endlich die Ecke einer fast unbekannten Straße, Vignes Saint Marcel genannt, erreicht haben. Hier sah man in jener Zeit, in der Nähe eines Fabrikgebäudes, zwischen zwei Gartenmauern, ein altes Haus, das auf den ersten Anblick so klein aussah, wie eine Hütte, in der Wirklichkeit aber groß war wie eine Domkirche. Es stand mit dem Giebel nach der Straße zu, deshalb sah es so klein aus. Fast das ganze Haus blieb versteckt. Nur die Thür und ein Fenster bemerkte man.

Die Briefträger nannten dieses alte Haus Nummer 50-52, in dem Viertel war es aber unter dem Namen Gorbeaus Haus bekannt.

Der Grund davon war folgender:

Die Sammler kleiner Thatsachen, die sich Anecdoten-Herbarien anlegen und die flüchtigen Daten mit einer Nadel in ihrem Gedächtniße anstecken, wissen, daß es im vorigen Jahrhundert, um 1770, in Paris zwei Procuratoren gab, deren einer Corbeau (Rabe), der Andere Renard(Fuchs) hieß. Lafontaine scheint dieses Zusammentreffen von Namen und Stand bei seinen Fabeln vorausgesehen zu haben.

Die beiden guten Patrizier, durch Sticheleien verletzt, entschlossen sich, sich ihrer Namen zu entledigen und wendeten sich deshalb an den König. Ihr Gesuch wurde Ludwig XV. an demselben Tage vorgelegt, an welchem der päpstliche Nuntius auf der einen und der Cardinal de la Roche-Aymon auf der andern Seite, beide demüthig knieend, im Beisein Seiner Majestät, jeder einen Pantoffel an den bloßen Fuß der eben aus dem Bett steigenden Dubarry legten. Der König lachte. Er lachte noch mehr, als er von den beiden Procuratoren hörte. Sr. Majestät war so gnädig Corbeau zu gestatten, dem Anfangsbuchstaben seines Namens ein Schwänzchen anzuhangen und sich Gorbeau zu nennen. Meister Renard war weniger glücklich. Er erlangte weiter nichts, als ein P vor sein R. setzen und sich sonach Prenard nennen zu dürfen, so daß der zweite Name beinahe wie der erste war.

Der Localtradition zufolge war dieser Meister Gorbeau Eigenthümer des Gebäudes 50-52 Boulevard Hospital gewesen.

Darum hieß es also Gorbeaus Haus.

Gegenüber der Nummer 50-52 erhebt sich eine große zu drei Viertheilen abgestorbene Ulme, fast gegenüber öffnet sich die Straße der Gobelins Barriere, eine Straße, welche damals noch keine Häuser hatte, ungepflastert, mit schlecht fortkommenden Bäumen bepflanzt, je nach der Jahreszeit grün oder kothig war und grade auf die Stadtmauer von Paris stieß.

Ein Vitriolgeruch verbreitete sich stoßweise von den Dächern einer benachbarten Fabrik. Die Barriere befand sich ganz in der Nähe. Im Jahre 1823 stand die Stadtmauer noch.

Diese Barriere selbst erregte traurige Vorstellungen. Es ging von da der Weg nach Bicetre. Auf diesem kamen unter dem Kaiserreiche und unter der Restauration die zum Tode Verurtheilten am Tage ihrer Hinrichtung nach Paris herein. Aus diesem wurde um 1829 jener geheimnißvolle Meuchelmord, genannt »der von der Barriere Fontainebleau«, begangen, dessen Urheber die Justiz nicht zu ermitteln vermocht hat, ein schauerliches bis auf den heutigen Tag nicht gelöstes Räthsel. Wenn man einige Schritte weiter geht, so kommt man in jene verhängnißvolle Straße Croulebarbe, wo Ulbach die Ziegenhirtin von Ivry beim Dröhnen des Donners erdolchte. Noch einige Schritte weiter und man gelangt zu den verwünschten, ausgegipfelten Ulmen der Barriere St. Jaques, zu jener Erfindung von Menschenfreunden, welche dahinter das Schaffot zu verstecken suchen, zum Greveplatz, jenem elenden, schameinflößenden Denkmal der im Krämersinn erstickten menschlichen Gesellschaft, die vor der Todesstrafe zurückschreckt, sie aber weder großmüthig abzuschaffen noch mit Entschiedenheit aufrecht zu erhalten wagt.

Vor sieben und dreißig Jahren war, abgesehen von diesem wie stets zum Unglück von der Vorsehung bestimmten Platz St. Jaques, welcher immer gräßlich gewesen ist, vielleicht der trübseligste Punkt auf diesem ganzen trübseligen Boulevard, die Stelle wo man das alte Haus 50-52 traf.

Die Bürgerhäuser entstanden hier erst fünfundzwanzig Jahre später. Der Ort war düster und einsam. Soweit das Auge reichte, sah man nichts als die Umfassungsmauer und einige casernen- oder klosterähnliche Fabrikgebäude. Ueberall Mauern, entweder alt und schwarz wie Grabtücher, oder frisch aufgeführt und weiß wie Leichentücher; überall parallele Baumreihen, nach der Schnur gezogene lange, kalte Linien und die düstere Traurigkeit rechter Winkel. Keine Abwechselung des Bodens! Es war ein eiskaltes, regelmäßiges, häßliches Ensemble. Nichts preßt das Herz so zusammen, als Gleichmäßigkeit; denn die Gleichmäßigkeit ist die Langeweile und die Langeweile ist die Grundlage der Trauer. Man kann sich noch etwas weit Schrecklicheres denken als eine Hölle, in der man leidet, das ist eine Hölle, in der man sich langweilt. Wenn es eine solche Hölle gäbe, könnte dieses Stück des Boulevards Hospital der Zugang zu ihr sein.

Bei eintretender Nacht indeß, im Winter besonders, wenn der Dämmerungswind den Ulmen die letzten rothen Blätter abreißt, in tiefer, sternenloser Finsternis oder wenn der Mond und der Wind Löcher in die Wolken macht, wurde dieser Boulevard entsetzlich. Der Vorübergehende konnte sich nicht enthalten, an die zahllosen Galgentraditionen des Ortes zu denken. Die Einsamkeit dieses Ortes, wo so viele Verbrechen begangen worden waren, hatte etwas Grauenhaftes. Man wähnte Schlingen in dieser Dunkelheit zu fühlen, alle wirren Gestalten des Schattens sahen verdächtig aus und die langen, viereckigen Gruben zwischen den Bäumen wie Gräber. Hier war der Tag häßlich, der Abend traurig, die Nacht unheilvoll.

Sommerszeit in der Dämmerung sah man hier und da einige alte Weiber bei den Ulmen auf vom Regen feuchten Bänken sitzen. Diese Alten bettelten.

Uebrigens suchte jener Stadttheil schon damals sich umzugestalten. Wer ihn sehen wollte, mußte sich beeilen. Jeden Tag verschwand eine Einzelnheit von diesem Ganzen. Heut zu Tage und seit zwanzig Jahren ist hier neben der alten Vorstadt der Bahnhof der Orleans-Eisenbahn. Ueberall, wo man an den Grenzen einer Hauptstadt einen Eisenbahnhof anlegt, ist dies der Tod einer Vorstadt, die Geburt einer Stadt. Es scheint, daß um diese großen Mittelpunkte der Bewegung der Völker, beim Rollen dieser gewaltigen Maschinen, bei dem Schnauben dieser Ungeheuerrosse der Civilisation, welche Kohlen verzehren und Feuer ausspeien, die keimende Erde zittert und sich aufthut, um die alten Wohnungen der Menschen zu verschlingen und neue aus derselben hervorgehen zu lassen. Die alten Häuser stürzen ein, neue steigen empor.

II. Nest für Uhu und Grasmücke.

Vor Gorbeau’s altem Hause blieb Johann Valjean stehen. Wie scheue Vögel hatte er diesen verlassenen Ort gewählt, um hier sein Nest aufzuschlagen.

Er suchte in seiner Westentasche, holte eine Art Hauptschlüssel heraus, öffnete die Thür, trat ein, schloß sorgfältig wieder zu und stieg die Treppe hinauf. Dabei trug er fortwährend Cosetten.

Oben auf der Treppe nahm er einen anderen Schlüssel aus seiner Tasche, mit dem er eine andere Thür öffnete. Das Zimmer, in das er eintrat und das er sogleich wieder schloß, war eine Art Dachkammer, ziemlich geräumig, mit einem am Boden liegenden Strohsack, einem Tisch und einigen Stühlen möblirt. In einer Ecke stand ein Ofen, dessen Gluth man brennen sehen konnte. Die Straßenlaterne erleuchtete undeutlich dieses armselige Gemach. Im Hintergrunde befand sich ein Cabinet mit einem Gurtbett. Johann Valjean trug das Kind auf dieses Bett und legte es nieder, ohne daß es erwachte.

Er schlug Feuer und zündete ein Licht an. Alles das war bereits auf dem Tische vorbereitet. Wie er es schon den Tag vorher gethan hatte, fing er an Cosette mit entzücktem Blicke zu betrachten, in welchem der Ausdruck der Güte und Zärtlichkeit beinahe bis zur Verzückung stieg. Das kleine Mädchen war in dem ruhigen Vertrauen, das der größten Kraft und der äußersten Schwäche eigen ist, eingeschlafen, ohne zu wissen, bei wem sie war und schlief ruhig weiter, ohne zu wissen, wo sie sich befand. Johann Valjean beugte sich und küßte die Hand des Kindes.

Neun Monate vorher küßte er die Hand der Mutter, welche, auch sie, eben eingeschlafen war.

Dasselbe schmerzliche, stechende, anbetende Gefühl erfüllte sein Herz.

Er kniete an dem Bett Cosetten’s nieder.

Es war heller Tag und das Kind schlief noch immer. Ein bleicher Strahl der Dezembersonne fiel durch das Fenster der Dachkammer und zog an der Decke lange Schatten und Lichtfüllen. Plötzlich erschütterte ein schwer beladener Kärrner-Wagen, der auf dem Boulevard hinfuhr, die Barake wie das Rollen des Donners, so daß es von unten bis oben zitterte.

»Ja Madame!« rief Cosette, die aus dem Schlafe auffuhr. »Hier bin ich! Hier bin ich!«

Sie sprang aus dem Bette, die Augen noch halb geschlossen durch die Schwere des Schlafes und streckte den Arm nach der Mauerecke aus.

»Ach Gott, mein Besen!« sagte sie.

Dann öffnete sie ganz die Augen und sah das lächelnde Gesicht Johann Valjeans.

»Ach ja, es ist wahr!« sagte sie. »Guten Morgen, mein Herr!«

Die Kinder nehmen die Freude und das Glück sofort und ganz vertraulich an. Sie selbst sind naturgemäß Glück und Freude.

Cosette gewahrte ihre Katharine am Fuße ihres Bettes, bemächtigte sich derselben und richtete, während sie mit ihr spielte, hunderterlei Fragen an Johann Valjean: wo sie wäre? Ob Paris groß sei? Ob Madame Thenardier weit fort sei? Ob sie nicht wiederkäme? u. s. w. Plötzlich rief sie: »Wie hübsch es hier ist!«

Es war ein schreckliches Nest. Sie empfand jedoch das Gefühl der Freiheit.

»Muß ich auskehren?« fragte sie endlich.

»Spiele nur,« sagte Johann Valjean.

So verging der Tag. Cosette, die sich nicht bemühte etwas zu begreifen, war unaussprechlich glücklich zwischen ihrer Puppe und diesem guten Manne.

X. Wer Besseres sucht, kann Schlechteres finden.

Die Thenardier hatte ihrer Gewohnheit gemäß, ihren Mann machen lassen. Sie erwartete große Ereignisse. Als der Mann und Cosette fort waren, ließ Thenardier eine gute Viertelstunde vergehen, dann nahm er sie bei Seite und zeigte ihr die fünfzehnhundert Francs.

»Weiter nichts?« fragte sie.

Es war das erste Mal, seit dem Anfange ihres Ehestandes, daß sie eine Handlung des Herrn zu kritisiren wagte. Der Schlag wirkte.

»In der That, Du hast Recht,« sagte er; »ich bin dumm gewesen. Gieb mir meinen Hut.«

Er faltete die drei Banknoten zusammen, steckte sie in seine Tasche und ging eilig fort. Anfangs irrte er sich und ging rechts. Einige Nachbarn, die er befragte, brachten ihn auf die Spur; man hatte den Mann und die Lerche in der Richtung nach Livry zu gehen sehen. Er folgte dieser Andeutung. Er lief schnell und hielt dabei folgendes Selbstgespräch:

»Der Mann ist offenbar ein gelb gekleideter Millionär und ich bin ein Vieh. Anfangs hatte er zwanzig Sous, dann fünf Francs, dann fünfzig, dann funfzehnhundert gegeben, und immer mit der größten Leichtigkeit. Er hätte fünfzehntausend gegeben. Aber ich hole ihn ein!«

Seltsam war auch das Packet mitgebrachter Kleidungsstücke für die Kleine. Dahinter mußte etwas Geheimnißvolles stecken. Geheimnisse läßt man nicht so leicht los, wenn man sie einmal hat. Die Geheimnisse der Reichen sind goldgefüllte Schwämme, die man zu drücken verstehen muß. Alle diese Gedanken wirbelten in seinem Kopfe. »Ich bin ein Vieh!« sagte er.

Ist man aus Montfermeil hinaus und hat man die Krümmung erreicht, welche die Straße nach Livry macht, so sieht man sie sehr weit vor sich hin auf der Höhe sich entfalten. Dort angekommen, meinte er, müßte er den Mann mit der Kleinen sehen. Er schaute so weit als sein Auge reichte und sah nichts. Er erkundigte sich weiter. Dabei verlor er Zeit. Vorübergehende sagten ihm, daß der Mann und das Kind, welche er suche, nach dem Walde, nach Gagny zu, gegangen seien. In dieser Richtung ging er eiligst hin.

Sie hatten einen Vorsprung vor ihm, aber ein Kind geht langsam und er ging rasch. Und dann war ihm auch die Gegend genau bekannt.

Plötzlich blieb er stehen und schlug sich an die Stirne, wie Jemand, der etwas Wesentliches vergessen hat und bereit ist wieder umzukehren.

»Ich hätte meine Flinte mitnehmen sollen!« dachte er.

Thenardier war eine der Doppelnaturen, die bisweilen mitten unter uns, ohne daß wir es wissen, erscheinen und verschwinden, ohne daß wir sie erkannten, weil das Geschick sie nur von einer Seite gezeigt hat. Viele Menschen haben das Schicksal, so halb versenkt zu leben. In einer ruhigen und gewöhnlichen Lage besaß Thenardier Alles was zum Geschäft gehört – wir sagen nicht zu einem Mitgliede der Gesellschaft – zu einem honetten Geschäftsmann. Gleichzeitig hatte er aber auch, wenn gewisse Umstände gegeben gewesen, wenn gewisse Stöße seine untere Seite emporgekehrt hätten, Alles, was zu einem Bösewicht gehört. Er war ein Budiker, in dem ein Ungeheuer steckte. Satan mußte manchmal sich in einen Winkel der Stube kauern, in der Thenardier hausete, und vor diesem Meisterstück des Häßlichen nachdenken.

Nachdem er einen Augenblick gezaudert, dachte er:

»Bah, sie hatten Zeit zu entkommen.«

Er setzte seinen Weg fort, ging sehr schnell, beinahe mit der Miene der Sicherheit, mit dem Scharfsinn eines Fuchses, der ein Volk Rebhühner wittert.

In der That, als er über die Teiche hinausgekommen, bemerkte er über einem Gebüsch einen Hut. Es war der Hut des Mannes. Das Gebüsch war niedrig. Thenardier sagte sich, daß der Mann mit Cosette da saß. Das Kind sah er wegen der Kleinheit desselben nicht, den Kopf der Puppe aber konnte er wahrnehmen.

Thenardier täuschte sich nicht. Der Mann saß da, um Cosetten ein wenig ausruhen zu lassen. Der Wirth ging um das Gebüsch herum und erschien plötzlich vor den Blicken derer, welche er suchte.

»Verzeihung, ich bitte um Entschuldigung, mein Herr,« sagte er ganz außer Athem, »aber hier sind Ihre fünfzehnhundert Francs zurück.«

Während er dies sagte, hielt er dem Fremden die drei Banknoten hin.

Der Mann sah auf und fragte:

»Was heißt das?«

Thenardier antwortete respectvoll:

»Das heißt, mein Herr, daß ich Cosetten wieder haben will.«

Cosette zitterte und schmiegte sich an den Mann.

Dieser sah Thenardier tief ins Auge und antwortete, indem er jede Silbe betonte und dehnte:

»Sie nehmen Cosette zurück?«

»Ja, mein Herr, ich nehme sie zurück. Ich will es Ihnen sagen. Ich habe mir die Sache überlegt. Ich habe eigentlich gar nicht das Recht, sie wegzugeben. Sehen Sie, ich bin ein ehrlicher Mann. Die Kleine ist nicht mein Kind; sie gehört ihrer Mutter. Ihre Mutter hat sie mir anvertraut, nur dieser kann ich sie zurückgeben. Sie sagen vielleicht: ihre Mutter ist todt. Gut. In diesem Falle könnte ich das Kind nur einer Person geben, die mir ein von der Mutter unterschriebenes Schreiben brächte, ich solle das Kind dieser Person überliefern. Das ist doch klar.«

Ohne ein Wort zu antworten, suchte der Mann in seiner Tasche. Thenardier sah das Portefeuille mit den Bankbillets wieder zum Vorscheine kommen.

Der Wirth empfand ein Zittern der Freude.

»Gut!« dachte er. »Festhalten! Er will mich bestechen!«

Ehe der Mann das Portefeuille öffnete, sah er sich um. Der Ort war ganz einsam. Nicht eine Seele ließ sich weder in dem Walde, noch in der Ebene sehen. Der Mann öffnete das Portefeuille und nahm, nicht die Handvoll Banknoten, was Thenardier erwartete, sondern ein kleines Papier heraus, das er auseinanderschlug und offen dem Wirthe mit den Worten hinhielt:

»Sie haben Recht. Lesen Sie.«

Thenardier nahm das Papier und las:

M. am M. den 25. März 1823.

Herr Thenardier!
Ich ersuche Sie, dem Ueberbringer Dieses Cosetten zu übergeben. Die Kleinigkeiten, welche etwa noch Rest sind, werden bezahlt werden.

Ich habe die Ehre, Sie mit aller Achtung zu grüßen.

Fantine.

»Sie kennen diese Unterschrift?« fragte der Mann. Es war allerdings die Unterschrift Fantine’s. Thenardier erkannte sie. Es ließ sich darauf nichts sagen. Er empfand einen doppelt großen Verdruß, den Verlust der gehofften Bestechung und den, geschlagen zu sein.

Der Mann setzte hinzu:

»Das Papier können Sie als Quittung behalten.«

Thenardier zog sich in guter Ordnung zurück.

»Die Unterschrift ist gut nachgemacht,« murmelte er zwischen den Zähnen.

»Es mag sein!«

Er machte noch eine verzweifelte Anstrengung.

»Es ist gut, mein Herr, da Sie der Ueberbringer sind. Aber es heißt, ›die Kleinigkeiten‹, welche etwa noch Rest sind, sollen bezahlt werden. Man ist mir aber viel schuldig.«

Der Mann richtete sich hoch auf und sagte, während er mit dem Finger Staub von seinem abgeschabten Rockärmel wegschnippte:

»Herr Thenardier, im Januar berechnete die Mutter, daß sie Ihnen hundert und zwanzig Francs schuldig sei; im Februar schickten Sie ihr eine Rechnung über fünfhundert Francs. Ende Februar erhielten Sie dreihundert und dreihundert Anfang März. Seitdem sind neun Monate zu dem verabredeten Preise von fünfzehn Francs vergangen; das macht einhundert und fünfunddreißig Francs. Es blieben Ihnen also fünfunddreißig gut. Jetzt habe ich Ihnen fünfzehnhundert gegeben.«

Thenardier empfand, was der Wolf in dem Augenblicke empfindet, wenn er sich von der stählernen Falle gefaßt und gefangen fühlt.

»Welcher Teufel ist der Mann?« dachte er.

Er that was der Wolf thut: er schüttelte sich.

Die Keckheit war ihm schon einmal gelungen.

»Mein Herr – ich weiß nicht, wie Sie heißen« – sagte er entschlossen und dieses Mal alle Rücksichten der Achtung bei Seite setzend, »ich nehme Cosetten zurück oder Sie geben mir tausend Thaler.«

Der Fremde antwortete gelassen:

»Komm, Cosette.«

Er faßte sie mit der linken Hand, mit der rechten nahm er seinen Stock vom Boden auf.

Thenardier sah den dicken Knüppel und die Einsamkeit des Ortes.

Der Mann drang mit dem Kinde in das Gehölz weiter hinein und ließ den Wirth unbeweglich und verblüfft dastehen.

Während sie sich entfernten, betrachtete Thenardier die breiten, ein wenig gewölbten Schultern und die großen Fäuste des Mannes. Dann fielen seine Blicke auf seine eigenen schwächlichen Arme und hageren Hände.

»Ich muß wirklich ganz dumm sein, daß ich meine Flinte nicht mitgenommen habe, da ich doch auf die Jagd ging.«

Der Gastwirth ließ indeß seine Beute noch nicht los.

»Ich will wissen, wohin er geht,« sagte er und machte sich daran ihm von Weitem zu folgen. Zweierlei war ihm geblieben: ein Spott, das Stückchen Papier mit der Unterschrift »Fantine,« und ein Trost, die fünfzehnhundert Francs.

Der Mann führte Cosette in der Richtung nach Livry und Bondy hin. Er ging langsam, mit gesenktem Kopfe, in nachdenklicher und trauriger Haltung. Der Winter hatte den Wald kahl gemacht, so daß ihn Thenardier nicht aus den Augen verlor, obschon er ziemlich weit zurück blieb. Von Zeit zu Zeit drehte sich der Mann um und sah, ob man ihm folge. Plötzlich gewahrte er Thenardier. Sofort trat er mit Cosette in ein Dickicht, wo sie beide verschwinden konnten.

»Teufel!« sagte Thenardier und beschleunigte seine Schritte.

Das Dickicht nöthigte ihn sich wieder zu nähern. Als der Mann gerade im tiefsten Dickicht war, drehte er sich um. Wie Thenardier sich auch in den Aesten versteckte, er konnte es nicht hindern, daß der Mann ihn sah. Dieser warf ihm einen unruhigen Blick zu, warf den Kopf verächtlich in die Höhe und setzte seinen Weg fort. Der Gastwirth folgte immer weiter nach. So machten sie zwei- bis dreihundert Schritte. Plötzlich wendete sich der Mann noch einmal um. Er bemerkte den Wirth. Diesmal sah er denselben mit einem so finsteren Blicke an, daß Thenardier es für »unnütz« hielt, weiter zu gehen. Thenardier machte Kehrtum.

V. Die Kleine ganz allein.

Da das Wirthshaus Thenardier in dem Theil des Dorfes bei der Kirche stand, so mußte Cosette das Wasser aus der Quelle am Walde nach Chelles zu holen.

Sie sah sich keine Bude mehr an. So lange sie in dem Bäckergäßchen und in der Nähe der Kirche war, erhellten die erleuchteten Buden ihren Weg, bald aber verschwand auch das letzte Licht der letzten Bude. Das arme Kind befand sich ganz im Finstern. Sie drang in dieselbe hinein; nur bewegte sie, da eine gewisse innere Angst sie ergriff, den Eimer in ihrer Hand so sehr sie konnte. Das machte ein Geräusch, das ihr Gesellschaft leistete.

Je weiter sie ging, desto dichter wurde die Finsterniß. Kein Mensch war mehr auf der Straße. Nur einer Frau begegnete sie, welche sich umdrehte, als sie sie vorübergehen sah, stehen blieb und zwischen den Zähnen murmelte: »Wo mag das Kind nur hingehen?« Dann erkannte sie Cosette. »Ach, die Lerche ist es;« sagte sie.

So durchschritt Cosette das Labyrinth der krummen, öden Gäßchen, die nach dieser Seite von Chelles zu Montfermeil endigen. So lange sie Häuser, ja nur Mauern zu beiden Seiten ihres Weges hatte, ging sie ziemlich muthig dahin. Von Zeit zu Zeit sah sie den Lichtstrahl eines Lichtes durch die Ritze eines Fensterladens schimmern. Das war Licht und Leben, da wohnten Leute. Das beruhigte sie. Je weiter sie indeß ging, desto langsamer wurde mechanisch ihr Gang. Als sie an dem letzten Hause vorüber war, blieb sie stehen. Ueber die letzte Bude hinaus zu gehen, war ihr schwer geworden; noch weiter als über das letzte Haus hinaus zu gehen, war ihr unmöglich. Sie stellte den Eimer auf den Boden, fuhr sich mit den Händen in die Haare und begann langsam sich auf dem Kopf zu kratzen, – eine Geste, welche Kindern eigen ist, wenn sie erschreckt und unentschlossen sind. Es war nicht mehr Montfermeil, es war offenes Feld. Der Raum vor ihr war schwarz und dunkel. Mit Verzweiflung sah sie die Finsterniß, in der Niemand mehr war, wohl aber Thiere, vielleicht gar Gespenster. Sie schaute mit Aufmerksamkeit vor sich hin, hörte die Thiere, welche im Grase gingen. Deutlich sah sie die Gespenster, welche sich in den Bäumen bewegten. Da ergriff sie den Eimer wieder; die Furcht gab ihr Muth. – »Bah! ich sage ihr, es wäre kein Wasser mehr da!« dachte sie und entschlossen kehrte sie um und ging wieder in das Dorf hinein.

Kaum war sie hundert Schritt gegangen, so blieb sie wieder stehen und kratzte sich von neuem auf dem Kopfe. Jetzt war es die Thenardier, welche ihr erschien, die häßliche Thenardier mit ihrem Hyänenrachen und ihren zornflammenden Augen. Das Kind warf einen kläglichen Blick vor und hinter sich. Was thun? Was sollte aus ihr werden? Wohin gehen? Vor ihr das Gespenst der Thenardier, hinter ihr alle Fantome der Nacht und des Waldes. Vor der Thenardier wich sie zurück, sie schlug den Weg nach der Quelle wieder ein und begann schnell zu laufen. Eilend kam sie wieder aus dem Dorfe hinaus, eilend gelangte sie in das Gebüsch; sie hörte und sah nichts mehr. Sie hielt nur still, wenn sie Athem schöpfen wollte, sonst nicht. In höchster Bestürzung lief sie gerade aus.

Wie sie so lief, hatte sie Lust zu weinen.

Das nächtliche Rauschen des Waldes umhüllte sie.

Sie dachte, sie sah nichts mehr. Die unermeßliche Nacht stand diesem kleinen Wesen gegenüber.

Von dem Waldrande bis zur Quelle waren nur sieben bis acht Minuten. Cosette kannte den Weg, da sie ihn schon öfters am Tage gegangen war. Sie verirrte sich nicht. Dunkel leitete sie der Instinkt. Sie blickte aber weder nach rechts noch nach links, aus Furcht, in den Aesten oder in dem Gebüsch Etwas zu sehen. So gelangte sie an die Quelle.

Es war eine kleine, vom Wasser natürlich ausgehöhlte Vertiefung in einem thonigen Boden, etwa zwei Fuß tief, von Moos und hohem Gras umgeben und mit einigen großen Steinen ausgepflastert. Still und leise floß ein Bach aus der Quelle ab.

Cosette nahm sich nicht die Zeit zu athmen. Es war sehr finster, sie war aber schon sehr oft an der Quelle gewesen. Mit der linken Hand suchte sie im Dunkeln nach einer jungen sich über die Quelle neigenden Eiche, welche ihr gewöhnlich als Stütze diente, erfaßte einen Zweig, hing sich an denselben, bückte sich und tauchte den Eimer in das Wasser. Sie befand sich in einem so aufgeregten Zustande, daß ihre Kräfte sich verdreifacht hatten.

Während sie sich so bückte, achtete sie nicht darauf, daß dabei ihre Schürzentasche aufging und das, was darin war, in das Wasser fiel. Es war das Fünfzehnsousstück. Cosette sah und hörte es nicht fallen. Sie zog den fast vollen Eimer empor und stellte ihn auf das Gras.

Nachdem dies geschehen, fühlte sie, daß sie vor Müdigkeit ganz erschöpft war. Sie wäre gern gleich wieder gegangen, die Anstrengung aber, welche es ihr gekostet, den Eimer zu füllen, war so groß gewesen, daß es ihr unmöglich war noch einen Schritt zu thun. Sie mußte sich setzen, sank auf das Gras und kauerte sich zusammen.

Sie schloß die Augen und schlug sie wieder auf, ohne zu wissen warum. Sie konnte nicht anders. Neben ihr bildete das bewegte Wasser im Eimer Kreise, welche wie weiße Schlangen aussahen.

Der Himmel über ihr war mit dicken, schwarzen Wolken wie mit Rauchwänden bedeckt. Die tragische Maske des Dunkels schien undeutlich sich über das Kind zu neigen.

Der Jupiter versteckte sich hinter den Wolkenmassen.

Das Kind blickte mit ängstlichem Auge zu diesem großen Sterne hinauf, den sie nicht kannte und vor dem sie sich fürchtete. Der Planet stand in der That in diesem Augenblicke ganz nahe am Horizonte und durchschnitt eine dichte Wolkenmasse, was ihm einen Schreck verursachenden Schein verlieh, während der düster beleuchtete Nebel den Stern vergrößerte. Er glich einer leuchtenden Wunde.

Ein kalter Wind wehte von der Ebne. In dem finstern Walde fehlte das Blätterrauschen und jener undeutliche und frische Schein des Sommers. Mächtige Aeste streckten sich gespenstisch aus. Magere, verkrüppelte Büsche pfiffen im Winde in den lichten Stellen des Waldes. Das hohe Gras bewegte sich wimmelnd unter dem Nordostwind, wie Aale. Die Brombeerranken bogen sich wie lange, mit Krallen bewaffnete Arme, welche nach Beute haschen. Einige dürre Heidekräuter, die der Wind trieb, rollten schnell vorüber und sahen aus, als flöhen sie mit Schrecken vor irgend Etwas, das eintreffen könnte. Auf allen Seiten, überall düstere Ausdehnungen und düstere Striche.

Die Finsterniß erregt Schwindel. Der Mensch bedarf der Helle. Wer sich in das Gegentheil des Tages begiebt, der fühlt sein Herz wie zusammengeschnürt. Wenn das Auge schwarz sieht, sieht der Geist trübe. In der Nacht, im schwarzen Dunkel steckt Angst, selbst für die Stärksten. Schatten und Gehölz sind zwei fürchterliche Dichtigkeiten. Niemand geht ohne Bangen Nachts allein durch einen Wald. In der unerkennbaren Ferne erscheint eine chimärische Wirklichkeit. Das Unbegreifliche erscheint mit gespenstischer Genauigkeit in unserer Nähe. Man sieht, im Raume oder im eigenen Kopfe, irgend etwas Unbestimmtes und Ungreifbares wie Traumbilder schlafender Blumen. Am Horizonte zeigen sich drohende Stellungen. Man athmet die Ausströmungen des großen finsteren Raumes. Man fürchtet sich und möchte immer hinter sich sehen. Gegen die Tiefe der Nacht, gegen die schattenhaft gewordenen Dinge, gegen die schweigenden Gestalten, die zerfließen sobald man ihnen näher kommt, gegen drohende Büsche, gegen bleiche Wasserfluthen, gegen den Reflex des Düsteren der Nacht, gegen die Unermeßlichkeit der Grabesstille, gegen unbekannte mögliche Wesen, gegen das geheimnisvolle Neigen der Zweige, gegen schauerliche Baumstümpfe, gegen die langen Finger des zitternden Grases – gegen Alles dieses ist man machtlos. Jede Kühnheit zittert und fühlt die Nachbarschaft der Angst. Man empfindet die Berührung mit etwas Häßlichem, als wenn das Dunkel mit der Seele sich verschmelzen wollte. Diese Einwirkung der Finsterniß ist unaussprechlich fürchterlich für ein Kind.

Die Wälder sind Apocalypsen und der Flügelschlag einer kleinen Seele macht ein Geräusch des Todeskampfes unter dieser ungeheueren Wölbung.

Ohne zu wissen was sie empfand, fühlte Cosette, daß sie von dieser schwarzen Ungeheuerlichkeit der Natur ergriffen werde. Nicht mehr blos Schrecken, etwas noch Schrecklicheres als Schrecken durchdrang sie. Sie zitterte. Die Ausdrücke fehlen, dieses eigenthümliche Zittern zu beschreiben, das sie bis auf den Grund des Herzens eiskalt machte. Ihr Blick war wild. Sie glaubte zu fühlen, daß sie vielleicht am anderen Tage zu derselben Zeit wieder hierher werde gehen müssen.

Um aus diesem Zustande herauszukommen, den sie nicht begriff, der sie aber erschreckte, zählte sie instinctmäßig laut eins, zwei, drei bis zehn und fing dann wieder von vorn an. Das bewirkte wenigstens, daß sie die Dinge um sich her wieder so erkannte, wie sie waren. Sie fühlte die Kälte an ihren Händen, die sie bei dem Wasserschöpfen naß gemacht hatte. Sie stand auf. Die Furcht kehrte zurück, eine natürliche, unüberwindliche Furcht. Sie hatte nur noch einen Gedanken, zu fliehen, so schnell als möglich zu fliehen, quer durch den Wald, quer über das Feld bis zu den Häusern, den Fenstern, den angezündeten Lichtern. Ihr Blick fiel auf den Eimer vor ihr und die Furcht, welche ihr Frau Thenardier einflößte, war so groß, daß sie ohne den Wassereimer nicht zu fliehen wagte. Sie faßte den Henkel mit beiden Händen. Sie konnte den Eimer kaum in die Höhe heben.

So ging sie ungefähr zwölf Schritte weit, der Eimer aber war voll, war schwer und sie mußte ihn niedersetzen. Einen Augenblick schöpfte sie Athem, dann ging sie weiter, diesmal etwas langsamer. Aber sie mußte noch einmal stehen bleiben. Nach einigen Secunden der Ruhe setzte sie ihren Weg wieder fort. Sie ging nach vorn geneigt, mit gesenktem Kopfe, wie eine Alte. Die Last des Eimers zerrte an ihren mageren Armen. Der eiserne Henkel that noch das Seinige, ihre nassen Hände zu erstarren und zu erkälten. Von Zeit zu Zeit war sie genöthigt stehen zu bleiben und jedesmal, wenn sie hierbei den Eimer hinsetzte, spritzte ihr kaltes Wasser daraus auf die bloßen Füße. Das alles geschah mitten im Walde, in der Nacht, im Winter, fern von jedem menschlichen Blicke; es war ein Kind von acht Jahren, nur Gott allein sah diesen traurigen Zustand.

Und ach, ohne Zweifel, auch ihre Mutter! Manche Dinge öffnen den Todten im Grabe die Augen.

Cosette athmete mit schmerzlichem Röcheln. Schluchzen schnürte ihr die Kehle zu, sie wagte aber nicht zu weinen, so sehr fürchtete sie, sich vor der Thenardier, selbst wenn sie fern von ihr war. Sie stellte sich immer vor, die Thenardier sei da.

Schnell konnte sie indeß in solcher Weise den Weg nicht zurücklegen, sie ging sehr langsam. Es half ihr wenig, daß sie seltener Ausruhestationen machte. Mit Schrecken dachte sie daran, daß sie wohl noch eine Stunde brauchen werde, ehe sie nach Montfermeil zurückkomme und daß die Thenardier sie dann schlagen würde. Diese Angst mischte sich mit ihrer Furcht, allein in der Nacht im Walde zu sein. Sie war abgemattet von Kälte und Müdigkeit und noch hatte sie den Wald nicht hinter sich. Neben einem ihr wohlbekannten, alten Kastanienbaum machte sie einen letzten, längeren Halt, um recht auszuruhen, dann nahm sie alle ihre Kräfte zusammen, faßte den Eimer und schritt muthig weiter. Trotzdem aber war das arme, kleine Wesen in ihrem Herzen verzweifelt und konnte nicht umhin auszurufen: »Ach, mein Gott! Ach, mein Gott!«

In diesem Augenblicke fühlte sie plötzlich, daß der Eimer sein Gewicht verloren. Eine, wie ihr vorkam, ungeheuer große Hand hatte den Henkel erfaßt und hob den Eimer kräftig in die Höhe. Sie sah auf. Eine große dunkle, gerade Gestalt ging im Dunkel neben ihr. Es war ein Mann, der hinter ihr gekommen war, was sie jedoch nicht gehört hatte. Ohne ein Wort zu sagen, hatte dieser Mann den Henkel des Eimers, welchen sie trug, gefaßt.

Es giebt ein instinktives Gefühl bei allen Begegnungen im Leben.

Das Kind hatte keine Furcht.

VI. Möglicherweise ein Beweis für die Intelligenz Boulatruelles.

Am Nachmittage desselben Weinachtstages 1823 ging ein Mann ziemlich lange in dem ödesten Theile des Boulevard Hospital in Paris umher. Dieser Mann hatte das Aussehen, als suche er eine Wohnung und schien vorzugsweise vor den bescheidensten Häusern dieses äußeren Randes der Vorstadt St. Marceau stehen zu bleiben.

Weiter unten wird man sehen, daß dieser Mann wirklich in diesem abgelegenen Theile ein Zimmer gemietet hatte.

Dieser Mann verwirklichte sowohl in seiner Kleidung wie in seiner ganzen Erscheinung den Typus eines Bettlers aus guter Gesellschaft; es war die äußerste Armuth verbunden mit der äußersten Sauberkeit. Es ist dies eine seltenere Mischung, welche, dem verständigen Herzen jene doppelte Achtung einflößt, welche man für den Armen und für den Würdigen empfindet. Er trug einen sehr alten und dabei sehr rein gebürsteten Hut, einen fadenscheinigen abgeschabten Rock von grobem ockergelben Tuche, welche Farbe damals grade nicht zu ungewöhnlich war, eine große Weste mit großen altväterischen Taschen, schwarze wollene Strümpfe und schwere Schuhe mit kupfernen Schnallen. Man hätte ihn für einen ehemaligen Lehrer aus guter Familie halten können, der aus der Emigration zurückgekommen war. Nach seinen ganz weißen Haaren, seiner runzeligen Stirn, seinen bleichen Lippen und seinem Gesicht, in welchem Alter, Gedrücktheit und Lebensüberdruß athmeten, hätte man ihn für älter als sechszig Jahre gehalten. Nach seinem festen, wenn auch langsamen Gange und der besondern in allen seinen Bewegungen sich ausdrückenden Kraft hätte man ihm kaum Fünfzig gegeben. Die Runzeln auf seiner Stirn waren gut gelegt und würden Jeden, der ihn genau beobachtet hätte, für ihn eingenommen haben. Seine Lippe zog sich mit einer eigenthümlichen Falte zusammen, welche Strenge zu verrathen schien, aber die der Demuth war. In Innern seiner Blicke lag eine gewisse traurige Heiterkeit. In der linken Hand trug er ein kleines in ein Taschentuch geknüpftes Packet, mit der rechten stützte er sich auf einen Stock, der in einer Hecke abgeschnitten war. Derselbe war mit einiger Sorgfalt gearbeitet und sah grade nicht zu schlimm aus.

Auf jenem Boulevard gehen wenig Leute, namentlich im Winter. Der Mann schien jedoch, ohne Affektation, sie mehr zu meiden als zu suchen.

In der damaligen Zeitepoche begab sich der König Ludwig XVIII. beinahe alle Tage nach Choisy-le-Roi. Es war eine seiner Lieblingspromenaden. Gegen zwei Uhr, fast einen Tag wie den andern, sah man den königlichen Wagen und die königliche Cavalcade im gestreckten Galopp über den Boulevard kommen.

Diese unfehlbare Ankunft des Königs zu derselben Stunde war also das tägliche Ereigniß des Boulevard Hospital.

Der Mann in dem gelben Rocke war offenbar nicht aus dem Viertel, wahrscheinlich nicht einmal aus Paris, ihm war dieser sonderbare Umstand unbekannt. Als um zwei Uhr der königliche Wagen, von einer Schwadron mit Silber galonnirter Gardes du Corps umgeben auf dem Boulevard ankam, schien er überrascht, beinahe erschrocken zu sein. Er allein befand sich in der Allee. Er stellte sich rasch hinter eine Mauerecke, was jedoch den Herzog von Havré nicht hinderte, ihn zu bemerken. Dieser saß als dienstthuender Capitän der Garde in dem Wagen dem Könige gegenüber und sagte zu Sr. Majestät: »Dort steht ein Kerl von ziemlich verdächtigem Aussehen.« Polizisten, die den Weg des Königs frei zu halten hatten, bemerkten ihn ebenfalls und Einer erhielt den Auftrag ihm zu folgen. Der Mann verlor sich aber in die öden Gäßchen der Vorstadt, und da die Dämmerung begann, so verlor der Polizeiagent seine Spur, wie ein Bericht von demselben Abend an den Polizeipräfekten, Staatsminister Grafen von Anglès constatirt.

Nachdem der Mann im gelben Rocke den Polizeidiener irregeführt, verdoppelte er seine Schritte, nicht ohne sich häufig umzusehen, um sich zu versichern, ob man ihm noch folge. Ein Viertel auf fünf Uhr, d. h. als es bereits dunkel geworden, ging er vor dem Theater am Porte St. Martin vorüber, wo man an diesem Tage »die beiden Sträflinge« gab. Dieser Theaterzettel, welchen die beiden Laternen vor dem Theater beschienen, fiel ihm auf; denn obgleich er schnell ging, blieb er stehen, um ihn zu lesen. Einen Augenblick darauf war er in der Sackgasse Planchette und trat in ein Wirthshaus mit dem Embleme »Zur silbernen Schüssel,« wo sich damals das Stationsbureau für den Wagen befand, welcher nach Lagny ging. Dieser Wagen fuhr um halb fünf Uhr ab. Die Pferde waren angespannt und die von dem Kutscher gerufenen Reisenden stiegen in Eile auf den eisernen Einsteigetritt.

Der Mann fragte:

»Ist noch Platz?‘

»Ein einziger, neben mir auf dem Bocke,« antwortete der Kutscher.

»Ich nehme ihn.«

»Steigen Sie auf.«

Vor der Abfahrt warf indeß der Kutscher einen Blick auf den Anzug und das kleine Packet des Reisenden und ließ sich bezahlen.

»Fahren Sie bis Lagny?« fragte der Kutscher.

»Ja,« antwortete der Reisende und bezahlte bis Lagny.

Es ging fort. Als man die Barriere passirt hatte, versuchte der Kutscher eine Unterhaltung anzuknüpfen, die Antworten des Reisenden waren aber äußerst einsilbig. Da sah sich der Kutscher genöthigt zum Pfeifen seine Zuflucht zu nehmen und über seine Pferde zu fluchen. Er hüllte sich in seinen Mantel, denn es war kalt. Der Mann schien daran nicht zu denken. So fuhr man durch Gournax und Neuly an der Marne.

Gegen sechs Uhr Abends war man in Chelles. Der Kutscher hielt, um seine Pferde verschnaufen zu lassen, vor der Fuhrmannsherberge, welche sich in den Gebäuden der alten königlichen Abtei befindet.

»Ich steige hier ab,« sagte der Mann, nahm Packet und Stock, und sprang vom Wagen.

Einige Augenblicke darauf war er verschwunden. In das Wirthshaus war er nicht eingetreten.

Als nach Verlauf einiger Minuten der Wagen aus Lagny herausfuhr, begegnete er ihm auch nicht auf der Landstraße.

Der Kutscher wendete sich zu den Reisenden im Innern des Wagens.

»Der Mann ist nicht von hier,« sagte er, »ich kenne ihn nicht. Er sieht aus, als besäße er nicht einen Sous, es liegt ihm aber nichts am Gelde; er bezahlt bis Lagny und fährt nur bis Chelles. Es ist Nacht, alle Häuser sind geschlossen, er geht nicht in das Wirthshaus und man sieht ihn nirgends mehr. Er muß also in die Erde gesunken sein.«

Der Mann war nicht in die Erde gesunken, sondern war eiligst in der Dunkelheit auf der Landstraße weiter gegangen. Kurz vor der Kirche hatte er links den Weg eingeschlagen, welcher nach Montfermeil führt, wie Jemand, welcher die Gegend genau kennt und diesen Weg schon einmal gemacht hat. Eiligst verfolgte er diesen Weg. An der Stelle, wo ihn die alte mit Bäumen bepflanzte Straße von Gagny nach Lagny durchschneidet, hörte er Leute kommen. Schnell verbarg er sich in einem Graben und wartete, bis die Leute sich wieder entfernt hatten. Die Vorsicht war übrigens beinahe überflüssig, da, wie wir gesagt, damals eine stockfinstere Decembernacht war. Man sah kaum zwei oder drei Sterne am Himmel.

An diesem Punkte beginnt der Hügel aufzusteigen. Der Mann schlug den Weg nach Montfermeil nicht wieder ein, sondern wendete sich rechts quer über die Felder und erreichte schnellen Schrittes den Wald. Hier ging er langsamer, begann aufmerksam alle Bäume zu betrachten, Schritt für Schritt vorschreitend, als suche er einen ihm allein bekannten, geheimen Weg. Einen Augenblick schien er sich zu verirren und blieb unentschlossen stehen. Endlich gelangte er tastend zu einer Lichtung, wo ein Haufe großer, weißer Steine lag. Auf diese Steine ging er rasch zu und prüfte sie aufmerksam in dem Dunkel der Nacht, als wenn er Revue über sie hielte. Ein dicker Baum, bedeckt mit jenen Auswüchsen, welche die Warzen der Vegetation sind, stand einige Schritte von dem Steinhaufen. Zu diesem Baume ging er, tastete mit der Hand über die Rinde, als suche er ihn daran wieder zu erkennen. Er zählte alle jene Warzen.

Dem Baume, einer Esche, gegenüber stand ein Kastanienbaum mit kranker Rinde, dem man zur Heilung einen Zinkverband angelegt hatte. Der Mann hob sich auf den Fußspitzen in die Höhe und berührte diesen Zinkverband.

Darauf prüfte er mit den Füßen eine Zeitlang in dem Raume zwischen dem Baume und den Steinen den Boden, wie Jemand, welcher sich davon überzeugen will, ob das Erdreich nicht frisch aufgegraben worden sei.

Nachdem er dies gethan, hatte er sich zurechtgefunden und setzte seinen Weg mitten durch den Wald wieder fort.

Dieser Mann war es, der Cosetten begegnet hatte.

Während er durch das Gebüsch in der Richtung nach Montfermeil zu ging, hatte er jenen kleinen Schatten bemerkt, der sich jammernd bewegte, eine Last auf den Boden setzte, dieselbe wieder aufnahm und dann weiter ging. Er war näher getreten und hatte erkannt, daß es ein noch ganz junges Kind mit einem ungeheuren Wassereimer sei. Da war er auf das Kind zugegangen und hatte stillschweigend den Henkel des Eimers ergriffen.

VII. Cosette im Dunkel mit dem Unbekannten.

Cosette, sagten wir, empfand keine Furcht.

Der Mann redete sie an, er sprach mit ruhiger, beinahe leiser Stimme:

»Mein Kind, das, was Du da trägst, ist wohl sehr schwer für Dich?«

Cosette hob den Kopf in die Höhe und antwortete:

»Ja, mein Herr.«

»Gieb her,« fuhr der Mann fort, »ich will es Dir tragen.«

Cosette ließ den Eimer los. Der Mann ging neben ihr.

»In der That, er ist sehr schwer,« sagte er leise wie für sich. Dann setzte er hinzu: »Wie alt bist Du, Kleine?«

»Acht Jahre, mein Herr.«

»Kommst Du so von weit her?«

»Von der Quelle im Walde.«

»Hast Du noch weit zu gehen?«

»Eine gute Viertelstunde von hier.«

Der Mann schwieg einen Augenblick, dann fragte er plötzlich:

»Du hast also keine Mutter?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete das Kind. Ehe der Mann Zeit hatte wieder etwas zu sagen, setzte sie hinzu: »Ich glaube es nicht. Die Andern haben eine. Ich habe keine.«

Nach einer Pause sagte sie noch:

»Ich glaube nicht, daß ich jemals eine gehabt habe.«

Der Mann blieb stehen, setzts den Eimer hin, bückte sich, legte beide Hände auf die Achseln des Kindes und gab sich Mühe, sie im Dunkel zu erkennen und ihr in das Gesicht zu sehen.

Die hagere schwächliche Gestalt Cosette’s zeigte sich undeutlich im bleichen Schimmer des Himmels.

»Wie heißt Du?« fragte der Mann.

»Cosette.«

Es war als berühre den Mann ein elektrischer Schlag. Er sah sie noch immer an, dann zog er seine Hände von den Achseln Cosettens zurück, ergriff den Eimer und begann wieder weiter zu gehen.

Kurze Zeit verging, da fragte er:

»Wo wohnst Du Kleine?«

»In Montfermeil, wenn Ihnen das bekannt ist.«

»Dorthin gehen wir?«

»Ja, mein Herr.«

Er machte wieder eine Pause, worauf er begann:

»Wer hat Dich denn zu solcher Zeit nach Wasser bis in den Wald geschickt?«

»Madame Thenardier.«

Der Mann fuhr mit einem Tone der Stimme, der gleichgiltig sein sollte, in welchem aber ein seltsames Zittern lag, fort:

»Was treibt Deine Madame Thenardier?«

»Sie ist meine Herrschaft. Sie hat ein Wirthshaus,« antwortete das Kind.

»Ein Wirthshaus?« wiederholte der Mann. »Gut, so werde ich die Nacht da logiren. Führe mich.«

»Wir gehen dahin,« antwortete das Kind.

Der Mann ging ziemlich rasch, Cosette folgte ihm ohne Mühe. Sie fühlte keine Müdigkeit mehr. Von Zeit zu Zeit erhob sie mit einer gewissen unaussprechlichen Ruhe und mit Vertrauen die Augen zu diesem Manne. Niemals hatte man sie gelehrt, sich an die Vorsehung zu wenden und zu beten. Dennoch empfand sie Etwas in sich, das der Hoffnung und der Freude glich. Sie fühlte, daß dieses Etwas dem Himmel angehöre.

Einige Minuten vergingen; dann begann der Mann wieder:

»Hat Madame Thenardier keine Magd?«

»Nein, mein Herr.«

»Bist Du allein?«

»Ja, mein Herr.«

Nach einer kurzen Unterbrechung sagte sie mit erhobener Stimme:

»Das heißt noch zwei kleine Mädchen sind da.«

»Was für kleine Mädchen?«

»Ponine und Zelma.«

So kürzte das Kind die romanhaften Namen ab welche der Thenardier so theuer waren.

»Wer sind Ponine und Zelma?«

»Die Demoiselles der Madame Thenardier, ihre Töchter.«

»Und was thun diese?«

»O, die,« antwortete das Kind, »die haben schöne Puppen, Sachen mit Gold daran und viel Spielzeug. Sie spielen, sie amüsiren sich.«

»Den ganzen Tag?«

»Ja, mein Herr.«

»Und Du?«

»Ich arbeite.«

»Den ganzen Tag?«

Das Kind schlug seine großen Augen auf, in denen eine Thräne schwamm, die man wegen der Dunkelheit der Nacht nicht sah, und antwortete sanft:

»Ja, mein Herr.« Nach einer Pause des Stillschweigens fuhr sie fort: »Manchmal, wenn ich mit der Arbeit fertig bin und man es mir erlaubt, amüsire ich mich auch.«

»Wie amüsirst Du Dich?«

»Wie ich kann. Man läßt mich. Ich habe aber nicht viel Spielzeug. Ponine und Zelma lassen mich mit ihren Puppen nicht spielen. Ich habe nur einen kleinen bleiernen Säbel, nicht länger als so.«

Dabei zeigte das Kind seinen kleinen Finger.

»Schneidet er denn?«

»O ja, mein Herr;« sagte das Kind. »Salat schneidet er. Auch kann man den Fliegen die Köpfe damit abschneiden.«

Sie erreichten das Dorf. Cosette diente dem Fremden als Führerin in den Straßen. Sie kamen vor dem Bäcker vorbei, Cosette dachte aber nicht an das Brod, das sie mitbringen sollte. Der Mann hatte aufgehört Fragen an sie zu richten und beobachtete jetzt ein düsteres Stillschweigen. Als sie die Kirche hinter sich hatten und der Mann alle diese Buden sah, fragte er Cosetten:

»Es ist wohl Markt hier?«

»Nein, mein Herr, es ist Weihnachten.«

Als sie sich dem Wirthshause näherten, berührte Cosette furchtsam den Arm des Fremden und sagte:

»Mein Herr!«

»Was, mein Kind?«

»Wir sind jetzt ganz in der Nähe.«

»Nun?«

»Wollen Sie mich nicht jetzt den Eimer wieder tragen lassen?«

»Warum?«

»Wenn Madame sähe, daß mir ihn Jemand getragen, so würde sie mich schlagen.«

Der Mann gab ihr den Eimer wieder. Einen Augenblick nachher waren sie an der Thür der Kneipe.

III. Der 18. Juni 1815.

Kehren wir nunmehr zurück und versetzen wir uns, von dem Rechte Gebrauch machend, welches jeder Erzähler hat, zurück in das Jahr 1815 und selbst noch ein wenig weiter in die Zeit vor dem Beginn der im ersten Theil erzählten Begebenheiten.

Wenn es in der Nacht vom 17. zum 18. Juni 1815 nicht geregnet hätte, so würde die Zukunft Europa’s eine andere geworden sein. Einige Wassertropfen mehr oder weniger bestimmten, ob Napoleon steigen oder fallen sollte. Damit Waterloo das Ende von Austerlitz werde, bedurfte die Vorsehung nur ein wenig Regen. Eine Wolke, welche gegen die Voraussetzung der Jahreszeit über den Himmel zog, reichte aus, die Welt aus den Angeln zu heben.

Die Schlacht von Waterloo – und das gab Blüchern Zeit, um noch einzutreffen – konnte erst um halbzwölf Uhr beginnen. Warum? Weil der Erdboden aufgeweicht war. Damit die Artillerie operiren konnte, mußte man warten, bis das Erdreich wieder ein wenig fest geworden.

Napoleon war von Haus aus Artillerieofficier und schien auch stets dessen eingedenk zu sein; denn alle seine Schlachtpläne waren auf das Geschütz basirt. Die Artillerie auf einen gegebenen Punkt concentriren, dieses war der Schlüssel zum Siege. Er behandelte die Strategie des feindlichen Generals wie eine Citadelle, und schoß Bresche hinein. Er überschüttete den schwachen Punkt mit Geschütz, er knüpfte und löste den Schlachtenknoten mit der Kanone. Der Schuß lag in seinem Genie. Carré’s sprengen, Regimenter vernichten, Linien durchbrechen, Massen zerreiben und zersprengen – dies war für ihn Alles, und alles dies übertrug er den Geschützen zur Ausführung: eine fürchterliche Methode, welche in Verbindung mit seinem Genie diesen düstern Athleten des Kriegs-Faustkampfes während fünfzehn Jahren unüberwindlich gemacht hat.

Am 18. Juni 1815 rechnete er desto mehr auf die Artillerie, weil er das numerische Uebergewicht hatte. Wellington hatte nur hundert und neunundfunfzig, Napoleon dagegen Zweihundert und vierzig Feuerschlünde.

Wäre der Boden trocken gewesen, so daß die Artillerie hätte auffahren können, so würde die Schlacht um sechs Uhr früh begonnen haben und um zwei Uhr, drei Stunden vor der Ankunft der Preußen, gewonnen und beendigt worden sein.

Wie viel Schuld trägt Napoleon an dem Verluste der Schlacht? Ist der Schiffbruch dem Steuermann zuzuschreiben?

Offenbar hatten zur damaligen Zeit bereits die Körperkräfte Napoleons abgenommen. Sollte sich hiermit vielleicht auch eine Abnahme der geistigen Kräfte verbunden haben? Sollten die zwanzig Kriegsjahre die Klinge ebenso wie die Scheide, den Geist ebenso wie den Körper abgenutzt haben? Machte sich denn schon der Veteran in ihm geltend? Mit einem Worte, verdunkelte sich dieses Genie, wie es viele bedeutende Geschichtsschreiber geglaubt haben? War seine Wuth nur der Deckmantel seiner Schwäche? Begann er unsicher zu werden unter dem Winde seines Fatums? Erkannte er die Gefahr nicht mehr, worin doch die größte Wichtigkeit für einen Feldherrn liegt? Giebt es in dieser Klasse großer materieller Menschen, welche man die Riesen der Aktion nennen könnte, ein Alter, in welchem das Genie kurzsichtig wird? Ueber die Genies des Ideals hat das Alter keine Macht: für die Dantes und Michel Angelos heißt alt werden soviel wie wachsen; sollte es bei den Hannibals und Bonaparte’s gleichbedeutend mit Verkommen sein? Hatte Napoleon den unmittelbaren Siegessinn verloren? War es soweit mit ihm gekommen, daß er die Klippe, die Schlinge nicht mehr erkannte und nicht mehr den unsicheren Rand des Abgrundes sehen konnte? Ging ihm die Ahnung der Catastrophe ab? War er, der einst alle Pfade des Triumphes kannte und sie von der Höhe seines blitzschleudernden Wagens mit befehlendem Finger andeutete, war er jetzt so düster betroffen, daß er seine Legionen dem Abgrund zuführte? Hatte ihn im Alter von sechsundvierzig Jahren der Wahnsinn erfaßt? War dieser tyrannische Kutscher des Schicksals jetzt nichts mehr als ein ungeheurer Wagehals?

Wir glauben es nicht.

Sein Schlachtplan war nach dem Urtheil Aller ein Meisterwerk. Grade auf das Centrum der Verbündeten losgehend, ein Loch in den Feind machen, ihn entzwei schneiden, die englische Hälfte nach Hall, die deutsche nach Tongres drängen, aus Wellington und Blücher zwei Baumstümpfe machen, die Deutschen in den Rhein, die Engländer in das Meer werfen: dieses Alles lag für Napoleon in dieser Schlacht.

Doch man wird sehen.

Es versteht sich von selbst, daß wir hier keine Geschichte der Schlacht von Waterloo geben wollen, es knüpft sich nur eine der Entwicklungsscenen des Drama’s, welches wir erzählen, an diese Schlacht. Die Geschichte derselben ist nicht unsere Aufgabe. Dieselbe ist übrigens bereits meisterhaft geschrieben und zwar nach zwei verschiedenen Gesichtspunkten, von Napoleon und von Charras. Wir kritisiren die beiden Geschichtsschreiber nicht, wir sind nur ein in der Entfernung stehender Zeuge, ein über die Ebene wandernder Reisender, Jemand, welcher über diese mit Menschenfleisch bepflasterte Erde sich suchend neigt und vielleicht Schein für Wirklichkeit hält. Wir haben nicht das Recht alle jene Thatsachen im Namen der Wissenschaft zu prüfen, dazu haben wir weder die genügende militairische Erfahrung noch Kenntniß. Unserer Meinung nach beherrscht in Waterloo die beiden Feldherren eine Verkettung von Zufälligkeiten; und wenn es sich um das Schicksal handelt, jenen mysteriösen Angeklagten, so sprechen wir unser Urtheil über ihn wie jener naive Richter – das Volk.

VIII. Von der Verlegenheit, einen Armen bei sich aufzunehmen, der vielleicht ein Reicher ist.

Cosette konnte nicht umhin von der Seite noch einen Blick auf die große Puppe zu werfen, die noch immer bei dem Spielzeughändler ausgestellt war. Dann klopfte sie. Die Thür öffnete sich. Die Thenardier erschien mit einem Lichte in der Hand.

»Ach, Du bist es, kleine Bettlerin? Du bist gar nicht lange geblieben! Sie wird gespielt haben, die Spitzbübin!«

»Madame,« fiel Cosette zitternd ein, »da ist ein Herr, der hier übernachten möchte.«

Die Thenardier nahm plötzlich statt ihrer barschen Miene ihre liebenswürdige Grimasse an, jene den Wirthen eigenthümliche Gesichtsveränderung, und sah sich gierig nach dem Angekommenen um.

»Ist das der Herr?« fragte sie.

»Ja, Madame,« antwortete der Mann, indem er mit der Hand seinen Hut berührte.

Die reichen Reisenden sind nicht so höflich. Jene Handbewegung, so wie die Musterung des Anzuges und des Gepäcks des Fremden, welchen die Thenardier mit einem einzigen Blick des Auges Revüe passiren ließ, ließen sofort die liebenswürdige Grimasse verschwinden und die mürrische Miene wieder erscheinen. Trocken fuhr sie fort:

»Treten Sie ein, guter Mann.«

Der »gute Mann« trat ein. Die Thenardier bettachtete ihn nochmals, musterte besonders seinen Rock, der ganz und gar abgeschabt war und seinen ein Wenig zerdrückten Hut. Mit einer gewissen Kopfbewegung, einem Naserümpfen und Augenblinzeln schien sie ihren Mann um seine Meinung zu fragen, welcher noch immer bei den Fuhrleuten saß und trank. Der Mann antwortete mit jener unmerklichen Daumenbewegung, die in Verbindung mit einem gewissen Anschwellen der Lippen in solchem Falle bedeutet: »ganz arm«. Darauf rief die Thenardier:

»Guter Mann, es thut mir leid, aber ich habe keinen Platz mehr.«

»Placiren Sie mich, wohin Sie wollen,« antwortete er, »auf den Boden, in den Stall. Ich bezahle so viel, wie für ein Zimmer.«

»Vierzig Sous?«

»Gut! Vierzig Sous.«

»Dann ist’s gut.«

»Vierzig Sous?« fragte ein Fuhrman leise die Thenardier; »es macht ja nur zwanzig.«

»Für ihn vierzig«, antwortete sie in demselben Tone. »Für weniger nehme ich Arme nicht auf.«

»Wirklich«, fügte er, der Thenardier, mit einer gewissen Milde hinzu: »Man verdirbt sich sein Haus, wenn man solches Volk aufnimmt.«

Unterdeß hatte sich der Mann, nachdem er Packet und Stock auf eine Bank gelegt, an einen Tisch gesetzt, wohin Cosette sich beeilte ihm eine Flasche Wein nebst einem Glase zu bringen. Der Kaufmann, der den Eimer mit Wasser verlangt hatte, war hinausgegangen, um ihn seinem Pferde selbst zu bringen. Cosette hatte ihren Platz unter dem Küchentische wieder ein-, so wie ihren Strumpf wieder zur Hand genommen.

Der Mann, welcher kaum die Lippen in dem Glase benetzt hatte, das er sich eingeschenkt, beobachtete das Kind mit einer sonderbaren Aufmerksamkeit.

Cosette war häßlich. Wäre sie glücklich gewesen, so würde sie vielleicht hübsch gewesen sein. Wir haben bereits eine Skizze dieser traurigen Gestalt entworfen. Sie war fast acht Jahre alt, sah aber kaum wie sechs Jahr alt aus, so mager und bleich war sie. Ihre großen Augen, welche wie im Schatten eingegraben in ihrem Kopfe lagen, waren in Folge von vielem Weinen fast erloschen. Ihre Mundwinkel hatten jenen Zug stehender Angst, welchen man bei Verurtheilten und hoffnungslosen Kranken findet. Die Hände hatte sie, wie ihre Mutter errathen, »voller Frostbeulen.« Das Feuer, welches sie in diesem Augenblick beschien, ließ die Ecken ihrer Knochen noch mehr heraustreten und gab ihrer Hagerkeit ein scheußliches Aussehen. Da sie immer fror, so drückte sie gewöhnlich die beiden Knie an einander. Ihre ganze Kleidung war ein Lumpen, der im Sommer Bedauern erregt haben würde, im Winter aber geradezu Schrecken einflößte. Sie trug nur zerrissenes Leinenzeug, nicht einen einzigen wollenen Lumpen. Hier und da sah man ihre Haut und bemerkte überall blaue oder schwarze Flecke, welche die Stellen bezeichneten, wo die Thenardier sie berührt hatte. Ihre nackten Beine waren roth und dünn. Der Anblick der Einsendung an den Schlüsselbeinen hätte zu Thränen rühren können. Die ganze Person dieses Kindes, ihre Haltung, ihr Gang, der Ton ihrer Stimme, die Pausen zwischen dem einen Worte und dem andern, ihr Blick, ihr Schweigen, ihre geringste Geberde drückten aus und übersetzten eine einzige Vorstellung: Furcht.

Das Gefühl der Furcht war über ihre ganze Person ausgebreitet, sie war davon, so zu sagen, bedeckt. Die Furcht zog ihre Ellenbogen gegen die Hüften, zog ihre Fersen unter das Röckchen zurück, hieß ihr so wenig als möglich Platz einnehmen, ließ ihr nur den allernöthigsten Athem und war, wie man sagen könnte, die Gewohnheit ihres Körpers geworden. Nur eine Aenderung kannte diese Gewohnheit: sich noch immer mehr fürchten. In der Tiefe ihrer Pupille lag ein Winkelchen und in diesem lauerte der Schrecken.

Ihre Furcht war so groß, daß sie, obgleich ganz naß zurückgekommen, nicht wagte, an dem Feuer sich zu trocknen, sondern schweigend ihre Arbeit aufnahm.

Der Blick dieses achtjährigen Kindes sah gewöhnlich so düster und bisweilen so tragisch aus, daß es auf Augenblicke schien, als würde sie blödsinnig oder ein Teufel werden.

Nie hatte sie, wie wir schon bemerkten, erfahren, was Beten heißt, niemals hatte sie mit einem Fuß eine Kirche betreten.

»Habe ich denn Zeit?« sagte die Thenardier.

Der Mann im gelben Rocke ließ Cosette nicht aus den Augen.

Mit einem Male rief die Thenardier:

»Nun? Und das Brod?«

Cosette eilte, wie sie immer that, wenn die Thenardier ihre Stimme erhob, schleunigst unter dem Tische hervor. Das Brod hatte sie gänzlich vergessen. Sie griff zu dem gewöhnlichen Auskunftsmittel derjenigen Kinder, welche stets in Angst gehauen werden: sie log.

»Madame, der Bäcker hatte schon geschlossen.«

»Du hättest anpochen sollen.«

»Ich habe gepocht, Madame.«

»Nun?«

»Er hat nicht geöffnet.«

Ich werde mich morgen erkundigen, ob es wahr ist,« sagte hie Thenardier »und wenn Du lügst, setzt es einen Tanz, Mittlerweile gieb das Funfzehn-Sous-Stück wieder her!«

Cosette steckte die Hand in ihre Schürzentasche und wurde grün. Das Geldstück war nicht mehr darin.

»Nun, hast Du gehört?«

Cosette wendete die Tasche um. Es war nichts darin. Was konnte aus dem Gelde geworden sein? Die unglückliche Kleine fand kein Wort. Sie stand wie versteinert da.

»Hast Du das Geld verloren?« keuchte die Frau. »Oder willst Du mir es stehlen?«

Gleichzeitig griff sie nach der Strickpeitsche, welche beim Kamine hing.

Diese furchtbare Handbewegung gab Cosetten die Kraft auszurufen:

»Gnade, Madame! Madame, ich will’s nicht wieder thun.«

Die Thenardier nahm die Peitsche herunter.

Unterdeß hatte der Mann im gelben Rocke in seiner Westentasche gesucht, ohne daß man die Bewegung bemerkte. Freilich tranken die andern Reisenden oder spielten Karten und achteten auf nichts:

Cosette kauerte sich angstvoll in der Kaminecke zusammen und suchte ihre armen halbnackten Glieder zusammenzuziehen, und den Schlägen zu entziehen. Die Thenardier erhob den Arm.

»Verzeihen Sie, Madame,« sagte der Mann, »ich habe so eben etwas aus der Schürzentasche der Kleinen fallen sehen, das hierher rollte. Vielleicht ist es das Geld.«

Zugleich bückte er sich und schien einen Augenblick am Boden zu suchen.

»Richtig, da liegt es,« setzte er hinzu, indem er sich wieder aufrichtete.

Er reichte der Thenardier ein Geldstück hin.

»Ja, das ist es,« sagte sie.

Es war es nicht, denn es war ein Zwanzigsousstück, die Thenardier aber fand Gewinn dabei. Sie steckte das Geld in ihre Tasche und begnügte sich einen wilden Blick auf das Kind zu werfen, wobei sie sagte:

»Daß das nicht wieder geschieht.«

Cosette kroch in ihre »Nische« zurück, wie die Thenardier es nannte. Ihre großen Augen, die sich unverwandt auf den unbekannten Reisenden richteten, nahmen einen Ausdruck an, den sie noch nicht gehabt hatten. Es war ein naives Erstaunen, in welches sich verdutztes Zutrauen mischte.

»Wollen Sie zu Abend speisen?« fragte die Thenardier den Fremden.

Er antwortete nicht. Er schien in tiefe Gedanken versunken zu sein.

»Was ist’s mit diesem Manne?« murmelte sie vor sich hin. »Ein schrecklicher Armer! Er hat nicht einmal einen Sous zum Abendbrod. Wird er mir nur mein Logis bezahlen? Ein Glück, daß es ihm nicht einfiel, das Geldstück vom Boden zu stehlen.«

Mittlerweile hatte sich eine Thür geöffnet und Eponine und Azelma waren eingetreten.

Es waren wirklich zwei hübsche kleine Mädchen, mehr städtisch als dörflich, reizend, die eine mit glänzenden braunen Flechten, die andere mit langen schwarzen Zöpfen, welche längs des Rückens herabfielen, beide lebhaft, proper, fleischig, frisch und gesund, daß es Einen freute, wenn man sie ansah. Sie waren warm gekleidet und mit solcher mütterlicher Kunst, daß die Dicke des Stoffes die Coquetterie des Anzuges nicht beeinträchtigte. Es war für den Winter gesorgt, ohne daß das Frühjahr unterdrückt war. Licht und Helle lag in ihnen. Sie waren die Herrscher im Hause. In ihrem Anzüge in ihrer Heiterkeit, in dem Lärm, den sie machten, lag Souveränität. Als sie eintraten, sagte die Thenardier in einem Tone, welcher grollend war, aber doch zugleich die Vergötterung der Mutter ausdrückte:

»Ha, da seid Ihr also!«

Dann zog sie eine nach der anderen zwischen ihre Knie, glättete ihnen das Haar, zupfte die Bänder zurecht und ließ sie darauf mit jener süßen Art zu schütteln wieder los, welche den Müttern eigenthümlich ist.

»Seid Ihr liederlich!« rief sie.

Sie setzten sich in die Ecke beim Heerd. Sie hatten eine Puppe, welche sie auf ihren Knieen hin- und herwendeten und dabei allerlei lustiges Zeug plauderten. Von Zeit zu Zeit blickte Cosette von ihrem Strickstrumpf auf und sah betrübt ihrem Spiele zu.

Eponine und Azelma sahen nach Cosetten gar nicht hin. Sie war für sie so viel als ein Hund. Diese drei kleinen Mädchen zahlten zusammen nicht vierundzwanzig Jahre und repräsentirten schon die ganze menschliche Gesellschaft: auf der einen Seite Neid, auf der andern Verachtung.

Die Puppe der Schwestern war sehr verschossen, sehr alt und zerdrückt, kam aber nichtsdestoweniger Cosetten bewunderungswürdig vor, welche in ihrem ganzen Leben noch keine Puppe gehabt hatte, eine »wirkliche Puppe«, um uns eines Ausdrucks zu bedienen, den alle Kinder verstehen werden.

Mit einem Male bemerkte die Thenardier, welche im Zimmer hin und herging, daß Cosette, statt zu arbeiten, zerstreut war und sich mit den Kleinen, welche spielten, beschäftigte.

»Ha! Ertappe ich Dich!« rief sie. »So arbeitest Du also! Ich werde Dich bald mit der Peitsche arbeiten lehren!«

Der Fremde wendete sich, ohne von dem Stuhle aufzustehen, an die Thenardier:

»Madame,« sagte er mit einem beinahe furchtsamen Lächeln; »lassen Sie sie spielen.«

Von Seiten jedes andern Reisenden, der ein Stück Schöpsenkeule gegessen und zum Abendbrod zwei Flaschen Wein getrunken, auch nicht ein so abscheulich armseliges Aussehen gehabt, wäre ein ähnlicher Wunsch Befehl gewesen. Aber daß ein Mann mit einem solchen Hute sich erlaubte, einen Wunsch zu haben, daß ein Mann in einem solchen Rocke einen Willen zu haben sich unterstand, das glaubte die Thenardier nicht dulden zu dürfen. Aergerlich antwortete sie:

»Sie muß arbeiten, weil sie ißt. Zum Faullenzen füttere ich sie nicht.«

»Was hat sie denn zu thun?« fragte der Fremde weiter mit jener sanften Stimme, welche in so seltsamem Gegensatz zu seinen Bettlermanieren und seinen breiten Lastträgerschultern stand.

»Strümpfe zu stricken, wenn Sie erlauben,« geruhte die Thenardier zu antworten, »Strümpfe für meine Mädchen, welche keine mehr haben und bald barfuß werden gehen müssen.«

Der Mann betrachtete die rothen Beine Cosettens und fuhr fort:

»Wann wird sie mit diesem Paar Strümpfe fertig werden?«

»Die Faullenzerin hat wenigstens noch drei bis vier ganze Tage daran zu arbeiten.«

»Und wie viel ist das Paar Strümpfe werth, wenn es fertig ist?«

Die Thenardier warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Wenigstens dreißig Sous.«

»Gäben Sie es für fünf Francs?« fragte der Mann weiter.

»Donnerwetter!« rief mit lautem Lachen ein Fuhrmann, der zuhörte. »Fünf Francs! Ich glaube gar! Donnerwetter! Fünf Francs!«

Jetzt glaubte Thenardier das Wort ergreifen zu müssen.

»Ja wohl, mein Herr, wenn Sie dieses Paar Strümpfe haben wollen, so sollen Sie dieselben für fünf Francs erhalten. Wir dürfen den Reisenden nichts abschlagen.«

»Es muß aber gleich bezahlt werden,« setzte die Frau in ihrer kurzen, peremptorischen Art hinzu.

»So kaufe ich dieses Paar Strümpfe,« antwortete der Mann, »und bezahle sie;« setzte er hinzu«, indem er ein Fünffrancstück aus der Tasche nahm und es auf den Tisch legte. Dann wendete er sich zu Cosette:

»Nun ist Deine Arbeit mein. Spiele, mein Kind.«

Der Fuhrmann war von dem Fünffrancstück so aufgeregt, daß er sein Glas stehen ließ und hinzutrat.

»Es ist wirklich ächt!« rief er, indem er es prüfend betrachtete; »es ist nicht falsch!«

Thenardier trat hin und steckte stillschweigend das Geld in seine Tasche.

Sie, die Thenardier, wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie biß sich auf die Lippen und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck des Hasses an.

Cosette zitterte zwar, wagte aber doch zu fragen:

»Ist es wahr, Madame? Darf ich spielen?«

»Spiele!« sagte die Thenardier in schrecklichem Tone.

»Ich danke, Madame,« sagte Cosette. Und, während ihr Mund der Frau dankte, dankte ihre ganze kleine Seele dem Fremden.

Thenardier hatte sich wieder zum Trinken hingesetzt. Seine Frau flüsterte ihm ins Ohr:

»Was kann der gelbe Mann wohl sein?«

»Ich habe,« antwortete Thenardier in überlegenem Tone, »ich habe Millionäre in solchen Röcken gesehen.«

Cosette hatte ihren Strickstrumpf hingelegt, sich aber von ihrem Platz nicht weggerührt. Sie rührte sich immer so wenig wie möglich. Aus einem Kasten hinter ihr hatte sie einige alte Lumpen und ihren kleinen bleiernen Säbel herausgenommen.

Eponine und Azelma achteten auf nichts von dem, was vorging. Sie hatten so eben etwas sehr Wichtiges unternommen, sie hatten sich der Katze bemächtigt. Die Puppe hatten sie auf die Erde geworfen. Eponine, die Aeltere, wickelte das Kätzchen, trotz seines Miauens und Sträubens, in eine Menge rother und blauer Fleckchen ein. Während dieser ernsten und schwierigen Arbeit sagte sie zu ihrer Schwester in der so süßen, anbetungswürdigen Sprache der Kinder, deren Anmuth ähnlich dem Glanz des Flügels der Schmetterlings verschwindet, sobald man ihn festhalten will:

»Siehst Du, Schwester, diese Puppe ist unterhaltender als die andere. Sie bewegt sich, sie schreit, sie ist warm. Mit der wollen wir spielen. Sie kann mein kleines Töchterchen sein. Ich bin eine Dame und komme mit ihm zu Dir zum Besuch. Du besiehst das Kind. Da siehst Du, daß es einen Schnurrbart hat und wunderst Dich. Dann siehst Du die Ohren und den Schwanz und wunderst Dich wieder. Da sagst Du zu mir: »Ach, mein Gott!« und ich sage: »Ja, Madame, meine Kleine ist so. Die kleinen Kinder sehen jetzt so aus.«

Azelma hörte Eponine mit Verwunderung an.

Unterdeß hatten die trinkenden Gäste ein obscönes Lied angestimmt, worüber sie lachten, daß die Decke zitterte. Thenardier ermuthigte und begleitete sie.

Wie die Vögel ihr Nest aus Allem bauen, machen die Kinder aus den unbedeutendsten Dingen eine Puppe. Während Eponine und Azelma das Kätzchen einwickelten, wickelte Cosette ihrerseits ihren Säbel ein. Dann legte sie denselben auf ihren Arm schlafen und sang, um ihn einzuschläfern.

Die Puppe ist eines der dringendsten Bedürfnisse und zugleich die Aeußerung des reizendsten Triebes der weiblichen Kindheit. Das Pflegen, Anziehen, Anputzen, Ankleiden, Auskleiden, Wiederankleiden, Belehren, Ausschelten, Wiegen, Einschläfern, Verzärteln, das ist die Zukunft des Weibes. In diesem Traum und Geplauder, unter dem Nähen der kleinen Ausstattungen, Schürzen, Kleider, Mieder und dergleichen wird das Kind ein kleines Mädchen, aus dem kleinen wird ein großes Mädchen und aus dem großen Mädchen eine Frau. Ihr erstes Kind ist die Fortsetzung ihrer letzten Puppe.

Ein kleines Mädchen ohne Puppe ist fast so unglücklich und grade ebenso unmöglich, wie eine Frau ohne Kinder.

Cosette hatte sich also aus dem Säbel eine Puppe gemacht.

Die Frau Thenardier war zu dem »Gelben« getreten. Sie dachte bei sich: »Mein Mann hat Recht; Vielleicht ist’s Herr Lafitte. Es giebt ja so närrische reiche Leute.«

Sie stemmte sich an seinem Tische auf.

»Mein Herr,« sagte sie.

Bei dem Worte »mein Herr« wendete sich der Mann um. Bis dahin hatte ihn die Thenardier nur »guter Mann« genannt.

»Sehen Sie, mein Herr;« fuhr sie fort, indem sie ihre süßliche Miene annahm, welche einen noch widerwärtigeren Eindruck machte, als ihr rauhes Wesen, »ich lasse das Kind gern spielen, ich habe nichts dagegen, aber das geht jetzt einmal, weil Sie so freigebig sind. Sehen Sie, sie hat nichts. Sie muß arbeiten.«

»Es ist also nicht Ihr Kind?« fragte der Mann.

»Ach, mein Gott, nein, mein Herr! Wir haben die arme Kleine nur aus Barmherzigkeit aufgenommen. Sie ist beinahe blödsinnig, sie wird wohl Wasser im Kopf haben. Sie hat auch einen dicken Kopf, wie Sie sehen. Wir thun für sie was wir können, denn wir sind nicht reich. Es nützt uns nichts, wenn wir auch in ihre Heimat schreiben, seit einem halben Jahre bekommen wir keine Antwort mehr. Wahrscheinlich ist ihre Mutter gestorben.«

»Ach!« antwortete der Mann und versank wieder in seine Träumerei.

»Viel ist an der Mutter auch nicht gewesen,« setzte die Frau hinzu. »Sie ließ ihr Kind im Stich.«

Während dieser Unterhaltung hatte Cosette, als wenn der Instinkt ihr sage, daß man von ihr spreche, die Augen von der Thenardier nicht abgewendet. Sie horchte und verstand hier und da ein paar Worte.

Indeß wiederholten die Trinkenden, die alle drei Viertel betrunken waren, mit doppelter Lust den schmutzigen Refrain. Die Thenardier lachte mit. Cosette, welche unter dem Tische saß, sah in das Feuer, das sich in ihren stieren Augen spiegelte. Sie hatte wieder angefangen, ihr Wickelkind zu wiegen, und dabei sang sie leise: »Meine Mutter ist todt! Meine Mutter ist todt! Meine Mutter ist todt!«

Auf das wiederholte Andrängen der Wirthin willigte der gelbe Mann, »der Millionär«, endlich ein, zum Abend zu essen.

»Was wünscht der Herr?«

»Brod und Käse,« sagte der Mann.

»Er ist doch ein Bettler,« dachte die Thenardier.

Die Betrunkenen sangen immer noch ihr Lied und das Kind unter dem Tische sang das seinige. Mit einem Male aber unterbrach sich Cosette. Sie hatte sich umgedreht und die Puppe bemerkt, welche die kleinen Thenardiers wegen der Katze hatten fallen lassen und welche einige Schritte vom Küchentisch auf der Erde lag. Da ließ sie ihren eingewickelten Säbel fallen, der sie nur halb befriedigte, und sah sich langsam rings in der Stube um. Die Thenardier sprach leise mit ihrem Manne und zählte Geld; Ponine und Azelma spielten mit der Katze; die Reisenden aßen oder tranken oder sangen, Niemand achtete auf sie. Sie hatte keinen Augenblick zu verlieren. Sie kroch unter dem Tische hervor, kroch auf Knieen und Händen, überzeugte sich noch einmal, daß sie unbeachtet sei, schob dann schnell zur Puppe und ergriff sie. Im nächsten Augenblicke saß sie wieder auf ihrem Platze. Unbeweglich saß sie da und zwar mit ihrem Rücken so gewendet, daß die Puppe, welche sie auf dem Arme hatte, ganz im Schatten verborgen war. Das Glück mit einer Puppe zu spielen war für sie etwas so seltenes, daß sie dabei eine wahre Wollust empfand.

Niemand hatte sie gesehen, als der Fremde, der langsam seine magere Suppe verzehrte.

Die Freude dauerte etwa eine Viertelstunde.

Welche Vorsicht Cosette aber auch gebrauchte, so bemerkte sie doch nicht, daß das eine Bein der Puppe hervorguckte und das Feuer des Kamins es beschien. Dieses helle rothe Bein, welches aus dem Schatten hervorragte, traf plötzlich der Blick Azelma’s, welche zu Eponine sagte:

»Siehe nur Schwester!«

Die beiden kleinen Mädchen hielten erstaunt in ihrem Spiel inne, Cosette hatte sich erdreistet, sich ihre Puppe zu nehmen!

Eponine stand auf, ging, ohne die Katze loszulassen, zu ihrer Mutter und zupfte sie am Kleide.

»So laß mich doch!« sagte die Mutter. »Was willst Du denn von mir?«

Mutter,« sagte das Kind, »sieh nur!«

Dabei zeigte sie mit dem Finger auf Cosette.

Diese aber, ganz entzückt über ihren Besitz, sah und hörte nichts mehr.

Das Gesicht der Thenardier nahm jenen eigenthümlichen Ausdruck au, welcher aus dem Schrecklichen besteht in Verbindung mit den Nichtigkeiten des Lebens und welcher Veranlassung giebt, solche Weiber Megären zu nennen.

Diesmal steigerte der verletzte Stolz noch ihren Zorn. Cosette hatte alle Schranken überstiegen, sie hatte gegen die Puppe »der Demoiselles« ein Attentat gewagt. Eine russische Kaiserin, welche sähe, das ein Muschick das große blaue Ordensband ihres kaiserlichen Sohnes sich umlegte, würde nicht anders aussehen.

Mit einem vor Wuth heiseren Tone rief sie:

»Cosette!«

Cosette zitterte als wenn die Erde unter ihr gebebt hätte. Dann sah sie sich um.

»Cosette!« wiederholte die Thenardier.

Cosette nahm die Puppe und legte sie mit einer Art mit Verzweiflung gemischter Verehrung leise auf den Boden. Dann faltete sie, ohne die Augen von der Puppe abzuwenden, die Hände und, was bei einem Kinde von diesem Alter schrecklich zu sagen ist, überbrach sie sich. Darauf weinte sie. Kein Vorgang an diesem Tage, nicht der Weg im Walde, nicht die Schwere des Eimers, nicht das Verlieren des Geldes, nicht der Anblick der Peitsche hatte sie zum weinen bringen können. Jetzt weinte, jetzt schluchzte sie.

Der Fremde war aufgestanden.

»Was giebts?« fragte er die Thenardier.

Sehen Sie es denn nicht?« antwortete diese, indem sie mit dem Finger das corpus delicti, die Puppe zeigte, welche zu den Füßen Cosettens lag.

»Nun, was ist denn?«

»Diese Bettlerin,« antwortete die Thenardier, »hat sich erdreistet, die Puppe der Kinder anzugreifen.«

»Deßhalb all dieser Lärm!« sagte der Mann. »Was ist denn dabei, wenn sie mit der Puppe spielt?«

»Sie hat sie mit ihren schmutzigen Händen angefaßt;« fuhr die Thenardier fort, »mit ihren abscheulichen Händen.«

Cosette schluchzte noch stärker.

»Willst Du still sein!« schrie die Thenardier.

Der Mann ging grade auf die nach der Straße führenden Thür zu, machte sie auf und ging hinaus.

Sobald er fort war, benutzte die Thenardier seine Abwesenheit und versetzte der unter dem Tisch sitzenden Cosette einen Fußtritt, daß sie laut aufschrie.

Die Thür öffnete sich wieder, der Mann kam zurück, trug in beiden Händen die fabelhafte Puppe, von der wir gesprochen haben und die vom frühen Morgen an von allen Kindern des Dorfes betrachtet worden war, stellte sie vor Cosette und sagte:

»Da, sie ist Dein.«

Er mußte die erleuchtete Spielwaarenbude seit der Stunde, während welcher er sich auf seinem Platz in der Kneipe befand, von hier aus mitten in seinen Träumereien durch das Fenster bemerkt haben.

Cosette schlug die Augen auf. Sie sah den Mann mit der Puppe auf sich zukommen als käme die Sonne zu ihr; sie hörte die unglaublichen Worte »sie ist Dein!« Sie sah den Mann, dann die Puppe an und wich langsam zurück, sie verkroch sich ganz unter dem Tische in der Mauerecke. Sie weinte nicht mehr, sie sprach nicht, sie sah aus als wage sie nicht zu athmen.

Die Thenardier, Eponine und Azelma waren ebenfalls erstaunt.

Selbst die Trinkenden machten eine Pause.

In dem ganzen Hause trat eine feierliche Stille ein.

Die Thenardier, stumm und versteinert, begann ihre Muthmaßungen wieder: »Was ist der Alte? Ein Armer? Ein Millionär? Vielleicht beides, das heißt ein Spitzbube.«

Auf dem Gesichte des Mannes der Thenardier erschien jene ausdrucksvolle Falte, welche das menschliche Gesicht jedesmal bezeichnet, wenn der vorherrschende Instinkt mit seiner ganzen bestialischen Gewalt herantritt. Der Wirth betrachtete wechselsweise die Puppe und den Fremden; Er schien nach dem Manne zu wittern, wie nach einem Geldsacke. Dies dauerte aber nur so lange, wie etwa ein Blitz. Er trat zu seiner Frau und sagte leise zu ihr:

»Das Ding kostet wenigstens dreißig Franks. Keine Dummheiten! Hübsch artig gegen den Mann.«

Die rohen Naturen haben mit den naiven das gemeinsam, daß sie keine Uebergänge kennen.

»Nun Cosette,« sagte die Thenardier mit einer Stimme, welche sanft sein sollte, aber ganz aus dem bitteren Honig der bösen Weiber zusammengesetzt war.

»Willst Du denn Deine schöne Puppe nicht nehmen?«

Cosette wagte aus ihrem Loch herauszukommen.

»Cosettchen,« sagte Thenardier mit schmeichelnder Geberde, »der Herr schenkt Dir eine Puppe. Nimm sie, sie ist Dein.«

Cosette betrachtete die Puppe mit einer gewissen Scheu. Ihr Gesicht war noch von Thränen überströmt, ihre Augen aber begannen sich zu füllen mit seltsamen Strahlen der Freude, wie der Himmel in der Dämmerung des Morgens. Was sie in diesem Augenblicke empfand, glich ein wenig dem, was sie empfunden haben würde, wenn man ihr plötzlich gesagt hätte: »Kleine, Du bist Königin von Frankreich.«

Sie glaubte, daß, wenn sie die Puppe berühre, der Donner sich aus derselben entladen würde. Und das war in gewisser Hinsicht richtig, denn sie sagte sich, die Thenardier würde sie schelten und schlagen.

Die Anziehung, welche die Puppe auf sie ausübte, trug jedoch den Sieg davon. Sie trat endlich hinzu und fragte schüchtern die Thenardier:

»Darf ich also Madame?« ‚

Kein Wort könnte ihre zugleich verzweiflungsvolle, erstaunte und entzückte Miene wiedergeben.

»Zum Teufel!« sagte die Thenardier; »sie gehört ja Dir. Der Herr schenkt sie Dir ja.«

»Ist’s wahr, mein Herr?« fragte Cosette. »Ist’s wahr? Die Dame gehört mir?«

Der Fremde schien die Augen voll Thränen zu haben. Er schien bei dem Grade der Rührung angelangt zu sein, wo man nicht spricht, um nicht zu weinen. Er machte mit dem Kopfe Cosetten ein Zeichen und legte die Hand der »Dame« in ihre kleine Hand.

Cosette zog ihre Hand rasch zurück, als brenne die der »Dame« und sah auf den Boden. Wir müssen auch hinzusetzen, daß sie in diesem Augenblicke die Zunge sehr weit heraussteckte. Plötzlich wendete sie sich um, faßte schnell die Puppe, und sagte:

»Ich will sie Katharina nennen.«

Es war ein wunderlicher Moment, als die Lumpen Cosetten’s die Bänder und das frische rosa Muslinkleid der Puppe berührten.

»Madame«, fragte sie; »darf ich sie auf einen Stuhl setzen?«

»Ja, mein Kind,« antwortete die Thenardier.

Jetzt betrachteten Eponine und Azelma Cosetten mit den Augen des Neides.

Diese setzte ihre Katharina auf einen Stuhl, sich selbst vor dieselbe auf die Erde und blieb so unbeweglich, ohne ein Wort zu sagen, in Betrachtung sitzen.

»Spiele doch Cosette!« sagte der Fremde.

»O, ich spiele ja,« antwortete dies Kind.

»Diesen Fremden, diesen Unbekannten, der aussah wie ein Besuch, welchen die Vorsehung Cosetten machte, haßte in diesem Augenblicke die Thenardier mehr als irgend Etwas in der Welt. Sie mußte sich jedoch bezwingen. Aber sie fühlte mehr in sich als sie ertragen konnte, so sehr sie auch durch das Beispiel ihres Mannes, den sie in Allem nachzuahmen suchte, an Verstellung gewöhnt war. Sie beeilte sich ihre Töchter zu Bett zu schicken, dann bat sie den Fremden um die »Erlaubniß;« auch Cosetten zu Bett gehen zu lassen, die »heute so sehr müde sei,« wie sie mit mütterlicher Miene hinzusetzte. Cosette ging zu Bett und nahm ihre Katharina in ihren Armen mit sich.

Die Thenardier ging von Zeit zu Zeit an das andere Ende der Stube, wo ihr Mann saß, »um sich das Herz leicht zu machen.«

Sie wechselte mit ihm einige Worte, die um so wüthender waren, da sie dieselben nicht laut auszusprechen wagte.

»Das alte Vieh! Was hat er nur im Leibe? Kommt her und bringt Alles in Unordnung! Will, daß das kleine Ungethüm spiele! Ihr eine Puppe zu geben. Ihr, der Hündin, welche ich für vierzig Sous weggeben möchte, eine Puppe für 40 Francs! Wenn’s noch lange dauert, nennt er sie Majestät wie die Herzogin von Berry! Ist da Sinn und Verstand darin? Er muß verrückt sein, der alte geheimnißvolle Kerl!«

»Warum? Es ist ganz einfach,« antwortete Thenardier. »Wenn es ihm Spaß macht! Dir machts Spaß, daß die Kleine arbeitet, ihm, wenn sie spielt. Er ist in seinem Recht. Ein Reisender thut, was er will, wenn er’s nur bezahlt. Was geht’s Dich an, wenn der Alte ein Philanthrop ist? Und wenn er ein Schafskopf ist, es geht Dich auch nichts an. Was kümmerst Du Dich darum, da er doch Geld hat?«

Worte des Herrn und Logik des Wirths, welche eine Gegenrede nicht zuließen.

Der Mann hatte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch gestützt und hatte wieder seine frühere, träumerische Haltung eingenommen. Alle anderen Reisenden, Kauf- und Fuhrleute, hatten sich zum Theil schon entfernt und sangen nicht mehr. Sie betrachteten ihn von weitem mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Scheu. Dieser sonderbare, so ärmlich gekleidete Mann, der so gleichgültig Geldstücke aus der Tasche nahm und an kleine Aschenbrödel riesige Puppen verschwendete, war gewiß ein mächtiger, gefürchteter Mann.

Mehrere Stunden vergingen. Die Mitternachtsmesse war vorüber, das Essen war vorbei, die Trinkenden hatten sich entfernt, das Haus war geschlossen, die niedrige Gaststube leer, das Feuer ausgegangen und der Fremde saß immer noch an derselben Stelle und in derselben Haltung. Von Zeit zu Zeit wechselte er mit den Ellenbogen, auf die er sich stützte. Das war Alles. Seit Cosette sich entfernt, hatte er kein Wort mehr gesprochen.

Nur die Thenardiers waren aus Höflichkeit und aus Neugierde in der Stube geblieben.

»Will er denn die Nacht so zubringen?« brummte die Thenardier. Als es zwei Uhr früh schlug, erklärte sie sich für überwunden und sagte zu ihrem Manne: »Ich gehe zu Bett. Mach Du mit ihm, was Du willst.« Der Ehemann setzte sich an einen Tisch in einer Ecke, zündete ein Licht an und las im »Französischen Courier.«

So verging eine gute Stunde. Der würdige Wirth hatte wenigstens dreimal Alles vom Datum bis zum Namen des Buchdruckers gelesen. Der Fremde rührte sich nicht.

Thenardier bewegte sich, hustete, kratzte sich, spuckte aus, schnaubte und knarrte mit dem Stuhle. Der Mann machte keine Bewegung. Vergebens. – »Schläft er denn?« dachte Thenardier. Der Mann schlief nicht, aber nichts konnte ihn erwecken.

Endlich nahm Thenardier seine Mütze ab, näherte sich leise und wagte zu sagen:

»Will der Herr sich nicht zur Ruhe begeben?«

»Will der Herr nicht schlafen gehen, wäre zu familiär gewesen. »Zur Ruhe begeben klang besser und achtungsvoll. Solche Worte haben die geheimnißvolle und bewunderungswürdige Eigenthümlichkeit die Summe der Rechnung am anderen Morgen anzuschwellen. Ein Zimmer, in dem man schläft, kostet zwanzig Sous; ein Zimmer, in welchem man ruht, kostet zwanzig Francs.

»Ja, Sie haben Recht«, sagte der Fremde. »Wo ist Ihr Stall?«

»Ich werde den Herrn führen,« entgegnete Thenardier lächelnd.

Er nahm das Licht, der Mann nahm sein Packet und seinen Stock. Thenardier führte ihn in ein Zimmer des ersten Stocks, welches in einem seltenen Glanz stand und ganz mit Mahagoni und einem Bett mit rothkattunenen Vorhängen möblirt war.

»Was soll das heißen?« fragte der Reisende.

»Es ist unser eigenes Hochzeitszimmer,« sagte der Wirth; »wir bewohnen aber ein anderes, meine Frau und ich. Nur drei bis vier Mal im Jahre wird das Zimmer betreten.«

»Ich würde eben so gern im Stall übernachtet haben,« sagte der Mann.

Thenardier that so, als höre er diese so wenig verbindliche Bemerkung nicht. Er zündete zwei ganz frische Wachslichter an, die auf dem Kamine standen. Ein ziemlich gutes Feuer brannte in dem Kamine.

Auf demselben, unter einer Glasglocke, lag ein weiblicher Kopfputz von Silbergeflecht und Orangeblumen.

»Was ist das hier?« fragte der Fremde.

»Der Brautstaat meiner Frau,« sagte Thenardier.

Der Reisende betrachtete den Gegenstand mit einem Blicke, der zu sagen schien: »Dieses Ungethüm ist also auch einmal eine Jungfrau gewesen.«

Uebrigens log Thenardier. Als er die Bude gepachtet hatte, um ein Wirthshaus daraus zu machen, hatte er dieses Zimmer bereits so ausgestattet gefunden und hatte er die Möbels und den Schmuck mit den Orangenblumen in der Erwartung gekauft, es werde dies auf seine Gemahlin einen graziösen Schatten werfen und seinem Hause das geben, was die Engländer respectable nennen.

Als der Reisende sich umdrehte, war der Wirth verschwunden; Thenardier war heimlich »verduftet,« ohne zu wagen eine gute Nacht zu wünschen, da er einen Mann, welchen er am anderen Tage königlich zu rupfen gedachte, nicht mit respectswidriger Vertraulichkeit behandeln wollte.

Der Wirth zog sich in sein Zimmer zurück. Seine Frau hatte sich bereits zu Bett gelegt, sie schlief aber noch nicht. Als sie den Schritt ihres Mannes hörte, drehte sie sich um und sagte:

»Daß Du es weißt, morgen werfe ich Cosetten aus dem Hause!«

Thenardier antwortete kalt:

»Wie Du auch bist.«

Sie sprachen nichts weiter mehr mit einander und einige Augenblicke später wurde das Licht ausgelöscht.

Der Reisende seiner Seits hatte seinen Rock und sein Packet in eine Ecke gelegt. Als der Wirth fort gegangen, setzte er sich auf einen Stuhl und blieb einige Zeit nachdenklich sitzen. Darauf zog er die Schuhe aus, nahm eines der beiden Wachslichter, löschte das andere aus, öffnete die Thür, verließ sein Zimmer und sah sich um wie Jemand, der etwas sucht. Er ging über den Corridor und gelangte an die Treppe. Hier hörte er ein leises Geräusch, das dem Athmen eines Kindes ähnlich war. Er folgte diesem und kam an eine Art dreiseitige Vertiefung welche unter der Treppe angebracht oder vielmehr von dieser selbst gebildet war. Es war ein Raum unter den Stufen. Hier unter allerlei alten Körben und altem Gerümpel, in Staub und Spinneweben, befand sich ein Bett, wenn man einen durchlöcherten Strohsack, an den man das offene Stroh sah, und eine zerrissene wollene Decke, aus welcher ebenfalls das Stroh heraussah, ein Bett nennen kann. Laken gab’s nicht. Es lag am Boden. In diesem Bett schlief Cosette.

Der Mann trat näher und betrachtete sie.

Cosette lag, völlig angekleidet, in tiefem Schlafe. Im Winter zog sie sich nicht aus, um weniger zu frieren.

Fest an sich gedrückt hielt sie die Puppe, deren große offene Augen im Dunkel glänzten. Von Zeit zu Zeit seufzte sie tief als wolle sie erwachen und drückte die Puppe fast krampfhaft in ihre Arme. Neben ihrem Bette lag nur einer ihrer Holzschuhe.

Durch eine offene Thür neben der Kammer Cosetten’s konnte man in ein großes, dunkles Zimmer sehen. Der Fremde trat hinein. Im Hintergrunde, vor einer Glasthür, gewahrte man zwei gleiche, kleine, sehr weiße Betten. Das waren die Betten Eponine’s und Azelma’s. Hinter denselben war halb und halb eine Korbwiege ohne Vorhänge zu sehen, in welcher der kleine Junge schlief, der den ganzen Abend über geschrien hatte.

Der Fremde vermuthete, daß dies Zimmer mit dem der Eheleute Thenardier in Verbindung stehe. Er wollte sich zurückziehen, als sein Blick auf den Kamin fiel, einen jener großen Wirthshauskamine, in welchen so wenig Feuer brennt, (wenn überhaupt welches darin ist,) daß man sie nur anzusehen braucht, um zu frieren. In diesem brannte kein Feuer, nicht einmal Asche war darin; was aber die Aufmerksamkeit des Reisenden besonders erregte, waren zwei niedliche Kinderschuhe von verschiedener Größe. Der Reisende erinnerte sich der uralten, reizenden Gewohnheit der Kinder, in der Weihnachtsnacht ihr Schuhwerk in den Kamin zu stellen, damit ihnen ihre gute Fee in der Dunkelheit irgend ein glänzendes Geschenk hineinlege. Eponine und Azelma konnten nicht fehlen und hatten deshalb auch einen ihrer Schuhe in den Kamin gestellt.

Der Reisende bückte sich.

Die Fee, das heißt die Mutter, war schon dagewesen und man sah in jedem Schuh ein ganz neues Zehnsousstück glänzen.

Der Mann richtete sich wieder auf und schickte sich zum Fortgehen an, als er ganz hinten, bei Seite, im dunkelsten Winkel des Kamins, einen anderen Gegenstand bemerkte. Er sah genauer hin und erkannte, daß es ein Holzschuh sei, ein schwerer, halb zerbrochener und schmutziger Holzschuh. Es war der Schuh Cosetten’s. Cosette hatte ihn mit jenem rührenden Kindesvertrauen, das immer getäuscht werden kann, ohne den Muth zu verlieren, auch in den Kamin gestellt.

Die Hoffnung in einem Kinde, das nichts weiter als Verzweiflung kennen gelernt, ist etwas Erhabenes und Reizendes.

In dem Holzschuh war nichts.

Der Fremde suchte in seiner Westentasche, bückte sich und legte in den Holzschuh Cosetten’s einen Louisd’or.

Dann ging er leise wie ein Wolf in sein Zimmer zurück.

IX. Thenardier bei der Arbeit.

Am andern Morgen, zwei Stunden wenigstens vor Tagesanbruch, saß Thenardier in der niedrigen Gaststube neben einem Licht am Tische, mit der Feder in der Hand und setzte die Rechnung für den Reisenden im gelben Rocke zusammen.

Die Frau stand halb über ihn gebeugt dabei und folgte ihm aufmerksam mit den Augen. Sie sprachen lein Wort mit einander. Es war auf der einen Seite tiefes Nachdenken, auf der andern jene andächtige Bewunderung, mit welcher man ein Wunder des menschlichen Geistes entstehen und sich entwickeln sieht. Man hörte ein Geräusch im Hause. Die Lerche kehrte die Treppe.

Nach einer guten Viertelstunde und manchem Radiren brachte Thenardier folgendes Meisterstück zu Stande:

Nota für den Herrn in Nr. 1.
Abendessen …. 3 Francs
Zimmer …. 10
Lichte …. 5
Beheizung …. 4
Service …. 1
  ________
Summa 23 Francs

»Dreiundzwanzig Francs!« rief die Frau mit einem Enthusiasmus, in welchen sich jedoch ein wenig zögernde Zurückhaltung mischte.

Thenardier war, wie alle großen Künstler, nicht mit sich zufrieden.

»Hm!« sagte er, das geschah in der Betonung Castlereaghs, als er bei dem Wiener Congreß die Rechnung für Frankreich machte.

»Du hast Recht, Herr Thenardier,« sagte leise die Frau, welche an die Puppe dachte, welche der Mann Cosetten im Beisein ihrer Tochter gegeben hatte, »er ist das schuldig, es ist richtig, aber zu viel. Er wird es nicht bezahlen wollen.«

Thenardier entgegnete mit seinem kalten Lächeln:

»Er wird bezahlen.«

Dieses Lächeln war die höchste Bedeutung der Gewißheit und Autorität. Was so gesprochen wurde, mußte geschehen. Die Frau widersprach auch nicht mehr. Sie stellte die Tische zurecht, während der Mann in der Stube hin und her ging. Nach einiger Zeit setzte er hinzu:

»Ich schulde ja fünfzehnhundert Francs!«

Dann setzte er sich in den Winkel neben dem Kamin und legte die Füße auf die warme Asche.

»Du vergißt doch nicht,« sagte die Frau, »daß ich heute Cosette aus dem Hause werfe? Dieses Ungethüm! Sie stößt mir das Herz mit ihrer Puppe ab. Lieber wollte ich Ludwig XVIII. heirathen, als sie noch einen Tag im Hause behalten.«

Thenardier zündete seine Pfeife an und antwortete, nachdem er vor- und nachher eine Rauchwolke von sich geblasen:

»Du wirst dem Manne die Rechnung geben.«

Darauf ging er hinaus.

Kaum war er aus der Stube, als der Reisende eintrat. Thenardier erschien auf der Schwelle wieder hinter ihm und blieb, nur seiner Frau sichtbar, in der halb offenen Thür stehen.

Der gelbe Mann hatte seinen Stock und sein Packet in der Hand.

»So zeitlich aufgestanden?« sagte die Thenardier. »Verläßt uns der Herr schon?«

Während sie so sprach, drehte sie mit verlegener Miene die Rechnung in den Händen hin und her und zerknitterte sie mit ihren Nägeln. Auf ihrem rauhen Gesichte erschien ein Zug, der ihr nicht gewöhnlich war, Schüchternheit und Bedenklichkeit.

Es schien ihr unbequem, eine solche Rechnung einem Manne zu geben, der so ganz wie »ein Armer« aussah.

Der Reisende schien zerstreut und abwesend zu sein. Er antwortete:

»Ja, Madame, ich gehe.«

»Sie haben also keine Geschäfte in Montfermeil, mein Herr?«

»Nein. Ich reise nur durch. Das ist Alles. Was bin ich schuldig, Madame?«

Die Thenardier reichte ihm, ohne zu antworten, die zusammengefaltete Rechnung hin.

Der Mann faltete das Papier auseinander, und blickte hinein; seine Gedanken aber waren offenbar anderswo.

»Machen Sie gute Geschäfte in Montfermeil, Madame?« fragte er.

»So so, mein Herr!« antwortete sie ganz erstaunt darüber, daß sie nichts anderes hörte. Dann fuhr sie in elegischem und kläglichem Tone fort: »Ach, mein Herr, die Zeiten sind sehr schlecht! Und dann haben wir auch so wenig Wohlhabende hier, lauter kleine Leute, sehen Sie. Wenn wir nicht manchmal so generöse und reiche Reisende hätten, wie der Herr! Wir haben so große Lasten! Sehen Sie, die Kleine kostet uns die Augen im Kopf.«

»Welche Kleine?«

»Nun, die Kleine, Sie wissen ja! Cosette! Die Lerche, wie die Leute hier sie nennen.«

»Ach so!« sagte der Mann.

Sie fuhr fort:

»Sind sie dumm, diese Bauern, mit ihren Zunamen! Sie sieht eher aus wie eine Fledermaus, als wie eine Lerche. Sehen Sie, mein Herr, wir verlangen kein Mitleid, wir können es aber bald nicht mehr aushalten. Wir verdienen nichts und haben viel zu bezahlen. Die Steuern! Der Herr weiß, daß die Regierung ein schreckliches Geld verlangt. Und dann habe ich ja auch meine Töchter. Ich habe nicht nöthig anderer Leute Kinder zu ernähren.«

Der Mann erwiederte mit einem Tone, der gleichgiltig klingen sollte, dem man aber doch das Zittern anhörte:

»Wenn Sie sie sich nun vom Halse schafften?«

»Wen? Die Cosette?«

»Ja.«

Das rothe und heftige Gesicht der Wirthsfrau überstrahlte eine häßliche Freude.

»Ach, mein Herr! Mein guter Herr! Nehmen Sie sie, behalten Sie sie, nehmen Sie sie mit fort, überzuckern Sie sie, stopfen Sie sie mit Trüffeln, trinken, essen Sie sie, machen Sie mit ihr was Sie wollen und die gute Jungfrau mit allen Heiligen im Paradiese mag Sie dafür segnen.«

»Abgemacht!«

»Wirklich? Sie nehmen sie mit?«

»Ich nehme sie mit.«

»Sogleich?«

»Sogleich. Rufen Sie das Kind!«

»Cosette!« rief die Wirthin.

»Unterdeß,« fuhr der Mann fort, »will ich Ihnen meine Rechnung bezahlen. Wieviel beträgt sie?«

Er warf einen Blick auf dieselbe und konnte eine Bewegung der Ueberraschung nicht unterdrücken.«

»Dreiundzwanzig Francs!«

Er sah die Frau an und sagte noch ein Mal: »Dreiundzwanzig Francs?«

In der Betonung dieser zwei Mal wiederholten Worte lag der Accent, welcher das Ausrufe- vor dem Fragezeichen trennt.

Die Thenardier hatte Zeit gehabt, sich auf den Stoß vorzubereiten. Mit Sicherheit antwortete sie:

»Ja, mein Herr, dreiundzwanzig Francs!«

Der Fremde legte fünf Fünffrancsstücke auf den Tisch und sagte: »Holen Sie die Kleine.«

In diesem Augenblick trat Thenardier bis in die Mitte der Stube und sagte:

»Der Herr ist noch sechsundzwanzig Sous schuldig.«

»Sechsundzwanzig Sous?« rief die Frau.

»Zwanzig für das Zimmer, sechs für das Abendessen,« antwortete Thenardier kalt. »Was die Kleine betrifft, so muß ich mit dem Herrn noch ein paar Worte reden. Lasse uns allein, Frau.«

Die Frau war geblendet von den Blitzen des Talentes ihres Mannes. Sie fühlte, daß jetzt der erste Held auftrat, sagte kein Wort und ging.

Sobald sie allein waren, bot Thenardier dem Fremden einen Stuhl. Der Reisende setzte sich, Thenardier blieb stehen. Sein Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck von Gutmüthigkeit und Einfältigkeit an.

»Sehen Sie, mein Herr,« sagte er, »ich will es Ihnen nur sagen, ich liebe dieses Kind unendlich.«

Der Fremde sah ihn fest an.

»Welches Kind?«

»Es ist wunderlich, wie man sich an Etwas gewöhnen und anschließen kann! Was ist all das Geld? Nehmen Sie Ihre hundert Sous. Ich habe das Kind zu lieb.«

»Welches denn?« fragte der Fremde.

»Nun, unsere kleine Cosette. Wollen Sie uns denn die Kleine nicht entführen? Ich rede aufrichtig, so wahr sie ein honetter Mann sind, ich kann meine Einwilligung nicht geben. Das Kind würde mir überall fehlen. Ich habe sie ganz klein gesehen. Es ist wahr, sie kostet uns freilich viel Geld, es ist wahr, sie hat ihre Fehler, es ist wahr, wir sind nicht reich, es ist wahr, ich habe in einer ihrer Krankheiten mehr als vierhundert Francs für Medicin bezahlt. Aber man muß für den lieben Gott auch etwas thun. Das arme Ding hat weder Vater noch Mutter, ich habe sie erzogen. Ich habe Brod für sie und für mich. Und in der That, ich halte was auf das Kind. Ich bin ein guter dummer Kerl, ich vernünftele nicht, ich liebe die Kleine. Meine Frau ist zwar lebhaft, aber sie liebt sie auch. Es ist als gehörte sie uns. Ich muß sie im Hause hören!«

Der Fremde sah ihn noch immer unverwandt an.

Thenardier fuhr fort:

»Verzeihen, entschuldigen Sie, mein Herr, aber man giebt sein Kind nicht so dem ersten besten Reisenden hin. Nicht wahr, ich habe Recht? Freilich, Sie sind reich, Sie scheinen ein sehr braver Mann zu sein; wenn das nun zu ihrem Glück wäre? Aber wer kann das wissen? Sie verstehen, wenn ich sie gehen ließe, wenn ich ein Opfer brächte, so könnte dies doch nur dann geschehen, wenn ich wüßte, wohin sie kommt; ich möchte sie nicht aus den Augen verlieren; ich möchte wissen, bei wem sie ist, um sie von Zeit zu Zeit besuchen zu können, damit sie erführe, ihr guter Pflegevater sei da und wache über sie. Kurz es giebt Dinge, welche nicht möglich sind. Ich kenne nicht einmal Ihren Namen. Nehmen Sie sie mit, so muß ich immer fragen: wohin ist die Lerche gekommen? Ich müßte wenigstens ein schlechtes Papier, ein Stück von einem Paß sehen, Etwas!«

Der Fremde antwortete in ernstem, festem Tone, ohne aufzuhören ihn mit einem Blicke anzusehen, der bis in die Tiefe des Gewissens dringt:

»Herr Thenardier, wenn man auf fünf Meilen Paris, verläßt, nimmt man keinen Paß. Wenn ich Cosette mitnehme, nehme ich sie mit, ohne Weiteres. Sie erfahren weder meinen Namen, noch meine Wohnung; sie erfahren nicht, wo sie sein wird, und es ist meine Absicht, daß sie Sie niemals wiedersieht. Ich zerschneide den Faden, den sie am Fuße hat und sie geht davon. Paßt Ihnen das? Ja oder Nein?«

Ebenso wie die Dämonen und die Genien an gewissen Zeichen die Gegenwart eines überlegneren Geistes erkennen, so begriff Thenardier, daß er mit Einem zu thun hatte, der nicht geringe Kräfte habe. Es kam ihm dies ohne Nachdenken durch Anschauung. Er begriff dies mit seiner scharfsinnigen, klaren Geistesgewandtheit. Schon am Abende vorher, mitten unter dem Trinken, Rauchen und Singen, hatte er ihn genau beobachtet, ihn belauert wie eine Katze und ihn studirt wie ein Mathematiker. Im eigenen Intresse, aus Instinkt und aus Vergnügen hatte er ihn spionirt; er hatte ihn ausspionirt, als wenn er dafür bezahlt würde. Keine Geberde, keine Bewegung des Mannes im gelben Rock war ihm entgangen. Das Interesse des Unbekannten für Cosetten hatte er errathen, bevor der Mann dasselbe noch deutlich zu erkennen gegeben. Er hatte die tiefen, langen Blicke beobachtet, welche immer wieder auf das Kind zurückkamen. Warum dieses Interesse? Wer war der Mann? Warum die ärmliche Kleidung bei so viel Geld im Beutel? Alles Fragen, welche er sich vorlegte, ohne sie beantworten zu können, sie reizten seine Neugierde. Die ganze Nacht hatte er darüber nachgedacht. Der Vater Cosette’s konnte er wohl nicht sein. Vielleicht der Großvater? Warum aber dann nicht sogleich sich zu erkennen geben? Wenn man ein Recht hat, zeigt man es. Der Mann hatte also offenbar kein Recht auf Cosetten. Was war er also? Thenardier verlor sich in Muthmaßungen. Er ahnte alles, sah und sah nichts. Wie dem aber auch sein mochte, er fühlte sich stark, als er mit dem Mann eine Unterhaltung anknüpfte, weil er die Gewißheit hatte, daß ein Geheimniß in alle diesem stecke und daß der Mann ein Interesse dabei habe, im Dunklen zu bleiben. Aber bei der klaren und festen Antwort des Fremden, als er sah, daß der Mann so unbefangen geheimnißvoll sei, fühlte er sich wieder schwächer. Etwas der Art hatte er nicht erwartet. Seine Vermuthungen stürzten über den Haufen. Er sammelte seine Gedanken. Er erwog Alles in einer Secunde. Thenardier gehörte zu denjenigen Menschen, welche eine Lage mit einem Blicke überschauen. Er erkannte, daß es Zeit sei rasch und graden Weges vorzugehen. Er machte es wie die großen Feldherrn in einem solchen Augenblicke, den sie allein zu erkennen vermögen, – er demaskirte plötzlich seine Batterie.

»Mein Herr,« sagte er, »Sie müssen mir fünfzehnhundert Francs zahlen.«

Der Fremde nahm aus seiner Seitentasche ein altes Portefeuille von schwarzem Leder, öffnete es und nahm drei Banknoten aus demselben, die er auf den Tisch legte. Dann drückte er seinen breiten Daumen auf die Billets und sagte zu dem Wirth:

»Holen Sie die Cosette.«

Was that Cosette, während dies geschah?

Sie war gleich nach dem Erwachen zu ihrem Holzschuh gelaufen und hatte in demselben das Goldstück gefunden. Es war kein Napoleonsd’or, sondern eines der ganz neuen Goldstücke der Restauration, auf deren Vorderseite das kleine preußische Queue die Lorbeerkrone verdrängt hatte. Cosette war wie geblendet, ihr Geschick fing an sie zu berauschen. Sie wußte nicht was ein Goldstück war, sie hatte nie eins gesehen, sie steckte es rasch in ihre Tasche, als habe sie es gestohlen. Gleichwohl fühlte sie, daß es ihr angehöre; sie errieth von wem dies Geschenk komme, sie empfand eine Freude voller Angst. Sie war zufrieden, mehr aber noch verwundert. So schöne, so prächtige Dinge schienen ihr der Wirklichkeit nicht anzugehören. Die Puppe, das Goldstück flößten ihr Furcht ein. Nur vor dem Fremden fürchtete sie sich nicht. Im Gegentheil, er beruhigte sie. Seit dem gestrigen Tage, mitten in ihrem Staunen, im Traume dachte sie in ihrem kleinen Kindesgeiste an den Mann, der so alt, so arm und so traurig aussah und doch so reich und gut war. Seit sie ihn im Walde getroffen hatte, war alles verändert für sie. Cosette weniger glücklich, als die kleinste Schwalbe unter dem Himmel, hatte nie gewußt, was es heißt, sich in den Schatten einer Mutter, wie unter einen Flügel zu flüchten. Seit fünf Jahren, das heißt soweit ihre Gedanken zurückreichten, zitterte und fror das arme Kind. Sie war stets unter dem kalten Winde des Unglücks ganz nackt gewesen, jetzt kam es ihr vor, als sei sie bekleidet. Sonst hatte ihre Seele gefroren, jetzt war ihr warm. Sie fürchtete sich nicht mehr so sehr vor der Thenardier. Sie war nicht mehr allein, es war Jemand da.

Sie war schnell an die gewöhnliche Früharbeit gegangen. Das Goldstück aber, das sie bei sich hatte, in derselben Schürzentasche, aus welcher ihr am Abende vorher das Fünfzehnsousstück gefallen, zerstreute sie sehr. Sie wagte es nicht zu berühren, wobei sie, was mitzutheilen ist, stets die Zunge heraussteckte. Bei dem Kehren der Treppe hielt sie inne und blieb unbeweglich stehen, ihren Besen und die ganze Welt vergessend, ganz damit beschäftigt ihren Stern in ihrer Tasche glänzen zu sehen.

In einer dieser Betrachtungen traf sie die Thenardier, welche auf Befehl ihres Mannes sie holen wollte. Unerhörter Weise gab sie ihr keinen Schlag, nicht einmal ein Schimpfwort.

»Cosette,« sagte sie fast sanft, »komme sogleich.«

Im nächsten Augenblicke trat Cosette in die niedrige Gaststube.

Der Fremde nahm das Packet, das er mitgebracht hatte und knüpfte dasselbe auf. Es enthielt ein kleines, wollenes Kleid, ein Mieder von Barchent, eine Schürze, einen Unterrock, ein Halstuch, wollene Strümpfe, Schuhe, einen vollständigen Anzug für ein Mädchen von sieben Jahren. Alles in Schwarz.

»Mein Kind,« sagte der Mann, »nimm das und kleide Dich geschwind an.«

Es wurde Tag, als die Einwohner von Montfermeil, welche ihre Hausthüren aufmachten auf der Straße nach Paris zu einen ärmlich gekleideten Mann gehen sahen, welcher ein in Trauer gekleidetes Mädchen führte, das eine rosa Puppe in ihren Armen trug. Sie gingen nach Livry zu.

Es war unser Unbekannter und Cosette.

Niemand kannte den Mann, und da Cosette nicht mehr in Lumpen gekleidet war, erkannten Viele auch sie nicht.

Cosette ging fort. Mit wem? Sie wußte es nicht. Wohin? Sie wußte es nicht. Alles, was sie verstand, war, daß sie das Wirthshaus Thenardiers hinter sich ließ. Niemand hatte daran gedacht, ihr Adieu zu sagen, noch sie daran, von irgend Jemand Abschied zu nehmen. Hassend und gehaßt verließ sie das Haus.

Armes, kleines Wesen, dessen Herz bis zu diesem Augenblick gedrückt gewesen war!

Cosette ging ernsthaft einher, machte große Augen und sah den Himmel an. Ihr Goldstück hatte sie in die Tasche ihrer neuen Schürze gesteckt. Von Zeit zu Zeit bückte sie sich und warf einen Blick auf dasselbe, dann blickte sie den Mann an. Sie fühlte Etwas, als wenn sie in der Nähe des lieben Gottes wäre.

I. Die Wasserfrage zu Montfermeil.

Montfermeil liegt zwischen Livry und Chelles, auf dem Südrande jenes hohen Plateau’s, welches Ourque von Marne trennt. Heute ist es ein ziemlich großer Flecken mit hübschen Häusern und des Sonntags heiter geschmückten Bewohnern. 1823 aber gab es zu Montfermeil weder so viele hübsche Besitzungen, noch so viele behaglich lebende Einwohner. Damals war es nur ein Dorf mit hölzernen Schaluppen. Hier und da begegnete man freilich gefälligen Gebäuden im Styl des vorigen Jahrhunderts. Nichtsdestoweniger war Montfermeil damals aber doch nur ein Dorf, ein friedlicher, reizender Ort, welcher an keiner Landstraße lag und wo man billig ein ländliches Leben verleben konnte. Das Wasser nur war knapp, weil das Terrain sehr hoch lag. Man mußte es weit holen gehen. Die Leute an dem einen Ende des Dorfes holten es aus den prächtigen Teichen im Gehölz, die am anderen, nach Chelles zu, mußten bis zur nächsten trinkbaren Wasserquelle eine Viertelmeile laufen.

Bei dieser Unbequemlichkeit der Befriedigung des Wasserbedarfs benutzten die größeren Haushaltungen und die Thenardiersche Garküche einen Wasserträger, der bei seinem Geschäft täglich seine acht Sous verdiente. Der gute Mann arbeitete aber auch nur im Sommer bis sieben und im Winter bis fünf Uhr Abends, so daß, wenn es erst einmal Nacht geworden oder die Fensterläden geschlossen waren, Jeder sehen mußte, wie er sich Wasser verschaffe, wenn er es brauchte.

Das war der Schrecken jenes armen Wesens, welches der Leser vielleicht noch nicht vergessen hat, der kleinen Cosette. Man erinnert sich, daß Cosette den Thenardiers in doppelter Weise von Nutzen war, von der Mutter ließen sie sich bezahlen, von dem Kinde bedienen. Das ist auch der Grund, weshalb wir in den früheren Capiteln mittheilen konnten, daß, als die Mutter zu zahlen aufhörte, die Thenardiers das Kind behielten. Sie ersetzte ihnen eine Magd. In dieser Eigenschaft war sie es auch, welche das nöthige Wasser holen mußte. Obwohl sie noch ein Kind war, und sie sich vor dem Gedanken, in der Nacht an die Quelle gehen zu müssen, sehr entsetzte, so sorgte sie doch immer dafür, daß es im Hause an Wasser nicht fehlte.

Der Weihnachten 1823 war ganz besonders glänzend in Montfermeil. Der Anfang des Winters war sehr mild; es hatte noch nicht gefroren und noch nicht geschneit. Pariser Gaukler hatten von dem Maire die Erlaubniß erhalten, in der Hauptstraße des Dorfes ihre Buden aufzuschlagen, und eine Bande herumziehender Krämer hatte unter derselben Gnade ihre Stände auf dem Kirchplatze und selbst in dem Bäckergäßchen aufgestellt, in welchem, wie man sich vielleicht erinnert, die Thenardiersche Kneipe sich befand. Das war der Grund, daß die Schänken und Wirthshäuser sich füllten und in dem kleinen, stillen Orte ein geräuschvolles, lustiges Leben war. Als treue Geschichtsschreiber müssen wir sogar mittheilen, daß sich unter den auf dem Platz ausgekramten Sehenswürdigkeiten auch eine Menagerie befand, in welcher schreckliche Bajazzo’s in Lumpen, welche, Gott weiß woher, waren, den Bewohnern von Montfermeil im Jahre 1823 einen jener schrecklichen brasilianischen Geier zeigten, welchen das Pariser Museum erst seit 1845 besitzt. Als Auge hatte er eine dreifarbige Cocarde. Einige alte bonapartistische Soldaten, welche sich in das Dorf zurückgezogen, betrachteten das Thier mit Verehrung. Die Gaukler gaben die dreifarbige Cocarde für ein einziges Phänomen aus, vom lieben Gott ausdrücklich für ihre Menagerie geschaffen.

An demselben Weihnachtsabende saßen und tranken mehrere Männer, Fuhrleute und Hausirer, um vier oder fünf Talglichter in der niedrigen Gaststube Thenardiers. Dieselbe sah wie alle anderen Gaststuben aus: Tische, zinnerne Krüge, Flaschen, Trinker, Raucher, wenig Licht, viel Lärm. Das Jahr 1823 aber wurde durch zwei Gegenstände bezeichnet, welche damals in der Bürgerklasse Mode waren und auf dem Tische lagen, durch ein Kaleidoskop und eine lackirte Blechlampe. Die Thenardier besorgte das Abendbrod, das bei einem hellen, hübschen Feuer briet; er, der Thenardier, trank mit den Gästen und unterhielt sich mit ihnen über Politik.

Außer den politischen Plaudereien, welche den spanischen Krieg und den Herzog von Angoulême zum Hauptgegenstande hatten, hörte man in dem Lärme auch ganz örtliche Paranthesen, wie: »Nach Nanterre und Suresne zu ist der Wein gut gerathen. Wo man sonst zehn Fässer bekam, hat man zwölf. – Aber die Trauben konnten doch nicht reif sein? – Dort brauchen sie nicht reif zu sein. Der Wein wird gut, sobald das Frühjahr kommt u. s. w.« – Oder ein Müller rief: »Sind wir denn verantwortlich für das, was in den Säcken ist? Wir finden eine Menge kleiner Körner darin, die auszusuchen wir uns doch nicht das Vergnügen machen können, und unter die Mühlsteine werfen müssen; es ist allerlei Unkraut darunter, die kleinen Steine ungerechnet, welche sich bei gewissen Getreidearten in Masse vorfinden. Was das für Mehl giebt, könnt Ihr Euch denken. Und doch klagt man über das Mehl. Das ist sehr unrecht. Es ist nicht unsere Schuld.«

Zwischen zwei Fenstern sah ein Schnitter mit einem Grundbesitzer, welche den Preis einer Wiesenarbeit fürs Frühjahr behandelten. Der Schnitter sagte:

»Es ist durchaus kein Unglück, wenn das Gras auch naß ist. Es haut sich besser. Der Thau ist ganz gut, mein Herr. Das wäre gleichgiltig, aber jung darf es nicht sein, und Ihr Gras ist noch sehr jung. Es ist zu [weich]. Es legt sich vor der Sense um.«

Und so wurde noch viel dergleichen gesprochen.

Cosette saß auf ihrem gewöhnlichen Platze, auf dem Querstücke des Küchentisches neben dem Heerde. Sie war in Lumpen gekleidet. Ihre bloßen Füße steckten in hölzernen Pantoffeln. Beim Scheine des Feuers strickte sie für die kleinen Thenardiers wollene Strümpfe. Ein kleines Kätzchen spielte unter den Stühlen. In einer anstoßenden Stube hörte man zwei frische Kinderstimmen lachen und scherzen; es waren Eponine und Azelma.

Von Zeit zu Zeit drang das Weinen eines ganz kleinen Kindes, das sich irgendwo im Hause befand, mitten durch den Lärm der Schenke. Es war ein kleiner etwa drei Jahre alter Knabe, welchen die Thenardier in einem der vergangenen Winter bekommen hatte, ohne zu wissen, woher? wahrscheinlich in Folge der Kälte, wie sie sagte. Die Mutter hatte es getränkt, liebte es aber nicht. Wenn das Geschrei gar zu lästig wurde, sagte Thenardier: »Dein Junge schreit. Sieh doch nach, was er will.« »Bah!« antwortete sie; »er ist mir gar zu lästig.« – Und der verlassene Kleine schrie im Finstern weiter.