Zweites Buch. Die Dankbarkeit in voller Eigenmacht.


Erstes Capitel. Freude unter Todesqualen.

Mess Letthierry zog die Glocke gewaltig. Plötzlich hielt er an. Ein Mann kam um die Ecke des Quai. Es war Gilliatt.

Mess Letthierry lief ihm entgegen oder warf sich vielmehr auf ihn, faßte seine Hand mit seinen beiden Händen und blickte ihm einen Augenblick schweigend in das Gesicht. Ein Schweigen, welches dem Ausbruche gleicht, der keinen Weg zu finden weiß.

Dann schüttelte und zog er ihn heftig, preßte ihn in seine Arme, ließ ihn In den niedrigen Saal der Bravées eintreten, stieß mit den Hacken die Thür zurück, welche halb offen blieb, setzte sich oder fiel auf einen Stuhl neben einem vom Monde beschienenen Tische, dessen Reflex Gilliatt’s Gesicht unbestimmt erleuchtete und schrie mit einer Stimme, in welche sich Weinen mit Lachen vermischte:

O mein Sohn! Mensch mit der Bug-Pipe! Gilliatt! Ich wußte wohl, daß Du es warst! Die Barke, alle Wetter! Erzähle mir das. Du bist also hingegangen! Vor hundert Jahren hätte man Dich als Zauberer verbrannt! Es fehlt nicht ein Nagel daran. Ich habe Alles gesehen, Alles betrachtet. Alles untersucht. Ich ahne, daß die Räder in den beiden Kästen sind. Da bist Du also doch endlich! Ich suchte Dich so eben in Deiner Kabine. Ich habe geläutet. Ja, ich suchte Dich. Ich sagte zu mir: Wo ist er, daß ich ihn aufesse! Man muß zugestehen, daß eigenthümliche Dinge vorkommen. Dieses Menschenkind da kommt von den Douvres-Klippen zurück. Er giebt mir das Leben wieder. Donner! Du bist ein Engel. Ja, ja, ja, es ist meine Maschine. Niemand wird es glauben. Man wird es sehen und sagen: Es ist nicht wahr. Alles ist da, was! Alles ist da! Es fehlt nicht eine Schraube, nicht ein Nagel. Der Wasserbehälter ist nicht im Mindesten verletzt. Es ist unglaublich, daß er keinen Schaden genommen hat. Aber wie hast Du das gemacht? Die Durande wird wieder fahren! Der Radbaum ist ja auseinandergenommen, wie von einem Goldschmiede. Gieb mir Dein Ehrenwort, daß ich nicht wahnsinnig bin.

Er richtete sich auf, holte Athem und fuhr fort:

– Schwöre es mir. Welche Umwälzung! Ich kneife mich, ich fühle wohl, daß ich nicht träume. Du bist mein Kind, mein Junge, der liebe Gott! O mein Sohn! Du hast mir meine Maschine geholt! Von offener See! Von dieser hinterlistigen Klippe! Ich habe viele Kunststücke in meinem Leben gesehen. Aber nichts dergleiches. Ich habe die Pariser gesehen, welche wahre Teufel sind. Das würden sie aber wohl bleiben lassen. Das ist schlimmer als die Bastille. Ich habe die Gauchos in den Pampas den Acker bestellen sehen; ihr Pflug ist ein Baumzweig mit einem Knie und ihre Egge ein Haufen Dornen, welche ein Lederriemen zusammenhält; damit säen sie Getreidekörner, groß wie Nüsse. Das ist aber Alles Spielerei gegen Dich. Du hast da ein Wunder vollbracht, und zwar ein ächtes. O Du Bösewicht! Komm‘ an meinen Hals! Man wird Dir das Glück des ganzen Landes verdanken. Wie werden sie in St. Sampson brummen! Ich werde mich sofort an die Wiederherstellung des Schiffes machen. Es ist staunenswerth, daß die Brandung nichts zerbrochen hat. Meine Herren, er ist nach den Douvres gewesen. Nach den Douvres, sage ich. Ganz allein. Die Douvres! Diese Kieselsteine, wie es keine schlimmeren giebt. Weißt Du’s schon; hat man Dir’s schon gesagt? Es ist bewiesen, es war ausdrücklich beabsichtigt; Clubin hat die Durande gestrandet, um mir das Geld zu stehlen, welches er mir bringen sollte. Er hat Tangrouille betrunken gemacht. Es ist eine lange Geschichte, ich werde Dir ein anderes Mal diesen Raub erzählen. Ich, furchtbare Dummheit, hatte zu Clubin Vertrauen. Er ist daran zu Grunde gegangen, der Verbrecher: denn er hat gewiß umkommen müssen. Es giebt einen Gott, der Elende! Siehst Du, Gilliatt, wir werden sofort, so lange das Eisen noch warm ist, die Durande wiederbauen. Wir werden ihr zwanzig Fuß mehr geben. Man baut jetzt größere Schiffe. Ich werde in Danzig und Bremen Holz kaufen. Jetzt, wo ich die Maschine habe, wird man mir borgen. Das Vertrauen wird zurückkehren.

Mess Lethierry hielt inne, schlug die Augen mit einem Blicke auf, welcher den Himmel bis in seine Tiefen durchschaut und murmelte zwischen den Zähnen: Es giebt dort oben Einen!

Dann legte er den Mittelfinger seiner rechten Hand zwischen die beiden Augenbrauen, stützte seine Spitze auf die Nasenwurzel, was einen das Gehirn durchkreuzenden Gedanken verräth, und fuhr fort:

– Einerlei, um Alles im großen Maßstabe anfangen zu können, wäre doch etwas baar Geld sehr erwünscht. O! wenn ich meine drei Banknoten hätte, die 75,000 Francs, welche dieser Räuber Rantaine mir wiedergegeben und dieser Dieb Clubin mir wiederabgestohlen hat!

Gilliatt suchte schweigend etwas in seiner Tasche und legte es dann vor ihn. Es war der Ledergürtel, den er mitgebracht hatte. Er öffnete und breitete ihn auf dem Tische aus; bei dem Mondschein konnte man auf seiner Innenseite das Wort Clubin entziffern; er zog aus der in ihm befindlichen Tasche eine Dose und aus dieser drei zusammengefaltete Stück Papier, welche er aufmachte und Mess Lethierry hinreichte.

Dieser untersuchte sie. Es war hell genug, um die Zahl 1000 und das Wort thousand deutlich erkennen zu können. Mess Lethierry nahm die drei Banknoten, legte sie auf den Tisch, eine neben die andere, sah sie an, sah Gilliatt an, blieb einen Augenblick stumm und donnerte dann los, wie die Zerstörung nach der Explosion:

– Das auch! Du bist unbegreiflich. Meine Banknoten! Alle drei! Jede von tausend! Meine 75,000 Francs! Du bist also bis in die Hölle gegangen. Es ist Clubin’s Gürtel. Beim Himmel! Ich lese innen seinen Namenszug. Gilliatt bringt die Maschine zurück und auch noch das Geld! Das wird man in die Zeitung setzen lassen. Ich werde Holz von der besten Qualität kaufen. Ich ahne, Du wirst das Gerippe von Clubin in irgend einem Winkel aufgefunden haben. Wir werden Tannen in Danzig und Eichen in Bremen kaufen und einen schönen Rumpf bauen, indem wir die Eiche nach innen und die Tannen nach außen nehmen. Früher machte man die Schiffe weniger gut, und sie hielten länger; das Holz war aber tauglicher, weil man weniger baute. Wir machen den Kiel vielleicht aus Ulmenholz. Die Ulme ist gut für Theile, die stets im Wasser bleiben, aber wenn sie bald naß, bald trocken wird, so fault sie; sie muß immer feucht sein, sie nährt sich vom Wasser. Was für eine schöne Durande werden wir machen! Man soll mir nichts vorschreiben. Ich habe keinen Credit nöthig. Ich habe Geld. Hat man je einen solchen Gilliatt gesehen! Ich lag da, fast todt! Er stellt mich wieder aufrecht auf meinen vier Eisen. Und ich, ich denke gar nicht an ihn! Das ist mir ganz aus dem Kopfe geschwunden. Alles kommt mir jetzt wieder. Armer Junge! O! Alle Wetter, Du weißt, Du heirathest Deruchette!

Gilliatt lehnte sich wie ein Schwankender an die Mauer und antwortete sehr leise, aber sehr deutlich:

– Nein.

Mess Lethierry sprang in die Höhe.

– Wie, nein??!

Gilliatt erwiderte:

– Ich liebe sie nicht.

Mess Lethierry ging an das Fenster, öffnete und schloß es, kam zu dem Tische zurück, nahm die drei Banknoten, faltete sie, legte die Dose auf sie, kratzte sich den Kopf, ergriff Clubin’s Gürtel, warf ihn zornig gegen die Wand und rief:

Da steckt etwas hinter.

Er steckte seine beiden Fäuste in seine Taschen und fuhr fort:

– Du liebst Deruchette nicht!? Du hast also für mich auf der gespielt?

Gilliatt, immer noch an der Wand gelehnt, erblaßte wie ein Mensch, der zu athmen aufhört. Je bleicher er wurde, um so röther wurde Mess Lethierry.

– Ist der unverschämt! Er liebt Deruchette nicht! Nun gut, bereite Dich darauf vor, sie zu lieben, denn sie wird nur Dich heirathen. Welche tolle Geschichte willst Du mir da erzählen, damit ich Dir das glauben soll! Bist Du krank, gut, so lasse einen Arzt rufen, aber sprich keinen Unsinn. Es ist nicht möglich, daß Du schon die Zeit gehabt hast, Dich mit ihr zu streiten und Dich über sie zu ärgern. Freilich die Liebenden, es ist so dumm! Laß sehen, hast Du Gründe? Dann sage sie. Man thut so etwas nicht ohne Gründe. Außerdem habe ich auch Baumwolle in den Ohren und deshalb vielleicht falsch gehört. Wiederhole, was Du gesagt hast.

Gilliatt erwiederte:

– Ich habe Nein gesagt.

– Du hast Nein gesagt. Er bleibt dabei, der Kerl! Da hast Du etwas, das ist sicher! Du hast Nein gesagt. Das ist eine Dummheit, die die Grenzen übersteigt. Man verordnet Andern für viel geringere Dinge kalte Umschläge. Also rein aus Liebe zu dem guten Alten hast Du das Alles gethan, was Du gethan hast! Für die schönen Augen des Vaters bist Du nach den Douvres gewesen, hast Kälte und Hitze, Hunger und Durst ertragen, das Gewürm von dem Felsen gegessen, Nebel Wind und Regen als Schlafgemach gehabt und mir meine Maschine zurückgebracht, wie man einer hübschen Frau ihren Zeisig, der ihr fortgeflogen ist, wiederbringt! Und der Sturm vor drei Tagen! Rede Dir nur nicht ein, daß ich mir keine Rechenschaft davon gebe. Dich hat er sicher gehörig durchrüttelt! Dadurch, daß Du mitten in den Bauch meines alten Kahns eine Oeffnung machtest, hast Du geschlagen, geschnitten, gedreht, gedrechselt, gezogen, gefeilt, gehämmert, gesägt, erfunden, ausgedacht und vollbracht; Du ganz allein tausendmal mehr Wunder, als alle Heiligen des Paradieses zusammen. Und doch bist Du ein Thor: Du langweilst mich mit Deinem Bug-pipe. Immer noch bei Dir dieselbe Melodie, dieselben Dummheiten. Du liebst nicht Deruchette! Ich weiß nicht, was Du hast. Ich erinnere mich jetzt sehr gut an Alles; ich war da in der Ecke, Deruchette sagte: Ich werde ihn heirathen. Und sie wird Dich heirathen! O, Du liebst sie nicht! Trotz aller Ueberlegung verstehe ich das nicht. Und er spricht nicht ein Wort. Es ist gar nicht erlaubt, das Alles zu thun, was Du gethan hast, und dann schließlich zu sagen: Ich liebe nicht Deruchette. Man erweist den Leuten keine Dienste, um sie zornig zu machen. Nun gut, wenn Du sie nicht heirathest, wird sie die heilige Katharina frisiren. Zuerst bedarf ich Deiner. Du wirst der Steuermann der Durande. Bilde Dir nur nicht ein, daß ich Dich so wieder fort lasse! Ha, ha, ha, mein Herzensfisch, ich lasse Dich nicht los. Ich halte Dich fest und höre Dich nicht einmal an. Wo giebt es noch einen Matrosen, der Dir gliche! Du bist mein Mann. Aber sprich doch!

Indessen hatte die Glocke das Haus und die Umgegend geweckt. Douce und Grace waren aufgestanden und so eben mit erstauntem Gesicht und ohne ein Wort zu sagen in den niedrigen Saal getreten. Grace hielt ein Licht in der Hand. Eine Gruppe von Nachbarn, Bürgern, Seeleuten und Bauern, in aller Eile zusammengekommen, stand draußen auf dem Quai und betrachtete mit Staunen und Bewunderung den Schlot der Durande in der Barke. Einige hörten Mess Lethierry’s Stimme in dem niedrigen Saale und begannen, sich schweigend durch die halbgeöffnete Thür einzuschleichen. Zwischen den Gesichtern zweier Gevatterinnen steckte Meister Landoys seinen Kopf durch, welcher zufällig immer da war, wo nicht zu sein er bedauert hätte.

Große freudige Ereignisse müssen an die große Glocke. Mess Lethierry bemerkte plötzlich, daß Leute um ihn seien und nahm sie sofort zu Zuhörern:

– O! Da seid Ihr ja. Das ist sehr schön. Wißt Ihr die Neuigkeit. Dieser Mensch ist da gewesen und hat das zurückgebracht. Guten Tag, Meister Landoys. Gerade als ich erwachte, sah ich den Schornstein. Er lag unter meinem Fenster. Nicht ein Nagel fehlt an dem ganzen Dinge. Man macht Bilder von Napoleon; ich meinestheils ziehe das der Schlacht bei Austerlitz vor. Ihr steht auf, Ihr guten Leute. Die Durande kommt Euch im Schlafe. Während Ihr Eure baumwollenen Nachtmützen aufsetzt und Eure Lichter ausblast, wachen Menschen, welche Helden sind. Man ist ein Haufen von Feiglingen und Faullenzern und wärmt seine Glieder. Zum Glück hindert das nicht, daß es auch Tollköpfe giebt, die dahin gehen, wohin man gehen muß, und das thun, was man thun soll. Der Mann vom Bû de la Rue kommt von der Douvre-Klippe an. Er hat die Durande aus dem Grunde des Meeres wieder aufgefischt und das Geld aus Clubin’s Tasche, einem noch tiefern Loche. Aber wie hast Du’s gemacht? Die ganze Welt war gegen Dich, Wind und Meer, Meer und Wind! Du bist wirklich ein Hexenmeister. Die Stürme sind vergebens nichtswürdig, der da macht ihnen den Garaus. Meine Freunde, ich theile Euch mit, daß es keinen Schiffbruch mehr giebt. Ich habe die Maschine untersucht. Sie ist wie neu, ganz, nun was sagt Ihr? Die Ventile spielen wie auf Rollen; man möchte sagen, sie sei erst gestern Morgen fertig geworden. Ihr wißt, daß das ausfließende Wasser durch ein Rohr fortgeschafft wird, in welchem sich das Einflußrohr befindet, damit man gleich die Wärme benutzen kann; nun wohl, alle beiden Röhren sind in gutem Zustande. Die ganze Maschine! Auch die Räder! Ah! Du wirst sie heirathen!

– Wen? Die Maschine? fragte Meister Landoys.

– Nein, die Tochter. Ja, die Maschine. Alle Beide. Er wird doppelt mir angehören: er wird mein Schwiegersohn und mein Capitän. Good bye, Capitän Gilliatt. Es wird bald wieder eine geben, eine Durande! Man wird damit Geschäfte und Fahrten und Handel und Ochsen- und Schaffrachten machen. Ich werde nicht St. Sampson für London aufgeben. Und hier steht der Urheber. Ich sage Euch, es ist ein Abenteuer. Man wird das Sonnabend beim Vater Mauger in der Zeitung lesen. Gilliatt der Böse ist ein Böser. Was sind das da für Louisd’or?

Mess Lethierry bemerkte so eben durch die Ritze im Deckel, daß in der Dose, in welcher sich die Banknoten befanden, auch Gold sei. Er nahm die Dose, öffnete sie, entleerte sie in seine flache Hand und legte die Guineen auf den Tisch.

– Für die Armen. Meister Landoys, gebt diese Guineen in meinem Namen, dem Bürgermeister von St. Sampson. Ihr kennt doch Rantaine’s Brief? Ich habe ihn Euch gezeigt; nun gut, ich habe die Banknoten. Der Mann da ist geprägtes Gold, gehärteter Stahl, ein Demant, ein Seemann mit Leib und Seele, ein Schmied, ein außerordentlicher, lustiger Bruder, staunenswerther, als der Prinz von Hohenlohe. Das nenne ich einen Menschen, der Verstand hat. Wir sind Alle nichts Großes. Die Meerwölfe seid Ihr und ich, sind wir; aber der Meerlöwe ist der da. Hurrah, Gilliatt! Ich weiß nicht, was er gemacht hat, aber sicherlich ist er ein Teufel und darum will er nicht, daß ich ihm Deruchette gebe!

Seit einigen Augenblicken befand sich diese in dem Saale. Sie hatte kein Wort gesprochen, kein Geräusch gemacht, war wie ein Schatten eingetreten und hatte sich fast unbemerkt auf einen Stuhl hinter Mess Lethierry gesetzt, welcher aufrecht stand, gesprächig, freudig erregt und laut sprechend. Kurz nach ihr war eine zweite stumme Erscheinung eingetreten. Ein schwarzgekleideter Mann mit weißem Halstuche und den Hut in der Hand, stand in der halbgeöffneten Thür. Mehrere Lichter brannten jetzt in der langsam angewachsenen Gruppe und erleuchteten den schwarzgekleideten Mann von der Seite, so daß sich sein Profil von jugendlicher und anmuthiger Weiße scharf, wie ein Gepräge, auf dem dunkeln Grunde abzeichnete; er stützte seinen Ellbogen gegen die Ecke eines Feldes in der Thür und hielt seinen Kopf mit der linken Hand; eine Stellung, deren Anmuth ihm unbewußt war und welche durch die Kleinheit der Hand die Höhe der Stirn noch bemerkbarer machte. Ein schmerzlicher Zug umspielte die Winkel des fest zusammengepreßten Mundes. Er prüfte und horchte mit tiefer Aufmerksamkeit. Sobald die Umstehenden den ehrwürdigen Ebenezer Caudray, den Pfarrer der Gemeinde, erkannt hatten, wichen sie zurück, um ihn durchzulassen; er blieb jedoch auf der Schwelle stehen. Zögern drückte seine Stellung und Bestimmtheit sein Blick aus. Von Zeit zu Zeit begegnete dieser Blick dem von Deruchette. Gilliatt stand, sei es Zufall, sei es Willen, im Schatten und man sah ihn nur sehr undeutlich.

Zuerst bemerkte Mess Lethierry Herrn Ebenezer nicht, aber Deruchette. Er ging auf sie zu und küßte sie mit der ganzen Wärme, welchen ein Stirnkuß besitzen kann und streckte zugleich den Arm gegen die dunkle Ecke aus, wo Gilliatt stand.

– Deruchette, sagte er, Du bist jetzt wieder reich und das ist Dein Mann.

Deruchette hob den Kopf wirr in die Höhe und blickte in das Dunkel.

Mess Lethierry fuhr fort:

– Man wird sofort Hochzeit machen, morgen womöglich, man wird den Dispens bekommen, außerdem kommt’s hier nicht viel auf Förmlichkeiten an, der Dekan macht das, wie er will; es ist nicht wie in Frankreich, wo Aufgebote, öffentliche Aufrufe und sonstige Verzögerungen der Heirath vorhergehen müssen. Du wirst Dich rühmen können, die Frau eines ehrenhaften Mannes zu sein; es ist unnöthig zu sagen, daß er ein Seemann ist, ich habe es von dem ersten Tage an gedacht, als ich diesen Herrn mit der kleinen Kanone zurückkommen sah. Jetzt kommt er von den Klippen zurück mit seinem Glücke und dem meinigen und dem des Landes; es ist ein Mann, von dem man eines Tages als von etwas Unmöglichem sprechen wird. Du hast gesagt: Ich werde ihn heirathen und Du wirst ihn heirathen; und Du wirst Kinder bekommen und ich Großvater werden und Du wirst die Aussicht haben, die Frau eines ernsten Mannes zu sein, welcher arbeitet, nützlich, bewundernswerth ist und mehr werth als hundert andere; eines Mannes, der die Erfindungen Anderer rettet, der etwas Außergewöhnliches ist; und Du wirst nicht, wie alle andern reichen Mädchen dieser Insel, einen Soldaten oder Pfaffen heirathen, das heißt einen Mörder oder einen Lügner. Aber was machst Du denn in Deinem Winkel, Gilliatt? Man sieht Dich ja nicht. Douce! Grâce! Die ganze Welt, Licht. Beleuchtet mir meinen Schwiegersohn taghell. Ich verlobe Euch, meine Kinder. Das ist Dein Mann und mein Schwiegersohn, Gilliatt vom Bû de la Rue, der gute Junge, der große Matrose und ich werde keinen andern Schwiegersohn und Du wirst keinen andern Mann haben, ich gebe darauf dem lieben Gott mein Ehrenwort. Ah! da sind Sie ja auch, Herr Pfarrer, Sie werden mir die jungen Leute da trauen.

Mess Lethierry’s Auge war soeben auf den ehrwürdigen Ebenezer gefallen.

Douce und Grâce hatten gehorcht und zwei Lichter auf den Tisch gesetzt, welche Gilliatt vom Wirbel bis zur Zehe erleuchteten.

– Wie schön ist er! rief Lethierry aus.

Gilliatt sah abscheulich häßlich aus.

Er war noch gerade so, wie er am Morgen die Klippen verlassen hatte, in zerrissenen Kleidern, die Ellbogen durchbohrt, den Bart lang, die Haare zerzaust, die Augen entzündet und geröthet, das Gesicht aufgesprungen, die Hände blutend, die Füße nackt. Einige Pusteln des Krakens waren noch auf seinen behaarten Armen sichtbar.

Lethierry betrachtete ihn.

– Das ist mein wahrer Schwiegersohn. Wie er sich mit dem Meere herumgeschlagen hat! Er ist ganz zerfetzt! Welche Schultern! Welche Hände! Wie schön bist Du!

Grâce lief zu Deruchette und hielt ihr den Kopf. Sie war in Ohnmacht gefallen.

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Zweites Capitel. Der Lederkoffer.

Seit Tagesanbruch befand sich ganz St. Sampson auf den Beinen und ganz St. Pierre Port kam soeben an. Die Wiederauferstehung der Durande erregte auf der Insel ein Aussehen, ähnlich dem, welches in Südfrankreich die Salette verursachte. Der Quai wimmelte von Menschen, welche den aus der Barke ragenden Schlot betrachten wollten. Man hätte ihn auch gern in der Nähe besehen und die Maschine angefaßt; aber Lethierry hatte nach einer neuen triumphirenden Untersuchung der Maschine am Tage zwei Matrosen als Wache in der Barke aufgestellt, welche jede Annäherung untersagen mußten. Außerdem genügte ja der Rauchfang den Zuschauern, welche ganz außer sich vor Staunen waren. Man sprach nur von Gilliatt, erklärte und billigte seinen Beinamen der »Böse;« und die Bewunderung gipfelte sich in folgendem Satze: »Es ist nicht immer angenehm, auf der Insel Leute zu haben, welche solche Dinge zu Stande bringen können.«

Von außen sah man Mess Lethierry an seinem Tische neben dem Fenster schreibend sitzen, ein Auge auf das Papier, das andere auf die Maschine gerichtet. Er war so versunken, daß er sich nur einmal unterbrach, um Douce zu rufen und sich bei ihr nach Deruchette zu erkundigen. Sie hatte geantwortet: »Das Fräulein ist aufgestanden und ausgegangen.«

Mess Lethierry sagte darauf:

Sie thut Recht, frische Luft zu schöpfen. Sie befand sich heute Nacht in Folge der Hitze etwas unwohl. Es waren viele Leute in dem Saale. Und diese Ueberraschung, diese Freude, außerdem waren die Fenster geschlossen. Sie wird einen stolzen Mann bekommen!« Und er begann wieder zu schreiben. Er hatte schon zwei Briefe an die bedeutendsten Schiffsbaumeister in Bremen vollendet und zugesiegelt.

Jetzt schloß er den dritten.

In Folge des Geräusches eines Rades auf dem Quai drehte er den Kopf um, lehnte sich zum Fenster hinaus und sah den Weg, welcher vom Bû de la Rue herführt, einen Jungen, der sich nach St. Pierre Port wandte, mit einer Karre heraufkommen. Auf der Karre lag ein mit Kupfer- und Zinnnägeln beschlagener Koffer aus gelbem Leder.

Er redete den Jungen an:

– Wo willst Du hin?

Der Junge blieb stehen und antwortete:

– Zum Cashmere.

– Wozu?

– Den Koffer hinbringen.

– Nun gut; Du wirst diese drei Briefe mitnehmen.

Mess Lethierry öffnete seinen Tischkasten, nahm ein Zwirnknäuel heraus, knüpfte die drei Briefe, welche er soeben geschrieben hatte, mit einem Kreuzknoten zusammen und warf sie dem Jungen zu, der sie mit beiden Händen auffing.

– Du wirst dem Capitän des Cashmere sagen, daß sie von mir sind und daß er sie besorgen möge. Sie sind nach Deutschland. Nach Bremen über London.

– Ich werde den Capitän nicht sprechen, Mess Lethierry.

– Wieso?

– Der Cashmere ist nicht auf dem Quai.

– Ah!

– Er ist auf der Rhede.

– Aha, wegen der Fluth.

– Ich kann nur den Hafenpatron sprechen.

– Du wirst ihm meine Briefe anempfehlen.

– Ja, Mess Lethierry.

– Wann fährt der Cashmere ab?

– Um zwölf Uhr.

– Um Mittag steigt heute die Fluth; er hat sie gegen sich.

– Aber den Wind hat er für sich.

– Mein Sohn, sagte Mess Lethierry, mit seinem Zeigefinger auf den Rauchfang der Maschine weisend, siehst Du das? Das spottet wider Wind und Wellen.

Der Junge steckte die Briefe ein, faßte seine Karre wieder und setzte seinen Weg nach der Stadt fort. Mess Lethierry rief: Douce! Grâce!

Grâce öffnete die Thür halb.

– Mess, was giebt es?

– Komm herein und warte.

Mess Lethierry nahm ein Blatt Papier und begann zu schreiben. Wenn Grâce, welcher hinter ihm stand, neugierig gewesen wäre und den Kopf vorgebogen hätte, so würde sie über seine Schulter hinweg Folgendes haben lesen können:

»Ich schreibe nach Bremen um Holz. Ich habe während des ganzen Tages wegen des Kostenanschlages mit den Zimmerleuten Zusammenkünfte. Die Wiederherstellung wird schnell gehen. Gehe Du Deinerseits zu dem Dekan wegen des Dispenses. Ich wünsche, daß die Hochzeit so bald als möglich sei, sofort wäre das Beste. Ich beschäftige mich mit der Durande, beschäftige Du Dich mit Deruchette.«

Er datirte und unterzeichnete: »Lethierry.«

Er gab sich nicht die Mühe, den Brief zuzusiegeln, sondern kniff ihn einfach viermal durch und gab ihn Grâce.

– Bringe das dem Gilliatt.

– Am Bû de la Rue?

– Ja.

Drittes Buch. Die Abfahrt des Cashmere.


Erstes Capitel. Der Havelet dicht bei der Kirche.

Die Neuigkeiten verbreiten sich schnell an kleinen Orten. Den Rauchfang der Durande unter Mess Lethierry’s Fenstern zu sehn, beschäftigte seit Sonnenaufgang ganz Guernesey. Jedes andere Ereigniß war gegen dieses zurückgewichen. Man sprach nicht vom Tod des Dekans von St. Asaph, es war nicht mehr die Rede von dem ehrenwerthen Ebenezer Caudray, noch von seinem plötzlichen Reichthum oder seiner Abfahrt mit dem Cashmere. Die von den Klippen zurückgebrachte Maschine der Durande, das war das Tagesgespräch. Man glaubte nicht daran. Der Schiffbruch war außerordentlich erschienen, die Rettung hielt man geradezu für unmöglich. Man mußte sich davon mit seinen eigenen Augen überzeugen. Jede andere Beschäftigung wurde verschoben. Lange Reihen von Bürgerfamilien, vom Niedrigsten bis zum Höchsten, Männer, Frauen, Stutzer, Mütter mit Kindern und Kinder mit Puppen, drängten sich von allen Seiten auf das »sehenswerthe Ding« bei den Bravées zu und drehten St. Pierre-Port den Rücken. Viele Läden blieben daselbst geschlossen; in der Kaufmannshalle stockte der Verkauf und der Handel völlig, die ganze Aufmerksamkeit galt der Durande; nicht ein Kaufmann hatte Geschäfte gemacht, mit Ausnahme eines Goldschmiedes, der zu seinem großen Erstaunen einen goldenen Trauring an einen Menschen verkauft hatte, der sehr eilig schien und ihn nach der Wohnung des Herrn Dekan fragte. Die offenen Läden dienten als Klatschstätten, in welchen man laut die wunderbare Rettung besprach. Nicht ein Spaziergänger ließ sich blicken.

Die Kirche zu St. Pierre-Port, ein dreifaches Giebelgebäude mit angesetztem Bogengänge und Thurmspitze, befindet sich am Rande des Wassers im Hintergrunde des Hafens fast auf der Landungsstelle selbst. Sie begrüßt die Ankommenden und verabschiedet die Fortgehenden. Diese Kirche ist der hervorragendste Punkt der langen Linie, welche die Stadt dem Meere zukehrt.

Sie ist zugleich Pfarrkirche von St.-Pierre-Port und Dechanei der ganzen Insel und hat als Verweser den Vicebischof, einen Geistlichen mit unbeschränkter Vollmacht.

Der Hafen von St. Pierre-Port, welcher jetzt sehr schön und groß ist, war zu jener Zeit und noch vor zehn Jahren geringer, als der von St. Sampson. Es bildeten ihn zwei große, gebogene Cyklopenmauern, Tribord und Backbord, vom Ufer fortlaufend und an ihrem äußersten Ende, wo sich ein kleiner Leuchtthurm befand, fast zusammenstoßend. Unter diesem Leuchtthurme gestattete eine schmale Einfahrt, noch mit dem doppelten Kettenringe versehen, welcher sie im Mittelalter schloß, den Schiffen einen Durchgang. Man stelle sich eine halbgeöffnete Hummerscheere vor, so sah der Hafen von St. Pierre-Port aus. Diese Zange trug auf ihrem Boden etwas Wasser, was sie zum Stillstehen zwang. Aber bei Ostwind drang die Fluth durch die halbe Oeffnung ein und es wogte im Hafen, so daß es alsdann sicherer war, ihn nicht zu betreten. Der Cashmere hatte dies an jenem Tage gethan und war auf der Rhede vor Anker gegangen.

Bei Ostwind griffen die Schiffe gern zu diesem Hülfsmittel, wodurch sie außerdem noch die Hafenkosten sparten. Dann nahmen die von der Stadt eingesetzten Schiffer, ein braver Schlag von Seeleuten, welche der neue Hafen abschaffte, entweder an dem Orte der Einschiffung oder an verschiedenen Stellen des Strandes die Reisenden auf und brachten sie mit ihrem Gepäck, oft bei hoher See, aber stets ohne Unfall, zu den abfahrenden Schiffen Der Ostwind ist ein für die Ueberfahrt nach England sehr günstiger Küstenwind; er schleudert nicht, sondern rollt die Schiffe hinüber.

Befand sich das abfahrende Schiff im Hafen, so ging Jeder hier an Bord; lag es auf der Rhede, so hatte man die Wahl zwischen einem der Küstenpunkte, welche in der Nähe des Ankerplatzes lagen. In allen Schlupfwinkeln fand man Schiffer, wie man sie brauchte.

Der Havelet war ein solcher Schlupfhafen; er lag ganz dicht neben der Stadt, war aber so öde, daß er von ihr sehr entfernt zu sein schien. Diese Einsamkeit verdankte er dem Engpasse der hohen Brandungen des Forts George, welches diese geheimnißvolle Zufluchtsstätte beherrschte. Auf mehreren Wegen gelangte man zu ihm. Der nächste zog sich am Ufer entlang; er hatte den Vortheil, daß man aus der Stadt und der Kirche in fünf Minuten dorthin gelangte; den Nachtheil aber, daß ihn die Fluth täglich zweimal bedeckte. Die andern, mehr oder weniger abgebrochenen Wege verloren sich in den scharfen Ausbiegungen des Ufers. Der Havelet lag selbst am hellen Tage im Halbschatten; schräge Felsen hingen an allen Orten über. Dicht verwachsenes Gesträuch und Buschwerk verdunkelte und bedeckte mit einer Art sanfter Nacht dieses Gewirr von Felsen und Wellen; es gab nichts Stilleres als dieser Schlupfwinkel bei ruhigem Wetter, nichts Aufgeregteres bei hoher See. Dort wurden die Spitzen einzelner Zweige beständig von Schaum bespritzt. Im Frühling war er voll Blumen, Nester, Duft, Vögeln, Schmetterlingen und Bienen. Dank den neuesten Arbeiten existirt diese Wildniß heute nicht mehr; an ihrer Stelle befinden sich schöne gerade Linien, Mauerwerke, Quais und Gärtchen; die fehlerhaften Stellen sind ausgebessert; der neuere Geschmack hat den sonderbaren Formen der Berge und der Ungleichheit der Felsen Gerechtigkeit widerfahren lassen.

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Zweites Capitel. Verzweiflung herrscht.

Es war noch nicht ganz zehn Uhr Morgens, ein Viertel vor, wie man auf Guernesey sagt.

Die nach St. Sampson strömende Menge wuchs allem Anschein nach.

Da die ganze Bevölkerung von fieberhafter Neugierde ergriffen, dem Norden der Insel zuströmte, so war das ganze Havelet, welches im Süden liegt, verlassener als je.

Trotzdem sah man ein Boot und einen Schiffer dort. In dem Schiffe lag ein Nachtsack, der Schiffer schien zu warten.

Auf der Rhede sah man den Cashmere vor Anker, ohne irgend eine Vorbereitung zur Austakelung, da er erst um Mittag abfahren sollte.

Ein Vorübergehender, welcher in der Nähe einer der Ufertreppen am Strande gehorcht hätte, würde ein Murmeln von Sprechenden in dem »kleinen Hafen« gehört und, wenn er sich über die Klippen gelehnt hätte, in einiger Entfernung von dem Boote in einem von Zweigen überdeckten Felsenwinkel, wohin der Blick des Schiffers nicht dringen konnte, zwei Personen bemerkt haben, einen Mann und ein Weib, Ebenezer und Deruchette.

Diese dunklen Stellen am Meeresufer, welche die Badenden anlocken, sind nicht immer so einsam, als man glaubt. Man wird dort zuweilen beobachtet und gehört. Wer dorthin flieht und sich dort verbirgt, kann leicht durch das dichte Gebüsch, in Folge der vielfachen und oft verschlungenen Wege, verfolgt werden. Die Felsen und die Bäume, welche den Flüchtling verbergen, können auch einen Zeugen verdecken.

Deruchette und Ebenezer standen gerade gegenüber, die Gesichter einander zugewendet, Hand in Hand. Deruchette sprach. Ebenezer schwieg. Eine gewisse Wehmuth lag auf Deruchette’s Zügen und ihre Wimpern bedeckten Thränen.

Trostlosigkeit und Leidenschaft prägten sich auf Ebenezer’s religiöser Stirn aus. Auf diesem, bis dahin rein engelhaften Gesichte drückte sich bereits der Stempel des Unglücks aus. Der, welcher bis jetzt nur über das Dogma nachgedacht hatte, begann über das Schicksal nachzudenken, ein für einen Priester unheilvolles Nachsinnen. Der Glauben scheitert daran.

Die Religionen, welche die Ehelosigkeit vorschreiben, wissen, was sie thun. Nichts macht den Priester so unfähig, wie die Liebe zu einem Weibe. Alle Arten von Nebel verfinsterten den sonst so klaren Blick von Ebenezer.

Er betrachtete Deruchette immer wieder.

Die beiden Wesen beteten sich an.

In Ebenezer’s Augapfel schimmerte die stumme Verehrung der Verzweiflung.

Deruchette sprach:

– Sie werden nicht abreisen. Ich habe nicht die Kraft dies zuzulassen. Sehen Sie, ich glaubte von Ihnen Abschied nehmen zu können, ich kann es nicht. Warum sind Sie gestern gekommen? Sie mußten nicht kommen, wenn Sie fortgehen wollten. Ich habe nie mit Ihnen gesprochen. Ich liebte Sie, aber ich wußte es nicht. Nur am ersten Tage, als der ehrwürdige Herode die Geschichte von der Rebecca las und Ihre Augen meinen begegneten, fühlte ich meine Wangen brennen und dachte: O! Wie hat Rebecca erröthen müssen! Es ist gleichgültig. Hätte man mir vorgestern gesagt: »Sie lieben den Pfarrer«, so würde ich darüber gelacht haben. Ich achtete nicht auf mich. Ich ging in die Kirche und sah Sie; ich glaubte, daß Jeder dasselbe thäte, wie ich. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Sie haben nichts dazu gethan, daß ich Sie liebe, Sie haben Sich keine Mühe gegeben, Sie sahen mich an; es ist nicht Ihr Fehler, wenn Sie die Leute ansehen, aber in Folge dessen betete ich Sie an. Ich ahnte es nicht. Wenn Sie das Buch nahmen, ward es bei mir Licht; wenn es Andere nahmen, war es nur ein gewöhnliches Buch. Sie lenkten bisweilen Ihre Augen auf mich. Sie sprachen von Erzengeln und waren der Erzengel selbst. Was Sie sagten, dachte ich sofort. Ich weiß nicht, ob, bevor Sie kamen, ich an Gott glaubte. Seit Ihrem Dasein wurde ich ein betendes Weib. Ich sagte zu Douce: Kleide mich recht schnell an, daß ich nicht beim Gottesdienst fehle. Und ich lief in die Kirche. Das also heißt: in einen Mann verliebt sein. Ich sagte zu mir: Wie andächtig werde ich! Sie haben mir gezeigt, daß ich nicht des lieben Gottes wegen in die Kirche ging. Ich ging Ihretwegen hin, das ist wahr. Sie sind schön, Sie sprechen schön; wenn Sie die Arme gen Himmel hoben, schien es mir, als ob Sie mein Herz in Ihren beiden weißen Händen hielten. Ich war närrisch, ich wußte es nicht. Wollen Sie, daß ich Ihnen Ihren Fehler sage; es ist der, daß Sie gestern in den Garten kamen und mit mir sprachen. Hätten Sie mir nichts gesagt, so hätte ich nichts gewußt. Sie wären abgefahren, ich wäre vielleicht traurig geworden, aber jetzt würde ich sterben. – Jetzt, wo ich weiß, daß ich Sie liebe, ist es nicht mehr möglich, daß Sie fortgehen. Woran denken Sie? Sie scheinen mich nicht zu hören.

Ebenezer antwortete:

– Sie haben gehört, was gestern gesagt worden ist.

– Ach!

– Was kann ich dagegen?

Sie schwiegen einen Augenblick. Ebenezer fuhr fort:

– Ich kann nur noch eins thun. Abfahren.

– Und ich, sterben. Ach! Ich wünschte, daß es kein Meer und nur einen Himmel gäbe. Es scheint mir, als wenn sich dann Alles ordnen ließe; wir würden dann zusammen abreisen. Sie hätten nicht mit mir sprechen sollen. Warum haben Sie mit mir gesprochen? Jetzt gehen Sie nicht. Was soll aus mir werden? Ich sage Ihnen, daß ich sterben muß. Sie werden weit sein, wenn ich auf dem Kirchhofe bin. Ach! Mir ist das Herz gebrochen. Ich bin sehr unglücklich. Mein Onkel ist aber doch nicht schlecht.

Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß Deruchette beim Sprechen Mess Lethierry ihren Onkel nannte, sonst hatte sie ihn nur ihren Vater genannt.

Ebenezer wich einen Schritt zurück und gab dem Schiffer ein Zeichen. Man hörte das Ruder in den Dollen knarren und den Schritt des Mannes an Bord seines Nachens.

– Nein, nein! schrie Deruchette.

Ebenezer näherte sich ihr.

– Ich muß es, Deruchette.

– Nein, nie! – Wegen einer Maschine! – Ist das möglich? Haben Sie gestern den schrecklichen Menschen gesehen? Sie können mich nicht verlassen. Sie haben Verstand, Sie werden einen Ausweg finden. Sie können mir unmöglich gesagt haben, daß ich Sie heute hier finden soll, in der Absicht, abzureisen. Ich habe Ihnen nichts gethan. Sie haben Sich nicht über mich zu beklagen. Mit jenem Boote wollen Sie fort? Ich will es nicht. Sie werden mich nicht verlassen. Man öffnet nicht den Himmel, um ihn wieder zu schließen. Ich sage Ihnen, Sie werden bleiben. Außerdem ist es noch nicht Zeit. Ach! – Ich liebe Dich.

Und sich an ihn drückend, schlang sie ihre Arme um seinen Hals, als wenn sie damit ein Band um Ebenezer schließen und mit ihren gefalteten Händen zu Gott beten wollte.

Er löste diese zarten Fesseln, die so viel Widerstand leisteten, als sie konnten.

Deruchette fiel auf einen mit Epheu bedeckten Stein nieder, mit einer mechanischen Bewegung den Aermel ihres Kleides bis zum Ellbogen aufschürzend und einen reizenden nackten Arm zeigend, während ihre starren Augen in feuchter und todtenähnlicher Klarheit schimmerten. Die Barke näherte sich.

Ebenezer faßte ihren Kopf mit seinen beiden Händen. Die Jungfrau hatte das Aussehen einer Wittwe und der Jüngling das eines Vaters. Er berührte ihr Haar mit einer Art heiliger Vorsicht, blickte sie einige Augenblicke an, drückte dann auf ihre Stirn einen jener Küsse, unter denen sich der Himmel zu öffnen scheint, und sagte mit einer Stimme, in welcher der höchste Schmerz zitterte und in der man die Zerrissenheit der Seele fühlte, zu ihr jenes Wort, das Wort der Tiefen: Leb‘ wohl!

Deruchette brach in Schluchzen aus.

In demselben Augenblicke hörten sie eine leise und ernste Stimme fragen:

– Warum heirathet Ihr Euch nicht?

Ebenezer wendete den Kopf um; Deruchette schlug die Augen auf.

Gilliatt stand vor ihnen.

Er war soeben durch einen Seitenweg eingetreten.

Gilliatt war nicht mehr derselbe Mensch, wie Tags zuvor. Er hatte seine Haare gekämmt, seinen Bart geordnet, Schuhe an den Füßen, ein weißes Schifferhemde mit großem Umschlagekragen und seine neuesten Matrosensachen angezogen. Man sah einen Goldreifen an seinem kleinen Finger. Er schien vollkommen ruhig. Seine Farbe war todtenbleich.

Sie blickten ihn verwundert an. Obgleich unkenntlich, erkannte ihn Deruchette doch. Was die Worte anbetraf, welche er gesprochen hatte, so waren sie so entfernt von dem, was die Beiden in jenem Augenblicke dachten, daß sie an ihrem Geiste vorübergeglitten waren.

Gilliatt fuhr fort:

– Wozu braucht Ihr Abschied zu nehmen. Heirathet Euch und fahrt miteinander ab.

Deruchette bebte. Ein Zittern durchlief sie vom Kopf bis zu den Füßen.

Gilliatt sprach weiter:

– Miß Deruchette ist 21 Jahr alt. Sie hängt also nur von sich ab. Ihr Onkel ist nur Ihr Onkel. Ihr liebt Euch.

Deruchette unterbrach ihn sanft:

– Wie kommt es, daß Sie hier sind?

– Heirathet Euch, drängte Gilliatt.

Deruchette fing an zu verstehen, was dieser Mann zu ihr sagte. Sie murmelte:

– Mein armer Onkel …

– Er würde sich vor der Hochzeit weigern, nach der Hochzeit wird er seine Zustimmung geben. Außerdem gehen Sie ja fort. Wenn Sie wiederkommen, wird er Ihnen verzeihen.

Gilliatt fügte mit einem Anfluge von Bitterkeit hinzu: – Und dann denkt er nur noch daran, sein Schiff wiederzubauen. Das wird ihn während Ihrer Abwesenheit beschäftigen. Die Durande wird ihn trösten.

Er gehorchte der Bestechung dieses glücklichen und plötzlichen Umschwunges. Die bei einem Priester wahrscheinlichen Gewissensbisse schmolzen und lösten sich in diesem warmen liebenden Herzen auf.

Gilliatt’s Stimme wurde kurz und hart und hörte sich wie fieberhafte Pulsschläge an:

– Sofort. Der Cashmere segelt in zwei Stunden ab. Ihr habt gerade diese Zeit, aber nur diese Zeit. Kommt.

Ebenezer betrachtete ihn aufmerksam; plötzlich rief er:

– Ich erkenne Euch. Ihr habt mir das Leben gerettet.

Gilliatt antwortete:

– Ich glaube nicht.

– Da unten, an der Bankspitze.

– Ich kenne den Ort nicht.

– An dem Tage meiner Ankunft.

– Verlieren wir keine Zeit.

– Und ich täusche mich nicht, Ihr seid der Mann von gestern Abend.

– Vielleicht.

– Wie heißt Ihr?

Gilliatt sprach mit lauter Stimme:

– Schiffer, erwartet uns. Wir kommen gleich wieder. Fräulein, Sie fragten mich, wie ich hierhin komme; das geschah ganz einfach; ich ging hinter Ihnen. Sie sind 21 Jahre alt. Hier zu Lande sind die Leute dann mündig und hängen von sich selbst ab; man verheirathet sich in einer halben Stunde. Schlagen wir den Weg am Meeresufer ein. Er ist gangbar, da die See erst um Mittag steigt. Aber schnell. Kommt mit mir.

Deruchette und Ebenezer schienen sich durch einen Blick zu fragen. Sie standen nebeneinander, ohne sich zu rühren, sie waren wie trunken. Sie verstanden ohne zu verstehen.

– Er nennt sich Gilliatt, sagte Deruchette zu Ebenezer.

Gilliatt begann mit einem gewissen Nachdruck wieder:

– Worauf wartet Ihr? Ihr sollt mir doch folgen.

– Wohin? fragte Ebenezer.

– Dorthin.

Und Gilliatt zeigte mit dem Finger auf den Glockenthurm der Kirche.

Sie folgten ihm.

Gilliatt ging voran mit festem Schritte. Die beiden schwankten.

Je näher sie dem Thurme kamen, um so mehr drückte sich auf Ebenezer’s und Deruchette’s reinen und schönen Gesichtern die Heiterkeit der Seele aus. So nahe der Kirche zu sein, stimmte sie fröhlich. In Gilliatt’s starrem Auge lag die Nacht.

– Ich möchte nicht, äußerte Deruchette mit einer Stumpfheit, in die sich Freude mischte, Kummer zurücklassen.

– Er wird nicht lange anhalten, antwortete Gilliatt.

Ebenezer und Deruchette waren noch wie versteinert. Sie erholten sich jetzt. Je mehr ihre Verwirrung abnahm, um so besser verstanden sie den Sinn von Gilliatt’s Worten. Eine Wolke blieb noch, aber es war nicht ihre Sache, Widerstand zu leisten. In der Stellung Deruchette’s, die sich unwillkürlich auf Ebenezer stützte, lag etwas, was mit Gilliatt’s Worten gemeinschaftliche Sache machte. Das Räthsel der Gegenwart dieses Mannes und seiner Worte, welche besonders in Deruchette’s Geist mehrfaches Staunen hervorriefen, waren besondere Fragen. Dieser Mann sagte zu ihnen: Heirathet Euch. Das war klar. Gab es dabei eine Verantwortlichkeit, so übernahm er sie. Deruchette fühlte undeutlich, daß er aus verschiedenen Gründen das Recht dazu habe. Was er von Mess Lethierry sagte, war richtig. Ebenezer murmelte nachdenklich: Ein Onkel ist kein Vater.

Er glich fast einem Gespenst, welches zwei Seelen in das Paradies führt.

Der Pfad war ungleich, bisweilen naß und schwer zu gehen. Ebenezer, in Gedanken versunken, achtete nicht auf die Wasserpfützen und hervorragenden Steine. Von Zeit zu Zeit drehte sich Gilliatt um und rief Ebenezer zu: – Nehmen Sie sich vor diesen Steinen in Acht; reichen Sie ihr die Hand.

————

Drittes Capitel. Die Vorsehung der Verleugnung.

Es schlug halb elf Uhr, als sie die Kirche betraten.

Zu dieser Zeit und wegen der Oede in der Stadt an diesem Tage war sie leer.

Im Hintergrunde jedoch befanden sich neben dem Tische, welcher in reformirten Kirchen die Stelle des Altars einnimmt, drei Personen: Der Dekan, sein Vertreter und der Registrator. Der Dekan, der ehrwürdige Jaquemin Herode saß; die beiden andern standen.

Die Schrift lag offen auf dem Tische.

Auf einem Seitentische lag noch ein anderes Buch, das Kirchenregister, ebenfalls offen und in ihm hätte ein aufmerksames Auge eine frischgeschriebene Seite, auf der die Dinte noch nicht ganz getrocknet war, bemerken können. Eine Feder und ein Schreibzeug befanden sich neben dem Register.

Als Se. Ehrwürden Jaquemin Herode Se. Ehrwürden Ebenezer Caudry eintreten sah, erhob er sich.

– Ich erwartete Sie, sagte er. Alles ist bereit.

Der Dekan hatte in der That seine Amtskleidung an.

Ebenezer sah Gilliatt an.

Se. Ehrwürden der Dekan fügte hinzu:

– Ich stehe Ihnen zu Diensten, lieber College.

Und er begrüßte ihn.

Nach der Richtung der Augen des Dekans zu schließen, war der Gruß offenbar nur für Ebenezer bestimmt. Dieser war Geistlicher und ein feiner Weltmann. Der Dekan begriff in seinem Gruße weder Deruchette, die zur Seite, noch Gilliatt, der hinten stand, ein. Es lag in seinem Blicke eine Begrenzung, die nur auf Ebenezer gerichtet war. Das Beobachten dieser Einzelheiten gehört zur guten Sitte und läßt die gesellschaftlichen Beziehungen erkennen.

Der Dekan fuhr mit anmuthig würdevollem Stolz fort:

– Lieber College, ich mache Ihnen ein doppeltes Compliment. Ihr Onkel ist todt und Sie nehmen sich eine Frau; Sie sind reich durch den einen und werden glücklich durch die andere. Uebrigens ist in Folge des Dampfschiffes, welches man wieder herstellen wird, Miß Lethierry jetzt auch reich, was mich freut. Miß Lethierry ist in dieser Pfarre geboren, ich habe den Tag ihrer Geburt nach dem Register eingetragen, sie ist mündig und gehört sich selbst an. Außerdem giebt ihr Onkel, welcher ihre ganze Familie bildet, seine Einwilligung. Sie wollen sich wegen Ihrer Abreise sofort verheirathen, ich verstehe das, obgleich ich der Trauung eines Pfarrers mehr Feierlichkeit gewünscht hätte. Ich stehe aber davon ab, um Ihnen dienen zu können. Wie Sie sehen, ist der ganze Act schon in das Register eingezeichnet, nur die Namen sind noch auszufüllen. Nach dem Gesetze und der Sitte kann die Hochzeit sofort nach dem Einschreiben gefeiert werden. Mein Vertreter wird der Zeuge des Gatten sein; was den der Gattin anbetrifft …

Der Dekan wandte sich Gilliatt zu, welcher ein Zeichen mit dem Kopfe machte.

– Das genügt, fuhr er fort.

Ebenezer blieb unbeweglich. Deruchette war außer sich, wie versteinert.

Der Dekan sprach weiter:

– Ein Hinderniß besteht indeß noch.

Deruchette machte eine Bewegung.

Der Dekan fuhr fort:

Der hier gegenwärtige Abgeordnete Mess Lethierry’s, welcher für Euch die Erlaubniß nachgesucht und die Erklärung im Register unterzeichnet hat – und mit dem Daumen seiner linken Hand deutete der Dekan auf Gilliatt, wodurch er des Nennens eines Namens überhoben wurde – Meß Lethierry’s Abgeordneter sagte mir heute früh, daß Mess Lethierry, zu beschäftigt, um selbst kommen zu können, wünsche, daß die Heirath sofort stattfinde. Dieser Wunsch genügt mündlich nicht. Ich könnte nicht, in Folge der zu bewilligenden Dispense und der Unregelmäßigkeit, welche ich auf mich nehme, so schnell darüber fortgehen, ohne mich bei Mess Lethierry zu unterrichten, wenn man mir nicht seine Unterschrift zeigen kann. So gut auch immer mein Wille ist, so darf ich mich doch nicht mit einem Wort, welches man mir wiedersagt, begnügen. Ich muß etwas Geschriebenes haben.

– Wenn es weiter nichts ist, antwortete Gilliatt.

Und er hielt Sr. Ehrwürden ein Papier hin. Der Dekan nahm dasselbe, durchflog es in einem Augenblick, schien einige, ohne Zweifel überflüssige Zeilen zu übergehen und las dann laut:

– »… Du gehe Deinerseits zu dem Dekan wegen des Dispenses. Ich wünsche, daß die Hochzeit so bald als möglich sei; sofort wäre das Beste.«

Er legte das Papier auf den Tisch und fuhr fort:

– Unterzeichnet Lethierry. Es wäre ehrfurchtsvoller gewesen, die Sache an mich zu adressiren. Da es sich aber um einen Kollegen handelt, so verlange ich weiter nichts.

Ebenezer sah von Neuem Gilliatt an. Es giebt ein Verständniß der Seelen. Ebenezer fühlte, daß Gilliatt betrog; er hatte aber nicht die Kraft, nicht einmal den Gedanken, dies auszusprechen. Sei es aus Gehorsam vor einem dunkeln Heldenmuthe, den er halb ahnte, sei es, daß das Gewissen durch die Fülle des Glückes betäubt wurde; er blieb sprachlos.

Der Dekan nahm die Feder und füllte unter dem Beistande des Registrators die weißen Stellen auf der beschriebenen Seite in dem Register aus, dann drehte er sich um und lud mit einer Handbewegung Ebenezer und Deruchette ein, an den Tisch heranzutreten.

Die Ceremonie begann.

Es war ein heiliger Augenblick.

Ebenezer und Deruchette standen neben einander vor dem Geistlichen. Wer jemals träumte, daß er sich verheirathete, empfand das, was jetzt beide fühlten.

Gilliatt stand in einiger Entfernung im Dunkel der Säulen.

Deruchette hatte sich am Morgen, als sie aufstand, in ihrer Verzweiflung an das Grab und Schweißtuch denkend, weiß angekleidet. Dieser Gedanke an den Tod war zu dem an die Hochzeit geworden. Das weiße Kleid macht sofort die Braut. Das Grab ist auch eine Trauung.

Ein Heiligenschein umgab Deruchette. Nie war sie so reizend, wie in jenem Augenblicke gewesen. Sie hatte den Fehler, vielleicht zu hübsch, und nicht schön genug zu sein. Ruhig, das heißt ohne Leidenschaft und Kummer, war Deruchette, wie wir schon gesagt haben, überaus lieblich. Deruchette war durch Liebe und Leiden groß geworden. Sie hatte dieselbe Zartheit mit mehr Würde, dieselbe Frische mit mehr Würze erhalten, gleichsam als wenn sich ein Maßliebchen in eine Lilie verwandelt hätte.

Die Feuchtigkeit versiegter Thränen war auf ihren Wangen zu sehen, vielleicht lag noch eine Zähre in dem Winkel ihres Lächelns. Getrocknete kaum sichtbare Thränen sind dem Glücke ein düsterer und schöner Schmuck.

Der Decan, neben dem Tische stehend, legte einen Finger auf die offene Bibel und fragte laut:

– Erhebt Jemand Einspruch?

Niemand antwortete.

– Amen, sagte der Dekan.

Ebenezer und Deruchette traten Seiner Ehrwürden einen Schritt näher.

Der Dekan sagte:

– Joë Ebenezer Caudray, willst Du dieses Weib zur Gattin haben?

Ebenezer antwortete:

– Ich will es.

Der Dekan fuhr fort:

– Durande Deruchette Letthierry, willst Du diesen Mann zum Gatten haben?

Deruchette, in ihrer Seelenangst und in übermäßiger Freude, murmelte mehr als sie sprach: – Ich will es.

Dann blickte nach dem schönen Ritus der anglikanischen Kirche der Dekan um sich und that in den Schatten der Kirche folgende feierliche Frage:

– Wer giebt dieses Weib diesem Manne?

– Ich, antwortete Gilliatt.

Es entstand ein Schweigen. Ebenezer und Deruchette fühlten einen gewissen unbestimmten Druck durch ihr Entzücken hindurch.

Der Dekan legte Deruchette’s rechte Hand in Ebenezer’s rechte Hand und dieser sagte zu jener:

– Deruchette, ich nehme Dich zu meinem Weibe, sei es, daß Du schlechter oder besser, reicher oder ärmer, krank oder gesund bist, um Dich bis zu Deinem Tode zu lieben, hierauf gebe ich Dir mein Wort.

Der Dekan legte Ebenezer’s Rechte in Deruchette’s Rechte und diese sagte zu jenem:

– Ebenezer, ich nehme Dich zu meinem Mann, sei es, daß Du besser oder schlechter, reicher oder ärmer, gesund oder krank bist, um Dich zu lieben und Dir zu gehorchen bis in den Tod, hierauf gebe ich Dir mein Wort.

Der Dekan fuhr fort:

– Wo ist der Ring?

Daran war nicht gedacht worden. Ebenezer hatte keinen Ring.

Gilliatt zog den Goldreifen ab, welchen er an seinem kleinen Finger trug und reichte ihn dem Dekan. Das war wahrscheinlich der »Trauring«, welcher an demselben Morgen bei dem Goldschmiede auf der Kaufhalle erstanden ward.

Der Dekan legte ihn auf die Schrift und gab ihn dann Ebenezer.

Dieser nahm Deruchette’s kleine, linke, ganz zitternde Hand, steckte den Ring an den vierten Finger und sprach:

– Ich eheliche Dich mit diesem Ringe.

– Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, hob der Dekan an.

– So sei es, fuhr sein Stellvertreter fort.

Der Dekan sprach mit lauter Stimme:

– Ihr seid Gatten.

– So sei es, sprach der Stellvertreter.

Der Dekan fuhr fort:

– Laßt uns beten.

Ebenezer und Deruchette wendeten sich gegen den Tisch und knieten nieder.

Gilliatt blieb stehen und beugte den Kopf.

Jene beugten sich vor Gott, dieser vor seinem Geschicke.

————

Viertes Capitel. Für Deine Frau, wenn Du Dich verheirathen wirst.

Bei ihrem Austritte aus der Kirche sahen sie den Cashmere, welcher sich näherte.

– Ihr kommt zur Zeit, sagte Gilliatt.

Sie schlugen den Weg nach dem kleinen Hafen wieder ein.

Jetzt gingen sie vorn und Gilliatt hinter ihnen.

Es waren zwei Sonnambulen, welche so zu sagen, nur ihr Verzückung gewechselt hatten. Sie wußten nicht, wo sie waren, noch was sie thaten. Sie sprachen nicht, da sie sich zu viele Dinge mit der Seele sagten. Deruchette drückte Ebenezer’s Arm gegen sich.

Gilliatt’s Schritte hinter ihnen ließ sie auf Augenblicke daran denken, daß er hinter ihnen war. Aus dem Grunde ihres Herzens dankten sie ihm glühend und überschwenglich. Deruchette sagte sich, daß später ein gegenseitiges Aussprechen erfolgen müsse. Unterdessen nahmen sie sein Opfer dankbar an. Sie fühlten sich in der Gewalt dieses entschiedenen und schnellen Menschen, der durch sein Auftreten ihr Glück begründet hatte. Fragen an ihn zu richten, mit ihm plaudern, war jetzt unmöglich. Zu viele Eindrücke drängten mit einem Male auf ihn ein.

Deruchette besonders hatte seit einigen Stunden jede Art von Aufregung durchgemacht; zuerst die Ueberraschung, – Ebenezer in dem Garten; dann das Alpdrücken, als Gilliatt zu ihrem Gatten erklärt wurde; hierauf die Trostlosigkeit, als Ebenezer ohne sie zur Abfahrt bereit war; jetzt die Freude, eine unerhörte Freude, mit einem unentzifferbaren Hintergrunde. Das Ungeheuer gab ihr den Engel, die Trauung nach der Todesangst; Gilliatt, gestern das Unheil, war heute das Heil. Sichtlich hatte er seit gestern keine andere Beschäftigung gehabt, als die Vorbereitungen zu ihrer Verbindung zu treffen; er hatte ja an Alles gedacht und Alles gethan: für Mess Lethierry geantwortet, mit dem Dekan gesprochen, die Einwilligung nachgesucht, die verlangte Erklärung unterzeichnet; nur so konnte die Trauung vor sich gehen. Aber Deruchette verstand ihn nicht; und selbst wenn sie das Wie begriffen hätte, würde sie nicht das Warum verstanden haben.

Eine Erklärung war zu lang, ein Dank zu kurz. Sie schwieg in dieser süßen Betäubung des Glücks.

In einigen Minuten waren sie am Havelet.

Ebenezer trat zuerst in das Boot. In dem Augenblicke, wo Deruchette ihm folgen wollte, fühlte sie sich an ihrer Hand sanft zurückgehalten. Es war Gilliatt, er hatte einen Finger auf eine Falte ihres Kleides gelegt.

– Madame, sprach er, Sie waren nicht darauf vorbereitet, abzureisen. Ich habe geglaubt, daß Sie vielleicht Kleider und Wäsche nöthig haben würden. Sie werden an Bord des Cashmere einen Koffer mit Frauensachen finden. Dieser Koffer stammt von meiner Mutter her und war für meine zukünftige Frau bestimmt. Erlauben Sie, daß ich ihn Ihnen anbiete.

Deruchette erwachte halb aus ihrem Traum und wandte sich zu Gilliatt, der mit leiser und kaum verständlicher Stimme fortfuhr:

– Jetzt ist es keine Zeit, Sie aufzuhalten, aber, Madame, ich glaube, Ihnen eine Erklärung schuldig zu sein. An dem Tage, an welchem sich das Unglück ereignete, befanden Sie sich in dem niedrigen Saale und sagten ein Wort. Sie erinnern sich dessen nicht; das ist ganz einfach. Man braucht sich nicht jedes Wortes zu erinnern, das man geredet hat. Mess Lethierry war sehr bekümmert. Gewiß war es ein gutes Schiff und leistete gute Dienste. Das Unglück auf dem Meere geschah; das ganze Land gerieth in Aufregung. Das sind natürliche Dinge, welche man vergessen hat. Das Schiff schien zwischen den Klippen verloren. Ich wollte nur sagen, daß man meinte, Niemand würde hingehen. Ich ging hin. Man sagte, es sei unmöglich; ich habe gezeigt, daß es nicht unmöglich war. Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir einen kleinen Augenblick zuhören. Sie begreifen, Madame, wenn ich dahin ging, so war es gewiß nicht, um Sie zu beleidigen. Außerdem schreibt sich die Geschichte schon von langer Zeit her. Ich weiß, daß Sie jetzt eilig sind. Wenn Sie Zeit hätten, wenn Sie sprächen, würden Sie sich erinnern; aber das dient zu nichts. Die Geschichte datirt bis zu einem Tage zurück, an welchem Schnee fiel. Und dann einmal, als ich an Ihnen vorüberging, glaubte ich, daß Sie lächelten. So erklärt sich das. Gestern nun hatte ich keine Zeit, in meine Wohnung zu gehen; ich kam von der Arbeit, war ganz zerrissen, jagte Ihnen Furcht ein; Sie befanden sich unwohl, man geht freilich nicht so zu Leuten; ich bitte Sie, mir deshalb nicht zu zürnen. Das ist Alles, was ich Ihnen sagen wollte. Sie werden abreisen. Es wird schönes Wetter sein. Es weht Ost. Leben Sie wohl, Madame. Sie werden es natürlich finden, daß ich ein wenig mit Ihnen sprach. Nicht wahr? Es ist die letzte Minute.

– Ich denke an den Koffer, erwiederte Deruchette. Aber warum heben Sie ihn nicht für Ihre Frau auf, wenn Sie sich verheirathen?

– Madame, ich werde mich wol nicht verheirathen.

– Das wäre schade, denn Sie sind gut. Ich danke Ihnen.

Und Deruchette lächelte. Gilliatt erwiederte das Lächeln.

Dann half er Deruchette beim Besteigen des Bootes.

In weniger als einer Viertelstunde landete er mit Deruchette und Ebenezer auf der Rhede am Cashmere.

————

Fünftes Capitel. Das große Grab.

Gilliatt folgte dem Strande, ging schnell nach St. Pierre Port und dann nach St. Sampson am Meere entlang, sich wissentlich jeder Begegnung entziehend und alle belebten Wege vermeidend.

Seit langer Zeit war es, wie man weiß, seine Manier, das Land nach allen Richtungen hin zu durchstreifen, ohne von Jemand gesehen zu werden. Er kannte jeden Steg, alle einsamen und krummen Wege; er hatte die wilde Gewohnheit eines Wesens, welches sich nicht geliebt weiß; er blieb allein. Da er schon als kleines Kind in den Augen der Menschen kein Entgegenkommen sah, so hatte er früh die Neigung gehabt, allein zu sein und diese Neigung hatte sich später zum Instincte ausgebildet.

Er durchschritt die Esplanade, dann die Galerie. Von Zeit zu Zeit blickte er sich um und betrachtete hinter sich auf der Rhede den Cashmere, der so eben unter Segel ging. Es war geringer Wind; er ging schneller als das Schiff, immer auf dem äußersten Felsen am Ufer entlang mit gesenktem Kopfe. Die Fluth begann zu steigen.

Nach einer gewissen Zeit blieb er stehen und betrachtete, den Rücken dem Meere zukehrend, über die Felsen hinaus, welche den Weg nach Valle verdeckten, einen Eichenhain. Es waren die Eichen des Ortes, welcher die »Niedrigen Häuser« heißt. Dort unter diesen Bäumen hatte einst Deruchette’s Finger seinen Namen Gilliatt in den Schnee geschrieben. Schon lange war dieser Schnee geschmolzen.

Er setzte seinen Weg fort.

Im ganzen Jahre war noch kein so schöner Tag gewesen. Der Morgen hatte etwas Bräutliches. Es war einer jener Frühlingstage, an denen sich der Mai ganz in seiner Pracht entfaltet; die Schöpfung schien keine andere Absicht zu haben, als sich ein Fest zu geben und glücklich zu machen. Unter jedem Geräusche, im Walde wie im Dorfe, im Meere wie in der Luft, hörte man ein Girren. Die ersten Schmetterlinge wiegten sich auf den ersten Rosen. Alles war neu in der Natur, die Gräser, Moose, Blätter, Düfte und Strahlen. Durch alle Oeffnungen im Grünen schimmerte das Blau des Himmels. Einige schmachtende Wolken jagten sich auf dem Azur mit schwebenden Nymphen. Man glaubte Küsse, welche von unsichtbaren Lippen gewechselt wurden, vorüberfliegen zu hören. Es gab nicht eine Mauer, welche nicht, wie ein Brautführer, ihren Levkoyen-Strauß gehabt hätte. Der Frühling warf all sein Gold und Silber in den ungeheuren, von Gehölzen durchflochtenen Korb. Die neuen Schößlinge erschienen in ganz frischem Grün. Man hörte in der Luft lautes Willkomm-Rufen. Ueberall ließen eine göttliche Fülle und ein geheimnißvolles Wehen die panhafte und heilige Anstrengung der sich hervorarbeitenden Triebe ahnen. Was glänzte, glänzte heller; was liebte, liebte inniger. Lobgesänge lagen auf den Blumen und Entzücken auf dem Geräusch. Die große, überall verbreitete Harmonie entfaltete sich. Die Blume versprach dunkel die Frucht, alles Jungfräuliche träumte, die von der unendlichen Seele des Schattens vorgedachte Wiederauferstehung der Wesen spiegelte sich in allen Dingen wieder. Man verlobte sich überall und heirathete sich ohne Ende. Das Leben, das Weib, verband sich mit dem Unendlichen, dem Manne. Es war schön, hell und warm; durch die Hecken, in den Gebüschen sah man Kinder lachen. Einige spielten Verstecken. Die Aepfel-, Pfirsich-, Kirsch- und Birnbäume bedeckten die Pfade mit ihren großen, blassen oder rothen Blüthen. In dem Grase sproßten die Schneeglöckchen, Wintergrün, Primeln, Maßliebchen, Narzissen, Tausendschön, Veilchen und Veroniken. Die Arbeiterinnen der Bienen schwärmten und gingen ihren Geschäften nach. Die Ebene war voll des Murmelns der Gewässer und des Schwirrens der Fliegen. Die Natur, dem Frühling überall zugänglich, schwelgte in Ueppigkeit.

Als Gilliatt in St. Sampson ankam, bedeckte noch kein Wasser den Grund des Hafens, er konnte ihn trockenen Fußes durchschreiten und unbemerkt hinter den zum Ausbessern liegenden Schiffskielen hergehen. Eine Reihe großer und flacher Stämme, welche daselbst lag, erleichterte ihm das Gehen.

Gilliatt wurde nicht bemerkt. Die Menge drängte sich nach der andern Seite des Hafens hin, in die Nähe der kleinen Bucht bei den Bravées. Dort war sein Namen im Munde Aller. Man sprach von ihm so viel, daß man auf ihn selbst nicht achtete. Gilliatt ging vorüber, gewissermaßen unter dem Aufsehen, welches er erregt, verborgen.

Von Weitem sah er die Barke an der Stelle, wo er sie festgemacht hatte, den Rauchfang der Maschine zwischen seinen vier Ketten, die Bewegungen der arbeitenden Zimmerleute, die verwirrten Umrisse Kommender und Gehender und hörte die donnernde und frohe Stimme des Befehle austheilenden Mess Lethierry.

Er verschwand in den Gassen.

Niemand war hinter den Bravées, die ganze neugierige Menge vor ihnen. Gilliatt schlug den Weg ein, welcher an der niedrigen Gartenmauer entlang ging, blieb in der Ecke stehen, wo die wilde Malve wuchs, sah den Stein wieder, auf welchem er, und die Holzbank, auf welcher Deruchette gesessen hatte. Er betrachtete den Fleck, auf welchem die beiden, jetzt verschwundenen Schatten sich umarmt hatten.

Er ging weiter, er erstieg den Hügel des Schlosses Balle, stieg wieder hinab und lenkte seine Schritte nach Bû de la Rue.

Das Houmet-Paradis war einsam und leer.

Sein Haus war so, wie er es am Morgen verlassen hatte, als er sich nach dem Ankleiden nach Saint-Pierre Port begab.

Ein Fenster stand offen, durch dasselbe sah er die Bug-pipe an einem Nagel in der Wand hängen.

Man bemerkte auf dem Tische die kleine Bibel, welche er zum Danke von einem Unbekannten erhalten hatte. Dieser Unbekannte war Ebenezer.

Der Schlüssel befand sich in der Thür. Gilliatt näherte sich derselben, schloß die Thür doppelt ab, steckte den Schlüssel in seine Tasche und entfernte sich.

Er entfernte sich, nicht nach dem Lande, sondern nach dem Meere zu.

Er durchschritt schräg seinen Garten, auf dem kürzesten Wege und ohne die schmalen Einfassungen zu beachten, aber vorsichtig die Seakalen vermeidend, für welche Deruchette eine Vorliebe besaß.

Er übersprang den Zaun, stieg zur Brandung hinab und begann der schmalen und langen, immer vor ihm hinlaufenden Klippenreihe zu folgen, welche Bû de la Rue mit dem großen Granitobelisken verband, welcher mitten im Meer steht und das Ochsenhorn heißt. Dort befand sich die Chaise Gild-Holm-Ur.

Er ging von einer Klippe zur andern, wie ein Riese aus Berggipfeln. Ueber eine solche Klippenreihe forteilen ist dasselbe, als wenn Jemand auf einem Dachfirst geht.

Eine Hamenfischerin, welche mit nackten Füßen in den wenig entfernten Wasserlachen umherstrolchte und dem Ufer zueilte, rief ihm nach: Nehmt Euch in Acht. Das Meer kommt.

Er ging weiter.

Als er bei dem großen, vorspringenden Felsen, dem Horne, welcher aus dem Meere heraus eine hohe Zinne bildet, angekommen war, blieb er stehen. Das Land hörte dort auf. Es war der äußerste Vorsprung des kleinen Vorgebirges.

Er blickte um sich.

Auf hoher See lagen einige Barken fischend vor Anker. Von Zeit zu Zeit, wenn das Wasser aus den Netzen herausfloß, sah man auf diesen Barken im Sonnenschein einen Silberregen. Der Cashmere war noch nicht auf der Höhe von St. Sampson; er hatte sein großes Marssegel entfaltet und befand sich zwischen Herm und Jethou.

Gilliatt ging um den Felsen und gelangte unter die Chaise Gild-Holm-'Ur, am Fuße jener zerrissenen Treppe, welche herabzusteigen er vor weniger als drei Monaten Ebenezer geholfen hatte. Er erklomm sie.

Die meisten Stufen waren schon unter Wasser, nur noch zwei oder drei, welche er hinaufkletterte, trocken.

Diese Stufen führten zur Chaise Gild-Holm-'Ur. Er kam vor dieser an, betrachtete sie einen Augenblick, legte seine Hand auf seine Augen, fuhr mit ihr langsam erst über das eine und dann über das andere Auge, als wenn er die Vergangenheit durch diese Bewegung auslöschen wollte, und ließ sich dann in jener Felsenhöhle, die Böschung hinter seinem Rücken und den Ocean zu seinen Füßen, nieder.

In diesem Augenblicke fuhr der Cashmere um den großen, runden, im Wasser stehenden Thurm, welchen ein Sergeant und eine Kanone bewachen und welcher auf der Rede zwischen Herm und Saint-Pierre Port steht.

In den Spalten über Gilliatt’s Kopfe schwankten einige Felsblumen. Das Wasser war blau, so weit das Auge reichte und Ostwind. Um Serk herum giebt es wenig Stellen, von denen man nur Guernesey’s Westküste erblickt. In der Ferne steht man das nebelgleiche Frankreich und Carteret’s lange und gelbe Sandufer. Hin und wieder schwebte ein weißer Schmetterling vorüber. Die Schmetterlinge wiegen sich nämlich gern über dem Meere.

Der Wind war sehr schwach, das ganze Blau, in der Höhe, wie in der Tiefe, unbeweglich.

Der Cashmere, nur wenig vom Winde getrieben, hatte, um diesen besser aufzufangen, seine Marshauben aufgehißt und mit Segeln bedeckt. Da der Wind von der Seite kam, so zwang er ihn mittelst seiner Hauben, sich dicht an der Küste von Guernesey zu halten. Er hatte die Bake zu Saint-Sampson hinter sich und erreichte jetzt den Schloßhügel von Balle. Der Augenblick nahte, in dem er die Spitze von Bû de la Rue umfahren mußte.

Gilliatt sah ihn kommen.

Luft und Meer schienen zu schlummern. Die Fluth stieg nicht sprungweise, sondern ganz allmählig. Der Spiegel der Meeres bewegte sich ohne Zuckungen. Das sanfte Rauschen der hohen See glich dem Athmen eines Kindes.

Man hörte von dem Hafen St. Sampson her kleine, dumpfe Schläge, den Ton der Hämmer. Sie rührten wahrscheinlich von den Zimmerleuten her, welche Krahnen und Winden herrichteten, um die Maschine aus der Barke zu heben. Dieser Lärm drang in Folge der Granitmasse, an welche sich Gilliatt angelehnt hatte, kaum bis zu dessen Ohr.

Der Cashmere näherte sich mit gespensterhafter Langsamkeit.

Gilliatt wartete.

Plötzlich zogen ein Klatschen und das Gefühl von Kälte seine Augen nach unten. Die Fluth berührte seine Augen.

Er blickte erst hinunter, dann nach oben.

Der Cashmere war ganz nahe.

Die Böschung, an der die Regen die Chaise Gild-Holm-'Ur ausgegraben hatten, war so steil und so viel Wasser war da, daß die Schiffer bei ruhigem Wetter gefahrlos bis auf einige Kabellängen vom Felsen Strich halten konnten.

Der Cashmere kam immer näher, hob sich, senkte sich und schien auf dem Meere zu wachsen. Es war wie das Umsichgreifen eines Schattens. Das Takelwerk schnitt unter dem prächtigen Wogen des Meeres schwarz vom Himmel ab. Die langen Segel, einen Augenblick vor der Sonne schwebend, wurden fast rosenroth und von unbeschreibbarer Durchsichtigkeit; die Wellen murmelten eine unverständliche Sprache. Kein Laut störte das majestätische Dahingleiten dieses Schattenbildes. Man unterschied Alles auf dem Deck, als wenn man sich selbst dort befände.

Der Cashmere strich neben dem Felsen hin.

Der Steuermann stand am Ruder, ein Schiffsjunge erkletterte die Rüstseile, einige Passagiere an das Geländer gelehnt, betrachteten das wunderbar schöne Wetter, der Capitän rauchte. Aber das Alles sah Gilliatt nicht.

Auf dem Decke war ein von der Sonne beschienener Fleck. Dorthin blickte er. In diesem Sonnenlichte saßen Ebenezer und Deruchette; er neben ihr. Anmuthig schmiegten sie sich aneinander, wie zwei Vögel, welche sich an den Mittagsstrahlen wärmen, auf einer jener, mit einem getheerten Plan bedeckten Bänke, welche gut eingerichtete Schiffe für ihre Passagiere bereit halten und über denen man auf englischen Schiffen: » Nur für Damen«, liest. Deruchette’s Kopf lag auf Ebenezer’s Schulter, der seinen Arm um ihre Hüfte hielt; ihre Hände lagen mit verschlungenen Fingern in einander. Diese beiden von der Natur bevorzugten, von der Unschuld geschaffenen Gestalten sahen sich so gleich, wie ein Engel dem andern. Die eine Gestalt war jungfräulicher, die andere himmlischer. Ihr keusches Umfangen war so zart und rein. Es schwebte ein himmlischer Glanz über dieser Bank. Der sanfte Glanz der in einer Wolke dahingleitenden Liebe. Das größte Schweigen herrschte.

Ebenezer’s Auge sprach Dank aus und betrachtete; Deruchette’s Lippen bewegten sich und in diesem köstlichen Schweigen, als der Wind nach dem Lande hin ging, in dem Augenblicke, in dem die Schaluppe einige Klafter von der Chaise entfernt vorüberglitt, hörte Gilliatt die zarte und zärtliche Stimme Deruchette’s sagen:

– Sieh da. Es scheint ein Mensch auf dem Felsen zu sein.

Die Erscheinung ging vorüber.

Der Cashmere ließ die Spitze vom Bû de la Rue hinter sich und furchte in die tiefen Wellenthäler hinein. In weniger, als einer Viertelstunde waren ihre Masten und Segel nur noch eine Art weißen Obeliskes auf dem Meere, der nach dem Horizonte hin verschwand. Das Wasser reichte Gilliatt bis zum Knie.

Er sah die Schaluppe sich entfernen.

Die Brise frischte auf. Er sah, wie der Cashmere seine untere Hauben und Foksegel aufhißte, um den verstärkten Wind zu benutzen. Jetzt war er schon aus dem Wasser von Guernesey. Gilliatt verließ ihn nicht mit den Augen.

Das Wasser reichte ihm bis zum Gürtel. – Die Fluth stieg. – Die Zeit verging.

Die Möven und Kormoranen umflogen ihn unruhig. Sie schienen ihn warnen zu wollen. Vielleicht befand sich unter diesen Vogelschaaren eine von den Douvres-Klippen, welche ihn erkannte.

Eine Stunde verflog.

Der Wind auf hoher See war auf der Rhede nicht fühlbar, aber der Cashmere entfernte sich schnell. Die Schaluppe fuhr allem Anscheine nach mit vollen Segeln und war fast auf der Höhe der »Helme.«

Kein Schaum zeigte sich um den Felsen Gild-Holm-‚Ur, keine Welle schlug den Granit. Das Wasser schwoll ruhig an und reichte Gilliatt fast bis zu den Achseln.

Eine zweite Stunde verfloß.

Der Cashmere war jenseits der Wasser von Aurigny. Der Ortach-Felsen verbarg ihn auf einen Augenblick. Er trat in seinen Schatten ein und kam dann wieder aus ihm hervor, wie ans einer Verfinsterung. Die Schaluppe floh gen Norden, gewann das hohe Meer und glich jetzt nur noch einem unter den Sonnenstrahlen aufblitzenden Punkte.

Die Vögel stießen ein leises Geschrei nach Gilliatt gewendet aus.

Man sah nur noch seinen Kopf.

Das Meer stieg mit düstrer Langsamkeit.

Gilliatt, unbeweglich, sah, wie der Cashmere verschwand.

Die Fluth war fast auf ihrer Höhe. Der Abend näherte sich. Hinter Gilliatt kehrten einige Fischerboote auf die Rhede zurück.

Gilliatt’s Auge, in der Ferne aus die Schaluppe geheftet, blieb unbeweglich.

Diesem starren Auge glich nichts auf Erden. In diesem traurigen und ruhigen Sterne lag etwas Unbeschreibbares. Dieser Blick enthielt die ganze Ruhe, welche ein nicht erfüllter Traum zurückläßt. Von Augenblick zu Augenblick wuchs die Finsterniß unter diesen Lidern, deren Blick auf einen Punkt im Raume geheftet blieb. Zugleich mit dem unendlichen Wasser um den Felsen Gild-Holm-‚Ur stieg die unendliche Ruhe des Schattens in Gilliatt’s tiefem Auge.

Der Cashmere, unerkennbar geworden, war jetzt mit dem Nebel ein verschmolzener Punkt. Um ihn noch unterscheiden zu können, mußte man wissen, wo er war.

Nach und nach verblaßte dieser Fleck, welcher keine Form mehr hatte.

Dann verkleinerte er sich.

Dann verschwand er.

In dem Augenblicke, wo das Schiff hinter dem Gesichtskreise versank, verschwand der Kopf Gilliatts unter dem Wasser. Nichts war mehr, als das Meer.

 

Ende.

 

Druck von Otto Janke in Berlin.

Zweites Buch. Mess Lethierry.


Erstes Capitel. Unruhiges Leben, ruhiges Gewissen.

Mess Lethierry, ein angesehener Mann in St. Sampson, war ein tüchtiger Seemann. Er hatte sich in seinem Leben fleißig auf dem Wasser herumgetummelt und, so zu sagen, von der Pike aus gedient. Er hatte alle Grade der Seemannslaufbahn durchgemacht. Vom Schiffsjungen war er zum Segelaufhisser, vom Segelaufhisser zum Steuerbootsmann, vom Steuerbootsmann zum Hochbootsmann, vom Hochbootsmann zum Zeugmeister, vom Zeugmeister zum Obersteuermann, vom Obersteuermann zum Capitain avancirt. Jetzt war er ein Rheder. Das war ein Mann, der seinen See-Katechismus im Kopfe hatte. Bei Strandungen war er auf dem Platze. In Sturm und Wetter sah man ihn am Meeresufer. Er beobachtete die Wolken, den Wind, das Meer, die Schiffe; er hatte das Auge überall. Was ist das Schwarze da hinten? Es ist ein strandendes Schiff. Es ist ein Sardellenboot aus Weymouth – ein Kutter aus Aurigny – die Yacht eines Lord – es ist ein Franzose – ein Engländer – ein Armer – ein Reicher – es ist der Teufel – einerlei! Er sprang in’s Boot, rief ein paar tüchtige Leute zusammen; waren sie nicht rasch genug zur Hand, so ging er allein und that alles Notwendige selber. Er löste das Bindseil, ergriff das Ruder, und hinaus ging es in die offene See. Bergauf, bergab tanzte das Schifflein zu der Musik des Sturmes und der Begleitung der zischenden brausenden Wogen, trotzend der Gefahr. Man sah ihn aufrecht stehen in seinem Boot, den tapferen Helden des Meeres, vom Sturm gepeitscht, von Blitzen umzuckt, triefend von Himmels- und Meerwasser, das Gesicht eines Löwen mit einer Mähne von Schaum. Er wagte für Menschen, Schiffe und Güter tausend und aber tausend Mal sein Leben, denn das war seine Lust. Es war seine Lust, dem Sturm seinen Raub abzujagen. War er aber Abends nach Hause zurückgekehrt so – strickte er Strümpfe.

Dieses Leben führte er fünfzig Jahre, vom zehnten bis zum sechzigsten, so lange er jung war. Als er sechszig Jahre zählte, war er nicht mehr, wie ehemals im Stande, den Ambos der Schmiede zu Varclin, welcher dreihundert Pfund wog, mit einem Arme zu heben. Der Rheumatismus hatte ihn gefangen genommen; er mußte dem Meere entsagen. Nun war für ihn der Uebergang aus dem Zeitalter der Herren in das der Patriarchen gekommen; er war nun nichts weiter als ein guter alter Herr.

Mit dem Rheumatismus war auch der Wohlstand bei ihm eingekehrt. Diese beiden Früchte der Arbeit halten gute Kameradschaft miteinander, sie kommen meistens zusammen. Wenn man reich wird, wird man gelähmt. Das ist der Lohn eines Lebens.

Man sagt sich: jetzt wollen wir uns des Lebens freuen.

Auf Inseln wie Guernesey giebt es zweierlei Menschen, solche, welche ihren Acker bauen, und solche, die die Erde umreisen. Das sind die beiden Arbeiter-Arten, welche diese Inseln hervorbringen: Land- und Meer-Arbeiter. Mess Lethierry war Einer von den Letzteren. Doch war ihm auch das Land nicht fremd: er kannte Land und Meer, mit Beiden war er vertraut. Ein Leben voll harter Arbeit lag hinter ihm. Er war auf dem Continent gewesen und hatte lange Zeit in Rochefort und auch später in Cette als Schiffszimmermann gearbeitet. Wir sprachen eben von der Reise um die Welt. Dazu gehört auch Frankreich, welches er als Schiffszimmermanns-Geselle in allen Richtungen durchwanderte. Dann hatte er in der Franche-Comté in den Salinen gearbeitet und überhaupt das Leben eines Abenteurers geführt. In Frankreich lernte er lesen, denken und wollen. »Prüfet Alles und behaltet das Beste,« war sein Wahlspruch, und er hatte Alles geprüft, Alles gesehen, Alles versucht, Alles gethan, und überall die Probe der Redlichkeit bestanden. Er war ein geborener Seemann; das Wasser gehörte ihm. Die Fische sind meine Gäste, sagte er. Sein ganzes Leben, zwei, höchstens drei Jahre abgerechnet, hatte er dem Ocean geweiht: in’s Wasser geworfen, wie er sich ausdrückte. Er hatte alle großen Meere befahren, das Atlantische, wie das Stille Meer; doch gab er dem Canal den Vorzug. Von ihm sagte er mit begeisterter Liebe: » Das nenn‘ ich ungestüm!« An seinen Ufern war er geboren, dort wollte er auch sterben.

Nachdem er zwei Mal die Erde umkreist hatte, wußte er, was er von ihm zu halten hatte. Er zog sich nach Guernesey zurück, und blieb dort sitzen. Seine Reisen beschränkten sich auf Granville und St. Malo.

Mess Lethierry war ein Guerneseyer, also ein Normanne; das heißt ebensowohl Engländer als Franzose. In ihm und für ihn aber war diese, seine vierfache Heimath unter- und aufgegangen in dem, seiner einen großen Heimath, dem Ocean. Immer und überall in seinem Leben hatte er die Sitten des Fischers der Normandie bewahrt. Das verhinderte ihn indessen nicht, gelegentlich eine alte Scharteke aufzuschlagen, gern ein Buch zu lesen, die Namen aller Dichter und Philosophen zu kennen und alle möglichen Sprachen ein wenig zu radebrechen.

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Zweites Capitel. Mess Lethierry’s Liebhaberei.

War Gilliatt menschenscheu, so war es Mess Lethierry nicht weniger, doch hatte seine Menschenscheu eine gewisse Eleganz.

In Bezug auf Frauen war er anspruchsvoll. In seiner Jugend, man kann sagen seiner Kindheit, zwischen Matrosen und Schiffsjungen, hatte er einmal den Amtmann von Suffren ausrufen hören: Siehe da! Ein hübsches Mädchen. Schade, daß sie so verteufelt große rothe Hände hat! Das Wort eines Admirals ist in allen Dingen Befehl, und deßhalb hatte auch dieser Ausruf einen großen Eindruck auf das Gemüth des kleinen Schiffsjungen gemacht. Von diesem Augenblicke an wurde Lethierry sehr anspruchsvoll im Punkt der kleinen, weißen Händchen, obgleich die seinen breite, mahagonifarbige Spaten waren. Es waren Keulen an Leichtigkeit, Schmiedezangen an Zartheit, und sie konnten Pflastersteine zermalmen, wenn sie sich zur Faust schlossen.

Mess Lethierry hatte sich nicht verheirathet. Vielleicht fand er nicht, was er suchte, vielleicht hatte er aber gar nicht gesucht. Oder sollte seine Ehelosigkeit das Resultat einer vergeblichen Jagd nach kleinen Händen sein? Die feinen Hände einer Herzogin sucht man vergeblich bei den Fischerinnen von Portbail.

Er soll indessen noch einmal in seinem Leben die Bekanntschaft solcher Hände gemacht haben, und zwar in Rochefort – so erzählen wenigstens die Leute. Dort fand er nämlich sein Ideal in Gestalt einer Grisette, welche nicht allein schön war, sondern auch die allerzierlichsten Hände hatte, die man sehen konnte. Dieses reizende Wesen verleumdete aber und kratzte, so daß es gefährlich war, mit ihr etwas zu thun zu haben.

Obgleich mit Hülfe der Scheere für den Nothgebrauch zu Krallen zugespitzt, waren die Nägel dieser niedlichen Händchen von untadelhafter Sauberkeit; es waren Nägel ohne Furcht und Tadel. Diese reizenden Nägel hatten Lethierry bezaubert; später zwar fürchtete er sich ein wenig davor, und um sein eigener Herr zu bleiben, führte er dies Liebchen nicht zum Traualtar.

In Aurigny lernte er ein anderes Mädchen kennen, welches ihm gefiel. Dies Mal dachte er an’s Heirathen; er wollte schon Vorbereitungen treffen, als Jemand zu ihm sagte: Ich mache Euch mein Compliment, Ihr werdet eine gute Frau bekommen: sie ist erprobt.

– Wieso?

– Sie blieben hängen.

– Was?

– Die Kuhfladen.

Der gute Bürger von Aurigny erklärte nun dem erstaunten Lethierry das Räthsel folgendermaßen. Jedes Mädchen, sagte er, das bei uns zu Lande ein Freier als Hausfrau heimführen will, muß sich erst durch den Kuhfladenwurf als künftige gute Wirthschafterin legitimiren. Der Akt der Legitimation aber wird so vollzogen. Das Mädchen muß auf eigentümliche Art einen Kuhfladen an die Wand werfen. Bleibt dieser hängen, so ist es ein gutes Zeichen; er trocknet dann an der Wand, fällt ab, und wird als Brennmaterial benutzt. Man nennt dies Torfmachen. Bei uns heirathen die Männer nur gute Torfmacherinnen. Dieses Talent mußte Lethierry etwas anrüchig erschienen sein, denn von Stunde an kehrte er der-Kuhfladen-Torf-Fabrikantin den Rücken. Er war, wie gesagt, sehr anspruchsvoll im Punkte der Zartheit bei dem schönen Geschlecht.

Uebrigens hatte Lethierry im Punkte der Liebe, oder vielmehr der Liebesaffairen, seine eigenen Ansichten.

Er war ein Anhänger jener gesunden Philosophie, welche stets den breiten Weg zu ihrem Ziele wählt und liebte deßhalb in einer Frau nicht das Geschlecht, sondern er liebte die Frau in ihrem ganzen Geschlecht. Er machte auch kein Hehl daraus, sondern gestand ganz offen, daß ihm der »Unterrock« in seiner Jugend oft gefährlich gewesen sei. Was man damals Unterrock nannte, heißt jetzt Crinoline. Mit diesem Ausdruck bezeichnet man etwas mehr, und etwas weniger als eine Frau.

Die Seeleute des normannischen Inselmeers sind nicht ohne Geist und Kenntnisse. Fast Alle können lesen, und man sieht des Sonntags winzige Schiffsjungen von acht Jahren, ein Buch in der Hand, auf einer Segeltuchrolle sitzen und emsig lesen. Zu allen Zeiten aber waren die normannischen Schiffer aufgeräumte, muntere, witzige Leute. Sie machten gern bei Gelegenheit ihr Späßchen und waren in Wortspielen ganz besonders erfinderisch. Einer von ihnen, ein verwegener Lootse mit Namen Quéripel, sagte zu dem nach Jersey geflüchteten Montgomery, in Beziehung auf dessen unglücklichen Lanzenwurf, der Heinrich II. das Leben kostete: » Ein Tollkopf hat einen Hohlkopf zerbrochen!« Ein Anderer, ein Schiffscapitain zu St. Brelade, Namens Toupeau, machte jenes philosophische Wortspiel, das mit Unrecht dem Bischof Camus zugeschrieben wurde: Nach dem Tode werden die Päpste, des Bannstrahls Schmetterer, zu Schmetterlingen und die Majestäten zu Madenstätten.

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Drittes Capitel. Man ist verwundbar in dem was man liebt.

Mess Lethierry hatte das Herz auf der Hand; eine breite Hand, ein großes Herz. Sein größter Fehler war jene bewunderungswürdige Eigenschaft: das Vertrauen. Er hatte eine besondere Weise sein Wort zu geben. Wenn er sagte: Ich gebe dem lieben Gott mein Ehrenwort darauf, so konnte ihn selbst der Teufel nicht abhalten, sein heiliges Versprechen zu erfüllen. Er glaubte an den lieben Gott, sonst an nichts. In die Kirche ging er nur, wenn die Höflichkeit ihn gelegentlich dazu veranlaßte. Auf dem offenen Meere war er abergläubisch.

Dennoch machte ihn selbst der heftigste Sturm nicht muthlos. Das kam daher, weil Mess Lethierry den Widerspruch nicht ertragen konnte. Er duldete ihn vom Ocean eben so wenig, wie von einem Anderen. Alles sollte ihm gehorchen. Mochte immerhin das Meer zuweilen sich bäumen, er wußte es stets auf seine Seite zu bringen, denn es war einmal sein Grundsatz, niemals zu weichen. Weder eine aufsteigende Woge, noch ein streitsüchtiger Nachbar konnten ihn von diesem Grundsatz abbringen. Was er einmal gesagt hatte, das war gesagt, und was er sich einmal vorgenommen hatte, das stand fest. Er ließ sich eben so wenig von einer Gegenrede als von einem Sturm beirren. Das Wort: »Nein« existirte für ihn weder auf den Lippen eines Menschen, noch in dem Grollen des Donners. Ja er ging noch weiter: er duldete keinen Widerspruch. Sein Eigensinn im gewöhnlichen Leben und seine Kühnheit auf dem Ocean gaben davon Zeugniß.

Er bereitete sich gern seinen Teller Fleischsuppe selber, wobei er die richtige Dosis Pfeffer und Kräuter auf ein Haar zu treffen wußte, und was er selbst gekocht hatte, schmeckte ihm am besten. Mess Lethierry war linkisch auf dem Lande, doch eigener Art und furchtbar auf dem Meere; er hatte einen Lastträgerrücken, fluchte niemals, und der Zorn war bei ihm eine äußerst seltene Erscheinung; seine Stimme war gewöhnlich schwach und sanft, verstärkte sich aber im Sprachrohr zum Donnerton. Er war ein Bauer, der die Encyklopädie gelesen, ein Guerneseyer, welcher die Revolution gesehen, ein gelehrter Unwissender; er war nicht bigott, aber ein Phantast; er hatte mehr Glauben an die weiße Frau, als an die heilige Jungfrau; seine Kraft war die eines Polyphem, seine Logik die einer Wetterfahne, sein Wille der eines Columbus. Er hatte Etwas von einem Stier und Etwas von einem Kinde. Uebrigens hatte er eine Stumpfnase, kräftige Backen, einen Mund mit kerngesunden und vollständigen Zähnen; ein faltiges, sonnenverbranntes, schon fünfzig Jahre von dem Meerwasser bespültes und von der Windrose wieder getrocknetes Gesicht; eine Stirn, auf der beständig Wetterwolken drohten. Denke Dir zu diesem rauhen harten Seemanns-Gesicht noch ein gutmüthig blickendes Auge hinzu, so hast Du Mess Lethierry wie er leibt und lebt.

Mess Lethierry hatte zwei Neigungen: Durande und Deruchette.

Erstes Buch. Worauf ein schlechter Ruf sich gründet.

 

Erstes Capitel. Ein Wort, geschrieben auf ein weißes Blatt.

Der Weihnachtstag des Jahres 182* zeichnete sich zu Guernesey durch ein ganz unerhörtes Factum aus: Es schneite an diesem Tage. Auf den Inseln des Canals ist Eis eine Merkwürdigkeit und Schnee ein Ereigniß.

An diesem Christmorgen war der Weg am Ufer des St. Patrikhafens ganz weiß. Es hatte von Mitternacht bis gegen Morgen geschneit. Bald nach Sonnenaufgang, etwa um die neunte Stunde, um welche Zeit die Anglikaner noch nicht in die Kirche von St. Sampson und die Wesleyaner noch nicht nach der Kapelle Eldad zu wandern pflegen, war der Weg am Ufer noch fast menschenleer. Auf der ganzen Strecke, welche die Thürme beider Kirchen von einander scheidet, befanden sich nur drei Wanderer, ein Kind, ein Mann und ein Weib. Jeder Einzelne dieser Fußgänger schritt, getrennt von den Uebrigen, einsam seines Weges dahin; kein sichtbares Band vereinigte sie. Das Kind, welches ungefähr acht Jahre zählen mochte, war stehen geblieben und beobachtete mit Neugier den Schnee. Der Mann ging in einer Entfernung von ungefähr hundert Schritten hinter der Frau her und verfolgte gleich ihr, den Weg nach Saint-Sampson. Er war noch jung; sein Aeußeres verrieth einen Arbeiter oder Matrosen. Er trug seinen Werktagsanzug, einen Kittel von grobem Tuch und ein nach unten betheertes Beinkleid, was anzudeuten schien, daß er ungeachtet des Festtages in keine Kirche zu gehen beabsichtigte. Seine schweren Schuhe waren von rohem Leder, mit dicken eisernen Nägeln beschlagen; sie hinterließen im Schnee Spuren, welche eher einem Gefängnißschlosse, als den Fußtapfen eines Menschen glichen. Die weibliche Fußgängerin hatte eine sorgfältigere Toilette gemacht; sie trug ersichtlich ihren Sonntagsstaat, welcher aus einem weiten wattirten schwarz seidenen Mantel bestand, der ein sehr kokettes Kleid von irischem Popelin mit rosa und weißen Falbelas in seine reichen Falten hüllte. Hätte sie nicht rothe Strümpfe getragen, so hätte man sie für eine Pariserin halten können. Sie schritt mit jenem leichten und elastischen Gang eines jungen Mädchens dahin, dem das Leben noch keine Bürde ist. Ihre Haltung besaß jene flüchtige Grazie, die der zartesten Uebergangsperiode eigen ist, welche zwei Dämmerungen, die der endenden Kindheit und der beginnenden Jungfräulichkeit mit einander verbindet. Der männliche Wanderer hatte für alles Dieses keine Augen.

Als sie jedoch, in der Nähe eines Eichengebüsches, den ein Hanffeld begrenzte, an einem Orte angekommen war, welchen man »die niedrigen Häuser« nannte, wandte sie sich um, und nun sah ihr der Mann in’s Angesicht. Sie blieb stehen, schien ihn einen Augenblick zu beobachten, und er glaubte zu bemerken, daß sie mit dem Finger etwas in den Schnee schrieb. Dann erhob sie sich schnell, verdoppelte ihre Schritte, sah sich nochmals um, lächelte, und verschwand dann links hinter den Hecken, welche den Weg begrenzen, der nach dem Schlosse von Lierre führt. Als sie sich zum zweiten Male umgewendet hatte, erkannte sie der Mann: es war Deruchette, ein reizendes Landmädchen.

Er fühlte nicht das geringste Bedürfniß, seinen Schritt zu beschleunigen; einige Augenblicke später erreichte er den Eichenbusch am Winkel des Hanffeldes. Er dachte schon nicht mehr an Diejenige, welche soeben diese Stelle verlassen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß, wenn in diesem Moment ein Delphin aus dem Meer hervorgetaucht, oder ein Rothkehlchen im Busch gesungen hätte, er das Auge auf den kleinen Vogel oder den Fisch gerichtet haben würde. Zufällig hatte er in diesem Augenblick die Wimper gesenkt, und so kam es, daß unwillkürlich sein Blick an jener Stelle haftete, auf welcher das junge Mädchen stehen geblieben war. Zwei kleine Fußspuren bezeichneten dieselbe, und daneben las der Wanderer das in den Schnee geschriebene Wort »Gilliatt.«

Es war sein Name.

Er hieß Gilliatt.

Lange blieb er regungslos auf dieser Stelle stehen, betrachtete die Schrift, sowie die in den Schnee eingedrückten kleinen Fußspuren, und ging dann gedankenvoll weiter.

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Zweites Capitel. Das Gespensterhaus.

Gilliatt wohnte in der Pfarrei von Saint-Sampson. Er war dort nicht beliebt. Das hatte seine Gründe.

Erstens bewohnte er ein Haus, in dem es nicht geheuer war. Dem, welcher die Gegend von Jersey und Guernesey besucht, begegnet es wohl leicht, daß ihm auf dem Lande, in der Stadt, in irgend einem einsamen Winkel, oder auch in einer belebten Straße, ein Haus auffällt, dessen Eingang verbarrikadirt ist. Stechpalmen und Dorngestrüpp versperren die Thür; mit Nägeln beschlagene Bretter bedecken wie häßliche Pflaster die Fenster des Erdgeschosses. Die des oberen Stockwerks sind zugleich geschlossen und geöffnet; die Rahmen der Fenster nämlich sind alle sorgfältig verriegelt, die Scheiben jedoch sämmtlich zerbrochen. Wenn solch ein Haus einen Hof hat, wächst fußhohes Gras darin; hat es zufällig auch einen Garten, so kann man sich darauf verlassen, daß in demselben eine Fülle von Unkraut, Brennnesseln, Dornen und Schierling wuchert, und man kann darin die Bekanntschaft vieler seltener Insecten machen. Im Innern aber ist das Haus zerfallen; die Schornsteine sind geborsten, die Dächer schadhaft, die Balken verfaulen, die Steine verschimmeln, die Tapeten der Zimmer hängen in Fetzen von den entblößten Mauern herab. Man kann auf diesen Fetzen die wechselnden Moden der verschiedenen Epochen studiren. Man findet auf ihnen die Greife des Kaiserreichs, die bogenartigen Draperien des Directoriums, wie die Geländer und Halbsäulen, welche den Geschmack des Zeitalters Ludwig XVI. kennzeichneten. Die dichten Spinnengewebe mit ihrer Menge von Fliegenleichen lassen auf den tiefsten Frieden, die ungestörteste Ruhe dieser fleißigen Arbeiterinnen schließen. Hie und da bemerkt man einen zerbrochenen Topf auf einem Brett. Von solchen Häusern sagt man, es spuke darin, und der Teufel treibe dort allnächtlich sein Wesen.

Ein Haus kann, wie der Mensch, eine Leiche werden. Der Aberglaube vermag es zu tödten. Dann ist es ein Gegenstand des Grauens. Diese todten Häuser sind nicht selten auf den Inseln des Canals.

Die Land- und Seeleute verstehen, was den Teufel betrifft, keinen Spaß. Die vom Canal, dem englischen Archipelagus und der französischen Küste haben ihre ganz bestimmten Vorstellungen von ihm. Der Teufel hat nach ihrer Meinung seine Abgesandten in allen Weltgegenden. Belphegor ist sein Gesandter in Frankreich, Hutgin in Italien, Belial in der Türkei, Thamutz in Spanien, Martinet in der Schweiz und Mammon in England. Satan ist so gut Kaiser wie ein Anderer. Satan-Cäsar! Er macht ein großes Haus. Dagon ist Groß-Bannerträger, Succor Benoth das Haupt der Eunuchen, Asmodeus der Chef der Spielbanken, Kobal Theater-Director und Verdelet Groß-Ceremonienmeister; Nybbas ist der Hofnarr; Wiérus, den ausgezeichneten Gelehrten, guten Vampyrkenner und wohlunterrichteten Dämonograph, nennt Nybbas »den großen Parodisten.«

Die Fischer der Normandie sind auf offner See sehr auf ihrer Hut vor den Blendwerken des Teufels. Man war lange Zeit der Meinung, daß der heilige Maclou den großen viereckigen Felsen Ortach bewohne, welcher sich zwischen Aurigny und den Klippen von Gers befindet, und viele alte Matrosen versichern, ihn oft auf diesem Felsen sitzend und in einem Buche lesend gesehen zu haben. Vorüberfahrende Schiffer versäumten es daher auch niemals, vor dieser Steinmasse andächtig ihr Kniee zu beugen, bis die Alles besiegende Wahrheit auch diese Sage verdrängte. Man hat seitdem die Entdeckung gemacht, daß der Bewohner des Felsens Ortach kein Heiliger, sondern ein Teufel sei. Dieser Teufel, mit Namen Jochmus, hatte sich arglistiger Weise mehrere Jahrhunderte hindurch für den heiligen Maclou ausgegeben. Solche Irrthümer kommen vor; ist doch die Kirche selber zuweilen darin befangen. Die Teufel Raguhel, Oribel, Tobiel waren Heilige bis zu dem Jahre 745, wo der Papst Zacharias ihre Teufelei gewittert und sie ausgetrieben. Um solche Austreibungen vornehmen zu können, welche sicherlich sehr nützlich sind, muß man in der Teufelei sehr bewandert sein.

Die alten Landleute erzählen – jedoch gehören diese Thatsachen der Vergangenheit an – daß die katholische Bevölkerung des normännischen Archipelagus, obgleich gegen ihren Willen, mit dem Bösen in engerer Verbindung stand als die Hugenotten. Warum? wissen wir nicht. Sicher ist, daß diese Minorität ehemals vom Bösen sehr geplagt wurde. Der Teufel hatte die Katholiken in ganz besondere Affection genommen, und zog ihren Umgang dem der Hugenotten vor, was für die Wahrscheinlichkeit spricht, daß der Teufel eher Katholik als Protestant ist. Zu den unerträglichsten Vertraulichkeiten, welche er sich herausnahm, gehörten die nächtlichen Besuche, die er katholischen Eheleuten in dem Augenblick, wo der Mann schon ganz, die Frau jedoch erst halb eingeschlafen war, abstattete. Daher die vielfachen Mißgeburten. Patrouillet erklärte Voltaire’s Entstehung auf diese Weise. Diese Meinung ist nicht ganz unwahrscheinlich. Ein solcher Fall ist übrigens ganz bekannt und in den Beschwörungsformeln unter der Rubrik: de erroribus nocturnis et de semine diabolorum beschrieben. Er wurde zu St. Helier mit ganz besonderer Strenge behandelt; wahrscheinlich zur Strafe für die Sünden der Revolution. Die Folgen der revolutionären Frevel sind unberechenbar. Wie dem aber auch sein mag, die Möglichkeit eines nächtlichen Besuchs vom Teufel machte vielen rechtgläubigen Frauen großen Kummer. Es ist freilich nicht angenehm, einen Voltaire zur Welt zu bringen. Eine dieser Frauen erkundigte sich in ihrer Herzensangst bei ihrem Beichtiger nach einem Mittel, noch bei Zeiten dem Unfug dieser Verwechselung zu steuern. Der Beichtvater antwortete: Wenn Ihr wissen wollt, ob Ihr es mit Eurem Manne oder mit dem Teufel zu thun habt, so dürft Ihr ihn nur an die Stirn fassen; fühlt Ihr dort Hörner, so könnt Ihr sicher sein, daß … Was denn? fragte die Frau.

Das Haus, welches Gilliatt bewohnte, gehörte ehemals zu denen, in welchen es spukte. Jetzt zwar stand es nicht mehr in dem Ruf, allein gerade deshalb war es um so verdächtiger. Es herrschte kein Zweifel, daß. wenn in einem Haus, in welchem es spukte, ein Hexenmeister wohne, der Teufel dasselbe gut verwahrt glaube und dann so höflich sei, wie der Arzt zum Kranken, der nur, wenn er gerufen wird, kommt.

Dieses verrufene Haus also hieß das Gespensterhaus. Es befand sich an der Spitze einer Land- oder vielmehr Felsenzunge, welche einen eigenen kleinen Ankerplatz in der Bucht von Houmet-Paradis bildete. Das Wasser ist dort tief. Fast abgeschnitten von der übrigen Insel, stand das Haus ganz allein auf der Landzunge; das geringe Erdreich seiner Umgebung lieferte nur nothdürftig den Raum zu einem kleinen Gemüsegarten. Zur Zeit der Fluth stand derselbe völlig unter Wasser. Zwischen dem Hafen von St. Sampson und der Bucht von Houmet-Paradis befindet sich der große Hügel, welchen die mit Epheu umrankten Thürme des Schlosses du Valle krönen. Man konnte daher von St. Sampson aus das Gespensterhaus nicht sehen.

In Guernesey sind Hexenmeister noch etwas ganz Gewöhnliches. Diese Art Leute üben in gewissen Kirchspielen ihr Geschäft aus, ohne daß das neunzehnte Jahrhundert etwas dagegen einzuwenden hätte. Die Ausübung dieser Künste ist wahrhaft sträflich. Sie machen Gold, pflücken um Mitternacht Kräuter, und behexen das Vieh durch den bösen Blick. Man holt sich Rath bei ihnen, bringt ihnen das Wasser der Kranken und schüttelt kummervoll den Kopf, wenn sie sagen: »Das Wasser scheint höchst bedenklich.« Einer von ihnen hatte im März des Jahres 1857 in dem Wasser eines Kranken nicht weniger als sieben Teufel entdeckt. Solche Leute sind eben so gefürchtet als furchtbar. Ein Anderer von Ihnen hatte einmal einen Bäcker sammt seinem Backofen verhext. Wieder ein Anderer hatte die Bosheit, mit der größesten Sorgfalt Briefcouverts zu versiegeln, welche nichts enthielten. Noch ein Anderer hatte in seinem Hause drei Flaschen auf einem Brette stehen, welche mit einem Etiquette versehen waren, auf welchem der Buchstabe B zu lesen war. Diese Thatsachen sind erwiesen. Einige dieser Zauberer sind sehr mitleidiger Natur; sie übernehmen für drei Goldgulden die Krankheiten ihrer Nebenmenschen, wälzen sich auf ihren Betten umher und schreien. Währenddessen sind die Kranken gesund und von ihren Qualen erlöst. Anderen helfen sie durch ein Taschentuch, welches sie ihnen um den Leib binden. Es ist dabei nur zu verwundern, daß man nicht schon früher an dieses höchst einfache Heilmittel gedacht. Im vorigen Jahrhundert wurden diese Leute durch den Gerichtshof zu Guernesey zum Scheiterhaufen verurtheilt und verbrannt; in unserer Zeit sperrt man sie acht Wochen ein: vier Wochen bei Wasser und Brod, und vier Wochen in Einzelhaft. Beide Strafarten wechseln mit einander ab. Amant alterna catenae.

Der letzte Scheiterhaufen, auf welchem man einen Hexenmeister verbrannte, wurde zu Guernesey im Jahre 1747 errichtet. Die Stadt hatte zu dieser außerordentlichen Gelegenheit einen ihrer Plätze, den Kreuzweg der Doggs, hergegeben. Von 1565 bis 1700 wurden auf diesem Platze elf Zauberer verbrannt. In den meisten Fällen legten die Schuldigen ein Geständniß ab. Man erleichterte es ihnen durch die Folter. Dieser Kreuzweg leistete der Gesellschaft und der Religion auch noch andere Dienste. Man verbrannte dort die Ketzer unter Maria Tudor, unter anderen Hugenotten auch eine Mutter, Perrotine Massy mit ihren zwei Töchtern. Eine dieser Töchter war in gesegneten Umständen und genas auf dem Scheiterhaufen eines Knäbleins. Die Chronik bewahrt dieses merkwürdige Ereigniß der Nachwelt durch folgende Notiz auf: Ihr Leib spaltete sich, und es entglitt ihm ein Kindlein, welches vom Scheiterhaufen herab auf die Erde rollte. Ein Mann, Namens House, hob das Kindlein auf, aber der Herr Landvogt Hélier Gosselin, ein guter Katholik, ließ dasselbe wieder in die Flammen werfen.

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Drittes Capitel. Für Deine Frau, wenn Du Dich vermählst.

Kehren wir zu Gilliatt zurück.

Man erzählte sich dort zu Lande, daß gegen das Ende der Revolution eine Frau mit einem kleinen Kinde nach Guernesey gekommen wäre, vermuthlich eine Engländerin; war sie dies nicht, so war sie wahrscheinlich eine Französin. Sie hatte einen Namen, aus welchem die Sprache und die Orthographie der Einwohner von Guernesey den Namen Gilliatt machte. Diese Frau lebte allein mit ihrem Kinde, das Einige für ihren Neffen, Andere für ihren Sohn, und wieder Andere für keins von Beiden hielten. Sie hatte nur gerade so viel Geld, um knapp davon leben zu können. Sie kaufte eine Wiese nahe bei dem Polizeigericht und ein Grundstück in Crespel bei Roquaine. In dem Gespensterhause spukte es zu dieser Zeit. Es war seit dreißig Jahren nicht bewohnt worden, und fiel in Trümmer. Der Garten, durch gar zu häufige Ueberschwemmungen verwüstet, brachte Nichts hervor.

Außer dem allnächtlichen Lärmen und den Lichtern, welche man in diesem Hause flackern sah, erzählten sich die Leute auch noch eine höchst merkwürdige und in der That sehr grauenhafte Geschichte, welche dort passirte. Man sagte, daß wenn man am Abend vor dem Schlafengehen einen Knäuel Strickwolle nebst Stricknadeln auf das Kamin lege und einen Teller voll Suppe daneben stelle, so fände man am nächsten Morgen den Teller leer und daneben ein Paar gestrickte Fausthandschuhe. Man bot das Haus sammt dem darin sein Wesen treibenden Kobold für einige Pfund Sterling zum Kaufe an. Diese Frau, entweder vom Teufel oder von der Billigkeit verführt, wagte den Kauf. Ja, sie that mehr als das: sie bewohnte auch das Gespensterhaus mit ihrem Knaben, und von diesem Augenblick an wurde es dort ganz ruhig. Die Leute meinten, das Haus hätte nun, was es wollte. Die Gespenster hörten auf, ihr Wesen zu treiben. Man hörte des Morgens nicht mehr schreien und toben, und sah kein anderes Licht darin, als das Talglicht, welches die gute Frau jeden Abend anzündete. Das Licht eines Zauberers, sagten die Leute, ist so gut wie die Fackel des Teufels. Diese Erklärung genügte dem Publicum.

Die Frau lebte von dem Ertrag ihrer wenigen Morgen Landes und von einer guten Kuh, die vortreffliche Milch und gelbe Butter lieferte. Sie verkaufte, wie jede andere Frau vom Lande, ihre Pastinakwurzeln in kleinen Tonnen, ihre Zwiebeln in Bündeln, sowie Bohnen und Kartoffeln metzenweise. Doch brachte sie ihre Waaren nicht selber zu Markte, sondern ließ sie durch einen Bekannten, einen Landmann aus der Umgegend, Namens Guilbert Falliot, feil bieten.

Die Schäden des baufälligen Hauses wurden mühsam ausgebessert, und es wurde wieder in einen etwas wohnlichen Zustand gesetzt. Es mußte schon arges Unwetter sein, wenn das Wasser durch die Dachritzen und Oeffnungen in die Stuben lief. Die Wohnung bestand aus einem Erdgeschoß und einem Speicher. Das Erdgeschoß hatte drei Säle, welche durch eine Leiter mit dem Speicher in Verbindung standen. Die Frau besorgte nicht nur Haus und Küche, sondern lehrte auch ihr Kind lesen. In die Kirche ging sie nicht. Aus diesem Umstande schloß man, daß sie eine Französin sei. Das »Nirgend-Hingehen« erregte große Bedenklichkeiten.

Im Ganzen genommen wußte man nicht recht, was man aus diesen Leuten machen sollte.

Eine Französin konnte diese Frau wohl sein. Vulkane werfen Steine, Revolutionen Menschen aus. Ganze Familien werden aus ihrem natürlichen Boden gerissen und in fremdes Erdreich verpflanzt; die verschiedenen Glieder zerstreuen und verlieren sich. Menschen fallen aus den Wolken: Diese weht der Wind nach Deutschland, Jene nach England, Andere nach Amerika. Die Eingeborenen dieser Länder wundern sich: »Wo kommen diese Fremden her?« Der Vesuv hat sie ausgespieen. Man giebt diesen ausgestoßenen, verlorenen, aus der Luft gefallenen, diesen vom Schicksal bei Seite geschafften Wesen Namen. Man nennt sie Emigrirte, Flüchtlinge, man nennt sie Abenteurer. Wenn sie bleiben, werden sie geduldet; wenn sie gehen, hat man nichts dagegen. Es sind dies oft – und besonders die Frauen unter ihnen – harmlose Geschöpfe, den Ereignissen, die sie aus ihrer Heimath vertrieben, völlig fremd, und verwundert, ohne ihr Verschulden, ohne Haß noch Zorn zu hegen; sich als von vulkanischen Auswürfen in die Luft geschleuderte Körper betrachten zu müssen. Arme, aus ihrem heimathlichen Boden gerissene Pflanzen, suchen sie im fremden Land, so gut sie können, Wurzel zu fassen. Sie, die Niemandem etwas zu Leid gethan. verstehen das ihnen auferlegte Schicksal nicht. Ich sah, wie einst ein armseliges Büschel Gras von einer Pulvermine in die Luft gesprengt wurde, wie sich die Halme von einander trennten, wie sie sich in der Luft zerstreuten und verloren gingen. Die französische Revolution hatte mehr solcher Ausgeworfener als irgend ein anderer Ausbruch. – Die Frau, welche man in Guernesey Gilliatt nannte, war vielleicht der Halm eines solchen Grasbüschels.

Sie wurde alt, ihr Knabe wuchs heran. Sie lebten allein; von Jedermann gemieden, genügten Mutter und Sohn einander. »Wölfin und Wölflein liebkosen sich,« sagten die wohlwollenden Nachbarn. Der Knabe wurde ein Jüngling, der Jüngling ein Mann. Der Baum des Lebens schält sich, die alten Rinden fallen ab und machen den jungen Platz. Die Mutter starb. Sie hinterließ ihrem Sohne ihre Wiese, ihr Grundstück und das alte, baufällige Haus. Im Inventarium waren ferner hundert Goldgulden aufgeführt, welche sich in einem Strumpfe befinden sollten. Das Haus war anständig ausgestattet; es befanden sich in demselben zwei eichene Koffer, zwei Betten, sechs Stühle und andere Utensilien. Auf einem Brett waren einige Bücher aufgestellt, und in der Ecke eines Zimmers stand ein Koffer von durchaus gewöhnlichem Aussehen, welcher wegen des aufzunehmenden Inventariums geöffnet werden mußte. Dieser Koffer war von falbem Leder; es waren Arabesken darin eingepreßt, und der Deckel war mit kupfernen Nägelköpfen und zinnernen Sternchen geziert. Derselbe enthielt eine vollständige weibliche Aussteuer, Hemden und Unterröcke von holländischer Leinwand, und seidene Kleider im Stück. Es lag ein Zettel dabei, worauf die Worte zu lesen waren: » Für deine Frau, wenn du dich vermählst

Dieser Tod verursachte dem Ueberlebenden großen Kummer. War er bisher ungesellig, so wurde er nun förmlich menschenscheu. Die Welt ward ihm zur Einöde. Es war nicht mehr Einsamkeit; es war völlig Leere um ihn. Zweien ist stets das Leben leicht; dem Einsamen, Verlassenen wird es zur Last, zur Bürde, die er kaum zu tragen vermag. Er versucht es auch gar nicht. Das ist der Anfang der Verzweiflung. Später lernt man es begreifen, daß uns das Leben die Pflicht auferlegt, es zu ertragen. Man betrachtet den Tod, man betrachtet das Leben und willigt darein, diese Pflicht auf sich zu nehmen; doch wird der Entschluß mit blutendem Herzen gefaßt.

Gilliatt war noch jung, seine Wunde vernarbte. In seinem Alter heilen noch die Herzenswunden. Seine persönliche Schwermuth milderte sich in dem Anblick der Natur. Dieses Gefühl, das eine Art von Reiz hat, zog ihn von den Menschen ab zu den Dingen, und söhnte seine Seele mehr und mehr mit der Einsamkeit aus.

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Viertes Capitel. Unbeliebtheit.

Gilliatt war, wie schon gesagt, in seinem Kirchspiel nicht beliebt. Dieser Unbeliebtheit fehlte es nicht an Ursachen. In erster Reihe stand das Haus, welches er bewohnte. Sodann wußte man so gut wie gar nichts über seinen Ursprung. Wer war jene Frau? Und was hatte es mit dem Kinde für eine Bewandtniß? Die Leute in dortiger Gegend zerbrechen sich nicht gern den Kopf über die Fremden, welche sich in ihrer Gegend ansiedeln. Ferner gab ihnen der Arbeiter-Anzug des Sohnes zu denken. Warum kleidet er sich wie ein Arbeiter, wenn er zu leben hat und nicht zu arbeiten braucht? Alsdann war es höchst auffallend, daß der Garten dieser Leute trotz der Aequinoctialstürme und der häufigen Ueberschwemmungen so gedieh, daß er prächtige Kartoffeln und ausgezeichnetes Gemüse lieferte. Und was mochte es wohl mit den großen dicken Büchern sein, die auf dem Brette standen, und in welchen Gilliatt so häufig las?

Aber das war noch nicht Alles!

Woher kam es, daß Gilliatt so allein das düstere Gespensterhaus bewohnte? Es war eine Art Lazareth; man hielt ihn in Quarantaine; so war es ganz natürlich, daß man sich über seine Einsamkeit wunderte und ihn dafür verantwortlich machte.

Er ging niemals in die Kirche. Oft ging er in der Nacht aus seinem Hause; er mußte mit Zauberern verkehren. Ein Mal überraschte man ihn in einem höchst auffälligen Zustande von Geistesabwesenheit im Grase sitzend, wo er mit Kräutern, Blumen und Steinen Zwiegespräche hielt. Man schwor darauf, es gesehen zu haben, wie er vor dem singenden Felsen eine Verbeugung machte. Es war ferner ebenso auffallend als unbegreiflich, daß er alle Vögel, welche ihm zum Kaufe angeboten wurden, fliegen ließ. Er war zwar artig und zuvorkommend gegen die Bürger von St. Sampson; man bemerkte indessen, daß er Umwege machte, um ihnen auszuweichen. Er fischte häufig und kam nie ohne Beute nach Hause. Man sah ihn Sonntags in seinem Garten arbeiten. Er hatte bei Gelegenheit eines Durchmarsches von einem schottischen Soldaten eine Flöte gekauft, auf welcher er bei einbrechender Nacht am Meeresstrand und in den Felsenriffen blies. Seine Bewegungen waren wie die eines Säemannes. War es ein Wunder, wenn er unter solchen Umständen nicht beliebt war? Was sollte wohl ein Land mit einem solchen Menschen anfangen?

Die Bücher, welche ihm die Verstorbene hinterlassen, und in denen er zuweilen las, waren nicht minder beunruhigend. Der hochwürdige Herr Pastor Jaquemin Hérode bemerkte bei Gelegenheit des Begräbnisses der verstorbenen Frau auf dem Rücken der Bücher folgende äußerst verdächtige Titel: Dictionnaire von Rosier, Candide, von Voltaire, Gesundheitslehre für das Volk, von Tissot. Ein französischer Emigrant, welcher sich nach St. Sampson zurückgezogen hatte, hielt es für sehr möglich, daß dieser Tissot derselbe sei, welcher den Kopf der Prinzessin von Lamballe auf einem Spieß getragen habe.

Der hochwürdige Herr Pastor hatte übrigens auch noch auf einem anderen Buche den ebenso sonderbaren als bedrohlichen Titel: » De Rhabarbero « gelesen.

Es muß jedoch hinzugefügt werden, daß das Buch, wie schon der Titel besagt, in lateinischer Sprache abgefaßt war; es war daher anzunehmen, daß Gilliatt, welcher diese Sprache nicht verstand, besagtes Buch auch nicht gelesen hatte.

Aber gerade die Bücher, welche ein Mensch nicht lies’t, zeugen gegen ihn. Die spanische Inquisition hat dieses außer allen Zweifel gestellt.

Das Buch war übrigens nur eine Abhandlung des Doctor Tilingius über den Rhabarber, welche im Jahre 1679 in Deutschland erschienen war.

Man wußte es nicht ganz genau, aber man hatte Gilliatt sehr stark im Verdacht, daß er allerhand Zaubertränke bereitete, denn er war im Besitz von Phiolen.

Und warum ging er des Abends aus dem Hause und trieb sich bis Mitternacht auf den steilen Küstenabhängen umher? Ohne allen Zweifel, um mit den bösen Geistern Umgang zu pflegen, welche des Nachts an den Ufern des Meeres, auf den Felsenriffen und im Nebel hausen.

Man wußte, daß er einmal einer alten Hexe, mit Namen Montonne Gahy, einen Karren aus dem Schlamme ziehen half.

Bei Gelegenheit einer Einwohner-Zählung, welche auf den Inseln vorgenommen wurde, gab er auf die Frage nach seinem Stand und seiner Beschäftigung den Beamten folgende, ebenso merkwürdige als verdachterregende Antwort: » Ich fische, wenn es etwas zu fischen giebt

Stellen wir uns auf den Standpunkt der Leute, so werden wir leicht begreifen, welchen Anstoß derartige Antworten geben mußten.

Armuth und Reichthum sind relative Begriffe. Gilliatt hatte eine Wiese, Felder und Haus. Im Vergleich zu Denen, welche gar Nichts hatten, war er nicht arm zu nennen. Eines Tages fragte ihn ein Mädchen, entweder um seine Meinung zu prüfen, oder einer Werbung entgegen zu kommen – denn Weiber heirathen ja den Teufel, wenn er reich ist – ob, und wann er sich zu verheirathen gedächte. Gilliatt antwortete ihr: » An dem Tag, an welchem sich der singende Berg verheirathet

Dieser singende Berg ist ein großer Felsblock, welcher das Hanffeld des Herrn Lemezurier de Fry durchschneidet. Dieser Steinmasse ist nicht zu trauen, sie muß sorgfältig überwacht werden. Es ist eine unerklärliche, aber deshalb nicht minder auffällige Thatsache, daß auf besagtem Felsen ein Hahn kräht, den man wohl hören, allein nicht sehen kann. Dieses eben so unwiderlegte als unwiderlegliche Factum ist höchst unheimlicher Art. Man ist ferner darüber einig, daß der singende Berg von Kobolden in das Hanffeld des Herrn Lemezurier de Fry geschoben wurde.

Wenn in der Nacht unter Blitz und Donner schwarze Gestalten in den rothen Wolken des Himmels und in der zitternden Luft erscheinen, so kann man sich darauf verlassen, daß es Kobolde sind. Eine Frau in Grand Mellier kennt sie ganz genau. Als eines Abends ein Fuhrmann unschlüssig an einem Kreuzweg stand und nicht recht wußte, welche Richtung er einschlagen sollte, rief sie ihm zu: Fragt nur die Kobolde; es sind gute, sehr umgängliche Geister, höflich und leutselig gegen Jedermann, die gern den Leuten Rath ertheilen. Es ist Hundert gegen Eins zu wetten, daß diese Frau eine Hexe war.

Der eben so scharfsinnige als gelehrte König Jacob I. ließ alle Weiber dieser Art lebendig brühen, kostete die Brühe und entschied nach dem Geschmack der Brühe, ob es eine Hexe war oder nicht. Schade, daß die Könige der Jetztzeit nicht auch solche Talente besitzen, welche die Nützlichkeit von dergleichen Einrichtungen begreiflich machen.

Gilliatt stand nicht ohne triftige Gründe in dem Geruch der Hexerei. Man sah ihn einmal in der Nacht während eines Sturmes ganz allein in einem Kahn der Gegend der Sommeilleuse zuschiffen. Man hörte ihn fragen: Ist hier wohl durchzukommen?

Eine Stimme antwortete vom Felsen herab: Sieh zu, Verwegner! Mit wem sprach er, wenn nicht mit Einem, der ihm Antwort gab? Die Sache scheint uns ein neuer Beweis für unsere Behauptung.

In einer anderen Sturmnacht, so schwarz, daß man nichts sah, hörte man ganz in der Nähe des Catiau-Roque, der eine Doppelreihe von Felsen bildet, auf welchen Hexen, Ziegenböcke und Gestalten aller Art in der Freitag-Nacht tanzen, die Stimme Gilliatts ganz deutlich. Man belauschte folgendes Gespräch, das er mit den Gespenstern führte.

– Wie befindet sich Meister Brovat? (Das war ein Maurer, welcher vom Dach herab gefallen.)

– ’s geht besser.

–Was Ihr sagt! Er ist höher als von diesem Pfosten heruntergefallen. Es ist wunderbar, daß er sich nichts gebrochen hat! –

– Die Leute hatten vorige Woche gutes Wetter am Strand.

– Besseres als heute.

– Laßt’s gut sein, sie werden ihren Fang schon machen.

– Es ist zu windig.

– Man wird die Netze nicht tief genug legen können.

– Und was macht die Cathrin?

– Ach, die ist wie behext.

Die »Cathrin« war offenbar eine Hexe, und Gilliatt ohne Frage ein Hexenmeister; wenigstens zweifelte Niemand daran.

Er goß auch zuweilen Wasser aus einem Krug auf die Erde. Aber Wasser, welches man auf die Erde gießt, zeichnet die Gestalt von Teufeln.

Es giebt auch auf dem Wege von St. Sampson, nicht weit von dem ersten Felsen drei Steine, welche treppenförmig übereinander liegen. Ehemals stand ein Kreuz, wenn nicht gar ein Galgen darauf; jetzt sind sie leer. Diese Steine sind sehr verrufen.

Ganz erstaunlich kluge und glaubwürdige Leute versichern gesehen zu haben, wie Gilliatt ganz in der Nähe dieser Steine mit einer Kröte sprach. Nun weiß Jeder, der die Gegend von Guernesey kennt, daß es dort keine Kröten giebt; es sind nur Nattern in Guernesey, in Jersey aber giebt es Kröten. Die Kröte, mit welcher Gilliatt sprach, mußte daher von Jersey aus zu ihm geschwommen sein, das lag auf der Hand. Sie plauderten übrigens sehr freundschaftlich mit einander.

Daß dies Alles erwiesene Thatsachen sind, bezeugen die drei Steine, welche noch immer auf derselben Stelle liegen. Wer daran zweifelt, kann sich selber davon überzeugen. Die Steine liegen nahe bei einem Hause, welches an folgendem Schild zu erkennen ist: Hier kauft man todtes und lebendes Vieh, alte Stricke, Eisen, Knochen und Lumpen. Für höfliche Behandlung und prompte Bezahlung wird garantirt.

Es gehört schon böser Wille dazu, die Existenz dieser Steine und dieses Hauses zu leugnen. Alles das schadete Gilliatt.

Nur Unwissende wissen nicht, daß der König von Auxcriniérs das Gefährlichste in den Gewässern des Canals ist. Es giebt kein furchtbareres Seegespenst als ihn. Wer ihn gesehen hat, leidet binnen Jahresfrist Schiffbruch. Er ist klein, denn er ist ein Zwerg, und taub, denn er ist ein König. Er weiß die Opfer, welche das Meer verschlungen, alle mit Namen zu nennen; er kennt die Stellen, wo sie begraben sind; er kennt den Kirchhof Ocean gründlich. Ein oben schmaler, unten breiter Kopf, eine untersetzte Gestalt, ein unförmiger Leib, knotige Auswüchse auf dem Schädel, kurze Beine und lange Arme, Flossen statt der Füße, Krallen statt Hände, ein breites, grünes Gesicht – das ist das Bild des Königs von Auxcriniérs. Seine Krallen sind mit Schwimmhäuten versehen, seine Flossen mit Nägeln. Man denke sich ein Fisch-Gespenst mit einem Menschenantlitz. Um es unschädlich zu machen, müßte man es beschwören oder – angeln. Jedenfalls ist es unheimlich. Nichts ist beunruhigender, als es zu sehen. Eine niedrige Stirne, Stumpfnase, platte Ohren, ein ungeheurer Mund, in welchem die Zähne fehlen, eine gräuliche Mundöffnung, ziegenartig gezeichnete Augenbrauen, große lustige Augen. Wenn falbe Blitze es beleuchten, ist sein Gesicht flammenroth, bei flammenrothen fahl. Er trägt einen starren triefenden Bart, der sich, viereckig gestutzt, auf einer pelzartigen Haut ausbreitet, welche vorn und hinten mit je sieben, also mit vierzehn Muscheln geziert ist. Diese Muscheln sind äußerst merkwürdig für den Kenner. Der König von Auxcriniérs ist nur bei hochgehender See sichtbar; er ist der finstere Possenreißer des Sturmes. Im Regen, Nebel, Wind erkennt man nur undeutlich, wie eine blasse Skizze, seine Formen. Sein Nabel ist häßlich. Ein Schuppenharnisch bedeckt seine Seiten und die Brust. Er erhebt sich über die zischenden Wogen des Meeres, welche sich unter den mächtigen Athemzügen des Sturmes bäumen und sich kräuseln wie Holzspähne unter dem Hobel des Tischlers. Seine Gestalt bleibt unberührt von dem Schaumspritzen, und wenn am Horizont Fahrzeuge erscheinen, welche ihren letzten Kampf mit den Wogen kämpfen, dann strahlt sein im Schatten fahles Antlitz im Glanz eines wüsten Lächelns und, das Antlitz in wahnwitzigem Schrecken verzerrt, beginnt er zu tanzen. Das ist ein böses Begegnen. Zu der Zeit aber, als Gilliatt den Leuten in St. Sampson zu reden gab, hatte der König von Auxcriniérs nur noch dreizehn Muscheln an seinem Barte. Wo war die vierzehnte geblieben? Hatte er sie verschenkt? Und wem hatte er sie geschenkt? Das wußte Niemand zu sagen. Man weiß nur, daß Herr Lupin-Mabier, ein höchst ansehnlicher Mann, dessen Besitzungen sehr hoch abgeschätzt waren, bereit war, eidlich zu erhärten, daß er in den Händen Gilliatt’s eine höchst merkwürdige Muschel gesehen habe.

Es war nichts Seltenes, zwei Bauern aus der dortigen Gegend Gespräche wie folgendes führen zu hören:

– Findet Ihr nicht, Nachbar, daß mein Ochse ein ganz prächtiges Thier ist?

– Zu aufgeschwemmt, Nachbar.

– Hm – könnt Recht haben.

– Nichts Solides – mehr Talg als Fleisch.

– Daß Dich das Wetter!

– Seid Ihr ganz sicher darüber, daß Gilliatt ihn nicht behext hat?

Gilliatt blieb zuweilen auf einem Feldweg bei den Ackersleuten und an den Gärten bei den Gärtnern stehen und sprach dann wohl mitunter geheimnißvolle Worte zu ihnen, z. B.:

– Wenn der Teufelsbiß blüht, schneidet den Winterroggen. (Der Teufelsbiß ist die sogenannte Scabiose.)

– Sobald die Esche Knospen treibt, giebt es keinen Frost mehr. Um die Sommersonnenwende blüht die Distel.

– Wenn es im Juni nicht regnet, bekommt das Getreide den weißen Rost.

– Wenn die Vogelkirsche grün wird, traut dem Vollmond nicht.

– Habt Acht auf das Thun und Treiben der Nachbarn, mit denen Ihr im Rechtsstreit lebt. Wenn ein Schwein heiße Milch trinkt, geht’s caput; und reibt man der Kuh die Zähne mit Lauch ein, so frißt sie nicht mehr und fällt.

– Frischer Schierling bewahrt vor den Fiebern.

– Wenn sich der Frosch zeigt, säet die Melonen.

– Säet die Gerste, wenn’s Leberkraut blüht.

– Wenn die Linde blüht, mähet die Wiesen.

– Wenn die Ulme blüht, werfet die Laichnetze aus.

– Blüht der Tabak, so schließt Eure Gewächshäuser.

Und schrecklich! Wer seinen Rath befolgte, befand sich wohl dabei.

Als er eines Abends in der Gegend von Demie de Fontenelle auf der Düne die Flöte blies, ging der Makrelen-Fang fehl.

Zur Zeit der Ebbe fiel in der Nähe seiner Wohnung ein Frachtwagen um. Wahrscheinlich aus Furcht vor polizeilicher Untersuchung, half er mit der ungeheuersten Anstrengung den Wagen wieder aufrichten, und belud ihn auch selber wieder mit dem herausgefallenen Seegras. Ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft hatte Läuse; da ging Gilliatt nach Saint-Pierre-Port, holte dort eine gewisse Salbe und rieb das Kind damit ein. Er befreite es von seinen Läusen; es ist also klar, daß Gilliatt sie ihr angehext hatte.

Alle Welt ist darüber einig, daß man einem Menschen Läuse anhexen kann.

Er hatte auch die Gewohnheit, die Brunnen in der Umgegend zu besichtigen; ein sehr gefährliches Unternehmen, wenn man » den bösen Blick« hat. Eines Tages wurde das Wasser eines Brunnens so trübe, daß die gute Frau, welcher derselbe gehörte, Gilliatt zu Rathe zog. Dieser besah das Wasser, welches die Frau ihm in einem Glase zeigte, und sagte: Es ist wahr, das Wasser ist trübe. Die gute Frau aber, welche ihm nicht traute, sagte zu Gilliatt: Macht, daß das Wasser wieder gut wird. Er richtete darauf folgende, höchst bedenkliche Fragen an die Frau: – Ob sie einen Stall habe? – Ob dieser Stall einen Abflußkanal habe? – Ob vielleicht dieser Abflußkanal sehr nahe bei dem Brunnen vorbeiflösse? – Die gute Frau sagte zu Allem: Ja.

Da ging Gilliatt in den Stall, machte sich an dem Kanal zu schaffen, leitete die Gosse ab, und das Wasser des Brunnens wurde wieder klar. Man dachte sich am Ort so Mancherlei. Ein Brunnen wird nicht, so mir nichts dir nichts, schlecht und dann wieder gut. Man fand die Verwandlung des Wassers sehr unnatürlich, und der Verdacht lag nahe, Gilliatt habe diesen Brunnen verhext.

Einmal, als er nach Jersey gegangen war, hatte man bemerkt, daß er in einem Hause Quartier genommen, welches in der Schatten-Straße stand. Schatten aber sind bekanntlich Gespenster.

In den Dörfern merken die Leute auf dergleichen Dinge. Sie erkundigen sich nach Allem. Die Erkundigungen werden zu einem Resultat zusammengeschmolzen: dieses bildet den Ruf eines Menschen.

Es kam vor, daß man Gilliatt überraschte, als ihm die Nase blutete. Das war eine wichtige Entdeckung. Ein Bootsmann, welcher fast die ganze Welt gesehen hatte, behauptete, daß bei den Tungusen alle Hexenmeister Nasenbluten hätten. Blutet also einem Menschen die Nase, so weiß man, was man von ihm zu halten hat.

Freilich machten einige vernünftige Leute die Bemerkung, daß, wenn bei den Tungusen die Zauberer auf diese Weise kenntlich wären, dieses in Guernesey nicht in demselben Grade der Fall zu sein brauchte.

Es war zu Michaelis, als man Gilliatt einmal auf einem mit der Heerstraße von Videclins in Verbindung stehenden Feldweg gewahrte. Man sah ihn auf einer Wiese Halt machen und hörte ihn pfeifen. Bald darauf ließ sich in seiner Nähe ein Rabe nieder und es dauerte gar nicht lange, so kam auch eine Elster. Diese Thatsache ist durch einen der glaubwürdigsten Zeugen verbürgt.

Auch waren in der Gegend von Guernesey alte Frauen, welche ganz deutlich gehört haben wollten, wie eines Morgens ganz früh einige Schwalben den Namen Gilliatt gezwitschert hätten. Dazu kam noch, daß Gilliatt ein schlechtes Herz haben mußte.

Ein armer Mann schlug einst einen störrischen Esel, der nicht vorwärts wollte. Als alle Püffe nichts fruchten wollten, gab er ihm mit seinen schweren Holzschuhen einige derbe Fußtritte in die Seiten, so daß der Esel fiel. Gilliatt eilte hinzu, um ihm wieder aufzuhelfen. Der Esel war todt. Gilliatt ohrfeigte den armen Mann.

Ein anderes Mal sah er einen kleinen Knaben von einem Baum herabsteigen, mit einem Nest voll neugeborener fast noch nackter Vögelchen. Gilliatt nahm dem Knaben das Nest aus der Hand und trieb die die Ruchlosigkeit so weit, es wieder dahin zu bringen, wo es der Bube gefunden hatte.

Als einige Vorübergehende ihm Vorwürfe machten, zeigte er statt aller Antwort auf den Baum, wo die Alten ängstlich schreiend das Nest ihrer Jungen umflatterten. Er hatte eine Liebhaberei für Vögel. Das ist ein Zeichen, woran man in der Regel die Zauberer erkennt.

Den Kindern macht es Spaß, die Nester der Seemöven an den steilen Küsten-Abhängen auszunehmen. Sie bringen ganze Massen blauer, gelber und grüner Eier mit nach Hause, welche sie als Zierde des Kamingesimses reihenweise aufpflanzen. Da die Abhänge steil und glatt sind, geschieht es leicht, daß Jemand ausgleitet, fällt und um’s Leben kommt. Nichts ist verlockender für ein Kind, als diese hübschen bunten Vogeleier auf dem Kamin. Was that Gilliatt, um den Kindern das unschuldige Vergnügen zu stören?

Er erkletterte mit eigener Lebensgefahr die höchsten Felsen und brachte Vogelscheuchen an den gefährlichsten Stellen an. So verhinderte er die Vögel, hier zu bauen, und die Kinder hinzugehen.

Darum war Gilliatt beinahe in der ganzen Gegend verhaßt. Wer wäre es nicht, wenn solche Gründe vorliegen?

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Fünftes Capitel. Andere zweideutige Seiten Gilliatts.

Man hatte zwar seine Meinung über Gilliatt, allein man war doch noch nicht ganz einig.

Die Meisten hielten ihn für einen »Marcou,« Einige aber gingen so weit, ihn für einen »Cambion« auszugeben. Ein Cambion ist der Sohn des Teufels und eines menschlichen Weibes.

Wenn eine Frau von einem Manne sieben männliche Kinder hinter einander zur Welt bringt, so ist das siebente ein Marcou. Die Reihe darf aber nicht durch die Geburt eines Mädchens unterbrochen sein.

Der Marcou hat an irgend einer Stelle seines Körpers das Zeichen der Lilie, welches ihm die Fähigkeit verleiht, die Scropheln eben so gut zu kuriren wie die Könige von Frankreich. Es giebt in Frankreich fast aller Orten Marcous, besonders um Orleans. Jedes Dorf in der Gegend von Gätin hat seinen Marcou. Er darf die Verwundeten nur anhauchen, oder von ihnen seine Lilie berühren lassen, so sind sie geheilt. In der Nacht des Charfreitag gelingen solche Operationen am besten. Ungefähr vor zehn Jahren lebte in Ormes ein Küfer – ein angesehener Mann, der Wagen und Pferde hielt – man nannte ihn nur den schönen Marcou, der einen ganz außerordentlichen Zuspruch hatte. Von Nah und Fern strömten aus der Umgegend die Leute in sein Haus. Man mußte, um seinen Wundern Einhalt zu tun, mit militärischer Gewalt einschreiten. Er hatte die Lilie unter der linken Brust. Andere haben sie anderswo.

Es giebt Marcous in Jersey, in Aurigny, in Guernesey. Dies kommt wohl daher, weil Frankreich Rechte auf die Normandie hat. Wozu wären sonst die Lilien?

Es giebt auch Scrophelnbehaftete auf den Inseln des Canals, was wiederum die Marcous nothwendig macht.

Als Gilliatt eines Tages in offener See badete, glaubten einige Anwesende die Lilie an seinem Körper zu bemerken. Als man ihn darüber befragte, lachte er, anstatt zu antworten. Ja, ja, Gilliatt lachte zuweilen, ganz wie ein anderer Mensch. Seit dieser Zeit jedoch badete er nicht mehr in offener See, sondern an versteckten einsamen Orten. Man vermuthete, daß er es des Nachts bei Mondenschein that. Wie dem aber auch sei: die Sache war sonderbar.

Diejenigen, welche darauf versessen waren, Gilliatt für einen Cambion, das heißt für einen Sohn des Teufels auszugeben, befanden sich offenbar im Irrtum. Sie hätten wissen müssen, daß es fast nur in Deutschland Cambions giebt. Allein in le Valls und St. Sampson waren vor fünfzig Jahren die Leute in der Wissenschaft noch sehr zurück.

Daß man aber in Guernesey einen Sohn des Teufels suchen wollte, war offenbar eine Phantasie.

Obgleich man Gilliatt fürchtete, suchte man doch seinen Rath. Mit einer gewissen inneren Unruhe, welche die Furcht erzeugte, befragten ihn die Bauern über ihre verschiedenen Krankheitsfälle. Diese Furcht schließt das Vertrauen nicht aus, im Gegentheil: je verrufener auf dem Lande ein Arzt ist, desto wirksamer sind seine Mittel. Gilliatt hatte seine eigenen Arzneien; sie waren ihm von der verstorbenen alten Frau übermacht worden; er half damit Allen, welche seine Hülfe begehrten, ohne sich dafür bezahlen zu lassen. Er heilte Nagelgeschwüre durch kühlende Kräuter; eine seiner Phiolen enthielt einen Saft, welcher das Fieber heilte; der Chemiker in St. Sampson, den man sonst Apotheker zu nennen pflegt, hielt diesen Saft für ein Decoct von Chinarinden. Selbst die böswilligsten Lästerer konnten nicht leugnen, daß Gilliatt, wenigstens was die Heilung der gewöhnlichen Krankheiten anbelangte, ein ziemlich guter Teufel war; wer aber seine Heilkünste als Marcou in Anspruch nehmen wollte, hatte einen weit schwierigeren Stand. Wenn sich ein Aussätziger meldete, welcher durch Berührung seiner Lilie Heilung suchte, so schlug er ihm ohne Umstände die Thür vor der Nase zu; Wunder durfte Keiner von ihm verlangen, zu solchen Sachen mochte er sich durchaus nicht verstehen – für einen Zauberer eine lächerliche Weigerung! Wenn Ihr kein Hexenmeister sein wollt, gut! Seid Ihr es aber einmal, so thut, was Eures Amtes ist!

Der allgemeine Widerwille hatte jedoch eine oder zwei Ausnahmen. Die eine dieser Ausnahmen bildete der Sieur Landoys, welcher die Stelle eines Schreibers in der Pfarrei des Hafens von Saint-Pierre bekleidete; ihm war das Register der Geburten, Heirathen und Todesfälle anvertraut. Besagter Herr Landoys war nicht wenig stolz darauf, sich für einen Abkömmling des Schatzmeisters Pierre Landoys halten zu dürfen, welcher im Jahre 1485 in der Bretagne gehängt worden war. Dieser Sieur Landoys hatte sich einmal beim Baden zu weit in die offene See gewagt, und schwebte in großer Gefahr zu ertrinken. Gilliatt rettete ihn mit Gefahr seines eigenen Lebens. Von diesem Tage an redete Landoys nichts Böses mehr über Gilliatt. Wenn man sich darüber verwunderte, antwortete er: Wie kann ich einen Mann verachten, der mir nichts zu Leide gethan und der mir einen so wichtigen Dienst geleistet? Der frühere Widerwille des Herrn Amtschreibers war nicht allein völlig gewichen, sondern hatte sogar einem gewissen Gefühl von Freundschaft Platz gemacht. Er war ein Mann ohne Vorurtheile. Er glaubte nicht an Zauberei. Er lachte über die Gespensterfurcht. Obgleich er, der den Fischfang als Liebhaberei trieb, oft Stunden lang in seinem Kahn auf dem Meere segelte, so war ihm doch noch niemals etwas begegnet, den einzigen Fall ausgenommen, daß er einmal eine weiße Frau im Mondenschein in das Meer springen sah; und auch das konnte er nicht als Wahrheit verbürgen, es mochte wohl eine Täuschung gewesen sein. Montonne Gahy, die Hexe von Torteval, hatte ihm ein kleines Säckchen gegeben, welches, auf der Brust getragen, vor den bösen Geistern schützen sollte; er lachte Ueber diesen Aberglauben, er hatte das Säckchen nicht einmal untersucht, wußte also gar nicht, was es enthielt; nichts desto weniger trug er es, weil er sich mit diesem Säckchen sicherer fühlte, auf der Brust.

Noch einige andere Leute von Muth hatten die Kühnheit, dem Vertheidigungs-Eifer des Sieur Landoys beizustimmen, indem sie durch Anführung gewisser mildernder Umstände den Stachel von Gilliatts bösem Leumund zu entkräften suchten. Wenn man auch Alles über ihn ergehen ließ, so mußten doch selbst seine erbittertsten Widersacher gelten lassen, daß es keinen mäßigeren und nüchterneren Menschen gab als Gilliatt. Man vermaß sich sogar zu der ungeheuer schmeichelhaften Frage: Wer ist so mäßig als Gilliatt? Er raucht nicht, er schnupft nicht, er trinkt nicht, er spielt nicht.

Nach der Meinung der Leute aber ist die Nüchternheit nur dann eine lobenswerthe Eigenschaft, wenn andere dazu kommen.

Die öffentliche Meinung war nun einmal gegen Gilliatt.

Wie dem aber auch sei, als Marcou konnte Gilliatt wesentliche Dienste leisten. Es erschien daher an einem gewissen Charfreitag um Mitternacht, an welchem Tag und zu welcher Stunde gewisse Wunderkuren unfehlbar waren, ein ganzes Heer Aussätziger im Gespensterhaus. Sie streckten flehend die Hände aus, entblößten ihre Wunden, und baten Gilliatt inständig, er möchte ihnen helfen. Er schlug es ab. Jetzt war man über seine Schändlichkeit im Klaren.

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Sechstes Capitel. Ein altmodisches Schiff.

So war Gilliatt.

Die Mädchen fanden ihn häßlich. Er war es nicht; er war vielleicht das Gegentheil. Er hatte in seinem Profil etwas von einem antiken Barbaren. In Momenten der Ruhe glich er einem der Dacier auf der Säule des Trajan. Seine Ohren waren klein, von zierlicher Form und durch die Abwesenheit sogenannter Ohrlappen, wie durch einen bewunderungswürdig akustischen Bau ausgezeichnet. Zwischen den Augenbrauen hatte er jene stolze Linie, welche den kühnen und beharrlichen Mann verräth. Seine Mundwinkel waren herabgezogen, ein Kennzeichen der Schwermuth und Melancholie. Die Wölbung seiner Stirn war edel und klar, sein Auge offen und frei, obgleich die Ruhe seines Blickes öfter durch jenes Zucken der Lider unterbrochen wurde, welches den Fischern eigen ist; eine Erscheinung, die das wechselnde Licht der Wogen erzeugt. Sein Lachen war kindlich und reizend. Man konnte nichts Schöneres sehen als seine blendend weißen Zähne. Aber die Sonne hatte einen Neger aus ihm gemacht. Nicht ungestraft setzt man sich Tag und Nacht den Stürmen und Wettern des Oceans aus; obgleich erst dreißig, glich er einem Mann von fünfundvierzig Jahren. Er trug die dunkle Maske des Sturmes und der See.

Man nannte ihn Gilliatt, den Schelm.

Eine indische Fabel erzählt: Eines Tages frug Brâhma die Stärke: »Wer ist noch stärker als Du?« Sie antwortete: »Die Gewandtheit.« Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Was vermöchte nicht der Löwe, wenn er ein Affe wäre?« Gilliatt war weder Löwe noch Affe; allein die indische Fabel und das chinesische Sprichwort paßten auf das, was er that, und wie er es that. Nur mittelmäßig groß und mit nur gewöhnlichen Körperkräften begabt, war er dennoch im Stande, Riesenlasten zu heben und Athletenwerke zu leisten. Keiner wußte wie er, durch Erfindungsgabe, durch Klugheit und Geschicklichkeit die Wirkungen der Kraft zu erzielen.

Ihm war die Gymnastik angeboren; er bediente sich mit gleicher Leichtigkeit der linken wie der rechten Hand.

Er war kein Jäger, aber ein Fischer. Die Vögel schonte er, doch nicht die Fische. Wehe den Stummen! Auch war er ein trefflicher Schwimmer.

Die Einsamkeit bildet Talente und Blödsinnige. Gilliatt konnte für Beides gelten. Er hatte zuweilen ein »erzdummes« Aussehen, dann aber hatte er wieder einen bezaubernd tiefen Blick. Im alten Chaldäa gab es solche Menschen; in gewissen Stunden leuchteten Magier durch die undurchsichtige Hülle des Hirten.

In Wahrheit war Gilliatt nichts weiter als ein armer Mensch, der lesen und schreiben konnte. Er stand auf der Grenze, welche den Träumer vom Denker scheidet. Der Denker will, der Träumer läßt sich leiten. Gesellt die Einsamkeit sich zur Einfalt, so vervollkommnet sie dieselbe. Sie erfüllt sie ohne ihr Wissen mit einem heiligen Grauen. Der Schatten, welcher Gilliatts Geist umhüllte, war aus zwei verschiedenen, doch in ihrer Stärke fast gleichen Elementen zusammengesetzt; in ihm war Unwissenheit, Schwäche, außer ihm das Geheimniß, die Unendlichkeit.

Das Inselmeer hatte ihn mit seinen tausendfältigen Gefahren, denen er muthig die Stirn bot, wenn er die steilen Felsen erkletterte und sich im Sturme bei Tag und Nacht dem Untergang Preis gab, indem er das erste beste Fahrzeug regierte, ohne sein Wissen und Wollen zu einem bewunderungswürdigen Seemann gemacht.

Er war ein geborener Lootse. Der Lootse ist ein Seemann, der mehr nach dem Grund, als nach der Oberfläche fragt. Die Woge ist eine räthselhafte Fläche, deren Gestalt fortwährend wechselt nach den Formen des Meergrundes, über welchen das Fahrzeug dahingleitet. Wenn man Gilliatt durch die Wasserberge und Felsenriffe des normännischen Archipelagus sich wie eine Wasserschlange winden sah, schien es, als ob unter der Wölbung seiner Stirn die Karte des Meeresgrundes verborgen wäre. Er kannte Alles und überwand Alles. Er kannte die Baken besser als die Seeraben, welche sich darauf setzen. Die unmerklichen Unterschiede, durch welche jeder einzelne der vier mit Pfählen gespickten Leinpfade der Creux, der Alligande, der Tremies und der Sardrette sich auszeichnet, waren für ihn im Nebel und selbst in der Dunkelheit der Nacht vollkommen klar und erkennbar.

Seine Seemannskunst bewährte sich glänzend bei Gelegenheit eines Schifferstechens, welches in Guernesey eines Tages stattfand. Man hatte nämlich die Aufgabe gestellt, ganz allein ein Schiff mit vier Segeln von St. Sampson bis zu der Insel Herm, – zwei Orte, welche zur See eine Meile weit von einander entfernt liegen – und wieder zurück zu führen. Das Lenken eines Schiffes mit vier Segeln ist für einen geübten Seemann nun gerade keine Hexerei. Die Schwierigkeit bestand aber erstens in dem zu regierenden Schiffe selber, welches eine jener breiten, schweren, kolossalen Schaluppen war, die aus Holland stammen und welche die Seeleute des vorigen Jahrhunderts » Holländische Bäuche« nannten. Man begegnet noch heute auf offener See solchen altmodischen Schiffsmodellen. Sie sind bausbäckig, flach, sie haben am Backbord und Steuerbord zwei Flügel, die den Schiffskiel vertreten. Die zweite Schwierigkeit war der Rückweg von Herm, wo das Schiff mit einer schweren Ladung Steine versehen wurde. Leer stach es in See, schwer beladen kam es zurück. Der Preis des Schifferstechens war eben diese Schaluppe. Der Sieger behielt sie. Dieser dickbäuchige Holländer wurde früher zum Lootsendienste benutzt. Der Lootse, welcher ihn zwanzig Jahre lang führte, war der kräftigste Seemann im Canal; als er starb, blieb das Schiff herrenlos, weil kein Anderer es zu regieren im Stande war, daher man denn auf den Gedanken kam, es zum Preis eines Schifferstechens zu machen. Das Schiff, obgleich mit keinem Verdeck versehen, hatte nichts desto weniger seine dem Kundigen erkennbaren Vorzüge. Es war nach vorn mit einem Maste versehen, was die Triebkraft des Segelwerkes vermehrte. Es hatte ein festes Gerippe, schwer, aber breit und hielt gut die weite See; es war so ein rechtes Sonntagsschiff. Es schien den Appetit der Seeleute sehr zu reizen; denn es entspann sich ein reger Wettkampf um den Besitz desselben. Sieben oder acht Fischer, die kräftigsten auf der Insel, waren als Kämpfer um den Preis in die Schranken getreten. Sie versuchten Alle nach einander ihr Heil, aber kein Einziger von ihnen erreichte Herm. Der Letzte, welcher es versuchte, war als kühner Wagehals bekannt, der einmal bei Sturm und Wetter den gefährlichen Engpaß zwischen Serk und Brecq-Hon in einem Kahne, und nur von dem Ruder Gebrauch machend, durchschifft hatte. Wie gebadet im Schweiße fruchtloser Anstrengung brachte er den dickbäuchigen Holländer zurück und sagte: Es ist unmöglich! Nun war die Reihe an Gilliatt, sein Glück zu versuchen. Er bestieg das Fahrzeug, stach in See und erreichte Herm nach einem Zeitraum von drei viertel Stunden. Nach drei Stunden brachte er das Schiff mit seiner schweren Ladung nach Sampson zurück. Das Fahrzeug war zum Ueberfluß noch mit der kleinen Kanone von Bronze beladen, welche die Bewohner von Herm alljährlich am fünften November, dem Todestag von Guy Fawkes abzufeuern pflegten.

Guy Fawkes war, beiläufig gesagt, vor zweihundert sechszig Jahren gestorben; die Freude über seinen Tod war also von sehr altem Datum.

Gilliatt erreichte St. Sampson ungeachtet der Kanone des Guy Fawkes, und ungeachtet eines conträren Südwindes, welcher sich bei der Rückfahrt erhoben hatte.

Als ein gewisser Mess Lethierry, von welchem später die Rede sein wird, das beladene Fahrzeug ankommen sah, rief er begeistert aus: Das nenne ich mir einen Seemann!

Er reichte Gilliatt die Hand. Die Schaluppe wurde demselben feierlichst zugesprochen.

Trotz dieser Heldenthat behielt er seinen Beinamen: der Schelm.

Einige Leute suchten das Wunder durch die Vermuthung zu erklären, daß Gilliatt irgendwo in diesem Schiffe einen wilden Mispelzweig verborgen habe; denn wie sollte gerade er, der doch kein Seemann war, etwas vollbringen können, was erfahrene Schiffskundige nicht vermochten? Nein, es war nicht möglich, es mußte Zauberei im Spiel sein.

Seit jenem Tage hatte Gilliatt kein anderes Fahrzeug mehr in Gebrauch, als diese altmodische holländische Schaluppe. Sie diente ihm sogar zum Fischfang. Er brachte sie in jenem, ihm allein gehörenden kleinen Hafen neben seinem Hause unter. Wenn es donnerte, warf er seine Netze über den Rücken, schritt durch den Garten, setzte dann über eine Brustwehr trockener Steine, und von einem Felsen zu dem andern springend, erreichte er sein Fahrzeug und stach in See.

Er brachte stets reiche Beute mit nach Hause. Die Leute meinten, dies auffallende Glück im Fischfange schreibe sich daher, daß er noch immer den Mispelzweig in der Schaluppe verberge; es hatte ihn indessen Keiner dort entdeckt.

Seinen Ueberfluß an Fischen verkaufte Gilliatt nicht, sondern er verschenkte ihn.

Die Bedürftigen nahmen seine Fische an, waren aber nichts desto weniger empört über die Hexerei mit dem wilden Mispelzweig. Das ist sündlich, sagten sie; man darf das Meer nicht um sein Eigenthum betrügen.

Gilliatt war Fischer; aber er trieb nicht allein den Fischfang, sondern auch noch manche andere Dinge zum Zeitvertreib. Er war auch Tischler, Schmied, Wagner, Schiffs-Zimmermann und sogar auch ein wenig Mechanikus. Er hatte eine angeborene Geschicklichkeit zu allen Dingen und trieb diese verschiedenen Handwerke, ohne sie gelernt zu haben, zum Vergnügen. Keiner konnte ein so gut gearbeitetes Rad liefern als er. Alle seine Fischerwerkzeuge verfertigte er sich selbst. Er hatte in einem Winkel seines Hauses eine vollständige kleine Schmiedewerkstätte eingerichtet. Seine Schaluppe hatte nur einen Anker; er fertigte ohne die Hülfe eines Arbeiters und ohne jede Anweisung einen zweiten, der ganz vortrefflich war, und er verstand die Größe und Stärke des Ankerstocks so zu berechnen, daß ein Umschlagen des Schiffes nicht möglich war.

Er hatte mit großer Geduld alle eisernen Nägel aus den Schiffsplanken gezogen und sie durch hölzerne ersetzt, wodurch er die gefährlichen Rostlöcher unmöglich machte.

Auf diese Weise hatte er seinen »Holländer« noch weit seetüchtiger gemacht. Er machte auf demselben von Zeit zu Zeit kleine Streifzüge und brachte oft monatelang auf irgend einer einsamen Insel zu. Dann sagten die Leute, Gilliatt ist fort; Keiner aber nahm sich seine Abwesenheit besonders zu Herzen.

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Siebentes Capitel. Ein sonderbarer Mensch in einem sonderbaren Haus.

Gilliatt war ein Träumer. Aus seiner Träumerei entsprang sowohl seine Kühnheit wie seine Schüchternheit. Er hatte seine Gedanken für sich.

Er hatte etwas von einem Geisterseher, etwas von einem Illuminaten. Jeder Bauer kann eben so gut Geisterseher sein, wie König Heinrich IV. Der geheimnißvolle Schleier, welcher die Welt des Unbekannten vor den Blicken der Erdbewohner verhüllt, öffnet sich zuweilen, wenn auch nur für Augenblicke. Der dichte Schatten, welcher das Unsichtbare birgt, lüftet sich plötzlich, um sich dann wieder zu schließen. Solche Visionen verklären zuweilen die Menschen, welchen sie verliehen sind. Sie machen aus einem Kameeltreiber einen Mahomed und aus einer Hirtin eine Johanna d’Arc. Es giebt gewisse erhabene Geistesverirrungen, welche die Einsamkeit erzeugt. Sie sind der Rauch des flammenden Dornbusches. Aus ihnen entsteht ein geheimnißvolles Zittern der Gedanken, welches den Arzt zum Hellseher, den Dichter zum Propheten erhebt. Es hat Horeb, Cedron, Ombos, Peleïa in Dodonaien, Phemonoë in Delphis, Trophonius in Lebadea, Ezechiel auf dem Kebar, Hieronimus in der thebischen Wüste hervorgebracht.

Gewöhnlich wirkt der Zustand des Hellsehens betäubend auf den Menschen. Es giebt einen heiligen Stumpfsinn. Der Fakir ist mit seiner Vision behaftet, wie der Cretin mit seinem Kropf. Luther, der auf der Wartburg dem Teufel sein Dintenfaß an den Kopf warf, Pascal, der sich mit seinem Bettschirm vor dem Fegefeuer geschützt, der Negerpriester, der mit dem weißen Gotte Bossum spricht – alles dieselbe Erscheinung, die sich nach der Verschiedenheit der Intelligenz verschiedenartig gestaltet. Luther und Pascal sind und bleiben große Männer; der Negerpriester ist ein Wahnwitziger.

Gilliatt war weder das Eine noch das Andere. Er war ein Träumer; weiter nichts.

Es waren ihm im Meerwasser zuweilen sonderbare medusenartige Thierformen verschiedenster Gestaltungen und Größe aufgefallen, die außerhalb des Wassers wie weicher Krystall aussahen und welche, wieder in das Wasser geworfen, demselben an Farbe und Durchsichtigkeit so vollkommen ähnlich waren, daß ihre eigenthümlichen Formen ganz verschwanden und sie wie aufgelöst in der Allgemeinheit des Elementes erschienen. Gilliatt schloß daraus, daß, wie im Wasser, so auch wohl in der Luft lebendige Wesen existiren könnten, deren Gestaltungen mit dem Element so verschmolzen seien, daß man ihre besondere Erscheinung nicht unterscheiden könne. Die Vögel sind nicht die Bewohner der Luft, sie sind ihre Amphibien. Gilliatt glaubte nicht an die Leere der Luft. Er sagte: Wie sollte die Luft leer sein, wenn das Meer voll von unsichtbaren Wesen ist? Sollten nicht auch in der Luft Wesen existiren, deren Gestaltung wir nicht wahrnehmen können, weil sie aus demselben Element gebildet, welches sie bewohnen? Die Analogie deutet darauf hin, daß die Luft ebenso gut ihre Fische habe wie das Meer die seinigen, nur sind diese Fische Luftfische, durchsichtig und anscheinend körperlos wie das Element, das sie bewohnen; das hat zu ihrem und zu unserem Wohl die göttliche Vorsehung so eingerichtet; das Licht des Tages durchdringt ihre ätherischen Körper ohne einen Schatten zu bilden; das ist der Grund, warum wir sie nicht sehen. Gilliatt bildete sich ein, daß, wenn man die Atmospäre, das Luftmeer wie das Wassermeer behandeln, wenn man dieses Meer wie ein anderes befahren, und Netze darin auswerfen könnte, man eine Fülle der wunderbarsten Wesen finden würde. Und, setzte Gilliatt träumerisch hinzu, es würden viele Dinge offenbar werden, die unserem begrenzten Menschenauge sich entziehen.

Die Träumerei ist der Gedanke im nebelhaften Schlummerzustand. Die Luft, mit durchsichtigen lebenden Wesen gefüllt, das wäre der erste Blick in jene unbekannte Welt der Wunder. Aber die Voraussetzung dieser einen Möglichkeit, wie vielen anderen Möglichkeiten und Voraussetzungen öffnet sie nicht die Thore! Wo andere Wesen sind, als die uns bekannten, da ist auch eine andere Welt. Keine übernatürliche Welt, nein, nur die verborgene geheimnißvolle Fortsetzung der unendlichen Natur. Gilliatt, der seine Zeit mit diesem geschäftigen Müßiggang träumerischen Denkens ausfüllte, welches das Wesen seiner Existenz geworden war, Gilliatt war ein wunderlicher Forscher. Er ging so weit, sogar den Schlaf zu beobachten und den geheimnißvollen Organismus seiner Erscheinungen zu sondiren. Der Traum berührt das Mögliche, welches wir auch das Unwahrscheinliche nennen. Die Welt der Nacht ist eine solche, die mit der des Tages nichts gemein hat. Die Nacht ist ein Universum für sich. Der materielle Organismus des Menschen, auf welchem der Druck einer fünfzehnhundert Meilen hohen Luftsäule lastet, ermüdet, wenn der Abend kommt. Der Mensch wird matt, er legt sich nieder und ruht aus. Die Augen des Körpers schließen sich. In diesem Zustand der Betäubung und scheinbarer Trägheit oder gänzlicher Abwesenheit des Geistes öffnen sich innere Augen, die Blicke des Schläfers richten sich auf eine andere, unbekannte Welt. Die dunkeln Dinge dieser ungekannten Welt nähern sich dann dem Menschen. Diese Annäherung ist eine wirkliche oder visionaire. Es scheint, daß die unsichtbar im Weltraum Lebenden dann zu uns kommen, um uns, die Erdbewohner, neugierig zu betrachten; es steigen Phantome im Halbdunkel des Traumes zu uns heraus und hinab. Vor unserem geistigen Auge verwickeln und entwickeln sich die Bilder eines neuen unbekannten Lebens, welche uns unser eigenes Ich selbst in Verbindung mit andern unbekannten Wesen zeigen. Der Schläfer aber sieht mit dem halb umflorten Blick seines Bewußtseins jene seltsamen Thiergestalten, jene wunderbaren Pflanzen, Gespenster, Larven, jene schrecklichen oder lieblichen Gestalten, jenes verworrene Kaleidoskop der sonderbarsten Erscheinungen, jenes Mondlicht ohne Mond, jene dunkeln sich in Räthsel auflösenden Räthsel, jenen plötzlichen Wechsel der Gestaltungen, das ganze unergründliche Geheimniß, welches wir Traum nennen und welches doch nichts Anderes ist, als das Nahen einer unsichtbaren Wirklichkeit. Der Schlaf ist das Aquarium der Nacht.

So grübelte Gilliatt.

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Achtes Capitel. Der Felsen-Stuhl.

Man würde sich heute umsonst bemühen, in der Bucht von Houmet das Haus Gilliatts, seinen Garten und den Hafen zu finden, in welchem er seine Schaluppe bewahrte. Das Gespensterhaus existirt nicht mehr. Das Haus auf der Landzunge fiel durch die Spitzhacken der Felsensprenger. Die Schiffe der Granithändler wurden mit seinen Trümmern beladen. Aus diesen Steinen wurden Quais, Kirchen, Paläste in der Hauptstadt gebaut. Der ganze Klippenkamm ist schon seit langer Zeit nach London gewandert.

Diese in das Meer ragenden Felsen mit ihren Sprüngen, Rissen und Einschnitten sind wahrhafte kleine Bergketten. Man hat, wenn man sie sieht, etwa den Eindruck, den ein Riese beim Anblick der Cordilleren haben würde. In der Landessprache werden sie Bänke genannt. Diese Bänke bieten verschiedene Gestaltungen und Formen. Einige sehen aus wie ein Rückgrat, andere wie Wirbelbeine; diese wie Fischgräten, jene wie trinkende Krokodile.

An der äußersten Spitze der Felsenbank am Gespensterhaus, befand sich das sogenannte Kuhhorn, ein Name, welchen die Fischer von Houmet einem großen pyramidenförmigen Felsen gegeben hatten, der, wenn auch von weniger beträchtlicher Höhe, viele Aehnlichkeit mit der sogenannten Zinne von Jersey hatte. In der Zeit der Flut wurde er von der mit ihm zusammenhängenden Felsenkette der Bank abgeschnitten und stand vereinzelt im Meer. Während der Ebbe war es möglich ihn zu ersteigen. Die Meerseite dieses Granitkolosses bot dem Auge des Beschauers eine ganz besondere Merkwürdigkeit dar. Die Arbeit der Wogen hatte nämlich auf diesem Felsen eine Art Stuhl gezimmert, den der Regen sehr glatt polirt hatte. Dieser Stuhl war ein tückischer Verräther. Es schien, als habe ihn die Natur eigens zu dem Zweck gemacht, um dem Bewunderer eine Stelle zu gewähren, von wo aus er die herrliche Gegend überschauen könne; er war um so verführerischer, als er den Naturschwärmer mit einer unwiderstehlich verlockenden Gewalt zu sich empor zog. Es liegt ein großer Reiz in weiten Fernsichten. Der Stuhl bildete eine Art Nische in der zackigen Felsenwand, und es war nicht allzuschwer, diese Nische zu erklettern. Das Meer, welches für den Bewunderer seiner Schönheit einen Stuhl in diese Nische gestellt, hatte auch durch treppenartig angeschwemmte Granitblöcke dafür gesorgt, daß der Naturfreund dieselbe ohne allzugroße Anstrengung, ja mit einer gewissen Bequemlichkeit erreichen konnte. Der Abgrund ist wohl höflich und zuvorkommend; man darf aber seiner Höflichkeit nicht trauen. So ein Plätzchen, welches die Natur an mancher Stelle wie ein Schild ausstellt, auf dem geschrieben steht: »Zur schönen Aussicht,« ist sehr verführerisch. Und dieser Felsenstuhl war ganz besonders einladend. Er lockte unwiderstehlich, man mußte ihn erklettern! Man erkletterte ihn, setzte sich darauf und genoß der entzückendsten Aussicht. Den Sitz dieses merkwürdigen Stuhles hatte der Meeresschaum geglättet und gerundet; seine Lehne bildeten zwei Krümmungen, welche sich an der Felsenwand bis an den Gipfel des sogenannten Kuhhorns hinaufzogen. Man bewundert die kolossale Stuhllehne über seinem Haupt, ohne daran zu denken, daß das Ersteigen dieser äußersten Felsenspitze unmöglich ist. Der Stuhl hat das Eigentümliche, daß man alle diese Dinge und sich selber auf ihm vergißt. Man hat an andere Dinge zu denken; die Aufmerksamkeit ist durch die herrliche Fernsicht gefesselt. Der Blick über den weiten Wasserspiegel ist unbegrenzt. Das weite Meer, auf welchem so viele Schiffe kreuzen, die das Auge verfolgen kann, bis sie wie kleine Punkte sich hinter den Casquets in der Rundung des Oceans verlieren, bezaubert und berückt uns. Die erquickende Meerluft umschmeichelt die Wangen des Wanderers und spielt mit seinen Haaren – o, es ist ein Genuß, eine wahre Herzensfreude! – In der Gegend von Cayenne giebt es eine Fledermaus, die sehr wohl weiß, warum sie Dich mit dem sanften Wesen ihres Flügelschlages einschläfert. Der Wind ist eine solche unsichtbare Fledermaus: wenn er nicht fortreißt, so schläfert er ein. Der Wanderer betrachtet das Meer, belauscht den Wogenschlag, vernimmt das Rauschen des Windes. Unmerklich wird er vom Entzücken eingeschläfert. Ist das Auge von einem Uebermaß von Glanz und Schönheit erfüllt, dann ist es eine Wollust, es zu schließen. Plötzlich erwacht man. Es ist zu spät! Die Flut ist allmälig gewachsen. Das Wasser hat den Felsen bedeckt. Man ist verloren.

Entsetzliche Belagerung durch die steigende Flut!

Anfangs bilden die Wogen nur kleine Hügel; unmerklich steigen sie höher; und wenn sie die Höhe der Felsen erreicht haben, rasen sie und schäumen vor Wuth. Nur in seltenen Fällen gelingt die Rettung; die gewandtesten Schwimmer wurden am Kuhhorn in der Nähe des Gespensterhauses von den Wogen verschlungen.

Zu gewissen Zeiten und an gewissen Stellen in das Meer zu schauen, ist tödtlich. Fast so tödtlich wie mitunter, in das Auge eines Weibes zu schauen!

Die ältesten Bewohner von Guernesey nannten diesen von den Wogen des Meeres gemeißelten Felsenstuhl: Gild-Holm-‚Ur, oder Kidormur. Es ist dieses ein celtischer Ausdruck, dessen Sinn dem der celtischen Sprache Unkundigen entgeht, jedoch dem Franzosen verständlich ist. » Qui-dort-meurt.« Das Idiom des Landes hat diesen Namen in Kidormur verwandelt.

Es steht Jedem frei zwischen der Uebersetzung: Qui-dort-meurt und jener zu wählen, welche im Jahre 1819 ein Gelehrter aus der Bretagne, ein gewisser Herr Athenas, lieferte. Dieser ehrenwerthe Sprachkundige übersetzte die celtische Benennung: Gild-Holm-‚Ur: Halte-Platz der Vögelschwärmer.

Es existirt auch in Aurigny ein solcher Stuhl, den man den Mönchs-Stuhl nennt. Die Wogen haben ihn so sauber gemeißelt und mit einem so künstlichen Granit-Betpult versehen, als wollten sie dem Anbeter der Naturschönheiten einen Schemel unter die Kniee schieben.

Zur Zeit der Fluth verschwand der Stuhl von Gild-Holm-‚Ur ganz in den Wogen. Das Wasser machte ihn unsichtbar.

Dieser Felsenstuhl war ein Nachbar des Gespensterhauses. Gilliatt kannte ihn genau. Er besuchte ihn oft, und setzte sich auf denselben. Dachte er nach? Nein, Gilliatt dachte nicht, er träumte; doch ließ er sich niemals von der Fluth überraschen.