Siebzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

In der Wüste sind die Nächte im Sommer noch heißer als die Tage, denn wenn die Sonne verschwunden ist, strahlen Mauern, Marmor, Sand und Erde die aufgespeicherte Hitze aus, und tiefhängendes Gewölk, das immer Regen verspricht und nie bringt, wehrt ihr jeglichen Ausweg.

Tarvin lag auf der Veranda des Rasthauses, rauchte eine Cigarre und fragte sich, ob sein Einschreiten die Lage des Maharadscha Kunwar wohl verbessert oder verschlimmert haben werde. Er konnte ganz ungestört seinen Gedanken nachhängen, denn auch die letzten Geschäftsreisenden waren, bis zum letzten Moment murrend, nach Kalkutta oder Bombay zurückgekehrt, und der Dâk Bungalow stand jetzt zu seiner alleinigen Verfügung. Seinen Herrschersitz überblickend, dachte Tarvin, Rauchringe blasend, über die verzweifelte und keine Aussicht auf Besserung gewährende Lage nach. Im Grund waren die Dinge jetzt gerade auf dem Punkt angelangt, wo sie ihm am besten gefielen. War der Karren einmal so gründlich verfahren, so brauchte man einen Nikolas Tarvin, um ihn wieder flott zu machen! Käte war halsstarrig, das Naulahka entschlüpfte ihm, der Maharadscha war drauf und dran, ihn aus dem Land zu jagen. Sitabhai hatte mit angehört, daß er sie eines Mordversuchs bezichtigte, sein Leben konnte also in jedem Augenblick ein geheimnisvolles Ende nehmen, wobei ihm nicht einmal der Trost blieb, daß Heckler und die andern Jungen von Topaz ihn rächen würden. Kam es nicht dazu, so sah es doch ganz danach aus, als ob er dieses Leben ohne Käte werde weiterleben müssen, Topaz nicht mit einer neuen Aera würde beschenken können – mit andern Worten, daß es gar nicht der Mühe wert sein würde, überhaupt zu leben.

Das Mondlicht, das die hochgelegene Stadt jenseits des Sandmeers beschien, warf phantastische Schatten auf Tempelkuppeln und Wachtthürme. Ein Nahrung suchender Hund beschnüffelte Tarvins Stuhl, zog sich dann zurück und heulte ihn aus einiger Entfernung an. Es war merkwürdig melancholisch, dieses Hundegeheul. Tarvin rauchte weiter, bis der Mond unterging und die undurchdringliche Finsternis indischer Nächte angebrochen war. Kaum hatte sie ihn ganz eingehüllt, als er sich bewußt ward, daß etwas noch undurchdringlicher Schwarzes zwischen ihm und dem Horizont auftauchte.

»Sind Sie es, Tarvin Sahib?« fragte eine Stimme in gebrochenem Englisch.

Tarvin sprang auf, ohne eine Antwort zu geben. Er fing an, plötzliche Erscheinungen mit einem gewissen Mißtrauen zu betrachten, und seine Hand zuckte nach dem Revolver. In einem Land, das nach dem Muster einer »Feeerie« eingerichtet war, konnte seiner Meinung nach so ziemlich alles passieren!

»Nein, fürchten Sie nichts,« fuhr die Stimme fort. »Ich bin’s – Juggut Singh.«

Tarvin saugte nachdenklich an seiner Cigarre.

»Singh heißt in Gokral Sitarun jeder dritte Mensch – was für ein Singh?«

»Juggut Singh vom Haushalt der Maharadscha,«

»Hm… will der König mich sprechen?«

Die Gestalt trat lautlos näher.

»Nein, Sahib, die Königin.«

»Welche?« fragte Tarvin abermals.

Jetzt war die Gestalt auf der Veranda selbst dicht an seiner Seite.

»Es gibt nur eine, die den Mut hat, den Palast zu verlassen,« raunte sie ihm zu, »die Zigeunerin!«

Tarvin schnalzte leise mit den Fingern und mit der Zunge; diese Sache ließ sich ja ganz nach seinem Geschmack an!

»Angenehme Empfangsstunden beliebt die Dame,« bemerkte er in triumphierendem Ton. »Das ist nicht der Ort, darüber zu reden, Sahib. Ich soll sagen: ›Komm zu mir, falls du Dunkelheit nicht fürchtest.‹«

»Wahrhaftig? Nun, sehen Sie, Juggut Singh, über den Punkt müssen wir uns doch ein wenig aussprechen. Ich freue mich wirklich, Frau Sitabhais Bekanntschaft zu machen; aber wo steckt sie denn? Wohin soll ich gehen?«

»Ich sollte sagen: ›Komm zu mir‹ … Fürchten Sie sich?«

Dies letztere sagte Juggut Singh aus eigenem Antrieb.

»Ich kann mich auch fürchten, wenn’s drauf ankommt, aber jetzt ist davon nicht die Rede,« sagte Tarvin, dicken Rauch aus seiner Cigarre blasend.

»Es sind Pferde da, rasche Pferde. Die Königin will’s, folgen Sie mir.«

Tarvin rauchte ruhig weiter – Eile hatte er offenbar nicht. Dann erhob er sich aus dem Schaukelstuhl, als ob er jeden Muskel einzeln in Bewegung setzten müßte. Jetzt zog er den Revolver aus der Tasche, untersuchte dicht unter Juggut Singhs wachsamen Augen die einzelnen Kammern und steckte ihn, dem Begleiter zunickend, wieder in die Tasche.

»So, jetzt kann’s losgehen,« sagte er.

Sie gingen um die Veranda herum, an die Rückseite des Hauses, wo zwei Pferde angepflockt standen, die Köpfe mit leinenen Tüchern umhüllt, um sie am Wiehern zu verhindern. Der Mann bestieg das eine, Tarvin das andere, nicht ohne sich vorher überzeugt zu haben, daß der Sattelgurt dieses Mal richtig geschnallt war. Schweigend ritten sie im Schritt davon, von der Straße zur Stadt bald in einen Feldweg einbiegend, der in der Richtung der Hügel führte.

»So,« sagte Juggut Singh, nachdem sie eine Viertelmeile entfernt und in tiefster Einsamkeit unter dem Sternenhimmel waren, »jetzt können wir zureiten!« Aus den Steigbügeln schlüpfend, legte er sich platt vor auf den Hals des Pferds und begann das Tier rasend anzutreiben. Nur unmittelbare Todesfurcht konnte den verzärtelten Palast-Eunuchen zu einem solchen Tempo bewegen; Tarvin beobachtete, wie die feiste Gestalt auf dem Sattel hin und her rollte, kicherte ein wenig und folgte.

»Als Cowboy würden Sie sich nicht sehr auszeichnen, Juggut,« bemerkte er. »Was meinen Sie?«

»Vorwärts!« rief Juggut Singh keuchend. »Auf die Kluft zwischen den zwei Anhöhen zu halten … nur schnell!«

Der trockene Sand stäubte hoch auf unter den Pferdehufen, die heiße Luft pfiff um die Ohren von Mann und Roß, als sie die leichte Steigung nach dem Hügel drei Meilen von der Stadt hinauf jagten. In früheren Jahren, vor der Einführung des Telegraphen in Indien, hatten sich die Opiumhändler der Wüste von niederen Wachtürmen auf den Hügeln aus durch Feuerzeichen über Sinken oder Steigen der Preise verständigt, und eine dieser in den Ruhestand versetzten Meldestationen war das Ziel, dem Juggut Singh zustrebte. Die Pferde fielen in Schritt, sobald die Steigung fühlbarer wurde und die Umrisse des kumpfigen Turmes sich deutlich vom nächtlichen Himmel ablösten. Ein paar Minuten später traten die Pferde statt auf Sand auf festen Marmorboden, und Tarvin sah jetzt, daß sie längs eines bis zum Rand gefüllten großen Sammelbeckens hin ritten.

Ein paar Lichter, die in östlicher Richtung zwinkerten, zeigten ihm, wo Rhatore lag und versetzten Tarvin ganz in die Nacht zurück, wo er von der hinteren Plattform eines Pullman-Wagens aus Topaz lebewohl gesagt hatte. Nachtvögel ließen aus dem Röhricht am gegenüberliegenden Rand des Weihers ihre Stimmen erschallen, und ein großer Fisch schnappte im Wasser nach dem Spiegelbild eines Sterns.

»Der Wachturm ist am andern Ende der Umfassungsmauer,« belehrte ihn Juggut Singh, »und dort ist die Zigeunerin.«

»Wird dieser Name nie in Vergessenheit kommen?« fragte eine Stimme von unvergleichlich schmeichelndem Wohllaut aus der Dunkelheit heraus. »Es ist gut, daß ich sanftmütig bin, sonst würden dich die Fische kennen lernen, Juggut Singh.«

Tarvin riß sein Pferd ungestüm zurück, denn fast unter seinem Zaum stand eine Gestalt, vom Kopf bis zu den Füßen in einen Nebel von hellgelber Seidengaze gehüllt. Sie war seitwärts hinter dem roten Grabstein hervorgetreten, der die Ruhestätte eines einst gefeierten radschputischen Edeln, des Erbauers dieses Sammelbeckens, bezeichnete. Man glaubte im ganzen Land, daß sein Geist nächtlicher Weile hoch zu Roß sein Bauwesen bewache, und das war einer von den Gründen, weshalb der »Dungar Talao« von Sonnenuntergang an gemieden wurde.

»Steigen Sie ab, Tarvin Sahib,« sagte die süße Stimme mit spöttischer Betonung. »Ich bin wenigstens kein grauer Affe. Juggut Singh, du hütest die Pferde unter dem Wachturm!«

»Und schlafen Sie dabei nicht ein, Juggut,« fügte Tarvin hinzu. »Wir könnten Ihrer bedürfen.«

Er sprang vom Pferde und stand vor Sitabhais verschleierter Gestalt.

»Ich wußte, daß Sie kommen würden, Sahib,« sagte sie nach einer Weile, ihm eine Hand hinstreckend, die noch kleiner war als die Kätes. »Ich wußte, daß Sie keine Angst haben.«

Sie hielt seine Hand bei diesen Worten mit leisem zärtlichem Druck fest, und Tarvin griff nun fester zu, vergrub die schlanken Finger ganz in seiner mächtigen Tatze und schüttelte sie, daß der Königin unwillkürlich ein leiser Wehruf entfuhr.

»Bei Indur, der Mann kann zufassen,« murmelte sie vor sich hin, während er laut und herzhaft versicherte, daß er sehr erfreut sei, endlich ihre Bekanntschaft zu machen. »Ich freue mich auch, Sie zu sehen,« erwiderte sie.

Die Stimme war wirklich berückend – wie nur das verschleierte Gesicht aussehen mochte, fragte sich Tarvin.

Gelassen ließ die Königin sich auf der Steinplatte des Grabmals nieder und winkte ihm, sich an ihre Seite zu setzen.

»Weiße Männer lieben offene Rede,« begann sie, langsam die Worte suchend und in einigem Kampf mit der Aussprache des Englischen. »Sagen Sie mir, Tarvin Sahib, wieviel Sie wirklich wissen?«

Sie zog bei diesen Worten den Schleier weg und wandte ihm ihr Gesicht zu. Bei Gott – schön war sie. Diese Wahrnehmung drängte sich unmerklich zwischen Tarvins vorgefaßte Meinungen.

»Sie werden doch nicht verlangen, daß ich mich selbst aufgebe, Königin?«

»Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen, aber ich weiß, daß Sie anders sprechen als andre weiße Männer,« versetzte sie in ihren süßesten Tönen.

»Nun, mit andern Worten, Sie werden doch nicht erwarten, daß ich Ihnen die Wahrheit sage?«

»Nein, sonst würden Sie mir sagen, weshalb Sie hier sind. Aber warum machen Sie mir so viel Mühe?«

»Thue ich das, Königin?«

Sitabhai lachte, wobei sie den Kopf zurückwarf und die Hände im Nacken verschränkte. Talvin beobachtete sie neugierig beim Licht der Sterne. Mit allen Sinnen war er hell wach und auf seiner Hut; von Zeit zu Zeit spähte er scharf aus nach allen Seiten, aber nichts war wahrzunehmen als der schwache Glanz des Wassers, das leise gegen die Marmorstufen plätscherte, nur Eulenrufe unterbrachen die tiefe Stille.

»O Tarvin Sahib!« sagte sie. »Als ob Sie’s nicht wüßten! Aber nach dem ersten Mal that mir’s leid.«

»Bitte, wann war denn das erste Mal?« »Als der Sattel sich drehte, natürlich. Als dann der Balken vom Gerüst fiel, glaubte ich wenigstens Ihr Pferd getroffen zu haben – war es nicht verletzt?«

»Nein,« sagte Tarvin, den diese unverblümte Offenheit denn doch verblüffte.

»Das wußten Sie ja doch,« bemerkte sie beinah vorwurfsvoll.

Tarvin schüttelte den Kopf.

»Nein, meine verehrte Königin, nein,« gestand er langsam und nachdrücklich, »zu meiner Schande sei’s gesagt, ich vermutete Sitabhai nicht dahinter. Jetzt dämmert mir so manches … der kleine Scherz am Damm war wohl auch Ihre Erfindung, und die Notbrücke mit den Löchern und die Büffelkarren, die an der Böschung herunter rutschten? Und das alles habe ich der Nachlässigkeit dieses Volks in die Schuhe geschoben! Da soll doch …«

Er stieß einen Pfiff aus, der sofort in dem heiseren Gekrächz einer Weihe Antwort fand.

Aufspringend griff Sitabhai in ihr Gewand.

»Ein Signal!« entfuhr es ihr, aber gleich darauf ließ sie sich wieder beruhigt neben Tarvin nieder. »Nein, Sie haben ja niemand mitbringen können und Sie fürchteten sich auch nicht, allein zu gehen, das weiß ich ja.«

»Fällt mir gar nicht ein, daß ich den Versuch machte, Sie umzubringen, meine Schönste, thäte mir leid um Ihre erfinderische systematische Teufelei, die ich höchlich bewundere! Also Ihnen danke ich all die netten Abenteuer! Das mit dem Triebsand war besonders hübsch. Führen Sie das öfter aus?«

»Ach, Sie meinen beim Damm?« fragte die Königin leichthin. »Nein, ich gab damals nur den Befehl, daß die Leute ihr Möglichstes thun sollen, aber viel Scharfsinn haben sie eben nicht – was kann man auch von Kulis erwarten! Ich war sehr ärgerlich, als mir gemeldet wurde, wie sie’s angestellt hatten.« »Den Boten haben Sie wohl umgebracht?«

»Nein, weshalb denn?«

»Wenn man einmal nach dem Warum fragt, möchte ich wohl wissen, weshalb Sie so darauf erpicht sind, mich umzubringen,« fragte Tarvin trocken.

»Weil ich nicht will, daß weiße Männer sich hier aufhalten, und von Ihnen wußte ich gleich, daß Sie bleiben wollen. Ueberdies hat der Maharadscha einen Affen an Ihnen gefressen und einen weißen Mann hatte ich noch nie getötet. Zudem gefallen Sie mir!«

»Oho!« rief Tarvin.

»Bei Malang Shah, es ist so, und Sie haben es nie gemerkt.«

Sie schwur bei ihrem eigenen Gott, dem Gott der fahrenden Leute.

»Verschwören Sie lieber nichts,« versetzte Tarvin.

»Und meinen Lieblingsaffen haben Sie mir erschossen,« fuhr sie fort. »Er hat jeden Morgen so hübsch vor mir gesalaamt, genau wie Luchman Rao, der Staatsminister. Tarvin Sahib, ich habe viele Engländer gekannt. Ich habe auf dem losen Seil getanzt vor den Kasinozelten der Offiziere, wenn die Regimenter auf dem Marsch begriffen waren, und meine kleine Bettelbüchse dem großen bärtigen Obersten hingehalten, als ich ihm noch nicht bis ans Knie reichte. Und als ich älter geworden war, glaubte ich das Herz der Männer zu kennen durch und durch, aber bei Malang Shah, Tarvin Sahib, einen Mann wie Sie hatte ich nie gesehen! O sagen Sie nicht,« setzte sie beinahe flehend hinzu, »Sie hätten’s nicht gewußt! In meiner Sprache gibt’s ein Liebeslied, das heißt: ›Von Mond zu Mond nicht schlief ich deinetwegen‹, und das paßt genau auf mich. Manchmal ist mir’s, als ob ich doch nicht so ernstlich gewünscht hätte, Sie sterben zu sehen, aber besser wär’s ja freilich, viel besser, Sie wären tot. Ich und ich allein herrsche in diesem Staat. Und nun, nachdem Sie dem König gesagt haben …« »Das haben Sie mit angehört, ja?«

Sie nickte flüchtig.

»Nachdem Sie das gesagt haben, sehe ich eigentlich keine andre Möglichkeit mehr, außer Sie gingen fort.«

»Ich gehe nicht.«

»Das ist gut,« sagte die Königin auflachend. »Da werde ich also Ihren Anblick nicht entbehren, soll Sie Tag für Tag im Hof stehen sehen! Heute dachte ich, die Sonne müßte Sie töten, als Sie so lang auf den Maharadscha warteten! Sie sind mir auch noch Dank schuldig, Tarvin Sahib, denn ich habe den Maharadscha hinausgeschickt zu Ihnen. Anstatt dessen spielten Sie mir einen schlimmen Streich!«

»Meine liebe junge Dame,« sagte Tarvin mit großem Ernst, »wenn Sie Ihre boshaften kleinen Krallen einziehen wollten, würde kein Mensch Ihnen etwas zu leide thun. Aber des Maharadscha Kunwar wegen kann ich Ihnen nicht weichen. Ich bin hier, um den Knaben am Leben zu erhalten. Bleiben Sie aus dem Gras, und ich geb’s auf.«

»Das verstehe ich wiederum nicht,« versetzte Sitabhai betroffen. »Was kann Ihnen, dem Fremden, das Leben eines kleinen Kindes bedeuten?«

»Was es mir bedeutet? Was es allen anständigen Menschen bedeuten würde, das Leben eines schuldlosen Kindes. Braucht’s da besondere Gründe? Ist Ihnen denn gar nichts heilig?«

»Ich habe auch einen Sohn, und mein Kind ist kräftig,« sagte die Königin mit Nachdruck. »Tarvin Sahib der Knabe war kränklich von Geburt an. Wie soll er über Männer herrschen? Mein Sohn wird ein echter Radschpute werden und in künftigen Zeiten … doch was kümmert das einen Fremden, einen weißen Mann! Lassen Sie den Kleinen heimgehen zu seinen Göttern, Tarvin Sahib!«

»Nicht, wenn ich’s hindern kann!« entgegnete Tarvin bestimmt. »Wenn er nicht stirbt,« sprudelte die Königin weiter, »kann er neunzig Jahre lang elend dahinsiechen. Ich kenne die entartete, unreine Rasse, aus der er stammt. Ja, an den Thoren des Palastes habe ich gesungen, als wir beide Kinder waren, seine Mutter und ich – ich stand im Staub der Landstraße, sie saß in ihrer Hochzeitssänfte. Heute liegt sie im Staub. Tarvin Sahib,« – die Stimme schmolz in süßem Flehen – »mein Schoß wird keinen zweiten Sohn tragen, aber von meinem Platz hinterm Vorhang könnte ich wenigstens diesen Staat modeln, wie es viele Königinnen vor mir gethan haben. Ich bin keine Palastpflanze. Die da drinnen« – sie deutete verächtlich auf die zwinkernden Lichter der Stadt – »haben nie ein Kornfeld wogen gesehen, nie den Wind pfeifen gehört, sind nie im Sattel gesessen, sie haben nie auf offener Straße Aug‘ im Auge mit einem Mann gesprochen. Mich nennen sie die Zigeunerin, und wenn es mir einfällt, die Hand zum Bart des Maharadscha zu erheben, so verkriechen sie sich schaudernd in ihre Schleier wie fette Schnecken in ihr Haus. Ihre Barden singen von zwölfhundertjähriger Vergangenheit ihrer Vorfahren. Ja, ihr Adel ist alt! Aber bei Indur und Allah und bei dem Gott Ihrer Missionare, an Sitabhai sollen sich ihre Kinder und Kindeskinder und die englische Regierung zweimal zwölfhundert Jahre erinnern! Ahi, Tarvin Sahib, Sie wissen nicht, wie klug mein kleiner Sohn ist! Ich lasse ihn nicht zu den Missionaren gehen. Alles, was er später brauchen wird, und es gehört viel dazu, einen Staat wie diesen zu regieren, soll er von mir lernen, denn ich habe die Welt gesehen und das Leben und bin wissend geworden. Und bis Sie kamen, ging alles so glatt, so glatt, so schlankweg aufs Ziel zu. Der andre Knabe wäre gestorben – jawohl, dann wäre uns nichts mehr im Wege gestanden. Und keine Menschenseele im ganzen Palast, weder Mann noch Weib, würde je gewagt haben, dem König ins Ohr zu flüstern, was Sie laut im Licht der Sonne durch den Hof schreien! Nun wird der Argwohn nicht mehr einschlummern in des Königs Sinn und – ich weiß, ich weiß nicht …« sie beugte sich vor, um ihm recht in die Augen zu sehen, »Tarvin Sahib, wenn ich in dieser Nacht die Wahrheit geredet habe, so sagen Sie mir wenigstens, wie viel Sie wissen!«

Tarvin beharrte bei finsterem Schweigen; bittend legte sie ihm eine Hand aufs Knie.

»Und niemand würde Verdacht geschöpft haben! Als die Damen des Vizekönigs voriges Jahr hier waren, gab ich aus meinem eigenen Schatz fünfundzwanzigtausend Rupien für das Kinderspital, und die Dame Sahib küßte mich auf beide Wangen, und ich sprach englisch mit ihr und zeigte ihr, wie ich meine Zeit zubringe – mit Stricken! Ich, die ich Männerherzen zu bestricken und zu zerpflücken vermag!«

Dieses Mal pfiff Tarvin nicht; er lächelte nur und murmelte etwas Beifälliges. Der großartige, meisterliche Zug in ihrer Schlechtigkeit und die kühle Gelassenheit, womit sie ihr Uebelthun betrieb, verliehen ihr eine gewisse Vornehmheit. Vielleicht aber war es ihre vollendete Schönheit, die ihm noch mehr Achtung einflößte; für Frauenschönheit ist der Westamerikaner vor allem zugänglich. Sitabhai imponierte ihm. Es war richtig, ihre Anschläge gegen ihn waren ja mißlungen, aber daß sie ausgeführt worden waren, ohne daß er’s gemerkt hatte, erfüllte ihn beinahe mit Verehrung.

»Jetzt werden Sie zu begreifen anfangen, daß hier etwas mehr auf dem Spiel steht als ein kränkliches Kind,« fuhr die Königin fort. »Wollen Sie wirklich dem Oberst Nolan die Geschichte zutragen, Tarvin Sahib?«

»Wenn Sie nicht gesonnen sind, Ihre Hand vom Maharadscha Kunwar zu lassen, allerdings,« erwiderte Tarvin, der seinen persönlichen Gefühlen in geschäftlichen Dingen nie Raum gab.

»Klug ist es nicht,« erklärte die Königin. »Der Oberst wird dem König viel Unlust und Scherereien bereiten, der König wird im Palast großen Wirrwarr anrichten und bis auf einige wenige werden alle meine Dienerinnen gegen mich zeugen, so daß der Verdacht vielleicht sehr stark werden wird. Sie denken dann vielleicht, Sie hätten mich ja gewarnt, aber, Tarvin Sahib, ewig können Sie doch nicht hier bleiben, meinen Tod können Sie nicht abwarten, und sobald Sie Rhatore den Rücken kehren …« sie schnalzte zur Ergänzung ihres Satzes mit den Fingern.

»Diese Möglichkeit soll Ihnen genommen werden,« versetzte Tarvin unerschüttert. »Lassen Sie das nur meine Sorge sein. Wofür halten Sie mich denn?«

Die Königin nagte in innerer Unschlüssigkeit am Rücken ihres Zeigefingers. Was dieser Mann, der heil und ganz aus allen ihren Anschlägen hervorgegangen war, noch ausrichten würde oder nicht, war nicht abzusehen. Hätte sie es mit einem aus ihrem Volke zu thun gehabt, sie würde Drohung gegen Drohung ausgespielt haben, aber diese vollständig kraftbewußte Gestalt, die in leichter, unbefangener Haltung neben ihr saß und doch jede ihrer Bewegungen beobachtete, immer sprungbereit auf der Lauer lag, einzig und allein sich selbst vertrauend, war eine unberechenbare Gewalt, die sie verblüffte und um ihre Sicherheit brachte.

Ein bescheidenes Hüsteln ließ sich hören, und Juggut Singh kam herbeigewatschelt, um unter demütigen Verbeugungen der Königin einige Worte ins Ohr zu flüstern. Sie lachte spöttisch und schickte ihn auf seinen Posten zurück.

»Er sagt, die Nacht gehe auf die Neige und es koste mein und sein Leben, wenn wir beim Morgengrauen außerhalb des Palastes wären.«

»Dann will ich Sie nicht aufhalten,« sagte Tarvin, indem er aufstand. »Ich glaube, daß wir einander verstanden haben,« – er beugte sich hinunter, um ihr in die Augen zu sehen, – »Hände weg! heißt die Losung.« »Ich soll also nicht mehr thun dürfen, was mir gefällt? Sie wollen morgen zum Oberst gehen?«

»Je nachdem,« sagte Tarvin kurz.

Als er jetzt wieder auf sie niedersah, schob er die Hand in seine Brusttasche.

»Setzen Sie sich noch einen Augenblick, Tarvin Sahib,« sagte sie, einladend mit der Handfläche auf die Steinplatte klopfend.

Tarvin gehorchte.

»Wenn ich keine Balken mehr stürzen lasse und die grauen Affen an der Kette halte …«

»Und den Triebsand im Flußbett wegschaffe,« ergänzte Tarvin mit grimmigem Lächeln. »Ich verstehe! Mein lieber kleiner Feuerteufel, das können Sie nach Belieben halten! Ich möchte Sie Ihrer kleinen Freuden gewiß nicht berauben!«

»Das war dumm von mir – ich hätte ja wissen müssen, daß keine Gefahr Sie schreckt,« sagte sie, bedächtig zu ihm hinüber schielend, »und mich schreckt kein Mann außer Ihnen, Tarvin Sahib. Wenn Sie ein König wären und ich die Königin, wir beide würden Hindostan in unsern Händen halten.«

Bei diesen Worten umfaßte sie seine geschlossene Faust, und eingedenk des Griffes in ihr Gewand, den sie bei seinem Pfiff gethan hatte, legte Tarvin die andre Hand über die ihrigen und hielt sie fest.

»Gibt es gar keinen Preis, Tarvin Sahib, wofür ich mir die Freiheit erkaufen könnte? Was ist’s, wonach Sie trachten? Um den Maharadscha Kunwar am Leben zu erhalten, sind Sie doch nicht nach Indien gekommen!«

»Woher wissen Sie, ob dem nicht so ist?«

»Sie sind sehr klug,« sagte sie mit silbernem Lachen, »aber man muß nicht noch klüger scheinen wollen, als man ist! Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie gekommen sind?«

»Nun, warum? Sprechen Sie.« »Sie sind hierher gekommen, wie Sie in den Tempel des Isvara gingen, um etwas zu suchen, was Sie nie finden werden, außer« – sie lehnte sich an seine Schulter – »Sitabhai hilft Ihnen. War es sehr kalt im Kuhmaul, Tarvin Sahib?«

Tarvin steifte seinen Nacken und seine Stirn furchte sich, aber weiter verriet er sich nicht.

»Damals hatte ich Angst, die Schlangen könnten Sie gebissen haben …«

»Wahrhaftig?«

»Ja, gewiß,« sagte sie sanft. »Und neulich war ich in Sorge, Sie könnten nicht rasch genug zurücktreten von dem Wippstein im Tempel.«

»Wahrhaftig?«

»Jawohl. Ach, ich wußte genau, wonach Ihr Sinn stand, ich wußte es, noch eh‘ Sie dem König Ihre Bitte vorgetragen hatten – damals, als die Leibwache gegen Sie anritt.«

»Wirklich nett! Sie stehen in Ihren Mußestunden wohl einem Privatauskunftsbureau vor?«

Sie lachte.

»Im Palast singt man jetzt Lieder von Ihrer Tapferkeit, aber die kühnste Ihrer Thaten ist, daß Sie mit dem Maharadscha vom Naulahka gesprochen! Er hat mir genau erzählt, was Sie gesagt haben, aber daß Sie, daß ein ›Feringhi‹ nach seinem Besitz lüstern sein könnte, das hat auch er sich nicht träumen lassen! Und ich, ich war gut – ich hab’s ihm nicht gesagt. Tarvin Sahib,« fuhr sie fort, indem sie ihre Hände aus seinem Griff befreite und ihm die eine zärtlich auf die Schulter legte, »Sie und ich, wir gehören zusammen, wir sind Eines Geistes Kinder! Leichter ist es, diesen Staat zu regieren, nein, leichter wäre es noch, von diesem Staat aus ganz Hindostan zu erobern und die weißen Hunde, die Engländer, hinauszutreiben, als das, was Sie zu vollbringen träumen. Aber ein starkes Herz macht alles möglich, alles leicht. Begehren Sie für sich selbst nach dem Naulahka, Tarvin Sahib, oder für einen andern, gerade wie ich Gokral Sitarun besitzen will für meinen Sohn? Kleinlich sind wir beide nicht. Ist es für einen andern, Tarvin Sahib?«

»Sagen Sie mir,« fragte Tarvin achtungsvoll, indem er ihre Hand von seiner Schulter löste und wieder fest umspannt hielt, »gibt es viele wie Sie in Indien?«

»Nur eine. Ich bin wie Sie einzig und – einsam.«

Ihr Kinn neigte sich gegen seine Schulter und die dunkeln Augen blickten von unten zu ihm auf, geheimnisvoll wie die Wasserfläche, an deren Rand sie saßen. Die brennenden Lippen und die beweglichen, zuckenden Nüstern waren so dicht in seiner Nähe, daß ihr duftender Atem seine Wangen streifte.

»Wollen Sie auch Staaten beherrschen wie ich, Tarvin Sahib? Nein, Ihr Dichten und Trachten gilt einem Weib. Ihre Regierung denkt für Sie, und Sie thun, was Ihnen befohlen wird. Ich habe den Kanal, den die Regierung durch meinen Orangengarten führen wollte, einen andern Weg gehen heißen, wie ich den König meinen Willen beugen und den Knaben töten und Gokral Sitarun beherrschen werde durch meinen Sohn! Aber Sie, Tarvin Sahib, Sie begehren nichts als ein Weib! Ist es nicht so? Ach, und sie ist zu klein und zu schmächtig, um die Last des Staatsglücks zu tragen. Sie wird ja bleicher und bleicher von Tag zu Tag.«

Sie fühlte, wie Tarvin zusammenzuckte, aber er sagte nichts. Aus dem Dickicht von Schilf und Buschwerk, das am jenseitigen Ufer des Teiches stand, ertönte ein heiseres, bellendes Husten, das von den Höhen widerhallte und den ganzen Umkreis mit Schrecken erfüllte, wie Wasser eine Schale füllt. Tarvin sprang auf: er hörte ihn zum erstenmal, den zornigen Klagelaut des Tigers, der ums Morgengrauen nach fruchtloser nächtlicher Jagd sein Lager aufsucht. »Das hat nichts zu bedeuten,« sagte die Königin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Es ist nur der Tiger, der beim Dungar Talao haust. Ich habe ihrer viele heulen hören, als ich noch eine Zigeunerin war, und wenn er auch hierher käme – Sie würden ihn niederschießen wie meinen Affen, nicht wahr?«

Sie drängte sich an ihn und zog ihn zu sich hernieder; unwillkürlich legte er den Arm um ihre Gestalt.

Der Schatten des Tieres glitt über eine offene Stelle im Röhricht, lautlos wie Distelwolle durch die Sommerluft gleitet, und Tarvins Hand schloß sich enger um den blühenden Leib – seine Hand ruhte plötzlich auf einem gebuckelten Gürtel, der sich durch all die Hüllen von Seidengaze kalt anfühlte.

»So klein und so schmächtig – wie sollte sie es tragen?« fuhr die Königin leise fort.

Sie machte eine leise Wendung in seinem Arm, und Tarvins Hand faßte ein zweites, ein drittes Glied der breiten Kette, alle wie das erste mit hohen Buckeln, und nun drückte sich sein Ellbogen gegen eine große viereckige Schnalle. Mit entfärbten Lippen, aber seine Bewegung meisternd, zog er Sitabhai noch näher an sich.

»Aber wir beide,« fuhr sie ganz leise fort, traumverloren zu ihm aufblickend, »wir könnten dieses Königreich zum Kampf aufhetzen wie die Wasserbüffel im Frühling. Möchten Sie mein Minister sein, Tarvin Sahib, und Staatsgeschäfte mit mir beraten durch den Vorhang?«

»Ich zweifle, ob ich Ihnen vertrauen könnte,« sagte Tarvin schroff.

»Und ich zweifle, ob ich mir trauen könnte,« versetzte die Königin. »Es könnte sein, daß ich zur Dienerin würde, ich, die ich allezeit Herrscherin war! Ich war nahe daran, mein Herz unter die Hufe Ihres Rosses zu werfen, nicht einmal, sondern oft …«

Sie schlang Ihre Arme um seinen Hals und verschränkte die Hände in seinem Nacken; sein Gesicht zu sich herunterziehend, blickte sie ihm tief in die Augen.

»Ist es so wenig,« girrte sie, »wenn ich Sie zu meinem König mache? In den alten Zeiten, ehe wir das indische Kaiserreich hatten, kamen Engländer herüber, Männer ohne Rang und Titel, sie wußten sich ins Herz einer Begum zu stehlen und führten ihre Soldaten ins Feld … sie waren Könige, nur nicht dem Namen nach. Wer weiß, ob die alten Zeiten nicht wiederkehren … dann könnten wir miteinander unsre Heere führen.«

»Das läßt sich hören! Halten Sie mir jedenfalls den Posten offen, vielleicht bewerbe ich mich darum, wenn ich daheim etliches erledigt habe.«

»Sie wollen fort? Sie wollen uns bald verlassen?«

»Sobald ich in Händen habe, was ich haben will, meine Liebe,« erwiderte er, sie fester an sich drückend.

Sie biß sich auf die Lippen, sagte aber sanft: »Ich hätte mir’s denken können! Auch ich gebe nie auf, wonach mich einmal verlangt hat. Nun, was ist es denn?«

Ihr Kopf sank vollends auf seine Schulter, um die Mundwinkel zuckte es schmerzlich. Herunter blickend, entdeckte er den rubinenen Griff eines Dolchs zwischen den Falten des hängenden Gewandes.

Mit einer raschen Bewegung löste er sich aus den umschlingenden Armen und sprang auf. Sie sah hinreißend aus, wie sie in dem dämmernden Licht die Arme stehend nach ihm ausstreckte, aber Tarvin hatte jetzt andre Dinge zu bedenken. Wie er sie jetzt ansah, mußte sie die Blicke senken.

»Ich will, was Sie um den Leib tragen – darum bitte ich.«

»Der weiße Mann denkt nur an Geldeswert, das hätte ich wissen können,« rief sie verächtlich, löste eine silberne Kette von ihrem Gewand und warf sie ihm hin, daß sie klirrend auf die Marmorplatte schlug. Tarvin würdigte das Ding keines Blicks.

»Sie kennen mich besser,« sagte er ruhig. »Kommen Sie, halten Sie die Hände auf – die Komödie ist zu Ende.«

»Ich verstehe nicht … soll ich Ihnen etwa ein paar Rupien geben?« höhnte sie. »Sputen Sie sich mit Ihren Wünschen, Juggut Singh bringt die Pferde.«

»Das soll schnell geschehen sein. Ich will das Naulahka haben.«

»Das Naulahka?«

»Jawohl. Ich habe wackelige Brücken und ungegürtete Pferde und schlecht gebaute Gerüste und trügerischen Flugsand satt. Ich will das Halsband haben.«

»Und Sie überlassen mir den Prinzen?«

»Nein, weder den Prinzen, noch das Halsband.«

»Und werden Sie morgen früh zum Oberst gehen?«

»Der Morgen ist schon da. Entscheiden Sie sich rasch.«

»Werden Sie zum Oberst gehen?« wiederholte sie, dicht vor ihn hintretend. »Gewiß, falls Sie mir das Halsband nicht geben.«

»Und wenn ich’s Ihnen gebe?«

»So gehe ich nicht hin. Soll der Handel gelten?«

Genau dasselbe hatte Tarvin zu Frau Mutrie gesagt.

Die Königin sah verzweifelt zu dem Morgenstern empor, der am östlichen Himmel zu verblassen begann. Wenn der Tag sie außerhalb des Palastes fand, konnte selbst des Königs Wille sie nicht vor dem Tod bewahren.

Und dieser Mann sprach, als ob er ihr Leben in Händen hielte, und dem war auch so, sie wußte es wohl. Wenn er Beweise hatte, würde er sie ohne Bedenken dem Maharadscha vorlegen, und wenn der Maharadscha zu begreifen, zu zweifeln anfing – Sitabhai war’s, als ob sie den kalten Stahl schon an ihrem schlanken Hals fühle. Dann würde sie sicher nicht als Begründerin einer Dynastie gefeiert werden, eine Namenlose mehr, die im Palast verschwand, das war ihr Schicksal. Des Königs Begriffsvermögen war ja barmherzigerweise zu umnebelt gewesen, um Tarvins Verdächtigungen in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen, aber jetzt war sie wehrlos allem preisgegeben, was dieser rücksichtslos entschlossene Fremde gegen sie unternehmen wollte. Mindestens konnte er den ungreifbaren Argwohn eines indischen Hofstaates gegen sie entfesseln, konnte durch Oberst Nolans Vermittlung den Maharadscha Kunwar vollständig ihrer Macht entziehen, und schlimmstenfalls – sie mochte den Gedanken nicht weiter verfolgen.

In ihrem innersten Herzen fluchte sie der erbärmlichen Neigung, die sie für den Mann empfand und die sie gehindert hatte, ihn zu töten vorhin, als ihre Arme ihn umfangen hielten. Ihn zu töten, war ihr fester Entschluß gewesen, als sie herkam, dann hatte es sie gereizt sich mit ihm zu messen, und schließlich hatte sie mit dem berückenden Gefühl, sich von einem stärkeren Willen beherrscht zu fühlen, zu lange ihr Spiel getrieben. Aber noch war es ja Zeit …

»Und wenn ich Ihnen das Naulahka nicht gebe?«

»So wissen Sie wohl am besten, was die Folge sein wird.«

Ihr Blick schweifte über die weite Ebene und sie merkte, daß die Sterne nur noch schwache Leuchtkraft hatten. Die tiefschwarze Wasserfläche wurde heller, sie schimmerte jetzt grau und im Röhricht erwachten die wilden Vögel. Die Morgendämmerung war ihr auf den Fersen, erbarmungslos gleich diesem Mann. Juggut Singh führte die Pferde vor; mit verzweifelten Gebärden drängte er zum Aufbruch. Der Himmel war gegen sie und auf Erden keine Hilfe.

Sie legte die Hände auf den Rücken. Tarvin hörte ein scharfes Knacken, und wie eine Feuerschlange lag das Halsband zu ihren Füßen.

Ohne ihm oder dem Schmuck den Blick zuzukehren, schritt sie auf die Pferde zu. Tarvin bückte sich rasch und riß den Schatz an sich. Während er das Halsband in seine Brusttasche zwängte, faßte er mit der andern Hand nach dem Zügel des Pferdes, das Juggut Singh losgelassen hatte.

Wieder überzeugte er sich, ob der Sattelgurt in Ordnung sei. Sitabhai, die hinter ihr Pferd getreten war, zögerte aufzusteigen.

»Leben Sie wohl, Tarvin Sahib! Vergessen Sie die Zigeunerin nicht,« sagte sie, den einen Arm über den Hals des Pferdes ausstreckend. »Hehi!«

Tarvin sah einen Lichtblitz aufzucken und im nächsten Augenblick den rubinfunkelnden Dolchgriff in die Satteldecke fahren, nur einen Zoll über seiner rechten Schulter. Mit einem Schmerzenslaut rannte sein Pferd auf den Hengst der Königin zu.

»Töte ihn, Juggut Singh!« rief sie, auf Tarvin deutend, dem feisten Eunuchen zu, der sich eben schwerfällig in den Sattel hob. »Töte ihn!«

Tarvins Hand umfaßte ihr zartes Handgelenk wie eine eiserne Klammer.

»Nur sachte, Teuerste! Sachte!«

Sie sah ihn betroffen an.

»Ich will Sie aufs Pferd heben,« sagte Tarvin.

Er umschlang sie mit beiden Armen und schwang sie in den Sattel.

»Jetzt noch einen Kuß,« sagte er, zu ihr aufblickend.

Sie beugte sich herunter.

»Nein, nicht Sie,« sagte er, ihre beiden Hände gefangen nehmend und sie herzhaft auf den Mund küssend.

Dann versetzte er dem Pferde einen schallenden Schlag auf die Flanken, daß das Tier den Abhang hinunterstolperte und über die Ebene jagte.

Nachdem Tarvin der Wolke von Staub und fliegenden Steinen, worin Sitabhai und ihr Begleiter verschwanden, eine Weile nachgesehen hatte, that er einen tiefen Atemzug der Erleichterung und wandte sich dem Teich zu. Auf der Steinplatte des Grabmals zog er das Naulahka hervor, breitete es zärtlich auf seinen Händen aus und weidete seine Augen daran.

Die Steine funkelten im Morgenrot und machten die wechselnden Farben der Hügel zu schanden. Wie sie am Hals des kleinen Prinzen den Fackelschein überstrahlt hatten, so nahmen sie jetzt den Wettkampf auf mit der roten Glut, die plötzlich hinter dem Röhricht aufschoß, und bezwangen auch diese. Das zarte, frische Grün der Binsen, das tiefe starke Blau des ruhenden Wassers, den Perlmutterschimmer der blitzschnell dahinschießenden Fische und auch die ersten blendenden Sonnenstrahlen, die über den Spiegel des Wassers hinschossen und leise Kreise zogen, als ob ein Flug Rebhühner ihn mit den Flügeln gestreift hätte – das Halsband überstrahlte alles. Nur der schwarze Diamant fühlte sie nicht mit, die Freudigkeit des werdenden Tages, er ruhte unter den funkensprühenden Genossen finster und rotherzig wie die bange Nacht, der Tarvin ihn entrissen hatte.

Tarvin ließ die Steine einen nach dem andern durch die Hand gleiten. Es waren ihrer fünfundvierzig, einer wie der andre tadellos, von reinstem Wasser. Damit von ihrer Schönheit nichts verloren gehe, waren sie nur in fadendünne Goldreifchen gefaßt und bewegten sich frei auf dem mattgoldenen Band, das sie aneinander reihte. Jeder einzelne davon hätte eines Königs Lösegeld bilden können, wog den guten Namen einer Königin auf.

Das war eine gute Viertelstunde für Tarvin, der Brennpunkt seines Lebens. Die Zukunft von Topaz war gesichert.

Die Wildenten strichen hin und her auf dem Teich, die Kraniche riefen einander zu und stolzierten durch das Röhricht, das über ihren scharlachroten Köpfen zusammenschlug. Aus irgend einem Tempel, der in einer Ritze des zerklüfteten Hügellandes stecken mochte, erklang das Morgenlied, das der Priester bei seinem Frühopfer anstimmt, und von der Stadt trug ein leichter Wind die Klänge des Trommelwirbels herüber, womit den Bewohnern angezeigt wurde, daß die Thore offen stehen und der Tag erschienen ist.

Tarvin blickte auf von seinem Schatz. Vor seinen Füßen lag Sitabhais funkelnder Dolch; er griff nach der zierlichen Waffe und warf sie in den Teich.

»Und nun geht’s an Käte,« sagte er sich.

Achtzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Der Palast schien noch friedlich zu schlummern auf seinem roten Felsenthron, als Tarvin jetzt zur Stadt zurückritt. Aus einem der Stadtthore, die rechtwinkelig zu seinem Pfad lagen, kam ein Kamelreiter heraus, und Tarvin betrachtete mit Interesse, wie rasch die langen Beine dieses Tieres ausgreifen können. So vertraut ihm auch der Anblick der straußhalsigen Lasttiere allmählich geworden war, einigermaßen riefen sie ihm immer noch die Erinnerung an seine Knabenzeit und den Zirkus wach. Der Reiter kam näher und kreuzte vor ihm die Straße. Dann hörte Tarvin in der Stille des Morgens einen ihm wohlbekannten Laut, das Knacken eines Flintenschusses, und zwar, wie er deutlich erkannte, das eines Repetiergewehrs. Instinktiv glitt er aus dem Sattel und stand schon jenseits seines Pferdes, als ein Schuß fiel und ein Wölkchen blauen Rauches über dem Kamel aufstieg und unbeweglich in der Luft hängen blieb.

»Hätte mir’s denken können, daß Sitabhai früh an die Arbeit geht,« brummte er über den Widerrist des Pferdes, wegspähend. »Für meinen Revolver ist die Entfernung leider zu groß … ja, worauf wartet denn der Narr?«

Jetzt ward ihm klar, daß der Mann mit echt indischer Ungeschicklichkeit den Knopf festgeklemmt haben mußte, denn er schlug die Flinte wütend vor sich auf den Sattel. Hastig schwang sich Tarvin wieder aufs Pferd und sprengte hinzu, den Revolver in der Faust, um auf das bleiche Gesicht Juggut Singhs anzulegen.

»Sie sind’s? Aber, Juggut Singh, hübsch ist das gerade nicht von Ihnen!«

»Es wurde mir befohlen,« versetzte der vor Angst schlotternde Mörder. »Ich bin wirklich ganz unschuldig und ich … ich verstehe mich gar nicht auf solche Dinge.«

»Das ist zum Lachen – ich will’s Ihnen zeigen!«

Und Tarvin nahm ihm die Flinte aus den zitternden Händen.

»Die Patronenhülse ist verbogen, so kann man nicht gut schießen, man braucht sie aber nur ein wenig auszuklopfen – sehen Sie – so! Das sollten Sie wirklich lernen, Juggut.«

Damit warf er die leere Hülse über seine Schulter.

»Und was werden Sie nun mit mir machen, Sahib?« rief der Eunuche kläglich. »Sie würde mich umgebracht haben, wenn ich nicht gegangen wäre!«

»Glauben Sie nur das nicht, Juggut! Sie ist eine Teufelin in der Theorie, aber in der Praxis hält die Kraft nicht vor. So, jetzt reiten Sie gefälligst voran.«

So setzten sich denn beide in der Richtung nach der Stadt in Bewegung, Juggut Singh aber drehte sich häufig im Sattel, um furchtsame Blicke nach rückwärts zu werfen. Tarvin nickte ihm, die erbeutete Flinte auf seiner Hüfte wiegend, beruhigend zu. Richtig gebraucht, war es übrigens eine vortreffliche Flinte, hatte Tarvin gefunden.

Am Eingang von Sitabhais Palastflügel stieg der Eunuche ab und schlurkte, ein wahres Bild der Angst und Beschämung, über den Hof. Tarvin ritt ihm klappernd nach, und als er eben durch eine von den Thüren verschwinden wollte, rief er ihn zurück.

»Sie haben ja Ihr Gewehr vergessen, Juggut; zu fürchten, brauchen Sie sich nicht davor.«

Trotzdem streckte Juggut nur zögernd die Hand danach aus.

»Geschadet hat ja der kleine Scherz niemand. Melden Sie sich bei der Dame als glücklich zurückgekehrt und bestellen Sie ihr meinen Dank für die Aufmerksamkeit!«

Nicht der leiseste Ton drang zwischen den grünen Gitterstäben hervor, als Tarvin aus dem Hof ritt. Der Thorbogen spie weder Balken noch Steine aus und die Affen lagen ruhig an der Kette. Auf ihren nächsten Schachzug mußte sich Sitabhai offenbar erst besinnen.

Tarvin war sich vollständig im klaren, was er zunächst zu thun hatte – wenn je, so war jetzt eine Fanfare angezeigt.

So ritt er denn spornstreichs zur Moschee hinaus, riß seinen taubengrauen Freund aus süßem Schlummer und übergab ihm folgende Botschaft zur Beförderung:

»Frau Mutrie, Denver.
»Halsband Ihr Eigentum. Hals bereit halten. Schienen legen nach Topaz.

Tarvin.«

Im Rasthaus wechselte er nur sein Pferd und dann ging’s zu Käte. Er knöpfte seinen Rock fest zu, betastete von Zeit zu Zeit zärtlich die Tasche, die das Naulahka barg, und stieg, nachdem er Fibby im Hof angebunden hatte, die Stufen zur Veranda hinauf. Frau Estes war die erste, die ihm entgegentrat und ihm die gehobene Stimmung, seine Zufriedenheit mit sich und der Welt, von den Augen ablas.

»Sie haben Angenehmes erlebt oder gehört,« rief sie. »Bitte, kommen Sie herein!«

»Das Angenehmste oder Zweitangenehmste, was zu erleben war,« versetzte er lächelnd, indem er ihr ins Familienzimmer folgte. »Ich würde es Ihnen für mein Leben gern erzählen, Frau Estes, ich ersticke fast daran, wenn ich’s niemand erzähle, aber für Leute, die in der Gegend wohnen, ist die Geschichte nicht zuträglich. Meinem Geschmack nach würde ich am liebsten den Ausrufer dingen und ein paar Musikanten dazu, um das Ereignis bekannt zu machen, und wir würden ein Freudenfeuer anzünden und so eine Art 4. Juli feiern, wobei ich die Unabhängigkeit von den Eingeborenen mit Begeisterung erklären wollte, aber es geht leider Gottes nicht. Etwas andres aber kann ich Ihnen sagen. Sie vermuten wohl, weshalb ich so oft hier bin, Frau Estes, das heißt abgesehen davon, daß Sie so gütig gegen mich sind, daß ich Sie und Ihren Mann sehr gern habe und mich riesig freue, mit Ihnen plaudern zu können? Aber den andern Grund, den haben Sie wohl erraten?«

»Ich glaube fast,« erwiderte Frau Estes lächelnd.

»Nun, das freut mich! Freut mich rechtschaffen, muß ich sagen! Dann darf ich wohl auch hoffen, daß Sie auf meiner Seite sind.«

»Wenn Sie meinen, daß ich Ihnen alles Glück wünsche, gewiß! Aber Sie werden begreifen, daß ich für Fräulein Sheriff eine gewisse Verantwortlichkeit fühle … ich bin manchmal mit mir zu Rat gegangen, ob ich nicht an ihre Mutter schreiben soll und ihr mitteilen …«

»Ach! Ihre Mutter weiß alles, die ist voll davon, und ich darf wohl sagen, es wäre ihr höchster Wunsch. Dort liegt die Schwierigkeit nicht, aber anderswo, Frau Estes!«

»Ja, ja, ich verstehe Sie. Ein eigentümliches Mädchen, ebenso stark als weich. Ich habe sie fest ins Herz geschlossen und bewundre ihren hohen Mut, und doch war‘ mir’s lieber, sie hätte ihn nicht und würde aufgeben, was sie damit erkämpft. Als Frau wäre sie ganz gewiß besser an ihrem Platz,« setzte die Missionarin überlegend hinzu.

»Wie verständig Sie sind!« sagte Tarvin mit einem bewundernden Blick. »Wie verständnisvoll! Ganz dasselbe habe ich ihr wohl hundertmal gesagt! Und sind Sie ferner nicht auch der Ansicht, Frau Estes, es wäre am besten, sie würde vom Fleck weg heiraten, ohne allen Zeitverlust?«

Frau Estes sah ihn forschend an; dieser Tarvin war ihr manchmal etwas unverständlich und verblüffend.

»Ich meine, wenn Sie klug sind , so stellen Sie den Zeitpunkt dem Lauf der Ereignisse anheim,« entgegnete sie nach einer Weile. »Wir haben ihr Werk hier beobachtet mit der sehnlichen Hoffnung, daß ihr gelingen möchte, was noch keinem gelungen ist, aber mein innerstes Gefühl sagt mir, daß es nicht der Fall sein wird. Sie hat zu viel gegen sich. Tausendjährige Ueberlieferung, Lebensgewohnheiten, Erziehung, alles steht ihr entgegen, und früher oder später wird die Niederlage kommen. Darein muß sie sich ergeben, trotz ihrer Entschlossenheit und Tapferkeit. In der letzten Zeit habe ich manchmal denken müssen, der Kampf könnte ihr nahe bevorstehen; im Spital herrscht große Unzufriedenheit, Mein Mann hat manches gehört, was uns sehr beunruhigt.«

»Beunruhigt! Das will ich meinen! Das ist ja gerade das Schlimme an der Geschichte … nicht nur, daß sie mich warten und mitunter verzweifeln läßt, Frau Estes, sondern daß sie mittlerweile in die unerdenklichsten Gefahren rennt! Aber jetzt habe ich keine Zeit mehr abzuwarten, daß sie das einsieht, ich muß ihr beibringen, daß es jetzt die allein richtige Zeit wäre, Nikolas Tarvins Frau zu werden. Ich muß fort von Rathore, das ist der langen Rede kurzer Sinn, Frau Estes! Fragen Sie nicht warum, es muß sein. Und ich muß Käte unbedingt mitnehmen – wenn sie Ihnen lieb ist, so helfen Sie mir!«

Frau Estes gab die beste Antwort, die sie geben konnte, sie sagte, sie wolle hinaufgehen und Käte seinen Besuch melden. Diese Meldung schien viel Zeit zu kosten, aber Tarvin wartete nicht nur geduldig, sondern mit zuversichtlichem Lächeln. Er zweifelte jetzt gar nicht mehr, daß Käte sich herumbringen lassen werde; in der Trunkenheit des einen Erfolgs wäre es ihm unmöglich gewesen, am andern zu zweifeln. Trug er nicht das Naulahka in der Brusttasche? Käte gehörte dazu, sie war unlöslich damit verknüpft. Immerhin war er ganz gewillt, die Hilfe, die sich ihm bot, anzunehmen, und er dachte mit Vergnügen, daß Frau Estes dabei sei, ihr kräftig und lang zuzureden.

Plötzlich entdeckte er auf einem Tischchen eine neue Nummer des Topazer Tageblatts, und als er sie durchlas, stieß er abermals auf ein gutes Omen! Er hatte sich nicht getauscht in seinem Vertrauen auf die »Zögernde Ader,« die Leute, die in seinem Auftrag die Mine bearbeiteten, hatten jetzt wirklich eine ergiebige Ader gefunden und man förderte in der Woche für fünfhundert Dollar Erz zu Tage! Er steckte das Blatt in die Tasche und überwand mannhaft die Lust, Freudensprünge zu machen – vielleicht war es doch ratsam, mit dieser Leibesübung zu warten, bis er Käte gesprochen hatte! Den kleinen Freudenpfiff, den er sich zum Trost gestatten wollte, mußte er auch unterlassen, denn jetzt kam diese Käte zur Thür herein, und die mußte er doch mit einem Lächeln begrüßen. Sie hatte ja jetzt überhaupt keine Wahl mehr, und sein Lächeln war allerdings geeignet, ihr das klar zu machen.

Der erste Blick in ihr Gesicht belehrte ihn jedoch, daß ihr die Sache noch lange nicht so fadengerade vorkam. Das konnte er damit entschuldigen, daß sie ja den Ursprung seiner inneren Gewißheit noch gar nicht kannte. Er hielt sich sogar damit auf, das graue mit schwarzem Samt besetzte Hauskleid zu beachten, das sie heute trug, nachdem er sie all die Zeit her nur in Weiß gesehen hatte.

»Freut mich, daß du für eine Weile das Weiß aufgegeben hast,« bemerkte er, ihr die Hand schüttelnd. »Ich nehm’s für ein Zeichen, daß du in den gemütlichen Zuständen dieses gesegneten Lands überhaupt ein Haar gefunden hast, und in der Stimmung wünsche ich dich zu finden. Ich möchte, daß du die Geschichte aufgäbest.«

Er hielt dabei ihre schmale, abgearbeitete Hand in der braunen Tatze fest, die aus seinem weißen Aermel hervorkam, und sah ihr gespannt in die Augen.

»Was für eine Geschichte?«

»Indien – die ganze Geschichte. Ich möchte, daß du mit mir heimkämst,« sagte er sanft.

Jetzt blickte sie zu ihm auf, und er sah um ihre Mundwinkel Spuren des Kampfes, den sie mit Frau Estes ausgefochten haben mochte.

»Du willst abreisen? Ich bin sehr froh darüber … du verstehst doch warum?«

Die letzten Worte hatte sie mit der deutlichen Absicht einer Freundlichkeit hinzugesetzt.

Tarvin nahm lachend Platz.

»Ja, ich kenne dich: Abreisen werde ich allerdings, aber nicht allein, du gehörst auch dazu,« versicherte er, ihr zulächelnd.

Sie schüttelte schweigend den Kopf.

»Nein, Käte, sag‘ das nicht! Du darfst es nicht sagen … Dieses Mal wird es Ernst.«

»War es das nicht immer?« fragte sie, sich ebenfalls setzend. »Für mich war es immer bitterer Ernst, nicht thun zu können, was du von mir haben willst, meine ich. Es nicht zu thun, das heißt etwas andres thun zu müssen, was für mich die ernsthafteste Sache von der Welt. Seither hat sich nichts verändert, Nick, weder um mich noch in mir. Wenn das geschehen wäre, hätt‘ ich dir’s gleich gesagt. Was soll denn jetzt anders geworden sein für uns beide?«

»Mancherlei. Zum Beispiel, daß ich Rhatore notwendig verlassen muß, und daß ich dich zurücklasse, wirst du mir hoffentlich nicht zutrauen.«

Käte hatte viel zu sehen an ihren eigenen Händen, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Erst nach einer Weile blickte sie auf und sah ihm fest in die Augen.

»Nick,« begann sie, »ich möchte dir gern erklären, wie ich die ganze Frage ansehe, was ich darüber denke. Findest du meine Anschauungen unrichtig, so kannst du mir’s ja sagen.«

»Selbstverständlich sind sie durch und durch verkehrt!« rief er, sich nichtsdestoweniger gespannt vorbeugend.

»Nun, laß mich’s doch versuchen! – Du willst mich zur Frau haben?«

»Ja, das will ich,« versetzte Tarvin feierlich. »Gib mir Gelegenheit, das vor einem Pfarrer zu wiederholen!«

»Ich bin dir dankbar dafür, Nick. Es ist ein Geschenk, das größte und höchste, das ein Mann geben kann, und ich danke es dir. Aber was verstehst du eigentlich unter Heiraten – darf ich dich das fragen, Nick? Du möchtest, daß ich dein Leben abrunde, daß du mich neben andern Dingen, wonach du trachtest, auch hättest. Ist dem nicht so? Sag‘ mir’s ehrlich, Nick, habe ich recht oder nicht?«

»Nein, du hast nicht recht!« brüllte Tarvin.

»Aber es ist so! Die Ehe ist immer so und von Rechts wegen. Heiraten heißt, in einem andern Menschen aufgehen, nicht mehr sein eigenes, sondern eines andern Leben leben. Das ist gut, das ist das richtige Frauenleben. Ich habe gar nichts dagegen, es stößt mich nicht ab, ich glaube, daß andre ihr Glück darin finden, nur mich kann ich nicht hineindenken. Eine Frau, die heiratet, gibt ihr Selbst auf, schenkt sich her in jeder glücklichen Ehe. Ich kann aber mein ganzes Selbst gar nicht hergeben, denn ich hab’s nicht mehr, es gehört etwas anderm. Und einen Teil von mir kann ich dir nicht anbieten; wohl wäre er so groß, wie der Teil, den der Mann der Frau von sich gibt, aber der Mann kann sich damit nicht begnügen, er muß alles fordern.«

»Das heißt also, du müssest deine Arbeit aufgeben oder mich, und letzteres wird dir leichter?« »Das habe ich nicht gesagt, Nick, aber war’s denn so unbegreiflich, wenn ich’s sagte? Sei doch ehrlich Nick! Stell dir doch vor, daß ich von dir verlangte, du solltest alles aufgeben, was deines Lebens Zweck und Inhalt ist. Wenn ich fordern wollte, daß du deine Arbeit aufgibst? Und was würde ich dir dagegen bieten? Die Ehe! Nein, nein! Die Ehe ist etwas sehr Schönes, aber welcher Mann würde diesen Preis dafür bezahlen?«

»Ja, mein liebes Kind, aber die Frau? Die bezahlt diesen Preis doch gern!«

»Die glückliche, die zum Glück geborene Frau, ja, aber nicht jeder ist es gegeben, in der Ehe das Einzige zu sehen. Sogar für Frauen gibt es mehr als einen Lebenszweck.«

»Nun höre aber einmal, Käte, ein Mann ist doch kein Waisenhaus und kein Heim für Obdachlose! Du nimmst den Mann wirklich gar zu ernsthaft. Du stellst dir die Ehe offenbar vor wie eine Wohlthätigkeitsanstalt, der man seine ganze Zeit und Kraft widmen muß. Im Anfang allerdings sieht es ungefähr so aus und man stellt sich so an, als ob man nichts mehr daneben treiben könnte, in der Praxis aber braucht man nur ein paar Gesellschaften mitzumachen, einer halbjährlichen Generalversammlung beizuwohnen, ein oder zwei Gartenfeste anzuordnen, um die Geschichte im Gang zu erhalten. Wenn du heiratest, verpflichtest du dich zu nicht viel weiter, als mit einem Mann zu frühstücken und des Abends, wenn er heimkommt, in keinem allzu häßlichen Kleid am Kamin zu sitzen oder doch nicht zu weit davon. Das ist doch keine so fürchterliche Zumutung, oder doch, Käte? Versuch’s einmal mit mir und du wirst sehen, wie leicht ich dir die Sache mache! Von der andern Hingebung weiß ich ja auch, und ich begreife vollkommen, daß dir das Leben unerträglich wäre, wenn du außer deinem Mann nicht noch eine Menge Leute glücklich machen könntest. Ich anerkenne diese Thatsache, ich lege sie unserm Vertrag zu Grund, ja ich sage, gerade so will ich’s haben. Du hast nun einmal das Talent, die Menschheit zu beglücken, und ich verlange nur, daß du bei mir anfängst. Ist das geschehen – und du sollst sehen, wie leicht es bei mir geht – so freue ich mich nur, wenn du das Geschäft draußen fortsetzen und die ganze Welt in einen Blumengarten verwandeln wirst. Und das wirst du thun, oder besser noch, Käte, wir wollen’s zusammen fertig bringen. Man hat noch gar keine Idee davon, wie gut zwei Leute sein können, wenn sie ein Kompaniegeschäft in Wohlthätigkeit betreiben. Das ist nur noch nicht probiert worden – versuch‘ du’s mit mir. O Käte, ich liebe dich, ich brauche dich, und wenn du mich nur gewähren lassen willst, so schaffe ich dir ein Leben, wie du es brauchst!«

»Ich weiß es wohl, Nick, du würdest sehr gut gegen mich sein, du würdest alles für mich thun, was ein Mann thun kann. Aber nicht der Mann macht die Ehe glücklich oder auch nur möglich, das thut die Frau und muß es thun. Entweder würde ich daheim meine Pflicht erfüllen und die andre vernachlässigen, dann wäre ich todunglücklich, oder ich würde dich vernachlässigen und noch viel unglücklicher sein. Welchen Weg wir auch einschlagen, Glück wäre für mich auf keinem zu finden.«

Tarvins Hand griff nach dem Naulahla in seiner Tasche. Er mußte seinen Schatz befühlen –, es war, als ob Kraft davon ausströmte, die Kraft, ein rasches Wort zu unterdrücken, das vollends alles verdorben hatte.

»Käte, hör‘ mich an,« fuhr er mit großer Ruhe fort. »Wir haben keine Zeit mehr, uns künftige Gefahren und Möglichkeiten auszumalen, denn wir müssen einer thatsächlichen Gefahr ins Auge sehen. Du bist hier nicht sicher. Ich kann dich hier nicht allein lassen, und ich muß fort. Darum bitte ich dich, sofort meine Frau zu werden.«

»Aber ich fürchte mich gar nicht. Wer sollte mir etwas anhaben?«

»Sitabhai,« versetzte er ingrimmig. »Uebrigens brauchst du das gar nicht zu wissen; wenn ich dir sage, daß du nicht sicher bist, muß es dir genügen. Mein Wort darauf, daß ich’s weiß.«

»Und du?«

»Ach, ich! Darauf kommt’s ja nicht an!«

»Die Wahrheit, Nick! Ich fordre sie.«

»Nun, ich Hab‘ dir ja immer gesagt, daß mir kein Klima paßt, wie das von Topaz.«

»Das heißt also, du bist in Gefahr, in Lebensgefahr vielleicht?«

»Nun, mir das Leben zu retten, strengt Sitabhai ihren klugen Kopf sicherlich nicht an,« sagte er lächelnd.

»Dann mußt du auf der Stelle fort von hier, nicht eine Stunde darfst du säumen. O Nick, du mußt fort!«

»Das sag‘ ich ja auch. Rhatore kann ich sehr leicht entbehren, aber dich nicht, du mußt also mitkommen.«

»Willst du damit sagen, daß du ohne mich nicht gehen, dich lieber der Gefahr aussetzen willst?« fragte sie angstvoll.

»Nein. Wenn ich das sagen wollte, wär’s eine Drohung. Ich sage nur, daß ich auf dich warte.«

Seine Augen lachten ihr zu.

»Nick, ist die Gefahr aus dem entstanden, was ich dich thun hieß?« fragte sie plötzlich.

»Das brauchst du nicht zu wissen…«

»Dann ist es so und auf mich fällt die Schuld.«

»Was für eine Schuld? Daß ich mit dem König gesprochen habe? Mein liebes Kind, das will nicht mehr bedeuten, als der Eröffnungsumzug bei diesem Zirkusspiel. Setz‘ dir nur nichts in den Kopf von Schuld und Verantwortlichkeit! Das Einzige, wofür du verantwortlich bist, ist, daß wir jetzt fortkommen, miteinander durchbrennen, ausreißen, verschwinden. Dein Leben ist hier keine Stunde mehr sicher, dessen bin ich gewiß – das meinige keine Minute.«

»Und in diese Lage bringst du mich,« sagte Käte vorwurfsvoll. »Ich bringe dich nicht in die Lage, aber ich zeige dir den einzigen Ausweg, der einfach genug ist!«

»Und der heißt Nikolas Tarvin!«

»Nun ja, ich sage ja, daß er einfach ist. Ich behaupte, ja gar nicht, er sei glänzend. Viele könnten dir mehr bieten, es gibt Tausende von Männern, die besser sind als ich, aber keinen, der dich mehr lieben könnte. O Käte, Käte!« rief er aufspringend. »Vertrau‘ dich meiner Liebe an, und ich trotze einer Welt, dich glücklich zu machen!«

»Nein, nein … du mußt gehen.«

Er schüttelte traurig den Kopf.

»Ich kann dich nicht verlassen! Das fordere du von einem andern! Meinst du, ein Mann, der dich liebt, könnte es über sich bringen, dich in dieser trostlosen Wildnis allen Gefahren preisgegeben zu wissen und zu gehen? Traust du das irgend einem zu? Käte, mein Lieb, komm mit mir! Du quälst mich, du treibst mich in den Tod, indem du mich zwingst, dich auch nur einen einzigen Augenblick ohne Aufsicht zu lassen – ich sage dir, du bist in äußerster Lebensgefahr. Nun du das weißt, wirst du doch wohl nicht bleiben wollen. Dein Leben diesen Geschöpfen zu opfern, hast du doch nicht im Sinn!«

»Und warum nicht?« rief Käte aufspringend, die alte Begeisterung im Blick. »Gewiß! War es recht, für sie zu leben, so ist es auch recht, für sie zu sterben. Ich glaube nicht, daß mein Tod ihnen not thut, aber wenn dem so ist, bin ich bereit.«

Tarvin starrte sie an. Er war bestürzt, ratlos, hilflos.

»Du kommst also nicht mit?«

»Ich kann nicht. Lebe wohl, Nick. Das ist das Ende …«

»Wenigstens für heute,« sagte er, ihr die Hand gebend. »Guten Nachmittag!«

Sie sah mit beklommenem Herzen zu, wie er den Hut aufstülpte und sich zum Gehen anschickte.

»Aber du gehst doch?« rief sie plötzlich erschrocken.

»Gehen? Nein! Nein! Ich bleibe und wenn ich mir eine Armee zusammentrommeln, mich zum König erklären und den Dâk Bungalow als Regierungssitz verteidigen müßte! Gehen!!«

Sie streckte flehend die Hand aus, um ihn festzuhalten, aber Tarvin war schon fort.

Käte ging zu ihrem Kranken. Der Maharadscha Kunwar wohnte noch im Missionshaus, hatte sich aber zur Erheiterung seiner Genesungszeit Spielzeug und Lieblingstiere vom Palast kommen lassen dürfen. Schweigend setzte sich Käte an sein Bett und weinte lange Zeit leise in sich hinein.

»Was hast du denn, Fräulein Käte?« fragte der Prinz, nachdem er ihr seltsames Gebaren eine Weile verwundert beobachtet hatte. »Mir geht’s ja jetzt ganz gut, da braucht niemand zu weinen! Wenn ich wieder im Palast bin, werde ich meinem Vater, dem Könige, sagen, was du für mich gethan hast, und dann wird er dir ein Dorf schenken. Wir Radschputen vergessen nie, was man uns Gutes thut.«

»O Lalji, ich weine nicht um dich,« sagte Käte, sich die Augen trocknend.

»Dann wird dir mein Vater zwei Dörfer geben. Wenn ich gesund werde, darf niemand weinen, denn ich bin ein Königssohn. Wo ist denn Moti? Er soll an meinem Bett sitzen.«

Käte stand gehorsam auf, um des Maharadscha Kunwar Liebling zu holen. Moti war ein kleiner grauer Affe, der ein goldenes Halsband trug, sich frei in Garten und Haus herumtrieb und des Abends alle erdenkliche List aufwendete, um sich eine Schlafstätte in des Prinzen Bett zu erobern. Er beantwortete Kätes Ruf von einem Baume aus, wo er sich mit den wilden Papageien geneckt hatte und folgte ihr, in der Affensprache murmelnd, ins Krankenzimmer.

»Da komm her, kleiner Hanuman,« sagte der Prinz, eine Hand aufhebend, und der Affe war mit einem Satz auf dem Bett.

»Ich habe von einem Könige gehört, Moti,« plauderte der Prinz, mit dem, goldenen Halsband des Tieres spielend, »der dreimalhunderttausend Rupien ausgab für eine Affenhochzeit. Möchtest du auch eine Frau haben, Moti? Ach nein, das goldene Halsband ist ganz genug für dich. Wir wollen unsre Rupien sparen, bis wir gesund sind, und dann wollen wir Fräulein Käte und Tarvin Sahib verheiraten und ihnen ein Fest geben, und du sollst auf ihrer Hochzeit tanzen.«

Der Knabe sprach in der Mundart, aber Käte verstand jetzt manches davon und die Verbindung ihres Namens mit dem Tarvins machten ihr den Sinn nur zu klar.

»Sprich nicht davon, Lalji, bitte, nicht!«

»Warum denn nicht, Käte? Sogar ich bin ja verheiratet.«

»Ja, das ist etwas andres. Käte mag einmal nichts davon hören, Lalji.«

»Wie du willst,« versetzte der Prinz, ein Pfännchen ziehend. »Jetzt bin ich ja nur ein kleines Kind, aber wenn ich gesund bin, will ich wieder ein König sein, und niemand kann meine Geschenke zurückweisen. Horch! Das sind meines Vaters Trompeten! Er kommt, er besucht mich!«

Man hörte aus ziemlicher Entfernung ein Hornsignal, dann Hufschlag, und bald darauf rasselte die Staatskarosse des Maharadscha samt einem Haufen Berittener in den Hof des Missionshauses. Käte sah ihren Pflegling aufmerksam an, besorgt, daß ihm die Unruhe schaden könnte, aber die Augen des kleinen Mannes leuchteten freudig, seine Nasenflügel bebten, und während die schmale Kinderhand sich fest um den Griff des unentbehrlichen Säbels schloß, flüsterte er glückselig: »Das ist schön! Mein Vater bringt alle seine Reiter mit!«

Eh‘ Käte aufstehen konnte, führte Herr Estes schon den Maharadscha ins Krankenzimmer, das vor dem Umfang und Glanz seiner Persönlichkeit ganz zusammenzuschrumpfen schien. Er hatte eine Parade über seine Truppen abgenommen und war daher in voller Uniform, als oberster Kriegsherr, was keine Kleinigkeit war. Die Augen des Maharadscha Kunwar ruhten mit wahrem Entzücken auf der erhabenen Gestalt des königlichen Vaters, die er von den glänzenden Reiterstiefeln mit den goldenen Sporen aufwärts zu den weißledernen Reithosen, dem goldstrotzenden Waffenrock mit den Diamanten des Steins von Indien bis zum safrangelben Turban mit der nickenden Smaragdagraffe andächtig studierte. Der König zog die Stulphandschuhe aus und schüttelte Kätes Hand herzhaft; nach einer richtigen Orgie pflegte Seine Hoheit immer bemerkenswert civilisiert zu sein.

»Und dem Kleinen geht’s gut?« fragte er heiter. »Ein kleiner Fieberanfall, wie ich höre – ich selbst hatte in letzter Zeit auch etwas Fieber.«

»Ich fürchte, daß die Krankheit des Prinzen etwas mehr zu bedeuten hatte, Maharadscha Sahib,« bemerkte Käte.

»Siehst du, mein Kleiner,« sagte der König auf hindostanisch, indem er sich zärtlich über ihn beugte, »das kommt davon, wenn man zu viel ißt!«

»Nein, Vater, zu viel gegessen habe ich nicht, ich bin aber jetzt ganz wohl.«

Käte stand am Kopfende des Bettes und strich mit leiser Hand über das Haar des Knaben.

»Wie viele Truppen nahmen an der Parade teil?«

»Beide Geschwader, mein General,« versetzte der Vater mit stolz leuchtendem Blick. »Du bist ein echter Radschpute, mein Sohn!«

»Und meine Leibwache – wo stand die?«

»Bei Pertab Singhs Corps. Sie führte den Angriff beim Schlußtableau.«

»Beim heiligen Roß,« rief der Maharadscha Kunwar, »sie soll ihn später im Ernst führen! Nicht wahr, Vater? Du auf dem rechten, ich auf dem linken Flügel!«

»Gewiß, mein Sohn, aber um ein Feldherr zu werden, muß ein Prinz viel lernen und darf nicht krank sein.«

»Ich weiß es wohl,« sagte der Knabe mit tiefem Ernst. »Mein Vater, ich habe in diesen Nächten viel darüber nachgedacht – bin ich immer noch ein kleines Kind?«

Er sah bittend zu Käte auf und flüsterte ihr zu: »Ich möchte mit meinem Vater sprechen. Niemand soll uns stören.«

Käte verließ, dem Knaben noch freundlich zunickend, das Zimmer, und der Maharadscha setzte sich an seines Sohnes Bett.

»Nein, ich bin kein Kind mehr,« begann der Prinz. »In fünf Jahren werde ich ein Mann sein und viele Männer werden mir gehorchen. Wie aber soll ich wissen was Recht oder Unrecht ist, daß ich’s ihnen befehle?«

»Darum muß ein Prinz eben viel lernen,« versetzte der Maharadscha so im allgemeinen.

»Ja, daran habe ich eben gedacht, als ich hier so im Dunkeln lag, Vater, und mir ist, als ob ich nicht all diese Dinge im Palast und nicht von Frauen lernen könnte. Vater, laß mich fortgehen, daß ich lerne, wie man ein Prinz ist!«

»Ja wohin wolltest du denn gehen? Mein Königreich ist doch deine Heimat, Söhnchen.«

»Ich weiß, ich weiß, und ich will auch wieder heimkommen, aber laß mich nicht zum Gespött der andern Prinzen werden. Bei meinem Hochzeitsfest hat mich der Ravut von Bunnaul ausgelacht, weil ich nicht so viele Schulbücher habe wie er, und er ist doch nur der Sohn eines in Adelstand erhobenen Herrn, hat keine Ahnen. Aber er ist in ganz Radschputana herumgekommen bis Delhi und Agra und, denke dir, sogar nach Abu, und er ist in der oberen Klasse der Prinzenschule in Adschmir. Vater, alle Königssöhne gehen in diese Schule, und dort spielen sie nicht mit den Frauen, sie reiten mit Männern! Und die Luft und das Wasser sind sehr gut in Adschmir. Ach, laß mich auch hin, Vater!«

Auf des Maharadscha Zügen zeigte sich ernste Bekümmernis, denn der Knabe war ihm sehr ans Herz gewachsen.

»Aber es könnte dir irgend etwas zustoßen, bedenke doch, Lalji.«

»Ich hab’s bedacht. Was sollte mir zustoßen dort, wo ich unter der Obhut der Engländer stehe? Der Ravut von Bunnaul hat mir gesagt, daß ich meine eigenen Zimmer haben würde, meine eigene Dienerschaft, meine eigenen Pferde, gerade wie die andern Prinzen, und daß ich dort sehr angesehen sein würde, hat er auch gesagt.«

»Gewiß, gewiß,« stimmte der Vater bei, um den Kleinen nicht aufzuregen. »Wir sind ja Kinder der Sonne, du und ich, mein Prinz.«

»Deshalb kommt es mir auch zu, so gelehrt, so stark und tapfer zu werden als die Besten meines Geschlechts. Vater, es ist mir entleidet, in den Frauengemächern zu spielen, die Geschichten meiner Mutter und die Lieder der Tänzerinnen anzuhören, und die wollen mich auch immerzu küssen! Laß mich nach Adschmir, laß mich in die Prinzenschule gehen. Und in einem Jahr, schon in einem Jahr, sagt der Ravut von Bunnaul, werde ich genug gelernt haben, um meine Leibwache zu führen, wie ein König sie führen soll! Versprichst du mir’s, Vater?«

»Wenn du wieder ganz gesund bist, wollen wir weiter darüber reden,« sagte der König, »Ich will es mit dir besprechen nicht wie ein Vater mit dem Kind, sondern wie ein Mann mit dem andern.«

Des Prinzen Augen strahlten vor Vergnügen.

»Das ist gut! Wie ein Mann mit dem andern. …«

Der Maharadscha nahm ihn liebkosend in die Arme und erzählte ihm kleine Neuigkeiten aus dem Palast, was eben einen Jungen interessieren konnte.

»Gibst du mir jetzt Urlaub zu gehen, mein General?« fragte er dann lachend.

»O mein Vater!«

Der Prinz vergrub sein Köpfchen in dem mächtigen Bart des Vaters und schlang die Arme um seinen Hals. Sachte und freundlich machte sich der Maharadscha los und ebenso sachte ging er auf die Veranda hinaus, und noch ehe Käte zurückgekommen war, verschwand der Wagen mitsamt den Reitern unter Trompetengeschmetter in einer Wolke von Staub. Eben waren sie außer Sicht gekommen, als ein Bote erschien, der ein aus Gras geflochtenes Körbchen mit Apfelsinen, Bananen und Granatäpfeln, smaragdgrün, gold und kupferfarbig, mit den Worten: »Ein Geschenk der Königin«, vor Käte niedersetzte.

Der Prinz hörte die Worte im Zimmer und rief seelenvergnügt: »Käte, das schickt dir meine Mutter! Sind es große Früchte! Gib mir einen Granatapfel,« bat er, als Käte den Korb hereinbrachte. »Ich habe dieses Jahr noch gar keinen gegessen.«

Käte setzte den Korb auf den Tisch, aber schon war dem Prinzen etwas andres in den Sinn gekommen. Er wollte jetzt einen Scherbett von Granatäpfeln haben und gab Käte genau an, wie sie Zucker und Milch mit dem Saft und den roten Fruchtkernen anrühren müsse. Sie verließ das Zimmer, um ein Glas und Milch zu holen, und Moti, der sich unterm Bett verkrochen gehabt, weil er bei einem Versuch, sich des Prinzen Smaragden anzueignen, einen Tritt bekommen hatte, kam hervor und benutzte die Zeit, eine schöne Banane zu stibitzen. Da ihm wohl bekannt war, daß sein Herr und Gebieter das Bett nicht verlassen konnte, kehrte er sich nicht an seinen abwehrenden Ruf, sondern setzte sich ganz gemütlich hin, streifte mit den kleinen, schwarzen Fingern geschickt die grüne Haut ab, grinste den Knaben an und ließ sich’s schmecken.

»Du bist ein Strick, Moti,« sagte der Prinz lachend. »Käte meint, du seiest gar kein Gott, sondern nur ein graues Aeffchen, und ich glaub’s auch. Wenn sie zurückkommt, kriegst du Schläge, Hanuman.«

Moti hatte schon die halbe Banane verspeist, als Käte wieder eintrat, er machte aber gar nicht Miene, ihr zu entwischen. Sie stieß den kleinen Räuber, der ihr gerade im Weg saß, leicht an, und er fiel sofort um. »Was hat denn dein Moti, Lalji?« fragte sie, das Aeffchen verwundert ansehend.

»Eine Banane hat er gestohlen und jetzt stellt er sich tot. Gib ihm nur einen Klaps!«

Käte beugte sich über den regungslosen kleinen Körper; aber da gab’s nichts zu züchtigen. Er war tot.

Mit blassem Gesicht richtete sich Käte wieder auf und beroch vorsichtig den Obstkorb. Richtig, ein feiner, süßlicher, schwer lastender Duft stieg von den leuchtenden Früchten auf; er wirkte in dieser Nähe betäubend. Den Korb rasch niedersetzend, griff sie mit der Hand an die Stirne; ihr war schwindlig geworden.

»Nun,« sagte der Prinz, der seinen toten Liebling nicht sehen konnte, »bekomme ich jetzt meinen Scherbett?«

»Ich fürchte, Lalji, die Früchte sind nicht ganz gut,« erwiderte Käte, sich gewaltsam zusammennehmend.

Noch ganz benommen von Schreck und Schwindel warf sie die halbe Banane, die der tote Moti zärtlich an sein böses, kleines Herz gedrückt hatte, durchs offene Fenster in den Garten hinaus. Sofort stürzte sich ein Papagei auf den Leckerbissen und nahm ihn mit auf seinen Zweig. Es war geschehen, ehe Käte, die halb bewußtlos war, den Vogel verscheuchen konnte, und im nächsten Augenblick fiel ein Klumpen grüner Federn schwer herab. Der Papagei war auch tot.

»Nein, Lalji, die Früchte sind nicht gut,« wiederholte Käte mechanisch mit weitoffenen, erschrockenen Augen und bleichem Gesicht.

Ihre Gedanken eilten zu Tarvin! Ach, die Warnungen und flehentlichen Bitten, die sie von sich gewiesen hatte! Er hatte gesagt, ihr Leben sei keine Stunde mehr sicher, und wie recht er gehabt hatte! Die unheimliche, leise schleichende Gefahr, die sie bedrohte, hätte stärkere Nerven als die Kätes zu erschüttern vermocht. Von welcher Seite, in welcher Form würde der nächste Angriff erfolgen? Aus welchem Schlupfwinkel der Mord hervorkriechen? Die Luft selbst konnte ja vergiftet sein, sie wagte kaum mehr zu atmen.

Die Frechheit der Ausführung erschreckte sie so sehr wie die Absicht der That. Wenn das am offenen Tag, unterm Deckmantel der Freundschaft, fast gleichzeitig mit einem Besuch des Königs geschehen konnte, was würde die Zigeunerin demnächst wagen? Sie war mit dem Maharadscha Kunwar unter einem Dach; wenn Tarvins Vermutung begründet war, daß Sitabhai auch ihr nach dem Leben trachte, so mochte sie gehofft haben, zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen. Wenn sich Käte vorstellte, wie leicht sie selbst dem Prinzen eine der vergifteten Früchte hätte geben können, so überlief es sie eiskalt.

Der Knabe drehte sich im Bett um und betrachtete Käte.

»Bist du nicht wohl?« fragte er ernsthaft. »Dann mach dir nur, bitte, keine Mühe mit dem Scherbett; reiche mir nur Moti her zum Spielen.«

»O, Lalji! Lalji!« rief Käte außer sich.

Schwankenden Schrittes ging sie auf sein Bett zu, warf sich über ihn und umschlang den Knaben bitterlich weinend, als ob sie ihn mit ihrem Leib vor bösen Mächten schützen wollte.

»Jetzt weinst du heute zum zweitenmal,« sagte der Prinz, die zuckenden Schultern neugierig beobachtend. »Das werde ich dem Tarvin Sahib sagen!«

Das Wort traf Käte ins Herz und rief ein bitteres, hoffnungsloses Sehnen in ihr wach. Ach, nur einen Augenblick die sichere, rettende Kraft fühlen, die sie von sich gewiesen hatte! Wo er jetzt sein mochte, fragte sie sich mit leidenschaftlicher Selbstanklage, was dem Mann wohl widerfahren sein mochte, den sie abgehalten hatte, dieses Land zu fliehen, wo Tod und Verderben ringsum lauerten?

Tarvin saß zur Zeit in seinem Zimmer im Dâk Bungalow. Er hatte beide Thüren weit offen stehen, daß der heiße Wüstenwind über ihn hinstrich, denn er wollte wenigstens alles sehen, was sich nähern würde. Vor ihm auf dem Tisch lag der Revolver, in seiner Brusttasche war das Naulahka, er verzehrte sich in ungeduldiger Sehnsucht, fortzukommen von diesem Ort, und fluchte dem eroberten Schatz, der nicht die Kraft hatte, Käte nach sich zu ziehen.

Neunzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Nachdem sie die verräterischen Früchte unter sichern Verschluß gebracht und den Prinzen über den geheimnisvollen Tod seines Moti getröstet hatte, fand Käte am Abend und während der langen Nacht reichlich Muße, mit ihrem Herzen und Gewissen zu Rat zu gehen. Als sie am andern Morgen mit geröteten Augenlidern und schwerem, von keinem Schlaf erfrischtem Kopf aufstand, war ihr wenigstens das eine klar – so lang sie am Leben war, blieb es ihre Aufgabe, unter den indischen Frauen und für diese weiter zu arbeiten, und für das Weh in ihrem Herzen durfte sie kein andres Heilmittel suchen, als eben die Arbeit. Mittlerweile blieb der Mann, der sie liebte, in Gokral Sitarun, harrte aus in stündlicher Todesgefahr, um in Rufweite zu sein, wenn sie ihn brauchte, und rufen durfte sie ihn doch nicht, denn das hieße schwach werden, fahnenflüchtig.

Sie machte sich auf den Weg nach ihrem Spital. Die Angst um Tarvins Leben schnürte ihr die Kehle zu, saß ihr im Nacken wie ein Gespenst; sie mußte arbeiten, um ihren Gedanken zu entrinnen.

Wie gewöhnlich hockte die Frau aus der Wüste mit verschleiertem Gesicht, die Hände ums Knie verschränkt, auf den Stufen vor der Hausthüre, um sie zu erwarten. Heute stand aber auch Dhunpat Raj müßig dort, obwohl er um diese Stunde in den Krankensaal gehört hätte, und Käte sah, daß der Hof voll war von Fremden, wohl Besuchen für die Kranken, die doch nach der von ihr eingeführten Ordnung nur einmal in der Woche und nicht an diesem Tag zugelassen waren. Ueberreizt und erschöpft, wie sie von den Erlebnissen des gestrigen Tages war, fühlte sich Käte von diesem Anblick noch peinlicher berührt, als es sonst wohl der Fall gewesen wäre.

»Was soll das heißen, Dhunpat Raj?« fragte sie in zorniger Erregung.

»Aufruhr aus religiösem Fanatismus,« gab Dhunpat Raj achselzuckend zum Bescheid. »Hat nichts zu sagen, habe öfter erlebt. Nur nicht hineingehen!«

Käte schob ihn ohne ein Wort beiseite und war im Begriff einzutreten, als einer von ihren Kranken, ein Mann im letzten Stadium des Typhus, von einem halben Dutzend Leute herausgetragen wurde. Die lärmenden Krankenträger warfen ihr drohende Worte zu, und im Nu stand die Frau aus der Wüste an ihrer Seite. In der hoch erhobenen braunen Hand funkelte ein langes Messer mit breiter Klinge.

»Seid still, ihr Hunde!« herrschte sie die Leute in ihrer Mundart an. »Wagt es nicht, die Hand an diese Peri zu legen, die alles für euch thut!«

»Ja wohl, sie bringt unsre Leute um,« schrie einer von den Dörflern.

»Das mag sein,« rief das Weib mit einem flüchtigen Lächeln, »aber ich weiß, wen ich umbringe, wenn ihr sie nicht ungestreift vorüber laßt. Seid ihr Radschputen oder wilde Tiere, Maulwürfe, Fischjäger, daß ihr wie das Vieh einem verlogenen Pfaffen nachlauft, der eure Strohköpfe verwirrt? Sie soll eure Leute umbringen? Wie lang könnt denn ihr den Mann da am Leben erhalten mit euren Hexensprüchen und Sudelbrühen?« fragte sie, nach der abgezehrten Gestalt auf der Tragbahre deutend. »Hinaus mit euch! Ist dieses Spital euer Dorf, wo ihr Schmutzfinken treiben könnt, was ihr wollt? Habt ihr auch nur einen Heller bezahlt an dem Dach über euren Köpfen oder an den Arzneien in euren Bäuchen? Macht, daß ihr fortkommt, ehe ich euch ins Gesicht speie!«

Und mit einer Herrschergebärde wies sie das Gesindel fort.

»Besser nicht hineingehen,« flüsterte Dhunpat Naj Käte ins Ohr. »Heiliger Mann aus Umgegend drinnen, bringt sie in Aufregung. Fühlen mich selbst auch sehr unbehaglich.«

»Aber was hat es denn zu bedeuten?« fragte Käte abermals, denn sie sah jetzt, daß der ganze Bau in der Gewalt einer hin und her wogenden Volksmenge war, daß Betten, Kochgeschirr, Lampen und Weißzeug zusammengerafft und eingepackt wurden.

Mit gedämpfter Stimme riefen die Leute einander Befehle zu, schleppten die Kranken aus den oberen Sälen die Treppen herunter, wie Ameisen ihre Eier fortschleppen, wenn ihr Bau zerstört wird. Je sechs bis acht Mann trugen einen Kranken; einige davon hielten Ringelblumensträuße in der Hand und standen auf jeder Treppenstufe still, um ein Gebet zu murmeln, andre warfen furchtsame, forschende Blicke in die Apotheke, wieder andre holten Wasser vom Brunnen und gossen es rings um die Betten aus.

Im Mittelpunkt des Hofes saß splitternackt, wie der unheilbar Geisteskranke bei Kätes Ankunft, ein mit Asche beschmierter, langhaariger, eingeborener Wanderprediger mit langen Klauen an Händen und Füßen, der seinen Dornstecken, der scharf zugespitzt war, wie eine Lanze überm Kopf schwang und mit einem lauten, eintönigen Gesang Männer und Weiber zur Eile antrieb.

Als Käte ihm mit blitzenden Augen, blaß vor Zorn gegenübertrat, wandelte sich der Gesang in ein Wutgeheul.

Rasch mischte sie sich unter die Frauen, unter ihre Frauen, von denen sie dachte, sie hätten sie lieben gelernt. Aber jetzt waren die Verwandten um sie her, und ein breitschultriger, halbnackter Mann aus einem entlegenen Dorf im Innersten der Wüste brüllte Käte mit lauter Stimme an und stieß sie zurück. Er hatte nicht die Absicht, Käte zu verletzen, aber im selben Augenblick zog ihm die Frau aus der Wüste mit ihrem Messer einen breiten Hieb über die Stirne, daß er aufheulend zurückwich.

»Laß mich zu ihnen sprechen,« sagte Käte, und ihre Anhängerin brachte mit hocherhobenen Armen die Menge zum Schweigen. Nur der heilige Mann setzte seinen Gesang fort, bis Käte hoch aufgerichtet und zornbebend auf ihn zutrat und ihn in der Mundart anherrschte: »Schweig, oder ich werde Mittel finden, dir den Mund zu verschließen!«

Der Mann verstummte wirklich, und Käte trat jetzt ruhiger unter die Frauen.

»O, ihr Frauen, was habe ich euch gethan?« rief sie, in der Aufregung die Sprache des Volkes besser beherrschend als sonst. »Wenn ihr über etwas zu klagen habt, wer wird euch Recht schaffen, wenn nicht ich? Ihr wißt doch, daß mein Ohr euch offen steht bei Tag und bei Nacht! Hört mich an, meine Schwestern! Seid ihr denn von Sinnen, daß ihr halb geheilt, krank, sterbend davongehen wollt? Ihr könnt ja gehen, ihr seid frei, aber um eurer selbst, um eurer Kinder willen, geht nicht, ehe ich euch mit Gottes Hilfe gesund gemacht habe! Jetzt herrscht in der Wüste die große Hitze, und manche von euch sind weit, weit von hier daheim …«

»Da hat sie recht! Das ist wahr,« sagte eine Stimme aus dem Haufen. »Ja, ich spreche die Wahrheit und ich habe immer ehrlich gehandelt an euch, darum ist’s jetzt an euch, mir auch die Wahrheit zu sagen. Ich will wissen, was euch in die Flucht treibt, ihr sollt nicht davonlaufen, wie Mäuse. Meine Schwestern, ihr seid krank und schwach und eure Freunde wissen nicht, was euch heilsam ist, ich aber weiß es. …«

»Arre! Was sollen wir aber beginnen?« rief eine schwache Stimme. »Unsre Schuld ist’s nicht. Mir wär’s schon recht, man ließe mich im Frieden sterben, aber der Priester sagt ja. …«

Jetzt brach der Lärm und das Geschrei von neuem los.

»Auf den Pflastern stehen Zaubersprüche. …«

»Weshalb sollen wir uns gegen unsern Willen zu Christen machen lassen. …«

»Die weise Frau, die man fortgejagt hat, sagt. …«

»Was bedeuten die roten Striche auf den Pflastern?«

»Warum sollen wir Teufelsstempel auf dem Leib tragen? Sie brennen uns wie höllisches Feuer!«

»Gestern kam der Priester, der heilige Mann dort und sagte uns, daß ihm fern im Hügelland offenbart worden sei, der Pflasterteufel wolle uns unsrem Glauben abtrünnig und zu Christen machen. …«

»Und wir werden seinen Stempel auf unsern Leibern tragen, wenn wir das Spital verlassen. …«

»Und die Kinder, die wir im Schoß tragen, werden Schwänze haben wie die Kamele und Ohren wie die Maulesel, und das sagt die kluge Frau, und der Priester sagt es auch. …«

»Nun hört aber auf mit eurem Geschwätze!« rief Käte, das Stimmengewirr übertönend. »Was für Pflaster sollen denn das sein? Schämt ihr euch nicht, wie dumme Kinder vom Teufel zu reden, weil ein Senfpflaster brennt? Sind nicht viele Kinder hier zur Welt gekommen, seit ich da bin, und waren sie nicht alle gesund und hübsch? Das wißt ihr doch! Von der unwürdigen Person laßt ihr euch etwas weismachen, die ich wegjagen mußte, weil sie euch mißhandelt hat. …«

»Aber der Priester sagt …«

»Was frage ich nach dem Priester! Hat er euch gepflegt? Hat er bei euch gewacht in der Nacht? Hat er an eurem Bett gesessen, eure Kissen geschüttelt und eure Hände gehalten, wenn ihr in Schmerzen lagt? Hat er eure Kinder gewiegt und gebettet, statt selbst zu ruhen?« »Es ist ein heiliger Mann. Er hat Wunder gethan. Dem Zorn der Götter wagen wir nicht zu trotzen. …«

Ein Weib, das kühner war als die andern, zog eins der kürzlich von Kalkutta bezogenen Senfpapiere heraus, das auf der Rückseite den roten Fabrikstempel trug, und hielt das Blättchen Käte vors Gesicht.

»So, da sieh her! Was soll die Teufelsklaue?« schrie die Frau, aber Kätes Getreue hatte sie schon an den Schultern gepackt und drückte sie auf die Kniee nieder.

»Ob du schweigst, du Weib ohne Nase!« rief sie in wildem Zorn. »Die Peri ist nicht Teig von deinem Teig, deine Hand würde sie beflecken. Denke an den Misthaufen vor deiner Thür und halte dein Maul!«

Käte griff lächelnd nach dem Pflaster.

»Und wer sagt, daß diese Buchstaben Teufelswerk seien?« fragte sie.

»Der heilige Mann sagt’s, und der weiß alles.«

»Das wenigstens könntet ihr besser wissen,« sagte Käte, deren Entrüstung sich mehr und mehr in Mitleid wandelte. »Ihr kennt das Pflaster doch aus eigenem Gebrauch. Hat es dir denn je geschadet, Pithira? Hast du mir nicht oft und viel gedankt für die Erleichterung, die dir der Teufelsspuk brachte? Warum hat’s dich denn nicht verzehrt, wenn es Höllenfeuer war?«

»Gebrannt hat’s genug,« versetzte die Anklägerin mit trotzigem Lachen.

Auch Käte lachte, aber harmlos heiter.

»Ja, das ist ganz wahr! Leider kann ich’s nicht hindern, daß Senf brennt, und kann auch nicht alle Arzneien wohlschmeckend machen. Ihr wißt aber, daß sie euch helfen, und was verstehen denn eure Freunde, diese Dörfler und Kameltreiber und Ziegenhirten von meinen englischen Arzneien? Sind sie so weise, ist dieser Priester so allwissend, daß er fünfzig Meilen von hier weiß, was ich euch eingebe? Hört nicht auf sie, o, schenkt ihnen keinen Glauben! Sagt ihnen, daß ihr bei mir bleiben wollt, weil ich euch gesund mache. Mehr kann ich nicht für euch thun, deshalb bin ich hergekommen. In einem fernen Land, zehntausend Meilen weit von hier, hat man mir von eurem Elend berichtet und Mitleid mit euch zerriß mir das Herz. Wäre ich so weit hergekommen, um euch Uebles zu thun? Kehrt ruhig in eure Betten zurück, meine Schwestern, und sagt diesen Leuten, daß sie euch in Frieden lassen sollen.«

Ein Gemurmel entstand, in dem sich Zustimmung und Widerspruch bekämpften. Für einen Augenblick schwankte das Zünglein an der Wage unentschieden hin und her.

Dann erhob der Mann, der den Messerhieb bekommen hatte, seine Stimme und schrie: »Was nützt das Gerede? Wir nehmen unsre Weiber und Schwestern mit! Wir wollen keine Söhne, die dem Teufel gleichen! – Leihe uns deine Stimme, o Vater!« wandte er sich an den Priester.

Der heilige Mann richtete sich auf und verwischte jede Wirkung von Kätes Worten durch einen Strom von Schmähungen, Anrufungen der Götter und Drohungen mit ewiger Verdammnis. Zu zweien oder dreien schlüpften die Weiber an Käte vorüber, ihre Kranken wurden halb geführt, halb mit Gewalt weggeschleppt.

Käte rief jede einzelne beim Namen an, bat sie, zu bleiben, redete ihr mit Vernunftgründen zu, aber ohne allen Erfolg. Manche hatten Thränen in den Augen, aber ihre Antwort lautete übereinstimmend, daß es ihnen ja leid thäte, daß sie aber nur schwache Frauen seien und den Zorn ihrer Männer fürchteten.

Von Minute zu Minute leerten sich die Krankensäle mehr und mehr, während der Priester laut sang und mitten im Hof wie ein Wahnsinniger zu tanzen anfing. Der Strom buntfarbiger Gewänder wälzte sich die Stufen hinab in die Straße hinein; Käte sah ihre sorgfältig behüteten kranken Frauen in der blendenden, erbarmungslosen Sonnenglut verschwinden, nur das Weib aus der Wüste blieb an ihrer Seite.

Mit starren Augen verfolgte sie das unerhörte Schauspiel – ihr Spital war leer.

Zwanzigstes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

»Hat Fräulein Sahib Befehle für mich?« fragte Dhunpat Raj mit orientalischer Gelassenheit, als sich Käte jetzt an die breite Schulter ihrer Getreuen lehnte, um nicht umzusinken.

Sie schüttelte den Kopf, ohne die Lippen zu bewegen.

»Ja, es ist recht betrüblich,« bemerkte Dhunpat Raj mit der Ruhe eines gänzlich unbeteiligten Zuschauers, »aber religiöser Fanatismus und Aberglauben seien stark im Land. Einmal – zweimal dasselbe gesehen. Manchmal wegen Pulver, und dann sagten sie, die mit Maßen bezeichneten Gläser seien heilige Gefäße und Zinksalbe sei Kuhfett. Aber ganzes Spital zugleich leer haben nie gesehen. Glaube nicht, daß wiederkommen, aber meine Anstellung, Staatsanstellung,« setzte er mit befriedigtem Lächeln hinzu, »werde Gehalt beziehen, wie vorher.«

Käte starrte ihn betroffen an.

»Sie meinen, es werden gar keine Kranken mehr kommen?« fragte sie stammelnd.

»O doch – in Zeit – einer oder zwei. Vielleicht Männer, wenn vom Tiger gebissen, oder mit Augenentzündung, aber Frauen – nein. Ihre Männer werden’s nicht mehr erlauben – fragen Sie nur die!«

Käte, richtete einen hilflos stehenden, Trost suchenden Blick auf ihre getreue Freundin. Die bückte sich zu Boden, griff ein wenig Sand auf, ließ ihn zwischen ihren Fingern durchrieseln, rieb die Handflächen aneinander ab und schüttelte den Kopf. Käte verfolgte dieses Gebärdenspiel in verzweifelter Spannung.

»Sie sehen – alles vorüber, nichts zu hoffen,« sagte Dhunpat Raj nicht ohne Teilnahme, hinter der aber doch eine gewisse schmunzelnde Genugthuung lauerte über eine Niederlage, die ja kluge Leute, wie er, längst vorausgesagt hatten. »Und was will Euer Gnaden jetzt vornehmen? Soll ich Apotheke schließen, oder soll Drogistenrechnung nachgesehen werden?«

Käte winkte ihm, zu gehen.

»Nein! nein! Nicht jetzt! Ich muß mich fassen, muß Zeit haben, dann werde ich Ihnen Bescheid senden. Komm, du Liebe!«

Damit faßte sie die Frau aus der Wüste an der Hand und verließ mit ihr das Hospital. Draußen nahm die stämmige Radschputin Käte wie ein Kind auf den Arm und hob sie aufs Pferd.

»Und wohin geht dein Weg jetzt?« fragte Käte die entschlossen neben dem Pferd Herschreitende.

»Ich war zuerst hier,« versetzte die Geduldige, Getreue, »es ziemt sich darum, daß ich zuletzt gehe. Wo du hingehst, gehe ich auch – nachher mag geschehen, was da will.«

Käte beugte sich aus dem Sattel und nahm die braune Hand der Tochter der Wüste mit dankbarem Druck in die ihrige.

Als sie am Missionshaus anlangten, mußte Käte all ihre Kraft aufraffen, um nicht zusammenzubrechen. Es war ihr unsäglich bitter, ihre gänzliche Niederlage den Menschen einzugestehen, die am meisten von ihren Hoffnungen und Erwartungen gehört hatten, deren unausgesprochenen Zweifeln gegenüber sie immer freudig betont hatte, was sie den armen indischen Frauen jetzt schon sei, was sie ihnen zu werden hoffe. An Tarvin durfte sie überhaupt nicht denken, dazu fehlte ihr die Kraft.

Glücklicherweise schien Frau Ostes nicht zu Hause zu sein. Dafür wartete ein Bote, um im Namen der Königin Mutter Käte samt dem Maharadscha Kunwar nach dem Palast zu bescheiden. Das braune Weib wollte Käte von diesem Besuch abhalten, aber Käte kehrte sich nicht an ihre Warnung.

»Nein, nein, nein! Ich muß hin – irgend etwas muß ich thun,« rief sie beinah heftig, »so lang mich noch jemand haben will. Ich muß Arbeit haben, sonst verzweifle ich. Geh‘ du nur voraus und erwarte mich vor dem Palast.«

Die Frau fügte sich schweigend und trottete auf der staubigen Landstraße den Weg zurück, während Käte zu ihrem Pflegling eilte.

»Lalji,« sagte sie, sich über ihn beugend, »meinst du, es würde dich nicht zu sehr anstrengen, wenn wir dich in einen Wagen heben und zu deiner Mutter bringen?«

»Ich möchte lieber meinen Vater besuchen,« versetzte der Prinz, der heute zur Belohnung für gestrige Fortschritte in der Genesung auf dem Sofa liegen durfte. »Mit meinem Vater habe ich sehr Wichtiges zu besprechen.«

»Aber deine Mutter hat dich so lang nicht gesehen, Lalji!« »Gut, dann will ich gehen.«

»Dann bestelle ich gleich den Wagen.«

»Nein, bitte, ich will meinen eigenen haben. Wer ist denn da draußen?«

»Sohn des Himmels, ich bin’s,« versetzte die tiefe Stimme eines Soldaten.

»Achcha! Reite schnell hinauf und sage ihnen, mein Wagen und Gefolge sollen kommen. Wenn sie in zehn Minuten nicht da sind, werde ich Sirop Singhs Gehalt beschneiden und ihm vor all meinen Leuten das Gesicht anschwärzen lassen. Ich fahre heute zum erstenmal aus!«

»Möge Gottes Güte zehntausend Jahre mit dir sein, Sohn des Himmels!« rief der Mann von draußen herein, während er sich in den Sattel schwang, um seinen Auftrag auszuführen.

Als der Prinz angekleidet war, rasselte auch schon der Wagen vor die Thüre, den eine sorgliche Hand im Palast mit weichen Kissen ganz ausgestopft hatte. Käte mußte den Knaben mehr tragen als stützen, obwohl er auf der Veranda durchaus frei stehen wollte, um den militärischen Gruß seiner Leibwache geziemend zu erwidern.

»Ahi! Ich bin noch recht schwach,« gestand er unterwegs mit einem verlegenen Auflachen. »Mir kommt’s vor, als ob ich in Rhatore überhaupt nicht mehr frisch werden könnte.«

Käte schlang den Arm um ihn und stützte ihn zärtlich.

»Käte,« begann er jetzt, »willst du mir helfen, meinen Vater um etwas bitten, willst du ihm auch sagen, daß es gut für mich sei?«

Käte, deren Gedanken bei ihrer großen Bitternis verweilten, tätschelte ihn liebreich auf die Schulter und hob den thränenfeuchten Blick zu dem roten Steinkoloß des Palastes.

»Wie kann ich dir das versprechen, Lalji?« fragte sie, in das erwartungsvoll zu ihr aufgerichtete Kindergesicht blickend.

»Es ist ja etwas sehr, sehr Verständiges!«

»Wahrhaftig, Lalji?«

»Ja, und ich habe mir’s ganz allein ausgedacht. Ich bin ja ein Radscha Kunwar und möchte in die Radscha Kunwar-Schule gehen, wo man Prinzen lehrt, Könige zu werden. Das gibt’s nur in Adschmir, und da will ich hin und mit den andern Prinzen von Radschputana lernen und fechten und reiten, daß ich ein ganzer Mann werde. In die Radscha Kunwar-Schule in Adschmir will ich, daß ich alles lerne über die ganze Welt. Das ist doch verständig, Käte? Seit ich krank war, kommt mir die Welt so sehr, sehr groß vor – Käte, wie groß ist denn die Welt, die du gesehen hast über dem schwarzen Wasser? Und wo ist denn Tarvin Sahib? Mit dem würde ich auch gern sprechen. Ist Tarvin Sahib böse mit mir oder mit dir, Käte?«

So plauderte der Prinz und bedrängte Käte mit Hunderten von Fragen, bis der Wagen vor dem Seitenthor hielt, das zu dem von der Königin-Mutter bewohnten Palast führte. Kätes dunkle Freundin stand davor und streckte ihr die Arme entgegen.

»Laß mich den Prinzen hineintragen,« bat sie, »ich weiß, daß es notthut. Nein, Sohn des Himmels, du brauchst dich nicht davor zu scheuen, ich bin von gutem Blut.«

»Frauen von gutem Blut gehen verschleiert und sprechen nicht auf der Straße,« wandte der Prinz zweifelnd ein.

»Das gilt für deinesgleichen, nicht für unsereins,« entgegnete die Frau lachend. »Wer sein tägliches Brot verdienen muß, kann nicht verschleiert gehen; aber meine Väter haben viele hundert Jahre vor mir im Land gelebt, gerade wie die deinen, Sohn des Himmels, und die weiße Frau kann dich nicht so leicht tragen als ich.«

Sie faßte ihn in die Arme und schloß ihn an ihre Brust, als ob er ein Wickelkind gewesen wäre, und der Knabe fühlte sich sicher und wohl in diesen starken Armen. Er winkte mit der abgezehrten, kleinen Hand, woraus der schwere Thorflügel sich kreischend in den Angeln drehte, und sie miteinander hineingingen – Weib, Kind und Mädchen.

In diesem Teil des Palastes war nicht viel von Pracht und Ausschmückung zu sehen. Die bunten Fliesen an den Wänden waren vielfach zerbröckelt und abgefallen, die Fensterläden hätten eines neuen Anstrichs bedurft und zeigten zerbrochene Stäbe, im Vorhof lag Kehricht und Staub. Eine Königin, die beim Herrscher in Ungnade gefallen ist, büßt auch manche andre Vorteile ein.

Eine Thüre that sich auf, und eine Stimme rief die Eintretenden an. Sie gerieten in einen dunkeln Gang und dann auf eine lange Reitschnecke, die mit leuchtend weißem Stuck so glatt wie Marmor belegt war und zu den Gemächern der Königin führte. Die Mutter des Prinzen hielt sich mit Vorliebe in einem langen, niederen Zimmer auf, das gegen Nordosten lag, wo sie ihr Gesicht an das Marmormaßwerk der Fensterfüllung pressen und mit der Seele die Heimat suchen konnte, die Kuluhügel, achthundert Meilen von hier, jenseits der Sandwüste. In diesen Raum drang kein Laut von dem geschwätzigen Treiben und Lachen und Singen im Palast; nur der Fußtritt weniger getreuer Dienerinnen unterbrach die tiefe Stille.

Mit dem Gebaren eines gefangenen Panthers durchschritt das braune Weib, den Prinzen noch fester an sich drückend, den Irrgarten leerer Zimmer, kleiner Seitentreppen, bedachter Höfe. Für Käte und den Maharadscha Kunwar hatte der dunkle, winkelige, geheimnisvolle, totenstille Bau nichts Befremdliches mehr, der Knabe war darin aufgewachsen, und Käte hatte sich damit abgefunden als mit einem Teil der Mühsale und Schrecken, die sie aus freien Stücken aufgesucht hatte.

Endlich war die Reise beendigt: Käte hob einen schweren Thürvorhang, der Prinz rief nach der Mutter, und die Königin fuhr mit einem leidenschaftlichen Aufschrei von ihrem Fenstersitz aus weißen Kissen auf.

»Wie… wie steht’s mit dem Prinzen?«

Der Prinz zappelte, auf den Boden gelassen zu werden, und die Königin warf sich schluchzend über ihn, den kleinen Mann vom Kopf bis zu den Füßen mit Küssen bedeckend, tausend Kosenamen flüsternd. Des Kindes Zurückhaltung schmolz vor dieser Begrüßung. Er hatte sich vorgenommen gehabt, der Mutter den echten Radschputen zu zeigen, das heißt einen Mann, dem jede öffentliche Gefühlsäußerung in tiefster Seele zuwider ist, aber jetzt lachte und weinte er in ihren Armen. Die Frau aus der Wüste fuhr sich mit der Hand über die Augen und Käte wandte den Blick ab und sah zum Fenster hinaus.

»Wie soll ich Ihnen danken?!« rief die Königin endlich. »O mein Sohn, mein Liebling, Kind meines Herzens, die Götter und sie haben dich wieder gesund gemacht. Wer ist die Frau?« fragte sie rasch, zum erstenmal die hohe Gestalt erblickend, die in ihrem roten Gewand still am Thürvorhang stand.

»Sie hat mich hergetragen aus dem Wagen,« erklärte der Prinz. »Sie sagte, sie sei eine Radschputin von gutem Blut.«

»Vom Stamm der Khohan, eine Radschputin und Mutter von Radschputen,« versetzte die Frau einfach. »Die weiße Fee hat ein Wunder gethan an meinem Mann. Er war krank im Kopf und kannte mich nicht mehr. Freilich mußte er sterben, aber ehe sein Atem entfloh, hat er mich erkannt und beim Namen gerufen.«

»Und sie hat dich getragen!« rief die Königin, den Prinzen schaudernd näher an sich ziehend, denn wie jede Inderin, sah sie in der Berührung, ja dem Blick einer Witwe ein böses Omen.

Die Frau sank der Königin zu Füßen.

»Vergib mir! Vergib mir!« rief sie. »Drei Kinder habe ich geboren, alle haben mir die Götter genommen und meinen Mann zuletzt. Es that so wohl – o so wohl – wieder ein Kind im Arm zu halten! O du kannst ja vergeben,« setzte sie kläglich hinzu, »du bist reich in deinem Sohn und ich bin nur eine Witwe!«

»Bin ich nicht auch eine Witwe?« murmelte die Königin leise vor sich hin, »Sie spricht wahr, ich sollte vergeben – erhebe dich!« Aber die Frau blieb am Boden liegen, der Königin nackte Füße umklammernd.

»Erhebe dich, Schwester!« flüsterte die Königin.

»Wir von den Feldern, wir wissen nicht zu reden mit den Vornehmen. Verzeiht mir die Königin, wenn meine Worte rauh sind?«

»Gewiß verzeihe ich das! Deine Sprache klingt weicher als die der Hügelleute von Kulu, aber fremde Wörter sind darin.«

»Ich komme aus der Wüste, treibe Kamele, melke die Ziegen, wie sollte ich die Sprache des Hofs reden können? Laß die weiße Fee sprechen für mich.«

Käte hatte zerstreut zugehört. Jetzt, da ihr keine Pflicht mehr oblag, kam das Entsetzen über die Schmach, die man ihr angethan hatte, kam die Angst um Tarvin mit neuer Gewalt über sie. Sie sah die Frauen wieder vor sich, wie sie an ihr vorbei gezogen waren, eine nach der andern, sah ihr zerstörtes Werk vor sich und sich aller Hoffnung beraubt, es wieder aufzurichten, und sie sah Tarvin in Todesgefahr, grausam gemordet – durch ihre Schuld!

»Was willst du?« fragte sie teilnahmlos, als die Frau sie am Rocksaum zerrte, setzte aber dann, zur Königin gewendet, hinzu: »Das ist die einzige von all den Frauen, denen ich Liebe erzeigt habe, die heute an meiner Seite blieb, Königin.«

»Ja, es wurde im Palast davon gesprochen,« versetzte die Königin, den Arm um des Prinzen Schultern gelegt, »daß Ihrem Spital Unheil widerfahren sein soll, Sahiba?«

»Ich habe keinen Spital mehr,« sagte Käte bitter.

»Und du hast mir doch versprochen, mich einmal hinzuführen,« bemerkte der Knabe.

»Die Frauen waren Närrinnen,« berichtete das braune Weib von seinem Platz am Boden aus. »Ein toller Priester hat ihnen Lügen aufgebunden, er hat ihnen gesagt, die Arzneien seien verhext …«

»Bewahre uns vor bösen Geistern und Teufelsspuk,« murmelte die Königin.

»Verhext – Arzneien, die sie mit ihrer eigenen Hand mischt und berührt! Und da sind die Närrinnen davongelaufen, Sahiba, und haben geschrieen, ihre Kinder könnten mißgestaltete Affen werden und ihre Hühnerseelchen in die Hölle kommen! Aho! Sie werden’s ja inne werden, morgen schon, nicht erst in acht Tagen, wohin ihre Seelen kommen, denn sterben werden sie alle miteinander, die dummen Gänse, nun ihnen niemand mehr hilft!«

Käte schauderte; sie wußte ja am besten, wie wahr die Frau sprach.

»Aber diese Arzneien,« hob die Königin an. »Man kann doch nicht wissen, ob nicht ein Zauber darin steckt!«

Sie sah Käte an und lachte verlegen.

»Dekho! Sieh diese doch nur an,« sagte das braune Weib mit ruhiger Ueberlegenheit. »Sie ist ein Mädchen und sonst nichts: was vermöchte sie an den Thoren des Lebens auszurichten?«

»Sie hat meinen Sohn gesund gemacht, darum ist sie mir eine Schwester,« erklärte die Königin.

»Sie hat meinen Mann sprechen gemacht vor der Todesstunde, deshalb diene ich ihr mit Leib und Seele, gerade wie dir auch, Sahiba,« sagte das Weib.

Der Prinz blickte fragend in seiner Mutter Gesicht.

»Sie nennt dich ›du‹,« bemerkte er, als ob die Frau ihn nicht hören könnte. »Das ziemt sich nicht! Eine Königin und eine Dörflerin ›du und du‹!«

»Wir sind beide Frauen, kleiner Mann – bleibe ruhig in meinem Arm! O, wie wohl es thut, dich wieder zu halten, du ärmliches Kerlchen!«

»Der Sohn des Himmels sieht aus wie dürrer Mais,« sagte das braune Weib rasch.

»Nein, wie ein ausgemergelter Affe,« fiel die Königin ein, ihre Lippen in des Kindes Haar drückend.

Beide Frauen sprachen laut und nachdrücklich – die Herabsetzung des beliebtesten Guts sollte die Götter täuschen, daß sie nicht neidisch würden auf menschliches Glück.

»Aho – mein kleiner Affe ist tot,« warf der Prinz plötzlich dazwischen. »Ich muß einen andern haben. Laßt mich in den Palast gehen und mir einen neuen Affen aussuchen!«

»Er soll sich nicht im Palast herumtreiben,« rief die Königin erregt, mit einem hilfeflehenden Blick auf Käte, denn sie selbst hatte es nie fertig gebracht, des Knaben Willen zu durchkreuzen. »Du bist noch viel zu schwach, Lalji, – o, Fräulein Sahib, er soll nicht aus dem Zimmer gehen!«

»Es ist mein Befehl,« erklärte der Prinz, ohne die Mutter anzusehen. »Ich will!«

»Bleibe bei uns, Liebling,« sagte Käte geistesabwesend, denn sie überlegte gerade, ob ihr Spital nicht doch in ein paar Monaten wieder zusammengeflickt werden könnte und ob sie die Tarvin drohende Gefahr nicht am Ende überschätzt habe.

»Ich gehe!« wiederholte der Prinz, sich aus den Armen der Mutter lösend, »Ich habe genug von diesem Gethue.«

»Gibt mir die Königin Erlaubnis?« fragte das braune Weib flüsternd.

Die Königin nickte, und der Prinz fühlte sich plötzlich von zwei Armen gefesselt, gegen deren Kraft es keinen Widerstand gab.

»Laß mich gehen, du – du Witwe!« zischte der kleine Mann wütend.

»Es ziemt sich nicht, daß ein Radschpute die Mutter von Radschputen mißachtet, mein König,« lautete die gelassene Antwort. »Wenn der junge Stier der Kuh nicht gehorcht, lehrt ihn das Joch Gehorsam. Der Sohn des Himmels ist noch schwach, in all diesen Gängen, auf den vielen Treppen würde er straucheln und fallen, darum bleibt er hier. Wenn der Zorn verraucht ist, wird er noch schwächer sein, als vorher, jetzt schon …«, die großen leuchtenden Augen bohrten sich förmlich in die des Kinds …, »jetzt schon,« fuhr die gleichmäßige Stimme fort, »weicht der Zorn. Nur noch einen Augenblick, Sohn des Himmels, und du bist kein Prinz mehr, nur ein kleines, kleines Kind, gerade wie die Kinder, die ich geboren habe, ach, und wie ich keines mehr gebären werde.«

Bei den letzten Worten hatte sich das Köpfchen des Knaben auf ihre Schulter gesenkt. Die Heftigkeit hatte sich ausgetobt und ihn, wie die Frau vorausgesehen, müde und schläfrig gemacht.

»O Schmach! O Schmach!« murmelte er schlaftrunken. »Ja, ich will gar nicht mehr fort … laßt mich nur schlafen, schlafen!«

Das braune Weib tätschelte ihn auf den Rücken, bis die Königin hungrige Arme nach ihrem Eigentum ausstreckte und es wieder an sich riß. Sie bettete das Kind auf ein Kissen an ihrer Seite, breitete den Saum ihres langen Musselinkleides über ihn und sah ihr Kleinod zärtlich an. Das braune Weib kauerte sich auf dem Boden zusammen. Käte saß auch auf einem Kissen und lauschte dem Ticken einer billigen amerikanischen Wanduhr, die irgendwo in einer Nische hing. Durch viele Wände gedämpft klang der Gesang einer Frauenstimme herein. Der Mittagswind rauschte in den durchbrochenen Fensterschirmen, und vom Hof, der wohl hundert Fuß tiefer liegen mochte, drang das Scharren und Stampfen der Pferde der Leibwache herauf, die mit den Schwänzen fuchtelten und in den Zaum bissen. Käte lauschte all diesen Geräuschen in abermals wachsender Angst um Tarvin. Die Königin beugte sich immer tiefer über den schlafenden Sohn; Mutterglück feuchtete ihre Augen.

»Jetzt ist er fest eingeschlafen,« sagte sie endlich. »Was war doch das mit seinem Affen, Fräulein Sahib?«

»Er ist gestorben,« versetzte Käte, sich gewaltsam zur Lüge zwingend. »Wahrscheinlich hat er im Garten faules Obst gegessen.«

»Im Garten?« fragte die Königin hastig.

»Ja, im Garten.«

Das braune Weib sah die beiden Frauen forschend an; sie wußte nicht, was sie aus Frage und Antwort machen sollte, und streichelte der Königin die Füße.

»Affen sterben leicht,« bemerkte sie. »In Banswarra habe ich einmal eine Art Pest unter dem Affenvolk erlebt.«

»Wie starb er denn?« fragte die Königin.

»Das… das weiß ich nicht genau,« stotterte Käte.

Und nun herrschte wieder ein langes Schweigen in dem schwülen Raum.

»Fräulein Käte,« begann die Königin dann flüsternd, »was denken Sie über meinen Sohn? Ist er gesund oder nicht?«

»Kräftig ist er nicht, aber mit der Zeit kann er es werden, doch wäre es gut, wenn er eine Weile von hier fort käme.«

Die Königin nickte ergebungsvoll.

»Daran habe ich auch schon oft gedacht, wenn ich so allein saß, und dann war mir’s, als ob mir das Herz aus der Brust gerissen würde. Ja, es wäre gut, wenn er fort käme von hier, nur daß ich so gar nichts weiß von der Welt, wohin er gehen soll,« sagte die arme Mutter, ihre Hände in hilfloser Verzweiflung nach dem Sonnenschein ausstreckend. »Weiß ich denn, ob er dort sicher sein wird? Weiß ich’s denn hier? Seit Sie zu uns gekommen sind, hat mein Herz ein wenig Trost gefunden, aber weiß ich denn, wann Sie wieder gehen?«

»Auch wenn ich da bin, kann ich das Kind nicht vor jedem Uebel behüten,« sagte Käte, die Hände vors Gesicht schlagend. »Darum schicken Sie ihn fort, fort aus diesem Palast, so schnell als möglich. In Gottes Namen lassen Sie ihn ziehen.«

»Such hai! Such hai! Es ist die Wahrheit, die Wahrheit.«

Die Königin wandte sich zu dem Weib, das zu ihren Füßen saß.

»Drei hast du geboren?« fragte sie.

»Drei – ein viertes hat nie geatmet, und lauter Söhne waren’s,« sagte das Weib der Wüste.

»Und die Götter haben sie von dir genommen.«

»An Blattern starb der eine, am Fieber zwei.«

»Bist du gewiß, daß die Götter es gethan?«

»Ich war bei ihnen bis zum letzten Atemzug.«

»Dein Mann – der war also ganz dein eigen?«

»Wir waren nur zu zweien, er und ich. In unsern Dörfern sind die Männer arm, da haben sie genug an einem Weib.«

»O ihr seid reich in euren Dörfern! Höre mich an – wenn ein Kebsweib deinen dreien nach dem Leben getrachtet hätte …«

»Würde ich sie erschlagen haben, was sonst?«

Das Weib rief’s mit bebenden Nüstern und ihre Hand griff rasch in die Falten des Gewandes.

»Und wenn du an Stelle der drei nur einen einzigen gehabt hättest, die Wonne deiner Augen, und gewußt hättest, daß dein Schoß keinen zweiten tragen wird, und das Kebsweib hätte diesem einzigen auf Schleichwegen nach dem Leben getrachtet? Was dann?«

»Ich würde sie erschlagen haben, aber leicht hätte ich ihr das Sterben nicht gemacht. An ihres Mannes Seite, in seinen Armen würde ich sie erschlagen haben, und wenn sie gestorben wäre, eh‘ meine Rache satt war, wäre ich ihr nachgeschlichen in die Hölle.«

»Du kannst in die Sonne hinaustreten und durch die Straßen gehen, und kein Mann sieht sich nach dir um,« versetzte die Königin mit Bitterkeit. »Deine Hände sind frei, dein Antlitz ist unverhüllt. Wenn du aber eine Sklavin wärest unter Sklaven, eine Fremde unter fremdem Volk und« – sie flüsterte es kaum vernehmlich – »der Gunst deines Herrn beraubt?«

Das Weib küßte den zarten Fuß, den ihre Hände umklammert hielten.

»Dann würde ich mich nicht verzehren in Sorge, dann würde ich nur daran denken, wie aus meinem Sohn ein König werden kann, und würde ihn fortschicken, dahin, wo des Kebsweibes Macht nicht reicht!«

»Ist es so leicht, sich die Hand abzuhauen?« fragte die Königin schluchzend.

»Besser die Hand als das Herz, Sahiba! Wer vermöchte ein Kind zu behüten an einem Ort wie dieser?«

»Sie ist von weit her gekommen,« entgegnete die Königin, auf Käte deutend, »und sie hat ihn mir schon einmal vom Tod errettet.«

»Ihre Mittel sind gut und ihre Hand ist geschickt, aber – du weißt es ja – sie ist nur ein Mädchen, das weder Besitz noch Verlust kennt. Es mag ja sein, daß ich ein Kind des Unglücks bin und daß mein Blick Unheil bringt – mein Mann freilich sprach anders im letzten Herbst – aber es mag ja sein. Und doch kenne ich den Schmerz in der Brust und den Jammer um das Neugeborene, wie du ihn kennst.«

»Wie ich ihn kenne!«

»Mein Haus ist leer und ich bin eine Witwe und kinderlos und nie mehr wird ein Mann mich zur Ehe begehren.«

»Wie ich – wie ich…« »Nein, dir ist der Kleine geblieben, mag dich auch sonst alles verlassen haben, und der Kleine muß sorglich behütet werden. Wenn sich Neid und Eifersucht rühren gegen den Knaben, so ist’s nicht wohl gethan, ihn in diesem Mistbeet zu lassen. Laß ihn fort!«

»Aber wohin? Weiß es das Fräulein Sahib? Uns die wir hinterm Vorhang sitzen, ist die Welt ja dunkel.« »Ich weiß, daß der Prinz aus freiem eigenem Antrieb in eine Fürstenschule nach Adschmir gehen möchte, wie er mir selbst gesagt hat,« erwiderte Käte, die, das Kinn in die Hand gestützt, der ganzen Unterredung gefolgt war. »Es handelt sich ja nur um ein Jahr oder zwei.«

Die Königin lachte ein wenig unter ihren Thränen.

»Nur ein Jahr oder zwei, Fräulein Käte! Weiß du nicht, wie lang eine einzige Nacht ist ohne den Knaben?«

»Aber er kann zurückkommen, wenn du ihn rufst, aber kein Rufen bringt die Meinigen zurück. Nur ein Jahr oder zwei. Sahiba, auch denen, die nicht hinterm Vorhang sitzen, ist die Welt dunkel!« sagte das braune Weib leise zur Königin. »Es ist nicht ihre Schuld – wie sollte sie wissen?«

Käte fühlte sich wider Willen verletzt von dieser Art, sie beharrlich als vom Gespräch auszuschließen. Sie, mit dem schweren eigenen Leid im Herzen, sie, die sich andrer Leiden zum Lebensberuf erkoren hatte, sie sollte an diesem gemeinsamen Frauenleid keinen Anteil haben?

»Was soll ich nicht wissen?« fragte sie in diesem Gefühl beinah ungestüm: »Kenne ich etwa den Schmerz nicht? Ist er nicht mein Leben?«

»Noch nicht,« versetzte die Königin sanft. »Weder Leid noch Lust. Fräulein Käte, du bist sehr klug und weißt vieles, ich dagegen bin eine Frau, die nur die vier Wände ihres Palastes kennt, und doch bin ich wissender als du, denn ich weiß, was du nicht wissen kannst, obwohl du mir meinen Sohn zurückgegeben hast und dieser Frau die Sprache ihres Mannes! Womit soll ich dir’s lohnen?«

»Mit der Wahrheit,« flüsterte das braune Weib. »Sag‘ ihr: »Wir sind alle drei Frauen, Sahiba – das abgefallene Laub, der blühende Baum und die verschlossene Knospe.«

Die Königin faßte Kätes Hände und zog das Mädchen sanft zu sich heran, bis ihr Kopf auf dem Knie der Königin ruhte. Erschöpft von den Aufregungen des Morgens, müde an Leib und Seele, ließ sich Käte die Ruhestätte gern gefallen. Weiche, linde Frauenhände strichen ihr das dunkle Haar aus der Stirn, und Augen, die viel geweint hatten, senkten sich tief in die ihrigen, indes der Arm des braunen Weibes sich um ihre Hüften schmiegte.

»Höre mich an, meine Schwester,« begann die Königin mit unendlicher Zärtlichkeit. »In unsern Bergen daheim bei meinen Leuten erzählt man von einer Ratte, die ein Stück Safran gefunden und damit eines Apothekers Laden aufgeschlossen habe. So ist es mit dem Schmerz, den du kennst und heilst, Geliebteste. Du bist mir doch nicht böse? Nein, es darf dich nicht kränken! Vergiß, daß du eine Weiße bist und wir Inderinnen sind, bedenke nur, daß wir Schwestern sind. Kleine Schwester, für uns Frauen alle gilt eine Wahrheit – die kein Kind geboren hat, ist keine Wissende, die Welt ist ihr verborgen. Ich bete zitternd zu dem und jenem Gott, von dem du sagst, er sei schwarzer Stein, ich schaudre vor dem Nachtwind, weil ich glaube, die bösen Geister reiten um diese Stunde an meinem Fenster vorüber, und ich sitze hier im Dunkeln und stricke wollene Sachen, die niemand trägt und bereite Süßigkeiten, die ungekostet von meines Herrn Tisch zurückkommen. Und du, die viele tausend Meilen weit her gekommen, du bist sehr klug und hast mich tausend Dinge gelehrt, wovon ich nichts wußte, und bei alledem bist du doch das Kind und ich bin die Mutter. Was ich weiß, kannst du nicht wissen, kannst den Quell meiner Glückseligkeit nicht ergründen und nicht das Meer meines Leids, bis du selbst gleiches Weh gekostet haben wirst. Ich habe dir von meinem Kind erzählt – alles, ja mehr als alles? Kleine Schwester, weniger als die Wurzeln meiner Liebe zu ihm habe ich dir gezeigt, weil ich wußte, daß du mich nicht verstehen könntest! Ich hätte dir mein Leid geklagt, all mein Leid und mehr denn alles, meinst du, als ich mein Gesicht an deine Brust lehnte? Wie hätte ich dir alles klagen können? Du bist ein Mädchen und das Herz in deinem Busen, das am meinigen schlug, verriet mir schon durch seinen Schlag, daß es mich nicht verstand. Und siehe, dieses Weib, das von draußen herein kommt, weiß mehr von mir als du! Und in einer Schule, so hast du mir erzählt, haben sie dich gelehrt, wie man Kranke heilt, und es gibt keine Krankheit, von der du nicht wüßtest? Kleine Schwester, was soll die vom Leben verstehen, die nie Leben gab? Hast du je ein Kind saugen gefühlt an deiner Brust? Was brauchst du denn zu erröten? Hast du’s gefühlt? Nein, ich weiß es! Als ich deine Sprache zum erstenmal vernahm, als ich dich nur gehen sah im Hof von meinem Fenster aus, wußte ich, daß du es nie gefühlt hast. Und die andern, meine Schwestern in der Welt, wissen’s auch, nur daß sie nicht zu dir sprechen wie ich. Wenn das Leben wächst in ihrem Schoß und sie wach liegen in der Nacht, hören sie die ganze Erde sich rühren nach dem Takt ihres Herzschlags. Aber warum sollen sie dir das sagen? Heute ist dein Werk im Spital unter dir zusammengebrochen – ist’s nicht so? Und die Frauen sind fortgegangen, eine nach der andern? Und was hast du ihnen gesagt?«

An Kätes Stelle antwortete das braune Weib: »Sie sagte: Bleibt bei mir, ich will euch gesund machen.«

»Und mit welchem Eid hat sie’s ihnen gelobt?«

»Mit keinem Eid,« versetzte die Frau. »Sie stand nur unterm Thor und rief sie an.«

»Und worauf soll sich ein Mädchen berufen, um schlotternde Weiber zurückzuhalten? Auf die Mühsal, die sie auf sich genommen hat? Die verstehen jene nicht, aber von den Schmerzen, die ein Weib mit dem andern geteilt hat, weiß jede. Kein Kind hat in deinen Armen geruht, der Mutterblick leuchtet nicht aus deinen Augen, mit welchem Zauber willst du denn Weibern gebieten? Sie sagten, deine Arzneien seien verhext und die Frucht ihres Leibes werde mißgestaltet – was weißt denn du von der Quelle des Lebens und Todes, um sie anders zu belehren? In den Büchern deiner Schule, ich weiß es wohl, steht geschrieben, daß solche Dinge nicht sein können, aber wir Frauen lesen keine Bücher, nicht aus Büchern lernen wir das Leben begreifen. Wie sollte eine, die es nur aus Büchern kennt, unsern Willen lenken? Es müßte denn sein, daß die Götter ihr beistehen und die Götter sind fern. Du hast dein Leben dran gesetzt, den Frauen zu helfen, kleine Schwester – wann wirst du selbst Weib werden?«

Die Stimme verstummte. Kätes Haupt war im Schoß der Königin vergraben; sie hob es nicht.

»Uy!« sagte das braune Weib. »Das Zeichen des Frauenstandes ist von meinem Haupt genommen, die Glasspangen an meinem Arm sind zerbrochen und mein Anblick bedeutet Unheil dem Manne, der auf die Reise auszieht. Solang ich lebe, muß ich einsam bleiben, allein mein Brot verdienen und an die Toten denken. Aber wenn ich auch wüßte, daß ich alles Leid noch einmal erfahren sollte, in einem statt in zehn Jahren, doch würde ich den Göttern danken, daß sie mir Liebe geschenkt haben und ein Kind. Will das Fräulein Sahib diese Worte als Zahlung nehmen für alles, was sie an meinem Mann gethan hat? ›Ein wandernder Priester, ein kinderloses Weib und ein Stein im Wasser, die gehören zusammen,‹ sagt ein Wort unsres Volkes. Was will das Fräulein Sahib jetzt beginnen? Die Königin hat Wahrheit gesprochen. Die Götter und deine Weisheit, die weit hinaus geht über die Mädchenweisheit, haben dir bis hierher geholfen. Des bin ich Zeuge, die ich um dich war und dein Thun gesehen habe. Aber die Götter haben dir zu wissen gethan, daß ihre Hilfe zu Ende sei – was bleibt dir dann? Ist dies ein Leben für eine wie du? Ist es nicht, wie die Königin sagt? Sie, die hier allein sitzt und nichts sieht von der Welt, hat gesehen, was ich sah und wußte, als ich dich Tag für Tag bei den Kranken sah – kleine Schwester, ist es nicht so?«

Käte hob langsam den Kopf und stand auf. »Nimm das Kind, und laß uns gehen,« sagte sie mit heiserer Stimme.

Die barmherzige Dunkelheit im Zimmer verbarg den andern ihr Antlitz.

»Nein,« entschied die Königin. »Die Frau soll ihn zurückbringen. Geh‘ du allein.«

Und Käte ging.

Dreizehntes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Eine halbe Stunde später verzehrten Tarvin und Fibby einträchtiglich ihr Frühstück in dem sonndurchspähten Schatten des Buschwerks am Fuße der Mauer. Das Pferd vergrub die Nase in seinen Futtersack und sagte gar nichts, und der Mann verhielt sich nicht weniger schweigsam. Zwei- oder dreimal sprang er auf, betrachtete prüfend die unregelmäßigen Linien von Mauer und Wall und schüttelte den Kopf. Nein, er hatte keine Lust, dorthin zurückzukehren. Als die Sonne heißer und heißer zu brennen anfing, suchte er sich einen geeigneten Ruheplatz in einem Kreis von Dornbüschen, schob sich den Sattel unter den Kopf und legte sich zum Schlafen nieder. Fibby fand das Beispiel seines Herrn durchaus nachahmenswert und wälzte sich wohlig im Gras. So pflegten die beiden der Ruhe, während die Luft vor Hitze brodelte und vom Summen der Insekten schwirrte, und die werdenden Ziegen mit tapp tapp kletterten oder durch die Wasserrinnen platschten.

Der Schatten vom Turm des Ruhmes wuchs, er fiel über die Mauer hinüber und streckte sich lang hinaus ins flache Land, die Weihen senkten sich paarweise oder zu dreien aus der Höhe herab, nackte Kinder, die einander mit schallender Stimme anriefen, sammelten die zerstreuten Ziegen, um sie heimzutreiben in die rauchigen Hütten der nahen Dörfer, und nun erst schickte sich Tarvin zur Heimreise an.

Als er die Anhöhe gegenüber der Stadt wieder erreicht hatte, hielt er Fibby an, um einen letzten Blick auf Gunnaur zu werfen. Die Sonne hatte sich schon von den Mauern verabschiedet, die nun pechschwarz aus der dunstbedeckten Ebene und dem bläulichen Zwielicht in die Luft aufragten. Aus einem Dutzend Höhlen rings am Fuß des Bollwerks zwinkerten Hirtenfeuer auf, aber längs der Umfassung des trostlosen Orts schimmerte kein Licht.

»Ein trübseliges Nest, Fibby,« sagte Tarvin, die Zügel aufnehmend. »Wir halten nicht viel von unsrer Landpartie und werden in Rhatore nicht darüber reden, merk‘ dir das, mein Sohn!«

Er trieb das Pferd an und Fibby jagte heimwärts, daß die Funken stoben; er hatte es so eilig, daß er unterwegs nur ein einziges Mal eine Stärkung verlangte. Tarvin that auf dem langen, langen Ritt den Mund nicht mehr auf, aber als er im hellen Morgensonnenschein vor dem Rasthaus abstieg, entrang sich ein tiefer Atemzug der Erleichterung seiner Brust.

Als er dann in seinem Zimmer saß, bereute er es zwar tief, sich nicht in Gunnaur eine Fackel zurecht gemacht und das unterirdische Gewölbe genauer untersucht zu haben, aber sobald ihm die grünen Augen und der Moschusgeruch in Erinnerung kamen, schauderte ihn. Das Ding war unausführbar. Nie wieder, mochte ihn locken, was da wollte, würde er, solang er im gesegneten Licht der Sonne wandelte, einen Fuß in die Höhle des Kuhmauls setzen, so fremd seiner Natur die Furcht war.

Es war sein Stolz, in allen Stücken immer zu wissen, wann er genug hatte. Vom Kuhmaul hatte er genug gehabt, und das Einzige, wonach ihn in Beziehung darauf noch gelüstete, war, dem Maharadscha die Meinung darüber zu sagen. Daran war aber unglücklicherweise gar nicht zu denken. Der müßige Monarch, der ihn, wie er nun deutlich sah, dorthin gewiesen hatte, entweder in einer Anwandlung despotischer Sport- und Spottlust, oder um ihn von der richtigen Fährte des Halsbands abzulenken, war und blieb ja der einzige Mensch, von dessen Wohlwollen der endliche Sieg abhing. Dem Maharadscha zu sagen, was er von ihm dachte, wäre ein Genuß gewesen, den er sich leider versagen mußte.

Glücklicherweise fand der König zu viel Spaß an den Arbeiten am Ametfluß, die Tarvin gleich am nächsten Tag einleitete, um sich eingehend zu erkundigen, ob sein Freund das Naulahka im Gye-Mukh gesucht habe oder nicht. Am Morgen nach seiner Rückkehr von dem unheimlichsten Fleck Erde, den er je gesehen hatte, war Tarvin vor dem Maharadscha erschienen mit der Miene eines Mannes, der nicht ahnt, was Furcht ist, und nie eine Enttäuschung erfahren hat, und hatte ihn fröhlich an die Erfüllung seines Versprechens gemahnt. Nach dem bedeutenden Mißerfolg in einer Richtung, fühlte er das Bedürfnis, auf der Stelle den ersten Spatenstich an einem neuen Werk zu thun, gerade wie die Bewohner von Topaz am Morgen nach dem großen Brand zu bauen angefangen hatten. Seine Erlebnisse am Gye-Mukh stählten nur seine Entschlossenheit und gesellten ihr das ingrimmige Verlangen bei, mit dem Mann, der ihn hingeschickt hatte, Abrechnung zu halten.

Der Maharadscha, der an diesem Morgen ganz besonders zerstreuungsbedürftig war, zeigte sich voll Eifers, Wort zu halten, und erteilte Befehl, daß dem langen Engländer, mit dem er Pachisi spiele, so viel Mannschaft zur Verfügung gestellt werden solle, als er verlange. Tarvin stürzte sich in die Ableitung des Flusses und die Erbauung des Damms mit der ganzen Willenskraft der Wut, die aus der Erinnerung an die fraglichsten und ungemütlichsten Augenblicke seines Lebens immer neue Nahrung sog. In dem Land, worein er geraten war, schien es ja nötig zu sein, den Leuten Sand in die Augen zu streuen, um seine Absichten zu verbergen, und das wollte Tarvin in einem Maßstab besorgen, der dem Abenteuer, das er selbst bestanden hatte, entsprechen würde. Geschäftsmäßig, gründlich, unerbittlich wollte er sie in wahre Wirbelstürme von Sand einhüllen.

Der Anfang seiner Thätigkeit war wirklich verblüffend und in Sandwolken gehüllt. Seit der Gründung dieses Staats hatte man nichts Derartiges zu sehen bekommen in Gokral Sitarun. Der Maharadscha stellte ihm die ganze Arbeitskraft seiner Sträflinge zur Verfügung, und Tarvin ließ die kleine Armee an den Beinen gefesselter »Kaidies« fünf Meilen vor der Stadt ein Feldlager beziehen und entwarf höchst feierlich die Pläne für die zwecklose Stauung des halb eingetrockneten Amet. Seine frühere Ausbildung zum Ingenieur kam ihm jetzt sehr zu statten, denn er war wenigstens im stande, die Arbeiten sachgemäß anzuordnen und seinem Werk den Anschein der Zweckmäßigkeit zu verleihen. Am Ausgangspunkt einer ungeheueren Schleife, die der Fluß beschrieb, sollte das Wasser durch einen Querdamm gestaut und dann ein neues Bett gegraben werden, das in gerader, bedeutend kürzerer Linie an den Weiterlauf anschließen würde. Auf diese Weise war das alte Flußbett auf verschiedene Meilen bloßgelegt, und falls sich überhaupt Gold darin fand, sagte sich Tarvin, könne man sich ja wohl die Zeit nehmen, es herauszuschaffen. Einstweilen fand der König das Unternehmen höchlich unterhaltend, ritt jeden Morgen hinaus und sah eine Stunde oder länger mit an, wie Tarvin seine Mannschaft befehligte. Das Hin- und Hermarschieren der Sträflinge in wohlgeordneten Reihen mit Körben, Schaufeln und Spaten, die Esel mit zwei großen Tragkörben, die verschwenderisch ausgeführten Felssprengungen, das Geschrei und das emsige Gewimmel, das alles ergötzte den König, in dessen Anwesenheit Tarvin auch immer die größten Sprengungen vornehmen ließ. Da der König das Pulver lieferte, überhaupt die Kosten des ganzen Vergnügens trug, fand Tarvin dies nur recht und billig.

Zu den minder angenehmen Obliegenheiten Tarvins gehörte die Notwendigkeit, jeden Tag dem Oberst Nolan, dem König und sogar allen Handlungsreisenden, die im Rasthaus einkehrten, seine Gründe für die Stauung des Flusses auseinanderzusetzen, so oft es eben dem einen oder andern beliebte, danach zu fragen. Ja, sogar die kaiserlich indische Regierung fragte nach diesen Gründen und zwar schriftlich, sie wollte ferner wissen, weshalb Oberst Nolan die Arbeiten am Amet zulasse, und sogar, warum der Maharadscha einen Ingenieur, der nicht von der Regierung angestellt und mit keinerlei Machtbefugnissen versehen sei, den Amet ableiten lasse. Diese Anfrage war von dem Ersuchen um nähere Auskunft begleitet. Tarvin für sein Teil erfand eine so vortrefflich ausweichende und eigentlich nichtssagende Antwort, daß er sich schmunzelnd sagen konnte, eine bessere Vorbereitung für die staatsmännische Laufbahn zu Hause hätte er gar nicht finden können. Der Oberst Nolan gab amtlich bekannt, die Arbeit der Sträflinge würde bezahlt, und fügte vertraulich bei, der Maharadscha sei so erstaunlich fügsam und artig, seit ihm dieser hereingeschneite Amerikaner die Langeweile vertreibe, daß es Sünd‘ und schade wäre, ihn um sein Vergnügen zu bringen. Oberst Nolan war persönlich stark beeinflußt von dem Umstand, daß Tarvin der Ehrenwerte Nikolas Tarvin und Mitglied eines gesetzgebenden Körpers in den Vereinigten Staaten war.

Die Regierung, der die ununterdrückbare Rasse bekannt genug war, die in Reiterstiefeln in den Rat des Königs tritt und von Arracan bis zum Peschin das Recht zu Oelbohrungen fordert, wandte nichts dagegen ein, wiederholte aber, daß sie von Zeit zu Zeit ausführlichen Bericht über den Fortgang der Arbeiten erwarte. Als Tarvin davon erfuhr, stieg die kaiserlich indische Regierung in seiner Achtung. Er konnte ihr vollständig nachfühlen, daß sie wissen wollte, was vorging, er hätte ja auch so gern wissen mögen, wo sich das Halsband befand, hätte wissen mögen, wann die Zeit kommen würde, wo Käte einsehen mußte, daß sie ihn nötiger hatte, als das Elend der Welt sie!

Mindestens zweimal in der Woche faßte er den Vorsatz, das Naulahka zu lassen, wo es war, nach Topaz zurückzukehren und den Beruf eines Bodenspekulanten und Versicherungsagenten wieder aufzunehmen. So oft er zu diesem Entschluß gelangt war, atmete er erleichtert auf und erinnerte sich mit Befriedigung, daß auf der Erdoberfläche wenigstens ein Ort sei, wo ein Mann ohne Winkelzüge ans Ziel gelangen konnte, vorausgesetzt natürlich, daß er die Ellbogen zu brauchen verstand, wo er auf geradem Wege seinen Ehrgeiz befriedigen konnte und nicht mit Vorliebe um fünf Ecken ging, um an die andre Seite eines Vierecks zu kommen.

Manchmal, wenn er unter den blendenden Strahlen indischer Sonne geduldig in dem Flußbett schmorte, konnte Tarvin im stillen das Naulahka verfluchen, ja in der Ketzerei so weit gehen, daß er sich selbst vorredete, das ganze Halsband sei überhaupt nicht vorhanden, sei eine Mythe, wie des Königs Staatsweisheit und Dhunpat Rajs ärztliche Kunst. Und doch wieder – aus hundert Quellen flossen die Nachrichten über seine Existenz, seinen Wert, nur auf eine offene Frage erhielt man keine Antwort.

Dhunpat Raj besonders, der einmal die Schwäche gehabt hatte, bei Tarvin über der neuen Doktordame »übertriebenen Eifer und ganz verschwenderische Verwaltung« zu klagen, hatte ihm mit seiner Beschreibung des Halsbands den Mund wässerig gemacht. Aber gesehen hatte es auch Dhunpat Raj nur einmal, und das war vor fünfzehn Jahren gewesen bei der Krönung des jetzigen Maharadscha, seither nicht wieder. Sogar die Sträflinge schwatzten darüber, und wenn sie über das ihnen zugeteilte Essen haderten, hieß es, die Hirse scheine hier so kostbar zu sein wie das Naulahka. Zweimal hatte der Maharadscha Kunwar ruhmredige Reden über alles, was er thun werde, wenn er König sei, mit der vertraulichen Mitteilung geschlossen: »Und das Naulahka werde ich alle Tage auf meinem Turban tragen.«

Als ihn aber der große Freund, dem er seine Zukunftspläne auseinandersetzte, eifrig gefragt hatte, wo es denn sei, das Naulahka, das Staatsglück, hatte er ganz bescheiden geantwortet: »Ja, das weiß ich nicht.«

Das höllische Ding schien ein Wort, ein Begriff, eine Mythe, ein Bild zu sein – alles eher, als das schönste Schmuckstück der Erde. In den Pausen zwischen Sprengungen und Ausgrabungen machte Tarvin immer wieder fruchtlose Versuche, auf seine Spur zu kommen. Er durchforschte die Stadt Bezirk um Bezirk und jeden einzelnen Tempel darin; unter dem Vorwand, archäologische Studien zu treiben, ritt er nach den Außenforts und nach zerstörten Palästen, die, weit von der Stadt, zerstreut in der Wüste lagen. Rastlos besuchte er alle Gruftkammern, wo die Asche der verstorbenen Könige von Gokral Sitarun ruhte. Er sagte sich selbst hundertmal, daß alles Suchen und Fragen umsonst sei, aber er bedurfte des Trosts der Spannung und Erwartung, so oft sie auch getäuscht wurden.

Wenn er mit dem Maharadscha ins Land hinausritt, wußte er seine Ungeduld und Verstimmung zu bekämpfen. Im Palast, den er täglich mindestens einmal besuchte, angeblich, um über die Arbeit am Fluß zu berichten, widmete er sich hingebender als je dem Pachisispiel. Es gefiel dem Maharadscha in diesen Tagen, statt in dem weißen Marmorpavillon des Orangengartens, den er sonst zur Frühlingszeit bevorzugte, im Hof zu sitzen, unmittelbar vor Sitabhais Flügel des roten Palastes, und zum Zeitvertreib abgerichteten Papageien zuzusehen, die kleine Spielzeugkanonen abfeuerten, oder den hitzigen Kämpfen von Wachtelhähnchen, oder große graue Affen in englischen Offiziersuniformen exerzieren zu lassen. Kam der Oberst Nolan, so wurde letztere Kurzweil jäh unterbrochen, und die Affen mußten verschwinden, aber Tarvin durfte auch an diesem Genuß teilnehmen, wenn ihm der Damm Muße dazu ließ. Sein ganzes Wesen bäumte sich auf gegen die erzwungene Unthätigkeit, die Unmöglichkeit, dem Naulahka näher zu rücken, während er diesen kindischen Spielen zusah. Nur daß er den Maharadscha Kunwar bei dieser Gelegenheit fest im Auge behalten konnte, war ein Trost; dabei fand sein Scharfsinn doch einige Verwendung.

Der Maharadscha hatte strengen Befehl erteilt, daß der Prinz allen Anordnungen der Doktordame zu gehorchen habe. Sogar sein schwerfälliger, trüber Blick nahm eine Besserung im Befinden des Kleinen wahr, und Tarvin trug Sorge, daß das Verdienst einzig und allein Käte zugeschrieben wurde. Allein der Knabe, der bisher nie im Leben Befehle erhalten und gehorchen gelernt hatte, fand plötzlich eine koboldmäßige Lust an Widerspruch und Ungehorsam und wandte all seinen Witz daran, samt Gefolge in dem von Sitabhai bewohnten Teil des Palasts herumzutollen. Dort fand er grauhaarige Schmeichler die Fülle, die sich vor ihm erniedrigten und ihm ohne Ende vorleierten, was für ein Herrscher er seiner Zeit sein werde, dort fand er auch hübsche Tänzerinnen, die ihm ihre Lieder vorsangen und ihn im Grund der Seele verderbt haben würden, wenn er nicht zu sehr Kind gewesen wäre für ihre Künste. Außerdem gab es dort Assen und Pfauen und Gaukler, die jeden Tag andre Kunststücke machten, Seiltänzer und ungeheuere Kisten, die aus Kalkutta kamen, und aus denen er sich allerlei Herrlichkeiten auswählen durfte: zierliche Pistolen, mit Elfenbein eingelegt, kleine Säbel in goldener Scheide, die in der Mitte eine Rinne hatte, worin Perlen hin und her liefen, die melodisch klingelten, wenn er den Säbel über seinem Haupte schwang. Daß er in einem Tempel, der ganz aus Elfenbein und Opalen bestand und sich im Innersten des Frauenreichs befand, den Opfertod einer Ziege mit ansehen dürfe, war ein Versprechen, das ihn mit unwiderstehlicher Gewalt fesselte.

Diesen Wonnen gegenüber hatte ihm die ernste, schwermütige Käte, die immer zerstreut war und deren Augen häufig voll Thränen standen, Thränen des Mitleids und der Hilflosigkeit, im Missionshaus nichts zu bieten als die harmlosesten kindlichen Spiele. Der mutmaßliche Thronerbe machte sich gar nichts aus »Froschhüpfen«, das er sogar höchst würdelos fand, »Kämmerchenvermieten« war auch kein sonderlicher Genuß, für seinen Geschmack zu lärmend und unruhig. Vom Tennis wußte er zwar, daß die europäischen Prinzen es mit Vorliebe spielten, aber daß es zur Erziehung eines Radschputen gehöre, vermochte er nicht einzusehen. Mitunter, wenn er gerade sehr müde war – er kam manchmal auffallend erschöpft von einem der verbotenen Ausflüge in Sitabhais Gebiet zurück – konnte er lange stillsitzen und mit Spannung den Geschichten von Krieg, Schlachten und Siegen lauschen, die ihm Käte vorlas, aber wenn er dann am Schluß mit leuchtenden Augen in die Worte ausbrach: »Wenn ich König bin, müssen meine Soldaten alle diese Greuel verrichten,« so war seine Freundin wenig erbaut von der Wirkung ihres Vortrags.

Es lag nicht in Kätes Natur, ja sie würde es für ein Unrecht gehalten haben, leise Versuche religiöser Unterweisung zu unterlassen. Aber dem gegenüber kehrte der Knabe sofort die ganze Unzugänglichkeit des Orientalen heraus und sagte einfach: »Dein Gott ist ganz gut für dich, Käte, aber meine Götter sind gut für mich, und wenn mein Vater wüßte, daß du mir von dem Christengotte erzählst, würde er sehr böse werden.«

»Und was betest du denn an?« fragte Käte, im Grund ihres Herzens den kleinen Heiden bemitleidend.

»Meinen Säbel und mein Roß,« lautete die entschiedene Antwort, und der Maharadscha Kunwar zog den juwelenbesetzten Säbel, der sein unzertrennlicher Begleiter war, halb aus der Scheide, in die er ihn mit einem lauten Knacks zurückschob, der weitere Erörterungen ausschloß.

Der Maharadscha Kunwar mußte indes bald die Entdeckung machen, daß es wohl einigermaßen möglich war, Käte auszuweichen, aber nicht seinem langen Freund Tarvin. Er hatte ihm zu verstehen gegeben, daß die Anrede »Jüngelchen« oder »kleiner Mann« seinem Geschmack nicht besonders zusage, Tarvin hatte aber eine Art, das Wort Prinz mit ruhiger Unterwürfigkeit in die Länge zu ziehen, die dem jungen Radschputen öfter Zweifel aufdrängte, ob er sich nicht über ihn lustig mache. Daneben behandelte ihn aber Tarvin Sahib wieder ganz als Mann und erlaubte ihm, mit der nötigen Vorsicht natürlich, sein eigenes wirkliches »Gewehr« zu handhaben, das zwar kein Gewehr, sondern ein Revolver war. Und als der Prinz einmal den Stallmeister mit Bitten und Schmeicheln dahin gebracht hatte, ihn ein schwer zu behandelndes Reitpferd besteigen zu lassen, hatte Tarvin den Prinzen im Vorüberreiten einfach beim Kragen genommen und aus den Tiefen seines Samtsattels auf seinen eigenen Sattelknopf gesetzt und hatte ihm in einer Wolke von Staub gezeigt, wie der Cowboy seiner Heimat die Zügel auf diese oder jene Seite des Pferdehalses lege, um ihm die Richtung anzugeben, in der ein der Herde entflohener Stier eingeholt werden müsse.

Mit freier Hand von einem Sattel auf den andern gehoben zu werden, war ein Erlebnis, das die auch in einer morgenländischen Knabenseele schlummernde Lust an Zirkuskniffen wachrief und den Prinzen derart ergötzte, daß er sich in den Kopf setzte, das müsse vor Kätes Augen wiederholt werden, und da Tarvin der durchaus unentbehrliche handelnde Teil bei dieser Vorstellung war, lockte er ihn eines Tags vor das Missionshaus. Herr und Frau Estes traten mit Käte auf die Veranda. Der Missionar kargte nicht mit Beifall für dieses Schauspiel, ja er verlangte sogar mehrfache Wiederholungen, und als auch diese erfolgt waren, machte Frau Estes Tarvin den Vorschlag, da er nun doch einmal da sei, auch zu Tisch zu bleiben. Tarvin warf einen fragenden Blick auf Käte, der sich ihre Erlaubnis zur Annahme der Einladung erbitten wollte, und mit jener Logik, die Liebenden geläufig ist, nahm er ihren gesenkten Blick und das abgewandte Gesicht für Zustimmung.

Als man sich nach Tisch im Sternenlicht auf die Veranda setzte und die Gäste eine Weile allein blieben, fragte er: »Ist es dir wirklich unlieb?«

»Was?« fragte sie dagegen, ihm mit klarem, kühlem Blick voll ins Gesicht sehend.

»Daß ich dich mitunter treffe. Ich weiß ja, daß es dir nicht recht ist, aber wie soll ich dich sonst beaufsichtigen? Das wirst du ja mittlerweile einsehen gelernt haben, daß du einige Beaufsichtigung nötig hast.«

»O nein.«

»Ich danke dir,« sagte Tarvin beinah demütig. Er bezog offenbar die Verneinung auf seine erste Frage.

»Ich meine, daß ich keine Beaufsichtigung brauche!«

»Aber sie ist dir auch nicht unangenehm?«

»Jedenfalls ist sie ja gut gemeint,« versetzte sie, die Frage umgehend.

»Dann wäre es unrecht von dir, wenn du sie unangenehm fändest.«

Jetzt war es an Käte, zu lächeln.

»Nein, nein, ich finde sie nicht unangenehm.«

»Dann erlaubst du also, daß ich zuweilen hier vorspreche? Du machst dir keinen Begriff, wie öde solch ein Rasthaus ist, und diese Handlungsreisenden bringen mich noch um. Die Sträflinge am Damm sind auch nicht ganz mein Fall.«

»Da du nun einmal hier bist, sehe ich das ja ein, die Sache ist nur, daß du nicht hier sein solltest. Wenn du mir wirklich Güte erzeigen willst, Nick, so reise ab!«

»Wenn du mir nur eine leichtere Aufgabe stellen wolltest!«

»Aber sage mir nur, weshalb du hier bist. Du kannst wirklich keinen verständigen Grund dafür vorbringen.«

»Das findet die kaiserlich indische Regierung auch, aber mir genügen meine Gründe vollkommen.«

Tarvin gestand aber, daß er nach einem Tag in dieser tollen heidnischen Sonne oft eine brennende Sehnsucht nach etwas Heimatlichem, Natürlichem, Amerikanischem verspüre, und sobald er seine Gefühle in dieses Licht rückte, war Käte voll Verständnis und Teilnahme. Sie war mit dem Begriff aufgewachsen, daß Frauen eine Verantwortlichkeit dafür hätten, jungen Männern das Haus behaglich zu machen, und Tarvin fühlte sich mehr als behaglich, als sie ihm ein paar Abende darauf eine Nummer der Topazer Zeitung geben konnte, die ihr der Vater geschickt hatte. Tarvin fuhr darauf los wie ein Stoßvogel, kehrte die ärmlichen zwei Blatt um und um und dann in umgekehrter Richtung.

»Famos, famos!« murmelte er in seliger Verzückung, mit der Zunge schnalzend. »Nimmt sich der Anzeigenteil nicht sehr anständig aus? Nun, und wie steht’s mit Topaz?« rief er, das Blatt auf Armeslänge von sich haltend und die Spalten mit Liebesblicken überfliegend. »Scheint, die Stadt befindet sich wohl, geht ihr vortrefflich!«

Es klang wie das melodische Liebeswerben irgend eines Vogels, wenn er solche Worte sprach, und war wirklich vergnüglich anzuhören.

»Sag‘ einmal, wir kommen voran, meinst du nicht? Wenn wir auch die C. C. C. noch nicht haben, so vertrödeln und verbummeln und vergeuden wir unsre Zeit drum nicht, nein, nein, wir marschieren flott mit im Zug! Haha! Sieh dir doch einmal das ›Vermischte aus Rustler‹ an, just was der Setzer in einen Winkelhaken bringt! Die gute alte wurmstichige Stadt legt sich friedlich aufs Ohr und schläft ein wie eine Greisin – nein, die Idee, dorthin eine neue Eisenbahnlinie zu führen! Nun, hör‘ einmal dies: ›Milo C. Lambert, der Eigentümer der Mine »Lamberts letzter Graben« hat eine Wagenladung guten Erzes daliegen, findet aber, wie wir alle, daß der Versand nicht lohnt, wenn die nächste Eisenbahnlinie fünfzehn Meilen weit entfernt sei. Milo sagt, sobald er sein Erz fortgeschafft habe, werde er Colorado verlassen, denn hier sei nichts zu machen!‹

»Ganz richtig, Milo, was Rustler betrifft – komm nach Topaz, Mann, sag‘ ich dir – und nun höre dies: ›Wenn die C. C. C. im Herbst hierher kommt, so wird das Gerede über schlechte Zeiten ein Ende haben. Mittlerweile begeht man eine große Ungerechtigkeit gegen die Stadt, eine Ungerechtigkeit, die alle guten Bürger bekämpfen und bestrafen sollten, wenn man behauptet, daß Rustler hinter irgend einer Stadt gleichen Alters zurückstehe. Thatsächlich steht Rustler geradezu auf einem Höhepunkt gedeihlicher Entwickelung. Mit Bergwerken, die im letzten Jahr ein auf eine Million zweihunderttausend Dollars geschätztes Ergebnis lieferten, mit sechs Kirchen verschiedener Bekenntnisse, mit einer noch jungen, aber vielversprechenden, in der Zunahme begriffenen Akademie, die bestimmt ist, dereinst in die vorderste Reihe amerikanischer Schulen zu treten, mit einer Bauthätigkeit, die nach Zahl und Bedeutung der im Vorjahr errichteten Gebäude der jeder andern Bergstadt gleichkommt und viele übertrifft, mit einer Bevölkerung rühriger, tüchtiger, entschlossener Geschäftsleute, kann Rustler im kommenden Jahr jeden Wettbewerb aufnehmen, um seinem Namen Ehre zu machen!‹

»Wer hat denn etwas dagegen? Wir doch nicht, uns kann’s ja einerlei sein, wir zucken nur die Achseln! Aber Heckler hätte das nicht in seine Korrespondenz aufnehmen sollen, dumm von ihm,« erklärte Tarvin mit gefurchter Stirne. »Es könnte doch in Topaz Leute geben, die darauf reinfallen und sich nach Rustler verziehen, um die C. C. C. dort abzuwarten! Im Herbst kommt sie hin, hieß es nicht so? O Gott, O Gott, O Gott! Auf diese Weise vergnügen sich die Leute, sitzen auf ihrem Berg, lassen die Füße baumeln und legen die Hände in den Schoß! Nun, wenn’s ihnen Spaß macht, können sie ja auf die C. C. C. warten bis zum jüngsten Tag! Doch was steht denn da?

»›Unsre Kaufleute zeigen sich der freudigen Stimmung durchaus gewachsen, die in der Stadt herrscht, seit bekannt wurde, daß Präsident Mutrie bei seiner Rückkehr nach Denver ein günstiges Urteil über Rustlers Ansprüche gefällt hat. Robbins zeigt eine sehr hübsch aufgebaute Auslage von Luxusartikeln. Sein Geschäft scheint große Anziehungskraft zu üben auf unsere Jüngsten, die ein paar Nickel ausgeben können!‹

»Da hört sich doch alles auf! Solch ein Mumpitz! Sag‘ einmal, liebe Käte, würdest du dich nicht freuen, wenn die C. C. C. eines schönen Morgens angeschnaubt käme in Topaz?« fragte Tarvin plötzlich, indem er sich zu Käte aufs Sofa setzte und die Zeitung so hielt, daß sie mit hineinsehen konnte.

»Würde es dir große Freude machen, Nick?«

»Mir? Und ob! Ist das eine Frage!«

»Dann würde ich mich natürlich auch freuen! Aber ich glaube, daß es für dich zuträglicher wäre, sie käme nicht hin. Du könntest zu reich werden – denk‘ an meinen Vater!«

»Ich werde schon den Radschuh einlegen, wenn ich merke, daß ich zu reich würde! Sobald ich über das Stadium anständiger Armut hinaus bin, werde ich Halt machen, das verspreche ich dir! Thut’s einem nicht in der Seele wohl, wieder einmal den alten Zeitungskopf zu sehen – Hecklers Name in lebensgroßen Buchstaben unter dem Untertitel: ›Aelteste Tageszeitung des Distrikts‹ und Hecklers Faust ausgestreckt über einem zündenden Leitartikel über das Wachstum und die Aussichten der Stadt? Meint man nicht, daheim zu sein? Zwei Spalten mehr hat er im Anzeigenteil, das beweist den Aufschwung der Geschäfte! Und sieh dir nur die lieben, alten Annoncen der Agenturen vom Osten an! Wie einen die anheimeln! Hätt‘ ich wirklich nicht gedacht, daß mich eine Anpreisung von Kastorhüten je berühren könnte wie ein Geschenk des Himmels – hättest du das für möglich gehalten, Käte? Und doch ist’s so! Macht mich ordentlich fromm und gut. Wenn du viel sagst, lese ich auch noch die innere Seite!«

Käte lächelte. Auch in ihr rief das Zeitungsblatt ein gewisses Heimweh hervor. Sie hatte auch ein Herz für Topaz, aber was aus den Zeilen des geschäftigen Tageblatts vor ihrem inneren Auge aufstieg, war das Bild ihrer Mutter, die lange Nachmittage in ihrer Küche saß – Frau Sheriff hatte in den Zeiten der Armut und des Wanderlebens keinen »Salon« gehabt und bevorzugte auch jetzt noch den Aufenthalt in ihrer Küche – und wehmütig zu den schneegekrönten Berggipfeln aufsah, die bange Frage im Herzen, wie es ihrem Kinde wohl gehen, was es um diese Stunde thun möge. Wie deutlich diese Nachmittagsstunden in der Küche nach gethaner Arbeit vor Käte standen! Aus den Zeiten des Eisenbahnbaus war ihr besonders ein Schaukelstuhl erinnerlich, der einst bessere Tage gesehen und im Salon geglänzt hatte. Die Mutter hatte seine Schäden mit einem alten Fell verhüllt und ihn dem Küchendienst zugewiesen. Mit Thränen in den Augen erinnerte sie sich, wie oft die Mutter gewollt hatte, daß sie drin sitze, und wie gemütlich es gewesen war, von ihrem eigenen Sitz, dem Holzkorb neben dem Herd aus, die kleine Gestalt der Mutter ganz in seinen Tiefen verschwinden zu sehen. Sie hörte die Katze schnurren unter dem Herd und den Wasserkessel singen, ganz deutlich hörte sie wieder die Uhr ticken und fühlte, wie ihr zwischen den schlecht gefügten Brettern des Fußbodens in der eilig erbauten Baracke der kalte Prairiewind um die Beine strich.

Ueber Tarvins Schulter blickte sie auf die zwei rohen Holzschnitte, die jede Nummer des Tageblattes schmückten. Der eine stellte Topaz im Keim, das Topaz des ersten Jahrs seiner Entstehung dar, der andre das glänzende Topaz der Gegenwart, und ihr wurde sehr weh ums Herz.

»Ein Unterschied, nicht?« bemerkte Tarvin, die Richtung ihres Blickes beobachtend. »Erinnerst du dich noch, wo deines Vaters Zelt zu stehen pflegte, und kannst du dir noch denken, wo das alte Sektionshaus stand, da unten ganz dicht am Fluß?«

Er deutete auf das Bildchen, und Käte nickte stumm.

»Das waren eigentlich doch schöne Zeiten damals, meinst du nicht, Käte? Dein Vater war freilich noch kein reicher Mann wie jetzt und ich noch viel weniger, aber seelenvergnügt waren wir doch alle miteinander!«

Auch Kätes Gedanken schweiften in jene Zeit zurück, und die schmächtige Gestalt der Mutter stand wieder vor ihr; sie sah sie nicht nur im Schaukelstuhl ruhen, sondern mit harter Arbeit mancherlei Art beschäftigt. Besonders sah sie eine eigenartige Bewegung greifbar deutlich vor sich; wenn die Mutter am offenen Herdfeuer gekocht oder Krapfen gebacken oder auch die Glut geschürt hatte, war so häufig eine Hand nach der Stirne gefahren, um das junge und von Mühsal doch schon gealterte Gesicht vor der Glut zu schützen. Käte mußte ihre Thränen hinunterwürgen; das einfache Bildchen stand so fabelhaft klar vor ihr bis auf den Feuerschein auf den schmalen Wangen der Mutter und dem rosigen Licht, das durch die dünnen Finger schimmerte.

»Hallo!« rief Tarvin, der sich abermals in die interessante Zeitung vertieft hatte. »Sie haben ja noch ein Gespann anschaffen müssen für die Straßenreinigung! Eins hatten wir ja schon. Das Wetter vergißt Heckler auch nicht, und das ›Mesahaus‹ scheint Gäste genug zu haben, eine ganze Liste. Das ist ein gutes Zeichen. Wenn die neue Linie da ist und wir das richtige Hotel haben, werden sich alle Reisenden in Topaz aufhalten, im Vergleich mit mancher Stadt kann sich ja unser ›Fremdenverkehr‹ jetzt schon sehen lassen! Zu fünfzig haben sie neulich im Mesahaus gespeist – telegraphische Bestellung. Und eine neue Gesellschaft hat sich gebildet zur Verwertung der heißen Quellen! Weißt du, mich würde es gar nicht wunder nehmen, wenn dort eine vollständige zweite Stadt entstünde – Heckler hat ganz recht, das wäre eher förderlich als schädlich für Topaz! Stört uns gar nicht, wenn in solcher Nähe eine entsteht – die wird bald genug zur Vorstadt von Topaz werden.«

Tarvin gab seiner Dankbarkeit für die Zugeständnisse, die ihm Käte gemacht hatte, dadurch Ausdruck, daß er zeitig ging, aber am folgenden Abend legte er sich ein weniger strenges Zeitmaß auf, und da er nicht Miene machte, verbotene Gesprächsgebiete zu berühren, fand es Käte recht angenehm, ihn da zu haben. Er gewöhnte sich infolgedessen an, des Abends, wenn die Familie bei weitoffenen Fenstern und Thüren um die Lampe saß, vorzusprechen und eine gute Weile mitzuplaudern. In der Glückseligkeit über thatsächliche Ergebnisse ihrer Arbeit, die sie allmählich unter ihren Augen entstehen und wachsen sehen durfte, hatte Käte lange nicht mehr soviel gegen seine Anwesenheit in Rhatore einzuwenden als anfangs. Mitunter ließ sie sich auch von ihm auf die Veranda hinauslocken, in die Pracht und Herrlichkeit einer indischen Nacht, wo die »Hitzblitze« gleich feurigen Schwertern am Horizont aufzuckten, das Firmament tief, herabhing auf die in wundersamem Schweigen ruhende Erde. Meist aber saßen sie drinnen bei dem Missionar und seiner Frau, plauderten über Topaz, das Spital in Rhatore, den Maharadscha Kunwar, Tarvins Damm und nicht selten über die Kinder des Ehepaars im fernen Bangor. Meist aber drehte sich das Gespräch, wenn es allgemein wurde, zu Tarvins Mißvergnügen um den kleinlichen Klatsch, der in jedem abgeschlossenen Lebenskreis so wichtig genommen wird.

So oft derartige Dinge aufs Tapet kommen wollten, riß Tarvin gewaltsam das Gespräch an sich und zwang den Missionar, auf Zollgesetze, Silberwährung und andres einzugehen, wobei wenigstens jeder etwas lernen konnte. Tarvin war ein durch ernstes Zeitungslesen vielseitig unterrichteter Mann, die Grundlagen seiner Bildung aber hatten ihm das Leben selbst und die Notwendigkeit, sich den eigenen Weg zu bahnen, beigebracht, und theoretischer Zeitungspolitik wie den Schulsystemen gegenüber brauchte er die haarige Faust des gesunden Menschenverstands.

Müßiges Streiten und leere Wortklaubereien waren indes nicht seine Sache, und am liebsten unterhielt er sich, wenn es sein konnte, mit Käte. Seit sich einige Erfolge feststellen ließen und ihr Mut wuchs, bildete das Spital den Hauptgegenstand der Unterhaltung zwischen den beiden, und Käte gab endlich Tarvins dringender Bitte nach, ihm das Musterinstitut zu zeigen, daß er sich selbst von der Vortrefflichkeit ihrer Neuerungen überzeugen könne.

Seit den Tagen des »unheilbaren Wahnsinns« und der Herrschaft der »in ihrem Dorf hoch geschätzten klugen Frau« hatte sich in der That vieles geändert, doch Käte allein wußte, wieviel noch zu thun übrig war. Jetzt war das Spital wenigstens sauber und die üblen Gerüche waren beseitigt, vorausgesetzt natürlich, daß sie jeden Tag selbst nachsah, und die Kranken waren auf ihre Weise auch dankbar für eine gütigere und zweckmäßigere Behandlung, als sie ihnen je widerfahren war. Nach jeder gelungenen Heilung liefen Gerüchte durchs Land von einer neuen Macht, die in Gokral Sitarun eingezogen sei, und andre Hilfsbedürftige rückten an oder auch eine Geheilte brachte selbst ein Kind, eine Schwester, eine Mutter her, die schon den unverbrüchlichen Glauben an die »weiße Fee«, die alle Schäden heilen konnte, übernommen hatten. Sie konnten ja nicht einmal beurteilen, wieviel Käte mit ihren ruhigen Bewegungen wirklich für sie leistete, aber was sie davon wahrnahmen, dafür waren sie dankbar. Ihre unverbrauchte Thatkraft riß sogar Dhunpat Raj einigermaßen mit sich fort. Er wurde ganz eifrig im Tünchenlassen der Wände, dem Desinfizieren der Räume, dem zweckmäßigen Lüften des Bettzeugs und ließ sogar willig die Betten, worin Blatternkranke gestorben waren, deren Verkauf ihm sonst Nebeneinkünfte geliefert hatte, den Flammen übergeben. Seit er inne geworden war, daß hinter dieser »Doktordame« ein sehr entschlossener weißer Mann stand, arbeitete er entschieden noch williger in ihrem Sinn – er war eben ein Eingeborener. Tarvins Besuch und ein paar scherzhaft hingeworfene Worte, hinter denen er den Ernst witterte, hatten ihn über diesen Umstand aufgeklärt.

Vom Dialekt der Kranken verstand Tarvin wenig, und die Frauenabteilung zu besuchen, wurde ihm nicht gestattet, aber er sah doch genug, um Käte uneingeschränktes Lob spenden zu können, das diese vergnügt lächelnd einstrich. Frau Estes nahm ja wohl Anteil an ihren Bestrebungen, aber Begeisterung hatte sie nicht dafür, und so war es ihr eine wirkliche Genugthuung, von Tarvin gelobt zu werden, der ihren Plan selbst so sehr mißbilligt hatte.

»Es ist sauber hier und die Luft ist rein, kleines Mädchen,« erklärte er, nachdem er sich umgesehen und herumgeschnüffelt hatte, »und du hast mit diesen Quallenmenschen wahre Wunder vollbracht. Wenn du mein Gegner bei der Wahl gewesen wärest, statt deines Vaters, so wäre ich jetzt kein Gesetzgeber!«

Von jenem Teil ihrer Thätigkeit, der im Frauenpalast des Maharadscha lag, sprach Käte nie ein Wort. Schritt für Schritt lernte sie sich in dem ihr zugänglichen Teil des Palastes zurechtfinden. Daß im ganzen Bienenstock nur eine Königin herrschte, deren Namen man nur flüsternd nannte, deren leisester Befehl, und wenn ihn ein nur schreiendes Kind weiter trug, den ganzen Schwarm in Bewegung setzte, hatte sie bald entdeckt. Gesehen hatte sie diese Königin nur ein einziges Mal, glitzernd und gleißend, wie ein Skarabäus, hatte sie auf einem Berg von seidenen Kissen geruht, ein schwarzhaariges, geschmeidiges, junges Ding mit einer Stimme, so sanft wie das Gemurmel des Springbrunnens in stiller Nacht, und mit Augen, die auch nicht den Schatten der Furcht kannten. Sie drehte sich lässig um, wobei ihre Juwelen an Fußgelenk, Arm und Brust leise klirrten, und blickte lange, lange in Kätes Gesicht. »Ich habe nach Ihnen geschickt, weil ich Sie sehen wollte,« sagte sie endlich. »Sie sind übers Meer gekommen, um dem Ungeziefer hier Hilfe zu bringen?«

Käte nickte stumm; ihre innerste Natur empörte sich gegen das goldstrotzende Geschöpf mit der Silberstimme, das vor ihren Füßen lag.

»Verheiratet sind Sie nicht?« fragte die Königin, beide Hände unter ihren Kopf schiebend und zu den gemalten Pfauen an der Zimmerdecke hinauf starrend.

Käte gab keine Antwort; das Blut pochte wild in ihren Schläfen.

»Ist hier jemand krank?« fragte sie dann mit harter Stimme. »Ich bin sehr beschäftigt …«

»Nein, krank ist hier niemand, wenn Sie es nicht sind … man kann auch krank sein, ohne es zu wissen.«

Die Königin wandte das Haupt, um Käte anzusehen, deren Augen vor Entrüstung flammten. Dieses Weib, das in Müßiggang und Putzsucht vor ihr lag, hatte nach des Maharadscha Kunwar Leben getrachtet, und Grauen schüttelte sie vor dieser Jugend – Sitabhai war jünger als sie selbst.

»Achcha,« sagte die Königin noch langsamer, ohne den Blick von Käte zu verwenden. »Wenn Sie mich so hassen, weshalb sagen Sie mir’s nicht? Ihr Weißen, ihr liebt ja die Wahrheit!«

Käte drehte sich auf dem Absatz um und wollte aus dem Zimmer eilen, aber Sitabhai rief sie zurück und würde sie, einer Laune gehorchend, geküßt haben, wenn Käte nicht entsetzt zurückgefahren wäre. Seither vermied sie diesen Flügel des Palastes aufs ängstlichste. Sie wurde auch nie gerufen, denn die Frauen dort begehrten ihrer Dienste nicht, aber wenn sie an dem dunkeln Gang, der zu Sitabhais Gemächern führte, vorüber mußte, sah sie nicht einmal, sondern öfters ein nacktes Knäblein umherhüpfen, das jubelnd ein juwelenbesetztes Messer in den enthaupteten Rumpf einer Ziege stieß, deren Blut die weißen Marmorfliesen überströmte.

»Das,« sagten ihr die Frauen, »ist der Zigeunerin Sohn. Er lernt töten, Tag für Tag. Eine Schlange ist eine Schlange und eine Zigeunerin bleibt eine Zigeunerin bis zu ihrem letzten Atemzug.«

In dem Teil des Palastes, wo Käte am ehesten heimisch war, wurden keine Ziegen geschlachtet und keine Cymbeln gerührt. Hier lebte, vergessen vom Maharadscha, verspottet von Sitabhais Frauen, die Mutter des Maharadscha Kunwar. Sitabhai hatte ihr alle Ehren und alle Liebe geraubt, durch teuflische Zigeunerkünste sagten die Anhänger der Königin Mutter, durch ihre Schönheit und Liebesgewalt sang man im jenseitigen Teil des Palastes. Wo sich sonst ein glänzender Hofstaat von Frauen gedrängt hatte, wandelte man jetzt durch leere, verödete Räume, und die wenigen Getreuen, die bei der gefallenen Größe ausharrten, wurden scheel angesehen und wenig beachtet. Sie selbst war nach morgenländischen Begriffen eine ältliche Frau, das heißt über fünfundzwanzig Jahre alt und war auch nie mehr als alltäglich hübsch gewesen.

Ihre Augen waren trüb geworden vom Weinen, und ihre Seele war erfüllt von abergläubischer Angst – jede Stunde des Tages und der Nacht hatte für sie ihre besonderen Schrecken und in ihrer Vereinsamung konnte sie der Schall eines Fußtritts erbeben machen. In den Jahren ihres Glücks hatte sie sich täglich mit Wohlgerüchen gesalbt, all ihre Juwelen angelegt und mit künstlich geflochtenen Haaren den Maharadscha erwartet. Auch jetzt noch schmückte sie sich wie einst, ließ sich ihre Kleinodien umhängen und wartete, von ihrem ehrfurchtsvoll schweigenden Hofstaat umgeben, auf den königlichen Gatten, wartete die ganze lange Nacht hindurch, bis das Morgenlicht die Fahlheit unter der Schminke verriet. Käte hatte eine dieser Nachtwachen miterlebt, und ihre Augen mochten verraten haben, wie unbegreiflich ihr die Sache vorkam, denn die Königin Mutter winkte sie, nachdem sie ihren Schmuck wieder abgelegt hatte, schüchtern herbei und bat sie, nicht zu spotten.

»Sie verstehen das eben nicht, Fräulein Käte,« verteidigte sie sich mit kläglicher Stimme. »In einem Land sind die Sitten so, im andern anders, aber Sie sind ja auch ein Weib – Sie werden es noch begreifen lernen!«

»Aber Sie wissen doch, daß niemand kommt,« sagte Käte weich und herzlich.

»Ja, ich weiß es, aber – nein, Sie sind eben doch kein Weib, Sie sind ein guter Geist, der weit übers Meer her gekommen ist, um mir Aermster und den Meinigen zu helfen.«

Käte war überrascht. Außer in der Botschaft, die ihr der Maharadscha Kunwar bestellt hatte, war nie ein Wort über die Lippen der Königin gekommen, das irgend welche Angst um das Leben ihres Sohnes verraten hätte. Wiederholt hatte Käte den Versuch gemacht, das Gespräch darauf zu lenken, um wenigstens eine Andeutung über die Art der Gefahr zu bekommen, der sie vorbeugen sollte – es war immer vergebens gewesen.

»Ich weiß nichts,« pflegte die Königin zu sagen. »Niemand weiß etwas hier, hinter diesem Vorhang. Fräulein Käte, wenn meine eigenen Frauen tot da unten lägen,« – sie deutete durch das grüne Lattenwerk vor ihrem Fenster nach dem gepflasterten Weg, der sich darunter hinzog, – »ich wüßte nichts davon. Auch von dem, was ich gesagt, weiß ich nichts, aber,« setzte sie so leise hinzu, daß Käte sie kaum verstand, »es wird doch kein Unrecht sein, wenn eine Mutter ihren Sohn dem Schutz einer andern Frau befiehlt! Er ist jetzt alt genug, um sich als Mann zu fühlen und der Mutter zu entfremden, und ist noch jung genug, um der Welt zu trauen. Ahi! Und er ist so weise, denn er hat tausendmal mehr gelernt als ich und spricht englisch, wie ein Engländer. Wie kann ich mit meinen geringen Kenntnissen und meiner großen Liebe den Sohn beaufsichtigen? Darum sage ich Ihnen, seien Sie gut gegen ihn! Das darf ich ja laut sagen, das dürfte ich an die Wände schreiben, wenn’s not thäte. Das ist ja nichts Verdächtiges. Wenn ich aber mehr sagte, so würden die Steinfliesen unter meinen Füßen die Worte aufsaugen, und der Wind würde sie in die Stadt und weit in die Dörfer hinaustragen. Ich bin eine Fremde in diesem Land – eine Radschputin aus Kulu, viele tausend, tausend Meilen von hier. In einer dicht verschlossenen Sänfte trugen sie mich her zur Hochzeit – einen ganzen Monat lang trug man mich und ich saß in der Dunkelheit, und wenn nicht eine von meinen Frauen es mir gesagt hätte, ich wüßte nicht, in welcher Richtung der Wind weht, der in meine Heimat zieht, nach Kulu. Was soll ihnen eine fremde Kuh im Stall? Mögen die Götter ihr beistehen!«

»Aber sagen Sie doch mir, was Sie denken?«

»Ich denke nichts,« hatte die Königin verdrossen erwidert. »Was geht uns Frauen das Denken an? Wir lieben und leiden! Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich sagen darf. Fräulein Käte, Sie werden auch Mutter werden und einen Sohn zur Welt bringen. Wenn die Zeit kommt, werden Sie’s erfahren, wie voll von Liebe ein Mutterherz ist, und mögen die Götter gut sein gegen Ihren Sohn, wie Sie es gegen den meinigen waren.«

»Wenn ich ihn behüten soll, muß ich wissen, wovor, und Sie lassen mich im Dunkeln!«

»Ich bin auch im Dunkeln, und das Dunkel ist voll Gefahren.«

Tarvin hielt sich sehr viel im Palast auf, nicht nur, weil er dort am ehesten Kunde von seinem Halsband erlauschen zu können hoffte, sondern weil er dadurch in der Lage war, Kätes Kommen und Gehen zu beobachten. Oft genug fuhr seine Hand wieder nach dem Revolver, und sein Blick folgte der entschwindenden Gestalt mit aller Sehnsucht des Liebenden, aber er äußerte nichts davon, und dafür war ihm Käte dankbar. Tarvin sagte sich, es sei die Zeit gekommen, einfach wieder ihren Helfer und Wasserträger zu spielen, wie dereinst in der Bauhütte, die Zeit, sie zu behüten und zu bewachen, ohne daß sie seiner inne ward – er fühlte, daß er ihren Frieden nicht stören durfte.

Der Maharadscha Kunwar kam ihm im Palasthof häufig unter die Augen, und Tarvin war unermüdlich, auf Kurzweil zu sinnen, die den Jungen von Sitabhais Bereich fernhalten sollte, aber gelegentlich entschlüpfte er ihm doch, und dann war es an Tarvin, ihm nachzugehen und sich zu überzeugen, daß ihm kein Leides geschah. An einem Nachmittag, wo er alle möglichen Künste und schließlich auch Gewalt angewendet hatte, den widerspenstigen Jungen in seiner Nähe festzuhalten, stürzte, als Tarvin durch einen Thorweg ritt, den man auszubessern angefangen hatte, dicht vor Fibbys Nase ein zwölf Fuß langer Balken von Teakholz vom Gerüst herab. Fibby wich auf den Hinterbeinen in den Hof zurück, und hinter den Holzgittern flüsterten und tuschelten Frauenstimmen.

Tarvin überlegte nur, wie unverbesserlich nachlässig doch die Leute hierzulande seien, wetterte die Arbeiter an, die auf dem Gerüst in der Wölbung des Thorbogens hockten, und ritt seines Weges. Er hatte derlei Fahrlässigkeiten bei den Arbeiten am Fluß auch schon gehörig zu kosten bekommen; es müsse diesem Volk im Blut liegen, nichts sorgfältig zu machen, nahm er an. Der Anführer eines Kulitrupps, der schon mindestens zwanzigmal über den Amet gegangen sein mußte, wies ihm eine neue Furt über einen besonders einladenden Kanal, es fand sich aber, daß sie im Treibsand verlief, und nachdem sich Tarvin selbst glücklich herausgewunden hatte, war der ganze Trupp einen halben Tag damit beschäftigt gewesen, den armen Fibby mit Stricken herauszuwinden. Nicht einmal eine Notbrücke konnten sie aufschlagen, ohne die Planken so zu legen, daß ein Pferdehuf notwendig dazwischen geraten mußte, und die Kulis schienen ein ganz besonderes Talent zu haben, Büffelkarren den steilen Uferwall herabrollen zu lassen, gerade auf Tarvins Rücken zu, wenn dieser den Werkleuten einmal zugekehrt war, was freilich selten geschah.

Er bekam dadurch immer mehr Respekt vor der britischen Regierung, die mit diesem Material zu arbeiten verstand, und mehr Verständnis für die milde Hoffnungslosigkeit, die des Missionars Urteil über die Eingeborenen durchwehte. Auch Kätes Erbarmen konnte er jetzt weit eher mitfühlen als im Anfang.

Diese wunderlichen Leutchen wollten nun, wie Tarvin zu seinem Entsetzen erfuhr, das Maß ihrer Thorheit voll machen, indem sie den Maharadscha Kunwar verheirateten! Die Braut, ein dreijähriges Kind, sollte mit ungeheuren Kosten von den fernen Kuluhügeln hergebracht werden. Auf diese Nachricht hin eilte er gleich ins Missionshaus, wo er Käte, die schon darum wußte, in flammender Entrüstung fand.

»Sieht ihnen ganz gleich, eine Hochzeit für nichts und wieder nichts zu feiern,« bemerkte er beschwichtigend. Wenn Käte aufgeregt war, mußte ja Tarvin ruhig sein. »Laß dich nicht davon anfechten, Käte, du hast so wie so zu viel im Kopf. Du willst zu viel leisten und empfindest zu viel dabei. Eh‘ du dich’s versiehst, wirst du an Erschöpfung der Mitleidsnerven zusammenbrechen!«

»O nein!« entgegnete Käte. »Ich fühle mich allem gewachsen, was kommen mag – zusammenbrechen darf ich nicht. Bedenke doch diese bevorstehende Hochzeit! Da wird der Knabe meiner mehr bedürfen als je. Vorhin hat er mir gesagt, daß er drei Tage und drei Nächte nicht schlafen dürfe – so lange beten die Priester über ihm!«

»Hirnverbrannt! Auf die Weise bringen sie ihn vielleicht schneller um, als Sitabhai! Großer Gott, das ist ja gar nicht auszudenken! Reden wir von etwas anderm – hast du keine Zeitung mehr bekommen von deinem Vater? Bei solchen Geschichten wässert einem der Mund nach einem vernünftigen Wort aus Topaz!«

Käte gab ihm eine Kreuzbandsendung, die mit der letzten Post gekommen war, und Tarvin vertiefte sich schweigend in eine sechs Wochen alte Nummer des Tageblattes. Sehr viel Trost schien sie ihm aber nicht zu bieten, denn seine Stirne verdüsterte sich mehr und mehr.

»Donnerwetter! So geht das nicht!« rief er plötzlich.

»Was ist denn?«

»Heckler wirft mit der C. C. C. um sich, aber auf höchst ungeschickte Weise. Sieht Jim gar nicht ähnlich! Er spricht davon, als ob die Sache vollständig sicher sei, und zwar so nachdrücklich, als ob er selbst nicht daran glaubte. Ja, man könnte denken, es sei ihm vertraulich gesteckt worden, daß es nichts damit sei – glaube auch, daß es geschehen, aber solche Blößen darf er sich deshalb Rustler gegenüber doch nicht geben. Halt – sehen wir uns einmal den Liegenschaftsumsatz an! Aha, da liegt der Hund begraben,« rief er noch aufgeregter, als er die Stelle gefunden hatte. »Die Preise sinken, in der G-Straße haben sie ihre Bauplätze geradezu verschleudert. Die Jungens geben klein bei, sie werfen die Flinte ins Korn!«

Tarvin sprang auf und rannte aufgeregt im Zimmer hin und her.

»O, wenn ich sprechen dürfte, wenn ich’s ihnen sagen könnte!«

»Was denn, Nick? Was möchtest du ihnen denn sagen?«

Tarvin faßte sich sofort. »Daß ich daran glaube,« erwiderte er. »Daß sie nicht weich geben dürfen!«

»Aber wenn schließlich doch nichts daraus wird? Wie kannst du das wissen, hier im fernen Indien?«

»Komm mit nach Hause, kleines Mädchen,« brüllte Tarvin förmlich. »Auf nach Topaz! Die C. C. C. soll nach Topaz kommen, und wenn ich eigenhändig die Schienen legen müßte!«

Aber dieser Umschlag in der Stimmung seiner Mitbürger beunruhigte und quälte ihn nichtsdestoweniger, und noch am Abend telegraphierte er nach Denver an Frau Mutrie, die das Telegramm schon weiter gehen lassen würde, als ob es in Denver aufgegeben wäre: »Heckler, Topaz. Kopf nicht hängen lassen. Ich halte auf die C. C. C. Seid guten Mutes wie Tarvin.«

Vierzehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Innerhalb drei Tagen war rings um die Mauern von Rhatore eine Zeltstadt entstanden, eine Stadt, die grün schimmerte, weil ihre Straßen mit aus weiter Ferne hergeschleppten Rasenstücken belegt und mit hastig versetzten Orangenbäumen bepflanzt waren. Bunt bemalte hölzerne Laternenpfähle ragten dazwischen auf, und sogar ein gußeiserner Springbrunnen von grotesker Form war aufgestellt worden. Rhatore erwartete viele und hohe Gäste, die zu Ehren der Vermählung des Maharadscha Kunwar eintreffen sollten, Barone, Fürsten, Thakurs, Herrscher, die über große ungeheure Festungen und elende Dörflerhütten verfügten, aus dem Norden und Süden des Reichs, Lehensträger aus den fetten, von Mohnfeldern betupften Ebenen von Mewar und Radschas, die dem König ebenbürtig waren. Natürlich kam ein jeglicher mit großem Gefolge und Troß von Pferden und Menschen.

In einem Land, wo jeder, der etwas gelten will, seinen Stammbaum mindestens achthundert Jahre zurück als makellos nachweisen muß, ist die Frage des Vortritts natürlich eine sehr heikle und jeder wacht mit Eifersucht darüber, daß dem Nachbar keine ungebührliche Ehre widerfahre. Damit die Platzordnung noch verwickelter werde, führte jeder Fürst seinen Hausbarden mit sich, der sich dann mit den Sängern von Gokral Sitarun in den Haaren lag. Hinter den Zelten war eine endlose Reihe von Pfählen eingerammt worden, um die Pferde anzupflöcken, und die bläulich und rötlich gefleckten Hengste scharrten und wieherten den ganzen Tag unter ihren fast zum Boden reichenden samtenen Satteldecken. Die abgerissene Miliz von etlichen zwanzig Staaten und Stätchen saß rauchend und spielend auf ihren Sätteln umher oder zeterte über die Speisenverteilung, die der Großmut des Maharadscha oblag. Aus einem Umkreis von Hunderten von Meilen hatten sich Bettelmönche und wandernde Priester jeden Bekenntnisses in die Stadt verzogen, und ihre lachsfarbigen Kleidungsstücke und schwarzen Decken und ihre mit Asche beschmierte Nacktheit ergötzten Tarvin manche Viertelstunde. Mit roten rollenden Augen zogen sie furchtlos von Zelt zu Zelt, bald mit Drohungen, bald mit Gewinsel Almosen erzwingend. Auch das Rasthaus war mit neuen Ankömmlingen, meist Handlungsreisenden, überfüllt. Daß der Radscha bei diesem Anlaß seine Schulden bezahlen würde, war zwar unwahrscheinlich, aber neue Bestellungen waren sicher zu erwarten. Die Stadt strahlte im Glanz frischen rosa und weißen Anstrichs und die Hauptstraßen waren durch Bambusgerüste für das Feuerwerk stark eingeengt. Die Häuser waren auf der Straßenseite samt und sonders gefegt und mit weißem Lehm verkittet und die Eingänge waren von Jasminzweigen und Ringelblumenbüscheln umrankt. Im Schweiß ihres Angesichts bahnten sich Händler mit Süßigkeiten, Glasperlen, billigem Schmuck, englischen Spiegelchen und besonders auch Falken ihren Weg durch die überall gestaute Menge, oder würdevolle Stabträger mit silbernen Abzeichen ihrer Macht schafften Raum für eine Karosse des Maharadscha. Vierzig Wagen waren in Bewegung, und solang es Pferde gab und Pferdegeschirr mit Stricken zusammengeflickt werden konnte, wäre es unter der Würde des Staatsoberhauptes gewesen, auch nur einen einzigen mit weniger als vier Pferden zu bespannen. Da diese Pferde schlecht oder gar nicht eingefahren waren, und da die kleinen Jungen von Rhatore in ihres Herzens Freude schon am hellen Mittag Frösche und Schwärmer abbrennen mußten, war das Straßenbild ziemlich »belebt« zu nennen!

Die Felsenhöhe, worauf der Palast stand, schien sich in einen qualmenden Vulkan verwandelt zu haben, denn ohne Unterlaß trafen die Würdenträger ein und jeder erwartete die seinem Rang zukommende Anzahl von Salutschüssen. Entstand zwischen dem Donner der Geschütze eine Pause, so schmetterten Blechinstrumente ihre nicht eben melodischen Klänge von den roten Mauern ins Land, und alle Augenblicke öffnete sich dies oder jenes Thor und ein Offizier sprengte heraus, seine sämtliche Mannschaft hinter sich, alle aufgeputzt wie Fasanenhähne im Herbst, die frisch geölten Schnurrbarte martialisch über die Ohren gestrichen; oder es wandelte einer der königlichen Elefanten feierlich einher, den silbernen Tragstuhl auf goldgestickter scharlachroter Samtdecke, die ihm bis an die Knöchel hing, schaukelnd, und gab höchstselbst mit der ihm von der Natur verliehenen Trompete das Zeichen, ihm die Bahn zu räumen. Siebzig Elefanten hatte der König in diesen Tagen zu füttern, und da jedes dieser Tiere täglich so viel Grünfutter braucht, als es auf seinem Rücken schleppen kann, und die Kleinigkeit von dreißig bis vierzig Pfund Mehl obendrein, so spürte der Staatshaushalt diese Gäste. Der Lärm und das Getöse oder die Anwesenheit fremder Rivalen versetzten von Zeit zu Zeit eines dieser Ungeheuer in blinde Wut. Man riß ihm dann eilig die Samtdecke ab, band es mit Stricken und Ketten und ließ es zwischen zwei besonneneren, kaltblütigen Kameraden eine halbe Meile weit vor die Stadt ans Ufer des Amet führen, wo es nach Herzenslust schreien und stampfen konnte, was aber zuweilen zur Folge hatte, daß die Pferde ihre Pflöcke ausrissen und wild zwischen den Zelten herumrasten. Pertab Singh, der Kommandant der königlichen Leibwache, konnte sich jetzt glanzvoll entfalten; jede Stunde des Tages gab ihm Anlaß, an der Spitze seiner Truppe höchst wichtig aussehende Aufträge von der Stadt in die Zelte, von den Zelten in die Stadt zu tragen. Der Austausch fürstlicher Besuche nahm allein zwei Tage in Anspruch. Jeder Fürst fuhr gleich nach der Ankunft mit sämtlichem Gefolge feierlich in den Palast, und eine halbe Stunde später erwiderte der Maharadscha, vom Wirbel bis zur Zehenspitze von Juwelen funkelnd, in silberner Staatskarosse diesen Besuch, die Geschütze aber hatten beide Ereignisse der Berg- und der Zeltstadt zu verkündigen. Die nächtliche Stille trat jetzt höchstens gegen Morgen ein, denn wandernde Musikanten, Bänkelsänger, Märchenerzähler, Tänzerinnen, vierschrötige Ringer und Müßiggänger ohne Zahl drängten sich von Zelt zu Zelt, um ihre Künste zu üben. Waren diese Klänge verstummt, so hörte man um so deutlicher das heisere Gekrächz der Muscheln aus dem Tempel und Käte glaubte in jedem solchen Muschelton einen Wehelaut des Maharadscha Kunwar zu vernehmen, der durch endlose Gebete und »Entsündigungen« auf seine Hochzeit vorbereitet wurde!

Sie sah den Knaben jetzt so wenig als Tarvin den Maharadscha, jede Bitte um Audienz wurde mit dem Bescheid: »Die Priester sind mit ihm«, abgelehnt. Tarvin verfluchte die gesamte Priesterschaft von Rhatore und verdammte die Fakirs, die ihm überall in den Weg liefen, zu jeder erdenklichen Höllenstrafe.

»Wollte Gott, diese blödsinnige Geschichte wäre endlich überstanden,« so lauteten seine Gedanken in all der Festfreude. »Ein Jahrhundert habe ich doch nicht übrig für Rhatore!«

Nach fast acht Tagen ununterbrochenen Festestaumels und einer Sonnenglut, in der einem die grellfarbigen Festgewänder der gesamten Bevölkerung vollends Kopfschmerzen machten, langten auf demselben Weg, den Käte zurückgelegt hatte, zwei europäische Wagen mit fünf Engländern und drei Damen an. Bald darauf durchwanderten die neuen Gäste die Stadt mit teilnahmlosen Blicken, sichtlich verstimmt über die Pflichten ihres Amts, die sie zwangen, in der heißesten Jahreszeit Augenzeugen eines Verbrechens zu sein, das sie nicht nur nicht verhindern konnten, sondern durch ihre Gegenwart gutheißen mußten.

Der Geschäftsträger des Generalgouvernements, das heißt also der amtliche Vertreter des Vizekönigs für die Provinz Radschputana, hatte einige Zeit vorher dem Maharadscha zu Gemüt geführt, daß man von ihm als einem erleuchteten, fortschrittlich gesinnten Fürsten die Erwartung hege, er werde mit dem indischen Brauch der Kinderheiraten brechen und seinem Sohn erst in zehn Jahren eine Gemahlin wählen. Der Maharadscha hatte dagegen die Macht und Bedeutung seinem Volk seit undenklichen Zeiten heiliger Sitten und das Begehren der Priester geltend gemacht und seine Weigerung durch eine fürstliche Schenkung an das so wie so reiche Spital von Kalkutta vergoldet.

Tarvin für sein Teil hatte kein Verständnis dafür, daß eine Regierung der gotteslästerlichen Posse, die man Hochzeit nannte und deren Opfer zwei Kinder waren, ruhig zusehen konnte. Er wurde alsbald dem Geschäftsträger vorgestellt, der eine große Wißbegierde bezüglich der Arbeiten am Fluß an den Tag legte. Nach der Stauung des Amet gefragt zu werden, wo er doch so wenig damit vom Fleck kam, wie mit dem Naulahka, berührte Tarvin vollends wie eine persönliche Kränkung, und er zeigte sich daher nichts weniger als mitteilsam, belästigte dagegen seinerseits den Geschäftsträger mit Fragen darüber, wie er sich zu dem schmählichen Vorgang im Palast verhalte. Nachdem dieser ihm erklärt hatte, dieses Puppenspiel einer Hochzeit sei eine politische Notwendigkeit, legte Tarvin einer politischen Notwendigkeit dieser Art Gründe unter, die den Beamten veranlaßten, mehr als förmlich zu werden und sich diesen ungehobelten Amerikaner mit plötzlich erwachter Neugier zu betrachten. Die beiden Männer trennten sich nichts weniger als erbaut voneinander.

Mit der übrigen Gesellschaft kam Tarvin besser zurecht. Die Frau des Geschäftsträgers, eine hochgewachsene Brünette die aus einer jener Familien stammte, die seit den Tagen der Ostindischen Kompanie an der Verwaltung der Kolonieen teilgenommen haben, besuchte das Spital und studierte Kätes Werk gründlich. Da sie eine Frau und kein Beamter war, durfte sie deutlich zeigen, wie anziehend ihr das hilfreiche Mädchen mit den traurigen Augen erschien, das so wenig Aufhebens von seinen Leistungen machte. Aus diesem Grunde widmete sich dann Tarvin mit Eifer der Unterhaltung und Erheiterung dieser Dame, die ihn für einen interessanten Sonderling erklärte.

»Sonderlinge sind sie alle, diese Amerikaner,« setzte sie hinzu. »So gescheit sie auch sein mögen, seinen Vogel hat jeder.«

Auch in diesem lärmenden Gepränge war sich ja Tarvin immer bewußt, ein Bürger von Topaz zu sein, und so erzählte er ihr viel von der gesegneten Stadt in der weiten Prairie, an der sein Herz abgöttisch hing. Die »Zauberstadt« nannte er Topaz, kühnlich behauptend, daß sie im Westen Amerikas allgemein so genannt werde. Er langweilte die Dame nicht, vielmehr fand sie Gefallen an seiner Unterhaltung. Bodenverbesserungsgesellschaften, Handelskammern, Bauplatzspekulationen und die Anlage der C. C. C. waren für sie etwas Neues und es gelang Tarvin mit Leichtigkeit, darauf zu kommen, was ihm vor allem am Herzen lag. Ob sie je das Naulahka gesehen habe, fragte er sie unverfroren.

Nein, sie wußte kein Wort von dem wunderbaren Halsband! Sie wußte überhaupt nicht viel von Indien, sie hatte nur Gedanken für ihre Heimreise im nächsten Frühjahr. »Zu Hause« war für sie eine bescheidene Wohnung bei Surbiton dicht am Krystallpalast, wo ihr dreijähriger Junge auf sie wartete. Auch die übrige englische Gesellschaft schien sich außerordentlich wenig mit Radschputana zu beschäftigen, geschweige denn mit dem Naulahka. Nur durch Kreuz- und Querfragen brachte Tarvin heraus, daß alle diese Leute die Arbeitsjahre des Lebens zumeist in diesem Land zugebracht hatten. Sie sprachen darüber, wie Zigeuner von einem Ort sprechen mögen, eh‘ sie die Pferde schirren, um nach dem nächsten zu ziehen. Ja, die Straßen seien schlecht und furchtbar heiß und staubig und sie hofften bald zur Ruhe kommen zu können. Diese Hochzeit war nur eine lästige Mühsal weiter und sie wünschten sehnlich, daß sie bald überstanden wäre. Einer von der Gesellschaft beneidete Tarvin, weil er mit frischen Augen an Indien herangetreten sei und mit dem lebendigen Glauben an die Möglichkeit, hier etwas andres zu säen und zu ernten als Enttäuschungen.

Der letzte Tag der Hochzeitsfestlichkeiten begann und schloß mit weiterem Kanonendonner, weiterem Feuerwerk, weiterem Hufgeklapper, Elefantenschreien und krampfhaften Versuchen sämtlicher Militärkapellen, das »God save the Queen« richtig zu spielen. Am Abend sollte der Maharadscha Kunwar – die Braut wird bei einer indischen Hochzeit weder gezeigt, noch genannt – bei einem Bankett erscheinen, wobei der Vertreter des Vizekönigs den Trinkspruch auf ihn und seinen Vater auszubringen hatte. Hierauf wollte der Maharadscha in seinem allerbesten Englisch erwidern, zu welchem Zweck der Hofschreiber ihm eine sehr schöne lange Rede aufgesetzt hatte.

Tarvin zweifelte allen Ernstes daran, ob er den Knaben lebendig wiedersehen würde, und ritt vor dem Bankett in die von Menschen wimmelnde Stadt, um sich nach ihm umzusehen. Die Dämmerung war schon angebrochen und die Fackeln flammten zwischen den Häusern. Wilde Wüstensöhne, die noch nie einen weißen Mann zu Gesicht bekommen hatten, hielten Tarvins Pferd am Zügel fest, sahen sich den Reiter gründlich an und ließen ihn dann unter Grunzen vorüber. Die vielfarbigen Turbane schimmerten im Fackelscheine wie Glieder eines zerrissenen Juwelenbands und alle Dächer waren mit dicht verschleierten Frauen besetzt. In einer halben Stunde sollte der Maharadscha Kunwar aus dem königlichen Tempel treten und sich an der Spitze eines Zuges von festlich geschmückten Elefanten ins Bankettzelt verfügen.

Zoll für Zoll mußte sich Tarvin durch die dichtgestaute Menschenmenge vor den Tempelstufen seinen Weg bahnen. Er verfolgte keinen andern Zweck, als sich zu überzeugen, ob der Knabe wohlbehalten sei, nur deshalb wollte er ihn aus dem Tempel treten sehen. Als er sich jetzt umsah, ward er inne, daß er der einzige Weiße in diesem ungeheuren Menschenschwarm war, und die neuen Bekannten thaten ihm leid, daß sie viel zu blasiert waren, um an einer solchen phantastischen Scene, wie sie sich jetzt vor ihm abspielte, Gefallen zu finden.

Die Tempelpforten waren noch geschlossen; die Silber- und Elfenbeinzeichnung, die darin eingelegt war, flimmerte im Fackelscheine. Irgendwo in der Nähe mußten die Elefanten stehen; Tarvin hörte ihr schnaubendes Atmen und hie und da übertönte ihr schriller Schrei das Summen der Menge. Eine kleine Abteilung Berittener, staubbedeckt und abgehetzt von des Tages Arbeit, versuchte vor dem Tempel eine offene Gasse zu schaffen, aber ihr Bemühen war so vergebens, als ob sie einen Regenbogen hätten durchschneiden wollen. Die Frauen auf den Dächern warfen Ringelblumen, Süßigkeiten und buntgefärbten Reis unter die Menge, Privatbarden, die noch keine Anstellung an irgend einem Hof gefunden hatten, sangen Ruhmeshymnen auf den Maharadscha, den Prinzen, den Vizekönig, den Vertreter des Generalgouvernements, den Oberst Nolan und jeden, von dem sich eine anständige Belohnung erwarten ließ. Einer davon bemerkte Tarvin und machte ihn sofort zum Helden seiner Gesänge. Aus fernem, fernem Land, so sang er, sei dieser Mann gekommen, um einen unbändigen Fluß zu dämmen und zu stauen und den Bewohnern des Landes die Taschen mit Gold zu füllen, sein Schritt sei gleich dem Schritt des Dromedars im Frühling, sein Auge furchterregend wie das Auge des Elefanten, und die Anmut seiner Gestalt so groß, daß die Herzen aller Frauen in Rhatore ihm entgegenschlugen, wenn er des Wegs geritten käme. Ein solcher Mann werde den Sänger dieses armen Liedes fürstlich beschenken und sein Name und Ruhm werde fortleben, solange das fünffarbige Banner über Gokral Sitarun wehe und solange Naulahka, das Staatsglück, die Brust seiner Könige, schmücke.

Jetzt öffnete sich unter ohrzerreißendem Muschelgetute die Tempelthüre nach innen, und mit einemmal schien die tobende Menge in Schauern der Ehrfurcht zu verstummen. Die geöffneten Thüren rahmten pechschwarze Dunkelheit ein und zu dem Kreischen der Muscheln gesellte sich ein vielstimmiger Trommelwirbel. Tarvin faßte die Zügel kurz und beugte sich weit vor über den Hals seines Pferdes; der Weihrauchdunst, der aus dem Tempel drang, benahm ihm selbst im Freien fast den Atem, die Menge aber verstummte unter seinem Hauch vollständig.

Jetzt trat der Maharadscha Kunwar allein, ohne jede Begleitung aus der Dunkelheit hervor und stand, das Händchen auf den Schwertknauf stützend, einsam vor seinem Volk. Das Kindergesicht unter dem Turban, von dessen Smaragdenschnalle schwere Diamanten auf die Stirne tropften, war aschfahl, die Augen waren blau umrändert, der Mund stand offen, aber das tiefe Mitleid, das Tarvin mit dem gemarterten Kind empfand, wurde verschlungen von einem wilden Pochen des eigenen Herzens – auf dem Goldstoff, der des Maharadscha Kunwar Brust bedeckte, lag das Naulahka.

Tarvin brauchte niemand zu fragen, ob es das echte sei. Nicht er hatte das Halsband, es hatte ihn gesehen; aus großen Augen starrte es ihn an. Feuersprühend starrte es ihm entgegen, das tiefe Rot des Rubins, das zornige Grün des Smaragden, das kalte Blau des Saphirs, der weiße leidenschaftliche Strahl des Diamanten. Aber all diese Herrlichkeit überstrahlte und verlöschte ein Stein, der über dem großen geschnittenen Smaragd in der Mitte der Schnalle saß. Es war der schwarze Diamant – schwarz wie die Flut des Styx, funkelnd wie die Gluten der Hülle.

Wie ein flammendes Joch lag das Staatsglück auf des Knaben Schultern. Es überstrahlte die funkelnden Sterne des indischen Firmaments, es wandelte das flackernde Fackellicht in trübgelbe Flecken, es sog allen Glanz des Goldgewebes an sich, worauf es lag.

Zum Denken, Beurteilen, Würdigen, Bewundern hatte Tarvin keine Zeit, er hatte kaum Zeit, die Thatsache zu begreifen, denn die Muscheln wimmerten und kreischten ein zweites Mal, der Maharadscha Kunwar trat zurück ins Dunkel, die Thürflügel schlossen sich.

Fünfzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Mit glühendem Gesicht und einer am Gaumen klebenden vertrockneten Zunge kam Tarvin ins Bankettzelt. Er hatte es gesehen. Es war vorhanden; Thatsache, nicht Mythe. Und es würde sein eigen werden, er würde es mit nach Hause nehmen. Frau Mutrie würde es um den schön geformten Hals legen, der so reizend aussah, wenn sie lachte, und die C. C. C. würde nach Topaz kommen. Er war der Helfer und Retter seiner Stadt, die jungen Leute würden ihm die Pferde ausspannen, und seinen Wagen im Laufschritt durch die Pennsylvaniastraße ziehen, und im nächsten Jahr würden Baustellen in Topaz nach dem laufenden Zoll verkauft werden.

Das alles lohnte wohl des Wartens, der Ableitung von hundert Flüssen, Jahrzehnte des Pachisispiels und einer Reise von Tausenden von Meilen im Büffelkarren. Als er beim Bankett auf die Gesundheit des Maharadscha Kunwar sein Glas leerte, erneuerte er im stillen den Schwur, nicht zu ruhen, bis er sein Ziel erreicht hätte, und wenn er den ganzen Sommer opfern müßte. Der Glaube an seine Erfolge hatte in letzter Zeit manchen Stoß erlitten und war ein wenig schwächlich geworden, aber nun, da Tarvin den Siegespreis gesehen hatte, glaubte er ihn auch schon in Händen zu haben, gerade wie er in Topaz gefolgert hatte, daß Käte ihm gehöre, weil er sie liebe!

Am andern Morgen erwachte er mit dem unklaren Bewußtsein, auf der Schwelle großer Thaten zu stehen, als er aber später in seinem kalten Bad saß, konnte er sich nicht mehr recht erklären, woher ihm gestern abend die Siegesgewißheit und der Siegesjubel gekommen waren. Freilich, gesehen hatte er ja das Naulahka, aber die Tempelthore hatten sich, sein Traumgesicht verschlingend, darüber geschlossen, und es schien ihm nun fraglich, ob Tempel, wie Halsband überhaupt der Wirklichkeit angehörten oder nur Phantasiegebilde seien, und unter solch aufgeregtem Nachsinnen war er schon halbwegs in der Stadt, ohne recht zu wissen, daß er seine Wohnung verlassen hatte. Als er sich aber erst einmal darauf besann, wußte er sehr genau, wohin sein Weg führte und was für einen Zweck er verfolgte. Hatte er das Naulahka gesehen, so galt es nun, es im Auge zu behalten. Im Tempel war es verschwunden, in den Tempel wollte er darum gehen.

Ausgebrannte Fackelstummel, zertretene Blumen lagen auf den Tempelstufen zwischen kleinen Lachen verschütteten Oels, welk und schlaff hingen die Ringelblumenkränze an den fetten Stierleibern aus schwarzem Gestein herunter, die den inneren Hof bewachten. Tarvin nahm den weißen Korkhelm ab, denn es war jetzt, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, schon drückend heiß, strich sich das spärliche Haar aus der hohen Stirne und betrachtete die Ueberbleibsel der Festwoche. Die Stadt war grabesstill; sie mußte ihren Festjubel ausschlafen. Die Tempelthüren standen weit offen; er stieg die Stufen empor und trat hinein, ohne daß jemand den Versuch gemacht hätte, ihn daran zu hindern.

Das formlose Bild des vierköpfigen Gottes Isvara, das im Mittelpunkt des Gebäudes stand, war von Weihrauchdunst und geschmolzener Butter geschwärzt und beschmiert. Tarvin betrachtete es neugierig, halb und halb darauf gefaßt, das Naulahka an einem seiner vier Hälse hängend zu finden. Dahinter in den dunkleren Teilen des Tempels standen noch andre mehrköpfige und vielarmige Gottheiten, die diese Arme in die Höhe hoben oder die Zungen herausstreckten und einander angrinsten. Die Ueberbleibsel mannigfaltiger Opfer lagen auf und vor ihnen. Trotz des Dämmerlichts unterschied Tarvin, daß die Kniee des einen schwarz waren von vertrocknetem Blut. Das dunkle Dach lief in eine hindostanische Kuppel aus, und Tarvin hörte über sich das leise Rascheln und Kratzen nistender Fledermäuse.

Den Helm tief in den Nacken gerückt, die Hände in die Rocktaschen versenkt, hielt Tarvin, leise vor sich hin pfeifend, gründliche Umschau. Er war jetzt seit vier Wochen in Indien, aber ins Innere eines Tempels war er noch nicht eingedrungen. Der Anblick brachte ihm mit neuer Gewalt zum Bewußtsein, wie fern dieses fremde Volk in Lebensanschauungen, Gewohnheiten und Ueberlieferungen allem stand, was ihm gut und richtig dünkte, und es erfaßte ihn ein gewisser Groll, daß die Diener dieser greulichen Götzen ein Halsband besitzen sollten, in dessen Macht es lag, das Schicksal einer christlichen und civilisierten Stadt wie Topaz zu beeinflussen.

Er wußte, daß er ohne weiteres als Tempelschänder hinausgewiesen würde, sobald man ihn entdeckte, und beeilte sich daher mit seiner Untersuchung. Er hatte sich einigermaßen in der Hoffnung gewiegt, bei der Nachlässigkeit dieses Volks könnte das Naulahka in irgend einem Winkel liegen geblieben sein, wie der Schmuck einer Dame auf dem Ankleidetisch, wenn sie spät vom Ball heimkommt. Er sah sich daher hinter und unter jedem Götzenbild danach um, während die Fledermäuse über seinem Haupt ungestört quieksten. Dann kehrte er wieder in die Mitte des Tempels zurück und pflanzte sich in seiner gewohnten Haltung vor dem Gotte Isvara auf.

Mit einemmal fühlte er, daß sein Körpergewicht, trotzdem er auf vollständig ebenem Grund stand, ausschließlich auf den Zehenspitzen ruhte, und er trat ein paar Schritte zurück, um sein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Nun drehte sich die Sandsteinplatte, worauf er eben noch gestanden hatte, langsam, wie eine Schildkröte sich in stillem Wasser wälzt, und für einen Augenblick eröffnete sich der Einblick in einen gähnenden schwarzen Schlund. Vollkommen lautlos legte sich die Platte wieder an ihre alte Stelle, Tarvin aber mußte sich kalte Schweißtropfen von der Stirne wischen. Wenn er in diesem Augenblick das Naulahka irgendwo entdeckt hätte, er würde es in seiner Wut mit den Füßen zerstampft haben. Als er rasch in den heißen klaren Sonnenschein hinaustrat, weihte er in seinen Gedanken dieses Land seinen eigenen Göttern; eine schlimmere Verwünschung konnte er nicht ersinnen.

Unmittelbar nachdem er dem Tempel den Rücken gekehrt hatte, sprang ein Priester aus einem unentdeckbaren Hinterhalt hervor und sah ihm lächelnd nach.

Mit dem Bedürfnis, wieder festen Fuß zu fassen in einer vernunftgemäßen Welt, wo es Häuslichkeit und Frauen gab, ging er sofort ins Missionshaus und lud sich selbst zum Frühstück ein. Herr und Frau Estes hatten sich grundsätzlich von der ganzen Hochzeitsfestlichkeit ferngehalten, aber sie vom amerikanischen Standpunkt aus schildern zu hören, belustigte sie sehr. Käte machte kein Hehl daraus, daß ihr Tarvins Erscheinen eine Freude war. Ihr Herz war voll heiligen Zorns über die Pflichtvergessenheit Dhunpat Rajs und des gesamten Wartepersonals – die ganze Gesellschaft war einfach den Festlichkeiten nachgelaufen und hatte sich volle drei Tage nicht im Spital blicken lassen. Sie und jene Frau aus der Wüste, die nicht von ihrem »unheilbar geisteskranken« Manne wich, hatten die ganze Arbeit allein verrichten müssen. Käte war demnach sehr erschöpft und obendrein voll Sorge um die Wohlfahrt des Maharadscha Kunwar.

»Ich bin überzeugt, daß er jetzt unbedingte Ruhe nötig hätte,« sagte sie fast mit Thränen zu Tarvin, als die beiden nach dem Frühstück auf die Veranda traten. »Gestern abend war ich im Palast, und da kam er nach dem Bankett zu mir und weinte wohl eine halbe Stunde bitterlich, der arme kleine Kerl! Natürlich Nervenüberreizung, es ist eine Grausamkeit!«

»Nun, heute kann er ja den ganzen Tag schlafen, dann gibt sich’s wieder.«

»O nein, heute wird die Braut in ihre Heimat zurückgebracht, und er muß ihr das Geleite geben, ich weiß gar nicht wie weit, und in dieser Sonne! Das ist ganz abscheulich! Macht dir eigentlich die Sonne keine Kopfschmerzen, Nick? Ich muß manchmal dran denken, wenn du draußen bist an deinem Damm und wundre mich, daß du’s aushältst.«

»Ich halte viel aus um deinetwegen, kleines Mädchen,« erwiderte er, ihr tief in die Augen blickend.

»Um meinetwillen, Nick? Was nützt mir der Damm?«

»Das wirst du schon erfahren, wenn du lang genug lebst,« sagte Tarvin ablenkend, denn von seinem Damm sprach er nicht gern; der kleine Prinz war ein sichereres Gebiet.

In den nächsten Tagen ritt er ziemlich planlos in der Umgebung des Tempels herum; hinein wagte er sich nicht mehr, aber im Auge behalten wollte er die Stätte, wo er das Naulahka ein erstes, vielleicht ja auch ein letztes Mal gesehen hatte. Mit dem einzigen lebenden Wesen außer dem König, von dem er nun gewiß wußte, daß seine Hand das Halsband berührt hatte, konnte er ja nicht verkehren, und die Ungeduld, womit er den Maharadscha Kunwar von seinem Brautgeleite zurückerwartete, machte ihn beinahe toll. Er hoffte viel von diesem Wiedersehen und beschwichtigte seine Ungeduld durch häufige Besuche im Spital, wo er nachsah, ob Käte sich auch nicht zu viel zumute. Der pflichtgetreue Arzt hatte sich allerdings nach dem Fest samt seinem Personal wieder eingefunden, aber das Haus war überfüllt mit Gästen aus den entlegensten Teilen des Landes. Meist handelte es sich um Knochenbrüche und andre durch Rosseshufe und Wagenräder verursachte Schäden und ein paar für Käte sehr beunruhigende Fälle von Männern, die unter dem Deckmantel der Freundlichkeit mit Betäubungsmitteln eingeschläfert, ihres Reisegelds beraubt und hilflos auf die Straße geworfen worden waren.

Wenn Tarvins Späherblick die tadellos gehaltene Männerabteilung wieder einmal durchforscht hatte, gestand er sich selbst freimütig, daß Käte in Rhatore weit bessere Geschäfte mache als er selbst. Sie betrieb ihre Spitalverwaltung doch nicht als Vorwand für tiefere und minder reine Absichten, und sie genoß den unschätzbaren Vorteil, einem greifbaren, erreichbaren Ziel zuzusteuern. Dieses Ziel verschwand nicht, nachdem es ein einziges Mal wie ein Irrlicht aufgefunkelt hatte, es lag nicht in den Händen einer in Geheimnisse gehüllten Priesterschaft, einer undurchdringlich verhüllten Staatsgewalt. Man konnte es nicht verstecken in Tempeln mit verräterischen Versenkungen, nicht entschwindenden Kindern um den Hals hängen.

Eines Morgens, noch vor der Zeit, wo er gewöhnlich zum Fluß hinausritt, erhielt Tarvin im Rasthaus ein Briefchen, worin Käte ihn dringend bat, spornstreichs zu ihr ins Spital zu kommen. Eines Pulsschlags Dauer spiegelte ihm seine Phantasie Unmögliches vor, dann verlachte er seine eigene Hoffnungsseligkeit, steckte sich eine Cigarre an und gehorchte dem Befehl.

Käte kam ihm auf den äußeren Stufen entgegen und führte ihn in die Apotheke.

»Verstehst du dich auf die Symptome der Hanfblättervergiftung?« fragte sie, ihm im Eifer die Hand auf den Arm legend.

Mit einem raschen Griff bemächtigte er sich ihrer beiden Hände und starrte ihr entsetzt ins Gesicht.

»Wieso? Warum? Hat man gewagt …«

Sie lachte aufgeregt.

»Nein, nein, Nick … nicht ich … er …«

»Wer?«

»Der Maharadscha, das Kind. Ich bin meiner Sache jetzt ganz sicher.«

Und nun erzählte sie in fliegender Hast, daß heute früh die Staatskarosse samt der Leibwache vors Missionshaus gekommen sei und ein pomphaft herausgeputzter Eingeborener die beinahe leblose Gestalt des Maharadscha Kunwar auf den Armen hereingetragen habe. Anfangs habe sie den Zustand einfach auf Erschöpfung durch die Festlichkeiten zurückgeführt, dann aber sei der Knabe mit blauen Lippen und hohlen Augen aus der Betäubung erwacht und derart von Krämpfen und Zuckungen befallen worden, daß es zum Verzweifeln gewesen sei. Endlich sei er aus reiner Erschöpfung eingeschlafen, und sie habe ihn für eine Stunde der Obhut von Frau Estes anvertrauen können. Sie berichtete, daß Frau Estes, die früher schon Krampfzufälle bei ihm mitangesehen hatte, der Meinung sei, es handle sich um eine Wiederholung des alten Leidens.

»Jetzt sieh dir aber das an,« sagte Käte, ihm ihr Tagebuch über die Fälle im Spital hinreichend, worin sie die zwei Fälle von Betäubung durch die sogenannten »Majuns«, die in der letzten Woche vorgekommen waren, genau aufgezeichnet und beschrieben hatte.

»Diese Leute,« erklärte sie, »haben von einem Trupp wandernder Zigeuner Zuckerwerk bekommen, und sie sind nicht eher erwacht, als bis die Bande sie all ihres Gelds beraubt hatte. Nun lies, bitte, die Symptome.«

Tarvin las, an seinem Schnurrbart kauend, dann sah er Käte forschend an.

»Ja,« sagte er, bedeutungsvoll mit dem Kopf nickend. »Das stimmt. Sitabhai?«

»Wer sonst würde das wagen?« erwiderte Käte leidenschaftlich.

»Ich weiß. Ich weiß. Aber wie ihr beikommen, wie der Sache ein Ende machen?«

»Der Maharadscha muß die Wahrheit erfahren,« erklärte Käte mit Entschiedenheit.

Tarvin ergriff ihre Hand.

»Gut! Den Versuch will ich machen. Aber du weißt, daß ich auch nicht den leisesten Schatten von einem Beweis vorlegen kann.«

»Er muß dir glauben. Denke an das Kind und versuch’s. Jetzt muß ich zu ihm.«

Schweigend ritten sie miteinander zum Missionshaus zurück. Tarvins Entrüstung, daß Käte in eine solch abscheuliche Sache verwickelt werden sollte, machte ihn beinahe ärgerlich über Käte selbst, aber beim Anblick des kranken Knaben schwand aller Groll aus seiner Seele. Fast zu schwach, um den Kopf zu heben, lag das Kind auf einem Bett im Missionshaus. Frau Estes, die ihm eben seine Arznei gereicht hatte, stand auf, erstattete kurzen Bericht und ging wieder ihrer eigenen Arbeit nach. Ein weißes Musselinhemd war alles, was der Knabe trug, aber sein Säbel und der juwelenbesetzte Gurt lagen quer über seine Beine.

»Salaam Tarvin Sahib,« murmelte er mit schwacher Stimme. »Es thut mir sehr leid, daß ich krank war….« Tarvin beugte sich zärtlich über ihn.

»Strenge dich nur nicht mit Sprechen an, mein Kleiner!«

»Ich bin ja wieder wohl jetzt … bald wollen wir miteinander ausreiten, Tarvin Sahib. …«

»Warst du sehr übel dran, kleiner Mann?«

»Ich weiß es nicht. Mir ist alles dunkel. Ich war im Palast … habe gelacht über die Tänzerinnen … dann bin ich umgefallen. Ich weiß nicht, was dann geschah … wie ich hierherkam. …«

Er schluckte gierig das kühlende Getränk, das ihm Käte vorhielt, dann sank der Kopf in die Kissen zurück, indes das eine wachsgelbe Händchen mit dem Säbelgriff spielte. Käte kniete neben dem Bett und schob den Arm unter sein Kissen, um den Kopf zu stützen. Tarvin glaubte nie vorher genügend gewürdigt zu haben, wieviel Schönheit in ihrem guten, klugen, wahrhaftigen Gesicht lag. Die sonst herb mädchenhafte Gestalt nahm weichere Linien an, der entschlossene Mund zuckte, und aus den feuchten Augen leuchtete ein Liebesstrahl, den Tarvin noch nie gesehen hatte.

»Komm auf die andre Seite – so,« befahl der kleine Kranke, nach indischer Art durch rasches Einziehen und Spreizen der schmächtigen Finger seinen Wunsch ergänzend.

Gehorsam kniete Tarvin an der andern Seite des Betts nieder. »So, jetzt bin ich der König und ihr seid mein Hofstaat.«

Käte lachte melodisch, voll Wonne, daß der Knabe sich so rasch zu erholen schien. Tarvin schob seinen Arm auch unter das Kopfkissen, erwischte dort Kätes Hand und hielt sie fest.

Der Thürvorhang hob sich leise. Frau Estes hatte ein wenig nach dem Kranken sehen wollen, was sie sah, veranlaßte sie aber, sich leise wieder fortzustehlen. Verwunderlich kam es ihr nicht vor; sie hatte sich ja schon bei Tarvins erstem Besuch ihre Gedanken gemacht.

Jetzt wurden die Augen des Knaben abermals trüb und schwer und Käte wollte aufstehen, um ihm wieder etwas zu trinken zu geben.

»Nein, nein, bleib so,« rief er befehlshaberisch und setzte dann, in die heimische Mundart verfallend, mit schwerer Zunge hinzu, »die dem König dienen, sollen ihres Lohns nicht verlustig gehen. Sie sollen Dörfer haben, steuerfreie … drei, fünf Dörfer … Sujjain, Amet und Gungra. Als freies Geschenk sollen sie eingetragen werden, wenn sie heiraten … sie sollen heiraten und immer um mich sein … Fräulein Käte und Tarvin Sahib. …«

Tarvin begriff nicht, weshalb Kätes Hand plötzlich aus der seinigen schlüpfte; er verstand die Mundart nicht wie sie.

»Nun fängt er wieder zu phantasieren an,« flüsterte sie leise. »Das arme, arme Kind!«

Tarvin biß die Zähne zusammen und verfluchte im stillen diese Sitabhai. Käte trocknete dem Knaben den Schweiß von der Stirn und suchte den Kopf, den er jetzt rastlos herumwarf, besser zu stützen. Tarvin hielt ihm die Hände fest, deren dünne Fingerchen sich um die seinigen krallten, während der kleine Körper von den letzten Wirkungen des Giftes geschüttelt wurde.

Ein paar Minuten lang schlug das Kind wild um sich, rief die Namen aller möglichen Götter an, wollte nach seinem Säbel greifen und erteilte einem unsichtbaren Regiment Befehle, diese weißen Hunde an die Pfosten des Palastthors zu hängen und zu Tode zu räuchern.

Dann ließen die Krämpfe nach, er sprach leise vor sich hin und rief nach seiner Mutter.

Vor Tarvins innerem Auge stand eine ferne Ebene, die sich sachte zum Fluß hinabsenkte. Dort hatten sie den Kirchhof von Topaz abgesteckt gehabt, als ein kleines Grab gegraben werden mußte. Hecklers erstes Kind war in einem roh gezimmerten Särglein von Tannenholz hinabgesenkt worden, Käte hatte daneben gestanden und auf ein fingerlanges Brettchen von Tannenholz, das sein einziges Grabmal bildete, Namen, Geburts- und Todestag des Kindes geschrieben.

»Nein, nein, nein!« wimmerte der Maharadscha Kunwar. »Ich lüge nicht, ich spreche die Wahrheit, und ich war so müde, so müde von dem heidnischen Tanz im Tempel, daß ich nur gerade über den Hof ging. … Es war eine neue Tänzerin da, ein Mädchen aus Lucknow, und sie sang von dem ›grünen Busch von Mundora‹…. Jawohl, aber nur ein bißchen Mandelkäse, weißen Mandelkäse, Mutter. Ich war so hungrig, Mutter … ein Stückchen weißen Mandelkäse … warum soll ich nicht essen, wenn ich Lust dazu habe? Bin ich eines Straßenkehrers Sohn oder ein Prinz, Mutter? Hebt mich auf! Hebt mich auf! Es ist schrecklich heiß in meinem Kopf, ganz innen … Lauter, lauter … ich verstehe nicht . .. bringt man mich zu Käte? Käte wird mich gesund machen! Wie war die Botschaft?«

Das Kind rang verzweifelnd die Hände.

»Die Botschaft! Die Botschaft! Ich habe sie vergessen. … Keiner im ganzen Staat spricht englisch wie ich … aber die Botschaft hab‘ ich vergessen …

»Tiger, Tiger, glühend bunt
In dem Wald zur Nacht,
Welch unsterblich Wesen schuf
Deiner Farben Pracht.

»Jawohl, Mutter … bis sie weint. Das Ganze soll ich sagen, bis sie weint, ich will’s nicht vergessen, ich hab’s ja auch nicht vergessen das erste Mal. … Beim großen Gott Har! Nun hab‘ ich’s doch vergessen.«

Er fing bitterlich zu weinen an.

Käte, die schon an so vielen Schmerzenslagern gestanden hatte, blieb ruhig und stark. Sie beschwichtigte das Kind mit leiser, besänftigender Stimme, reichte ihm einen beruhigenden Trank und that, wie Tarvin bewundernd sah, gelassen und sicher in jedem Augenblick das Richtige. Er dagegen war im Innersten erschüttert vom Anblick dieser Qualen und von der Hilflosigkeit, womit er dabeistehen mußte.

Der Maharadscha Kunwar that einen tiefen schluchzenden Atemzug und zog die Brauen kraus.

»Mahadeo ki jai!« schrie er. »Es kommt wieder, es fällt mir ein! Eine Zigeunerin hat’s gethan, eine Zigeunerin hat’s gethan … und das soll ich sagen, bis sie weint. …«

Käte richtete sich auf; es war ein furchtbarer Blick, womit sie Tarvin ansah. Er verstand ihn, nickte ihr zu und ging, sich hastig die Augen trocknend, hinaus.

  1. Die zur Blütezeit abgestreiften Blätter des Hanfs, in Indien Bhang oder Siddi genannt, dienen zur Bereitung eines berauschenden Getränks und ähnlich wirkender Latwergen, »Majuns« genannt. Anm. d. Uebers.

Erstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

Nikolas Tarvin saß im Mondschein auf der geländerlosen Brücke, die oberhalb von Topaz über den Bewässerungsgraben führt, und ließ seine Füße über dem dunklen Wasser baumeln. Neben ihm saß ein schmächtiges braunes Mädchen mit traurigen Augen, das schweigend in den Mond starrte. Ihrer dunklen Haut sah man an, daß dieses Mädchen weder Sonne noch Regen noch Wind scheute, und ihre Augen waren jener eingewurzelten Schwermut voll, die sich gerne ansiedelt in Augen, die hohe Berge und endlose Ebenen, Sorge und Leben geschaut haben. Solche Augen beschatten die Frauen des Westens mit der Hand, wenn sie um Sonnenuntergang unter der Thüre ihrer Hütte über die gras- und baumlose Heide oder welliges Hügelland hinausspähen nach dem heimkommenden Mann. Wo das Leben hart ist, ist’s immer am härtesten für die Frau.

Käte Sheriff war aufgewachsen, das Gesicht nach Westen gekehrt: seit sie auf den Füßen stehen konnte, hatten ihre heißen Augen auf der Wildnis gehaftet. Mit der Eisenbahn war sie in diese Wildnis eingedrungen und vorwärts geschritten, aber bis zur Zeit, wo sie in die Schule geschickt wurde, hatte sie nie an einem Ort gelebt, an dem die Eisenbahn vorübergefahren wäre. Sie hatte mit den Ihrigen oft lang genug am Ende einer Teilstrecke gewohnt, um das erste nebelige Frührot der Civilisation aufdämmern zu sehen, in der Regel durch elektrisches Licht verkörpert, aber in den neuen und immer neueren Gegenden, wohin der Vater von Jahr zu Jahr als Eisenbahningenieur vorrückte, gab es nicht einmal Bogenlampen. Es gab nur ein Wirtschaftszelt und eine Bauhütte, in der sie wohnten und worin die Mutter manchmal allen Arbeitern, die unter ihres Mannes Befehl standen, Kost und Wohnung geben mußte. Diese Verhältnisse und Einflüsse waren aber nicht die alleinigen Urheber der Eigenart des dreiundzwanzigjährigen Mädchens, das neben Tarvin saß und ihm eben sanft und milde auseinandergesetzt hatte, daß sie ihm wohl von Herzen gut sei, aber anderwärts eine Pflicht habe.

Diese Pflicht war, ihrer Auffassung nach, ihr Leben daran zu setzen, um die Lage der Frauen in Indien zu verbessern. Gegen Ende ihres zweiten in Saint Louis verbrachten Schuljahrs, wo sie die losen Fäden der Bildung, die ihr die Einsamkeit und die sie sich selbst in der Einsamkeit gegeben hatte, zusammenknüpfen wollte, war diese Aufgabe wie eine Eingebung, ein höheres Geheiß an sie herangetreten.

An einem Aprilnachmittag, der durchsonnt und durchglüht war vom ersten Frühlingshauch, hatte Käte ihre »Sendung« erhalten. Das sprossende Grün, die ersten Blüten und der helle Sonnenschein hatten sie stark in Versuchung geführt, dem angekündigten Vortrag einer Hindufrau über Indien fern zu bleiben, und nur weil es unentrinnbare Schülerpflicht war, hatte sie sich schließlich in den Saal begeben, um Pundita Ramabais Bericht über die traurige Lage ihrer Schwestern in der Heimat zu lauschen. Es war eine herzbrechende Schilderung gewesen, und nachdem die Mädchen ihr in fremdartigen Tönen erbetenes Scherflein zur Linderung der Not gespendet hatten, gingen sie, je nach dem Maß ihrer Naturen bewegt und erschüttert, hinaus und unterhielten sich zuerst im Flüsterton über das Gehörte, bis ein helles Kichern die Spannung löste und wieder das sonstige Geplapper durch den Flur schallte.

Käte hatte sich mit dem starren, nach innen gekehrten Blick, den brennenden Wangen und dem beflügelten Gang eines Menschen, auf den sich der heilige Geist herabgesenkt hat, aus dem Saal geflüchtet. Sie ging rasch in den Garten, um allein zu sein, und schritt die mit Frühlingsblumen eingefaßten Wege entlang. Sie fühlte sich unsäglich erhoben, reich, sicher, glücklich; sie hatte sich selbst entdeckt. Die Blumen wußten es, die zartblätterigen Zweige über ihrem Haupt verstanden sie, der leuchtende Abendhimmel hatte Kunde von dem, was in ihr vorging. Ihr war stolz und freudig zu Mut, sie hätte tanzen mögen und noch viel lieber weinen. In ihren Schläfen schlugen die Pulse heftig, das warme junge Blut brauste in ihren Adern, und von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um mit tiefen Atemzügen die erfrischte Luft einzusaugen. Das war die Stunde, wo sie sich ihrer Pflicht gelobte.

Von dieser Stunde sollte ihr ganzes Leben zehren: sie weihte es dem Dienst, der ihr an diesem Tag gewiesen worden war wie den Propheten ihre Aufgaben, weihte diesem Dienst alle Kraft ihres Geistes und Herzens. Der Engel des Herrn hatte ihr ein Geheiß gebracht, und sie gehorchte freudig.

Zwei Jahre hatte sie gebraucht, sich tüchtig zu machen für ihren Beruf; nun war sie nach Topaz zurückgekehrt, eine gründlich geschulte, leistungsfähige Krankenpflegerin, die nach ihrer Arbeit in Indien lechzte, und mußte erleben, daß dieser Tarvin sie in Topaz festhalten und heiraten wollte.

»Nenn’s, wie du magst,« sprach Tarvin auf sie ein, während sie in den Mond starrte, »du kannst es Pflicht taufen, du kannst vom Beruf der Frau reden oder du kannst behaupten, du müssest denen, die in Finsternis sitzen, Licht bringen, wie sich der aufdringliche Missionar heute abend in der Kirche ausdrückte. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß du allerlei schöne Redensarten machen kannst; den Dingen ein Mäntelchen umhängen lernt man ja im Osten, aber was mich betrifft, ich nenn’s ganz einfach Herzlosigkeit.«

»O sag das nicht, Nick! Es ist ein Geheiß.«

»Dir wird geheißen, daheim zu bleiben, und falls dir das nicht bestellt worden ist, habe ich den Auftrag, es dir zu sagen,« erklärte Tarvin. Er warf dabei Kiesel ins Wasser und schaute mit finster zusammengezogenen Brauen in die schwarzgurgelnde Flut.

»Lieber Nick, wie kannst du nach dem, was wir heute abend beide hörten, eine die frei ist, noch drängen, sich wegzuschleichen, daheim zu bleiben?«

»Heiliger Dampf! Heutzutage sollte man Missionar werden, um euch Mädchen zu predigen, daß ihr die alte Weltmaschine nicht im Stich lassen dürft! Ihr taugt nichts unter der neuen Ordnung der Dinge. Ihr bildet euch ein, Fahnenflucht sei der Weg zur Ehre!«

»Fahnenflucht!« rief Käte, ihn mit großen Augen anstarrend.

»Nun, willst du’s etwa anders benamsen? So und nicht anders würde es das kleine Mädchen genannt haben, das ich auf Sektion Zehn der Nord Pacific-Linie kannte! O, liebe Käte, versetze dich einmal in die alten Zeiten zurück, besinne dich auf dich selbst, besinne dich darauf, was wir einander waren, vielleicht merkst du dann, daß die Sache zweierlei Gesichter hat. Du hast ja auch Vater und Mutter, nicht? Du wirst wohl nicht behaupten, daß es rechtschaffen sei, Vater und Mutter im Stich zu lassen! Und neben dir auf dieser Brücke sitzt ein Mensch, der dich liebt mit allem, was in ihm und an ihm ist, dich liebt, du kleines Ding, dauerhaft liebt. Früher hast du ihn doch auch ein wenig leiden mögen, nicht?« Sachte legte er den Arm um sie bei diesen Worten und eine Weile lang ließ sie ihn gewähren.

»Bedeutet dir denn das alles gar nichts, Käte? Meinst du nicht, du habest hier auch einen Beruf, Käte?«

Er zwang sie, ihm ihr Gesicht zuzuwenden, und blickte ihr wehmütig in die Augen. Sie waren braun und das Mondlicht vertiefte ihren stillen, reinen Glanz.

»Glaubst du denn, ein Anrecht auf mich zu haben?« fragte sie bang.

»Ich glaube alles, was nötig ist, um dich festzuhalten! Aber nein, eigentliches Anrecht hab‘ ich nicht, wenigstens keins, das du nicht nach deinem Willen aufheben könntest. Aber wir alle haben Anrecht aneinander, hol’s der Teufel, die Verhältnisse sind unsre Herren! Und wenn du nicht hier bleibst, so ist’s ein Rechtsbruch, das meine ich.«

»Du kannst doch nichts ernsthaft auffassen. Nick,« sagte sie, seinen Arm wegschiebend.

Tarvin konnte zwar zwischen seinen Worten und dieser Behauptung keinen Zusammenhang entdecken, aber er sagte gutmütig: »O doch, aber dir zuliebe kann ich auch das Ernsthafteste spaßhaft nehmen.«

»Da siehst du’s ja! Dir ist nichts ernst!«

»Eins ist mir voller Ernst,« flüsterte er ihr ins Ohr.

»Wirklich?« meinte sie, das Gesicht abwendend.

»Daß ich ohne dich nicht leben kann,« fuhr er zu ihr gebeugt noch leiser fort, »und auch nicht will, Käte.«

Käte preßte die Lippen aufeinander. Sie konnte auch »wollen«. So saßen sie in Streit und Widerstreit auf der Brücke beisammen, bis in einer Hütte jenseits des Wassergrabens die Küchenuhr elf Uhr schlug. Das Wasser kam von den Bergen herab, die über ihren Häuptern hingen, die Stadt war eine halbe Stunde weit entfernt. Als Käte jetzt aufstand und entschieden erklärte, daß sie heim müsse, schlugen Stille und Einsamkeit förmlich über Tarvin zusammen. Er fühlte, daß sie nach Indien zu gehen entschlossen war, und sein Wille zerbröckelte für den Augenblick rettungslos am harten Gestein des ihrigen. Er fragte sich, wo denn die Kraft sei, womit er sein Brot erwarb, die Willensstärke, die ihn mit seinen achtundzwanzig Jahren zu einem einflußreichen Mann gemacht hatte, vorderhand nur in Topaz allerdings, die ihn aber bald in die gesetzgebende Körperschaft seines Staates und noch viel weiter tragen mußte, wenn nicht zu sein aufhörte, was war – – Er schüttelte sich ordentlich vor Selbstverachtung und er mußte sich sagen, daß es ja nur ein Mädchen sei, wenn er sie auch liebe, ehe er die Voranschreitende einholen und sagen konnte: »Du bist wohl schon unterwegs nach Indien?«

Sie gab keine Antwort und ging ruhig weiter.

»Du wirst dein Leben nicht wegwerfen an dieses indische Hirngespinst,« fuhr er fort. »Ich werd’s nicht zugeben! Dein Vater auch nicht! Deine Mutter wird heulen und wehklagen und ich werde sie aufstacheln, dir Widerstand zu leisten. Wenn du es nicht einsiehst, daß wir dich brauchen, wir wissen es sehr genau. Du hast auch gar keinen Begriff von dem, was du auf dich nehmen willst! Das Land ist nicht einmal gut genug für Ratten, es ist ein Morast, ja das ist’s, ein ungeheurer Morast, sittlich, landwirtschaftlich, gesundheitlich Morast. Das ist kein Ort für den weißen Mann, geschweige denn die Frau – kein Klima, keine Regierung, keine Abzugskanäle, nur Cholera, Hitze und Kampf, bis man drauf geht. Du kannst’s im Sonntagsblatt genau lesen, wie das ist, und du wirst gütigst bleiben, wo du bist, mein Fräulein!«

Sie blieb mitten auf der Straße, die nach Topaz führte, einen Augenblick stehen und sah in sein vom Mond beschienenes Gesicht. Er griff nach ihrer Hand und wartete in atemloser Angst auf ihre Antwort, er, der Herr und Gebieter.

»Du bist ein guter Mensch, Nick,« sagte sie, die Blicke senkend, »aber am 31. reise ich ab nach Kalkutta.«

Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Um am 31. in New York an Bord zu gehen, mußte sie am 27. von Topaz abreisen. Jetzt war der 15. und Tarvin nützte die übrigbleibende Frist. Jeden Abend kam er in ihr väterliches Haus und sie tauschten ihre Gründe und Gegengründe.

Mit der sanftmütigsten Willfährigkeit, sich überzeugen zu lassen, lauschte Käte seinen Worten, aber eine bedrohliche Entschlossenheit lag um ihren Mund und ein wehmütiges Verlangen, gut gegen ihn zu sein, wenn es irgend anging, kämpfte in ihrem Blick mit einer noch wehmütigeren Hilflosigkeit.

»Ich bin berufen!« rief sie. »Ich bin berufen, ich kann mich dem Geheiß nicht entziehen. Ich muß der Stimme lauschen, ich muß gehen.«

Und wenn sie ihm mit Schmerzen schilderte, wie der Hilfeschrei ihrer Schwestern aus dem dunklen, dumpfen Elend heraus, das so deutlich vor ihr stand, ihr Herz ergriffen hatte, wie die zwecklose Qual und alle Greuel des Lebens, das jene führten, Tag und Nacht an ihr Herz pochten, nach ihr schrieen, dann konnte Tarvin den Hilferuf dieser tiefempfundenen Not, der sie ihm aus den Armen riß, seine Achtung nicht versagen. Zwar konnte er sich nicht enthalten, Käte mit allen Worten und Tönen, die ihm zu Gebote standen, anzuflehen, daß sie ihm nicht Gehör schenke, aber fremd oder unverständlich war die Gewalt dieses Notschreis seinem eigenen großmütigen Herzen keineswegs. Er machte nur eindringlich geltend, daß gerade nach Käte Sheriff auch andre schrieen, und daß sich dafür andre finden würden, jenem Notschrei zu gehorchen. Er war ja auch in Not, er brauchte sie ja auch und sie ihn, wenn sie sich nur die Zeit nehmen wollte, ihr eigenes Herz anzuhören. Sie brauchten einander dringend, jedes that dem andern not und diese Not war die oberste. Die Frauen in Indien konnten sich ja auch noch länger gedulden, später, wenn die C. C. C. durch Topaz laufen und Tarvin sein Schäflein geschoren haben würde, konnten sie miteinander hinübergehen und jenen Hilfe bringen. Einstweilen wollten sie glücklich sein, sich lieben!

Tarvin war erfinderisch: seine Liebe war tief und echt, er wußte ganz genau, was er wollte, und er fand die Ueberredungskunst, dem Mädchen beinahe beizubringen, es sei im Grunde dasselbe, was sie wolle, nur in andrer Einkleidung. Käte hatte oft genug Mühe, ihren Entschluß in den Pausen zwischen seinen Besuchen wieder aufzurichten, zu kräftigen. Sie konnte ihm nicht viel entgegenhalten, sie hatte nicht seine Mitteilungsgabe, sein Ausdrucksvermögen. Ihre Natur war eine von jenen lautlosen, tiefen, die nur fühlen und handeln können.

Sie hatte auch den stillen, kühlen Mut und die Fähigkeit, klaglos zu leiden, die solchen Naturen eigen sind, sonst hätte sie schon oft erschrecken und erliegen müssen an den Schwierigkeiten, die der Ausführung des Entschlusses, den sie vor zwei Jahren im Schulgarten an einem linden Frühlingsabend gefaßt hatte, entgegenstanden. Sie hatte ihrer viele kennen gelernt. Die erste war der Widerstand der Eltern gewesen. Ihr Wunsch, Medizin zu studieren, war ihr rundweg versagt worden. Sie wäre gern Arzt und Pflegerin zugleich geworden, denn sie glaubte sich in Indien in diesen beiden Berufsarten nützlich machen zu können. Da ihr der Weg zu einer verschlossen wurde, beschied sie sich damit, in eine New Yorker Ausbildungsanstalt für Krankenpflege einzutreten. Die Eltern stimmten notgedrungen zu: sie waren bestürzt über die Entdeckung, daß sie den sanft entschlossenen Widerstand ihres Kindes nicht mehr brechen konnten, nachdem sie dieses Kind sein Leben lang in allen Stücken hatten gewähren lassen.

Als sie der Mutter ihre Gedanken und Pläne anvertraut hatte, fühlte diese nahezu ein Bedauern, daß man Käte nicht so wild hatte aufwachsen lassen können, als einst zu erwarten gewesen war. Ja es that ihr sogar leid, daß ihr Mann jetzt eine andre Thätigkeit gefunden hatte, als den ihr früher so verhaßten Eisenbahnbau. Die Bahn ging jetzt tatsächlich an ihrem Wohnort vorüber! Als Käte von der Schule heimkam, lag Topaz schon hundert Meilen von dem jetzigen westlichen Endpunkte der Bahn zurück und ihre Eltern waren noch dort. Dieses Mal hatte das Schnauben der Lokomotiven sie überholt. Ihr Vater hatte Felder gekauft, die rasch zu Bauplätzen für die junge Stadt wurden, und war jetzt zu wohlhabend, um noch leicht beweglich zu sein. So hatte er seinen Beruf als Ingenieur aufgegeben, und widmete sich stark der Politik.

Sheriffs Gefühl für seine Tochter war nicht tiefer als der Mann im allgemeinen, aber es bestand in einer gerade bei seichten Naturen nicht ungewöhnlichen anschmiegenden Zärtlichkeit, und dabei übte er gegen sie eine gewohnheitsmäßige Nachsicht, wie sie dem einzigen Kind häufig zu teil wird. Er pflegte zu sagen, daß ihm alles was sie thue, »ziemlich recht« sei, und damit ließ er in der Regel den Dingen ihren Lauf. Jetzt war er stark von dem Gedanken erfüllt, wie sein Reichtum ihr zu gute kommen werde, und Käte brachte es nicht übers Herz, ihn darüber aufzuklären, wie sie ihn zu genießen gedachte. Ihrer Mutter vertraute sie den Plan in seinem vollen Umfang an, dem Vater sagte sie nur, daß sie sich gründlich in der Krankenpflege ausbilden wolle. Die Mutter grämte sich insgeheim darüber, grämte sich mit der bitteren, philosophischen, beinahe heiteren Hoffnungslosigkeit der Frauen, die das Leben gelehrt hat, das Schlimmste für das Wahrscheinlichste zu halten. Es that Käte bitter weh, ihrer Mutter eine solche Enttäuschung bereiten zu müssen, und es schnitt ihr ins Herz, daß sie nicht thun konnte, was Vater und Mutter von ihr erwartet hatten. Nicht daß sie bestimmte Erwartungen ausgesprochen hätten, aber für selbstverständlich hatten sie es gehalten, daß Käte von der Schule heimkommen und ein Leben führen würde gerade wie andre Haustöchter auch. Sie sah ein, wie berechtigt und verständig diese Voraussetzung war, und sie weinte nicht minder um die Eltern, weil sie für ihre Person felsenfest, wenn auch in aller Demut glaubte, daß es eben anders bestimmt sei.

Das war ihre erste Anfechtung gewesen, und von Tag zu Tag steigerte sich der Gegensatz jener heiligen Weihestunde im Garten und der nüchternen Werktäglichkeit, die nötig war, den Entschluß zur Ausführung zu bringen. Das war qualvoll und konnte einem das Herz recht schwer machen, aber Käte ging vorwärts auf ihrer Bahn, nicht immer mit voller Kraft, nicht jederzeit tapfer und mutig, oft genug auch mit geringer Weisheit, aber sie ging voran.

Das Leben im Schwesternhaus war wieder eine grausame Enttäuschung gewesen. Sie hatte sich den einzuschlagenden Pfad freilich unbequem und dornenvoll gedacht, aber nach den ersten vier Wochen hätte sie bitter auflachen mögen, wenn sie ihre Träume von Aufopferung mit der Wirklichkeit verglich. In ihren Träumen hatte sie nur die Erhabenheit des Berufs gesehen, in der Wirklichkeit war davon blutwenig zu spüren. Sie hatte gewähnt, schon in der Lehrzeit Hilfe und Heilung spenden zu können, Elend und Leiden durch herzlichen Zuspruch zu lindern, in Wirklichkeit bestand ihr Tagewerk darin, Milchflaschen für kleine Kinder zu spülen.

Auch die nächsten Arbeiten, wozu sie von dieser Stufe aufrückte, standen in keiner Beziehung zu der segensreichen Thätigkeit einer Pflegerin, und wenn sie sich unter den anderen jungen Mädchen umsah, wie sie wohl ihre Ideale aufrecht hielten in einer so meilenweit vom Beruf entlegenen Thätigkeit, mußte sie sich sagen, daß diese meist um so leichter durchkamen, als sie gar keine Ideale hatten. Als sie dann vorrückte, als ihr endlich die Kinder selbst anvertraut wurden und nicht nur ihre Milchflaschen, als sie später zur wirklichen Krankenpflege zugelassen wurde, bekam sie es zu fühlen, wie vereinsamt sie gerade durch ihr hohes Ziel war. Die andern waren hier, um ein Geschäft zu erlernen, mit wenigen Ausnahmen würde ihnen Schneidern oder Putzmachen ganz dasselbe bedeutet haben. Sie wollten einfach das Nötige erlernen, um zwanzig Dollars in der Woche zu verdienen, und das Gefühl dieser niedrigen Auffassung in ihrer Umgebung demütigte Käte mehr, als die niedrige Arbeit, die sie zur Vorbereitung für ihren hohen Beruf leisten mußte. Das Geschwätz eines jungen Mädchens aus Arkansas, das sich auf einen Tisch setzte, mit den Beinen baumelte und Vorträge hielt, wie man mit den jungen Assistenzärzten in der Klinik liebäugeln könne, raubte ihr mitunter allen Mut. Zu all dem gesellte sich dann schlechtes Essen, spärlicher Schlaf, ungenügende Erholungs- und grausam lange Arbeitsstunden, kurz, der ganze Kraftaufwand, der nötig war, auch nur körperlich stand zu halten.

Außer der Arbeit, die sie mit den andern teilte, nahm sie auch noch regelmäßig Unterricht im Hindostanischen. Wie oft gedachte sie dankbar der Kindheit in frischer Luft und freier Bewegung, die ihre Kraft gestählt, ihren Körper widerstandsfähig gemacht hatten! Wäre es anders gewesen, sie hätte manchmal zusammenbrechen müssen, und nicht zusammenzubrechen wurde zur Pflicht, sobald sie anfangen durfte, wirklich Leiden zu lindern. Das versöhnte sie auch schließlich mit den niedrigen, stumpfsinnigen Bedingungen, unter denen sich diese ganze Vorbereitung für ihr Werk vollzog.

Das Widerliche, das die Pflegerin mitansehen muß, stieß sie nicht ab, im Gegenteil lernte sie den Dienst lieben, sobald sie recht in Zug gekommen war, und als sie nach Ablauf des ersten Lehrjahres eine Abteilung in einem Frauenspital unter Leitung einer Oberschwester ganz übernehmen durfte, fühlte sie sich ihrem Ziel näher gerückt, sah es wieder in greifbarer Deutlichkeit vor sich und glühte von einem Interesse, das ihr selbst die chirurgischen Operationen lieb machte, weil sie Hilfe bringen und weil sie ihr gestatteten, hilfreich zu sein.

Von nun an war sie mit voller Seele und mit Erfolg bei ihrer Arbeit. Sie wollte ja viel lernen, Erfahrungen sammeln, sachkundig und durchaus tauglich werden. Wenn die Zeit da war, wo hilflose, von der Welt abgesperrte indische Frauen nirgends Trost und nirgends Belehrung finden würden als bei ihr, sollte diese Stütze zuverlässig, ihre Urteilskraft ausgebildet sein. Manche Prüfungen hatte sie noch zu bestehen, aber sie fühlte sich gehoben von der Gewißheit, daß ihre Kranken sie gern hatten, daß ihr Kommen und Gehen ihnen Licht und Schatten bedeutete. Die Hingebung an ihre Aufgabe sicherte den Erfolg. Bald ruhte die ganze Verantwortlichkeit auf ihr und in dem langen, kahlen Krankensaal, wo sie mit dem Tod umging und lebte, wo sie mit leisen Schritten wandelnd, unaussprechlichen Schmerz linderte, den Schrei der Todesangst kennen lernte, und das Aufatmen der Erleichterung, wo kein Laut der Außenwelt an ihr Ohr drang, da durchforschte sie in nächtlicher Stille die Tiefen des eigenen Gemüts und erhielt von einer inneren Stimme die Bestätigung ihres Berufenseins. Jetzt weihte sie sich zum zweitenmal dem erkorenen Dienst und zwar mit einer Freudigkeit, die weit über die der ersten, dämmernden Erkenntnis hinausging.

Für den Augenblick aber war sie daheim in Topaz und jeden Abend von halb acht Uhr an hing Tarvins Hut am Kleiderrechen im Flur! Nach elf Uhr stülpte er diesen Hut mit trübseliger Miene wieder auf und in der Zwischenzeit hatte er Tag für Tag flehend, überredend, befehlend, demütig und entrüstet ihren Entschluß bekämpft. Die Entrüstung galt ihrem Plan, mitunter dehnte sie sich aber auch unwillkürlich auf Käte selbst aus. Diese war im stande, ihren Plan und sich selbst zu verteidigen, ohne je heftig zu werden: da diese Selbstbeherrschung aber nicht nach Nicks Sinn war, wurde die Erörterung manchmal jählings und lange vor elf Uhr abgebrochen. Am Abend darauf kam er aber dann doch wieder, saß lammfromm wie ein bußfertiger Sünder vor ihr und bat sie, die Ellbogen auf die Kniee, den Kopf schwermütig in die Hand gestützt, beinahe demütig, doch Vernunft anzunehmen. Diese Stimmung hielt indessen nie lange vor, und Abende dieser Art endeten in der Regel damit, daß er durch gewaltsame Bearbeitung der Armlehnen seines Stuhles mit überzeugter Faust die Vernunft in ihr armes Gehirn einzuhämmern versuchte.

Tarvin konnte niemand gern haben ohne den Drang, ihm seine Anschauungen, seinen Glauben beizubringen, dieser Drang entsprang aber einem guten Herzen und war Käte nicht unangenehm. Ja es war ihr so vieles angenehm an ihm, daß sie manchmal, wenn sie sich Aug in Auge gegenübersaßen, ihre Gedanken zurückschweifen ließ zu den Träumen ihrer Schulmädchenzeit, die ihr oft genug die Möglichkeit einer Zukunft an seiner Seite vorgegaukelt hatten, aber diese Gedanken wurden immer mit heftigem Zügelruck zurückgerissen. Sie hatte ja jetzt ganz andres zu bedenken, aber das stand fest, zwischen ihr und Tarvin war eine Beziehung vorhanden und mußte bestehen bleiben, die ihr bei keinem andern Mann denkbar gewesen wäre. In derselben Bauhütte am Abschluß der Teilstrecke mitten in der Prairie hatten sie gewohnt, und Tag für Tag waren sie beide zum selben einsamen, einförmigen Leben erwacht. Die Sonne brachte ihnen den grauen Morgen in die düstere, endlose graue Ebene, und wenn sie abends sank, ließ sie die beiden allein zurück mitten in dem furchtbaren Schweigen des unendlichen Raumes. In dem schmutzigen Bach, nahe bei der Bauhütte, brachen sie im Winter miteinander Eis aus und Tarvin trug Kätes Bütte neben der seinigen heim. Es lebte ja noch ein Dutzend junger Leute unter ihrem Dach, aber Tarvin war vor allen gütig. Die andern waren auch voll Diensteifer und thaten alles, was sie haben wollte, aber Tarvin brauchte kein Geheiß, ja er besorgte manches für sie, während sie schlief. Arbeit gab es ja genug. Die Mutter hatte eine Familie von fünfundzwanzig Köpfen zu versorgen, zwanzig davon Pensionäre, die in der oder jener Art unter Sheriffs unmittelbarer Leitung arbeiteten. Die eigentlichen Taglöhner wohnten in großen Baracken, mitunter auch in flüchtig aufgebauten Hütten oder Zelten. Die Sheriffs allein hatten ein Haus, das heißt ein richtiges Dach mit vorspringenden Wasserspeiern über dem Kopf, Fenster, die man öffnen und schließen konnte und eine Altane, die ringsum lief. Damit war aber auch das Maß der ihnen zu Gebot stehenden Bequemlichkeiten voll; Mutter und Tochter hatten alle Hausarbeit zu verrichten mit Hilfe von zwei Schwedinnen, die zwar stählerne Muskeln, aber höchst unklare Begriffe von Kochkunst hatten.

Tarvin half Käte in allen Stücken und sie lernte sich ganz auf ihn verlassen; daß sie sich helfen ließ, dafür liebte er sie. Gemeinsame Arbeit, gegenseitige Abhängigkeit, Abgeschlossenheit von der Welt band sie aneinander, und als Käte in die Schule abging, bestand ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen. Die Tragweite eines solchen Einverständnisses hängt von der Auffassung des Mädchens ab, von ihrer Willigkeit, es anzuerkennen. Als Käte zum erstenmal in den Ferien nach Hause kam, verleugnete ihr Betragen dieses Einverständnis nicht, aber es diente ihm auch nicht zur Bestätigung, und Tarvin, so zäh und zugreifend er in andern Dingen war, mochte seine Rechte nicht geltend machen. Es war kein Rechtsanspruch, den er einem Gerichtshof hätte beweisen können!

Solange er des Glaubens war, Käte immer in erreichbarer Nähe zu haben, solange er sich ihre künftigen Jahre wie die Jugendzeit aller Mädchen vorstellte, war diese Langmut ja ganz am Platz. Als sie ihm aber sagte, daß sie nach Indien gehen wolle, bekam die Sache ein andres Gesicht. Er dachte nicht an Rücksichten der Schicklichkeit oder gelassenes Zuwarten, nicht an die Notwendigkeit einer geduldigen Werbung, als er mit ihr im Mondschein auf der Brücke saß und an all den Abenden, die darauf folgten; sein Verlangen nach ihr, die Notwendigkeit, sie festzuhalten, erfüllten und bedrückten sein Herz.

Aber es sah ganz danach aus, als ob sie gehen würde, fortgehen trotz allem, was er dagegen sagte, trotz seiner großen Liebe. An diese Liebe zu glauben, hatte er sie wenigstens gelehrt, wenn man das einen Trost nennen will. Ja, sie hatte diese Liebe so deutlich erkannt, daß ihr das Herz weh that um ihn, und das war ein Trost.

Mittlerweile kam sie ihm in jeder Hinsicht teuer zu stehen, diese Liebe, und Käte hatte ihn lieb genug, um sich darüber zu beunruhigen. Wenn sie ihm aber vorhielt, er dürfe nicht so viel Zeit und Gedanken an sie verschwenden, so entgegnete er, sie solle sich seinetwegen ihren kleinen Kopf nicht zerbrechen, er sehe mehr in ihr als in Geld und Gut und Politik und wisse ganz genau, was er zu thun habe.

»Aber du bedenkst nicht, in welch heikle Lage du mich bringst,« versetzte sie. »Ich möchte nicht für deine Niederlage verantwortlich gemacht werden – deine Partei könnte ja sagen, ich hätte dich absichtlich abgehalten!«

Tarvin machte eine unbesonnene, wegwerfende Bemerkung über seine Partei, worauf Käte entgegnete, daß diese ihr um so wichtiger sein müsse, je weniger er sich darum kümmere. Sie wolle nicht, daß nach der Wahl gesagt werden könne, er habe um ihretwillen den Wahlkampf vernachlässigt und nur diesem Umstand habe ihr Vater seinen Sieg zu verdanken.

»Natürlich wünsche ich ja, daß mein Vater gewählt wird,« setzte sie freimütig hinzu, »und ich kann deinen Sieg nicht wünschen, weil es seine Niederlage wäre! Aber ich will dir nicht im Wege stehen, ihn zu erringen.«

»Deines Vaters Wahl braucht dir keine Sorgen zu machen, Kleine!« rief Tarvin übermütig. »Deshalb brauchst du wahrhaftig nicht wach zu liegen, sondern kannst dich aufs Ohr legen und schlafen, bis die drei C. durch Topaz rasseln. Ich selbst und kein andrer werde diesen Herbst in Denver erscheinen und du thätest besser, dich aufs Mitgehen einzurichten! Hm … wie denkst du dir’s, die Frau des Sprechers zu sein und auf dem Kapitol zu wohnen? Würde dir das passen?«

Käte hatte ihn lieb genug, um seinen gewohnten Glauben, daß der Unterschied, ob er etwas Gewolltes erreiche oder nicht, lediglich darin bestehe, ob er es ernstlich erreichen wolle oder nicht, wenigstens halbwegs zu teilen.

»Nick!« rief sie halb spöttisch und doch halb überzeugt. »Sprecher wirst du nicht!«

»Wenn ich dächte, das könnte dich locken, würde ich mich anheischig machen, sogar Präsident zu werden! Gib mir ein Wort der Hoffnung, und du sollst sehen, was ich vollbringe!«

»Nein! Nein!« sagte sie, den Kopf schüttelnd. »Meine Präsidenten sind alle Radschas, und die sind fern, fern von hier.«

»Sag einmal, Indien ist ja halb so groß wie Amerika, in welchen Staat gehst du eigentlich?«

»In welchen …«

»Nun, sagen wir Distrikt, Bezirk, Grafschaft, Stadt! Du wirst doch eine Adresse haben?«

»Rhatore, Provinz Gokral Sitarun, Radschputana, Indien.«

»Lang genug ist sie,« sagte er mit einem schmerzlichen Seufzer.

Diese Adresse war von einer unheimlichen Bestimmtheit; sie gab ihm mehr als alle Worte den Eindruck, daß Käte wirklich gehen werde. Er sah sie fast hoffnungslos aus seinem Leben weggleiten, fort in ein Land am andern Ende der Welt, ein Land, das seinen Namen aus »Tausend und eine Nacht« zu beziehen schien und vermutlich auch seine Bewohner.

»Larifari, Käte! Du wirst doch nicht in einem solchen heidnischen Märchenland wohnen wollen! Ich bitte dich, was hat denn dies Land mit Topaz, mit daheim zu schaffen? Du sollst und darfst es nicht thun, sag‘ ich dir! Laß die Leute doch für sich selbst sorgen. Mögen sie einander pflegen! Oder überlaß es mir! Ich will hinübergehen, etliche ihrer verdammten Juwelen in bares Geld verwandeln und ein ganzes Armeecorps von Pflegerinnen aufstellen! Du sollst den Plan dazu machen, alles vorschreiben, und dann komme ich wieder, um dich zu heiraten, und ich nehme dich hinüber, daß du mein Werk siehst! Die Geschichte soll in Schwung kommen! Sag doch nicht, die Leute dort seien arm. Mit jenem Halsband allein könnte man eine Stadt von Spitälern bauen! Wenn dein Missionar nicht stark aufgeschnitten hat neulich in seiner Predigt, würde sein Wert ja hinreichen, die amerikanische Staatsschuld zu tilgen! Diamanten, sagte er, so groß wie Hühnereier, Perlschnüre wie Schiffstaue, Saphire vom Umfang einer Männerfaust und Smaragden, daß einem der Atem ausgeht – und das alles hängen sie einem Götzenbild um den Hals oder verscharren’s in ihren Tempeln und heulen dann über Armut, daß brave weiße Mädchen hinüberkommen und sie pflegen sollen! Ich nenne das eine Frechheit!«

»Als ob ihnen mit Geld geholfen wäre! Nein, Nick, darum handelt sich’s nicht! Im Geld liegt kein Erbarmen, kein Mitgefühl, keine Liebe, die einzige wirkliche Hilfe ist, sich selbst hinzugeben.«

»Schön und gut! Dann gib dich auch mir! Ich werde mitgehen,« erklärte Nick, seinen Humor wieder findend.

Sie lachte, wurde aber plötzlich sehr ernst.

»Nein, Nick, du sollst nicht nach Indien kommen, thu das nicht! Folge mir nicht! Du darfst nicht.«

»Hm, ich will’s nicht verschwören! Wenn ich eine Stelle als Radscha bekäme, die wird schon etwas abwerfen …«

»Ach, Nick! Einen Amerikaner machen sie gewiß nicht zum Radscha!«

Seltsam, daß Männer, denen das Leben ein Spaß ist, Frauen suchen, denen es ein Gebet bedeutet.

»Aber einen Radscha stürzen lassen sie ihn am Ende doch,« bemerkte er, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, »und das wäre vielleicht der fettere Bissen. Radscha sein gilt für ein etwas unsicheres Geschäft, soviel ich weiß.«

»Wieso?«

»Nun, die Unfallversicherungen verlangen doppelte Prämien, und meine Gesellschaft nimmt überhaupt keinen Radscha auf. Einen Vezier, das ginge allenfalls noch,« setzte er überlegend hinzu. »Die Sorte stammt ja auch aus Tausend und eine Nacht, nicht wahr?«

»Du sollst überhaupt nicht nach Indien kommen,« erklärte Käte feierlich. »Es geht nicht! Du mußt wegbleiben, merke dir das.«

Taivin stand plötzlich auf.

»Gute Nacht! Gute Nacht!« rief er.

Er schüttelte sich mit einer Gebärde der Ungeduld und winkte das Mädchen von sich ab, als ob er nicht nur für heute gehen, sondern sich überhaupt von ihr lossagen wolle. Sie folgte ihm trotzdem in den Flur. Mürrisch nahm er seinen Hut vom gewohnten Haken, und ließ sich heute nicht von ihr in den Ueberrock helfen.

Kein Mann bringt es fertig, gleichzeitig mit Erfolg um ein Weib und um Wähler zu werben. Vielleicht begünstigte Sheriff deshalb die Aufmerksamkeiten, die sein Gegner bei der Wahl in dieser Zeit seiner Tochter erwies. Tarvin hatte sich ja immer mit Käte beschäftigt, aber so andauernd, ausschließlich, und eifrig wie jetzt doch nicht. Sheriff bereiste seinen Wahlkreis und hielt viele Reden; darum war er wenig zu Hause, aber wenn er, meist überraschend in Topaz auftauchte, entlockte ihm des Gegners Liebeswerben ein heimliches Lächeln. Immerhin unterschätzte er Tarvins Vielseitigkeit, wenn er sich deshalb auf einen leichten Sieg in der Versammlung zu Cañon City gefaßt machte, wo die beiden Gegner sich persönlich gegenübertreten sollten. Das unbehagliche Gefühl, seine Schuldigkeit gegen die Partei nicht recht erfüllt zu haben, steigerte Tarvins Ehrgeiz. Daraus entstand eine gewisse Gereiztheit, und Kätes Ermahnungen und Prophezeiungen wirkten wie Pfeffer auf eine offene Wunde.

Die Wahlversammlung in Cañon City war auf den Tag nach der eben geschilderten Unterredung zwischen den wunderlichen Liebesleuten anberaumt, und Tarvin betrat das aus wackeligen Frachtkisten gezimmerte Podium in der Rollschuhbahn von Cañon City an jenem Abend mit dem verbissenen, jugendstarken Entschluß, den Leuten zu zeigen, daß man doch mit ihm zu rechnen habe – wenn er auch verliebt sei!

Sheriff war der erste Redner, und Tarvin saß, ein langes, nervös zuckendes Bein übers Knie geschlagen, als Zuhörer im Hintergrund der Galerie. Die ungleichmäßig beleuchtete Zuhörermasse, die unter ihm saß, bekam einen nervösen, knochigen Mann in nachlässiger Haltung mit klugen, herausfordernden und doch wohlwollenden Augen und einem herrischen Kinn, zu sehen. Er hatte eine starke, vorspringende Nase, die gefurchte Stirn und die ziemlich kahlen Schläfen, die sich bei den Männern des Westens früh einstellen. Der beobachtende, scharfe Blick, der unruhig über die Versammlung schweifte, einschätzend, mit was für Leuten er es eigentlich zu thun habe, verriet jenes hohe Selbstbewußtsein, das, ob begründet oder nicht, jenseits des Mississippi immer die beste Empfehlung für den Mann ist. Er trug eine kurze, sackartige Juppe, die im Westen auch für feierliche Gelegenheiten genügend befunden wird, aber das Flanellhemd hatte er in Topaz gelassen und dafür das weiße Linnen höherer Kultur angelegt.

Sheriffs Rede regte in Tarvin hauptsächlich den Gedanken an, wie sonderbar es doch sei, daß ein Mann es übers Herz bringe, der Masse ganz falsche Anschauungen über Silberwährung und Tarife zu predigen, während seine Tochter so unheimlich edle Thaten ausbrüte. Bei ihm waren die Anschauungen, die Gedanken über Silberwährung und Tarife so ganz mit Käte verwachsen, daß er seine Entgegnung um ein Haar mit der Frage eröffnet hätte, woher ein Mann, der in der eigenen Familie nicht Herr sei, den Mut nehmen könne, einer denkenden Wählerschaft seine Nationalökonomie aufzudrängen? Wenn er der Mann sei, dem Staat Gesetze zu geben, weshalb halte er dann seine eigene Tochter nicht ab, ihr Leben zu vergeuden? Wozu denn überhaupt Väter in der Welt seien, hätte er fragen mögen, allein er verschluckte diese »sachlichen« Bemerkungen und stürzte sich wie ein kühner Schwimmer in eine Flut von Zahlen, Thatsachen und Gründen.

Tarvin hatte gerade die Gaben, womit der Wahlredner sich ins Herz einer Wählerschaft einschleicht; er wußte Beschuldigungen, Anklagen zu erheben, wußte zu verteidigen, aufs eindringlichste zu verdächtigen, er fuchtelte mit den langen, sehnigen Armen herum, rief die Gottheit, die Statistik und die Republik zu Zeugen an, und wenn sie in seinen Kram taugte, verschmähte er auch die Anekdote nicht.

»Das erinnert mich,« konnte er in dem leichten Gesprächston hinwerfen, womit der Volksredner gern sein Pathos abtönt und erhöht, »an einen Mann, den ich in Wisconsin kennen gelernt habe …«

Die Geschichte sah dem »Mann ins Wisconsin« gar nicht ähnlich, Tarvin war auch in seinem Leben nie in Wisconsin gewesen und kannte den Mann nicht, aber die Anekdote war zündend, das Publikum gröhlte vor Lachen – sogar Sheriff hielt es für passend, ein Lächeln zu »markieren« – und Tarvin hatte seinen Zweck erreicht. Es wurden auch mißbilligende Stimmen laut und die Debatte war zuweilen nicht mehr auf die Rednerbühne beschränkt, aber das tiefe beifällige Gemurmel, das häufig dem Beifallsrufen oder dem Gelächter nachhinkte, wirkte anfeuernd wie Peitschenknallen auf Tarvin und das bräunliche Getränk, das ihm der Pförtner der Rollschuhbahn nach einer am Nachmittage gepflogenen Beratung gebraut und auf den Tisch gestellt hatte, that auch seine Schuldigkeit. Die wohlberechnete Mischung in seinem Glas, der leidenschaftliche Vorsatz in seinem Herzen, das Murmeln und Zischen und Jauchzen der Zuhörer, alles wirkte zusammen, um Tarvin allmählich in einen Taumel der Ueberzeugtheit zu versetzen, der ihm selbst merkwürdig war. Als er endlich fühlte, daß er sein Publikum vollständig in der Gewalt hatte, da verfuhr er mit ihm wie ein gewandter Jongleur. Er packte die Zuhörer, hielt sie hoch in der Luft, streichelte und hätschelte sie, stürzte sie in Abgründe und ließ sie wieder emporschnellen, um ihnen seine Macht zu zeigen, schloß sie zärtlich an sein Herz und erzählte ihnen Märchen. Und mit dieser Wählerschaft im Arm und am Herzen, zerstampfte er den zu Boden geworfenen Leib der Gegenpartei und sang ihr Grabgesänge.

Es war eine große Stunde. Das sprach ein jeder aus, als Tarvin geschlossen hatte: alles erhob sich, man stieg auf die Bänke und rief es ihm zu, daß der ganze Bau erbebte. Die Männer warfen ihre Mützen in die Höhe, umschlangen einander, machten wilde Sprünge und wollten ihn auf ihren Schultern als Triumphator in der Halle herumtragen.

Aber Tarvin entzog sich dieser Huldigung: ihm war auf einmal die Kehle wie zugeschnürt, und blindlings die Menge durchbrechend, die ihn auf dem Podium umringte, flüchtete er in das Ankleidezimmer neben dem Saal. Er warf die Thüre hinter sich ins Schloß, verriegelte sie sogar und sank, sich die Stirne trocknend, auf einen Stuhl.

»Und der Mann, der das vermag,« brummte er vor sich hin, »ist nicht im stande, ein fadendünnes kleines Ding zu überreden, daß sie ihn heiratet.«

  1. Die C. C. C. oder »die drei C.« bedeutet die Central – Colorado-California-Eisenbahnlinie. Die Gewohnheit derartige Bezeichnungen nur mit den Anfangsbuchstaben zu geben, ist für Amerikaner wie Engländer bezeichnend. Anm. d. Uebers.
  2. Politische Hauptstadt von Colorado, das wie jeder amerikanische Staat sein eigenes Repräsentantenhaus hat. Amerika hat keine Rechtseinheit. Die einzelnen Bundesstaaten haben ihre »Legislatur«, und um eine Wahl in diese Legislatur handelt es sich. Anm. d. Uebers.
  3. 2. Präsident der amerikanischen Repräsentantenkammer. Anm. d. Uebers.

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Tarvin traf den Maharadscha, der seine morgendliche Dosis Opium noch nicht zu sich genommen hatte, im Zustand tiefster Niedergeschlagenheit. Ganz von seinem Vorhaben erfüllt, blickte der Mann aus Topaz den indischen Machthaber lauernd an und des Maharadscha erstes Wort gab ihm denn auch Gelegenheit zu der beabsichtigten Erklärung.

»Wozu sind Sie hierher gekommen?« fragte der Radscha.

»Nach Rhatore?« fragte Tarvin dagegen mit einem Lächeln, das die Unendlichkeit des Horizonts umfaßte.

»Jawohl, nach Rhatore,« brummte der mißgestimmte Herrscher. »Der Minister Sahib sagt, Sie gehörten zu keiner Regierung und seien nur gekommen, um über uns zu schreiben und Lügen zu sagen. Warum sind Sie gekommen?«

»Ich bin gekommen, um Ihren Fluß abzugraben. Es ist Gold darin,« versetzte Tarvin ruhig.

»Dann gehen Sie zur Regierung und reden mit der,« sagte der Maharadscha verdrießlich und abweisend. »Soviel ich weiß, ist’s Ihr Fluß,« sagte Tarvin mit ungetrübter Heiterkeit.

»Mein Fluß! Mein ist im ganzen Staat nichts! Tag und Nacht liegen die Kaufleute vor meiner Thür und wollen Geld haben. Der Vertreter Sahib läßt mich keine Abgaben erheben, wie meine Väter es thaten, Armee habe ich auch keine.«

»Das stimmt,« brummte Tarvin in sich hinein, »Mit der will ich eines schönen Morgens durchbrennen.«

»Und wenn ich eine hätte,« fuhr der Maharadscha fort, »so hätte ich niemand, gegen den ich kämpfen könnte. Ich bin ein alter Wolf, dem alle Zähne ausgezogen sind – gehen Sie!« Dieses Gespräch fand in dem Marmorhof statt unmittelbar vor dem von Sitabhai bewohnten Flügel des Palasts. Der Maharadscha saß in einem zerbrochenen hölzernen Lehnstuhl, während das Stallpersonal eine ganze Reihe gesattelter und gezäumter Pferde vorführte in der Hoffnung, daß eins für den Morgenritt des Maharadscha gewählt würde. Die verbrauchte, stickige Luft des Palasts strich mit dem Morgenwind über die Marmorfliesen; erfrischend und heilsam war der Geruch nicht.

Tarvin, der nicht vom Pferd gestiegen war, legte sein rechtes Bein über den Widerrist des Ponys und wartete gelassen. Er kannte die Wirkung des Opiums auf den Maharadscha, und dort kam schon ein Diener mit einer kleinen Metallschale, die den aus Wasser und Opium gemischten Trank enthielt. Der Maharadscha schluckte gesichterschneidend das Gebräu, leckte die letzten braunen Tropfen vom Schnurrbart ab, sank in seinen Stuhl zurück und starrte mit leeren Augen in die Weite. Nach ein paar Minuten sprang er auf: ein stattlicher, fröhlicher Mann!

»Sind Sie da, Tarvin Sahib? Sie müssen da sein, sonst fühlte ich mich nicht so aufgelegt zum Lachen! Reiten Sie diesen Morgen?«

»Ich stehe zu Diensten.«

»Dann lassen wir den jungen Foxhallhengst herausführen, der wirft Sie unfehlbar ab!«

»Schön,« sagte Tarvin gleichmütig.

»Ich selbst werde meine persische Stute reiten. Brechen wir auf, ehe der Vertreter Sahib kommt,« entschied der Maharadscha.

Die Stallknechte eilten davon, um den Befehl auszuführen, da vernahm man von außen her ein Hornsignal und Räderknirschen.

Der Maharadscha Kunwar kam die Stufen herauf und trippelte auf den Vater zu, der ihn zärtlich in die Arme nahm und auf sein Knie setzte. »Was führt dich her, Lalji?« fragte der Fürst.

»Lalji«, der Liebling, war des Knaben Kosename im ganzen Palast.

»Ich wollte mit meiner Leibwache exerzieren, aber Väterchen, ich bekomme für meine Soldaten nur schlechtes Sattelzeug aus dem Staatsarsenal! Jeysinghs Sattel ist mit Bindfaden gestickt, und Jeysingh ist doch gerade mein bester Soldat! Er erzählt mir auch so schöne Geschichten,« setzte der Maharadscha Kunwar hinzu, der mit dem Vater hindostanisch sprach, seinem englischen Freund aber herzlich zunickte.

»Haha! Du machst’s wie alle!« rief der Maharadscha, »Immer wollt ihr etwas haben vom Staat! Was möchtest du denn eigentlich?«

Das Kind legte die winzigen Hände bittend zusammen und griff dann zutraulich in den ungeheuren Bart des Vaters, den dieser nach Radschputensitte über die Ohren gebürstet trug.

»Nur zehn neue Sättelchen,« bat der Knabe. »Sie sind ja da, ich habe sie in der Sattelkammer hängen sehen, aber der Stallmeister sagte, ich müsse erst den König fragen.«

Des Maharadscha Antlitz verdüsterte sich und er stieß einen für seine Anschauungen furchtbaren Fluch aus.

»Den König! Der König ist ein Sklave, ein Knecht,« grollte er, »der Knecht der Geschäftsträger Sahibs und dieses weibischen englischen Raj, aber bei Indur! des Königs Sohn wenigstens soll ein Königssohn sein! Was für ein Recht hatte Saroop Singh, dir etwas vorzuenthalten, was du begehrst, Prinz?«

»Ich sagte ihm auch,« versetzte der Maharadscha Kunmar, »das werde meinem Vater gar nicht gefallen. Aber weiter sagte ich nichts, denn ich war nicht sehr wohl, und du weißt ja« – das kleine Gesicht senkte sich, daß man nur noch den Turban sah –, »ich bin noch ein Kind. Kann ich die Sättel haben?« Tarvin, der von dem Gespräch zwar kein Wort verstand, saß gemütlich auf seinem Pony und verständigte sich durch freundliche Blicke mit seinem großen und seinem kleinen Freund. In der Todesstille der Morgenfrühe war er hergekommen; der Hof hatte förmlich wiedergehallt vom Girren einer Taube auf dem hundertfünfzig Fuß hohen Turm, so still war es gewesen. Jetzt aber war das Leben im Palast erwacht, und auf allen vier Seiten rauschte und raschelte es hinter den grünen Fensterläden. Er unterschied sogar gedämpfte Atemzüge, das Knistern seidener Gewänder, das leise Knarren der Holzlatten an den Läden, die vorsichtig auseinandergeschoben wurden, um einen Durchblick zu gewinnen. Schwere Dünste von Moschus und Jasmin stiegen ihm in die Nase und erfüllten ihn mit Besorgnis, denn sie bewiesen ihm, daß Sitabhai mit ihren Frauen alles beobachtete und belauschte. Aber weder der Maharadscha, noch sein Sohn kümmerten sich im mindesten darum. Der Prinz war ganz erfüllt von dem englischen Unterricht, den ihm Frau Estes gab, und der König nahm fast ebenso großes Interesse daran als der Knabe. Damit auch Tarvin an der Unterhaltung teilnehmen könne, sprach das Kind jetzt englisch, sprach aber ganz langsam und deutlich, daß ihn der Vater leichter verstehe.

»Ich kann dir auch ein neues Gedicht sagen,« plauderte Lalji, »das ich erst gestern gelernt habe.«

»Kommt etwas von ihren Göttern darin vor?« fragte der Maharadscha argwöhnisch. »Bedenke immer, daß du ein Radschpute bist!«

»O nein, o nein! Davon steht gar nichts drin! Es ist nur englisch und ich hab’s so schnell gelernt.«

»So sag mir’s her, kleine Weisheit! Du wirst ein Schriftgelehrter werden und in einem langen schwarzen Talar auf die englische Universität gehen.«

»Unsre Flagge hat fünf Farben,« versetzte der Maharadscha Kunwar, wieder in die heimische Mundart verfallend, »wenn ich für sie gekämpft habe, will ich erst ein Engländer werden!«

»Ach mein Kind, man führt keine Krieger mehr ins Feld bei uns – jetzt sag nur deinen Vers!«

Das geheimnisvolle Raunen von Hunderten unsichtbarer Augen- und Ohrenzeugen wuchs immer mehr an. Tarvin mußte sich vorbeugen, um den Knaben zu verstehen, der von des Vaters Knie herabgeglitten war, die Hände hinter dem Rücken verschränkte und ohne jeden Ausdruck in einem Atem die Worte herleierte:

»Tiger, Tiger, glühend bunt
In dem Wald zur Nacht,
Welch unsterblich Wesen schuf
Deiner Farben Pracht?
Gab es dir die Furchtbarkeit
Mit des Herzens Schlag,
Oder warst du mild und sanft
An der Schöpfung Tag?

»Es ist noch länger, aber das fällt mir nicht ein,« schloß er, »nur zuletzt heißt’s, das weiß ich noch:

›Der so furchtbar dich gemacht,
Schuf er auch das Lamm?‹

Ich hab’s sehr schnell gelernt.«

Und nun klatschte der Maharadscha Kunwar sich selbst mit den kleinen Händchen Beifall, in den Tarvin einstimmte.

»Verstanden hab‘ ich’s nicht,« gestand der Vater auf hindostanisch, »aber es ist sehr nützlich, gut englisch zu lernen. Dein Freund hier spricht englisch, wie ich’s nie hörte.«

»Ja,« stimmte der Prinz bei, »und er spricht auch mit dem Gesicht und den Händen, alles lebt, daß ich lachen muß, eh‘ ich noch weiß warum. Aber der Oberst Nolan Sahib spricht wie ein Büffel, mit geschlossenem Mund, und ich merke nie, ob er verdrießlich ist oder vergnügt. Sage mir, Vater, was thut Tarvin Sahib hier?«

»Jetzt reiten wir zusammen aus,« erwiderte der König. »Wenn ich heim komme, gebe ich dir vielleicht Antwort auf deine Frage. Was sagen die Männer, die um dich sind, über ihn?«

»Sie sagen, er sei ein Mann von reinem Herzen, und, Vater, er ist immer gut gegen mich.«

»Hat er mit dir über mich gesprochen?«

»Nie so, daß ich’s verstehen konnte, aber er ist gewiß ein guter Mann – sieh, jetzt lacht er!«

Tarvin, der bei Nennung seines Namens die Ohren gespitzt hatte, setzte sich jetzt im Sattel zurecht und faßte die Zügel, um dem König anzudeuten, daß es Zeit zum Aufbruch sei.

Jetzt führten die Stallknechte ein lang gestrecktes, stumpfschwänziges englisches Vollblut und eine mausfarbige Stute mit trockenen Gliedern vor. Der Maharadscha erhob sich.

»Geh‘ zu Saroop Singh, Prinz, und laß dir die Sättel geben,« sagte er zu dem Knaben.

»Was treibst du denn heute, kleiner Mann?« fragte Tarvin.

»Erst werde ich mir neue Ausrüstung besorgen, und dann will ich im Hof mit dem Sohn des Ministers spielen.«

Wie das Zischen einer verborgenen Schlange tönte es hinter den verhüllten Fenstern; offenbar war dort jemand, der des Kindes Antwort verstanden hatte.

»Siehst du Fräulein Käte heute?«

»Nein, heute nicht. Ich gehe nicht zu Frau Estes zur Stunde, ich habe Feiertag.«

Der König trat nahe an Tarvin heran und fragte ihn leise: »Muß er die Doktordame wirklich jeden Tag sehen? All meine Leute belügen mich in der Hoffnung, meine Gunst zu gewinnen, sogar der Oberst Nolan sagt mir, er halte das Kind für sehr kräftig. Sagen Sie mir die Wahrheit – es ist mein erstgeborener Sohn.«

»Nein, kräftig ist er nicht,« versetzte Tarvin ruhig, »und es wäre vielleicht gut, wenn Fräulein Sheriff ihn diesen Morgen zu sehen bekäme. Jedenfalls thun Sie besser, zu ängstlich zu sein, als zu unbesorgt.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen,« sagte der Maharadscha, »aber geh‘ du nur ins Missionshaus, mein Sohn.«

»Ich will aber lieber hier spielen,« entgegnete der Prinz widerspenstig.

»Du weißt gar nicht, was Fräulein Sheriff für Spiele für dich hat,« sagte Tarvin überredend.

»Was hat sie denn?« fragte Lalji rasch.

»Du hast eine eigene Kutsche und zehn Begleiter, fahr hin, dann wirst du’s sehen.«

Tarvin zog einen Briefumschlag aus der Brusttasche, dessen amerikanische Zwei-Centmarke er mit einer gewissen Zärtlichkeit ansah. Darauf schrieb er in Eile die Worte: »Behalte den kleinen Burschen heute um Dich. Es liegt irgend eine Teufelei in der Luft. Ersinne irgend etwas, womit Du ihn beschäftigst, spiele mit ihm und halte ihn fern vom Palast. Deinen Brief erhalten. Ganz einverstanden.«

Er rief den Knaben zu sich und übergab ihm den Zettel.

»Bring‘ diese Botschaft dem Fräulein und sag‘ ihr, ich schicke dich. Du wirst es pünktlich besorgen, hörst du, kleiner Mann?«

»Mein Sohn ist keine Ordonnanz,« bemerkte der König von oben herab.

»Ihr Sohn ist nicht gesund,« erwiderte Tarvin leise, »wenn ich auch der Erste bin, der Ihnen die Wahrheit zu sagen wagt. – Sachte, sachte, das Tier hat ein weiches Maul!« Diese Mahnung galt den Stallknechten, die den jungen Foxhallhengst kaum halten konnten.

»Der wirft Sie sicher ab,« rief der Maharadscha Kunwar in hellem Entzücken. »Der hat noch jeden Reiter abgeworfen!«

In diesem Augenblick klappte ein Fensterladen dreimal in der Stille des Hofes.

Einer von den Reitknechten trat vorsichtig an die rechte Seite des Pferdes, Tarvin setzte den Fuß in den Steigbügel, um aufzuspringen, aber der Sattel drehte sich vollständig unter ihm. Gleichzeitig gab man den Kopf des Pferdes frei, und Tarvin hatte gerade noch Zeit, den Fuß aus dem Steigbügel zu ziehen, als das Pferd einen gewaltigen Satz machte.

»Man kann’s geschickter angreifen, wenn man jemand umbringen will,« sagte Tarvin laut und kaltblütig. »Führen Sie ihn mir her.«

Als der Hengst vor ihm stand, gurtete er ihn eigenhändig, wie das Tier noch nie gegurtet worden war, seit es ein Gebiß trug, dann schwang er sich in den Sattel, während der König schon durch den Thorbogen sprengte. Der Gaul stieg ein paarmal, stemmte dann die Vorderbeine bocksteif gegen den Boden und schlug nach hinten aus. Tarvin, der sich gleich nach Cowboyart zurecht gesetzt hatte, sagte vollkommen ruhig zu dem Knaben, der jeder Bewegung mit Spannung folgte: »Mach‘ dich auf den Weg, Maharadscha! Vertrödle deine Zeit nicht hier, ich will sehen, daß du zu Fräulein Käte gehst!«

Das Kind gehorchte, wenn es ihm auch sauer geschah, sich von dem Anblick des bäumenden Pferds loszureißen. Jetzt wandte der Hengst alle Kunstkniffe an, seinen Reiter loszuwerden, er weigerte sich rundweg, den Hof zu verlassen, obwohl ihm Tarvin erst hinter dem Sattel und dann zwischen den entrüstet gestellten Ohren faßliche Befehle erteilte. An Stallknechte gewöhnt, die beim ersten Anzeichen von Widerstand aus dem Sattel glitten, wurde der Hengst über ein solches Benehmen rasend. Jählings rannte er durch den Thorbogen, drehte sich auf der Hinterhand vollständig herum und jagte der Stute des Maharadscha nach. Sobald man auf freiem Feld und Sandboden war, hielt er die Gelegenheit für günstig, seine Schnellkraft zu entfalten, aber auch Tarvin ersah seinen Vorteil. Der Maharadscha, der in seiner Jugend für den schneidigsten Reiter gegolten hatte in einem Volksstamm, der vielleicht im Reiten der erste der Welt ist, drehte sich im Sattel und verfolgte den Kampf zwischen Mann und Roß mit höchster Spannung.

»Sie reiten wie ein Radschpute,« rief er dem vorüberfliegenden Tarwin zu. »Lassen Sie ihn in geradem Lauf rennen, bis er genug hat.«

»Nicht eh‘ er weiß, wer Herr und Meister ist,« rief Tarvin zurück, indem er den Gaul herumwarf, daß ihm die Knochen krachten.

»Shabasch! Shabasch! Bravo! Bravo!« rief der Maharadscha, als der Hengst der Faust des Reiters gehorchte. »Tarvin Sahib, sie sollen meine regulären Reiter kommandieren!«

»Lieber zehn Millionen irreguläre Teufel!« rief Tarvin höchst unverbindlich. »Zurück, du Luder! Zurück!«

Unter dem Druck des Zaums legte sich der Kopf des Pferds tief auf die mit Schaumflocken bedeckte Brust, aber eh‘ es ganz nachgab, bohrte es wieder die Vorderbeine in den Sand und bockte gerade so heimtückisch, wie eines von Tarvins eigenen Steppenpferden daheim im Westen.

»Beine strecken und Brust heraus,« murmelte Tarvin vergnügt vor sich hin, während der Gaul munter weiterbockte. Jetzt war der Reiter in seinem Element und fühlte sich ganz nach Topaz versetzt.

»Maro! Maro!« rief der König. »Jetzt hauen, aber scharf!« »Ach nein, den Spaß kann man ihm schon gönnen,« bemerkte Tarvin heiter. »Ich hab’s ganz gern.«

Als der Hengst müde wurde, mußte er richtig zehn Schritte rückwärts machen.

»So, jetzt kann’s weiter gehen,« sagte Tarvin, an des Maharadscha Seite in Trab fallend. »Ihr Fluß ist voll Gold,« bemerkte er nach kurzem Schweigen, als ob er ein eben abgebrochenes Gespräch fortsetzte.

»Als ich noch jung war, pflegten wir hier im Frühling den Eber mit dem Schwert zu jagen. Damals waren noch keine Engländer hier. Da drüben bei den Felsblöcken habe ich mir einmal das Schlüsselbein gebrochen.«

»Voll Gold, Maharadscha Sahib. Wie meinen Sie, daß man’s heben könnte?«

Tarvin kannte des Königs Neigung, Gespräche abzulenken, war aber nicht gesonnen, nachzugeben.

»Was verstehe ich davon!« warf der König hin. »Fragen Sie den Vertreter Sahib!«

»Aber, Maharadscha Sahib, wer beherrscht diesen Staat, Sie oder der Oberst?«

»Sie wissen es. Sie haben genug gesehen,« erwiderte der König und setzte, nach Norden und nach Süden deutend, hinzu: »Hier eine Eisenbahnlinie, dort eine Eisenbahnlinie, ich bin wie eine Ziege zwischen zwei Wölfen.«

»Aber das Land zwischen den beiden Linien ist jedenfalls Ihr Eigentum, womit Sie schalten können nach Belieben.«

Sie waren jetzt zwei oder drei Meilen vom Weichbild der Stadt entfernt und ritten längs dem Ametfluß dahin; die Pferde versanken bis über die Fesseln in dem weichen Sand. Der König blickte über die schlangenartigen Windungen des trägen, schimmernden Wassers nach den weißen mit Buchen bewachsenen Erdwellen der Wüste und der aus weiter Ferne herüberschimmernden Linie von Granithügeln, wo der Amet entsprang. Es war kein Anblick, der eines Herrschers Herz erfreuen konnte.

»Ja, ich bin der Herr dieses Landes,« sagte er, »aber der vierte Teil meiner Einkünfte bleibt in den Taschen derer, die sie einziehen, ein Viertel verweigern mir die schwarzgesichtigen Kamelzüchter des Sandmeers, und ich darf nicht gegen sie zu Feld ziehen, ein Viertel erhalte ich vielleicht, aber die Leute, die mir das letzte schuldig wären, wissen nicht, wohin sie es schicken sollen – jawohl, das nennt man einen reichen König!«

»Unter allen Umständen müßte der Fluß Ihr Einkommen verdreifachen.«

Der Maharadscha sah Tarvin aufmerksam an.

»Und was würde die englische Regierung dazu sagen?« fragte er.

»Ich weiß nicht recht, was die englische Regierung damit zu schaffen hätte! Sie können Orangengärten anlegen, wo es Ihnen beliebt, und Kanäle in weitem Bogen herumführen,« – in Seiner Majestät eingesunkenen Augen leuchtete ein Verständnis auf – »den Fluß auszubeuten, wäre eine viel einfachere Sache. Sie haben es doch schon mit Goldwaschen versucht, nicht?«

»Es wurde etwas Gold aus dem Fluß gewaschen, doch nur einen Sommer hindurch. Meine Gefängnisse waren damals so überfüllt, daß ein Aufruhr der Sträflinge zu fürchten war. Zu sehen war aber nichts außer diesen schwarzen Hunden, die im Sand wühlten. Das war in dem Jahr, wo ich mit einem Schimmelpony den Punahbecher gewann.«

Tarvin schlug schallend auf den Schenkel – was fruchtete es, mit diesem schlaffen Mann über Geschäfte zu reden, der alles, was ihm das Opium an Seele übrig gelassen hatte, für eine Kurzweil hingab. Er wußte aber auch diese Neigung zu benützen.

»Ja, viel zu sehen ist allerdings nicht beim Goldwaschen,« bemerkte er. »Man müßte oben an der Gungrastraße einen kleinen Damm machen, das wäre interessanter.«

»In der Nähe der Hügel?«

»Ja.«

»Niemand hat je den Amet eingedämmt,« sagte der König. »Er steigt aus dem Grund und versinkt in den Grund und zur Regenzeit ist er so breit wie der Indus.«

»Wir wollen aber vor der Regenzeit das ganze Flußbett bloßlegen – auf einer Strecke von zwanzig Meilen,« sagte Tarvin, scharf beobachtend, welchen Eindruck dieser Gedanke auf den König mache.

»Kein Mann hat je dem Amet ein neues Bett gegraben,« war die teilnahmlose Antwort.

»Weil kein Mann es je versuchte. Geben Sie mir die nötigen Arbeitskräfte, und ich lenke den Amet, wohin ich will.«

»Und wohin kommt das Wasser?« fragte der König.

»Es soll einen andern Weg gehen, gerade wie der Kanal einen andern Weg gehen mußte, um den Orangengarten nicht zu berühren.«

»Ach! Damals sprach der Oberst noch mit mir, als ob ich ein Kind wäre!«

»Sie wissen auch, daß er ein Recht dazu hatte, Maharadscha Sahib,« sagte Tarvin kaltblütig.

Diese Vermessenheit war so groß, daß der König einen Augenblick wie erstarrt war. Er wußte ja, daß die Geheimnisse seines häuslichen Lebens Gemeingut aller Klatschmäuler der Stadt waren; denn dreihundert Weibern den Mund zu schließen, geht über Fürstenmacht; aber daß man ihm selbst gegenüber so unverhohlen darauf anspielte, wie dieser verwegene Fremdling, der ein Engländer war und doch keiner, darauf war er nicht vorbereitet.

»In diesem Fall wird der Oberst nichts gegen Ihre Absicht einwenden,« fuhr Tarvin fort, »und überdies kommt sie Ihrem Volk zu gute.« »Das auch sein Volk ist,« bemerkte der König.

Die Wirkung des Opiums ließ allmählich nach, und des Königs Haupt sank schlaff auf die Brust herab.

»Dann werde ich morgen mit der Arbeit beginnen,« erklärte Tarvin. »Dabei gibt’s viel zu sehen! Ich muß die geeignetste Stelle aussuchen für den Damm – ich nehme an, daß Sie mir ein paar Hundert Sträflinge zur Verfügung stellen können.«

»Sind Sie deshalb hierher gekommen,« fragte der König, »um meinen Fluß abzulenken und meinen ganzen Staat auf den Kopf zu stellen?«

»Weil Ihnen das Lachen gut bekommt, Maharadscha Sahid, deshalb bin ich hier. Sie wissen’s ja so gut wie ich. Ich will jede Nacht Pachisi mit Ihnen spielen, bis Ihnen die Augen zufallen, und dann hab‘ ich noch ein Talent, das in diesem Erdteil selten vorkommt – ich kann die Wahrheit reden.«

»Haben Sie mir die Wahrheit gesagt über den Maharadscha Kunwar? Ist er wirklich krank?«

»Krank nicht, aber schwächlich. Dem kann indes Fräulein Sheriff vollständig abhelfen, verlassen Sie sich darauf!«

»Ist das die reine Wahrheit? Bedenken Sie, daß er nach mir den Thron besteigen soll!«

»Wenn ich Fräulein Sheriff recht kenne, wird er ihn auch besteigen. Nur keine unnötigen Sorgen, Maharadscha Sahib!«

»Sie und Fräulein Sheriff sind sehr gut Freund miteinander? Sie kommen aus dem nämlichen Land?«

»Ja, aus derselben Stadt.«

»Erzählen Sie mir von dieser Stadt.«

Tarvin, der sich darum nie vergebens bitten ließ, fing arglos zu erzählen an. Er erzählte des langen und breiten mit der Wahrscheinlichkeit, die er seinen Berichten zu verleihen wußte, und die Liebe zu Topaz und die Bewunderung seiner Stadt riß ihn derart hin, daß er nicht mehr bedachte, wie wenig der König den mit westamerikanischer Mundfertigkeit hervorgesprudelten Worten folgen konnte. Mitten in seiner Rhapsodie unterbrach ihn aber der Maharadscha mit der Frage: »Warum sind Sie aber nicht dort geblieben, wenn die Stadt so herrlich ist?«

»Weil ich Sie sehen wollte,« versetzte Tarvin, rasch gefaßt. »Weil ich drüben von Ihnen gehört habe, Maharadscha Sahib.«

»So ist es doch wahr, was meine Dichter singen, daß mein Ruhm ertönt an allen vier Enden der Welt? Ich will Bussant Naos Mund mit Gold füllen, wenn dem so ist.«

»Darauf können Sie Ihr Leben wetten, Maharadscha Sahib. Ist es Ihnen aber lieber, wenn ich wieder gehe? Sie brauchen nur ein Wort zu sprechen!«

Tarvin that, als ob er sein Pferd herumwerfen wollte. Der Maharadscha versank für eine Weile in tiefes Nachdenken, dann begann er zu sprechen, langsam und besonders deutlich, daß Tarvin jedes Wort wohl erfassen möge.

»Ich hasse alle Engländer,« sagte er. »Ihre Art ist nicht meine Art; sie machen uns nichts als Scherereien, wenn hier und da ein Mann totgeschlagen wird. Auch Tarvin Sahibs Art ist nicht meine Art, aber er macht mir viel weniger Scherereien und er ist der Freund der Doktordame.«

»Auch der Freund des Maharadscha Kunwar, dächte ich,« sagte Tarvin.

»Sind Sie ihm ein wahrer Freund?« fragte der Fürst, ihm scharf in die Augen sehend.

»Und ob! Den Mann möchte ich sehen, der es wagen wollte, Hand an den Kleinen zu legen! Er würde verschwinden, Herr, weggefegt werden von der Erde, nicht mehr sein! Ganz Gokral Sitarun würde ich mit ihm auftrocknen!« »Ich sah, wie Sie eine Rupie im Fluge treffen, bitte, lassen Sie mich das noch einmal sehen.«

Ohne einen Augenblick an die Nerven des jungen Hengstes zu denken, nahm Tarvin seinen Revolver, warf eine Münze in die Luft und feuerte. Das Geldstück, dieses Mal ein frisches, fiel, genau in der Mitte durchschossen, zur Erde; das Pferd aber machte tolle Sätze, und auch die Stute des Maharadscha tänzelte aufgeregt. Zu gleicher Zeit ertönte von hinten her dröhnender Hufschlag. Das Gefolge, das bisher seinen vorgeschriebenen Abstand von einer Viertelmeile ehrfürchtig innegehalten hatte, jagte mit eingelegten Lanzen in Carriere heran. Der König lachte verächtlich.

»Sie denken, Sie hätten auf mich geschossen,« sagte er, »und wenn ich nicht Einhalt gebiete, so sind Sie ein toter Mann. Was soll ich thun?«

Tarvin streckte den Unterkiefer vor, wie es in gewissen Stimmungen sein Brauch war, warf das Pferd herum und sah, die waffenlosen Hände auf dem Sattelknopf gefaltet, den Reitern entgegen, ohne den König einer Antwort zu würdigen. Der Trupp stob in unregelmäßigem Haufen heran, jeder Reiter mit eingelegter Lanze vorne über den Sattelknopf geduckt, der Anführer der Truppe ein langes, breites Radschputenschwert schwingend. Tarvin fühlte mehr, als er sah, wie die schlanken, vergifteten Lanzenspitzen auf die Brust des Hengstes zusammenliefen. Der König ritt etliche fünfzig Schritt seitwärts und beobachtete, wie er ganz allein in der flachen Ebene dem Angriff entgegensah. In dem kurzen Augenblick, wo ihn wirklich der Tod angrinste, überlegte Tarvin, daß ihm doch so ziemlich jeder andre Kunde lieber wäre als ein indischer Maharadscha.

Plötzlich rief der König ein Wort, und die Lanzenköpfe senkten sich, als ob sie abgehauen worden wären. Der Trupp teilte sich und wirbelte zu beiden Seiten an Tarvin vorüber, wobei sich jeder Mühe gab, wenigstens des weißen Mannes Stiefel kräftig zu streifen. Dieser starrte vor sich hin, ohne den Kopf zu drehen; der König, der herangeritten war, brummte beifällig vor sich hin.

»Würden Sie das für den Maharadscha Kunwar auch gethan haben?« fragte er, sein Pferd wendend, so daß er wieder an Tarvins Seite war.

»Nein,« sagte dieser gelassen. »Da hätte ich lang vorher zu schießen angefangen.«

»Was? Fünfzig Mann würden Sie der Reihe nach erschossen haben?«

»Nein, aber den Anführer.«

Der König schüttelte sich vor Lachen und hielt eine Hand in die Höhe. Auf dieses Zeichen ritt der Hauptmann der Leibwache heran.

»Oho, Pertab Singh-Ji, er sagt, er würde dich erschossen haben,« teilte ihm der König mit und setzte, zu Tarvin gewendet, lächelnd hinzu: »Er ist nämlich mein Vetter.«

Der wohlbeleibte Radschpute verzog den Mund grinsend von einem Ohr zum andern, entgegnete aber zu Tarvins höchster Ueberraschung in tadellosem Englisch: »Bei ungeschulten Truppen wäre es das Richtige, die würden mit dem Fall des Führers ausreißen, wir sind aber nach englischem Muster gedrillt, wie ich auch meinen Rang und Auftrag unmittelbar von der Königin erhalten habe. In der deutschen Armee ist der Dienst…«

Tarvin riß förmlich Mund und Nase auf.

»Doch, Sie sind ja nicht Fachmann in militärischen Dingen,« unterbrach sich Pertab Singh-Ji mit verbindlichem Lächeln. »Ich will nur bemerken, daß ich Ihren Schuß hörte und wohl sah, um was es sich handelte. Wir haben aber den Befehl, sofort einzuschreiten, wenn in der Nähe Seiner Hoheit ein Schuß abgegeben wird; darum bitte ich, den Ansturm zu entschuldigen.«

Mit soldatischem Gruß zog er sich zu seinen Leuten zurück. Die Sonne brannte jetzt schon sehr unangenehm, und der König und Tarvin ritten in gemäßigter Gangart heimwärts.

»Wieviele Sträflinge können Sie mir zur Verfügung stellen?« fragte Tarvin nach einer Weile.

»So viele Sie haben wollen, die Gefängnisse sind gepfropft voll,« versetzte der König, mit Begeisterung darauf eingehend. »Bei Gott, Sahib, einen Mann wie Sie habe ich nie gesehen, ich würde Ihnen geben, was Sie haben wollen.«

Tarvin nahm den Hut ab und trocknete sich unter Lachen die feuchte Stirne.

»Ich nehme Sie beim Wort, und was ich fordere, soll Sie nicht einmal etwas kosten!«

Der Maharadscha brummte zweifelhaft vor sich hin. Die Leute verlangten in der Regel gerade das von ihm, was er nicht hergeben mochte.

»Diese Rede klingt mir fremd, Tarvin Sahib!« bemerkte er.

»Und ist doch richtig. Ich wünsche nichts, als das Naulahka sehen zu dürfen. Alle Staatsdiamanten und goldenen Karossen habe ich gesehen, nur das Naulahka nicht.«

Der Maharadscha trabte etliche hundert Schritte schweigend einher.

»Weiß man auch davon in dem Lande, wo Sie herkommen?« fragte er dann.

»Selbstverständlich! Jeder Amerikaner weiß, daß es das Großartigste in ganz Indien ist. Das steht in allen Reisehandbüchern,« log Tarvin unverfroren.

»Steht in den Büchern auch, wo es ist? Die Englischen sind ja so weise!«

Der Maharadscha blickte gerade vor sich hin und lächelte leise.

»Nein, das steht nicht darin, aber es heißt, der Maharadscha von Gokral Sitarun wisse es, und ich möchte es sehen!«

»Sie müssen wissen, Tarvin Sahib,« sagte der Fürst wie aus tiefen Gedanken heraus, »daß unsre Naulahka nicht ein, sondern das Staatskleinod ist, ein Heiligtum – Staatsglück bedeutet ja sein Name. Selbst ich habe es nicht in Verwahrung und kann nicht befehlen, daß es Ihnen gezeigt wird.«

Das war eine bittere Enttäuschung für Tarvin!

»Aber wenn ich Ihnen sage, wo es ist,« fuhr der König fort, »so können Sie auf Ihre eigene Gefahr hingehen, die Regierung hat da nichts drein zu reden. Ich habe gesehen, daß Sie keine Gefahr scheuen, und ich habe einen dankbaren Sinn. Vielleicht, daß die Priester es Ihnen zeigen, vielleicht auch nicht. Möglich, daß Sie die Priester überhaupt nicht antreffen – ach, ich vergaß ja! In dem Tempel, woran ich dachte, ist es gar nicht. Nein, nein, es muß im Gye-Mukh sein – das heißt Kuhmaul. Aber dort sind keine Priester und niemand geht hin. Jawohl, jawohl, im Kuhmaul ist’s; ich dachte erst, es wäre in der Stadt,« setzte der Maharadscha hinzu. Es klang, als ob von einem verlorenen Hufeisen oder einem verlegten Turban die Rede wäre.

»Versteht sich, im Kuhmaul,« wiederholte Tarvin, gerade wie wenn er durch seine Reisehandbücher auch über das »Kuhmaul« ganz genau unterrichtet wäre.

Mit erneuter Lebendigkeit fuhr der König fort: »Bei Gott, nur ein sehr tapferer Mann wird zum Gye-Mukh gehen, nur ein so tapferer wie Sie, Tarvin Sahib« – er sah seinen Gefährten mit schlauem Blinzeln von der Seite an –. »Pertab Singh-Ji zum Beispiel, der ginge nicht, nicht um die Welt, nicht mit der ganzen Truppe, der Sie heute standgehalten haben.«

»Warten Sie mit Ihren Lobeserhebungen, bis ich sie verdient habe, Maharadscha Sahib,« sagte Tarvin. »Warten Sie, bis der Fluß abgeleitet ist.«

Dann versank er in Schweigen; diese letzten Mitteilungen lagen ihm ein wenig schwer im Magen.

»Nein, Ihre Stadt, die wird ungefähr sein wie diese?« bemerkte der Maharadscha, nach dem vor ihnen aufsteigenden Rhatore deutend.

Tarvin hatte bis auf einen gewissen Grad seine anfängliche Verachtung für Rhatore und Gokral Sitarun überwunden. Es lag in seiner Natur, den Ort, wo er lebte, und die Menschen, mit denen er lebte, gütig zu beurteilen, und diese Anlage machte sich auch in Indien geltend.

»Topaz wird in kurzem größeren Umfang haben als Rhatore,« erwiderte er.

»Und wenn Sie dort sind, was ist dann Ihre Würde?« fragte der Maharadscha.

Ohne zu antworten, zog Tarvin Frau Mutries Telegramm aus der Tasche und reichte es dem König. Wo es seine Wahl galt, war ihm auch die Teilnahme eines opiumsaugenden Radschputen nicht gleichgültig.

»Was bedeutet das?« fragte der König so verständnislos, daß Tarvin verzweifelt mit den Händen herumfuchtelte.

Er erklärte nun seine Beziehungen zum Staatswesen, wobei die Legislatur von Colorado zu einem amerikanischen Parlament anwuchs. Wenn der König ihm durchaus seinen vollen Titel geben wolle, bekenne er sich zum »Ehrenwerten« Nikolas Tarvin.

»Das ist so etwas wie die Mitglieder des Provinzialrats, die von Zeit zu Zeit hierher kommen?« meinte der Maharadscha, an die grauköpfigen Herren denkend, die in bestimmten Zeiträumen bei ihm erschienen, mit einer Machtvollkommenheit ausgerüstet, die der des Vizekönigs nur wenig nachgab.

»Aber Sie werden doch dem ›gesetzgebenden Körper‹ keine Briefe schreiben über meine Regierungsweise?« fragte er argwöhnisch, denn ihm fielen überaus neugierige Abgesandte des britischen Parlaments ein, die wie Mehlsäcke zu Pferd saßen und ihm ohne Unterlaß Regierungsweisheit predigten, wenn er viel lieber zu Bett gegangen wäre. »Und vor allem sind Sie doch,« setzte er langsam hinzu, als man sich jetzt dem Palast näherte, »ein wahrer Freund des Maharadscha Kunwar? Und Ihre Freundin, die Doktordame, wird ihn gesund machen?«

»Zu dem Zweck sind wir ja alle beide hier!« versicherte Tarvin, einer plötzlichen Eingebung gehorchend.