Achtzehntes Kapitel

Am Tage nach seinem Besuche bei Maslinnikoff kehrte Nechludoff ins Gefängnis zurück, um Katuscha wiederzusehen. Der Direktor gestattete ihm, sie zu sehen, aber im Frauensprechzimmer, nicht mehr im Bureau, und auch nicht in dem kleinen Advokatenzimmer, wo die letzte Zusammenkunft stattgefunden hatte.

»Ja, Sie können sie einen Augenblick sehen,« sagte der Direktor, »aber was das Geld betrifft, so werden Sie sich an meine Worte erinnern, nicht wahr? … Was ihre Versetzung zum Krankendienst anbelangt – Se. Excellenz der Vicegouverneur hat mir die Ehre erwiesen, mir darüber zu schreiben, so ist die Sache möglich, und der Arzt willigt ein. Doch sie selbst will es nicht! Sie sagt, »sie habe nicht nötig, den Aussätzigen die Nachttöpfe auszuleeren«. Ach, Fürst, man sieht, Sie kennen diese Sorte nicht!«

Nechludoff antwortete nicht und ging nach dem Frauensprechzimmer, Der Direktor gab einem Aufseher den Befehl, die Maslow zu holen. Das Sprechzimmer war leer, als Nechludoff dasselbe betrat; doch kaum befand er sich einige Minuten dort, als sich die Thür öffnete und die Maslow schüchtern und schweigsam auf ihn zutrat. Sie schüttelte ihm die Hand, setzte sich neben ihn und sagte, ohne ihn anzusehen, fast leise:

»Verzeihen Sie mir, Dimitri Iwanowitsch! Ich habe vor drei Tagen recht schlecht zu Ihnen gesprochen!«

»Nicht an mir ist es, zu verzeihen,« begann Nechludoff.

»Aber trotzdem müssen Sie mich verlassen,« fuhr sie fort.

»Weshalb soll ich Sie verlassen?«

»Es muß sein, das ist alles!«

»Wie, das ist alles?«

»Nun denn,« sagte sie endlich; »Sie müssen aufhören, sich um mich zu kümmern; ich sage es Ihnen, wie ich es denke! Ich kann es nicht ertragen! Sie werden aufhören, sich um mich zu kümmern,« fuhr sie mit bebenden Lippen fort. »Das ist die reine Wahrheit! Lieber hänge ich mich auf!«

»Katuscha,« versetzte er in ernstem und festem Tone; »was ich gesagt, erhalte ich aufrecht! Ich bitte dich, verheirate dich doch mit mir! Wenn du dich weigerst, so werde ich doch bei dir bleiben, dir folgen und mit dir gehen, wohin man dich führen wird!«

»Das ist Ihre Sache, ich sage Ihnen nichts weiter,« antwortete sie, und ihre Lippen zitterten von neuem. Auch er schwieg, denn er fühlte nicht mehr die Kraft zum Reden, doch endlich faßte er wieder Mut und sagte:

»Katuscha, ich gehe jetzt aufs Land, um einige Angelegenheiten zu regeln; dann gehe ich nach St. Petersburg, um mich mit deiner Berufung zu beschäftigen, und so Gott will, werde ich deine Verurteilung annullieren lassen.«

»Das ist mir gleich, ob man sie annulliert oder nicht! Ob mir eins passiert oder das andere; das Resultat bleibt stets dasselbe!«

Sie hielt inne, und Nechludoff glaubte zu sehen, daß sie mit Mühe ihre Thränen zurückhielt.

»Nun,« sagte sie nach ziemlich langer Pause, »nun, haben Sie Mentschoff gesprochen? Nicht wahr, die Leute sind unschuldig? Nicht wahr, das ist doch klar? Ich würde die Hand dafür ins Feuer legen!«

»Ja, ich glaube, daß sie unschuldig sind!«

»Wenn Sie wüßten, was für eine wunderbare alte Frau sie ist!«

Er erzählte ihr alles ausführlich, was er über Mentschoff erfahren, und fragte sie dann, ob sie nichts brauche.

– »Nein, absolut nichts!« –

Von neuem trat eine Pause ein, dann fuhr sie fort:

»Ach, und was den Krankendienst betrifft, so werde ich es thun, wenn Sie’s wünschen! Und ich will auch versuchen, keinen Schnaps mehr zu trinken…«

Ohne etwas zu sagen, blickte ihr Nechludoff ins Auge. Er sah, daß ihre Augen lächelten.

»Das ist gut, das ist recht gut!«

Mehr zu sagen, fand er nicht die Kraft.

»Ja, ja, sie kann sich ändern,« dachte er. Nach den Zweifeln der vorhergegangenen Tage empfand er jetzt ein ihm ganz neues Gefühl, das Gefühl des Vertrauens auf die Allmacht der Liebe.

Als die Maslow in den stinkenden Saal zurückkehrte, zog sie ihre Jacke aus und setzte sich, die Hände auf die Kniee stützend, auf ihr Bett.

Der Saal war fast leer; nur die Schwindsüchtige, die Mutter mit dem Säugling, die Eisenbahnwärterin und die alte Mentschoff befanden sich darin. Die Tochter des Kirchendieners hatte man am vorigen Tage als irrsinnig ins Lazarett gebracht. Die übrigen Weiber waren im Waschhause.

Die Alte schlief auf ihrem Bett; die Kinder spielten im Korridor; die Eisenbahnwärterin trat ans die Maslow zu und fragte:

»Na, hast du ihn gesprochen?«

Die Maslow antwortete nicht.

»Nun, nun, weine nur nicht,« fuhr die Eisenbahnwärterin fort; »die Hauptsache ist, nicht den Mut zu verlieren. Also, Mut, Katjuschka, Mut!«

In demselben Augenblick hörte man im Korridor ein lautes Geräusch von Schritten und Stimmen, und die Insassinnen des Saales zeigten sich mit nackten Füßen auf der Schwelle; eine jede trug ein Brot unterm Arm. Fedossja lief zur Maslow und fragte:

»Nun, ist etwas Schlimmes passiert? Wart‘, ich werde dir deinen Thee bereiten!«

»Will er dich nicht mehr heiraten?« fragte die Korablewa.

»Nein, ich will nicht! ich habe ihm erklärt, ich wolle nicht!«

»Ist das eine Gans!« sagte die Korablewa mit ihrer Baßstimme.

»Nein, sie hat ganz recht,« erklärte Fedossja. »Wozu sich verheiraten, wenn man nicht zusammen leben kann?«

»Aber dein Mann geht doch auch mit dir ins Zuchthaus,« sagte die Eisenbahnwärterin.

»Bei meinem Mann ist das etwas anderes. Wir waren verheiratet, als man mich verhaftete; mich band das Gesetz. Aber wozu soll sie sich verheiraten, wenn er doch nicht mit ihr lebt?«

»Schweig, du Närrin! Wozu? Wenn er sie heiratet, würde er sie mit Gold überschütten!«

»Er hat mir gesagt: ›Wohin man dich auch schickt, ich gehe mit dir!‹« sagte die Maslow. »Er wird es auch sicher thun. Aber mich kümmert’s wenig, ob er kommt oder nicht! Ich habe ihn jedenfalls nicht darum gebeten. Jetzt reist er nach St. Petersburg und will sich mit meiner Angelegenheit beschäftigen. Er ist dort mit allen Ministern verwandt! Aber trotzdem brauche ich ihn nicht! Es wäre besser, er ließe mich in Ruhe!«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte,« sagte die Korablewa in zerstreutem Tone. »Na, und wie ist es jetzt mit’n bißchen Schnaps?«

»Nein, ich danke,« versetzte die Maslow, »Aber trinkt ihr nur; ich werde ihn bezahlen!«

Erstes Kapitel

Als Nechludoff erfahren, die Berufung der Maslow würde wahrscheinlich in vierzehn Tagen vor den Senat gelangen, hatte er den Entschluß gefaßt, nach St. Petersburg zu fahren, um dort die nötigen Schritte zu thun, und auch, im Falle die Berufung verworfen werden sollte, das Gnadengesuch vorzulegen, wie es ihm der Advokat geraten hatte. Da Nechludoff noch immer auf seiner Absicht beharrte, ihr überallhin, selbst nach Sibirien zu folgen, so war er entschlossen, diese vierzehntägige Wartezeit zu benutzen, um seine verschiedenen Besitzungen eine nach der andern zu besuchen und ein für allemal Ordnung in seine Angelegenheiten zu bringen. Zuerst begab er sich nach Kuzminskoja. Das war von allen seinen Besitzungen die nächste und auch die bedeutendste, die ihm das größte Einkommen brachte. Hier hatte er in seiner Jugend gelebt und war später zu wiederholten Malen hierher zurückgekehrt.

Gegen Mittag kam er nach Kuzminskoja. Seine allgemeine Lebensauffassung hatte sich so sehr vereinfacht, daß er nicht einmal daran gedacht hatte, seinem Verwalter, einem Deutschen, zu telegraphieren, um ihm seinen Besuch anzukündigen. Als er aus dem Waggon stieg, hatte er einen Wagen genommen, um sich nach seiner Besitzung fahren zu lassen. Der Kutscher, ein junger Bauer, sprach frei von der Leber weg über den Verwalter von Kuzminskoja, ohne zu ahnen, daß er mit dem Gutsherrn zu thun hatte.

»Er pflegt sich gut, dieser verschlagene Deutsche!« sagte er, sich auf seinem Bocke umdrehend. »Er hat sich eine Troika mit prächtigen Pferden geleistet und fährt mit seiner Alten spazieren, wo es ihm gut dünkt! Im Winter hatte er zu Weihnachten einen schönen, aufgeputzten Baum, wie man im ganzen Gouvernement keinen zweiten findet. Ach, er hat Geld zusammengescharrt, der Kerl! Und warum auch nicht? Er kann ja alles thun! Man sagt, er habe sich eine Besitzung gekauft!«

Nechludoff war es gleichgültig, wie sein Verwalter sein Gut leitete; aber trotzdem machte, die Erzählung des Kutschers einen peinlichen Eindruck auf ihn, der erst verschwand, als er in Kuzminskoja ankam und sich mit der Regelung seiner Angelegenheiten zu befassen begann. Die Prüfung der Gutsregister und die Erklärungen eines Angestellten, der ihm naiverweise die Vorteile auseinandersetzte, die sich für die Besitzung daraus ergeben würden, wenn die Bauern sehr wenig eigenes Land besäßen, das alles bestärkte ihn in seinem Entschlusse, auf die Ausbeutung des Gutes für eigene Rechnung zu verzichten, und sein ganzes Land den Bauern abzutreten. Die Prüfung der Register und die Erklärungen des Kommis bewiesen ihm tatsächlich, daß genau so wie früher zwei Drittel seiner Felder von seinen Ackerknechten mit vorzüglichen Apparaten bebaut wurden, während ein Drittel die Bauern bewirtschafteten, denen man für den Morgen fünf Rubel gab. Mit anderen, Worten, gegen Bezahlung von fünf Rubeln verpflichtete sich der Bauer, einen Acker Land zu bebauen, zu säen, zu mähen, d, h. eine Arbeit zu verrichten, für die ein Ackerknecht wenigstens zehn Rubel pro Morgen verlangte. Außerdem ließ man die Bauern alles, was ihnen das Bureau lieferte, zu einem sehr teuren Preise bezahlen.

Das alles war nichts Neues für Nechludoff; aber es erschien ihm neu, und er wunderte sich, daß er so lange nicht verstanden hatte, wie unnatürlich ein solcher Zustand war. Deshalb bat er den Verwalter, schon am nächsten Morgen die Bauern von Kuzminskoja und den umliegenden Dörfern zusammenzuberufen, damit er ihnen selbst von seinem Entschlusse Mitteilung machen und sich über den Pachtzins mit ihnen verständigen konnte.

Entzückt von der Energie, mit der er den Beweisgründen des Verwalters widerstanden, verließ Nechludoff das Bureau und ging in der Nähe des Hauses spazieren. So vergingen die letzten Stunden des Tages. Als er den Plan der Rede entworfen, die er am Morgen an die Bauern halten wollte, kehrte er ins Haus zurück, nahm den Thee mit dem Verwalter ein und ging dann vollkommen ruhig, zufrieden und auf sich selbst stolz, für die Nacht in das Schlafzimmer hinauf, das man für ihn bestimmt hatte, und das stets für Logierbesuch bereit gehalten wurde.

Um den heftig auf ihn einstürmenden Gedanken zu entgehen, legte er sich in die frischen Betten und versuchte zu schlafen, indem er sich sagte, am nächsten Morgen würde er ruhigen Kopfes all die Probleme lösen, aus denen er jetzt keinen Ausweg fand. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Durch die halbgeöffneten Fenster drang mit der scharfen Nachtluft und den Strahlen des Mondes, das Quaken der Frösche zu ihm, in das sich im fernen Park der klagende Gesang der Nachtigall mischte; eine Nachtigall sang sogar ganz in seiner Nähe unter seinen Fenstern in einem Hollunderbusch. Der Gesang dieses Vogels lenkte seine Gedanken auf die Musik der Tochter des Direktors, und er dachte an den Direktor selbst und an die Maslow. Er sah wieder, wie ihre Lippen zitterten, während sie zu ihm sagte: »Sie müssen mich verlassen!« Plötzlich hatte er die Empfindung, der Deutsche, sein Verwalter, fiele in den Froschteich. Er fühlte, er hätte die Pflicht, ihn herauszufischen; doch statt dessen war er plötzlich die Maslow geworden und rief: »Ich bin eine Zuchthäuslerin, und du bist ein Fürst!«

Er schüttelte sich, erhob den Kopf und fragte sich: »Ist das, was ich thue, gut oder schlecht? Ah bah, das werde ich morgen früh erfahren!«

Dann schlief er endlich ein.

Am nächsten Morgen erwachte Nechludoff erst um neun Uhr.

Der junge Kommis brachte ihm seine Stiefel, stellte einen Krug frischen und klaren Quellwassers neben sein Bett und teilte ihm mit, daß die Bauern sich bereits versammelten. Nechludoff sprang aus dem Bett, und die Ereignisse des vorigen Tages kamen ihm wieder in den Sinn. Während er sich ankleidete, freute er sich der Handlung, die er vollführen wollte, und in seine Freude mischte sich unwillkürlich ein gewisser Stolz. Das Wetter hatte sich in der Nacht verändert, ein leiser, feiner und warmer Regen fiel seit dem Morgen und heftete seine Tropfen an die Blätter und Gräser. Nechludoff sah, wie sich die Bauern auf dem Rasen versammelten. Einer nach dem andern kamen sie, grüßten sich, stellten sich im Kreise auf und plauderten, sich auf ihre Stücke stützend.

Der Verwalter, ein dicker, vierschrötiger Mann, der einen kurzen Rock mit grünem Kragen und ungeheuren Knöpfen trug, trat in das Zimmer. Er sagte zu Nechludoff, es wären alle versammelt, doch man könne noch warten. Dann fragte er ihn, was er zum Frühstück lieber nehmen wolle, Kaffee oder Thee.

»Nein, ich danke, wir wollen lieber das Geschäft in Ordnung bringen,« versetzte Nechludoff. Er empfand ein ihm noch ungewohnteres Gefühl, als am vorigen Abend, ein Gemisch der Schüchternheit und Scham, wenn er an seine Unterredung mit den Bauern dachte.

Er schickte sich an, den innigsten Wunsch der Bauern zu erfüllen, einen Wunsch, dessen Verwirklichung sie nicht einmal zu träumen wagten. Er wollte ihnen alle Aecker des Dorfes zu niedrigen Preisen überlassen und ihnen diese kostbare Wohlthat anbieten. Trotzdem verspürte er, ohne daß er recht wußte, warum, eine gewisse Verlegenheit. Als er sich den Bauern genähert hatte und sah, wie sie alle vor ihm die Mützen abrissen, und ihre blonden, schwarzen, grauen, lockigen und kahlen Köpfe entblößten, wurde seine Verwirrung so groß, daß er längere Zeit nicht sprechen konnte. Das peinliche Schweigen wurde endlich von dem Verwalter unterbrochen, der zu den Bauern sagte:

»Hört, der Fürst will euch Gutes thun, er will euch die Aecker abtreten, obwohl ihr es nicht verdient,«

»Wie sollten wir es nicht verdienen, Basil Karlitsch? arbeiten wir nicht für dich?« versetzte ein kleiner rothaariger Bauer. »Wir waren mit der seligen Fürstin sehr zufrieden – der Herr schenke ihr die ewige Ruhe – und der junge Fürst hat, wie wir sehen, die Gnade, uns auch nicht zu verlassen.«

»Wir haben hohe Achtung vor der Herrschaft, aber das Leben ist hart,« versetzte ein anderer Bauer, ein Mann mit dickem Gesicht und langem Bart.

»Ich habe euch zusammenberufen, um euch mitzuteilen, daß ich euch, wenn ihr wollt, alle meine Aecker abtrete,« erklärte Nechludoff.

Die Bauern blieben stumm, als ob sie die Worte des »Barin« nicht verstanden hätten, bis sich einer von ihnen endlich zu der Frage erkühnte:

»Und in welcher Weise wollen Sie uns, bitte, die Aecker abtreten?«

»Ich möchte sie euch vermieten, damit ihr sie billig bekommt und daraus Nutzen ziehen könnt.«

»Ein gutes Geschäft!« sagte ein alter Mann.

»Wenn wir den Preis nur erschwingen können,« meinte ein anderer.

»Das ist leicht gesagt, aber zum Bezahlen braucht man Geld,« ließ sich eine andere Stimme vernehmen.

»Das ist eure Schuld, wenn ihr keins habt,« erklärte der Deutsche. »Ihr braucht nur zu arbeiten und euer Geld zu behalten.«

»Sie haben leicht reden, aber wir können nicht mehr thun, als wir thun.«

So ging ein unerwarteter und unnützer Schwall von Worten weiter, wobei jeder ohne Zweck und selbst ohne zu wissen, warum, sprach. Nechludoff versuchte ungeduldig die Unterredung auf den Gegenstand zurückzuführen, den er auf dem Herzen hatte, und fragte:

»Nun, was beschließt ihr hinsichtlich der Überlassung meiner Aecker, willigt ihr ein? und welchen Pachtpreis bietet ihr mir?«

»Sie sind der Händler, Sie müssen den Preis festsetzen.«

Nechludoff setzte einen Preis fest, der weit geringer war, als der, den man gewöhnlich zahlte; doch die Bauern fingen natürlich trotzdem zu feilschen an und fanden ihn zu hoch. Nechludoff hatte erwartet, sein Vorschlag würde mit Begeisterung aufgenommen werden, doch er hatte sich geirrt und von der Freude der Bauern war, wenn sie überhaupt vorhanden war, nichts zu merken. Endlich wurde mit Hilfe des Verwalters ein Preis festgesetzt, man kam über die Zahlungstermine überein, die Bauern zerstreuten sich unter lautem Geschrei und heftigen Bewegungen, und Nechludoff ging wieder ins Bureau, um den Pachtvertrag aufzusetzen. Am nächsten Morgen, als er alles mit dem Verwalter erledigt, fuhr er wieder nach dem Bahnhof. Die Bauern, denen er begegnete, zankten und stritten sich noch immer und schüttelten mit unzufriedener Miene den Kopf. Und auch er war mit sich selbst unzufrieden, ohne zu wissen, warum; unwillkürlich fühlte er sich traurig und schämte sich ein wenig.

Von Kuzminskoja begab sich Nechludoff nach der Besitzung, die er von seinen Tanten geerbt, und auf der er einst Katuscha kennen gelernt. Auch hier wollte er sich, wie in Kuzminskoja, mit den Bauern wegen Ueberlassung seiner Aecker verständigen und sich gleichzeitig möglichst genau nach Katuscha und ihrem Kinde erkundigen. War das letztere wirklich tot, oder hatte seine Mutter es nur im Stiche gelassen?

Er kam ziemlich früh in das Dorf, in welchem die Besitzung lag, und war zuerst, als er in den Hof trat, von dem Verfall aller Gebäude heftig betroffen. Nur der Garten war nicht nur nicht verfallen, sondern hatte sich frei und ungehindert entwickelt, alles stand in voller Blüte.

Der Inspektor, ein durchgefallener Seminarist, kam Nechludoff lächelnd entgegen; lächelnd forderte er ihn zum Eintritt auf, und lächelnd ließ er ihn im Bureau Platz nehmen, gerade, als wenn er durch sein Lächeln irgend etwas Besonderes ausdrücken wollte.

»Um wieviel Uhr befehlen Sie das Mittagessen?« fragte er den Gutsherrn lächelnd.

»Wann Sie wollen; ich habe keinen Hunger; jetzt will ich einen Rundgang durch das Dorf machen.«

»Möchten Sie nicht zunächst in mein Haus treten? es ist alles in Ordnung. Nicht wahr, Sie entschuldigen, wenn draußen …«

»Jetzt nicht, später! Aber sagen Sie mir, wissen Sie, ob hier eine Frau Namens Matrena Tscharina wohnt?«

So hieß Katuschas Tante, bei der sie niedergekommen war.

»Die Tscharina? ja, gewiß, die wohnt hier im Dorfe. Ach, was die mir für Sorgen macht! Sie besitzt nämlich die Dorfschenke. Ich schelte sie aus, und drohe ihr, sie fortzuschicken, wenn sie nicht bezahlt, aber im letzten Augenblick geht es doch über meine Kräfte, und ich habe Mitleid mit ihr. Die arme Alte! Dann hat sie auch Kinder bei sich,« fügte der Inspektor lächelnd hinzu.

»Und wo wohnt sie? ich möchte sie aufsuchen!«

»Am Ende des Dorfes, auf der andern Seite das drittletzte Haus. Zur linken Seite erblicken Sie ein Ziegelhaus, und gleich darauf kommt ihre Kneipe. Uebrigens werde ich Sie hinführen, wenn Sie wollen.«

»Nein, ich danke, ich werde schon finden. Inzwischen möchte ich Sie bitten, die Bauern vor dem Hause zusammenzurufen, weil ich mich mit ihnen wegen der Aecker zu verständigen habe.«

Der Tag war klar und warm, sogar zu warm für die Jahreszeit; die Wolken häuften sich zusammen und bedeckten zeitweise die Sonne. Die lange ansteigende Straße, die das Dorf bildete, war vollständig mit einem scharfen, beißenden, aber nicht unangenehmen Düngergeruch angefüllt, der gleichzeitig von den Wagen aufstieg, die die Straße entlang fuhren und außerdem den Misthaufen entströmten, die in den Höfen lagerten, deren Thüren weit offen standen. Die Bauern, die mit nackten Füßen und Mistflecken auf ihren Hemden und Hosen hinter den Wagen herschritten, betrachteten neugierigen Blickes den großen und kräftigen »Barin« in seinem mit Seide gefütterten grauen Tuchanzug, wie er mit seinem schönen Stock mit dem silbernen Knopf im Dorfe spazieren ging. Die Weiber verließen ihre Häuser, um ihm nachzusehen, folgten ihm mit den Augen, und eine zeigte ihn der andern. Vor einer der Thüren wurde Nechludoff beim Vorübergehen von einem großen Wagen aufgehalten, der, bis oben mit Dünger beladen, aus einem Hofe fuhr. Ein junger Bauer war damit beschäftigt, die Pferde auf die Straße zu ziehen. Ein graublaues Füllen passierte bereits das Thor, als es vor Nechludoff erschrak und sich wieder an seine Mutter drängte, die eine unruhige Bewegung machte und einen Augenblick wieherte. Das alles geschah unter den Augen eines alten, mageren und trockenen Bauern, der ebenfalls barfüßig war und eine gestreifte Hose und eine blaue Blouse trug.

Als sich der Wagen endlich auf der Straße befand, trat der Greis vor die Thür und verneigte sich vor Nechludoff.

»Sie sind wohl der Verwandte unserer beiden seligen Fräuleins?«

»Ja, ganz recht!« »Seien Sie willkommen,« fuhr der Bauer fort, der gern plauderte.

»Na, und wie lebt Ihr?« fragte Nechludoff, der nicht wußte, was er sagen sollte.

»Wie wir leben? ach, unser Leben ist leider recht elend,« entgegnete der Alte.

»Elend? weshalb?« fragte Nechludoff, sich der Thür nähernd.

»Ach, es ist ein trauriges Leben!«

Während des Sprechens drängte der Greis Nechludoff in das Innere des Hofes zurück.

»Siehst du, ich habe in meinem Hause zwölf Personen,« fuhr er fort und deutete mit dem Finger auf zwei Weiber, die mit aufgekrempelten Aermeln, die Röcke bis über die Kniee aufgeschürzt, mit Mistgabeln in der Hand, auf dem Rest des Düngerhaufens standen.

»Alle Monate muß ich sechs Pfund Mehl kaufen, und wo sie hernehmen?«

»Hast du denn kein eigenes Mehl?«

»Eigenes Mehl?« rief der Greis mit verächtlichem Lächeln. »Was ich an Land habe, genügt gerade für drei Personen; zu Weihnachten ist der ganze Vorrat erschöpft.«

»Aber was fangt Ihr denn dann an?«

»Man muß sich eben einrichten. Einer meiner Söhne ist im Dienst, und dann leihen wir auch bei Ew. Exzellenz. Wenn man wenigstens die Abgaben bezahlen könnte!«

»Wieviel betragen die Abgaben?«

»Siebzehn Rubel, nur für uns allein!«

»Könnte ich vielleicht in dein Haus eintreten?« fragte Nechludoff, indem er weiter auf dem Hofe vorschritt.

»Aber gewiß,« versetzte der Greis, ging Nechludoff mit seinen nackten Füßen schnell voran und öffnete ihm die Hausthür, während die Weiber mit einer gewissen Furcht diesen eleganten, saubern Herrn mit seinen goldenen Manschettenknöpfen betrachteten, der Miene machte, ihr Haus zu betreten.

Nechludoff durchschritt einen kleinen Gang und kam in die enge und dunkle Isba. Dort stand am Ofen ein altes Weib, deren aufgekrempte Aermel die mageren Arme und schwarzen Hände mit den hervortretenden Adern sehen ließen.

»Das ist unser »Barin«, der uns einen Besuch abstatten will,« sagte der Alte zu ihr.

»Meinen tiefsten Gruß,« versetzte die Alte, sich verneigend.

»Ich wollte einmal ein bißchen sehen, wie ihr lebt,« sagte Nechludoff.

»Das kannst du ja sehen, wie wir leben,« entgegnete keck die alte Frau und schüttelte mit bezeichnender Miene den Kopf. »Die Isba ist dem Einsturze nahe und wird sicherlich einen totschlagen, doch der Alte findet es gut so. Du siehst, ich bin gerade dabei, das Essen zu bereiten, ich ernähre das ganze Haus.«

»Na, und was habt Ihr heute zum Essen?«

»Was wir zum Essen haben? Erster Gang: Kwaß und Brot, zweiter Gang: Brot und Kwaß.«

Dabei fing die Alte laut an zu lachen und riß ihren großen zahnlosen Mund weit auf.

»Nein, nein, ohne Scherz, zeigt mir, was Ihr heute zum Essen habt.«

»Na, Mutter,« sagte der Alte, »zeige es ihm doch.«

Seine Frau schüttelte von neuem den Kopf.

»Haha, du bist aber ein merkwürdiger »Barin«; so einen wie du habe ich noch nie gesehen. Alles will er wissen. Na, wir haben Brot und Kwaß, und dann noch Kohlsuppe und Kartoffeln.«

»Ist das alles?«

»Na, was soll denn noch sein?« versetzte die Alte mit pfiffigem Lächeln.

Durch die offen gebliebene Thür sah Nechludoff, daß der ganze Korridor mit Leuten angefüllt war. Da standen Kinder, junge Mädchen, Weiber mit Säuglingen auf den Armen, und diese ganze Schar drängte sich vor die Thür und betrachtete den seltsamen Gutsherrn, der sich nach der Nahrung von Muschiks erkundigte.

»Ja, unser Leben ist recht traurig; das kann man wohl sagen,« fuhr der Alte fort. »Na, hört mal, was wollt Ihr denn hier?« rief er, sich den Neugierigen zuwendend, die Miene machten, einzutreten.

»Na, jetzt Adieu, ich danke Euch,« sagte Nechludoff, der ein Gemisch von Unbehagen und Scham empfand.

»Herzlichen Dank, daß Sie uns besucht haben,« versetzte der Alte.

Im Korridor trat die Menge schnell vor Nechludoff zur Seite und ließ ihn mit aufgesperrten Mäulern vorüber. Doch auf der Straße bemerkte er zwei barfüßige kleine Jungen, die hinter ihm herliefen. Der eine, der ältere, trug ein schmutziges Hemd. Nechludoff wandte sich nach ihnen um, und der Kleine mit dem weißen Hemd fragte ihn:

»Wo gehst du denn jetzt hin?«

»Ich gehe zu Matrena Tscharina,« antwortete Nechludoff; »kennt ihr sie?«

Der kleinste der beiden Jungen fing an zu lachen, doch der andere erwiderte sehr ernsthaft:

»Was für eine Matrena; ist sie alt?«

»Ja, eine Alte!«

»Dann wird es sicher die Semenitscha sein. Das ist am andern Ende des Dorfes, wir werden dich hinführen, nicht wahr, Fedka, wir werden ihn hinführen?«

»Und die Pferde?«

»Ah bah, das thut nichts!«

Fedka willigte ein, und alle drei gingen die lange Dorfstraße hinauf.

Nechludoff fühlte sich sehr behaglich bei den beiden Jungen, die ihn übrigens den ganzen Weg mit ihrem Geschwätz erheiterten. Der kleinere, das Kind im rosa Hemde, lachte nicht mehr und sprach ebenso ernst und verständig, wie sein Gefährte.

»Na, wer ist denn der Aermste im Dorfe?« fragte Nechludoff.

»Wer Aermste? Michael ist arm, und Semen Makaroff ist arm, aber Martha ist doch noch ärmer.«

»Aber Anissja ist doch noch ärmer; Anissja hat nicht einmal eine Kuh, sie bettelt.«

»Das ist wahr, daß sie keine Kuh hat, aber bei ihr sind nur drei, und bei Martha sind fünf.«

»Ja, aber Anissja ist Witwe!«

»Du sagst, Anissja ist Witwe; aber Martha ist doch eben so gut wie Witwe, sie hat doch auch keinen Mann.«

»Wo ist denn ihr Mann?« fragte Nechludoff.

»Der pflegt seine Läuse im Gefängnis,« versetzte das ältere Kind.

»Im vorigen Jahr,« unterbrach der Kleine, »hat er zwei Birken gefällt, da haben sie ihn ins Gefängnis gesteckt. Seit sechs Monaten sitzt er nun, sie hat drei Kinder, und die ernährt die Mutter.«

»Und wo wohnt sie?«

»Das ist gerade ihr Haus,« sagte der Bursche und zeigte mit dem Finger auf ein Haus, vor welchem ein ganz kleiner Junge mit weißem Kopfe auf krummen Beinen mühselig auf- und abging.

»Wanja, du Taugenichts, willst du wohl schnell hereinkommen?« rief vom Hause her eine noch junge Frau, die einen so schmutzigen Rock und ein eben solches Hemd trug, daß man hätte glauben können, beides wäre mit Asche überschüttet. Sie stürzte ängstlich nach der Straße, ergriff ihr Kind und trug es ins Haus.

»Na, und Matrena? ist die auch arm?« fragte Nechludoff.

»Wie soll die denn arm sein? die verkauft ja Schnaps,« versetzte der kleine Junge in dem rosa Hemd in entschiedenem Tone.

Vor Matrenas Thür nahm Nechludoff von seinen beiden Begleitern Abschied. Das Haus der alten Frau war klein, und enthielt nur ein einziges Zimmer. Als Nechludoff eintrat, war Matrena eben im Begriff, mit Hilfe ihrer ältesten Enkelin alles in Ordnung zu bringen. Zwei andere Kinder kamen, als sie den Fremden bemerkten, aus dem Winkel hervor und stellten sich vor die Thür.

»›Was wollen Sie?« fragte das alte Weib mit scharfer Stimme.

»Ich bin … aus der Stadt und habe … mit Ihnen zu sprechen.«

Ohne zu antworten, betrachtete ihn die Alte mit ihren kleinen Augen. Plötzlich aber veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.

»Ach, du bist’s, mein Lämmchen! Und ich, altes Tier, erkannte dich nicht und sagte mir, das ist sicher ein Wanderer, der mich um etwas bitten will! Verzeihung, im Namen Christi!«

Sie sprach mit einschmeichelnder Flötenstimme.

»Könnte ich nicht ein paar Worte mit Ihnen allein sprechen?« fragte Nechludoff und deutete mit den Augen auf die offen gebliebene Thür, in der die Kinder standen, und in der eben ein mageres junges Weib erschienen war, das auf ihren Armen ein in alte Lumpen gekleidetes Kind von wahrhaft furchtbarem Aussehen trug.

»Was habt ihr hier zu glotzen? Wartet, ich werde gleich meinen Stock holen!« rief Matrena, sich zur Thür wendend. »Verschwindet schleunigst und macht die Thür zu!«

Die drei Kinder entflohen. Auch die junge Frau entfernte sich und schloß die Thür.

»Und ich fragte mich, wer da wäre! Es war mein junger »Barin« selbst, mein Goldvogel, mein Juwel! Setz‘ dich, Exzellenz, setz‘ dich da auf die Bank,« fuhr sie fort, nachdem sie die bezeichnete Bank sorgfältig abgewischt. »Und ich dachte, der Teufel wolle mich quälen, und nun ist es mein »Barin«, mein Wohlthäter, mein Ernährer! Verzeihe mir, das Alter macht mich blind!«

Nechludoff setzte sich, während die Alte vor ihm stehen blieb und mit ihrer flötenden Stimme fortfuhr:

»Die Jahre vergehen, Exzellenz! Aber schön warst du und bist noch schöner geworden!«

»Also! ich wollte Sie um eine Auskunft bitten. Sie erinnern sich noch der Katuscha?«

»Der Katharina, die im Schloß war? Wie sollte ich mich ihrer nicht erinnern? Sie war ja meine Nichte! Ach, über die habe ich viele Thränen vergossen! Ich weiß ja alles, was vorgefallen ist! He, Väterchen, wer hat denn nicht gegen Gott und den Zaren gesündigt? Die Jugend ist an allem schuld! Und andere hätten sie an deiner Stelle verlassen, während du sie noch beschenkt hast! Hundert Rubel hast du ihr gegeben! Ach! hätte sie auf mich gehört, dann wäre sie glücklich! Man hat sie fortgeschickt, und auf einer andern Stelle, die sie nachher bei einem Förster hatte, hat sie auch nicht bleiben wollen.«

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie von ihrem Kinde etwas gehört haben?«

»Ob ich davon etwas gehört habe? Aber es ist ja hier geboren! Es war ein schöner, kleiner Junge! Aber quengelig! Keinen Augenblick ließ er seine Mutter in Ruhe! Da habe ich ihn denn taufen lassen, wie es recht ist, und ihn in ein Asyl geschickt. Was wäre wohl aus dem kleinen Engel geworden, wenn die Mutter gestorben wäre? Andere handeln anders; sie behalten das Kind, nähren es nicht, und Gott nimmt es wieder zu sich. Ich aber habe mir gesagt, nein, es ist besser, wenn er lebt!«

»Und wissen Sie, unter welcher Nummer er eingetragen worden ist?«

»Ja, eine Nummer war auch dabei. Doch der kleine Engel ist gleich gestorben, als er hinkam. Sie hat es mir gesagt: ›Ich war kaum ins Asyl gekommen, da starb er!‹«

»Was für ein ›sie‹?«

»Na, die Frau, die das Kind fortgebracht hat. Sie wohnte in Skorodno. Es war eine Frau, die allerlei solche Besorgungen machte. Sie hieß Melanja und ist jetzt tot. Wenn man ihr ein Kind brachte, dann behielt sie es bei sich, anstatt es gleich ins Asyl zu bringen. Dann nährte sie es, und wenn man ihr ein anderes brachte, behielt sie es auch. Sie wartete, bis sie drei oder vier zusammen hatte und brachte sie dann zusammen ins Asyl. Doch Katharinas Kind hat sie nicht länger als acht Tage behalten.«

»Und wie sah es aus? War es ein schönes Kind?« fragte Nechludoff mit zitternder Stimme.

»O, ein zu schönes Kind! es konnte nicht leben. Es war ganz dein Ebenbild,« fügte die Alte augenblinzelnd hinzu.

»Und woran ist es gestorben? Jedenfalls hat man es schlecht genährt?«

»He, Väterchen, wie hätte man’s denn gut nähren sollen? Aber sie hat den Totenschein mitgebracht! ’s ist alles in Ordnung!«

Das war alles, was Nechludoff über sein Kind erfahren konnte.

Als Nechludoff der alten Matrena Lebewohl gesagt und sie verließ, bemerkte er die beiden Jungen, die auf ihn warteten. Andere Kinder hatten sich ihnen angeschlossen, und auch einige Weiber, unter denen er das unglückliche Geschöpf bemerkte, das den kleinen, blassen, in Lumpen gekleideten Jungen auf dem Arme trug.

Nechludoff fragte, wer dieses Weib wäre.

»Das ist die Anissja, von der ich dir erzählt habe,« sagte einer der Jungen. »Ich habe sie geholt, damit du sie dir ansiehst!«

Nechludoff wandte sich zu Anissja.

»Wie lebt Ihr und wovon?« fragte er.

»Wovon ich lebe? Von dem, was man mir giebt!« versetzte Anissja und begann zu weinen.

Nechludoff zog seine Brieftasche heraus und gab der armen Mutter zehn Rubel. Er war noch keine zehn Schritt gegangen, als ihn ein anderes Weib mit einem Kind an der Brust ansprach, dann eine alte Frau, und dann wieder eine.

Alle sprachen von ihrem Elend und baten um eine Unterstützung. Nechludoff verteilte fünfzig Rubel, die er bei sich hatte, unter sie, und kehrte mit einem Gefühl tiefer Traurigkeit in das Bureau des Verwalters zurück. Dieser kam ihm mit seinem ewigen Lächeln entgegen und teilte ihm mit, die Bauern würden sich gegen Abend versammeln. Nechludoff ging inzwischen im Garten auf den Fußwegen spazieren, die das Gras überwuchert hatte und die die weißen und roten Blüten der Apfelbäume bedeckten. Er ging auf und nieder, und immer wieder trat ihm die Erinnerung an das Geschehene vor’s Auge. Traurig dachte er bei sich: »Diese Unglücklichen kommen um, weil sie kein Land haben, das sie ernähren kann; weil ihnen die Erde fehlt, die sie selbst für andere bebauen, damit andere den Ertrag ins Ausland verkaufen und sich dafür Pelze, Stöcke, Kaleschen, Bronzen u. s. w. kaufen. Und wir, die Urheber dieses Uebels, betrachten das als natürlich und notwendig; in unsern Universitäten, unsern Verwaltungen, unsern Zeitungen streiten wir über die Ursachen des Bauernelends und die verschiedenen Mittel zur Abhilfe, lassen aber die einzige Ursache dieses Elends bestehen, ohne sie auch nur zu erwähnen, und berauben die Bauern weiter der Erde, deren sie doch so sehr bedürfen.«

Was alles war Nechludoff jetzt so klar, daß er sich immer mehr wunderte, es so lange Zeit nicht begriffen zu haben. Er erkannte mit vollkommener Klarheit, daß das einzige Mittel gegen das Elend der Bauern darin bestand, ihnen die Erde wiederzugeben, damit sie sich davon ernähren konnten. Er begriff, daß besonders die Kinder starben, weil es ihnen an Milch fehlte, und zwar fehlte es ihnen an Milch, weil ihre Eltern keine Wiesen hatten, auf denen sie ihre Kühe konnten weiden lassen.

Und Nechludoff faßte sogleich den Entschluß, den Bauern seine Aecker zu verpachten, aber derart, daß der von ihnen zu zahlende Pachtzins nicht ihm, sondern ihnen zu gute kommen sollte, damit sie ihre Steuern bezahlen und auch andere allgemein nützliche Ausgaben bestreiten konnten.

Als er in die Wohnung des Inspektors zurückkehrte, teilte ihm dieser mit ganz besonders freundlichem Lächeln mit, das Essen wäre bereit; er fügte hinzu, er fürchte nur, es wäre ein bißchen angebrannt, trotz aller Mühe, die sich seine Frau mit Hilfe eines jungen Mädchens, das ihr die Wirtschaft befolgte, mit der Zubereitung gegeben.

Nach dem Essen nötigte Nechludoff den Inspektor, sich an den Tisch zu setzen. Er empfand das Bedürfnis, zu sprechen, und jemandem, gleichviel wem, die großen Gedanken mitzuteilen, die sein Herz bewegten. Er setzte dem Inspektor seinen Plan auseinander, seine Güter den Bauern abzutreten, und fragte ihn dann, was er davon denke. Der Inspektor lächelte, als wenn er das alles schon lange dächte, und sich freue, daß man diesen Gedanken aussprach; dabei hatte er aber eigentlich gar nicht verstanden; trotzdem antwortete er:

»Das ist ausgezeichnet! – Sie wollen also Ihre Aecker verpachten und die Rente erheben?«

»Aber nein! Verstehen Sie doch recht! Ich will ihnen meine Aecker vollständig schenken!«

»Dann« – rief der Inspektor und hörte zu lachen auf; »dann erheben Sie also keine Rente?«

»Nein, ich verzichte darauf!«

Der Inspektor stieß einen leisen Seufzer aus, fing aber gleich darauf wieder zu lächeln an. Jetzt hatte er verstanden. Er hatte erkannt, daß Nechludoff ein bißchen verrückt war; sein Projekt war in seinen Augen eine Excentricität, über die er sich nicht einmal mehr wunderte; er dachte nur darüber nach, welchen Nutzen er selbst daraus ziehen könnte. Doch als er kurz darauf merkte, Nechludoffs Absicht könne ihm persönlich nichts nützen, fühlte er sich wieder unangenehm berührt, fuhr aber, um Nechludoff, der sein Herr war, gefällig zu sein, zu lächeln fort.

Als Nechludoff sah, daß der Inspektor ihn doch nicht verstand, ging er in das Bureau und schrieb auf einem alten Tisch den Entwurf seines Projektes nieder.

Inzwischen war die Sonne untergegangen, während der Mond aufging. Schnell schrieb er seinen Plan zu Ende, rief den Inspektor und erklärte ihm, er wünsche nicht, daß die Bauern ins Bureau kämen; er wolle lieber im Dorfe an dem und dem Orte, den sie bestimmen sollten, mit ihnen sprechen; darauf goß er schnell das Glas Thee hinunter, das der Inspektor ihm auftrug, und schlug wieder den Weg nach dem Dorfe ein.

Die Bauern, die sich ziemlich zahlreich im Hofe des Starosten versammelt hatten, unterhielten sich geräuschvoll; doch als sie Nechludoff bemerkten, schwiegen sie und nahmen wie die in Kuzminskoja ihre Mützen ab.

Nechludoff teilte ihnen gleich zu Beginn seiner Rede mit, er hätte den Entschluß gefaßt, ihnen seine Aecker abzutreten. Die Bauern hörten stillschweigend zu, ohne daß ihr Gesicht irgend welche Aufregung verriet.

»Ich bin der Ansicht,« fuhr Nechludoff errötend fort, »daß jedermann das Recht hat, aus der Erde Nutzen zu ziehen.«

»Das ist wahr! Das ist vollständig richtig!« riefen mehrere Stimmen.

Nechludoff setzte seine Rede fort, sagte ihnen, der Ertrag der Erde müsse unter alle geteilt werden und schlug ihnen infolgedessen vor, ihnen gegen eine Rente, die sie selbst bestimmen sollten, und die ein zum gemeinschaftlichen Gebrauch bestimmtes Gesellschaftskapital bilden sollte, seine Aecker abzutreten.

Von neuem ließen sich einige zustimmende Rufe vernehmen, doch die ernsthaften Gesichter der Bauern wurden immer finsterer, und ihre zuerst auf den »Barin« gerichteten Blicke hefteten sich auf den Erdboden, als wenn sie sich gefürchtet hätten, Nechludoff zu beschämen, indem sie ihm zeigten, daß sie seine List durchschaut, und daß sich keiner von ihnen dadurch beschwindeln lassen würde.

»Nun, welchen Preis bietet ihr mir für das Land?« fragte Nechludoff zuletzt.

»Wie kämen wir dazu, einen Preis zu bieten? Das ist unmöglich! Das Land gehört ja Ihnen,« riefen Stimmen aus der Menge.

»Aber ich sage euch doch, ihr sollt von diesem Gelde für eure gemeinsamen Bedürfnisse den Genuß haben!«

»Das können wir nicht thun!«

»So begreift doch!« rief der Inspektor, der hinter Nechludoff hergekommen war und eingreifen zu müssen glaubte. »Ihr versteht also nicht, daß der Fürst euch den Vorschlag macht, er wolle euch das Land für Geld verpachten, doch dieses Geld soll euch gehören und ein Kapital bilden, aus dem ihr alle Nutzen zieht!«

»Wir verstehen den Fürsten vollkommen,« sagte ein alter, zahnloser, kleiner Mann mit brummiger Miene. »Das ist ebenso, als wenn das Geld in eine Bank gelegt würde! Aber inzwischen müßten wir am Verfalltag bezahlen! Und das wollen wir nicht! Es wird uns so schwer genug, durchzukommen! Das wäre unser vollkommener Ruin!«

»Er hat recht! Das ist sicher! Wir wollen lieber wie früher bleiben!« riefen unzufriedene, ja sogar zornige Stimmen.

Doch die Unzufriedenheit wuchs noch, als Nechludoff erzählte, er würde im Bureau des Inspektors einen unterzeichneten Vertrag zurücklassen, den auch die Bauern unterzeichnen sollten.

»Unterzeichnen! Warum sollten wir unterzeichnen? Wie wir jetzt arbeiten, so werden wir auch weiter arbeiten! Wozu soll das alles?«

»Wir können darauf nicht eingehen, weil wir mit solchen Geschäften nicht vertraut sind! Die Dinge mögen so bleiben, wie sie sind! Das verlangen wir, nichts weiter!« riefen einzelne Stimmen.

»So lehnt ihr meinen Vorschlag also ab? Ihr wollt nicht, daß ich euch meine Aecker abtrete?« sagte Nechludoff, und wandte sich an einen Bauern mit leuchtendem Gesicht, der einen geflickten Kaftan trug, barfüßig ging und mit militärischer Haltung seine zerrissene Mütze in der Hand hielt.

»Allerdings, Exzellenz!« versetzte der Bauer.

»So habt ihr also genug Land?« fuhr Nechludoff fort.

»Was für Land? Wir haben gar kein Land«, versetzte der frühere Soldat mit erzwungener Liebenswürdigkeit.

»Thut nichts! Ihr werdet euch das, was ich euch gesagt, überlegen!« erklärte Nechludoff bestürzt und wiederholte ihnen seinen Vorschlag noch einmal.

»Es ist alles überlegt! Es wird alles geschehen, wie wir gesagt haben,« versetzte der zahnlose Greis mit brummiger Miene.

»Ich werde bis morgen hier bleiben! Wenn ihr eure Meinung ändert, sagt es mir!«

Die Bauern antworteten kein Wort, und Nechludoff kehrte traurig ins Schloß zurück.

»Sehen Sie, Fürst,« sagte der Inspektor mit seinem freundlichen Lächeln, »nie werden Sie sich mit ihnen verständigen; diese Sorte ist eigensinnig wie die Maulesel. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, wird sie nichts auf der Welt davon abbringen. Und dann haben sie stets vor allem Furcht. Dabei sind sie aber gar nicht dumm! – Es sind einige darunter, die für Muschiks sehr schlau sind, z. B. dieser Alte, der so laut schrie und Ihr Anerbieten am schroffsten zurückwies! Wenn er ins Bureau kommt, und ich ihn zum Thee einlade, begreift er alles und spricht von allem; es ist ein Vergnügen, sich mit ihm zu unterhalten. Doch in der Versammlung – das haben Sie ja jetzt gesehen – wird er ein ganz anderer Mensch; es ist unmöglich, ihm eine Idee begreiflich zu machen.«

»Aber könnte man denn nicht einige von ihnen, die intelligentesten, hierherkommen lassen?« fragte Nechludoff, »ich würde ihnen die Sache genau auseinandersetzen.«

»Ja, das ginge schon!« erwiderte der Inspektor.

»Nun gut, dann lassen Sie sie gefälligst morgen früh kommen!«

»Nichts leichter als das; morgen früh werden sie hier sein!«

Nechludoff verließ das Bureau und begab sich in das Zimmer, das man ihm für die Nacht hergerichtet hatte.

Die Zurückweisung, die ihm von seiten der Bauern zu teil geworden, betrübte ihn nicht mehr. Im Gegenteil, er fühlte sich seltsam ruhig und fröhlich, obwohl die Bauern ihm hier Unzufriedenheit und sogar Feindseligkeit bezeigt hatten, während sie ihm in Kuzminskoja schließlich noch gedankt.

Da er die Luft im Zimmer erstickend fand, so ging er, in der Absicht, sich in den Garten zu begeben, nach dem Hofe; doch er erinnerte sich der schrecklichen Nacht, des beleuchteten Küchenfensters, des Hinterbalkons im Hause, und fühlte nicht den Mut, die Orte wiederzusehen, die zu viel solcher Erinnerungen für ihn aufwiesen. Er setzte sich auf den Vorderbalkon, betrachtete längere Zeit die dunkeln Flecke der Bäume und lauschte auf das Klappern der Mühle und den Gesang eines Vogels, der ganz in der Nähe in einem Busche pfiff.

Ein Sprichwort sagt, daß die Hähne in fröhlichen Nächten frühzeitig krähen, und diese Nacht war für Nechludoff thatsächlich fröhlich; oder vielmehr sie war mehr als fröhlich, sie war voller Glück und Entzücken. Seine Phantasie ließ die einst in diesem wunderbaren Sommer empfundenen Gefühle wieder aufleben, den er jung und unschuldig an demselben Orte verlebt, und er fühlte sich wieder so werden, wie er früher gewesen war. Er fühlte sich wieder so werden, wie er in dem ganzen glücklichen und schönen Teile seines Lebens gewesen war, als er zu 14 Jahren Gott bat, er möge ihm die Wahrheit enthüllen oder wenn er auf dem Schoße seiner Mutter weinte und ihr zuschwor, er wolle immer gut sein und ihr nie wehe thun. Er fühlte sich wieder so werden, wie er es gewesen war, als er mit seinem Freunde Nikolaus Irteneff beschlossen hatte, sich stets auf dem Wege des Guten gegenseitig Beistand zu leisten und ihr ganzes Leben dem Glück der Menschen zu weihen.

Er erinnerte sich dann, wie ihn in Kuzminskoja eine Versuchung angewandelt hatte, und er sich fast nach seinem Haus, seinen Wäldern, seinem Pachthof und seinen Aeckern zurückgesehnt hatte. Er fragte sich, ob er sich im tiefsten Herzen immer noch danach sehnte. Er sehnte sich jetzt nicht nur nicht mehr danach, sondern begriff auch nicht, wie er dazu hatte imstande sein können. Dann sah er das wieder vor sich, was er im Dorfe gesehen, als er zur Matrena kam. Er sah die junge Mutter, der man den Mann ins Gefängnis geworfen, weil er in seinem Walde einen Baum gefällt; er sah die gräßliche Matrena wieder, die ihm sogar gesagt hatte, es wäre die Pflicht der jungen Mädchen ihrer Klasse, ihrer Herrschaft zu Diensten zu sein. Er erinnerte sich, was ihm die Alte über die Art gesagt, wie die Kinder ins Asyl gebracht würden, und wieder erschien das kränkliche Kind vor seinen Augen. Und von diesem Kinde wandten sich seine Gedanken wieder dem Gefängnis, den rasierten Köpfen, den stinkenden Korridoren und den Zellen zu, und er verglich mit all diesem Elend den blöden Luxus seines eigenen Lebens. Nechludoff erinnerte sich, wie er in Kuzminskoja angefangen, über sich und sein Leben nachzudenken, wie er daran gedacht hatte, was er thun würde und was er anfangen sollte. Er hatte sich Fragen vorgelegt, die er nicht lösen konnte, so viel Gründe waren für und wider vorhanden, so verwickelt und schwierig erschien ihm das Leben. Von neuem legte er sich dieselben Fragen vor, und wunderte sich, daß er sie so einfach fand. Sie waren jetzt einfach für ihn, weil er nicht mehr dachte, was ihm passieren würde, und nur noch daran dachte, was er thun müßte. Und merkwürdigerweise, – so viel Mühe es ihm gemacht hatte, zu bestimmen, was er für sich selbst thun müßte, so klar sah er, was er für die andern thun mußte. Er sah klar, er mußte den Bauern seine Aecker geben, weil die Bauern sie brauchten, und er selbst kein Recht hatte, sie zu besitzen. Er sah klar, daß er Katuscha nicht verlassen durfte, sondern ihr im Gegenteil behilflich sein mußte, auf den Absichten zu verharren, die er beim letzten Male an ihr entdeckt; denn er hatte eine Schuld gegen sie begangen, die er wieder gut machen mußte. Was aus alledem entstehen würde, das wußte er nicht; doch er wußte, daß er die absolute Pflicht hatte, so zu handeln, und diese innige Ueberzeugung erfüllte ihn mit hoher Freude.

Fröhlichen Herzens kehrte er ins Haus zurück und dachte. »Ja, ja! so ist es! der Nutzen meines Lebens, die tiefe Bedeutung dieses Lebens, das höhere Ziel, zu dem wir auf dieser Welt sind, begreife ich nicht und kann es nicht begreifen. Warum haben meine Tanten gelebt? Warum ist Nikolaus Irteneff tot, und warum bin ich am Leben? Warum bin ich Katuscha begegnet? Warum bin ich so lange blind und toll gewesen? Was alles weiß ich nicht; das Werk des Herrn zu begreifen, steht nicht in meiner Macht. Doch seinen Willen zu vollführen, wie er in meinem Herzen geschrieben steht, das liegt in meiner Macht und ich weiß, daß ich das thun muß. Und ehe ich es nicht vollbracht, werde ich keine Ruhe finden!«

Nechludoff kehrte in sein Zimmer zurück, entkleidete sich und legte sich ins Bett; er fühlte einige Unruhe wegen der Wanzen, denn die schmutzige und zerrissene Wandtapete hatte ihm auf den ersten Blick das Vorhandensein derselben verraten.

»Ja, ich muß mich als Diener, nicht als Herr fühlen!« dachte er, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit Freude.

Seine Befürchtung war nicht unbegründet; kaum hatte er die Kerze ausgelöscht, als die Tiere ihm schon über den Körper liefen.

»Meine Aecker fortgeben, nach Sibirien gehen; die Flöhe, den Schmutz, die Wanzen, alles werde ich ertragen, da ich es eben ertragen muß!«

Doch trotz seiner schönen Entschlüsse ertrug er sie in dieser Nacht noch nicht. Er stand auf, setzte sich ans offene Fenster und betrachtete lange die schwarzen Wolken, die sich zerstreuten, und den Halbmond, der am Himmel aufstieg.

Nechludoff schlief erst gegen Morgen ein, so daß er am nächsten Tage sehr spät erwachte. Gegen Mittag erschienen die sieben von dem Inspektor ausgewählten Bauern in dem Obstgarten, wo unter den Apfelbäumen zwei aus Brettern gebildete Bänke und ein Tisch standen. Nechludoff hatte große Mühe, die sieben Abgesandten zu veranlassen, ihre Mützen aufzusetzen und sich auf die Bänke zu setzen. Erst als der älteste der Schar, ein breitschultriger Greis von ehrwürdigem Aussehen mit langem, grauem Bart, nach Art des Moses von Michel Angelo mit dichten, grauen Haaren seine große Mütze aufsetzte, seinen neuen Kaftan zuknöpfte und sich setzte, zögerte niemand mehr, seinem Beispiel zu folgen. Als diese Formalität erledigt war, nahm Nechludoff den Bauern gegenüber auf der andern Bank Platz, ergriff das Papier, auf dem er sein Projekt niedergeschrieben und fing an, es vorzulesen und zu erklären. Diesmal empfand er keine Verlegenheit mehr. Unwillkürlich wandte er sich hauptsächlich an den Greis mit dem langen Barte, als wenn er von diesem, mehr als von den andern, Zustimmung oder Tadel erwartet hätte. Doch die hohe Meinung, die er sich von ihm gebildet, war leider eine Täuschung. Der ehrwürdige Greis senkte bald seinen schönen Patriarchenkopf, bald schüttelte er ihn mißtrauisch, wenn er seine Gefährten dasselbe thun sah; im Grunde wurde es ihm ungeheuer schwer, nicht nur Nechludoffs Gedanken, sondern sogar die Bedeutung seiner Worte zu erfassen.

Sein Nachbar verstand Nechludoffs Gedanken weit besser. Er war ein kleiner einäugiger und lahmer Greis, der eine geplättete Nankingjacke, und alte Stiefel an den Füßen trug. Er war seines Standes ein Töpfer, wie er Nechludoff im Laufe der Unterhaltung mitteilte. Neben ihm saß ein anderer, muskulöser und untersetzter kleiner Greis, mit weißem Bart und glänzenden Augen, der jede Gelegenheit benutzte, um ironische und spaßhafte Bemerkungen zu machen; das war augenscheinlich der Schöngeist des Dorfes. Auch der frühere Soldat schien zu verstehen, um was es sich handelte, doch seine Bemerkungen beschränkten sich auf einige alltägliche Formeln. Der ernsthafteste Zuhörer der Gruppe war ein großer Bauer mit langer Nase und kleinem Bart; er verstand alles und sprach nur, wenn er wirklich etwas zu sagen hatte. Von den beiden anderen Anwesenden war der eine der zahnlose Alte, der Nechludoffs Vorschlägen am vorigen Tage am meisten widersprochen hatte; der andere war ein weißhaariger, hochgewachsener Mann mit gutmütigen Augen. Alle beide schwiegen an diesem Tage und begnügten sich, mit großer Aufmerksamkeit zuzuhören. Nechludoff setzte zunächst seine Ideen über das Grundeigentum auseinander und sagte:

»Ich bin der Ansicht, daß man weder das Recht hat, Land zu kaufen, noch zu verkaufen; denn hätte man das Recht, so würden die, die Geld haben, alle Aecker aufkaufen und den andern die Möglichkeit rauben, daraus Nutzen zu ziehen.«

»Das ist wahr!« sagte der Mann mit der langen Nase in tiefem Baßtone.

»Gewiß!« erklärte der frühere Soldat.

»Meine Alte hat für unsere Kühe ein bißchen Gras gepflückt, man hat sie gefaßt und ins Gefängnis gesteckt,« sagte der Schöngeist mit dem weißen Barte.

»Das Land, das man besitzt, ist so groß, wie dieser Garten und anderes zu pachten ist unmöglich,« fuhr er fort. »Man hat die Preise so hoch geschraubt, daß man nicht daran denken darf, wieder zu seinem Gelde zu kommen.«

»Ja,« rief ein anderer, »man schindet uns, wie man will. Das ist schlimmer, als zur Zeit der verstorbenen Fräuleins!«

»Ich denke darüber wie ihr!« sagte Nechludoff, »und betrachte es als eine Sünde, Erde zu besitzen. Darum habe ich mich entschlossen, mich aller meiner Aecker zu entäußern.«

»Wenn die Sache möglich ist, so sagen wir nicht nein,« sagte der Greis mit dem langen Bart, der augenscheinlich verstanden hatte, daß Nechludoff ihnen seine Aecker verpachten wollte.

»Ja, deshalb bin ich hergekommen. Ich will von meinen Aeckern keinen Nutzen mehr ziehen. Doch wir müssen uns noch verständigen, wie ihr davon Nutzen haben könnt.«

»Du brauchst die Aecker ja nur den Bauern zu schenken!« rief der zahnlose Greis plötzlich.

Als Nechludoff das hörte, geriet er einen Augenblick in Verwirrung, denn er fühlte in diesen Worten einen Argwohn hinsichtlich der Ehrlichkeit seiner Absichten. Doch er beherrschte sich gleich wieder und erinnerte sich an seinen Entschluß, alles auszusprechen, was er zu sagen hatte.

»Ich würde gern meine Aecker fortgeben,« fuhr er fort; »aber wem und wie?«

Niemand antwortete, und Nechludoff fuhr fort:

»Hört mich an! Wenn ihr an meiner Stelle wäret, wie würdet ihr es anfangen?«

»Wie wir es anfangen würden? Das ist ganz einfach: Wir würden alles unter die Bauern verteilen,« fuhr der weißbärtige Greis fort, und alle billigten, einer nach dem andern, diese Antwort, die ihnen vollauf befriedigend erschien.

»Doch wie soll man diese Teilung vornehmen?« fragte Nechludoff. »Soll man den Knechten, die nicht bebauen, auch Land geben?«

»Nein, gewiß nicht!« erklärte der Schöngeist, doch der große Bauer mit der langen Nase war nicht seiner Meinung, sondern erklärte nach kurzer Ueberlegung:

»Man muß alles gleichmäßig unter alle verteilen!«

»Nein, das ist nicht möglich,« fuhr Nechludoff fort. »Wenn ich gleichmäßig unter alle teilte, so würden die, die nicht für sich selbst arbeiten, nicht selbst bebauen, ihren Anteil nehmen, ihn den Reichen verkaufen, und das Land würde sich wieder bei den Reichen ansammeln. Was die betrifft, die wirklich bebauen, so würde ihre Familie sich vermehren und die Aecker zerstückelt werden. Weiter würden die Reichen ihre Macht auf diejenigen ausüben, die der Erde zum Lebensunterhalt bedürfen.«

»Man muß eben verbieten, daß jemand Erde verkauft und jeden zwingen, selbst zu bebauen!« rief der Töpfer mit gierigem Blick.

Doch Nechludoff hatte diesen Einwurf vorausgesehen und erklärte, es wäre unmöglich, zu untersuchen, ob einer für eigene Rechnung oder für die eines anderen bebaue; außerdem wäre die gleiche Teilung unmöglich.

»Einer von euch würde gute Erde, der andere Lehm oder Sand bekommen, und ihr möchtet doch alle gute Erde haben.«

Nun machte der große Muschik mit der langen Nase, der klügste der sieben, den Vorschlag, alle sollten gemeinsam bebauen.

»Wer bebaut, soll seinen Anteil haben, und wer nicht bebaut, soll nichts haben«, erklärte er mit seiner klaren und entschlossenen Baßstimme.

Nechludoff erwiderte, er hätte auch daran gedacht, doch um dieses Projekt auszuführen, müßten alle dieselben Pflüge und dieselben Ackergeräte haben, und zwar müßte alles allen gemeinsam gehören; dazu müßten aber alle einig sein.

»Nie werden unsere Leute darüber einig werden,« erklärte der kleine Alte mit der brummigen Miene.

»Das würde gleich eine Prügelei geben,« sagte der weißbärtige Greis mit lachenden Augen. »Selbst die Weiber würden sich schlagen.«

»Ihr seht, die Sache ist nicht so einfach, wie sie zuerst schien!« sagte Nechludoff, »und wir sind nicht die einzigen, die darüber grübeln. Da ist ein Amerikaner, ein gewisser George. Hört, was er erfunden hat; ich denke darüber genau wie er.«

»Du bist der Herr, du kannst nach deinem Belieben schalten! Wir werden wohl auf deine Vorschläge eingehen müssen,« sagte der zahnlose Greis.

Diese Unterbrechung that Nechludoff weh, doch zu seiner großen Befriedigung entdeckte er, daß er sich nicht allein darüber kränkte.

»Verzeihung, Onkel Semen, laß ihn zuerst seine Ideen auseinandersetzen,« sagte der langnasige Bauer, der offenbar der weise Mann der Schar war, mit seiner Baßstimme.

Beruhigt begann Nechludoff, ihnen die Lehre Henry Georges zu erklären und sagte:

»Die Erde gehört niemandem; sie gehört nur Gott!«

»Ganz recht! So ist’s! Das ist recht gesprochen!« riefen mehrere Stimmen.

»Die ganze Erde muß gemeinsam besessen werden! Alle haben darauf ein gleiches Anrecht, doch es giebt gute Erde und weniger gute. Jeder aber möchte gute Erde haben. Wie es nun anfangen, um die Teile gleich zu gestalten? Wer eine gute Erde ausbeutet, muß seinen Ueberschuß mit dem teilen, der eine weniger gute ausbeutet. Da es nun schwer ist, die zu bestimmen, die bezahlen sollen, und wem sie bezahlen sollen und das Geld in unserm jetzigen Leben unerläßlich ist, so ist das Klügste, jeder, der ein Stück Land ausbeutet, zahlt der Gemeinde für die gemeinsamen Bedürfnisse im Verhältnis zu dem, was sein Stück Land wert ist. Auf diese Weise wird Gleichmäßigkeit erzielt werden. Will jemand ein Stück Land ausbeuten, so wird er für eine gute Erde mehr und für eine weniger gute weniger bezahlen. Will er die Erde nicht ausbeuten, so soll er nichts bezahlen, und die, die die Erde ausbeuten, werden für sie die zum gemeinsamen Bedürfnis notwendige Steuer bezahlen.«

»Das ist ein tüchtiger Kopf, dieser Georgy«, rief der Bauer mit dem langen Barte.

»Das ist gerecht,« erklärte der Töpfer, »wer die beste Erde hat, bezahlt am meisten.«

»Wenn wir nur den Preis erschwingen können!« sagte der Langnasige.

»Der Preis muß so berechnet werden, daß er weder zu hoch, noch zu niedrig ist. Ist er zu hoch, so bezahlt man ihn nicht und es entstehen Verlegenheiten; ist er zu niedrig, so kauft jeder dem andern Land ab, und der Schacher beginnt von neue. Das sagt George; und nach seinen Grundsätzen möchte ich mich mit euch verständigen.«

»Ganz recht! Das ist gerecht! Das wollen wir auch!« riefen die Bauern.

»Das ist ein Kopf!« wiederholte der Greis, der dem »Moses« ähnlich sah. »Dieser Georgy! Denkt nur, das hat er alles ersonnen!«

»Und wenn ich nun auch Land haben will?« fragte der Inspektor lächelnd.

»Die Beteiligung steht jedem frei; nehmt und arbeitet!« versetzte Nechludoff.

»Was brauchst du Land? Du bist schon fett genug!« rief der Schöngeist.

So endete die Besprechung. Nechludoff wiederholte noch einmal seinen Plan und fügte hinzu, er verlange keine sofortige Antwort, riet aber den Abgeordneten, sich mit den andern Bauern zu verständigen und ihm dann die Antwort zu überbringen.

Am nächsten Tage feierten die Bauern, und man beriet über den Vorschlag des »Barin«, Doch die Beratungen blieben resultatlos, denn die Gemeinde war in zwei Lager geteilt; die einen hielten die Vorschläge des »Barin« für vorteilhaft und gefahrlos; die anderen sahen darin noch immer eine List, deren Zweck sie nicht zu ergründen vermochten, die ihnen aber darum nur noch gefährlicher erschien.

Trotzdem einigten sie sich aber doch am nächsten Tage dahin, daß sie Nechludoffs Bedingungen annahmen, und die sieben Abgeordneten teilten diesem den Beschluß der Gemeinde mit.

Am letzten Tage seines Aufenthaltes ging Nechludoff in die Gemächer seiner verstorbenen Tanten hinauf, um dort die noch vorhandenen Gegenstände durchzusehen. In der inneren Schublade eines Schränkchens aus Rosenholz entdeckte er ein Päckchen alter Briefe und darunter eine Photographie, auf der eine vor dem Hause stehende Gruppe dargestellt war; Marie Iwanowna, Sophie Iwanowna, Nechludoff im Studentenanzug, und Katuscha waren darauf abgebildet. Von all den Gegenständen, die das Haus enthielt, nahm Nechludoff nur die Briefe und diese Photographie. Den Rest, Möbel, Bilder, Teppiche und Behänge überließ er dem Müller, der dem Inspektor eine große Provision versprochen hatte, wenn er das alles billig bekommen würde.

Wieder erinnerte sich Nechludoff an das Gefühl des Bedauerns, daß er in Kuzminskoja bei dem Gedanken empfunden, auf seine Besitzungen verzichten zu müssen, und fragte sich wieder bestürzt, wie er ein solches Gefühl hatte empfinden können. Jetzt empfand er nur noch ein köstliches Gefühl der Befreiung, in das sich für ihn der Reiz der Neuheit mischte; ein Gefühl, wie es der Entdecker empfinden muß, wenn er nach grausamen Prüfungen endlich ein neues Land erblickt!

Auferstehung – Band 2

Die Maslow blieb einige Augenblicke unbeweglich sitzen, dann erhob sie sich, legte das Brot, das ihr noch geblieben, auf den Wandsims, nahm das Tuch ab, das ihre schwarzen Lockenhaare bedeckte, und ließ sich wieder auf das Bett zurückfallen.

Die alte Bucklige, die mit dem kleinen Jungen am anderen Ende des Saales spielte, trat ebenfalls näher und sagte, mit kläglicher Miene den Kopf schüttelnd:

»Mein Gott! mein Gott!«

Der kleine Junge kam hinter ihr dreingelaufen. Mit offenem Munde und aufgerissenen Augen blieb er vor dem Brote stehen, das die Maslow mitgebracht hatte.

Als diese alle diese besorgten Gesichter sah, wandelte sie gleich die Lust an, zu weinen. Trotzdem hatte sie sich bis zu dem Augenblick bezwungen, da die Alte und der kleine Junge zu ihr getreten waren. Als sie aber den verzweifelten Schrei der Alten vernahm, vor allem aber, als ihre Blicke denen des Kindes begegneten, dessen Augen sich ernsthaft auf die ihrigen richteten, da konnte sie nicht länger an sich halten. Alle ihre Züge zitterten, und sie brach in Thränen aus.

»Ich hatte es dir immer gesagt, wähle dir einen geschickten Verteidiger!« fuhr die Korablewa fort.

»Na, was hast du denn gekriegt? Sibirien?« fügte sie hinzu.

Die Maslow wollte antworten, doch ihre Thränen ließen es nicht zu. Sie holte unter ihrem Hemde ein kleines Päckchen Zigaretten hervor, auf dessen Deckel eine rosige Dame mit hohem Chignon und entblößten Brüsten abgebildet war, und hielt es der Korablewa hin. Diese betrachtete das Bild und schüttelte mißbilligend den Kopf, als wolle sie der Maslow Vorwürfe machen, ihr Geld in so dummer Weise ausgegeben zu haben; dann nahm sie eine Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie an der Kerze des Heiligenbildes an, that einen Zug daraus und gab sie der Maslow zurück, die, ohne im Weinen aufzuhören, gierig zu rauchen begann.

»Zwangsarbeit!« sagte sie endlich schluchzend.

»Sie fürchten also nicht mehr Gott, diese verdammten Henkersknechte!« rief die Korablewa. »Sie hatte doch nichts verbrochen! Warum verurteilt man sie denn?«

In demselben Augenblick brachen die vier Weiber, die am Fenster standen, in lautes Lachen aus. Auch das kleine Mädchen lachte; man hörte ihr leises, frisches Lachen, das sich in die schrillen Töne ihrer Gefährtinnen mischte. Jedenfalls hatte einer der Gefangenen eben eine Bewegung gemacht, die diesen geräuschvollen Heiterkeitsausbruch hervorgerufen hatte.

»Na! habt ihr den rasierten Hund gesehen? Habt ihr gesehen, was er gemacht hat?« sagte die Rothaarige, während ihr ganzer dicker, welker Körper zitterte.

»Das hat ein hartes Fell! ’s ist gerade Gelegenheit zum Lachen!« sagte die Korablewa und deutete auf die Rothaarige, dann wandte sie sich wieder zur Maslow:

»Und auf wie lange?«

»Auf vier Jahre,« versetzte die Maslow mit so heftigem Thränenerguß, daß die Eisenbahnwärterin sich verpflichtet glaubte, sie zu trösten.

»So wahr ich es euch sage, es sind Banditen! Und wir waren fest überzeugt, man würde sie freilassen! Tantchen sagte: Man wird sie freilassen! – Nein, Tantchen, sagte ich, glaube mir, sie werden sie fassen! Und ich hatte wirklich recht!« fuhr sie mit ihrer singenden Stimme fort, denn sie hörte sich gern reden.

Während sie ihr Wehklagen fortsetzte, hatten die Gefangenen den Hof passiert. Sobald sie fort waren, traten die vier Frauen, die grobe Worte mit ihnen gewechselt hatten, vom Fenster zurück und näherten sich der Maslow ebenfalls.

»Nun! sie haben dich also verurteilt?« fragte die Frau mit dem Kinde auf dem Arm.

»Sie haben sie verurteilt, weil sie kein Geld hatte!« versetzte die Korablewa. »Hätte sie Geld gehabt, so hätte sie sich einen geschickten Verteidiger genommen, einen Pfiffikus, der sie freigekriegt hätte. Es ist da einer – ich weiß nicht mehr, wie er heißt –, ein Fuchs, der nicht seinesgleichen hat; der hätte dich, das ist so wahr, wie ich es sage – aus dem tiefsten Wasser gezogen, ohne dich naß zu machen! Den hättest du nehmen müssen!«

»Das Schicksal hat es jedenfalls so gewollt,« sagte die gute Alte, die wegen Beihilfe zur Brandstiftung verurteilt worden war. »Glaubt ihr etwa, es sei nicht schrecklich, einen Greis von seiner Frau und seinem Sohne zu trennen und ihm niemand dazulassen, der ihn säubern kann; und mich hat man in meinen alten Tagen hier eingesperrt!«

Zum hundertsten Male erzählte sie, was ihr passiert wäre, und erklärte kopfnickend:

»Seinem Schicksal entgeht niemand!«

Das Weib mit den Kindern hatte sich der Maslow gegenüber auf ihr Bett gesetzt; sie hatte ihren kleinen Jungen auf den Schoß genommen und sagte, während sie ihm die Läuse ablas:

»So geht es immer bei diesen verdammten Richtern. Warum hast du Schnaps verkauft? haben sie mich gefragt. Womit hätte ich mein Kind sonst ernähren sollen?«

Diese Worte erinnerten die Maslow wieder an die Wirklichkeit, und sie sagte, während sie ihre Thränen mit ihrem Hemdärmel trocknete:

»Ich möchte gern ein Glas trinken!«

Ihre große Aufregung hatte sich beruhigt, und man hörte sie nur noch von Zeit zu Zeit schluchzen.

»Du willst Schnaps?« versetzte die Korablewa. »Na, gieb Geld, dann kannst du dich stärken!«

Die Maslow holte aus ihrer Kitteltasche den Schein heraus, den ihr Frau Kitajeff hatte zustecken lassen, und reichte ihn der Korablewa. Diese erkannte, obwohl sie nicht lesen konnte, doch an dem Bilde, daß es ein zwei und ein halber Rubelschein war; doch zur größeren Sicherheit zeigte sie ihn der »Schönheit«, die im Rufe stand, sie wisse alles; dann schleppte sie sich zum Ofen, öffnete die Wärmröhre und holte eine darin versteckte Flasche hervor. Die Maslow erhob sich, klopfte den Staub von ihrem Kittel und ihrem Tuch und fing an, ihr Brot zu verspeisen.

»Ich hatte dir Thee bereitet, doch jetzt ist er kalt,« sagte die Fenitschka und holte von einem über ihrem Bett genagelten Brett eine Theekanne und ein Töpfchen aus Weißblech, die sie in ein Paar Strümpfe gewickelt hatte.

Der Thee war vollständig kalt und schmeckte mehr nach Weißblech, als nach Thee, doch die Maslow trank ihn trotzdem aus und tunkte ihr Brot hinein.

»Da, Fedja, das ist für dich!« rief sie dem kleinen Jungen zu, brach ihr Brot entzwei und gab ihm die Hälfte.

Währenddessen hatten sich die Weiber, deren Betten auf der andern Seite des Saales standen, entfernt. Die Maslow goß sich, sobald sie die Flasche in Händen hatte, einen tüchtigen Schluck ein, trank ihn und bot dann der Korablewa und der »Schönheit« zu trinken an, die mit ihr die Aristokratie des Ortes bildeten, denn sie waren die einzigen, die manchmal Geld hatten.

Einige Minuten später war die Maslow schon wieder ganz lustig und erzählte ihren beiden Gefährtinnen mit großem Schneid, was ihr seit dem Morgen alles passiert war; dabei kopierte sie abwechselnd die Stimme und Gesten des Präsidenten, des Staatsanwaltes und der Verteidiger. Sie sagte, wie sehr es ihr aufgefallen war, daß die Männer ihr den ganzen Tag über nachgelaufen wären. Im Gerichtssaal hatten sie alle lorgnettiert, und nach der Urteilsfällung hätte man sie in der Zelle, in der sie eingesperrt gewesen, angestarrt.

Sie erzählte das lächelnd, mit einem Gemisch von Verwunderung und Eitelkeit.

»Ja, das ist mal so!« erklärte die Eisenbahnwärterin mit ihrer singenden Stimme. Die Männer drängten sich ihrer Meinung nach um die Weiber wie die Fliegen um den Zucker.

»Selbst hier noch,« unterbrach die Maslow lächelnd, »selbst hier ist mir dasselbe passiert. Als ich ins Gefängnis kam, versperrte mir ein Trupp Gefangener, der vom Bahnhof kam, den Weg. Sie verfolgten mich mit solcher Heftigkeit, daß ich nicht weiß, was ich anfangen soll. Zum Glück hat mich ein Aufseher befreit. Namentlich einer war wie toll; ich habe ihn schlagen müssen, um mich von ihm zu befreien!«

»Wie sah er denn aus?« fragte die Schönheit.

»Ganz schwarz, mit rasiertem Kopf und langem Schnurrbart!«

»Das war er sicher!«

»Wer denn?«

»Na, Tschegloff! Er ist eben in den Hof getreten.«

»Was denn für’n Tschegloff?«

»Was? Du kennst Tschegloff nicht? Er ist schon zweimal von der Zwangsarbeit entflohen. Man hat ihn wieder gefaßt, aber er wird doch wieder ausrücken. Selbst die Aufseher haben vor ihm Angst,« fügte die Schönheit hinzu, die oft Schreibereien für das Bureau anzufertigen hatte und mit den geringsten Ereignissen des Gefängnisses Bescheid wußte. »Sicherlich wird der wieder ausrücken!«

»Er wird vielleicht ausrücken, uns wird er aber gewiß nicht mitnehmen,« sagte die Korablewa. »Höre,« fuhr sie dann, sich zu der Maslow wendend, fort, »erzähle uns lieber, was dein Verteidiger dir wegen deiner Berufung gesagt hat. Die mußt du jetzt unterzeichnen.«

Die Maslow erwiderte, davon habe sie im Gerichtsgebäude nichts gehört. In diesem Augenblick näherte sich die Rothaarige, indem sie mit ihren, ganz mit Sommersprossen bedeckten Armen durch ihr dichtes Haar fuhr und sich heftig mit den Nägeln den Kopf kratzte, den drei Frauen, die weiter ihren Branntwein tranken, und sagte zur Maslow:

»Ich werde dir sagen, was du thun mußt, Katharina. Vor allem mußt du eine Bittschrift bei den Richtern und dann beim Staatsanwalt einreichen.«

»Was erzählst du uns da?« fragte die Korablewa mit zorniger Stimme. »Seht doch das Geschmeiß! Sie hat den Schnaps gewittert und will uns Dinge lehren, die sie selbst nicht versteht! Man weiß besser, als du, was man zu thun hat; geh‘ weg; man braucht dich hier nicht!«

»Man spricht nicht mit dir! Worin mischst du dich?«

»Der Schnaps lockt dich wohl, was? Aber für deinen schönen Mund ist er nicht!«

»Na, gieß ihr doch ein Glas ein,« sagte die Maslow, die stets gern verschenkte, was sie hatte.

»Warte nur; du wirst gleich sehen, was ich ihr eingießen werde, wenn sie uns nicht in Ruhe läßt!«

»Was denn! was denn? ich fürchte mich vor dir nicht,« versetzte die Rothaarige und ging auf die Koralewa zu.

»Seht doch diese Lumpenliese!«

»Ich eine Lumpenliese? Du hast die Stirn, mich zu schimpfen, du dreckige Zuchthausbrut!« schrie die Rothaarige.

»Na, du, geh‘, sag‘ ich dir!« versetzte die Korablewa, und schlug der Rothaarigen, als sie im Gegenteil noch einen Schritt vortrat, mit der Faust auf die nackte Brust.

Als hätte sie nur auf diese Herausforderung gewartet, schlug die Rothaarige ihrer Gegnerin mit der Faust heftig auf die Brust, während sie sie mit der andern ins Gesicht zu schlagen versuchte. Die Maslow und die Schönheit bemühten sich, sie festzuhalten, doch sie hatte die Alte so kräftig bei den Haaren gefaßt, daß man sie nicht losreißen konnte. Die Korablewa schlug blindlings auf ihre Feindin los und versuchte, sie in den Arm zu beißen. Alle anderen Weiber des Saales, die sich um sie gesammelt hatten, schrieen und lärmten. Sogar die Schwindsüchtige hatte sich aufgerichtet, um die Prügelei mitanzusehen, und vermischte das Gebell ihres Hustens mit dem Geschrei ihrer Gefährtinnen. Die Kinder weinten, indem sie sich aneinander schmiegten, und der Lärm war so stark, daß die Aufseherin der Frauenabteilung bald herbeigelaufen kam.

Man trennte die beiden Weiber. Die Korablewa lockerte ihre graue Flechte, um die Haare abzuschütteln, die ihr ihre Gegnerin ausgerissen hatte, während diese die Stücke ihres zerrissenen Hemdes auf der gelben Brust zurechtzupfte. Dabei schrieen alle beide und brüllten um die Wette.

»Ja, ja, ich weiß,« sagte die Aufseherin, »an alledem ist der Schnaps schuld. Morgen früh werde ich es dem Direktor sagen; dann werdet ihr ja sehen, was er mit euch machen wird. Na, legt euch mal gleich schlafen, sonst wehe euch! Alles an die Plätze, und Ruhe!«

Doch die Ruhe war nicht so leicht zu erzielen. Noch lange zankten sich die Weiber untereinander, und jede erzählte in ihrer Weise, wie die Sache angefangen hatte. Endlich ging die Aufseherin hinaus, und die Frauen gingen zu Bette. Die alte Bucklige stellte sich vor das Heiligenbild und fing an, Gebete zu murmeln.

»Na, wollt ihr’s glauben, diese beiden Galgenvögel möchten uns gute Lehren geben,« sagte die Rothaarige plötzlich, und erhob die Stimme, um von der Maslow und der Korablewa gehört zu werden, deren Betten am anderen Ende des Saales standen.

»Du, nimm dich in acht, daß ich dir nicht heut‘ abend noch ein Auge ausschlage,« versetzte die Korablewa.

Wieder schwiegen beide, doch von Zeit zu Zeit unterbrach ein kurzer Austausch von Drohungen und Beleidigungen das Schweigen des schlafenden Saales.

Alle Gefangenen lagen im Bette, einige schnarchten schon. Nur die alte Bucklige und die Tochter des Kirchendieners blieben auf. Die Alte, die immer sehr lange betete, verneigte sich noch immer vor dem Heiligenbild; die Tochter des Kirchendieners hatte sich gleich nach dem Verschwinden der Aufseherin wieder aus ihrem Bett erhoben und ging im Zimmer auf und ab.

Die Maslow konnte nicht einschlafen. Sie dachte unaufhörlich daran, daß sie jetzt ein »Galgenvogel« war. Schon zweimal hatte man sie seit einigen Tagen so genannt; die Botschkoff im Gerichtsgebäude und eben die Rothaarige! Sie konnte sich nicht an diesen Gedanken gewöhnen!

Die Korablewa, die sich zuerst zum Schlafen zurechtgelegt, drehte sich plötzlich um.

»Und dabei habe ich nichts gethan!« sagte die Maslow ganz leise. »Die andern thun das Böse, und man sagt ihnen nichts, und ich, ich bin verloren, ohne etwas gethan zu haben!«

»Quäle dich nicht, mein Töchterchen! Man lebt auch in Sibirien! Du wirst dort nicht umkommen!« erwiderte ihr die Korablewa, um sie zu trösten.

»Ich weiß, daß ich nicht umkommen werde; aber die Schande! Ein solches Schicksal hatte ich nicht erwartet! Und dabei bin ich gewöhnt, im Luxus zu leben!«

»Gegen Gott kann niemand,« fuhr die Korablewa seufzend fort. »Gegen ihn kann niemand.«

»Das weiß ich, Tantchen, aber es ist doch trotzdem hart!«

Sie schwiegen.

Auch die Rothaarige konnte nicht schlafen.

»Hör‘ nur, das ist die Lumpenliese!« fuhr die Korablewa nach kurzer Pause fort und machte ihre Nachbarin auf ein seltsames Geräusch aufmerksam, das vom anderen Ende des Saales bis zu ihnen drang.

Das war die Rothaarige, die in ihrem Bette weinte. Sie weinte, weil man sie geschimpft, geschlagen und ihr den Branntwein verweigert hatte, den sie so sehnlichst zu haben wünschte. Sie weinte auch bei dem Gedanken, daß sie ihr ganzes Leben lang nur Schimpfworte, Spott, Demütigungen und Schläge bekommen hatte. Um sich zu trösten, wollte sie an ihre erste Liebe, an das Verhältnis denken, das sie einst mit einem jungen Arbeiter unterhalten; doch gleichzeitig, da sie an den Anfang dieser Liebe dachte, erinnerte sie sich auch, wie sie zu Ende gegangen war. Wieder sah sie die schreckliche Nacht vor sich, da ihr Geliebter ihr im Rausche aus Spaß Vitriol ins Gesicht geschleudert und ihr dann mit seinen Kameraden zugeschaut hatte, wie sie sich vor Schmerzen wand. Eine tiefe Traurigkeit hatte sich ihrer bemächtigt; und da sie glaubte, es höre sie niemand, so hatte sie zu weinen angefangen. Sie weinte, wie die Kinder, indem sie ihre salzigen Thränen hinunterschluckte.

»Sie leidet!« sagte die Maslow.

»Jeder hat sein Leid zu tragen,« versetzte die Alte und drehte sich von neuem um, um zu schlafen.