Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras – Band 2

Drittes Capitel.


Drittes Capitel.

Siebenzehn Tage unterwegs.

Dieses neue Ereigniß, die ersten Aeußerungen Altamont’s, hatten die Lage der Schiffbrüchigen vollkommen verändert; während sie früher abgeschnitten von aller Hilfe waren, auch nur eine sehr seichte Hoffnung hatten, die Baffins-Bai zu erreichen, und ihnen für die Länge des zurückzulegenden Weges eine Hungersnoth drohte, die bei der Erschöpfung ihrer Kräfte desto gefährlicher erschien, befand sich, etwa sechshundert Meilen von ihrem Eishause, ein Fahrzeug, das ihnen reiche Hilfsmittel bot und wohl gar die Aussicht eröffnete, den verwegenen Zug nach dem Nordpole fortzusetzen. Hatteras, der Doctor, Johnson und Bell, die schon so nahe der Verzweiflung waren, schöpften wieder Hoffnung.

Da aber Altamont’s Aussagen nur noch sehr lückenhaft waren, nahm der Doctor, als Jener sich etwas erholt hatte, die wichtige Unterhaltung wieder auf; wobei er alle Fragen so zu stellen wußte, daß der Kranke nur mit dem Kopfe zu nicken oder durch Bewegung der Augen zu antworten brauchte.

Bald hatte er erfahren, daß der Porpoise ein amerikanischer Dreimaster aus New-York sei, der, belastet mit reichlichem Proviant und Brennmaterial, mitten im Eise Schiffbruch gelitten hatte. Wenn auch auf die Seite geworfen, war doch Aussicht, daß er der Zerstörung widerstanden habe, und seine ganze Ladung noch zu bergen sein werde.

Schon zwei Monate hatte Altamont mit seiner Mannschaft das Schiff verlassen, wobei sie die Schaluppe auf einem Schlitten mitgenommen hatten; sie beabsichtigten bis zum Smith-Sund vorzudringen, wollten dort einen Wallfischfahrer aufsuchen und mit dessen Hilfe nach ihrem Vaterlande zurückkehren; bald aber überwältigten sie Erschlaffung und Krankheiten, und Einer nach dem Anderen kam unterwegs um. Zuletzt waren der Kapitän und zwei Matrosen von einer dreißig Köpfe zählenden Mannschaft übrig, und daß der Erstere noch lebte, war doch nur einem Wunder der Vorsehung zu danken.

Hatteras lag vorzüglich daran, von dem Amerikaner zu hören, was der Porpoise in so ungewöhnlich hoher Breite vorgehabt habe.

Altamont gab zu verstehen, daß das Schiff vom Eise eingeschlossen und dahinauf getrieben worden sei.

Aengstlich suchte Hatteras noch den Zweck der Expedition zu erforschen.

Altamont behauptete, daß man nur die nordwestliche Durchfahrt habe aufsuchen wollen.

Der Kapitän beruhigte sich dabei und stellte keine weitere Frage der Art.

Der Doctor ergriff wieder das Wort:

»Alle unsere Anstrengungen, sagte er, können jetzt nur darauf gerichtet sein, den Porpoise aufzufinden; statt den gefahrvollen Weg nach der Baffins-Bai einzuschlagen, können wir nun auf einem um ein Drittel kürzeren Wege ein Fahrzeug erreichen, das alles Nöthige zu einer Ueberwinterung bietet.

– Es ist gar keine andere Wahl möglich, meinte Bell.

– Und ich füge hinzu, sagte der Schiffer, daß wir dazu keinen Augenblick zu verlieren haben. Freilich müssen wir, entgegen der gewöhnlichen Art und Weise, die Dauer unseres Zuges nach unserem Vorrath an Nahrungsmitteln berechnen und baldmöglichst aufbrechen.

– Sie haben Recht, Johnson, erwiderte der Doctor; wenn wir morgen, den 26. Februar, abreisen, müssen wir, mit genauer Noth dem Hungertode entgehend, am 15. März beim Porpoise eintreffen. Was meinen Sie, Hatteras?

– Treffen wir sogleich alle nöthigen Vorbereitungen zur Reise. Der Weg könnte auch weiter sein, als wir annehmen.

– Warum? entgegnete der Doctor, der Mann scheint doch der Lage seines Schiffes sicher zu sein.

– Wenn nun der Porpoise aber, antwortete Hatteras, mit seinem Eisberge weiter getrieben ist, wie es uns mit dem Forward erging?

– Freilich, sagte der Doctor, diese Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen.«

Johnson und Bell berührten eine Sache gar nicht, die ihnen so verderblich gewesen war.

Altamont, dem diese Reden nicht entgingen, bedeutete dem Doctor durch Zeichen, daß er sprechen wolle. Nach einviertelstündigen Bemühungen hatte Clawbonny so viel sicher erfahren, daß der Porpoise mit einer Seite auf dem Strande liege und sein Felsenbett unmöglich verlassen haben könne.

Wenn das auch den vier Engländern einerseits eine sehr beruhigende Nachricht war, so raubte es ihnen andererseits doch die Aussicht, mit Hilfe des Schiffes nach Europa zurückkehren zu können, wenn es Bell nicht etwa gelänge, aus Theilen des Porpoise ein neues kleines Fahrzeug zu erbauen. Doch wie dem auch sein mochte, man war darüber einig, den Platz des Schiffbruchs baldigst aufzusuchen.

Noch eine letzte Frage richtete der Doctor an Altamont; die, ob er in jener Breite von dreiundachtzig Grad schon Etwas von einem eisfreien Meere bemerkt habe.

»Nein«, erwiderte dieser.

Die Unterhaltung brach hier ab, und man begann sofort, sich zur Abreise zu rüsten; Bell und Johnson besorgten den Schlitten und stellten ihn jetzt, da ihnen Holz dazu nicht fehlte, dauerhafter her; die auf der Excursion nach dem Süden hin gesammelten Erfahrungen wurden nun verwerthet; vor Allem erhöhte man auch die Kufen, da man die schwachen Seiten dieser Transportmethode kennen gelernt, und auf reichlichen, dichten Schnee zu rechnen hatte.

Auch ein bequemes Lager richtete Bell darauf ein, dem die Zeltleinwand als schützende Decke diente, und welches für den Amerikaner bestimmt war. Der wenig beträchtliche Proviant belastete das Gefährt ja nicht sehr, dafür wurde aber Holz so viel als möglich mitgenommen.

Der Doctor, der die Provision ordnete, nahm ihre Menge mit peinlichster Sorgfalt auf. Seiner Rechnung nach mußte sich jeder Reisende für eine Zeit von drei Wochen mit Dreiviertelsrationen begnügen. Für die Zughunde reservirte man das volle Futter; zog Duk mit ihnen, so sollte dasselbe auch ihm zu Gute kommen.

Die Eile der Arbeiten wurde jetzt freilich durch die gebieterische Nothwendigkeit, sich auszuruhen und zu schlafen, unterbrochen. Bevor sie sich aber niederlegten, umringten die Schiffbrüchigen den Ofen, den man nicht spärlich heizte. Die Armen gestatteten sich einen Luxus von Wärme, dessen sie lange entwöhnt waren; etwas Pemmican, Zwieback und einige Tassen Kaffee erzeugten eine fast heitere Stimmung, die wohl zur Hälfte dem Hoffnungsstrahl zuzurechnen war, der ihnen so schnell, wenn auch nur aus der Ferne, aufleuchtete.

Um sieben Uhr Morgens ging man wieder an die Arbeit, welche erst gegen drei Uhr Nachmittags beendet ward.

Schon dunkelte es wieder; zwar war die Sonne seit dem 31. Januar wieder sichtbar geworden, doch verbreitete sie nur ein schwaches und kurz dauerndes Licht. Zum Glück ging der Mond schon halb sieben Uhr auf und seine Strahlen erhellten bei dem klaren Himmel den Weg. Die Temperatur, welche seit einigen Tagen merklich herunterging, erreichte endlich dreiunddreißig Grad unter Null (-36° hunderttheilig).

Der Augenblick der Abreise erschien. Altamont freute sich offenbar darüber, wenn ihn auch die Stöße beim Fahren mit erneuten Schmerzen bedrohten. Er hatte dem Doctor zu verstehen gegeben, daß er an Bord des Porpoise alle antiscorbutischen Medicamente, die zur Wiederherstellung des Kranken so nöthig waren, vorfinden werde.

Man trug ihn also in den Schlitten, auf dem er so bequem als möglich gelagert wurde. Die Hunde, und Duk mit, wurden angeschirrt; noch einen letzten Blick sandten die Reisenden nach dem Eisbette zu, wo der Forward gelegen hatte. Einmal schien ein aufwallender Zorn in Hatteras‘ Geberden aufzublitzen, aber er bezwang sich, und die kleine Gesellschaft verschwand bald, bei trockener, heiterer Witterung, in den Nebeln gegen Nord-Nord-Westen.

Ein Jeder nahm seinen gewohnten Platz ein; Bell ging voraus, der Doctor und der Rüstmeister zu Seiten des Schlittens, den sie im Auge hatten und wenn nöthig die Hunde antrieben; Hatteras machte den Schluß; er berichtigte den Weg und hielt Alle in gerader Linie.

Der Marsch ging ziemlich schnell vorwärts; bei der so niedrigen Temperatur bot das Eis eine eben so feste, als glatte Oberfläche; die Hunde strengten sich mit ihrer Last, welche kaum neunhundert Pfund betrug, nicht übermäßig an. Aber Menschen und Thiere kamen bald außer Athem und mußten anhalten, um Luft zu schöpfen.

Gegen sieben Uhr Abends brach das röthliche Bild der Mondscheibe durch die Nebel des Horizontes. Ihre ruhigen Strahlen erhellten die Atmosphäre, und wurden glänzend von den blanken Eisspiegeln zurückgeworfen. Gegen Nordwesten zeigte sich das Eisfeld als eine grenzenlose, weiße, vollkommen ebene Fläche. Keine Erhöhung, kein Spitzhügel war sichtbar. Dieser Theil des Meeres schien ruhig, wie ein friedlicher See, erstarrt zu sein.

Es war eine unendliche, flache, einförmige Wüste.

So war der Eindruck, den der Doctor von dem Bilde empfing, und den er seinem Begleiter mittheilte.

»Sie haben Recht, Herr Clawbonny, erwiderte Johnson, eine Wüste ist es, aber mindestens werden wir in ihr nicht verdursten.

– Das ist zwar ein Vortheil, meinte der Doctor, doch ihre ungeheure Ausdehnung giebt mir die Gewißheit, daß wir noch sehr weit von jedem Lande entfernt sind; gewöhnlich wird die Nähe einer Küste durch eine Menge Eisberge bezeichnet, aber nichts Derartiges ist ringsum zu sehen.

– Der Horizont ist durch den Nebel sehr beschränkt, antwortete Johnson.

– Gewiß, aber seit unserem Aufbruch sind wir nur über eine Fläche gezogen, die nicht enden zu wollen scheint.

– Wissen Sie, Herr Clawbonny, daß wir übrigens auf recht gefährlichen Wegen sind? Man gewöhnt sich und denkt nicht daran, und doch birgt das Eis, über das wir gleiten, genug grundlose Klüfte!

– Sie haben Recht, Freund, aber wir brauchen nicht zu fürchten, verschlungen zu werden. Der Widerstand dieser weißen Decke ist bei einer Kälte von dreiunddreißig Graden ganz beträchtlich! Denken Sie ferner daran, daß diese tagtäglich im Zunehmen ist, denn unter diesen Breiten fällt an neun Tagen unter zehn Schnee, selbst im April, im Mai, ja noch im Juni; und ich glaube, daß die größte Stärke der Lage wohl dreißig bis vierzig Fuß betragen dürfte.

– Das ist beruhigend, sagte Johnson.

– Wahrlich, wir sind nicht in der Lage, wie die Schlittschuhläufer auf dem Serpentine River, denen der zerbrechliche Boden jeden Augenblick unter den Füßen zu schwinden droht; solche Gefahr haben wir nicht zu befürchten.

– Kennt man vom Eise die Größe des Widerstandes? fragte der alte Seemann, der in Gesellschaft des Doctors gern Etwas zu lernen suchte.

– Vollkommen, entgegnete der Doctor. Was in der Welt wäre, Dank dem menschlichen Wissensdrange, noch nicht gemessen worden! Ist es nicht derselbe Drang, der uns hier gegen den Nordpol treibt, welchen der Mensch endlich kennen zu lernen verlangt? Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen, so kann ich diese etwa insoweit beantworten: Bei einer Dicke von zwei Zollen trägt das Eis einen Menschen; bei drei und einem halben Zolle einen Reiter sammt Pferd; bei fünf Zollen einen Achtpfünder; bei acht Zollen ein vollkommen bespanntes Feldgeschütz; bei zehn Zollen endlich eine ganze Armee, überhaupt eine beliebig vertheilte Last. Auf der Stelle, wo wir hier gehen, könnte man die Zollspeicher von Liverpool oder die Londoner Parlamentsgebäude errichten.

– Das ist nur schwer zu begreifen, sagte Johnson, aber Herr Clawbonny, Sie sprachen auch von dem Schneefall, der in diesen Gegenden an neun Tagen unter zehn einträte; die Richtigkeit der Thatsache bestreite ich nicht; aber wo kommt der viele Schnee her, denn ich sehe nicht ein, wie die gefrorenen Meeresflächen hier die dazu nöthige bedeutende Verdunstung gestatten sollten.

– Ihre Beobachtung ist ganz richtig, Johnson; meiner Ansicht nach entstammt auch der weitaus größte Theil des Schnees oder Regens, der uns hier trifft, den Meeren der gemäßigten Zone. Eine solche Flocke, ursprünglich ein Wassertröpfchen eines europäischen Flusses, hat sich dort dampfförmig erhoben, mit anderen gleichen Wolken gebildet und wird am Ende hier niedergeschlagen. Es ist also gar nicht unmöglich, daß wir, indem wir von diesem Schnee trinken, unseren Durst aus vaterländischen Flüssen stillen.

– Immer der gleiche Kreislauf!« erwiderte der Rüstmeister.

Da vernahm man Hatteras‘ Stimme, der ihre Abweichung vom Wege berichtigte und diese Unterhaltung unterbrach.

Der Nebel wurde dichter und erschwerte sehr die Einhaltung der geraden Richtung.

Gegen acht Uhr Abends hielt die kleine Gesellschaft endlich an, nachdem sie fünfzehn Meilen zurückgelegt hatte. Das Wetter blieb fortwährend trocken; das Zelt wurde aufgeschlagen, der Wärmespender in Thätigkeit gesetzt, man aß, und die Nacht verlief ruhig.

Hatteras und seine Genossen wurden von erwünschter Witterung begünstigt. Sie setzten ihre Reise auch an den folgenden Tagen ohne Schwierigkeiten fort, obgleich die Kälte äußerst streng wurde, so daß das Quecksilber im Thermometer gefroren blieb. Erhob sich noch Wind dazu, so hätte Keiner einer solchen Temperatur zu widerstehen vermocht. Der Doctor constatirte bei dieser Gelegenheit die Richtigkeit der Beobachtungen, welche Parry bei seiner Excursion nach der Insel Melville machte. Dieser berühmte Seefahrer stellt den Satz auf, daß ein genügend mit Kleidung versehener Mensch ungestraft bei größter Kälte in freier Luft verweilen kann, vorausgesetzt, daß diese Luft ruhig ist; sobald aber der leiseste Wind sich erhebt, fühle man im ganzen Körper einen brennenden Schmerz, und es erfolge unter heftigsten Kopfschmerzen bald der Tod. Der Doctor wurde denn auch gar nicht mehr recht ruhig, da er sich sagte, daß schon wenig Wind hinreiche, sie bis auf das Mark zu erstarren.

Am 5. März beobachtete er eine in diesen Breiten nur seltene Erscheinung. Bei vollkommen reinem Himmel und schönstem Sternenglanze fiel, ohne daß nur eine Wolke sichtbar gewesen wäre, ein reichlicher Schnee. Die Sternbilder blieben durch die Flocken sichtbar, welche sich schön gleichmäßig niedersenkten. Das währte etwa zwei Stunden, ohne daß der Doctor sich über die Entstehungsursache eine befriedigende Rechenschaft zu geben vermochte.

Auch das letzte Viertel des Mondes war nun vorüber; während siebenzehn Stunden von je vierundzwanzigen war es völlig dunkel; die Reisenden mußten sich durch Stricke verbinden, um einander nicht zu verlieren. Eine gerade Richtung des Weges war kaum einzuhalten.

Nach und nach fingen die muthigen Leute, obwohl die eiserne Nothwendigkeit sie trieb, doch zu ermatten an. Sie machten öfter Halt, und durften doch, in Rücksicht auf die vorräthigen Nahrungsmittel, keine Stunde vergeuden.

Nach der Stellung des Mondes und der Sterne bestimmte Hatteras häufig ihre Lage. Als aber nun ein Tag nach dem anderen verfloß und die Reise sich endlos zu verlängern schien, fragte er sich manchmal, ob denn der Porpoise wirklich noch existire; ob bei dem Amerikaner nicht etwa durch das, was er hatte ausstehen müssen, auch das Gehirn gelitten habe, oder ob er nicht gar, da er für sich doch keine Rettung sah, aus Haß gegen die englische Nation, auch sie einem gewissen Tode entgegenführen wolle.

Er theilte dem Doctor seinen Verdacht mit; dieser theilte ihn keineswegs, aber es war ihm klar, daß zwischen dem englischen und dem amerikanischen Kapitän eine unselige Eifersucht Platz greife.

»Diese beiden Männer werden schwerlich in gutem Vernehmen mit einander bleiben«, sprach er zu sich selbst.

Am 14. März, und nach sechzehntägigem Marsche befanden sich die Reisenden immer noch erst unter’m zweiundachtzigsten Breitegrade; ihre Kräfte gingen zur Neige und noch hundert Meilen trennten sie von dem Fahrzeuge; ihre Leiden zu vervollständigen, mußten die Rationen auf ein Viertel herabgesetzt werden, um nur den Hunden ihr volles Futter zu sichern.

Auf Jagdbeute konnte man leider auch nicht rechnen – sie waren nur noch mit sieben Schuß Pulver versehen und sechs Kugeln war ihr ganzer Vorrath. Auf mehrere weiße Hasen und einige Füchse, die übrigens beide nur selten zu sehen waren, hatte man, ohne zu treffen, geschossen.

Freitags, am 15., war der Doctor so glücklich, eine Robbe zu entdecken, die auf dem Eise lag. Er verwundete sie durch mehrere Schüsse, und da das Thier durch sein schon zugefrorenes Loch nicht entwischen konnte, wurde es bald erreicht und erschlagen. Es war ein großes Exemplar; Johnson weidete es kunstgerecht aus, aber bei seiner außerordentlichen Magerkeit bot es den Reisenden nur wenig Nahrung, da sie sich nicht entschließen konnten, nach Art der Eskimos dessen Thran zu trinken.

Der Doctor versuchte zwar mit aller Ueberwindung, diese widerliche Flüssigkeit zu verschlucken, aber er mußte trotzdem davon abstehen. Das Fell des Thieres hob er, ohne recht zu wissen wozu, nur so nach Jägergewohnheit, auf und barg es im Schlitten.

Am Morgen des Sechzehnten entdeckte man einige höhere und niedrigere Eisberge am Horizont. War das ein Anzeichen der nahen Küste oder nur die Folge von Bewegungen des Eismeeres? Die Entscheidung hierüber war schwer.

Einen dieser Spitzhügel benutzten die Reisenden, als sie dahin gelangt waren, um mit Hilfe der Eisklingen sich darin ein besseres Obdach, als das Zelt bot, auszuhöhlen, und nach drei Stunden unausgesetzter Arbeit konnten sie sich schon um den behaglichen Ofen lagern.

Einundzwanzigstes Capitel.


Einundzwanzigstes Capitel.

Das offene Meer.

Am folgenden Morgen beschäftigten sich Johnson und Bell mit der Einschiffung der Lagergeräthe. Um acht Uhr war Alles zur Abfahrt bereit. In dem Augenblicke, da sie diese Küste verlassen wollten, erinnerte der Doctor seine Gefährten an das Auffinden jener Fußspuren, ein Ereigniß, das ihm doch gar nicht aus dem Sinne wollte.

Wollten jene Menschen den Norden erreichen? Hatten sie irgend ein Hilfsmittel, das Polarmeer zu überschreiten, bei sich? Würde man ihnen auf diesem neuen Wege wieder begegnen?

Kein Anzeichen hatte seit drei Tagen auf die Anwesenheit jener Reisenden hingedeutet, und wer sie auch waren, gewiß waren sie in Altamont-Harbour nicht gewesen. Das war ein noch von keines Menschen Fuß betretener Ort.

Trotzdem wollte der Doctor, dem seine Gedanken keine Ruhe ließen, einen letzten Blick über die Landfläche werfen; er erklomm also eine etwa hundert Fuß hohe Anhöhe; dort konnte er nach Süden hin den ganzen Horizont übersehen.

Oben angekommen brachte er sein Fernrohr vor das Auge. Wie war er aber erstaunt, Nichts zu erkennen, nicht etwa weit draußen in den Ebenen, sondern auch nur auf einige Schritte Entfernung. Das war einzig in seiner Art; er versuchte es von Neuem, endlich sah er das Fernrohr selbst an … das Objectivglas fehlte daran.

»Das Objectivglas!« rief er aus.

Man begreift, wie plötzlich es in seinem Geiste tagte; er stieß einen so lauten Schrei aus, daß seine Gefährten ihn hören konnten, und ihre Angst war groß, als sie ihn vollen Laufes den Hügel herabeilen sahen.

»Ei! Was ist das?« fragte Johnson.

Der athemlose Doctor konnte kein Wort hervorbringen. Endlich sagte er:

»Die Spuren … die Schritte … die Reisegesellschaft! …

– Nun, was? forschte Hatteras, … Fremde hier!

– Nein! … Nein! erwiderte der Doctor, das Objectiv …, mein Objectiv … mir …«

Er zeigte das unvollständige Instrument.

»Ah, rief der Amerikaner, … Sie hatten das verloren?

– Ja!

– Nun aber, die Fußtapfen …

– Waren die unserigen, Freunde, die unserigen! rief der Doctor. Wir hatten uns im Nebel verirrt, sind im Kreise gegangen und auf unsere eigenen Spuren zurückgekommen.

– Aber dieser Abdruck von Schuhen? sagte Hatteras.

– Rührt von Bell’s Schuhen, von Bell selbst her, der, nachdem er seine Schneeschuhe zerbrochen hatte, einen ganzen Tag durch den Schnee wanderte.

– Das ist wirklich wahr«, bekräftigte Bell.

Der Irrthum war so augenscheinlich, daß Alle laut auflachten, nur Hatteras nicht, der bei dieser Entdeckung doch sicher nicht der am wenigsten Glückliche war.

»Da haben wir uns recht lächerlich gemacht, fuhr der Doctor fort, als sich der Ausbruch der Heiterkeit legte. Hübsche Voraussetzungen, die wir machten! Fremde auf dieser Küste! Da sieht man, daß man sich erst überlegen soll, bevor man spricht. Doch da wir in dieser Hinsicht unserer Unruhe enthoben sind, bleibt uns nur übrig, abzufahren.

– Vorwärts denn!« befahl Hatteras.

Nach einer Viertelstunde hatte Jeder in der Schaluppe seinen Platz eingenommen, und diese verließ, als das Focksegel entfaltet und der Klüverbaum gehißt war, rasch Altamont-Harbour.

Diese Meerüberfahrt begann Mittwochs, am 10. Juli; die Schiffer befanden sich dem Pole sehr nahe, genau hundertfünfundsiebenzig Meilen. Für den Fall, daß an diesem Punkte der Erdkugel noch ein Land lag, mußte die Seefahrt also eine sehr kurze sein.

Der Wind war schwach, aber günstig; das Thermometer zeigte fünfzig Grad über Null (+10° hunderttheilig); es war ordentlich warm.

Die Schaluppe hatte durch den Schlittentransport nicht gelitten; sie war in vollkommen gutem Zustande und lenkte sich leicht. Johnson führte das Steuer. Der Doctor, Bell und der Amerikaner hatten sich mitten zwischen den Reise-Effecten, die über und unter dem Deck verstaut waren, bestens eingerichtet. Hatteras, der vorn saß, heftete seinen Blick nach dem geheimnißvollen Punkte, nach dem er sich mit geheimer Kraft, wie die Magnetnadel nach ihrem Pole, hingezogen fühlte. Wenn irgend ein Ufer in Sicht käme, wollte er es zuerst entdecken. Diese Ehre verdiente er wohl vollkommen.

Er bemerkte übrigens, daß die Oberfläche des Polarmeeres solche kurze Wellen zeigte, wie sie auf den Binnenmeeren vorzukommen pflegen. Er sah darin ein Vorzeichen nicht zu fernen Landes, und der Doctor theilte in dieser Beziehung seine Meinung.

Man begreift unschwer, wie Hatteras so lebhaft wünschen mußte, einen Continent am Nordpole anzutreffen. Welche Enttäuschung harrte seiner, wenn da das unbeständige, unfaßbare Meer sich ausdehnte, wo ein Stückchen Land, und wenn es noch so klein war, dazu gehörte, seine Projecte zu krönen! Und wirklich, wie sollte man einem unbestimmten Meerestheile einen speciellen Namen geben? Wie sollte er auf offenem Wasser die Flagge seines Vaterlandes aufpflanzen? Wie endlich im Namen Ihrer huldvollen Majestät von einem Theile des flüssigen Elementes Besitz ergreifen?

So blickte denn auch Hatteras unverwandten Auges, die Bussole in der Hand, in äußerster Spannung nach dem Norden.

Nichts aber zeigte sich bis zum Horizonte, was die Fläche des Polarbeckens begrenzte; weit entfernt verschmolz es mit dem reinen Himmel dieser Gegenden. Einige in’s weite Meer entfliehende Eisberge schienen den Schifffahrern freie Fahrt zu machen.

Der Anblick dieser Gegend war ein besonders fremdartiger. Machte er diesen Eindruck nur auf den hocherregten und überreizten Geist der Reisenden? Es ist das schwer zu entscheiden. Doch hat der Doctor in seinen Tagesnotizen die bizarre Physiognomie dieses Oceans gezeichnet; er spricht darüber, wie Penny, nach welchem diese Gegenden einen Anblick, »der im stärksten Contraste zu einem von Millionen lebender Wesen bevölkerten Meere« steht, bieten sollen.

Die Wasserfläche, welche in den unbestimmten Nuancen von Lasurblau gefärbt war, sah auffallend durchsichtig aus und hatte eine unglaubliche lichtzerstreuende Kraft, als ob sie aus Schwefelkohlenstoff bestände. Jene Durchsichtigkeit gestattete mit den Blicken in unmeßbare Tiefen zu dringen; es hatte den Anschein, als ob das Polarbecken, wie ein ungeheures Aquarium, vom Boden aus beleuchtet wäre. Irgend ein im Meeresgrunde erzeugtes elektrisches Phänomen beleuchtete wohl auch die untersten Lagen; so schien die Schaluppe über einer bodenlosen Tiefe zu schweben.

Ueber der Oberfläche dieses wunderbaren Wassers flogen die Vögel in unzähligen Schaaren wie große dichte Sturmwolken. Zugvögel, Strandvögel, Meerhähne zeigten zusammen alle Arten jener großen Familie von Wasservögeln, von dem in südlichen Meeren so häufigen Albatros, bis zu dem Pinguin der arktischen Meere, aber mit riesenhaften Verhältnissen. Unaufhörlich ertönte ihr betäubendes Geschrei. Bei ihrer Betrachtung ging dem Doctor seine Kenntniß in der Naturwissenschaft zu Ende; er wußte die Namen dieser merkwürdigen Arten nicht zu nennen, und ließ den Kopf sinken, wenn ihre Flügel mit unbeschreiblicher Gewalt die Lüfte peitschten.

Manche dieser Luftungeheuer hatten wohl bis zwanzig Fuß Flügelweite; sie bedeckten die Schaluppe vollständig, und hier waren legionenweise Vögel, deren Namen niemals im »Index Ornithologus« von London erschienen.

Der Doctor war wie betäubt davon, und jedenfalls erstaunt, seine Wissenschaft so lückenhaft zu finden.

Wenn dann sein Blick sich von den Wundern des Himmels weg nach der Oberfläche dieses friedlichen Oceans wandte, begegnete er nicht weniger wunderbaren Schöpfungen des Thierreichs; unter anderen Medusen, die eine Länge bis zu dreißig Fuß erreichten. Sie dienten dem beflügelten Volke als Hauptnahrung, und schwammen wie vollständige Inseln zwischen den gigantischen Algen und Meermoosen umher. Wie wunderbar war das! Welche Verschiedenheit von jenen mikroskopischen Medusen, welche Scoresby im Grönländischen Meere beobachtet hatte, und deren Anzahl auf einen Raum von zwei Quadratmeilen jener Seefahrer auf dreiundzwanzig Trilliarden, achthundertachtundachtzig Billiarden von Milliarden schätzte.4

Tauchte der Blick nun von der Oberfläche in das durchsichtige Wasser hinab, so war das Bild des von Tausenden von Thieren durchfurchten Wassers nicht minder übernatürlich; bald gingen diese Thiere schnell in die größten Tiefen des flüssigen Elementes, und das Auge sah sie nach und nach kleiner und weniger sichtbar werden, und zuletzt nach Art der Phantasmagorieen verschwinden; bald stiegen sie von unten auf und wuchsen, je nachdem sie sich der Oberfläche des Oceans näherten. Diese Seeungeheuer schienen über die Schaluppe nicht im Mindesten erschreckt; sie streiften sie im Vorüberschwimmen mit ihren enormen Flossen; da, wo Wallfischfahrer mit gutem Rechte erschrocken wären, hatten unsere Seefahrer gar keinen Gedanken an eine drohende Gefahr, trotzdem daß verschiedene dieser Meeresbewohner eine wahrhaft ungeheure Größe erreichten.

Junge Seekälber spielten umher; der Narwal, ebenso phantastisch wie das Seeeinhorn, verfolgte mit seiner langen geraden und konischen Waffe, die übrigens ein sehr nützliches Werkzeug ist, um Eisschollen zu zertheilen, die furchtsameren Wallfische, deren unzählige aus den Luftöffnungen Wasser und Schaumstrahlen auswarfen und die Luft mit eigenthümlichem Pfeifen erfüllten; der Nord-Kaper mit seinem zarten Schwanze und breiten Schwanzflossen durchschoß die Wogen mit unmeßbarer Schnelligkeit, wobei er im Laufe sich mit ebenso schnellen Thieren, wie Schellfischen und Makrelen, ernährte, während der trägere weiße Wallfisch stille Mollusken, die ebenso indolent waren wie er selbst, verschluckte.

Mehr in der Tiefe schwammen die Balenopteren mit spitziger Schnauze, die langen und schwärzlichen grönländer Anarnaks, riesige Pottfische, eine in allen Meeren weit verbreitete Species, zwischen Bänken von grauer Ambra, oder lieferten sich gewaltige Schlachten, die den Ocean mehrere Meilen weit rötheten. Die cylindrischen Blasenquallen, der große Tegusik von Labrador, Meerschweine, in Sandwellen liegend, die ganze Familie der Robben und Wallrosse, Meer-Hunde, -Pferde und -Bären, See-Löwen und -Elephanten schienen die feuchten Flächen des Oceans abzuweiden, und der Doctor konnte diese unzähligen Thiere eben so leicht bewundern, wie die Schalthiere und Fische durch die Glasbassins des Zoologischen Gartens.

Welche Schönheit, welche Mannigfaltigkeit, welche Machtfülle in der Natur! Wie erschien Alles seltsam und wunderbar im Innern dieser Polgegenden!

Die Luft war von übernatürlicher Reinheit; man hätte sagen können, sie sei mit Sauerstoff überladen; mit Wonnegefühlen sogen die Seefahrer diese Luft ein, die ihnen eine größere Lebenswärme eingoß; ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, unterlagen sie einem schnelleren Verbrennungsprocesse, von dem man keine auch nur abgeschwächte Beschreibung geben kann; ihre geistigen Functionen, ebenso wie die der Verdauung und der Athmung, vollzogen sich mit übermenschlicher Energie; Gedanken entwickelte ihr überreiztes Gehirn bis in’s Ungeheuerliche: in einer Stunde lebten sie das Leben eines ganzen Tages.

Mitten unter diesen staunenerregenden Wundern wiegte sich die Schaluppe friedlich bei mäßigem Winde.

Gegen Abend verloren Hatteras und seine Gefährten Neu-Amerika aus dem Gesicht. Die Stunden der Nacht schlugen wohl für die gemäßigten Zonen nicht anders, als für diese polaren; hier aber beschrieb die Sonne in immer weiteren Kreisen eine dem Umkreise des Meeres ganz parallele Bahn. Die von den schiefen Strahlen beschienene Schaluppe konnte diesen Mittelpunkt des Lichtes, der mit ihr fortrückte, nicht verlassen.

Dennoch fühlten die lebenden Wesen der hochnördlichen Regionen den Abend kommen, ebenso als ob das strahlende Gestirn unter den Horizont versunken wäre; Vögel, Fische und Wale verschwanden. Wohin? Wer könnte es sagen? Aber auf ihr Geschrei, Gepfeife, auf das Erschüttern der durch das Athmen der Seeungeheuer bewegten Wogen folgte bald eine schweigende Ruhe; die Wellen schliefen unter kaum fühlbarem Auf- und Niedersteigen ein, und die Nacht gewann trotz der Strahlen der Sonne ihren Frieden ausstreuenden Einfluß.

Seit der Abfahrt von Altamont-Harbour hatte die Schaluppe einen Breitegrad nach Norden zurückgelegt; am andern Tage erschien auch noch Nichts am Horizont; weder jene hohen Bergspitzen, welche schon von fern das Land melden, noch jene besonderen Zeichen, aus denen die Seefahrer die Nähe von Inseln oder Continenten schließen.

Der Wind blieb gut, ohne stark zu sein; das Meer war wenig unruhig; die Begleitung von Vögeln und Fischen erschien ebenso wie am Tage vorher; der Doctor, der sich nach dem Wasser hinauslehnte, konnte sehen, wie die Wale ihre tiefen Zufluchtsstätten verließen und allmälig zur Meeresoberfläche aufstiegen. Einige Eisberge und hier und da verstreute einzelne Schollen unterbrachen allein die ungeheure Eintönigkeit des Oceans.

Im Ganzen war das Eis selten und konnte den Lauf des Schiffes nicht hindern; es sei hier bemerkt, daß die Schaluppe sich zehn Grad oberhalb des Kältepoles befand, und bezüglich der Linien gleicher Temperatur – Isothermen – war das dasselbe, als ob sie zehn Grad unterhalb desselben gewesen wäre.

Es war demnach gar nicht zu verwundern, daß das Meer um diese Jahreszeit offen war, wie es etwa so in der Linie der Bai Disko im Baffins-Meere sein mußte. Ein Schiff würde da also während der Sommermonate freie Fahrt gehabt haben.

Diese Beobachtung ist von großem praktischen Werthe; wenn die Wallfischfänger wirklich einmal, sei es vom Norden Amerikas oder Asiens aus, bis in das Polarbecken vorzudringen vermögen, können sie sicher sein, dort sehr bald eine volle Ladung zu bekommen; denn dieser Theil des Oceans scheint der Fischkasten der Erde, der Hauptaufenthaltsort der Wallfische, Robben und überhaupt aller Seethiere zu sein.

Zu Mittag fiel die Wasserlinie immer noch mit der des Himmels zusammen; der Doctor begann an dem Vorhandensein eines festen Landes in diesen hohen Breiten zu zweifeln.

Und doch, wenn er darüber näher nachdachte, war er fast gezwungen, an die Existenz eines solchen zu glauben. In den ersten Tagen der Erde nach der Erkaltung ihrer Kruste mußte doch das durch den Niederschlag der in der Luft enthaltenen Dämpfe entstandene Wasser der Centrifugalkraft gehorchen und sich nach den Aequatorialgegenden hindrängen, woraus nothwendig das Emportauchen der dem Pole benachbarten Gegenden zu folgern ist.

Der Doctor fand diesen Schluß ganz richtig.

Und so erschien er auch Hatteras!

Immer suchten die Blicke des Kapitäns die Nebel am Horizont zu durchdringen. Das Fernrohr kam nicht mehr von seinen Augen weg. Aus der Farbe des Wassers, aus der Form der Wogen, aus dem Wehen des Windes suchte er die Nähe eines Landes zu erspähen. Seine Stirn war nach vorn geneigt, und wer seine Gedanken nicht gekannt hätte, würde ihn doch bewundert haben, so sprachen sich in seiner ganzen Erscheinung die brennendsten Wünsche und die ängstlichsten Fragen aus!

  1. Diese Zahl entzieht sich ganz unserem Begriffsvermögen, deshalb sagte der englische Wallfischjäger, um sie anschaulicher zu machen, achtzigtausend Individuen würden von Erschaffung der Welt ab bis heute Tag und Nacht daran zu zählen haben.

Zweiundzwanzigstes Capitel.


Zweiundzwanzigstes Capitel.

Annäherung an den Pol.

In dieser spannenden Ungewißheit verfloß die Zeit. An dem so klar gezeichneten Umkreis ließ sich nichts wahrnehmen: Nichts als Himmel und Meer; nicht einmal auf der Oberfläche des Wassers ein Hälmchen von Landgewächsen, wie es einst Columbus das Herz erfreute.

Hatteras schaute unablässig.

Endlich, gegen sechs Uhr Abends, zeigte sich über dem Meeresspiegel ein Dampf von unbestimmter Gestalt, aber merklich hoch aufsteigend, fast wie eine Rauchsäule. Bei völlig reinem Himmel konnte man’s nicht für eine Wolke halten; mitunter verschwand er, dann kam er wieder zum Vorschein, wie in heftiger Bewegung.

Hatteras beobachtete die Erscheinung zuerst, richtete sein Fernrohr auf den unerklärlichen Dampf und beobachtete ihn eine volle Stunde unausgesetzt.

Plötzlich kam ihm vermuthlich ein sicheres Kennzeichen zur Anschauung; er streckte den Arm nach dem Horizont aus, und rief mit lauthallender Stimme:

»Land! Land!«

Bei diesem Wort sprang Jeder auf, wie von einem elektrischen Schlag getroffen.

Eine Art Rauch stieg merklich hoch über der Meeresfläche auf.

»Ich sehe es! Ich seh’s! rief der Doctor aus.

– Ja! Gewiß! … Ja, fiel Johnson ein.

– Eine Wolke, sagte Altamont.

– Land! Land!« erwiderte Hatteras mit unerschütterlicher Ueberzeugung.

Die fünf Seemänner fuhren fort, mit gespanntester Aufmerksamkeit zu beobachten.

Aber wie es oft geschieht, wenn man der Entfernung wegen Gegenstände unbestimmt sieht, der beobachtete Punkt schien wieder verschwunden. Endlich konnten die Blicke ihn von Neuem wahrnehmen, und der Doctor glaubte sogar zwanzig bis fünfundzwanzig Meilen weit nordwärts einen flüchtigen Schimmer zu erkennen.

»Es ist ein Vulkan! rief er aus.

– Ein Vulkan? fragte Altamont.

– Ganz gewiß.

– Unter so hohem Breitegrad!

– Und warum nicht? fuhr der Doctor fort; ist nicht Island ein vulkanisches Land, und so zu sagen durch Vulkane entstanden?

– Ja! Island, versetzte der Amerikaner; aber so in der Nähe des Pols!

– Nun, hat nicht unser berühmter Landsmann, der Commandeur James Roß, festgestellt, daß es auf dem Südpol-Land unter 170° Länge und 78° Breite zwei Vulkane, Erebus und Terror, in voller Thätigkeit giebt? Warum sollten nicht ebenso am Nordpol Vulkane existiren?

– Wohl möglich, erwiderte Altamont.

– Ei! Nun sehe ich’s deutlich, rief der Doctor, es ist ein Vulkan!

– Nun denn, sagte Hatteras, steuern wir gerade darauf los.

– Der Wind fängt an widrig zu werden.

– Ziehen Sie das Focksegel bei, so nahe wie möglich.«

Aber dieses Manöver führte die Schaluppe nur von dem beobachteten Punkt ab, und man konnte ihn mit den achtsamsten Blicken nicht wieder zu sehen bekommen.

Doch war an der Nähe der Küste nicht mehr zu zweifeln. Hier lag also das Reiseziel vor Augen, wenn es auch noch nicht erreicht war, und es sollte wohl keine vierundzwanzig Stunden mehr dauern, bis dieser neue Boden von eines Menschen Fuß betreten ward. Nachdem die Vorsehung den kühnen Seeleuten so nahe zu kommen gestattet, würde sie ihnen doch wohl das Landen nicht versagen.

Dennoch gab unter den gegenwärtigen Umständen Niemand eine solche Freude kund, wie sie solch‘ eine Entdeckung hervorrufen mußte; Jeder verschloß sich in seinem Innern, und fragte sich, was es wohl mit diesem Pol-Land für eine Bewandtniß habe. Die Thiere schienen es zu meiden; am Abend sah man die Vögel, anstatt daselbst eine Zuflucht zu suchen, raschen Flugs nach dem Süden eilen! War’s denn ein so ungastliches Land, daß eine Möve oder ein Ptarmigan daselbst keine Zuflucht fanden? Selbst die Wallfische sah man in den durchsichtigen Gewässern eilig von dieser Küste flüchten. Woher kam das Gefühl des Widrigen, wo nicht des Schreckens, wovon alle lebenden Wesen in dieser Weltgegend beseelt waren?

Unsere Seefahrer theilten die allgemeine Empfindung; sie gaben sich den Gefühlen ihrer Lage hin, und allmälig fand sich der Schlaf ein, ihre müden Augenlider zu schließen.

Hatteras hatte Wache zu halten. Er faßte das Steuer; der Doctor, Altamont, Johnson und Bell schliefen, auf die Bänke gelagert, einer nach dem andern ein, und waren bald in’s Reich der Träume versenkt.

Hatteras bemühte sich, dem Schlaf zu widerstehen; er wollte nichts von dieser kostbaren Zeit verlieren; aber die langsame Bewegung der Schaluppe wiegte ihn allmälig ein, und er sank trotz aller Anstrengung in unwiderstehlich bewältigenden Schlummer.

Inzwischen kam das Fahrzeug kaum vorwärts; der Wind vermochte das ausgespannte Segel nicht zu schwellen. In der Ferne warfen einige unbewegliche Eisblöcke im Westen die Lichtstrahlen zurück, und bildeten auf dem Ocean glühende Streifen.

Hatteras versank in Träume. In raschem Flug schweifte sein Gedanke über sein ganzes Dasein; er durchlief seine Lebensbahn mit der den Träumen eigenthümlichen Schnelligkeit, welche sich jeder Berechnung entzieht, dann warf er einen Rückblick über die letztverflossene Zeit, sein Winterlager, die Bai Victoria, das Fort Providence, das Doctors-House, das Auffinden des Amerikaners unter’m Eis.

Darauf kehrte er weiter in die Vergangenheit zurück; träumte von seinem Schiff, dem verbrannten Forward, seinen Genossen, den Verräthern, welche ihn im Stiche gelassen. Was war aus ihnen geworden? Er dachte an Shandon, an Wall, den brutalen Pen. Wo mochten sie jetzt sein? War es ihnen gelungen, über die Eisflächen bis zum Baffins-Meer zu dringen?

Sodann schweifte seine träumende Phantasie noch weiter hinauf zu seiner Abfahrt aus England, seinen früheren Fahrten, seinen mißlungenen Versuchen, seinen unglücklichen Erlebnissen. Da vergaß er seinen gegenwärtige Lage, sein nahes Gelingen, seine schon halbverwirklichten Hoffnungen. Aus der Freude verfiel er in Besorgnisse.

In solchen Träumen lag er zwei Stunden lang, dann führte ihn der Schwung seiner Gedanken wieder dem Pol zu, wie er endlich dieses englische Land betreten und die Flagge des Vereinigten Königreichs aufpflanzen sollte.

Während er so in träumendem Schlummer lag, stieg am Horizont ungeheures, olivengraues Gewölk auf und verdüsterte den Ocean.

Man kann sich kaum eine Vorstellung machen, wie blitzschnell in den arktischen Meeren die Orkane entstehen. Wenn die in den Gegenden des Aequators entstandenen Dünste über den unermeßlichen Eisflächen sich verdichten, strömen die zu ihrem Ersatz dienenden Luftmassen mit unwiderstehlicher Gewalt heran. Daraus erklärt sich das energische Auftreten der Polarstürme.

Beim ersten Windstoß raffte sich der Kapitän mit seinen Genossen aus dem Schlaf auf, zum Manövriren bereit.

Die Wellen thürmten sich hoch auf schwach entwickelter Basis; die Schaluppe, von heftigem Wogendrang hin- und hergeworfen, sank bald in tiefe Wasserschlünde hinab, bald schwebte sie oben auf spitzen Wellen in Winkeln von mehr als fünfundvierzig Grad geneigt.

Hatteras ergriff mit fester Hand das Steuer, das aber mitunter in Folge heftigen Gierschlags ihn zurückwarf und wider Willen krümmte. Johnson und Bell waren unablässig bemüht, das in die Schaluppe gedrungene Wasser wieder hinaus zu schaffen.

»Eines solchen Sturmes hatten wir uns doch nicht versehen, sagte Altamont, an seine Bank sich klammernd.

– Hier muß man auf Alles gefaßt sein«, erwiderte der Doctor.

So sprachen sie mitten unter’m Zischen der Luft und dem Getöse der Wellen, welche vom Sturm gepeitscht in Staub zerstoben; es wurde fast unmöglich sich zu verstehen.

Es war schwer, die nördliche Richtung zu halten; die dichten Staubregen gestatteten kaum einige Klafter weit den Blick über das Meer; jedes Merkzeichen verschwand.

Dieser plötzliche Sturm im Moment, wo man sich am Ziele sehen konnte, schien ernste Mahnungen zu enthalten; er erschien den aufgeregten Gemüthern wie ein Verbot, weiter vorzudringen. Wollte die Natur den Zugang zum Pol verwehren?

Doch sah man das energische Antlitz dieser Männer, so begriff man, daß sie Sturm und Wogen zu trotzen verstanden, um bis an’s Ende auszuhalten.

So kämpften sie den ganzen Tag lang, jeden Augenblick dem Tode trotzend, ohne weiter nördlich zu kommen, aber auch nicht zurückgeworfen, vom Regen durchnäßt und von entgegenspritzenden Wellen triefend; durch die pfeifenden Lüfte vernahm man unheimliches Vogelgeschrei.

Endlich, gegen sechs Uhr Abends, legte sich plötzlich der Sturm, und das Meer zeigte sich so ruhig und eben, als wäre es seit zwölf Stunden nicht aufgeregt worden.

Der Grund dieses plötzlichen Wechsels lag in einem außerordentlichen Phänomen, wie es einst der Kapitän Sabine in den Meeren Grönlands erlebte.

Der Nebel ward, ohne aufzusteigen, in seltsamer Weise von Licht durchdrungen.

Die Schaluppe fuhr in einem Streifen elektrischen Lichtes; einem ungeheuren Sanct Elmsfeuer voll Glanz, aber ohne Wärme. Der Mast, das Segel, das Takelwerk hob sich schwarz auf dem phosphorescirenden Hintergrund des Himmels mit unvergleichlicher Klarheit ab. Die Schiffenden waren rings von durchsichtigen Strahlen umspielt, und ihre Gesichter färbten sich in feurigem Reflex.

Die plötzlich eintretende Windstille an dieser Stelle des Oceans rührte ohne Zweifel von der aufsteigenden Bewegung der Luftsäulen her, während der Sturm als eine Art Wirbelwind mit reißender Schnelligkeit rings um dieses stille Centrum fortwüthete.

Aber diese feurige Atmosphäre regte bei Hatteras einen anderen Gedanken an.

»Der Vulkan! rief er aus.

– Ist’s möglich? sagte Bell.

– Nein! Nein! entgegnete der Doctor; solche Flammen würden, wenn sie bis hierher drängen, uns ersticken.

– Vielleicht ist’s sein Widerschein im Nebel, äußerte Altamont.

– Ebensowenig. Man müßte denn annehmen, wir seien nahe dem Lande und in diesem Falle würden wir das Getöse des Ausbruchs vernehmen.

– Aber dann? … fragte der Kapitän.

– Es ist ein kosmisches Phänomen, erwiderte der Doctor, welches bis jetzt noch wenig beobachtet worden ist! … Fahren wir weiter, so werden wir bald aus dieser erleuchteten Sphäre heraus- und wieder in das Dunkel und das Sturmwetter hineinkommen.

– Wie dem auch sein mag, vorwärts! versetzte Hatteras.

– Vorwärts!« stimmten seine Gefährten ein, und dachten nicht einmal daran, an dieser ruhigen Stelle sich zu erholen.

Das Segel mit feurigen Falten hing am funkensprühenden Mast herab; die Ruder tauchten in glühende Wogen und schienen Wellen von Funken aufzurühren, die aus hellleuchtenden Wassertropfen bestanden.

Hatteras schlug nach Maßgabe des Compasses wieder die nördliche Richtung ein; allmälig verlor der Nebel seinen Lichtgehalt, dann seine Durchsichtigkeit; man hörte in der Nähe Windessausen, und bald kam die Schaluppe wieder in die Zone der Stürme.

Aber der Wind schlug glücklicher Weise südwärts um, und das Fahrzeug konnte mit dem Wind gerade auf den Pol zufahren, zwar mit Gefahr zu scheitern, aber mit unsinniger Schnelligkeit; jeden Augenblick konnte es auf eine Klippe, Felsen oder eine Eismasse stoßen, wodurch es unfehlbar in Stücke gehen mußte.

Inzwischen wurde die Nähe der Küste merkbar; es ergaben sich dafür auffallende Anzeichen. Plötzlich spaltete sich der Nebel wie ein Vorhang, den der Wind zerriß und man konnte einen Moment am Horizont eine ungeheure Flammensäule himmelwärts aufsteigen sehen.

»Der Vulkan! Der Vulkan! …«

So rief’s aus allen Kehlen, aber die phantastische Erscheinung verschwand wieder; der Wind schlug in Südost um, faßte das Fahrzeug quer, und trieb sie nochmals von diesem unnahbaren Lande zurück.

»Verdammt! rief Hatteras, und zog sein Segel ein; wir waren nur noch drei Meilen von der Küste!«

Hatteras vermochte der Gewalt des Sturmes nicht zu widerstehen; aber, ohne zu weichen, lavirte er im Wind, der mit unbeschreiblichem Ungestüm tobte. Mitunter ward die Schaluppe auf die Seite gelegt, daß zu befürchten war, ihr Kiel möge völlig emportauchen; doch gelang es mit Hilfe des Steuerruders, sie wieder aufzurichten.

Hatteras, mit flatternden Haaren, die Hand wie an’s Steuerruder geschmiedet, schien die Seele der Barke zu sein.

Mit einem Mal bot sich ein schrecklicher Anblick seinen Augen dar.

Keine sechzig Fuß weit entfernt schaukelte ein Eisblock auf der Spitze hochgethürmter Wellen; gleich der Schaluppe wogte er auf und nieder; er drohte herabzustürzen, wobei er sie dann schon bei einer Berührung zertrümmern würde.

Aber neben dieser Gefahr, in den Grund hinabgerissen zu werden, zeigte sich noch eine andere, nicht minder schreckliche; denn dieser auf’s gerathewohl treibende Block war mit weißen Bären besetzt, die wider einander gedrängt vor Schrecken betäubt waren.

»Bären! Bären!« rief Bell mit stockender Stimme.

Und Jeder sah mit Entsetzen dasselbe.

Der Eisblock schwankte erschrecklich; mitunter neigte er sich in so spitzen Winkeln, daß die Thiere in wildem Durcheinander wider einander rollten. Dann stießen sie ein Gebrumm aus im Wettstreit mit dem Toben des Sturmes, und es ließ sich ein furchtbares Concert von dieser schwimmenden Menagerie aus vernehmen.

Wenn dieses Eisfloß umstürzte, so würden die dem Fahrzeug zugeworfenen Bären auf dasselbe zu klimmen versuchen.

Eine volle Viertelstunde lang wogten dergestalt die Schaluppe und der Eisblock neben einander, bald zwanzig Klafter weit auseinander weg geschleudert, bald nahe zum Zusammenstoßen; bald ragte der eine, bald der andere in die Höhe, und die Ungethüme brauchten nur sich fallen zu lassen. Die grönländer Hunde zitterten; Duk blieb unbeweglich.

Hatteras und seine Gefährten verhielten sich stumm; es kam ihnen gar nicht in den Sinn, mit Hilfe des Steuers aus dieser gefährlichen Nachbarschaft wegzukommen, und sie hielten unabänderlich strenge ihre Richtung ein.

Ein unbestimmtes Gefühl, mehr Staunen wie Schrecken, hielt ihren Geist befangen.

Endlich kam der Block allmälig weiter ab, da der Wind ihn schneller trieb, als die Schaluppe.

Jetzt erhob sich der Sturm mit doppelter Wuth zu einer unbeschreiblichen Entfesselung der Atmosphäre; das Fahrzeug, aus den Wogen gehoben, fing an mit schwindelhafter Schnelligkeit sich im Kreise zu drehen; sein Focksegel wurde losgerissen und entflatterte, wie ein Vogel; im Wirbel der Wellen bildete sich ein rundes Loch gleich einem Maelstrom; die Schiffenden wurden in diesen Wirbel hineingezogen und fuhren mit solcher Schnelligkeit, daß trotz dieser ihre Wasserlinien unbeweglich schienen. Allmälig wurden sie hineingedrängt. Im Mittelpunkt des Schlundes bildete sich eine mächtige Anziehung, die sie lebendig hinabzuziehen drohte.

Alle Fünf sprangen sie mit verstörtem Blick auf. Schwindel erfaßte sie mit unbeschreiblicher Gewalt. Plötzlich stellte sich die Schaluppe senkrecht auf. Ihr Vordertheil ward der Wirbelbewegung Meister; die eigene Geschwindigkeit warf sie aus dem Kreis der Anziehung heraus, und sie ward mit der Schnelle einer Kanonenkugel weggeschleudert.

Altamont, der Doctor, Johnson, Bell, wurden auf ihre Bänke niedergeworfen.

Als sie wieder aufstanden, war Hatteras verschwunden.

Es war um zwei Uhr früh.

Dreiundzwanzigstes Capitel.


Dreiundzwanzigstes Capitel.

Die englische Flagge.

Ein vierfacher Schrei des Entsetzens entfuhr im ersten Moment der Brust der Männer.

»Hatteras! schrie der Doctor.

– Verschwunden! riefen Johnson und Bell.

– Verloren!«

Sie blickten rings umher. Nichts war zu sehen auf den tobenden Wogen.

Duk bellte mit verzweifeltem Ton; er wollte mitten in die Fluthen springen, und Bell konnte ihn kaum zurückhalten.

»Treten Sie an’s Steuerruder, Altamont, sagte der Doctor, daß wir Alles thun, unsern verunglückten Kapitän aufzufinden!«

Johnson und Bell setzten sich wieder auf ihre Plätze, Altamont faßte das Ruder, und die unstete Schaluppe kam wieder in die Richtung des Windes.

Johnson und Bell ruderten aus Leibeskräften; eine volle Stunde lang hielt man sich an der Stelle der Katastrophe und suchte, aber vergeblich! Hatteras war vom Sturme fortgerissen leider nicht aufzufinden.

Verloren! So nahe dem Pol! Das Ziel schon vor Augen!

Der Doctor rief, schrie, feuerte sein Gewehr ab; Duk heulte jammervoll; aber die Antwort blieb aus. Da ward Clawbonny von tiefem Schmerz ergriffen; sein Kopf sank ihm auf die Hände, und seine Genossen hörten ihn weinen.

In der That, so weit vom Lande entfernt, ohne Ruder, ohne ein Stück Holz, um sich daran zu halten, war es unmöglich, daß Hatteras die Küste erreichte, und wenn etwas von ihm an’s Land gelangte, war’s sein Leichnam.

Nachdem man eine Stunde lang gesucht, mußte man wieder nordwärts fahren im Kampf mit der Wuth des Sturmes.

Um fünf Uhr früh, am 11. Juli, legte sich der Wind; die Wellen wurden allmälig ruhig; der Himmel ward wieder klar, und kaum drei Meilen weit sah man das Land in vollem Glanze vor Augen.

Dieses neue Land war nur eine Insel, oder vielmehr ein Vulkan, der einem Leuchtthurme gleich auf dem Nordpol emporragte.

Der Berg, in vollem Ausbruch, warf eine Masse brennenden Gesteins und glühender Felsstücke aus; es war, als keuche ein Riese unter krampfhafter Erschütterung wiederholter Stöße; die ausgeschleuderten Massen flogen himmelhoch in die Lüfte, inmitten mächtiger Flammenstrudel und Lava-Ergießungen, die in reißenden Strömen sich seitwärts hinabwälzten: hier glühende Schlangen zwischen rauchenden Felsen; dort sprühende Kaskaden inmitten purpurnen Dampfes, und weiter abwärts ein Feuerstrom mit tausend funkelnden Zuflüssen durch die aufsprudelnde Mündung in’s Meer stürzend.

Der Vulkan schien nur einen einzigen Krater zu haben, woraus die Feuersäule aufstieg, quer von leuchtenden Blitzen durchzuckt; ein deutlicher Beweis des Antheils elektrischer Wirkung bei dem prachtvollen Phänomen.

Ueber den keuchenden Flammen wogte eine ungeheure Rauchsäule empor, unten roth, oben schwarz. Diese stieg mit unvergleichlicher Majestät auf und wirbelte weithin in dichten Windungen.

Die Luft war himmelhoch aschfarbig; die während des Sturms verspürte Dunkelheit, welche der Doctor nicht zu erklären wußte, kam offenbar von Aschensäulen her, von welchen die Sonne wie von einem undurchdringlichen Vorhang verhüllt war.

Dieser enorme, feuerspeiende Felsen, der weit in’s Meer vorsprang, maß tausend Klafter, eine Höhe, die ungefähr der des Hekla gleichkommt.

Die von seinem Gipfel zur Basis gezogene Linie bildete mit dem Horizont einen Winkel von etwa elf Grad.

Er schien, im Verhältniß wie die Schaluppe nahe kam, allmälig aus den Wellen aufzusteigen. Man sah keine Spur von Vegetation; selbst ein Uferrand ging ihm ab, und seine Seiten fielen senkrecht in’s Meer ab.

»Werden wir landen können? fragte der Doctor.

– Der Wind treibt uns hin, erwiderte Altamont.

– Aber ich sehe kein Stückchen eines Uferrandes, worauf wir Fuß fassen könnten!

– Das scheint nur so von Weitem, erwiderte Johnson; aber es wird nicht daran fehlen, um mit unserem Fahrzeug anzulegen, und mehr bedarf es nicht.

– Also voran!« versetzte Clawbonny traurig.

Der Doctor hatte kein Auge mehr für das merkwürdige Festland, welches vor seinen Blicken heraustrat. Wohl war nun hier das Pol-Land, aber nicht der Mann, welcher es entdeckt hatte!

Fünfhundert Schritte weit von dem Felsen war das Meer siedendheiß durch Einwirkung unterirdischer Feuer. Die Insel, welche es umfloß, mochte acht bis zehn Meilen Umfang haben, mehr nicht, und, wie man schätzen konnte, lag sie dem Pol sehr nahe, sofern nicht die Erdachse genau hinein ablief.

Als die Schiffenden nahe waren, bemerkten sie eine kleine Bucht, die zum Einlaufen und Schutz des Fahrzeugs hinreichte; sie fuhren augenblicklich hinein, voll Besorgniß, den Leichnam des Kapitäns hier an’s Land gespült zu finden.

Doch schien ein Leichnam schwerlich daselbst ruhig liegen zu können; flaches Ufer war nicht vorhanden, und das Meer brach sich an steilen Felsen; dichte, von keines Menschen Fuß betretene Asche bedeckte die Oberfläche des Landes, wo die Wellen aufhörten.

Endlich glitt die Schaluppe zwischen zwei Klippen, die an den Meeresspiegel reichten, durch ein schmales Fahrwasser, und fand sich da vollkommen geschützt gegen den Wellenschlag der Brandung.

Jetzt fing Duk an noch kläglicher, wie zuvor zu heulen; das arme Thier sehnte sich rührend nach dem Kapitän, verlangte ihn von diesem erbarmungslosen Meer, von seinen Felsen ohne Echo. Er bellte vergebens, und des Doctors liebkosende Hand vermochte ihn nicht zu beruhigen; das treue Thier, als wolle es seines Herrn Stelle vertreten, setzte mit einem mächtigen Sprung zuerst an’s Land, und lief die Felsen hinan mitten durch die Asche, welche es wie ein Gewölk umgab.

»Duk! Hierher, Duk!« rief der Doctor.

Aber Duk hörte nicht darauf und verschwand. Man schritt nun zur Landung: Clawbonny und seine drei Gefährten stiegen aus und die Schaluppe wurde festgeankert.

Altamont war im Begriff, einen ungeheuern Steinhaufen zu erklettern, als man Duk weithin ungewöhnlich laut bellen hörte; und dies Bellen hatte den Ausdruck des Schmerzes, nicht des Zorns.

»Hört! Hört! sagte der Doctor.

– Ein Thier, das nichts aufgespürt hat? fiel der Rüstmeister ein.

– Nein! Nein! entgegnete der Doctor zitternd, dieser Klageton bedeutet Jammer! Er hat die Leiche des Kapitäns gefunden!«

Auf diese Aeußerung stürzten die vier Männer seiner Spur nach mitten durch die Asche, die ihren Blick verdüsterte.

Sie gelangten in der Tiefe eines Fjords an eine zehn Fuß große Stelle, wo die Wellen unmerklich ihre Kraft verloren.

Hier bellte Duk neben einem von der Flagge Englands umhüllten Leichnam.

»Hatteras! Hatteras!« schrie der Doctor, und stürzte sich über den Körper seines Freundes.

Aber sogleich stieß er einen Schrei aus, der sich nicht schildern läßt.

Der blutige, dem Anschein nach entseelte Körper zuckte, als seine Hand ihn anrührte.

»Noch bei Leben! Bei Leben! rief er aus.

– Ja! sagte eine schwache Stimme, noch lebend auf dem Land des Pols, wohin mich der Sturm geworfen hat! Lebend auf der Insel der Königin!

– Hurrah für England! riefen die fünf Männer einstimmig.

– Und für Amerika!« fuhr der Doctor fort und reichte Hatteras die eine Hand, die andere dem Amerikaner.

Duk rief ebenfalls sein Hurrah in seiner eigenen Weise, die ebensoviel galt, wie eine andere.

In den ersten Augenblicken gaben sich diese wackeren Leute ganz dem Gefühl des Glücks hin, ihren Kapitän wieder zu haben; ihre Augen füllten sich mit Thränen.

Der Doctor vergewisserte sich über Hatteras‘ Zustand. Dieser war nicht schwer verwundet. Der Wind hatte ihn bis zur Küste getrieben, wo die Landung sehr gefährlich war; dem kühnen Seemann gelang es, nachdem er mehrmals zurückgeworfen worden war, endlich durch seine Energie sich an ein Felsstück anzuklammern und über die Wogen empor zu schwingen.

Hier verlor er, nachdem er sich in seine Flagge gehüllt, das Bewußtsein, und es kam ihm erst bei Duk’s Liebkosungen, und als er dessen Bellen vernahm, wieder.

Die erste Pflege wirkte so gut, daß Hatteras wieder aufstehen und am Arm des Doctors nach der Schaluppe zurückgehen konnte.

»Der Pol! Der Nordpol! sprach er unterwegs.

– Nun sind Sie glücklich! sagte der Doctor zu ihm.

– Ja! Glücklich! Und Sie mein Freund, haben Sie keine Empfindung für dieses Glück, diese Freude, daß wir uns hier befinden? Dieses Land, auf welchem wir jetzt wandeln, ist das Land des Pols! Dieses Meer, welches wir durchschifft haben, ist das Meer des Pols! Diese Luft, welche wir einathmen, ist die Luft des Pols! O! Der Nordpol! Der Nordpol!«

Indem Hatteras dieses sprach, war er von heftiger Aufregung fortgerissen. Es war eine Art Fieber, und der Doctor versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. Seine Augen strahlten von einem außergewöhnlichen Glanz und seine Gedanken sprudelten im Gehirn. Clawbonny schrieb diesen Zustand der Ueberreizung dem Umstande zu, daß der Kapitän eben die fürchterlichsten Gefahren bestanden hatte.

Hatteras bedurfte offenbar der Erholung und man war bemüht, ihm eine Lagerstelle zu suchen.

Altamont fand bald eine natürliche Felsengrotte; Johnson und Bell brachten die Lebensmittel dahin und ließen die grönländer Hunde frei.

Gegen elf Uhr war Alles für eine Mahlzeit fertig; das Segel diente als Tischtuch; das Frühstück, bestehend aus Pemmican, gesalzenem Fleisch, Thee und Kaffee, wurde auf dem Boden aufgetischt; man brauchte nur zuzulangen und zu verzehren.

Zuvor aber begehrte Hatteras, daß die Lage der Insel aufgenommen werde; er wollte genau wissen, wie er damit daran war.

Der Doctor und Altamont nahmen darauf ihre Instrumente, und nach angestellter Beobachtung erhielten sie für die Lage der Grotte 89°59’15“ Breite. Die Länge war bei dieser Höhe der Breite nicht mehr von Belang, denn einige hundert Fuß weiter oben liefen alle Meridiane zusammen.

Demnach lag die Insel wirklich unter’m Nordpol und der neunzigste Breitegrad war nur noch fünfundvierzig Secunden von da entfernt, gerade dreiviertel Meile, d. h. beim Gipfel des Vulkans.

Als Hatteras das Ergebniß erfuhr, begehrte er, daß darüber ein Protokoll in zwei Exemplaren ausgefertigt und an der Küste in einem Cairn niedergelegt werde.

Der Doctor ergriff also augenblicklich die Feder und redigirte das folgende Document, wovon gegenwärtig ein Exemplar sich im Archiv der königlichen Geographischen Gesellschaft zu London befindet:

»Am 11. Juli 1861 ward unter 89°59’15“ nördlicher Breite die ‚Insel der Königin‘ beim Nordpol entdeckt vom Kapitän Hatteras, Commandanten der Brigg Forward aus Liverpool, welcher sammt seinen Genossen hier unterzeichnet hat.

Wer dieses Document auffinden wird, ist gebeten, es der Admiralität zu Händen zu stellen.

Unterzeichnet: John Hatteras, Commandant des Forward; Doctor Clawbonny, Arzt; Altamont, Commandant des Porpoise; Johnson, Rüstmeister; Bell, Zimmermann.«

– »Und jetzt, Freunde, zu Tische!« sagte fröhlich der Doctor.

Vierundzwanzigstes Capitel.


Vierundzwanzigstes Capitel.

Eine Lection in der polaren Kosmographie.

Es verstand sich von selbst, daß man sich zum Tafeln auf die Erde setzte. »Aber, sagte Clawbonny, wer gäbe nicht alle Tafeln und alle Speisesäle der Welt hin, um unter neunundachtzig Grad, neunundfünfzig Minuten und fünfzehn Secunden nördlicher Breite zu speisen!«

Aller Gedanken waren natürlich auf die gegenwärtige Lage gerichtet. Die Idee des Nordpols beherrschte alle Geister. Der Erfolg ohne Gleichen ließ alle Gefahren vergessen, die bestanden wurden, um dies Ziel zu erreichen, und die noch zu bestehen waren, um zurückzukehren.

Es war vollbracht, was bis jetzt weder das Alterthum, noch die Neuzeit, weder Europa, noch Amerika, noch Asien zu Stände zu bringen vermocht hatten.

Daher hörten auch dem Doctor seine Gefährten gerne zu, wenn er Alles erzählte, was seine Wissenschaft und sein unerschöpfliches Gedächtniß ihm in Beziehung auf die gegenwärtige Lage an die Hand gaben.

Mit wahrem Enthusiasmus wurde sein Vorschlag aufgenommen, vor Allem dem Kapitän einen Toast zu bringen.

»Es lebe John Hatteras! rief er.

– John Hatteras lebe! riefen einstimmig seine Gefährten.

– Dieses Glas dem Nordpol!« erwiderte der Kapitän, mit einer Betonung, die bei diesem Charakter auffallen mußte, der bisher so kalt, so verschlossen war und nun einer beherrschenden Aufregung sich hingab.

Man stieß an mit den Tassen, und auf die Toaste folgte warmer Handschlag.

»Das ist nun, sagte der Doctor, doch das allerbedeutendste geographische Ereigniß unserer Epoche! Wer hätte denken können, daß diese Entdeckung der des Innern Afrikas oder Australiens vorausgehen würde. Wahrhaftig, Hatteras, Sie gehen über Sturt und Livingstone, über Burton und Barth! Ihr Ruhm sei gepriesen!

– Sie haben Recht, Doctor, erwiderte Altamont; die Schwierigkeiten der Unternehmung ließen vermuthen, der Nordpol werde die letzte der Entdeckungen auf der Erde sein. An dem Tage, wo die Regierung den entschiedenen Willen hätte, das Innere Afrikas kennen zu lernen, würde sie durch Opfer an Menschen und Geld das Ziel erreichen; hier aber war der Erfolg höchst unsicher, und man konnte auf absolut unüberwindliche Hindernisse stoßen.

– Unüberwindliche! rief Hatteras heftig, unüberwindliche Hindernisse giebt’s nicht; es bedarf nur mehr oder minder energischer Willenskraft, das ist Alles!

– Genug, sagte Johnson, wir sind jetzt glücklicher Weise hier. Aber schließlich, Herr Clawbonny, wollten Sie die Güte haben, mir zu erklären, was es für eine besondere Bewandtniß mit dem Pol hat?

– Was für eine Bewandtniß, mein wackerer Johnson? Der Pol ist der einzige unbewegliche Punkt des Erdballs, während alle anderen Punkte sich mit äußerster Schnelligkeit umdrehen.

– Aber ich merke gar nichts davon, erwiderte Johnson, daß wir hier unbeweglicher sind, wie zu Liverpool!

– Ebenso wenig, als Sie zu Liverpool von Ihrer Bewegung etwas merken; das kommt daher, daß in beiden Fällen Sie selbst an dieser Bewegung oder Ruhe Theil nehmen! Aber die Thatsache ist darum nicht minder gewiß. Es wohnt der Erdkugel eine Rundbewegung um sich selbst inne, die binnen vierundzwanzig Stunden vor sich geht, und man nimmt an, diese Bewegung geschehe um eine Achse, deren äußerste Enden zum Nord- und Südpol werden. Nun, jetzt befinden wir uns an einem solchen Ende, und diese Achse ist nothwendig unbeweglich.

– Also, sagte Bell, während unsere Landsleute sich rasch umdrehen, bleiben wir ruhig?

– Beinahe, denn wir befinden uns nicht gerade auf dem Pol!

– Sie haben Recht, Doctor, sagte Hatteras ernst und mit Kopfschütteln, es fehlen noch fünfundvierzig Secunden, um gerade auf dem Punkt zu sein!

– Das macht nicht viel aus, erwiderte Altamont, und wir können uns schon als unbeweglich ansehen.

– Ja, fuhr der Doctor fort, während die Bewohner des Aequators an jedem Punkt dreihundertsechsundneunzig (franz.) Meilen in der Stunde zurücklegen!

– Und dabei werden sie nicht müde! sagte Bell.

– Richtig! erwiderte der Doctor.

– Aber, fuhr Johnson fort, unabhängig von dieser Achsenbewegung hat die Erde doch noch eine andere um die Sonne herum?

– Ja! Eine Fortbewegung im Verlauf eines Jahres.

– Ist diese schneller, als die andere? fragte Bell.

– Unendlich rascher, und ich muß sagen, daß sie uns, obwohl wir uns am Pol befinden, gleich allen anderen Erdbewohnern mit fortreißt. So ist also unsere angebliche Unbeweglichkeit nur ein Hirngespinst: unbeweglich sind wir in Beziehung auf andere Punkte der Erdkugel, nicht aber in Beziehung auf die Sonne.

– Schau, sagte Bell, mit komischem Bedauern, ich meinte doch, ich sei so ruhig! Diese Täuschung muß ich aufgeben! Man kann wahrhaftig in dieser Welt nicht einen Augenblick in Ruhe sein!

– So ist’s, Bell, erwiderte Johnson; und wollen Sie, Herr Clawbonny, uns lehren, wie groß diese Fortbewegung ist?

– Sehr bedeutend, versetzte der Doctor; die Erde läuft um die Sonne mit einer Schnelligkeit, die sechsundsiebenzig Mal größer ist, als die einer vierundzwanzigpfündigen Kugel, die doch in der Secunde hundertundfünfundneunzig Klafter zurücklegt; Sie sehen, das ist wohl etwas anderes, als die Bewegung der Punkte des Aequators.

– Teufel! sagte Bell, das ist nicht zu glauben, Herr Clawbonny! Mehr als sieben Meilen in der Secunde, und es wäre doch so leicht gewesen, unbeweglich zu bleiben, wenn Gott nur gewollt hätte!

– Gut! sagte Altamont, stellen Sie sich vor, Bell, dann gäb’s auch weder Tag noch Nacht, weder Frühling noch Sommer, Herbst oder Winter!

– Ohne ein ganz entsetzliches Ergebniß in Anschlag zu bringen! fuhr der Doctor fort.

– Und was für eins? fragte Johnson.

– Wir würden auf die Sonne gefallen sein!

– Auf die Sonne gefallen! entgegnete Bell voll Staunen.

– Allerdings. Wenn diese Fortbewegung aufhörte, würde die Erde binnen vierundsechzig und einem halben Tage auf die Sonne stürzen.

– Ein Fallen in vierundsechzig Tagen! erwiderte Johnson.

– Nicht mehr, noch minder, versetzte der Doctor; denn es ist eine Entfernung von achtunddreißig Millionen französischen Meilen zurückzulegen.

– Was hat denn die Erdkugel für ein Gewicht? fragte Altamont.

– Es beträgt fünftausendachthunderteinundachtzig Quadrillionen Tonnen.

– Gut! sagte Johnson; das sind aber Zahlen, welche dem Ohre nichts mittheilen! Man versteht sie nicht mehr!

– So will ich Ihnen, mein wackerer Johnson, zur Vergleichung zwei Ausdrücke geben, die in Ihrem Geist haften werden. Erinnern Sie sich, daß auf das Gewicht der Erde fünfundsiebenzig Monde kommen, und auf die Sohne kommt dreihundertundfünfzigtausend Mal das Gewicht unserer Erdkugel.

– Dies alles ist überwältigend! sagte Altamont.

– Ueberwältigend, das ist das richtige Wort, erwiderte der Doctor; aber ich komme wieder auf den Pol, weil eine kosmographische Belehrung über diesen Theil der Erde jetzt mehr wie je an der Stelle ist, sofern es Sie nicht langweilt.

– Fahren Sie nur fort, Doctor! sagte Altamont.

– Ich habe Ihnen gesagt, fuhr der Doctor fort, dem es ebenso viel Vergnügen machte, seine Gefährten zu belehren, als diesen, belehrt zu werden, – ich habe gesagt, der Pol sei ein unbeweglicher Punkt im Verhältniß zu den anderen Punkten der Erde. Dies ist aber nicht völlig richtig.

– Wie, sagte Bell, man muß noch einen Abzug machen?

– Ja, Bell, der Pol nimmt, genau genommen, nicht immer dieselbe Stelle ein; ehemals ist der Polarstern weiter vom Himmelspol entfernt gewesen, wie jetzt. Unser Pol hat also eine gewisse Bewegung für sich; er beschreibt binnen etwa sechsundzwanzigtausend Jahren einen Kreis. Das kommt vom Fortrücken der Tag- und Nacht-Gleichen – Aequinoctien – worauf ich gleich zu reden kommen werde.

– Aber, sagte Altamont, wäre es nicht möglich, daß der Pol einmal seine Stelle in einem weiteren Verhältniß ändert?

– Ei, lieber Altamont, erwiderte der Doctor, Sie rühren da an eine sehr bedeutende Frage, worüber die Gelehrten in Folge einer ganz besonderen Entdeckung lange Zeit stritten.

– Was für eine Entdeckung?

– Hören Sie. Im Jahre 1774 fand man den Leichnam eines Rhinoceros an den Gestaden des Eismeeres, und im Jahre 1799 den eines Elephanten an den Küsten Sibiriens. Wie kam es, daß diese Vierfüßler aus den heißen Zonen unter einem solchen Breitegrad sich vorfanden? Daraus entstand ein seltsamer Lärm unter den Geologen, die nicht so gescheit waren, wie späterhin ein Franzose, Elie de Beaumont, welcher den Satz aufstellte, daß diese Thiere bereits unter höheren Breitegraden lebten, und daß ihre Leichname ganz einfach von Strömen und Flüssen dahin gefördert wurden, wo man sie fand. Aber bevor diese Erklärung gegeben war, was meinen Sie, worauf die Phantasie der Gelehrten kam?

– Die Gelehrten sind zu Allem fähig, sagte Altamont lachend.

– Ja, zu Allem, um eine Thatsache zu erklären. So stellten sie die Vermuthung auf, der Pol der Erde sei ehemals am Aequator gewesen, und der Aequator an den Polen.

– Gerade so, wie ich sagte, und in vollem Ernst. Nun aber, wäre das der Fall gewesen, so würden, weil die Erde an den Polen um mehr als fünf Lieues abgeplattet ist, die Meere durch die centrifugale Kraft nach dem neuen Aequator getrieben, Gebirge von doppelter Höhe des Himalaya überschwemmt haben; alle Länder in der Nähe des Polarkreises, Schweden, Norwegen, Rußland, Sibirien, Grönland, Neu-Britannien, würden fünf Lieues unter Wasser gesetzt worden sein, während die Aequatorial-Gegenden, an den Pol verpflanzt, fünf Lieues hohe Plateaux bildeten.

– Was für eine Umänderung! sagte staunend Johnson.

– O! Die Gelehrten erschraken gar nicht davor.

– Und wie erklärten sie diese Umkehrung? fragte Altamont.

– Durch Zusammenstoßen mit einem Kometen. Der Komet muß für Alles aushelfen. Altamont, wenn man auf dem Gebiet der Kosmographie in Verlegenheit geräth, ruft man den Beistand eines Kometen an. Dieses Gestirn ist dann so gefällig, auf den ersten Wink eines Gelehrten sich einzufinden, um Alles in seine Fugen zu bringen!

– Also, sagte Johnson, Ihrer Ansicht nach, Herr Clawbonny, ist so eine Umänderung nicht möglich.

– Unmöglich!

– Und wenn der Fall doch einträte?

– Dann würde der Aequator in vierundzwanzig Stunden zu Eis gefroren sein!

– Richtig! Und wenn die Aenderung jetzt vorginge, sagte Bell, wäre man im Stande zu sagen, wir seien gar nicht bis zum Pol gekommen.

– Seien Sie ruhig, Bell. Um wieder auf die Unbeweglichkeit der Erdachse zu kommen, so ergiebt sich daraus Folgendes. Befänden wir uns während des Winters an dieser Stelle, so sähen wir die Sterne einen vollständigen Kreis um uns herum beschreiben. Die Sonne würde zur Zeit des Frühlings-Aequinoctiums, 22. März, uns erscheinen (die Strahlenbrechung nicht in Anschlag gebracht), als sei sie vom Horizont gerade in zwei Theile zerschnitten, und steige in sehr langen Curven allmälig aufwärts; hier aber tritt der merkwürdige Fall ein, daß sie, nachdem sie aufgegangen, nicht mehr untergeht und sechs Monat lang sichtbar bleibt; hernach streift ihre Scheibe zur Zeit des Herbst-Aequinoctiums, 22. September, abermals auf dem Horizont, und sobald sie untergegangen ist, sieht man sie den ganzen Winter über nicht mehr.

– Sie sprachen vorhin von der Abplattung der Erde an den Polen, sagte Johnson; haben Sie doch, Herr Clawbonny, die Güte, mir dies zu erklären.

– Damit verhält sich’s so, Johnson. Als in den ersten Tagen der Welt die Erde flüssig war, so mußte, begreifen Sie wohl, die Achsenbewegung einen Theil ihrer beweglichen Masse nach dem Aequator hin drängen, wo die centrifugale Kraft stärker wirkte. Hätte die Erde unverändert ihre Stelle eingenommen, so wäre sie eine vollständige Kugel geblieben; aber in Folge der vorhin geschilderten Erscheinung hat sie die Form einer Ellipsoide, und die Punkte des Pols stehen etwa fünf und ein Drittel Lieues dem Centrum der Erde näher als die Punkte des Aequators.

– Also, sagte Johnson, wenn unser Kapitän uns zum Mittelpunkt der Erde führen wollte, hätten wir einen um fünf Lieues kürzeren Weg dahin zu machen?

– So ist’s, mein Freund.

– Ei nun! Kapitän, dann hätten wir um so viel einen Vorsprung! Die Gelegenheit wäre wohl zu benutzen …«

Hatteras gab keine Antwort. Offenbar folgte er nicht dem Faden der Unterhaltung, oder er hörte wohl zu, ohne aufzumerken.

»Wahrhaftig! erwiderte der Doctor, hört man gewisse Gelehrten, so läge in diesem Umstand wohl ein Grund, diese Unternehmung zu wagen.

– Wirklich! sagte Johnson.

– Doch lassen Sie mich zu Ende reden, fuhr der Doctor fort, ich will Ihnen dies später erzählen; zuvor will ich Ihnen zeigen, wie die Abplattung der Grund des Vorrückens der Aequinoctien ist, d. h. weshalb alljährlich das Frühlings-Aequinoctium um einen Tag früher eintritt, als es der Fall sein würde, wenn die Erde vollständig rund wäre. Das rührt ganz einfach daher, daß die Anziehung der Sonne in verschiedener Weise auf den unter dem Aequator befindlichen höher gehobenen Theil des Erdballs wirkt, welcher dann eine Bewegung rückwärts erleidet. In Folge dessen verändert der Pol ein wenig seine Stelle, wie ich vorhin gesagt habe. Aber unabhängig von dieser Wirkung, müßte die Abplattung eine noch merkwürdigere und persönlichere haben, welche wir wahrnehmen würden, wenn wir einen empfänglichen mathematischen Sinn hätten.

– Was meinen Sie damit? fragte Bell.

– Daß wir hier mehr Schwere haben, als zu Liverpool.

– Mehr Schwere?

– Ja! Wir, unsere Hunde, unsere Gewehre, unsere Instrumente!

– Ist’s möglich?

– Ohne Zweifel, und aus zwei Gründen: erstens, weil wir dem Mittelpunkt der Erde näher sind.

– Wie! sagte Johnson, in allem Ernst, wir haben also nicht an allen Orten das nämliche Gewicht?

– Nein, Johnson; nach Newton’s Gesetz ziehen sich die Körper an in directem Verhältniß der Massen und in umgekehrtem Verhältniß des Quadrats der Entfernungen. Hier bin ich schwerer, weil ich dem Mittelpunkt der Anziehung näher bin, und auf einem anderen Planeten würde ich mehr oder weniger Gewicht haben, je nach der Masse des Planeten.

– Wie? sagte Bell, auf dem Mond? …

– Auf dem Mond würde mein Gewicht, welches zu Liverpool zweihundert Pfund beträgt, nicht mehr als zweiunddreißig ausmachen!

– Und auf der Sonne?

– O! Auf der Sonne würde ich über fünftausend Pfund wiegen!

– Großer Gott! rief Bell aus, da wäre also eine Winde erforderlich, um Ihre Beine aufzuheben!

– Vermuthlich! erwiderte der Doctor, über Bell’s Verwunderung lachend; aber hier ist die Differenz nicht merkbar, und bei Entwickelung einer entsprechenden Muskelkraft wird Bell eben so hoch springen, als auf den Quais der Mersey.

– Ja! Aber auf der Sonne? fragte Bell abermals, indem er nicht davon loskommen konnte.

– Lieber Freund, erwiderte ihm der Doctor, aus alledem ergiebt sich, daß wir da, wo wir uns befinden, wohl aufgehoben sind, und nicht anderswohin zu eilen brauchen!

– Sie sagten vorhin, fuhr Altamont fort, es sei vielleicht der Mühe werth, einen Ausflug nach dem Mittelpunkt der Erde hin zu machen! Hat man jemals den Gedanken gehabt, eine solche Reise vorzunehmen?

– Ja, und damit will ich beschließen, was ich Ihnen in Beziehung auf den Pol zu sagen habe. Es giebt auf der Welt keinen Punkt, der zu mehr Hypothesen und Hirngespinsten Anlaß gegeben hätte! Die Alten, sehr unwissend in der Kosmographie, verlegten dahin den Garten der Hesperiden. Im Mittelalter meinte man, die Erde ruhe auf Thürmchen, die sich auf den Polen befänden, und worauf sie sich umdrehe; aber als man sah, daß sich die Kometen frei in den Regionen um den Pol herum bewegten, mußte man auf diese Art von Stütze verzichten. Später fand sich ein französischer Astronom, Baily, der behauptete, das gebildete verloren gegangene Volk der Atlantiden, wovon Plato spricht, habe daselbst gelebt. Endlich hat man in unseren Tagen behauptet, es sei an den Polen eine ungeheure Oeffnung, wo sich der Glanz der Nordlichter entwickele, und durch welche man in’s Innere der Erde dringen könne. Sodann bildete man sich ein, in der hohlen Erdkugel befänden sich zwei Planeten, Pluto und Proserpina, und eine Luft, die in Folge starken Druckes leuchte.

– Das Alles hat man gesagt? fragte Altamont.

– Und man hat’s in vollem Ernst geschrieben. Der Kapitän Synnes, unser Landsmann, hat Humphry Davy, Humboldt und Arago den Vorschlag gemacht, die Reise zu wagen! Sie lehnten aber ab.

– Und das war wohl gethan!

– Ich glaub’s wohl. Wie dem auch sein mag, Sie sehen, meine Freunde, daß die Einbildungskraft in Hinsicht auf den Pol freien Spielraum hatte und daß man früher oder später auf die einfache Wahrheit zurück kam.

– Uebrigens werden wir’s wohl sehen, sagte Johnson, der an seinen Ideen festhielt.

– Dann, sagte der Doctor, Excursionen auf morgen, – dabei lächelte er, daß er den alten Seemann nicht überzeugen konnte, – und wenn es eine besondere Oeffnung giebt, um in’s Innere der Erde zu dringen, so wollen wir mit einander dabei sein!«

Fünfundzwanzigstes Capitel.


Fünfundzwanzigstes Capitel.

Der Berg Hatteras.

Nach dieser gehaltvollen Unterredung richtete sich Jeder in der Grotte so gut wie möglich ein und sank bald in Schlaf.

Nur Hatteras nicht. Was raubte dem außerordentlichen Manne den Schlaf?

Hatte er nicht seinen Lebenszweck erreicht? Hatte er nicht die kühnen Entwürfe, welche ihm so sehr am Herzen lagen, in Erfüllung gebracht? Weshalb wurde die Unruhe dieser glühenden Seele nun nicht gestillt? Hätte man nicht glauben sollen, Hatteras werde nach Ausführung seiner Projecte in eine Art Abspannung verfallen, und seine gespannten Nerven nach Ruhe trachten?

Aber nein. Er zeigte sich nur noch mehr aufgeregt. Doch war’s nicht der Gedanke an die Rückkehr, welcher ihn so unruhig machte. Wollte er noch weiter dringen? Fand er die Welt zu klein, weil er bis an ihr Ende gedrungen war?

Wie dem auch sein mochte, er konnte nicht schlafen. Und doch war diese erste am Pol verbrachte Nacht rein und ruhig. Die Insel war völlig unbewohnt: kein Vogel in der vulkanischen Luft, kein Thier auf dem aschebestreuten Boden, kein Fisch in seinem siedenden Gewässer; nur in der Ferne vernahm man das dumpfe Getöse des Berges, aus dessen Gipfel glühende Rauchsäulen empordrangen.

Als Bell, Johnson, Altamont und der Doctor aufwachten, fanden sie Hatteras nicht in ihrer Nähe. Sie verließen unruhig die Grotte und sahen den Kapitän auf einem Felsen stehen, den Blick unverwandt auf den Gipfel des Vulkans gerichtet. Er hielt seine Instrumente in der Hand und hatte offenbar eine genaue Aufnahme des Berges vorgenommen.

Der Doctor ging auf ihn zu und redete ihn mehrmals an, ehe er ihn aus seiner Gedankenvertiefung ziehen konnte. Endlich schien der Kapitän ihn zu verstehen.

»Vorwärts! sagte der Doctor zu ihm, der ihn aufmerksam betrachtete, vorwärts; wir wollen unsere Insel ganz durchstreifen; wir sind zu unserm letzten Ausflug bereit.

– Dem letzten, sagte Hatteras mit der Betonung von Leuten, welche laut träumen; ja, dem letzten, wirklich. Der ist aber auch, fuhr er mit großer Lebhaftigkeit fort, der merkwürdigste!«

Indem er so sprach, strich er mit beiden Händen über seine Stirn, um die Wallungen im Innern zu beruhigen.

In diesem Augenblick kamen Altamont, Johnson und Bell dazu, und Hatteras schien aus seinem Traumzustande heraus zu kommen.

»Meine Freunde, sprach er mit gerührter Stimme, ich danke für Ihren Muth, Ihre Ausdauer, Ihre übermenschlichen Anstrengungen, durch welche es uns möglich geworden ist, dies Land zu betreten!

– Kapitän, sagte Johnson, wir haben nur gehorcht, und Ihnen allein gebührt die Ehre.

– Nein! Nein! fuhr Hatteras mit leidenschaftlicher Wärme fort, Euch Allen gleich mir! Altamont ebenso wie uns Allen! Wie dem Doctor selbst! O, lassen Sie mein Herz seine Empfindungen ausgießen! Es kann seine Freude und Erkenntlichkeit nicht mehr zurückhalten!«

Hatteras drückte seinen Gefährten auf’s Herzlichste die Hand. Er ging unruhig hin und her und war nicht mehr Herr seines Geistes.

»Wir haben nur als Engländer unsere Schuldigkeit gethan, sagte Bell.

– Unsere Freundespflicht, erwiderte der Doctor.

– Ja! fuhr Hatteras fort, aber diese Pflicht haben nicht Alle zu erfüllen verstanden. Einige sind erlegen! Doch muß man ihnen verzeihen, denen, welche Verrath geübt haben, wie denen, welche sich zum Verrath fortreißen ließen! Die Armen! Ich verzeihe ihnen. Sie verstehen mich, Doctor!

– Ja, erwiderte dieser, ernstlich beunruhigt durch die erhöhte Geistesspannung Hatteras‘.

– Auch will ich nicht, fuhr der Kapitän fort, daß das kleine Vermögen, um dessenwillen sie die weite Fahrt unternahmen, ihnen verloren sei. Nein! Nichts soll an meinen Verfügungen geändert werden, und sie sollen reich sein … wenn sie jemals nach England zurück kommen!«

Man konnte sich der Rührung nicht erwehren, wenn man den Ton hörte, womit Hatteras diese Worte sprach.

»Aber, Kapitän, sagte Johnson, der zu scherzen suchte, man sollte meinen, Sie machen Ihr Testament.

– Vielleicht, erwiderte Hatteras ernst.

– Doch haben Sie ein schönes und langes Leben voll Ruhm vor Augen, versetzte der alte Seemann.

– Wer weiß!« sagte Hatteras.

Langes Schweigen folgte auf diese Aeußerung. Der Doctor wagte nicht den Sinn dieser letzten Worte zu deuten.

Aber Hatteras ließ bald die Deutung finden; mit hastiger, kaum zurückgehaltener Stimme fuhr er fort:

»Meine Freunde, hören Sie mich an. Bis jetzt haben wir viel geleistet, und doch bleibt noch viel zu thun übrig.«

Mit tiefem Erstaunen sahen die Gefährten des Kapitäns einander an.

»Ja, wir sind am Land des Pols, aber noch nicht am Pol selbst!

– Wie so? fragte Altamont.

– Das wäre! rief der Doctor, mit ahnender Besorgniß.

– Ja! fuhr Hatteras mit Nachdruck fort. Ich habe gesagt, ein Engländer werde den Fuß auf den Pol des Erdballs setzen; das hab‘ ich gesagt, und ein Engländer wird es ausführen.

– Was? … erwiderte der Doctor.

– Wir sind noch fünfundvierzig Secunden von dem unbekannten Punkt entfernt, fuhr Hatteras mit zunehmendem Feuer fort, und da, wo er ist, werd‘ ich hindringen!

– Aber der Gipfel dieses Vulkans ist’s, sagte der Doctor.

– Ich dringe hin!

– Ein unzugänglicher Kegel!

– Ich gehe hin.

– Ein klaffender Krater in Gluth und Flammen!

– Ich dringe hinein.«

Die energische Ueberzeugung, womit Hatteras diese letzteren Worte sprach, läßt sich nicht darstellen. Seine Freunde waren voll Bestürzung; sie blickten mit Schrecken auf den Berg, welcher rauchende Feuersäulen in die Lüfte schoß.

Der Doctor ergriff darauf wieder das Wort; er setzte Hatteras dringend zu, auf sein Vorhaben zu verzichten; er sagte Alles, was sein Herz ihm einzugeben vermochte, von dringender Bitte bis zu freundlicher Drohung; aber er vermochte nichts über die reizbare Seele des Kapitäns.

Es gab nur noch Mittel der Gewalt, um den Wahnsinnigen abzuhalten, daß er sich nicht in’s Verderben stürze. Da er aber einsah, daß sie zu großen Unordnungen führen würden, wollte der Doctor nur im äußersten Nothfall dazu schreiten.

Er hoffte übrigens, daß Hatteras durch physische Unmöglichkeit, unübersteigliche Hindernisse sich werde an der Ausführung seines Vorhabens hindern lassen.

»Weil dem so ist, sagte er, wollen wir Sie begleiten.

– Ja! erwiderte der Kapitän, bis zur Hälfte der Bergeshöhe! Weiter nicht! Müßt Ihr nicht das Duplicat des Protokolls über unsere Entdeckung nach England bringen, falls …?

– Doch ….

– Abgemacht, erwiderte Hatteras mit unerschütterlichem Ton, und weil die Bitten des Freundes nicht ausreichen, befiehlt der Kapitän.«

Der Doctor wollte ihm nicht länger zusetzen, und nach einer kleinen Weile setzte sich die kleine Truppe, für eine schwierige Besteigung gerüstet, Duk voran, in Bewegung.

Der Himmel glänzte im Widerschein. Das Thermometer zeigte zweiundfünfzig Grad (+11° hunderttheilig). Die Atmosphäre war reichlich von der klaren Helle durchdrungen, welche jenen hohen Breitegraden eigenthümlich ist. Es war um acht Uhr früh.

Hatteras mit seinem braven Hund ging voran; Bell und Altamont, der Doctor und Johnson folgten ihm unmittelbar.

»Es ist mir angst, sagte Johnson.

– Nein, nein, es ist nichts zu befürchten, erwiderte der Doctor, wir sind ja dabei.«

Das Inselchen hatte etwas sehr Eigenthümliches von neuem, jugendlichem Charakter; der Vulkan schien nicht alt zu sein.

Die über einander gewürfelten Felsen hielten sich wie durch ein Wunder im Gleichgewicht. Der Berg bestand, genau genommen, nur aus einer Zusammenhäufung herabgefallener Steine. Nichts von Erde, nicht das kleinste Moos, nicht die magerste Flechte, keine Spur von Vegetation. Die vom Krater ausgespieene Kohlensäure hatte noch nicht Zeit gehabt, sich mit dem Wasserstoff des Wassers, noch mit dem Ammonium der Wolken zu vereinigen, um unter Einwirkung des Lichtes organisirte Stoffe zu bilden.

Diese im Meere verlorene Insel war lediglich durch allmälige Anhäufung vulkanischer Auswürfe entstanden, gleich dem Aetna, welcher bereits eine weit beträchtlichere Menge Lava ausgeworfen hat, als seine eigene Masse beträgt.

Diese Steinhaufen, welche die Insel der Königin bildeten, waren offenbar aus dem Innern der Erde ausgeworfen worden; jene hatte den plutonischen Charakter im höchsten Grad. An ihrer Stelle befand sich früher das unermeßliche Meer, welches in der Urzeit durch Verdichtung der Wasserdämpfe auf dem erkalteten Erdball entstanden ist; aber in dem Verhältniß, wie die Vulkane der alten und neuen Welt erloschen, oder besser gesagt, verstopft wurden, mußten sie durch neue feuerspeiende Krater ersetzt werden.

In der That kann man die Erde mit einem ungeheuren Kessel vergleichen, worin durch Wirkung des Centralfeuers unermeßliche Quantitäten von Dünsten entstehen, welche in einem umschlossenen Raum bis zu einer Spannung von vielen Tausend Atmosphären getrieben, den Erdball auseinandersprengen würden, wenn nicht nach außen hin Sicherheitsventile angebracht wären.

Diese Ventile nun sind die Vulkane; wenn einer sich schließt, öffnet sich ein anderer, und an den Polen, wo ohne Zweifel in Folge der Abplattung die Erdrinde minder dick ist, kann es nicht auffallend sein, daß sich durch eine Erhebung des Erdkerns unter der Fluth unvermuthet ein neuer Vulkan bildet.

Der Doctor nahm, während er Hatteras folgte, diese auffallenden Eigenthümlichkeiten wahr; sein Fuß betrat einen vulkanischen Tuff und Bimssteine, die aus Schlacken sich bildeten, Asche, ausgeworfene Steine, gleich den Syeniten und Graniten Islands.

Den fast modernen Ursprung des Eilands nahm er deshalb an, weil das sedimentäre Terrain noch nicht Zeit gehabt hatte, sich zu bilden.

An Wasser fehlte es gänzlich. Wäre die Insel der Königin schon mehrere Jahrhunderte alt, so würden heiße Quellen, wie sie in der Nähe der Vulkane häufig sind, aus ihrem Innern gesprudelt sein. Nun aber fand man hier nicht allein kein Tröpfchen Wassers, sondern die Dünste, welche aus Lavaströmen entstanden, schienen durchaus ohne Wassergehalt zu sein.

Also war diese Insel neuerer Bildung, und so wie sie eines Tages zum Vorschein kam, so konnte sie eines anderen Tages wieder verschwinden und von Neuem in die Tiefe des Oceans versinken.

Im Verhältniß, wie man höher kam, wurde das Besteigen schwieriger; die Seiten des Berges waren fast senkrecht, und man mußte äußerst vorsichtig sein, um ein Zusammenstürzen zu vermeiden. Oft wirbelten Aschensäulen um die Reisenden, und drohten sie zu ersticken, oder Lavaströme versperrten ihnen den Weg. An einigen horizontalen Stellen waren die Ströme eben erkaltet und fest geworden, während unter dieser Rinde noch siedende Lava floß, so daß also Jeder sondiren mußte, um nicht plötzlich in solchen glühenden Stoff einzusinken.

Von Zeit zu Zeit spie der Krater Felsstücke aus, welche in brennendem Gas rothglühend geworden; manche von diesen Massen zerplatzten wie Bomben in der Luft, und ihre Trümmer zerstreuten sich weit und breit in allen Richtungen.

Man begreift, wie diese Besteigung des Berges mit unzähligen Gefahren verbunden war, und nur von einem Narren vorgenommen werden konnte.

Doch Hatteras stieg mit auffallender Behendigkeit immer weiter, und klomm, die Stütze seines eisenbeschlagenen Stockes verschmähend, die schroffsten Abhänge hinan.

Er gelangte bald zu einem kreisrunden Felsen, der eine Art von Plateau von zehn Fuß Breite bildete; ein glühender Strom floß um denselben herum, nachdem er an der Spitze eines höheren Felsens sich gabelförmig getheilt hatte, so daß nur ein schmaler Weg dazwischen blieb, welchen Hatteras tollkühn betrat.

Hier blieb er stehen, und seine Gefährten konnten ihn einholen. Darauf schien er mit den Augen den Raum zu messen, welcher ihm noch zu steigen blieb; horizontal befand er sich noch über hundert Klafter vom Krater, d. h. vom mathematischen Punkt des Pols entfernt; aber vertical waren noch über fünfzehnhundert Fuß zu ersteigen.

Bereits seit drei Stunden war man im Aufsteigen begriffen; Hatteras schien noch nicht müde; seine Gefährten waren schon fast erschöpft.

Der Gipfel des Vulkans schien unzugänglich zu sein. Der Doctor entschloß sich, Hatteras um jeden Preis vom Weitersteigen abzuhalten. Zuerst versuchte er’s mit der Güte, aber die Aufregung des Kapitäns steigerte sich bis zum Wahnsinn; bereits während des Steigens hatte er alle Anzeichen wachsenden Irrsinns wahrnehmen lassen, und wer ihn kannte, wer ihn durch alle Phasen seines Lebens begleitete, konnte es nicht überraschend finden. Im Verhältniß wie Hatteras höher über den Meeresspiegel drang, wuchs seine Ueberspannung; er lebte nicht mehr in der Menschenregion.

»Hatteras, sagte zu ihm der Doctor, nun ist’s genug! Weiter können wir nicht.

– So bleibet, erwiderte der Kapitän mit auffallendem Ton, ich steige höher hinauf!

– Nein! Das wäre auch unnöthig! Hier sind Sie am Pol der Erde!

– Nein! Nein! Noch höher!

– Mein Freund! Ich, der Doctor Clawbonny, rede zu Ihnen! Kennen Sie mich nicht?

– Höher! Höher! rief er wiederholt im Wahnsinn.

– Nein! Nein! Wir dulden’s nicht …«

Ehe noch der Doctor diese Worte zu Ende gesprochen, sprang Hatteras mit übermenschlicher Anstrengung über den Lavastrom, von seinen Gefährten getrennt, welche nicht zu ihm gelangen konnten.

Diese schrieen laut auf, in der Meinung, Hatteras sei in den siedenden Strom gestürzt; aber der Kapitän war jenseits hingesunken, und Duk, der ihn nicht verlassen wollte, sprang ihm nach.

Er verschwand hinter einer Hülle von Rauch, und man hörte seine Stimme, die in der Entfernung immer schwächer tönte:

»Nordwärts! Nordwärts! schrie er. Zum Gipfel des Hatteras-Berges! Gedenken Sie des Hatteras-Berges!«

Den Kapitän einzuholen, daran war nicht zu denken; es waren zwanzig Gründe dafür, daß man an der Stelle blieb, welche er mit dem Glück und der Geschicklichkeit, wie sie Narren eigen ist, verlassen hatte; den feurigen Strom zu überspringen war unmöglich; ebenso unmöglich, ihn zu umgehen. Altamont versuchte vergeblich über ihn hinüber zu kommen; wollte man über den Lavastrom dringen, so hätte man sein Leben daran gesetzt; wider Willen mußten seine Gefährten zurückbleiben.

»Hatteras! Hatteras!« rief der Doctor.

Aber der Kapitän gab keine Antwort, und nur das kaum vernehmliche Bellen Duks verhallte im Gebirge.

Inzwischen sah man Hatteras in Zwischenräumen mitten durch Rauchsäulen und unter dem Aschenregen. Bald ragte sein Arm, bald sein Kopf aus dem Wirbel heraus. Dann verschwand er wieder den Blicken und zeigte sich höher oben auf den Felsen. Seine Figur sah immer kleiner aus, je höher er hinauf kam.

Dumpfes Getöse des Vulkans füllte die Luft; es tobte in dem Berge gleich wie in einem siedenden Kessel. Hatteras ließ sich nicht aufhalten, von Duk begleitet.

Von Zeit zu Zeit rutschte hinter ihm das Gestein, und ein Felsblock stürzte mit wachsender Schnelligkeit an den Spitzen abprallend bis zum Grund des Polarmeeres hinab.

Hatteras wendete sich nicht einmal um. Sein Stab diente ihm als Schaft, um die englische Flagge daran zu befestigen. Voll Schrecken verfolgten seine Gefährten alle seine Bewegungen, während seine Gestalt sich mehr und mehr verkleinerte; Duk schien nicht mehr größer, als eine Ratte.

Einen Moment verdeckte sie der Wind mit einem feurigen Vorhang. Der Doctor erhob ein Angstgeschrei; doch kam Hatteras wieder zum Vorschein, wie er aufrecht stand und seine Flagge schwang.

Ueber eine Stunde lang dauerte das Schauspiel dieser erschrecklichen Besteigung. Eine Stunde des Ringens mit wackelnden Felsen, mit tiefen Aschenschichten, worin der Heros des Unmöglichen bis zu halbem Leibe einsank.

Bald kletterte er, mit den Knieen und Hüften wider die Spalten sich stemmend, bald hing er mit den Händen an einem Grat, und flatterte im Winde gleich einem trockenen Büschel.

Endlich langte er auf dem Gipfel des Vulkans an, unmittelbar an des Kraters Mündung. Da schöpfte der Doctor Hoffnung, der Unglückliche, nachdem er an seinem Ziele angelangt, werde vielleicht nun zurückkehren, und hätte dann nur noch das Gefährliche des Herabsteigens zu bestehen.

Er schrie aus voller Brust und zum letzten Mal auf:

»Hatteras! Hatteras!«

Des Doctors Rufen drang dem Amerikaner bis auf den Grund der Seele.

»Ich will ihn retten«, rief Altamont.

Dann setzte er mit einem gewaltigen Sprunge über den feurigen Strom, mit Gefahr hinein zu fallen, und verschwand in der Mitte der Felsen.

Clawbonny hatte nicht Zeit ihn aufzuhalten.

Inzwischen drang Hatteras, als er auf dem Gipfel ankam, über den Schlund hinaus auf einen überhängenden Felsen. Die Steine regneten um ihn herum. Duk sprang ihm stets zur Seite. Das arme Thier schien bereits vom Schwindel ergriffen. Hatteras schwang sein Banner im Widerschein der Gluth, und das geröthete Tuch flatterte in langen Streifen beim Luftstrom des Kraters.

Mit der einen Hand schwang es Hatteras hin und her. Mit der anderen wies er im Zenith auf den Pol der Himmelskugel. Inzwischen schien er zu zaudern. Er suchte nach dem mathematischen Punkt, wo alle Meridiane des Erdballs zusammenlaufen, auf den er in erhabenem Starrsinn den Fuß setzen wollte.

Plötzlich wankte der Fels unter seinen Füßen; er verschwand. Ein fürchterliches Geschrei seiner Gefährten drang bis zum Gipfel hinan. Clawbonny hielt seinen Freund für verloren und auf ewig begraben in den Tiefen des Vulkans. Aber Altamont war noch da, auch Duk. Der Mann und der Hund erfaßten den Unglücklichen im Moment, wo er in den Abgrund stürzte. Hatteras war gerettet, gerettet wider Willen, und eine Viertelstunde nachher lag der Kapitän des Forward bewußtlos in den Armen seiner verzweifelnden Freunde.

Als er wieder zu sich kam, fragte der Doctor in stummer Befürchtung seinen Blick. Aber dieser bewußtlose Blick, gleich dem eines Blinden, der ohne zu sehen anschaut, antwortete ihm nicht.

»Großer Gott! sagte Johnson, er ist blind!

– Nein, erwiderte Clawbonny, nein! Meine armen Freude, wir haben nur den Körper gerettet! Hatteras‘ Seele ist auf dem Gipfel des Vulkans geblieben! Seine Vernunft ist gestorben!

– Wahnsinnig! riefen Johnson und Altamont voll Bestürzung.

– Wahnsinnig!« antwortete der Doctor.

Und Thränen rannen aus ihren Augen.

Siebenzehntes Capitel.


Siebenzehntes Capitel.

Altamont’s Vergeltung.

Am andern Morgen erwachte der Doctor und seine zwei Gefährten nach einer völlig ruhig verbrachten Nacht. Die Kälte hatte sie, wenn sie auch nicht bedeutend war, doch am Morgen belästigt; aber gut bedeckt, wie sie waren, hatten sie, unter Obhut der friedlichen Thiere, fest geschlafen.

Das Wetter blieb schön, und sie beschlossen, auch noch diesen Tag der Erforschung des Landes und dem Aufspüren von Bisonochsen zu widmen. Man mußte schon Altamont die Möglichkeit bieten, ein wenig zu jagen, und man einigte sich also dahin, daß, wenn diese Thiere auch die friedliebendsten der ganzen Welt wären, er das Recht haben solle, sie zu schießen. Uebrigens bietet ihr Fleisch, wenn es auch stark nach Moschus riecht, eine schmackhafte Speise, und die Jäger freuten sich darauf, einige Stücke solch‘ frischen und stärkenden Fleisches mit nach Fort Providence zu bringen.

Während der ersten Morgenstunden bot die Reise nichts Besonderes. Im Nordosten fing das Land an, sein Aussehen zu ändern. Einige Terrainerhöhungen, die ersten Wellen einer bergigen Gegend, deuteten auf eine andere Art des Bodens. Dieses Land von Neu-Amerika mußte, wenn es nicht ein Continent war, doch eine sehr große Insel bilden; im Uebrigen handelte es sich jetzt nicht darum, diese geographische Frage zu lösen.

Duk lief weit voraus und stand bald bei der Fährte einer Heerde Bisonochsen; schnell trabte er voraus, und schwand bald den Jägern aus den Augen.

Diese folgten seinem lauten, deutlichen Gebell, dessen Eifer ihnen verrieth, daß das treue Thier endlich das Ziel ihrer Begierde aufgefunden hatte.

Sie gingen schneller, und nach etwa anderthalb Stunden trafen sie wirklich auf zwei große und ihrem Aeußern nach wirklich furchterweckende Thiere; diese eigenthümlichen Vierfüßler schienen über Duk’s Angriff sehr verwundert, ohne übrigens zu erschrecken. Sie fraßen eine Art röthlichen Mooses, welches den schneereinen Boden bedeckte. Der Doctor erkannte sie leicht an ihrer geringeren Größe, ihren breiten, an der Basis verbundenen Hörnern, an dem merkwürdigen scheinbaren Fehlen der Schnauze und an ihren kurzen Schwänzen. Der Gesammteindruck dieses Baus hat ihnen bei den Naturforschern den Namen »Ovibos« (Schafochse) erworben, ein Wort, welches also an die beiden Naturen, denen sich dieses Thier anschließt, erinnert. Ein Büschel dicker und langer Haare und ein feiner, brauner, seidenartiger Pelz ist ihnen eigenthümlich.

Beim Erblicken der Jäger liefen die Thiere sogleich davon, und diese verfolgten sie in vollem Laufe.

Aber für Leute, die ein halbstündiger Dauerlauf vollkommen außer Athem brachte, war es schwer, sie einzuholen. Hatteras und seine Genossen hielten an.

»Teufel! sagte Altamont.

– Teufel ist das richtige Wort, versetzte der Doctor, der kaum Athem schöpfen konnte. Diese Wiederkäuer überlasse ich Ihnen als Amerikaner, aber sie scheinen von ihren Landsleuten nicht die vortheilhafteste Meinung zu haben.

– Das beweist, daß wir gute Jäger sind«, erwiderte Altamont.

Indessen blieben auch die Bisonochsen, die sich nicht mehr verfolgt sahen, in staunender Haltung wieder stehen. Es war augenscheinlich, daß man sie im Laufen nicht erlangen würde; man mußte sie einzuschließen suchen; das kleine Plateau, auf dem sie jetzt waren, bot sich fast selbst dazu an.

Die Jäger ließen durch Duk die Thiere necken, während sie in nahen Hohlwegen heranschlichen, das Plateau zu umgehen. Altamont und der Doctor versteckten sich an dem einen Ausläufer desselben hinter Felsenvorsprüngen, während Hatteras, der es von der anderen Seite unvermuthet erstieg, sie ihnen zutreiben sollte.

Nach einer halben Stunde hatte Jeder seine Stelle eingenommen.

»Jetzt werden Sie sich nicht widersetzen, sagte Altamont, diese Thiere mit Flintenschüssen zu empfangen?

– Nein, das ist ehrlicher Krieg«, erwiderte der Doctor, der trotz seiner natürlichen Gutmüthigkeit doch Jäger vom Grunde seiner Seele war.

So sprachen sie, als sie die Thiere, Duk ihnen auf der Ferse, sich schnell in Bewegung setzen sahen; weiter entfernt rief Hatteras laut und jagte sie nach der Richtung des Doctors und des Amerikaners, die sich bald dieser prächtigen Beute entgegenstellten.

Sogleich standen da die Ochsen, und da sie vor einem einzelnen Feinde weniger Furcht hatten, so liefen sie gegen Hatteras wieder zurück. Dieser erwartete sie festen Fußes, legte, als sie nahe genug waren, an und gab Feuer, ohne daß seine Kugel, die eines der Thiere mitten auf die Stirn traf, sie im Laufe aufzuhalten vermochte. Der zweite Schuß von Hatteras machte die Thiere nur wüthend; sie stürzten sich auf den entwaffneten Jäger und warfen ihn jählings um.

»Er ist verloren!« rief der Doctor.

In dem Augenblicke, da Clawbonny diese Worte im Ton der Verzweiflung ausrief, that Altamont einen Schritt voran, um Hatteras zu Hilfe zu eilen, dann blieb er wieder stehen, im Kampfe gegen sich selbst und seine Vorurtheile.

»Nein, rief er aus, das wäre ein Schurkenstreich!«

So stürzte er mit Clawbonny schnell nach dem Kampfplatze. Keine halbe Secunde hatte sein Zögern gedauert, aber so wie der Doctor sah, was in der Seele des Amerikaners vorging, so verstand es auch Hatteras, er, der lieber umgekommen wäre, als daß er die Hilfe seines Nebenbuhlers angerufen hätte. Jedenfalls hatte er kaum Zeit, sich darüber Rechenschaft zu geben, denn Altamont war schon nahe bei ihm.

Hatteras, der zu Boden lag, suchte die Hörnerstöße und Huftritte der beiden Thiere abzuwehren; lange hätte er indeß diesen Kampf nicht fortzusetzen vermocht.

Er war nahe daran, unvermeidlich in Stücke zerrissen zu werden, als zwei Flintenschüsse fielen; Hatteras fühlte die Kugeln fast seinen Kopf streifen.

»Nur Muth!« rief Altamont, der sein abgeschossenes Gewehr von sich schleuderte und auf die wüthenden Thiere losstürzte.

Der eine der Ochsen stürzte, im Herzen getroffen, zusammen; der andere wollte in schäumender Wuth dem unglücklichen Kapitän den Leib aufschlitzen, als Altamont ihm gegenüber sprang und mit der einen Hand sein Schneemesser tief zwischen die geöffneten Kinnbacken stieß, während er ihm mit der anderen durch einen furchtbaren Beilhieb den Kopf spaltete.

Das Alles geschah mit so wunderbarer Schnelligkeit, daß ein Blitz hinreichend gewesen wäre, die ganze Scene zu beleuchten.

Der zweite Ochse brach in den Knieen zusammen und fiel todt nieder.

»Hurrah! Hurrah!« rief Clawbonny.

Hatteras war gerettet.

Er verdankte also sein Leben demselben Manne, den er in der Welt am meisten haßte! Was ging in diesem Augenblick in seiner Seele vor? Welche menschliche Regung, die er nicht zu bemeistern vermochte, stieg in ihr auf?

Hier liegt ein Geheimniß des Herzens, das sich jeder Deutung entzieht.

Wie dem auch sei, Hatteras ging ohne Zaudern auf seinen Rivalen zu und sagte mit ernster Stimme:

»Sie haben mir das Leben gerettet, Altamont.

– Sie hatten es mir gethan, erwiderte der Amerikaner, und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: Wir sind quitt, Hatteras.

– Nein, Altamont, erwiderte der Kapitän, als der Doctor Sie aus dem Eisgrabe hervorzog, wußte ich nicht, wer Sie waren, doch Sie haben mich mit eigener Lebensgefahr gerettet, trotzdem Sie wußten, wer ich sei.

– Nun, Sie sind Meinesgleichen, entgegnete Altamont; doch sei dem wie ihm wolle, ein Amerikaner ist kein feiger Schurke.

– Nein, gewiß nicht, rief der Doctor, er ist ein Mensch, ein Mensch wie Sie, Hatteras!

– Und mit mir soll er den Ruhm theilen, der uns noch zu ernten bevorsteht.

– Den Ruhm, zum Nordpole vorzudringen, sagte Altamont.

– Ja wohl, erwiderte der Kapitän mit Selbstgefühl.

– Ich hatte es also errathen, rief der Amerikaner; Sie haben gewagt, einen solchen Beschluß zu fassen! Sie haben zu versuchen gewagt, diesen unnahbaren Punkt zu erreichen. O, das ist schön; das sage ich Ihnen, ich; das ist herrlich!

– Aber Sie, fragte Hatteras schnell, Sie befanden sich also nicht wie wir auf dem Wege zum Pole?«

Altamont schien mit der Antwort zu zögern.

»Nun? fragte der Doctor.

– Nun denn, nein! sagte der Amerikaner. Nein! Die Wahrheit über die Eigenliebe! Nein, ich hatte den großen Gedanken, der Sie hierher geleitet hat, nicht. Ich wollte mit meinem Schiffe nur die Nordwestpassage durchfahren; das ist Alles.

– Altamont, sagte Hatteras, dem Amerikaner die Hand entgegenstreckend, seien Sie also unser Ruhmesgefährte und kommen Sie mit uns, den Nordpol zu entdecken!«

Und die beiden Männer reichten sich zum warmen, redlichen Drucke ihre Hände.

Als sie sich nach dem Doctor umdrehten, standen diesem die Thränen in den Augen.

»O, meine Freunde, sagte er, sich die Augen trocknend, wie vermag mein Herz die Freude, mit der Sie es erfüllen, zu fassen! O, meine theuren Gefährten, Sie haben für den gemeinschaftlichen Erfolg die leidige Frage wegen der Nationalitäten geopfert. Sie haben sich gesagt, daß weder England noch Amerika hierbei in Betracht kommen, und daß eine innige Sympathie uns gegenüber den Gefahren unserer Expedition verbinden muß. Wenn der Nordpol erreicht ist, was kommt darauf an, wer ihn entdeckt? Warum sich so erniedrigen und darauf pochen, daß man ein Amerikaner oder ein Engländer ist, wenn man sich rühmen kann, ein Mensch zu sein!«

Der Doctor drückte die versöhnten Feinde in seine Arme; er konnte sich vor Freude kaum beruhigen, und auch die beiden neuen Freunde fühlten sich durch die Freundschaft, welche der würdige Mann ihnen entgegen brachte, nur noch mehr genähert.

Clawbonny sprach, ohne sich zurückhalten zu können, von der Eitelkeit der Wettbewerbung, von der Thorheit des Rivalisirens, und von dem so nöthigen Zusammenwirken zwischen Menschen, die so weit von ihrem Vaterlande verlassen sind. Seine Worte, seine Thränen, seine Zärtlichkeiten, Alles kam aus dem Grunde seines Herzens.

Doch beruhigte er sich endlich, nachdem er Hatteras und Altamont wohl zwanzig Mal umarmt hatte.

»Und nun, sagte er, an’s Werk, an’s Werk! Da ich als Jäger zu Nichts gut gewesen bin, so wollen wir meine Fähigkeiten auf anderer Seite benutzen!«

Er ging daran, den Ochsen auszuweiden, den er »den Ochsen des Versöhnungs-Opfers« nannte, und machte das so geschickt, daß er vielmehr einem Arzte glich, der eine sorgsame Section vornimmt.

Lächelnd sahen ihm die Gefährten zu. Nach wenigen Minuten hatte der gewandte Operateur etwa einen Centner appetitlichen Fleisches herausgeschnitten, das er in drei gleiche Theile theilte; Jeder belud sich mit einem derselben, und zurück ging es nach Fort Providence.

Um zehn Uhr Abends erreichten die Jäger, von den schiefen Strahlen der Sonne beleuchtet, Doctors-House, wo Johnson und Bell sie mit einer guten Mahlzeit erwarteten.

Aber noch bevor sie sich zu Tische setzten, rief der Doctor, auf seine beiden Jagdgenossen zeigend:

»Mein alter Johnson, ich hatte einen Engländer und einen Amerikaner mitgenommen, nicht wahr?

– Ja wohl, Herr Clawbonny, erwiderte der Rüstmeister.

– Nun, und zurück bringe ich zwei Brüder!«

Freudig reichten die beiden Seeleute Altamont die Hände; der Doctor erzählte ihnen, was der amerikanische Kapitän für den englischen gethan hatte, und diese Nacht beherbergte das Eishaus fünf wahrhaft glückliche Menschen.

Achtzehntes Capitel.


Achtzehntes Capitel.

Die letzten Vorbereitungen.

Am anderen Tage wechselte die Witterung; es ward wieder kalt; Schnee, Regen und Wirbelstürme folgten einander mehrere Tage hindurch.

Bell war mit der Schaluppe fertig; sie entsprach vollkommen dem Zwecke, dem sie dienen sollte; in Bordhöhe zum Theil verdeckt, konnte sie mit ihrem Fockmast und Klüverbaum auch bei schwererem Wetter See halten; dabei erlaubte ihre Leichtigkeit, sie auf dem Schlitten mitzunehmen, ohne dem Hundegespann zu schwer zu sein.

Endlich vollzog sich in dem Polarmeere eine für die Ueberwinternden immerhin sehr wichtige Veränderung. Die Eishaufen in der Mitte der Bai fingen an sich in Bewegung zu setzen; die höheren, schon unterminirt durch das fortwährende Anprallen, brauchten nur noch einen kräftigen Sturm, um sich vom Ufer loszureißen und schwimmende Eisberge zu bilden. Doch wollte Hatteras nicht die Beseitigung des ganzen Eisfeldes erwarten, um den Ausflug anzutreten. Da die Reise über Land gemacht werden sollte, that es nicht viel Eintrag, ob das Meer frei war oder nicht; er setzte also die Abreise auf den 25. Juni fest; bis dahin sollten alle Vorbereitungen vollkommen beendigt sein. Johnson und Bell beschäftigten sich mit der Instandsetzung des Schlittens, dessen Gestell verstärkt wurde, und verfertigten neue Schneeschuhe. Die Reisenden suchten für ihren Ausflug die wenigen Wochen schöner Witterung zu benutzen, welche die Natur diesen hochnördlichen Gegenden zutheilt. Die Beschwerden mußten da leichter zu ertragen, etwaige Hindernisse besser zu besiegen sein.

Einige Tage vor der Abfahrt, am 20. Juni, zeigte das Eis verschiedene offene Stellen, die man benutzte, um die Schaluppe bei einer Spazierfahrt nach Cap Washington zu erproben. Frei war das Meer freilich noch lange nicht, doch zeigte es keine feste Oberfläche mehr und eine Fußwanderung über die geborstenen Eisfelder wäre unmöglich gewesen.

Dieser halbe Tag Schifffahrt gestattete, die guten nautischen Eigenschaften der Schaluppe schätzen zu lernen.

Auf ihrer Rückfahrt waren die Reisenden Zeugen eines merkwürdigen Vorfalls. Es war die Jagd eines gewaltigen Bären auf eine Robbe; Ersterer war offenbar zu sehr in Anspruch genommen, um die Schaluppe zu bemerken, denn er würde nicht verfehlt haben, sie zu verfolgen. Er befand sich an einem Loch im Eisfelde, durch welches die Robbe jedenfalls entschlüpft war, auf der Lauer. Der Bär erwartete ihr Wiedererscheinen mit der Geduld eines Jägers oder vielmehr eines Fischers, denn er fischte ja in Wahrheit.

Schweigend, ohne Bewegung, ja, ohne jedes Lebenszeichen, lag er auf dem Anstand.

Plötzlich aber begann sich die Oberfläche des Wassers zu bewegen; die Amphibie tauchte zum Athemholen empor; der Bär streckte sich der Länge nach auf das Eis hin und legte die Tatzen rund um das Loch.

Einen Augenblick später erschien der Kopf der Robbe über dem Wasser; es blieb ihr aber nicht Zeit, wieder unterzutauchen; die Tatzen des Bären umfaßten sie wie von einer Feder losgeschnellt, preßten das Thier mit unwiderstehlicher Gewalt zusammen und hoben es aus seinem Elemente empor.

Es war nur ein kurzer Kampf; die Robbe vertheidigte sich einige Secunden lang, wurde aber an der Brust des gigantischen Gegners erstickt; dieser, der sie trotz ihrer Größe leicht wegtrug, sprang behende von einer Scholle zur andern bis an das feste Land und verschwand mit seiner Beute.

»Glückliche Reise! rief ihm Johnson nach; der Bär hat etwas zu viel Tatzen zur Verfügung.«

Die Schaluppe erreichte bald die kleine Bucht wieder, die ihr Bell im Eise ausgehauen hatte.

Noch vier Tage nur trennten Hatteras und seine Gefährten von dem zur Abreise bestimmten Zeitpunkt. Hatteras beeilte die letzten Zurüstungen; es drängte ihn, dieses Neu-Amerika zu verlassen, dieses Land, welches doch nicht das Seine war und dem er nicht seinen Namen gegeben hatte; er fühlte sich hier nicht zu Hause.

Am 22. Juni begann man den Schlitten mit den Lagergeräthschaften zu beladen, mit dem Zelte und dem Proviant. Die Reisenden nahmen zweihundert Pfund gesalzenes Fleisch mit, drei Kisten mit conservirtem Gemüse und Fleisch; fünfzig Pfund Salzlake und Limoniensaft; fünf Quarter (380 Pfd.) Mehl; verschiedene Päckchen Kresse und Löffelkraut aus den Anpflanzungen des Doctors; rechnet man hierzu zweihundert Pfund Pulver, die Instrumente, die Waffen, die Küchengeräthe, und dazu noch die Schaluppe, das Kautschukboot und das Gewicht des Schlittens, so ergab das eine Last von nahezu fünfzehnhundert Pfund, gewiß genug für vier Hunde, um so mehr, da diese nicht wie im Dienste der Eskimos, welche dieselben nur vier Tage hintereinander arbeiten lassen, keine Stellvertreter hatten, und alle Tage ziehen mußten; aber die Reisenden nahmen sich vor, ihnen im Nothfalle zu helfen und nur kurze Tagemärsche zurückzulegen. Die Entfernung von der Bai Victoria bis zum Pol betrug höchstens hundertfünfundfünfzig Meilen, wozu sie, bei zwölf Meilen täglich, einen halben Monat bedurften.

Sollte übrigens das Land aufhören, so mußten sie die Reise mit Hilfe der Schaluppe ohne Anstrengung für die Menschen oder die Hunde vollenden können.

Alle befanden sich jetzt wohl; der allgemeine Gesundheitszustand war ausgezeichnet; der Winter, obgleich streng, schloß doch unter für ihr Wohlsein günstigen Verhältnissen; Jeder entging, da sie alle dem Rathe des Doctors Folge geleistet hatten, den jenen rauhen Klimaten eigenthümlichen Krankheiten. In Summa, man war etwas abgemagert, was dem würdigen Clawbonny ganz erfreulich war. Aber man hatte auch Leib und Seele dieser rauhen Lebensweise angepaßt, und nun konnten diese acclimatisirten Männer den härtesten Proben der Ermüdung und der Kälte widerstehen, ohne zu unterliegen.

Und endlich, sie eilten ja dem Ziele der Reise zu, jenem unnahbaren Pole, an dem keine andere Frage als die der Rückkehr noch übrig blieb. Die Uebereinstimmung, welche jetzt die fünf Mitglieder der Expedition beseelte, sollte ihnen helfen, ihre kühne Fahrt zu vollbringen, und Keiner von ihnen zweifelte an dem Erfolge des Unternehmens.

In der Voraussicht einer lange dauernden Expedition hatte der Doctor seine Gefährten dahin vermocht, sich auch lange vorher darauf vorzubereiten.

Am 23. Juni waren die Reisenden bereit; es war ein Sonntag, der vollkommen der Ruhe gewidmet wurde.

Der Augenblick der Abreise nahte heran, und die Bewohner des Fort Providence sahen ihm nicht ohne Bewegung entgegen.

Es ging ihnen doch etwas an’s Herz, diese Schneehütte zu verlassen, die ihren Zweck als Wohnung so gut erfüllt hatte; diese Bai Victoria, diese gastliche Küste, an der sie die letzten Wintermonate verbracht hatten.

Würde man diese Baulichkeiten bei der Rückkehr wiederfinden? Würden die Strahlen der Sonne diese zerbrechlichen Mauern nicht vollends schmelzen?

Alles in Allem hatten sie hier schöne Stunden verlebt. Der Doctor rief beim Abendessen seinen Gefährten diese rührenden Erinnerungen wieder wach, und vergaß nicht, dem Himmel für seinen sichtbaren Schutz zu danken.

Endlich kam die Stunde der Ruhe. Jeder legte sich zeitig nieder, um früh aufzustehen. So verfloß die letzte im Fort Providence verbrachte Nacht.

Neunzehntes Capitel.


Neunzehntes Capitel.

Die Reise nach Norden.

Am anderen Tage gab Hatteras zeitig das Zeichen zur Abreise; die Hunde wurden vor den Schlitten gespannt; wohl ernährt und ausgeruht, und nach einem sehr bequem verbrachten Winter, waren sie gewiß im Stande, für den Sommer große Dienste zu leisten. Sie ließen sich auch gar nicht bitten, ihr Reisegeschirr wieder anzulegen.

Nach Allem zu urtheilen, sind diese Grönländer Hunde sehr gute Thiere; ihre wilde Natur hatte sich nach und nach verändert; sie verloren ihre Aehnlichkeit mit dem Wolfe und wurden Duk, diesem vollendeten Beispiele aus der Hunderace, ähnlicher; mit einem Worte, sie wurden civilisirt.

Duk konnte sich gewiß einen guten Theil ihrer Erziehung zurechnen; er hatte sie gelehrt, sich gut zu vertragen, und war mit eigenem Beispiele vorangegangen; in seiner Eigenschaft als Engländer und etwas eigensinnig bezüglich der »Kunstsprache«, hatte es lange gedauert, bevor er mit diesen Hunden, »die ihm nicht vorgestellt waren«, vertraulicher wurde, und im Princip sprach er nicht mit ihnen. Da sie aber dieselben Gefahren, dieselben Entbehrungen, dasselbe Loos theilten, vertrugen sich endlich diese Thiere verschiedener Race ganz gut. Duk, der ein gutes Herz hatte, that die ersten entgegenkommenden Schritte, und das ganze vierfüßige Volk war bald eine Heerde Freunde.

Der Doctor liebkoste die Grönländer Hunde, und Duk sah es ohne Eifersucht auf seine Kameraden. In nicht weniger guten Verhältnissen befanden sich die Menschen; wenn Jene tapfer ziehen mußten, so nahmen sich diese vor, gut zu marschiren.

Bei günstiger Witterung reiste man früh um sechs Uhr ab; nachdem man den Umgebungen der Bai gefolgt war und das Cap Washington überschritten hatte, ließ Hatteras die Richtung direct nach Norden einschlagen; um sieben Uhr verloren die Reisenden im Süden den Leuchtthurmkegel und Fort Providence aus dem Gesicht.

Die Reise begann unter guten Anzeichen, jedenfalls unter weit besseren, als die im tiefen Winter zur Aufsuchung von Kohlen unternommene! Hatteras ließ damals an Bord seines Schiffes die Empörung und die Verzweiflung zurück, ohne des Zieles, dem er nachstrebte, sicher zu sein; er verließ eine vor Kälte halbtodte Mannschaft und reiste mit Begleitern, welche durch die Leiden des arktischen Winters geschwächt waren; er, der Mann des Nordens, wandte sich nach Süden zurück. Jetzt dagegen strebte er, umgeben von kräftigen Freunden, im besten Wohlbefinden, unterstützt, ermuthigt, fast gedrängt, nach dem Pol, nach diesem Zielpunkt seines ganzen Lebens. Niemals war ein Mensch näher daran gewesen, diesen für ihn und sein Vaterland hellstrahlenden Ruhm zu erwerben!

Dachte er wohl an alle diese bei den gegenwärtigen Verhältnissen so selbstverständlich erscheinenden Dinge? Der Doctor nahm es gern an, und konnte kaum daran zweifeln, wenn er Jenen so begierig sah. Der gute Clawbonny freute sich über das, was seinem Freunde offenbar Freude bereitete, und seit der Aussöhnung der beiden Kapitäne, seiner beiden Freunde, fühlte er sich als den glücklichsten der Menschen; er, dem die Empfindung des Hasses, der Mißgunst, der Rivalität so fremd war, er, das beste aller Geschöpfe! Was würde aus dieser Reise werden, welchen Erfolg versprach sie? Er wußte es nicht; indeß, sie fing gut an, das war schon viel.

Jenseit des Cap Washington verlängerte sich die westliche Küste Neu-Amerikas mittels einer Reihenfolge einzelner Baien; um diese ungeheuren Bogen zu vermeiden, wandten sich die Reisenden, nachdem sie die ersten Abhänge des Mount-Bell erstiegen hatten, gegen Norden, um die höheren Ebenen zu gewinnen. Sie kürzten dadurch den Weg ganz wesentlich ab.

Hatteras wollte, wenn nicht durch Meerengen oder Berge unvorhergesehene Hindernisse dazwischen träten, eine gerade Linie von dreihundertfünfzig Meilen vom Fort Providence bis nach dem Pole ziehen.

Die Reise ging fröhlich vorwärts; die höheren Ebenen boten einen ungeheuren weißen Teppich dar, auf welchem der Schlitten, der mit geschwefelten Kufen versehen war, ohne Mühe dahinglitt, ebenso wie die Menschen mittels der Schneeschuhe einen raschen und sichern Gang hatten.

Das Thermometer zeigte siebenunddreißig Grad (+3° hunderttheilig). Die Witterung war nicht beständig; bald war es klar, bald nebelig; aber weder Kälte noch Wirbelwinde hätten die Reisenden, welche so fest entschlossen waren, vorwärts zu dringen, aufzuhalten vermocht.

Nach dem Compaß war die Richtung leicht inne zu halten; die Nadel war weniger träge, da sie sich vom magnetischen Pol entfernte; freilich drehte sie sich, als dieser magnetische Punkt überschritten war, nach diesem um, und zeigte also für die nach Norden Wandernden jetzt eigentlich den Süden an; aber dieses verkehrte Anzeigen machte ja keine beschwerliche Rechnung nothwendig.

Uebrigens ersann der Doctor noch ein sehr einfaches Mittel zur Bestimmung der Richtung, welches das häufige Beobachten der Boussole unnöthig machte; war ihre Lage einmal festgestellt, so suchten sie bei heiterem Wetter einen genau nördlichen, zwei bis drei Meilen entfernten Punkt; auf diesen gingen sie zu, bis er erreicht war, und bestimmten von da aus einen neuen ebenso belegenen Punkt. So wichen sie gewiß nur wenig von dem geraden Wege ab.

Während der ersten beiden Reisetage legte man immer zwanzig Meilen in zwölf Stunden zurück; die übrige Zeit wurde den Mahlzeiten und der Ruhe gewidmet; zum Schutz während des Schlafes erwies sich das Zelt als ausreichend.

Die Temperatur hob sich dann und wann; stellenweise schmolz der Schnee, je nach der Art des Bodens, während andere Stellen ihre fleckenlose Weiße bewahrten, da und dort bildeten sich große Wasserflächen, manchmal wahre Teiche, welche mit etwas Phantasie wohl für Seen zu halten waren; sie mußten manchmal mit dem halben Bein im Wasser gehen, worüber sie nur lachten; ja der Doctor war über diese unerwarteten Bäder ganz glücklich.

»Dem Wasser ist’s gleichwohl nicht verstattet, uns in diesen Ländern zu durchnässen, sagte er; hier hat es nur in festem oder gasförmigem Zustande Rechte; sein flüssiger Zustand ist ein Mißbrauch. Eis oder Dampf, ganz schön, aber Wasser, nie!«

Unterwegs wurde auch die Jagd nicht vernachlässigt, denn sie mußte frische Nahrungsmittel liefern; dazu durchstreiften Altamont und Bell, ohne sich zu weit zu entfernen, die Nachbarschaft; sie schossen Schneehühner, Taucherhühner, Gänse, einige graue Hasen u. dergl.; diese Thiere kamen übrigens bald von dem ersten Zutrauen zurück und wurden furchtsam; sie flohen scheu, und nur schwer konnte man sich ihnen nähern. Ohne Duk wären die Jäger häufig um ihr Pulver betrogen gewesen.

Hatteras befahl ihnen, sich nicht weiter, als eine Meile zu entfernen, denn er hatte keinen Tag, ja keine Stunde zu verlieren, da auf mehr als drei Monate geeigneter Witterung nicht zu rechnen war.

Außerdem mußte Jeder dem Schlitten nahe zur Hand sein, wenn eine schwierige Stelle, eine enge Schlucht oder starkgeneigte Ebenen zu passiren waren; dann spannte oder stemmte sich Jeder an den Schlitten, ihn ziehend, schiebend oder stützend; mehr als einmal mußte man ihn ganz entladen, und auch das verhinderte noch nicht alle Stöße und in Folge dessen Beschädigungen, welche Bell nach besten Kräften ausbesserte.

Am dritten Tage, Mittwochs den 26. Juni, stießen die Reisenden auf einen See von mehreren Morgen Landes Ausdehnung, der in Folge seiner vor der Sonne geschützten Lage noch vollständig mit Eis bedeckt war; dieses zeigte sich auch stark genug, das Gewicht der Reisenden und des Schlittens zu tragen. Dieses Eis schien schon von einem früheren Winter herzurühren, denn in Folge seiner Lage konnte dieser See nie aufthauen. Es war ein compacter Spiegel, dem die arktischen Sommer Nichts anhaben konnten; was diese Ansicht noch bestätigte, war der trockene Schnee, der seine Ufer einrahmte, und dessen untere Schichten offenbar früheren Jahren angehörten.

Von diesem Punkte aus ward das Land merklich niedriger, woraus der Doctor den Schluß zog, daß es gegen Norden sich nicht allzuweit erstrecken dürfte; es wurde immer wahrscheinlicher, daß Neu-Amerika nur eine Insel sei, welche sich nicht bis zum Pol ausdehnte. Nach und nach flachte sich das Land mehr ab; kaum waren noch im Westen einige theils in der Entfernung, theils in einem bläulichen Nebel verschwindende Hügel sichtbar.

Bis hierher war die Expedition ohne Ermüdung verlaufen, die Reisenden litten höchstens durch die von dem Schnee zurückgeworfenen Sonnenstrahlen; durch diesen Reflex konnten sie der Schnee-Blindheit3 kaum entgehen. Zu anderer Jahreszeit wären sie während der Nacht gereist, um diesem Uebelstande zu entgehen, jetzt aber gab es ja keine Nacht. Glücklicher Weise neigte sich der Schnee zum Schmelzen, und verlor so, wenn er im Begriff war, in Wasser überzugehen, viel von seinem Glanze.

Am 28. Juni hob sich die Temperatur bis auf fünfundvierzig Grad über Null (+7° hunderttheilig); dieser Wärmegrad war von reichlichem Regen begleitet, den die Reisenden ruhig, selbst mit Vergnügen ertrugen, denn er beförderte das Schmelzen des Schnees; man mußte wieder auf die Mocassins von Damleder zurückgreifen und auch das Gleitungsvermögen des Schlittens ändern. Der Marsch wurde dadurch zwar aufgehalten, da aber ernsthafte Hindernisse nicht auftraten, kam man doch vorwärts.

Einige Male hob der Doctor unterwegs rundliche oder platte Steine auf, die das Ansehen der durch den Wellenschlag abgerundeten Steine am Seestrande hatten, und er glaubte deshalb, in der Nähe des Polar-Meeres zu sein; aber immer noch dehnte sich die Ebene zu unübersehbarer Ferne aus.

Sie bot kein Anzeichen von Bewohntsein, weder Hütten, noch Cairns, noch Eskimohöhlen; offenbar waren unsere Reisenden die Ersten, welche dieses neue Land betraten; diejenigen Stämme der Grönländer, welche die arktischen Länder besuchen, drangen nie soweit hinauf, obgleich die Jagd hier reiche Ergebnisse diesen immer hungrigen Unglücklichen liefern mußte; manchmal bemerkte man Bären, die der kleinen Gesellschaft unter dem Winde folgten, aber keine Miene machten, sie anzugreifen; in der Ferne zeigten sich auch zahlreiche Heerden von Bisonochsen und Rennthieren, von welchen Letzteren der Doctor gern einige Exemplare zur Verstärkung der Schlittenbespannung gehabt hätte, doch waren diese sehr scheu und machten es unmöglich, sie lebend zu fangen.

Am 29. tödtete Bell einen Fuchs, und Altamont war so glücklich, einen kleineren Bisonochsen zu erlegen, wobei er seinen Genossen eine hohe Meinung von seiner Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit abnöthigte; wirklich war er ein ausgezeichneter Jäger, und der Doctor, der sich darauf verstand, bewunderte ihn höchlich. Der Ochse ward ausgeweidet und lieferte reichlich frische Nahrung.

Dieses zufällige Glück guter und nahrhafter Mahlzeiten wurde immer freudig begrüßt; auch wer weniger Feinschmecker war, mußte unwillkürlich einen Blick der Befriedigung auf diese Schnitten saftigen Fleisches werfen. Der Doctor selbst lachte, wenn er sich über der Bewunderung dieser köstlichen Stücke ertappte.

»Wir wollen den Mund nicht zu spitz machen, sagte er da, bei Nordpol-Expeditionen ist die Mahlzeit eine Sache von Bedeutung.

– Zumal, erwiderte Johnson, wenn sie von einem mehr oder weniger geschickten Schusse abhängt.

– Sie haben Recht, mein alter Johnson, versetzte der Doctor, wenn man den Kochtopf regelmäßig im Küchenofen brodeln sieht, denkt man weniger an’s Essen.«

Am 30. wurde das Land ganz unerwartet sehr uneben, als wenn es durch eine vulkanische Bewegung gehoben wäre; kegelförmige und spitze Erhabenheiten wurden unzählig und erreichten große Höhen. Ein Südostwind begann mit Heftigkeit zu wehen und steigerte sich bald zum tüchtigen Orkane; er verfing sich an den schneebekrönten Felsen und zwischen den Eisbergen, die auf der Ebene die Form von Spitzhügeln und Eisinseln des Meeres nachahmten; ihre Anwesenheit auf diesen Hochebenen war ihnen unerklärlich, selbst dem Doctor, der doch sonst für Alles eine Deutung hatte.

Dem Sturme folgte warme, feuchte Witterung, ein wahrhaftes Thauwetter; von allen Seiten erscholl das Krachen des Eises, das sich mit dem noch mächtigeren Donner der Lawinen mischte.

Die Reisenden vermieden sorgfältig, ihren Weg am Fuße der Hügel zu nehmen, ja sogar laut zu sprechen, denn schon das Geräusch der Stimme konnte durch die Bewegung der Luft Katastrophen herbeiführen; sie waren öfters Zeugen furchtbarer Stürze, vor denen sich zu schützen sie gar keine Zeit gehabt hätten; eine wesentlichste Eigenthümlichkeit der polaren Lawinen ist in der That deren erschreckende Schnelligkeit; sie unterscheiden sich damit von denen in der Schweiz und in Norwegen; dort bildet sich zunächst eine Schneekugel, die zuerst wenig beträchtlich, durch den Schnee und wohl auch durch Felsstücke auf ihrem Wege an Größe zunnimmt, mit wachsender Schnelligkeit niederstürzt, Felder verwüstet und Dörfer zerstört, aber immerhin eine gewisse Zeit zum Niederrollen braucht; anders aber ist es in den von arktischem Froste erstarrten Gegenden; die Ortsveränderung von Eisblöcken geschieht hier völlig unerwartet, blitzartig. Ihr Sturz fällt mit dem Augenblicke des Losbrechens zusammen, und wer sie gerade auf sich zustürzen sieht, wird von ihnen unrettbar zermalmt; die Kanonenkugel ist nicht schneller, der Blitz nicht sicherer. Sich ablösen, fallen und zerstören ist für die Lawinen der Polarländer ein und dasselbe, und das geschieht mit dem majestätischen Rollen des Donners und mit ganz fremdartigem, mehr kläglichem als geräuschvollem Echo.

Vor den Augen der Zuschauer vollzogen sich auch nicht selten merkwürdige Veränderungen der umgebenden Ansichten; das Land wandelte sich um; der Berg wurde unter dem Einflusse eines plötzlichen Thaues zur Ebene; oder, wenn das Regenwasser, das in die Sprünge großer Blöcke gedrungen war, durch den Frost einer einzigen Nacht gefror, sprengte es durch die unwiderstehliche Kraft der Expansion jedes Hinderniß, eine Macht, die sich bei der Eisbildung noch stärker erwies, als bei der Dampfbildung, und auch diese Erscheinung vollzog sich mit erschreckender Augenblicklichkeit.

Dem Schlitten und seinen Führern drohte glücklicher Weise kein Unfall; in Folge ihrer Vorsichtsmaßregeln wurde jede Gefahr vermieden. Uebrigens hatte dieses durch Gebirgskämme und daran lagernde Anhöhen, durch Bergspitzen und Eisberge zerklüftete Land keine große Ausdehnung, und drei Tage darauf, am 3. Juli, befanden sich die Reisenden wieder auf bequemerer Ebene.

Da wurden sie aber durch eine andere Erscheinung in Erstaunen gesetzt, welche lange die mühsamsten Untersuchungen der Gelehrten beider Hemisphären erregte; die kleine Truppe folgte einer etwa fünfzig Fuß hohen Hügelkette, die sich mehrere Meilen weit zu erstrecken schien; ihr Abhang nach Osten war mit Schnee, aber mit vollkommen rothem Schnee bedeckt.

Man begreift das Erstaunen Aller, ihre Ausrufe der Verwunderung und selbst den etwas erschreckenden Eindruck dieses langen carmoisinrothen Abhangs. Der Doctor zögerte nicht, wenn nicht sie zu beruhigen, so doch wenigstens seine Gefährten zu unterrichten; er kannte das Wesen dieses rothen Schnees aus den darüber ausgeführten chemisch-analytischen Arbeiten Wollaston’s, Candolle’s und Bauer’s; er erzählte also, daß sich dieser Schnee nicht allein in den arktischen Gegenden finde, sondern auch mitten in den Alpen der Schweiz. Saussure sammelte im Jahre 1760 eine beträchtliche Menge desselben, und später brachten auch die Kapitäne Roß, Sabine und andere Seefahrer von ihren Polar-Expeditionen ebensolchen mit.

Altamont befragte den Doctor über die Natur dieser außergewöhnlichen Substanz, und dieser belehrte ihn, daß die Farbe derselben einzig durch die Anwesenheit organischer Körperchen bedingt sei. Lange waren die Forscher im Zweifel, ob dieselben thierischer oder pflanzlicher Natur seien, aber sie erkannten endlich, daß sie zu der großen Familie mikroskopischer Pilze, und zu der Art »Uredo« gehörten, welche Bauer »Uredo nivalis« zu nennen vorschlug.

Dann zeigte der Doctor seinen Genossen, indem er den Schnee mit seinem eisenbeschlagenen Stocke durchstieß, daß jene Scharlachkruste neun Fuß dick war, und gab ihnen zu berechnen auf, wieviel auf einen Raum von mehreren Meilen von diesen Pilzen, von denen die Gelehrten dreiundvierzigtausend auf einem Quadratcentimeter zählten, wohl vorhanden sein möchten.

Nach der Natur des Abhanges mußte diese Färbung schon sehr alt sein, denn diese Pilze zersetzen sich weder durch Verdunstung, noch durch das Schmelzen des Schnees, und ebenso ist ihre Farbe unveränderlich.

Das Phänomen blieb, wenn auch erklärt, doch nicht minder fremdartig; die rothe Farbe trifft man in der Natur nur selten in größerer Verbreitung an; der Widerschein der Sonnenstrahlen auf diesem Purpurteppich brachte eigenthümliche Effecte hervor; er verlieh den benachbarten Gegenständen, den Felsen wie den Menschen und Thieren, ein feuriges Aussehen, so als ob sie von einer inneren Gluth durchleuchtet wären, und als jener Schnee schmolz, schien es, als ob Bäche von Blut unter den Füßen der Reisenden dahinflössen.

Der Doctor, welcher diese Substanz, als er sie auf den Crimson-Klippen der Baffins-Bai sah, nicht hatte untersuchen können, sammelte sie sich jetzt nach Gefallen und füllte sorgsam mehrere Flaschen damit an.

Dieser rothe Boden, dieses »Blutfeld«, wie er es nannte, wurde erst nach dreistündigem Marsche überschritten; dann nahm das Land sein gewöhnliches Aussehen wieder an.

  1. Eine eigenthümliche Erkrankung der Netzhaut, die durch den Widerschein des Schnees hervorgerufen wird.

Fünfzehntes Capitel.


Fünfzehntes Capitel.

Die nordwestliche Durchfahrt.

Am anderen Tage begaben sich Bell, Altamont und der Doctor nach dem Porpoise; Holz bot das Wrack in Ueberfluß; die alte Schaluppe des Dreimasters war zwar leck durch die Stöße der Eisschollen, konnte aber doch die Haupttheile zu der neuen liefern. Der Zimmermann begann ohne Zögern seine Arbeit; man brauchte ein seetüchtiges Fahrzeug, das gleichzeitig so leicht war, um auf dem Schlitten fortgeschafft werden zu können.

Die letzten Tage des Mai hob sich die Temperatur; das Thermometer stieg wieder bis zum Gefrierpunkte; dieses Mal kam nun der Frühling alles Ernstes, und die Reisenden konnten die Winterkleider ablegen. Häufig trat Regen ein; der Schnee schmolz zusammen und rann über die geringsten Terrainneigungen in Stromschnellen und kleinen Wasserfällen.

Hatteras konnte seine Befriedigung nicht verhehlen, als die Eisfelder die ersten Spuren des Thauwetters zeigten. Freies Meer war auch für ihn die Freiheit.

Ob seine Vorgänger sich mit der Annahme eines offenen Polarmeeres getäuscht hatten oder nicht, das hoffte er nun bald zu wissen, davon hing ja der ganze Erfolg seiner Unternehmung ab.

Eines Abends, als nach einem warmen Tage sich die Spuren der Auflösung des Eises noch deutlicher zeigten, brachte er das Gespräch auf dieses hochinteressante Thema.

Er brachte dafür alle ihm geläufigen Wahrscheinlichkeitsgründe vor, und fand in dem Doctor immer einen warmen Vertheidiger seiner Lehrsätze. Uebrigens hatten seine Schlußfolgerungen entschieden viel für sich.

»Es ist einleuchtend, sagte er, daß, wenn der Ocean sich seiner Eismassen vor der Bai Victoria entledigt, sein nördlicher Theil bis Neu-Cornwallis hin frei sein muß, ebenso wie bis zu dem Canal der Königin. Penny und Belcher haben ihn so gesehen, und sie beobachteten gut.

– Ich glaube das so gut wie Sie, Hatteras, erwiderte der Doctor, und Nichts gestattet, den guten Glauben dieser berühmten Seefahrer in Zweifel zu ziehen; nur wollte man ihre Entdeckung einer Luftspiegelung zuschreiben, doch waren sie offenbar zu sehr überzeugt, um der Thatsache nicht sicher zu sein.

– So hab‘ ich immer gedacht, nahm dann Altamont das Wort; das Polarmeer erstreckt sich nicht nur nach Westen, sondern auch nach Osten.

– In der That, das kann man annehmen; erwiderte Hatteras.

– Man muß es sogar, entgegnete der Amerikaner, denn dasselbe freie Meer, welches die Kapitäne Penny und Belcher nahe den Küsten von Grinnelland gesehen haben, sah Morton, der Lieutenant Kane’s, ebenfalls von der Meerenge aus, die den Namen dieses kühnen Gelehrten trägt.

– Wir sind nicht im Kane-Meer, entgegnete Hatteras trocken, also können wir das auch nicht bestätigen.

– Mindestens ist es wahrscheinlich, sagte Altamont.

– Gewiß, fiel der Doctor ein, der einem unnützen Streite vorbeugen wollte. Was Altamont denkt, wird schon wahr sein; bei den eigenthümlichen Gestaltungen des umlagernden Landes treten unter gleichen Breiten auch die nämlichen Erscheinungen auf. Ich für meinen Theil glaube an das offene Meer im Osten eben so, wie im Westen.

– Jedenfalls ist das für uns nicht von Belang! sagte Hatteras.

– Ich spreche da nicht so wie Sie, Hatteras, sagte der Amerikaner, den die affectirte Gleichgiltigkeit des Kapitäns warm zu machen anfing, das könnte für uns von einer gewissen Wichtigkeit sein.

– Und wann, ich bitte?

– Wenn wir an die Rückkehr denken.

– An die Rückkehr! rief Hatteras; wer denkt denn daran?

– Jetzt Niemand, meinte Altamont, aber auf einem Punkte werden wir, denk‘ ich, doch einmal Halt machen.

– Und wo wäre dieser?« fragte Hatteras.

Diese directe Frage war hiermit zum ersten Male an den Amerikaner gerichtet. Der Doctor hätte einen Arm darum gegeben, um die Erörterung von Unannehmlichkeiten frei zu erhalten.

Altamont antwortete nicht; der Kapitän wiederholte seine Frage.

»Nun, wo wäre das?

– Wo wir eben hingehen! erwiderte gelassen der Amerikaner.

– Und wer kann das wissen? sagte beruhigend der Doctor.

– Ich nehme doch an, sprach der Amerikaner weiter, daß, wenn wir das Polarmeer zur Rückkehr benutzen wollen, wir versuchen müssen, das Kane-Meer zu erreichen; das wird uns näher nach der Baffins-Bai bringen.

– Sie glauben? fragte ironisch der Kapitän.

– Ich glaube es, so gewiß wie ich überzeugt bin, daß, wenn diese nördlichen Meere jemals der Schifffahrt erschlossen werden, man jenen Weg, der offenbar weniger Hindernisse bietet, benutzen wird. O, die Entdeckung des Doctor Kane ist sehr wichtig!

– Wirklich! sagte Hatteras, der sich die Lippen fast blutig biß.

– Ja, man kann das nicht leugnen, fügte der Doctor hinzu, und muß Jedem seine Verdienste gönnen.

– Ohne in Anschlag zu bringen, fuhr der hartnäckige Amerikaner fort, daß vor ihm noch Keiner so weit nach Norden vorgedrungen war.

– Mir scheint, erwiderte Hatteras, die Engländer haben’s ihm jetzt zuvor gethan.

– Und die Amerikaner! setzte Altamont hinzu.

– Die Amerikaner! rief Hatteras.

– Nun, was bin ich denn? sagte Altamont stolz.

– Sie sind, erwiderte Hatteras mit kaum verhaltener Stimme, ein Mann, der dem Zufalle und der Wissenschaft nur gleiche Theile des Ruhmes zugesteht. Ihr amerikanischer Kapitän ist weit nach Norden vorgedrungen, aber der Zufall allein …

– Dem Zufalle! Sie wagen zu behaupten, daß Kane seine große Entdeckung nicht der Energie und den Kenntnissen verdanke, welche er besaß?

– Ich sage, entgegnete Hatteras, daß der Name Kane in einem durch einen Parry, einen Franklin, Roß, Belcher und Penny berühmten Lande gar nicht zu nennen ist, oder in Meeren, worin der Engländer MacClure die nordwestliche Durchfahrt gefunden …

– MacClure, rief lebhaft der Amerikaner; Sie führen diesen Mann an und wollen die Geltung des Zufalls bestreiten? Hat ihn nicht die Gunst des Zufalls allein dahin geführt?

– Nein, erwiderte erregt Hatteras, nein! Vielmehr sein Muth, seine Ausdauer, vier Winter mitten im Eise auszuhalten …

– Das glaub‘ ich wohl, warf der Amerikaner ein, er war festgefroren, er konnte nicht fort und verließ endlich sein Schiff, den ‚Investigator‘, um nach England zurückzukehren.

– Meine Freunde …, sagte der Doctor.

– Uebrigens, unterbrach ihn Altamont, sehen wir von dem Manne ab und fassen das Resultat in’s Auge. Sie sprechen von der nordwestlichen Durchfahrt; nun, diese Durchfahrt ist erst noch aufzufinden!«

Hatteras sprang bei diesen Worten auf; nie ist eine Streitfrage zwischen zwei wetteifernden Nationen mit mehr Aufregung erörtert worden.

Der Doctor suchte fortwährend in’s Mittel zu treten.

»Sie haben Unrecht, Altamont, sagte er.

– Nein! Ich halte meine Behauptung aufrecht, erwiderte der Starrkopf, die nordwestliche Durchfahrt ist noch aufzufinden, oder doch zu durchschiffen, wenn Sie das lieber wollen! MacClure ist nicht bis zu ihr vorgedrungen, und bis auf den heutigen Tag ist noch kein Schiff von der Behrings-Straße nach der Baffins-Bai gelangt.«

Buchstäblich genommen war das richtig. Was konnte man dem Amerikaner entgegen halten?

Indessen erhob sich Hatteras und sprach:

»Ich dulde nicht, daß der Ruhm eines englischen Kapitäns in meiner Anwesenheit länger angegriffen wird!

– Sie wollen es nicht dulden! entgegnete der Amerikaner, der nun ebenfalls aufstand, aber die Thatsachen sind da, und Sie werden sie nicht ungeschehen machen können.

– Mein Herr! rief Hatteras bleich vor Zorn.

– Aber, Freunde, fiel der Doctor ein, etwas ruhiges Blut! Wir erörtern hier einen wissenschaftlichen Gegenstand!«

Der gute Clawbonny wollte darin nur eine wissenschaftliche Erörterung sehen, wo der Haß zwischen einem Amerikaner und einem Engländer in’s Spiel kam.

»Die Thatsachen – ich werde sie Ihnen anführen, rief drohend Hatteras, der auf Nichts mehr hörte.

– Und ich lasse mir’s nicht wehren, zu reden!« entgegnete der Amerikaner.

Johnson und Bell wußten nicht, wie sie sich hierbei benehmen sollten.

»Meine Herren, sprach der Doctor mit Nachdruck, Sie werden mir das Wort gestatten! Lassen Sie mich reden; die betreffenden Thatsachen sind mir so gut, wo nicht besser bekannt, als Ihnen, und Sie werden mir zugestehen, daß ich sie unparteiischer darzulegen vermag.

– Ja wohl! Ja wohl! riefen Bell und Johnson, welche über die Wendung des Gespräches besorgt waren, und mit ihrer Beistimmung dem Doctor die Majorität verschafften.

– Fangen Sie nur immer an, Herr Clawbonny, sagte Johnson; diese Herren werden auf Sie hören, und wir dabei uns Alle unterrichten.

– Reden Sie«, sagte der Amerikaner.

Hatteras gab mit einem Zeichen seine Zustimmung zu erkennen, nahm wieder Platz und kreuzte die Arme.

»Ich will Ihnen die Thatsachen in schlichter Wahrheit erzählen, sagte der Doctor, und Sie, meine Freunde, können berichtigen, wenn ich irgend Etwas übergehe oder falsch darstelle.

– Wir kennen Sie zur Genüge, Herr Clawbonny, sagte Bell, und Sie können erzählen, ohne das zu befürchten.

– Hier ist die Karte der Polarmeere, begann der Doctor, der aufgestanden war, die nöthigen Unterlagen zu beschaffen; es wird damit leicht sein, dem Zuge MacClure’s zu folgen, und Sie werden, da Ihnen der Fall bekannt ist, leicht urtheilen können.«

Der Doctor breitete auf dem Tische eine der ausgezeichneten, auf Befehl der Admiralität herausgegebenen Karten aus, welche auch die neuesten Entdeckungen in der Polarregion verzeichnet enthielt, und begann folgendermaßen:

»Sie wissen, daß im Jahre 1848 zwei Schiffe, der ‚Herald‘, Kapitän Kellet, und der ‚Plover‘, Befehlshaber Moore, nach der Behrings-Straße ausgesendet wurden, um die Spuren von Franklin aufzufinden; ihr Nachsuchen war erfolglos; im Jahre 1850 stieß auch noch MacClure, der den ‚Investigator‘ befehligte, dazu, ein Schiff, auf dem er die im Jahre 1849 vorgenommene Expedition unter James Roß mitgemacht hatte. Er fuhr in Begleitung seines Oberbefehlshabers, des Kapitäns Collinson, der sich auf dem ‚Entreprise‘ befand; aber er segelte diesem voraus, und erklärte, als er an der Behrings-Straße angekommen war, nicht länger warten zu wollen, sondern auf eigene Verantwortlichkeit weiter zu schiffen, um, bemerken Sie wohl, Altamont, entweder Franklin oder die Durchfahrt aufzufinden.«

Altamont gab weder Zustimmung noch Widerspruch zu erkennen.

»Am 5. August 1850, fuhr der Doctor fort, drang MacClure, nachdem er noch ein letztes Mal mit dem ‚Plover‘ in Verbindung getreten war, in die östlichen Meere, und zwar auf einem wenig bekannten Wege ein; sehen Sie, kaum einige Länder sind auf dieser Karte verzeichnet. Am 30. August erreichte der junge Officier Cap Bathurst; am 6. September entdeckte er das Barings-Land, zu welchem er vom Banks-Lande aus segelnd gelangte, und später das Prinz Albert-Land; dann wandte er sich entschlossen nach jener langen Meerenge, welche diese beiden mächtigen Inseln trennt und der er den Namen ‚Meerenge des Prinzen von Wales‘ gab. Begleiten Sie hier im Geiste den kühnen Seefahrer. Er hoffte in das Melville-Bassin, durch welches wir gekommen sind, einlaufen zu können, und hatte wohl auch guten Grund dazu; aber am Ausgange der Meerenge thürmte ihm das Eis eine unübersteigliche Schranke entgegen. In seinem Wege aufgehalten, brachte MacClure dort den Winter 1850 auf 1851 zu und machte während dieser Zeit einen Ausflug über das Eis, um sich über die Verbindung der Meerenge mit dem Melville-Bassin zu vergewissern.

– Ja, sagte hier Altamont, aber er fuhr nicht durch sie hindurch.

– Gedulden Sie sich, entgegnete der Doctor. Während dieser Ueberwinterung durchstreiften MacClure’s Officiere die benachbarten Küsten, Creswell das Barings-Land, Haswelt den südlichen Theil des Prinz Albert-Landes, und Wynniat das Cap Walker im Norden. Im Juli, beim ersten Thauwetter, versucht MacClure zum zweiten Mal, den ‚Investigator‘ in das Melville-Bassin zu führen; bis auf zwanzig Meilen nähert er sich diesem, nur zwanzig Meilen! Aber unwiderstehlich drängen ihn Stürme nach dem Süden, ohne daß er dieses Hinderniß zu überwinden vermag. Nun entschließt er sich, die Meerenge des Prinzen von Wales zurückzufahren, Banks-Land zu umschiffen, und das von Westen aus zu versuchen, was ihm von Osten unmöglich war. Er wendet also um, und erreicht am 18. Cap Kellet, am 20. das Cap Prinz Alfred, zwei Grade nördlicher; dann aber, nach schrecklichen Kämpfen mit den Eisbergen, sieht er sich in der Banks-Durchfahrt, am Eingange jener Reihe von Meerengen, welche nach dem Baffins-Meere führen, festgehalten.

– Aber er hat nicht hindurchschiffen können, sagte Altamont.

– Warten Sie noch und haben Sie die Geduld MacClure’s. Am 26. September bezog er Winterquartier in der Mercy-Bai, nördlich von Banks-Land, und blieb dort bis 1852; der April kam heran; MacClure hatte nur noch für achtzehn Monate Provision, und doch denkt er an keine Rückkehr. Er reist ab, setzt mittels Schlitten über die Meerenge von Banks und kommt auf der Insel Melville an. Folgen wir ihm. An ihren Küsten hoffte er die Schiffe des Commandanten Austin zu finden, die ihm durch die Baffins-Bai und den Lancaster-Sund entgegengeschickt waren. Am 28. April berührt er Winter-Harbour, an demselben Punkte, wo Parry dreiunddreißig Jahre vorher überwinterte. Von Schiffen sah er aber Nichts; in einem Cairn entdeckte er jedoch ein Document, aus dem er erfährt, daß Mac-Clintock, der Lieutenant Austin’s, im vorigen Jahre hier vorübergekommen und zurückgesegelt sei. Wo jeder Andere verzweifelt wäre, MacClure verzweifelte nicht. Auf gut Glück legt er in den Cairn ein anderes Document nieder, in dem er seine Absicht ausspricht, durch die nordwestliche Durchfahrt, die er aufgefunden habe, nach England zurückzukehren, indem er den Lancaster-Sund und das Baffins-Meer zu erreichen hoffe. Wenn man zunächst nicht weiter von ihm reden hört, so kommt das daher, daß er im Norden oder Westen der Melville-Insel verschlagen worden war; genug er kam nach der Mercy-Bai, zum Zwecke einer dritten Ueberwinterung, von 1852 auf 1853, unentmuthigt zurück.

– Seinen Muth habe ich nie bezweifelt, erwiderte Altamont, wohl aber seinen Erfolg.

– Folgen wir ihm weiter, fuhr der Doctor fort. Als er Mitte März in Folge eines sehr strengen Winters, der keine Beute an Wild ergab, auf Zweidrittel-Rationen beschränkt war, entschloß sich MacClure, die Hälfte seiner Mannschaft nach England zurückzusenden, und zwar entweder durch die Baffins-Bai oder durch den Mackenzie-Strom und die Hudsons-Bai; die andere Hälfte sollte dann den ‚Investigator‘ nach Europa zurückführen. Er suchte die minder Gesunden aus, denen eine vierte Ueberwinterung verderblich zu werden drohte. Alles war schon für ihre auf den 15. April festgesetzte Abreise vorbereitet, als MacClure am 6. bei einem Spaziergange mit seinem Lieutenant Creswell auf dem Eise von Norden her einen Mann heranlaufen sah, der mit Handbewegungen winkte; und dieser Mann war der Lieutenant Pim, vom ‚Herald‘, der Lieutenant desselben Kapitäns Kellet, den er, wie früher bemerkt, zwei Jahre vorher in der Behrings-Straße verlassen hatte. Kellet hatte, als er nach Winter-Harbour gekommen war, das auf gut Glück zurückgelassene Document MacClure’s gefunden; da er daraus dessen Aufenthalt in der Mercy-Bai erfahren, schickte er dem kühnen Seefahrer seinen Lieutenant Pim entgegen. Diesem folgte noch eine Abtheilung Seeleute des ‚Herald‘, unter welchen sich auch ein französischer Schiffsfähnrich, Herr von Bray, befand, der als Volontär unter dem Stabe des Kapitäns Kellet diente. Sie setzen doch in diese Begegnung unserer Landsleute keinen Zweifel?

– Durchaus nicht, erwiderte Altamont.

– Nun gut, so wollen wir noch betrachten, was später geschah, und ob die Nordwest-Passage wirklich durchmessen worden ist, oder nicht. Bedenken Sie, daß wenn man die Entdeckungen Parry’s mit denen MacClure’s verbindet, zugeben muß, daß die Nordküsten Amerikas festgestellt sind.

– Nicht durch ein einziges Schiff, antwortete Altamont.

– Nein, aber durch einen einzelnen Menschen. Doch weiter. MacClure besuchte den Kapitän Kellet auf der Melville-Insel; in zwölf Tagen legte er die hundertsiebenzig Meilen zurück, welche die Mercy-Bai von Winter-Harbour trennen; er kam mit dem Commandanten des ‚Herald‘ dahin überein, diesem seine Kranken zu schicken, und kehrte nach seinem Schiffe zurück. Andere würden an der Stelle MacClure’s glauben, genug geleistet zu haben, aber der unerschrockene junge Mann wollte noch einmal das Glück versuchen. Dann verließ, und hierauf richte ich besonders Ihre Aufmerksamkeit, sein Lieutenant Creswell, der die Kranken begleitete, die Mercy-Bai, erreichte Winter-Harbour, und von da, nach einer Reise von vierhundertundsiebenzig Meilen über das Eis, am 2. Juni die Insel Beechey, wenige Tage nachher aber schiffte er sich mit einem Dutzend Mann an Bord des ‚Phönix‘ ein.

– Wo ich damals mit Kapitän Inglefield diente, schaltete Johnson ein, und wir kamen nach England zurück.

– Und am 7. October 1853, fuhr der Doctor fort, traf Creswell in London ein, nachdem er den ganzen Raum, der zwischen der Behrings-Straße und Cap Farewell liegt, durchmessen hatte.

– Nun, sagte Hatteras, auf der einen Seite angekommen und von der anderen ausgegangen sein, nennt man ‚passirt haben‘.

– Ja wohl, erwiderte Altamont, wobei vierhundertundsiebenzig Meilen auf dem Eise zurückgelegt wurden.

– Nun, was verschlägt das?

– Daran liegt Alles, erwiderte der Amerikaner. Hat MacClure’s Schiff den Weg zurückgelegt?

– Nein, antwortete der Doctor, nach der vierten Ueberwinterung mußte es MacClure mitten im Eise verlassen.

– Schön, bei einer Seereise kommt es aber darauf an, daß ein Schiff einen gewissen Weg macht, nicht ein Mensch. Wenn die nordwestliche Durchfahrt jemals benutzbar sein soll, so muß sie es für Fahrzeuge, nicht für Schlitten sein. Das Schiff muß also die Reise vollenden können, in Ermangelung die Schaluppe.

– Die Schaluppe! rief Hatteras, der in diesen Worten einen bedeutungsvollen Wink herausfühlte.

– Altamont, sagte der Doctor, da machen Sie denn doch einen zu kleinlichen Unterschied, und in dieser Hinsicht geben wir Ihnen Alle Unrecht.

– Das ist für Sie nicht schwer, meine Herren, erwiderte der Amerikaner; Sie sind Vier gegen Einen. Das soll mich aber nicht hindern, meine Ansicht zu behalten.

– Behalten Sie sie doch, rief Hatteras aus, und so fest, daß man Nichts mehr davon hört.

– Mit welchem Rechte sprechen Sie in solchem Tone zu mir? fragte der Amerikaner wüthend.

– Mit meinem Rechte als Kapitän, entgegnete Hatteras zornig.

– Unterliege ich denn etwa Ihren Befehlen? fragte Altamont barsch.

– Ohne Zweifel! Und wehe Ihnen, wenn …«

Der Doctor, Johnson und Bell sprangen dazwischen; es war höchste Zeit; die beiden Feinde maßen sich mit den Blicken; dem Doctor schwoll das Herz.

Nach einigen versöhnlichen Worten legte sich Altamont indessen, den »Yankee doodle« pfeifend, nieder und sprach, ob er nun schlief oder nicht, dann keine Sylbe mehr.

Hatteras verließ das Zelt und ging draußen mit großen Schritten hin und her; erst eine Stunde später kam er wieder herein und legte sich, ohne ein Wort zu reden, zur Ruhe.