Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras – Band 1

Zwölftes Capitel.


Zwölftes Capitel.

Der Kapitän Hatteras.

Der Forward drang mit Dampfeskraft zwischen den Eisfeldern und Eisbergen rasch vorwärts. Johnson hielt selbst das Steuer. Shandon untersuchte mit seiner Schneebrille den Horizont; aber seine Freude dauerte nicht lange, denn er erkannte bald, daß man am Ende des Fahrpasses sich rings von Bergen umgeben fand.

Doch zog er den Schwierigkeiten einer Umkehr das Mißliche einer Fortsetzung der Fahrt vor.

Der Hund lief auf der Eisfläche hinter der Brigg her, aber in ziemlicher Entfernung. Da hörte man, wenn er zurückblieb, ein eigenthümliches Pfeifen, worauf er sogleich zurückkehrte.

Als sich dies Pfeifen zum erstenmal hören ließ, sahen sich die Matrosen um; sie waren allein auf dem Verdeck und beriethen zusammen; kein Fremder, kein Unbekannter; und doch vernahm man das Pfeifen noch einigemal. Clifton ward zuerst unruhig.

»Hören Sie? sagte er, und sehen Sie, wie das Thier springt, wenn es pfeifen hört.

– Das ist ganz unglaublich, erwiderte Gripper.

– Jetzt sind wir fertig! rief Pen; weiter gehe ich nicht.

– Pen hat Recht, versetzte Brunton; das heißt Gott versuchen.

– Den Teufel versuchen, erwiderte Clifton. Lieber geb‘ ich meinen ganzen Theil an der Prämie hin, als daß ich noch einen Schritt weiter gehe.

– Wir kommen nicht wieder zurück«, sagte Bolton niedergeschlagen.

Die Mannschaft war im höchsten Grade entmuthigt.

»Nicht einen Schritt weiter! rief Wolsten; seid Ihr einverstanden?

– Ja! Ja! erwiderten die Matrosen.

– Nun denn, sagte Bolton, so gehen wir zum Commandanten; ich übernehme es mit ihm zu reden.«

Die Matrosen gingen in dichten Haufen auf’s Hinterdeck zu.

Der Forward kam eben an eine große kreisrunde Stelle von etwa achthundert Fuß Durchmesser; sie war vollständig rings versperrt, mit Ausnahme des einzigen Auswegs, welchen man gekommen war.

Shandon begriff, daß er sich selbst eingesperrt hatte. Aber was nun anfangen? Wie zurückkehren? Er fühlte seine ganze Verantwortlichkeit; es ballte sich ihm die Faust.

Der Doctor schaute mit gekreuzten Armen, ohne ein Wort vorzubringen. Er sah die Eiswände an, deren Höhe durchschnittlich dreihundert Fuß betragen mochte. Dichter Nebel lagerte über diesem Abgrund.

In diesem Augenblick redete Bolton den Commandanten an.

»Commandant, sprach er mit bewegter Stimme, wir können nicht weiter!

– Das sagt Ihr? erwiderte Shandon, dem der Zorn über die Verletzung seiner Autorität in’s Angesicht stieg.

– Wir erklären, Commandant, fuhr Bolton fort, daß wir für den unsichtbaren Kapitän genug geleistet haben, und wir sind entschlossen, nicht weiter vorwärts zu gehen.

– Sie sind entschlossen? … rief Shandon. So sprechen Sie, Bolton! Hüten Sie sich!

– Ihre Drohung macht nichts aus, erwiderte Pen brutal; wir gehen nicht weiter!«

Shandon ging auf die empörten Matrosen zu, als der Rüstmeister leise zu ihm sagte:

»Commandant, wenn wir wieder von hier heraus wollen, haben wir keinen Augenblick zu verlieren. Da schwimmt ein Eisberg zu dem Fahrpaß hin, der kann uns ganz absperren.«

Shandon untersuchte nochmals die Lage.

»Sie werden mir später Ihr Verhalten verantworten, sagte er zu den Aufrührern. Inzwischen, das Schiff gewendet!«

Die Matrosen eilten an ihre Posten. Der Forward wendete rasch, die Oefen wurden stärker geheizt; es galt dem schwimmenden Berg zuvor zu kommen. Es war eine Wettfahrt zwischen der Brigg und dem Eisberg; die erstere eilte südlich, um hinauszukommen, der letztere trieb nordwärts, den Weg zu versperren.

»Heizen, Heizen! rief Shandon, mit vollem Dampf! Brunton, verstehen Sie?«

Der Forward glitt rasch, wie ein Vogel zwischen den zerstreuten Eisblöcken durch, welche sein Vordertheil rasch durchschnitt; die Schraube wirkte, daß der Rumpf des Schiffes zitterte, und das Manometer zeigte eine äußerste Spannung des Dampfes, der zum Betäuben laut pfiff.

»Die Klappen beschwert!« rief Shandon.

Der Maschinist gehorchte, auf die Gefahr hin, das Schiff in die Luft zu sprengen.

Doch waren diese verzweifelten Anstrengungen vergebens; der Eisberg, von einer unterseeischen Strömung getrieben, kam zuvor; die Brigg war noch drei Kabellängen entfernt, als der Eisberg wie ein Keil in den freien Paß eindrang und jeden Ausweg sperrte.

»Jetzt sind wir verloren! rief Shandon, dem das unvorsichtige Wort entschlüpfte.

– Verloren! rief die Mannschaft.

– Rette sich, wer kann! sagten die Einen:

– Die Boote in’s Meer! riefen Andere.

– In die Vorrathskammer! schrien Pen und Andere seines Gelichters; sollen wir ersaufen, so wollen wir’s im Gin!«

Alle Zügel rissen, die Unordnung stieg auf das höchste. Shandon fühlte sich übermeistert; er wollte commandiren, stammelte, stockte; sein Gedanke konnte nicht Worte finden. Der Doctor ging voll Unruhe auf und ab. Johnson kreuzte mit stoischem Schweigen die Arme.

Da ließ sich plötzlich eine starke, energische, gebieterische Stimme vernehmen, mit dem Ruf:

»Jeder an seinen Posten! Rasch gewendet!«

Johnson gehorchte zitternd, ohne sich zu besinnen ließ er eiligst das Rad des Steuers drehen.

Es war hohe Zeit; die Brigg war im Begriff, mit aller Kraft wider die Wände prallend, zu scheitern.

Aber, während Johnson instinctmäßig Folge leistete, eilten Shandon, Clawbonny, die gesammte Mannschaft bis auf den Heizer Waren und den Neger Strong auf’s Verdeck, und alle sahen aus der Cabine, dessen Schlüssel allein im Besitz des Kapitäns war, einen Mann heraustreten …

Dieser Mann war der Matrose Garry.

»Garry! rief Shandon erbleichend – Sie … was haben Sie für Recht hier zu commandiren? …

– Duk!« rief Garry, und wiederholte das Pfeifen, welches der Mannschaft so sehr aufgefallen war.

Als der Hund seinen wahren Namen vernahm, sprang er mit einem Satz auf das Hinterdeck und legte sich ruhig zu den Füßen seines Herrn.

Die Mannschaft ließ keinen Laut vernehmen.

Dieser Schlüssel, welchen allein der Kapitän des Forward in Händen haben konnte, dieser Hund, welchen er geschickt und der eben so zu sagen sein Persönlichkeit beurkundet hatte, dieser Befehlshaberton, den man unmöglich verkennen konnte, – alles dies machte einen mächtigen Eindruck auf die Matrosen, und genügte, Garry’s Autorität festzustellen.

Uebrigens war Garry nicht mehr kenntlich; er hatte den breiten Backenbart, welcher sein Gesicht umrahmte, abgelegt, und um so mehr traten seine leidenschaftslosen Züge voll Thatkraft und Befehlshaberwürde in’s Licht; er trat auf in seiner Standeskleidung mit den Abzeichen des Commandanten.

So wurde denn auch die Mannschaft des Forward wider Willen fortgerissen und rief einstimmig:

»Hurrah! Hurrah! Hurrah für den Kapitän!

– Shandon, sprach dieser zu seinem Stellvertreter, lassen Sie die Mannschaft sich aufstellen, ich will Musterung halten.«

Shandon gehorchte und gab mit bewegter Stimme seine Befehle. Der Kapitän trat vor seine Officiere und Matrosen und sprach zu Jedem, was seinem bisherigen Verhalten gemäß passend war.

Hierauf stieg er auf die Companie und sprach in ruhigem Ton die folgenden Worte:

»Officiere und Matrosen, ich bin Engländer, wie Sie auch, und mein Wahlspruch ist der des Admirals Nelson:

»England erwartet von Jedem, daß er seine Pflicht erfülle.

»Als Engländer will ich nicht, wollen wir nicht, daß kühnere Männer dahin dringen, wohin wir nicht vermocht hätten. Als Engländer will ich nicht, wollen wir nicht geschehen lassen, daß Andere den Ruhm davon tragen, weiter nach dem Norden zu dringen. Wenn jemals eines Mannes Fuß das Polarland betreten darf, so muß das der Fuß eines Engländers sein! Hier ist die Flagge Englands. Ich habe dies Schiff ausgerüstet, ich habe mein Vermögen an das Unternehmen gesetzt, und will mein Leben und das Eurige dafür einsetzen, aber diese Flagge soll am Nordpol wehen. Lassen Sie es an Zuversicht nicht fehlen. Tausend Pfund Sterling sind Euch für jeden Grad zugesagt, welchen wir von heute an weiter nördlich vordringen. Jetzt sind wir unter’m zweiundsiebenzigsten, und es sind neunzig Grad. Nun rechnet. Mein Name wird Ihnen übrigens eine Bürgschaft sein; Energie und Patriotismus sind ihm eigen. Ich bin der Kapitän Hatteras!

– Der Kapitän Hatteras!« rief Shandon.

Dieser Name war unter den englischen Seeleuten wohl bekannt. Die Mannschaft vernahm ihn mit stillem Respect.

»Jetzt, fuhr Hatteras fort, soll man die Brigg an die Eisblöcke festankern, die Feuer ausgehen lassen, und Jeder gehe an sein gewöhntes Tagewerk. Shandon, ich habe mit Ihnen über die Schiffsangelegenheiten zu reden. Kommen Sie nebst dem Doctor, Wall und dem Rüstmeister zu mir in meine Cabine. Johnson, lassen Sie die Leute auseinander gehen.«

Hatteras, kaltblütig und kühl, stieg ruhig vom Hinterdeck herab, während Shandon die Brigg festankern ließ.

Wer war denn dieser Hatteras, und weshalb machte sein Name einen so tiefen Eindruck auf die Mannschaft?

John Hatteras, der einzige Sohn eines Brauers zu London, der im Jahre 1852 im Besitze von sechs Millionen starb, widmete sich noch in jungen Jahren, trotz des glänzenden Vermögens, das er erben sollte, dem Seewesen. Nicht der Handelsberuf führte ihn dazu, sondern sein Herz war vom Trieb nach geographischen Entdeckungen durchdrungen; er sann unablässig darauf, seinen Fuß dahin zu setzen, wohin noch kein Mensch gedrungen war.

Bereits zwanzig Jahre alt besaß er die kräftige Leibesbeschaffenheit magerer und sanguinischer Menschen: energische Gesichtszüge mit geometrisch bestimmten Linien, hohe Stirn senkrecht auf der Ebene schöner, aber kalter Augen, feine Lippen eines wortkargen Mundes, mittlere Statur, fester Gliederbau mit eisernen Muskeln – gaben das Gesammtbild eines Mannes von erprobtem Charakter. Sein Aussehen verrieth Kühnheit, sein Ton kühle Leidenschaft; unbeugsam, nie zurückzuweichen fähig, war er bereit, das Leben Anderer mit gleicher Ueberzeugung, wie das seinige auf das Spiel zu setzen. Es galt daher zweimal zu überlegen, ehe man sich zur Theilnahme an seinen Unternehmungen entschloß.

Den Stolz des Engländers besaß er im höchsten Grade. Als in seiner Gegenwart ein Franzose mit vermeintlicher Höflichkeit und selbst Liebenswürdigkeit sagte:

»Wäre ich nicht Franzose, so möcht‘ ich Engländer sein«, so erwiderte Hatteras:

»Wäre ich nicht Engländer, so möcht‘ ich Engländer sein.«

Ueber Alles ging ihm der Wunsch, den Ruhm geographischer Entdeckungen seinen Landsleuten allein zu wahren; aber zu seinem großen Mißfallen hatten diese im Laufe der früheren Jahrhunderte in Hinsicht auf Entdeckungen wenig geleistet.

Die Entdeckung Amerika’s verdankte man dem Genuesen Christoph Columbus, Indiens dem Portugiesen Vasco de Gama, China’s dem Portugiesen Fernand d’Andrada, der Feuerlande dem Portugiesen Magelhaen, Canada’s dem Franzosen Jacques Cartier; die Sunda-Inseln, Labrador, Brasilien, das Cap der guten Hoffnung, die Azoren, Madeira, New-Foundland, Guinea, Congo, Mexiko, Cap Blanco, Grönland, Island, die Südsee, Californien, Japan, Cambodja, Peru, Kamtschatka, die Philippinen, Spitzbergen, das Cap Horn, die Behrings-Straße, Tasmanien, Neu-Seeland, Neu-Britannien, Neu-Holland, Louisiana, die Insel Jan-Mayen – wurden von Isländern, Skandinaviern, Russen, Portugiesen, Dänen, Spaniern, Genuesen, Holländern aufgefunden; aber kein einziger Engländer befand sich unter ihnen; für Hatteras zum Verzweifeln, daß seine Landsleute nicht dieser glorreichen Schaar von Seefahrern angehörten, welchen man die großen Entdeckungen des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts verdankte.

Die neueren Zeiten konnten Hatteras ein wenig trösten; die Engländer fanden doch eine Entschädigung an ihrem Sturt, Daniel Stuart, Burke, Wills, King, Gray in Australien; an Palliser in Amerika, an Cyrill Graham, Wadington, Cummingham in Indien, an Burton, Speeke, Grant, Livingstone in Afrika.

Aber dies reichte nicht hin; nach Hatteras Ansicht waren die Leistungen dieser kühnen Reisenden vielmehr Vervollständigungen, als Entdeckungen; er strebte nach Besserem.

Er hatte bemerkt, daß, obwohl die Engländer nicht unter den ältern Entdeckern die Mehrzahl bildeten, und daß man bis auf Cook zurückgehen mußte, um Neu-Caledonien (1774) und die Sandwich-Inseln (1778) zu bekommen, es doch eine entlegene Gegend des Erdballs gab, wo sie durch vereinte Bemühungen etwas geleistet hatten, nämlich die Eismeere und Nord-Länder Amerika’s.

Die Entdeckungen der Polarlande übersieht man an dieser Zusammenstellung:

  entdeckt von im Jahr
Nowaja-Simlia Willoughby 1553
Die Insel Waigatz Barrough 1556
Die Westküste Grönlands Davis 1585
Die Davis-Straße Davis 1587
Spitzbergen Willoughby 1596
Die Hudson-Bai Hudson 1610
Die Baffins-Bai Baffin 1616

Während der letzteren Jahre sind Hearne, Mackenzie, John Roß, Parry, Franklin, Richardson, Beechey, James Roß, Back, Dease, Sompson, Rae, Inglefield, Belcher, Austin, Kellet, Moore, Mac Clure, Kennedy, Mac Clintock unablässig mit der Durchforschung dieser unbekannten Gegenden beschäftigt gewesen.

Man hatte die Nordküsten Amerika’s genau abgesteckt, die nordwestliche Durchfahrt fast entdeckt, aber das genügte nicht; mehr und Besseres zu leisten hatte John Hatteras bereits zweimal mit auf eigene Kosten ausgerüsteten Schiffen versucht; er wollte zum Pol selbst vordringen, und so der Reihe der englischen Entdeckungen durch die glänzendste Unternehmung die Krone aufsetzen.

Nach dem Pol zu dringen, war für ihn Lebenszweck.

Nachdem Hatteras sehr schöne Reisen in die Südmeere gemacht, versuchte er zum erstenmal im Jahre 1846 durch das Baffins-Meer weiter nördlich zu gelangen, aber er kam mit der Corvette Halifax nicht über den vierundsiebenzigsten Breitegrad hinaus; seine Mannschaft hatte schrecklich zu leiden, und John Hatteras trieb seine abenteuerliche Verwegenheit soweit, daß seitdem die Seeleute wenig Lust hatten, nochmals solche Unternehmungen unter einem solchen Führer vorzunehmen.

Doch gelang es ihm im Jahre 1850 auf der Goelette Farewell zwanzig entschlossene Männer durch hohe Löhnung zu gewinnen. Bei dieser Gelegenheit hatte der Doctor Clawbonny bei Hatteras, den er nicht kannte, nachgesucht, die Reise mitzumachen; aber die Stelle des Arztes war bereits besetzt, zum Glück für Clawbonny.

Der Farewell schlug den Weg ein, welchen im Jahre 1817 der Neptun aus Aberdeen genommen hatte, und gelangte nördlich von Spitzbergen bis zum sechsundsiebenzigsten Breitegrad. Dort mußte er überwintern; aber die Leiden waren so arg, und die Kälte so grimmig, daß nicht ein einziger von der Mannschaft nach England zurückkam, nur Hatteras ausgenommen, der nach einem Weg von mehr als zweihundert Meilen über die Eisfelder, von einem dänischen Wallfischfahrer heim gebracht wurde.

Die Rückkehr dieses einzigen Mannes machte ungeheures Aufsehen. Wer sollte es von nun an wagen, sich an Hatteras bei seinen tollkühnen Unternehmungen anzuschließen? Doch gab er die Hoffnung dafür nicht auf. Sein Vater, der Brauer, starb und hinterließ ihm ein ungeheures Vermögen.

Inzwischen begab sich ein geographisches Ereigniß, das John Hatteras auf’s Peinlichste traf.

Der Kaufmann Grinnel hatte eine Brigg, l’Advance, mit siebenzehn Mann unter dem Befehl des Dr. Kaue ausgerüstet und zur Aufsuchung des Sir John Franklin abgeschickt, und diese drang im Jahre 1853 durch das Baffins-Meer und den Smith-Sund bis zum zweiundachtzigsten Grad nördlicher Breite, näher zum Pol als irgend einer seiner Vorgänger.

Das Schiff war aber ein amerikanisches, Grinnel und Kane Amerikaner!

Natürlich ging im Herzen des Hatteras die Verachtung des Engländers gegen den Yankee in Haß über; er faßte den Entschluß, um jeden Preis seinen kühnen Nebenbuhler zu übertreffen, bis an den Pol selbst zu dringen.

Er lebte seit zwei Jahren zu Liverpool incognito, indem er für einen Matrosen galt! Er erkannte in Richard Shandon den Mann, welchen er bedurfte, und machte ihm, sowie dem Doctor Clawbonny in anonymen Briefen Anträge. Der Forward wurde erbaut, ausgerüstet, bemannt. Hatteras hütete sich wohl, seinen Namen bekannt zu geben, sonst hätte er keinen einzigen Begleiter gefunden. Daher entschloß er sich, das Commando der Brigg nur unter gebieterischen Umständen und wenn seine Mannschaft so weit sich eingelassen, um nicht mehr zurückzukommen, selbst zu übernehmen. Er hatte, wie gesehen, den Rückhalt, seinen Leuten solche Geldanbietungen zu machen, daß nicht ein einziger sich weigern würde, ihn bis an’s Ende der Welt zu begleiten.

Und das Ziel, wohin er strebte, war ja auch das Ende der Welt.

Nun waren kritische Umstände eingetreten, und Hatteras gab sich unverzüglich zu erkennen.

Sein Hund, der treue Duk, der Gefährte seiner Fahrten, war der Erste, welcher ihn erkannte, und zum Glück für die Muthigen, zum Unglück für die Verzagten, wurde es gehörig festgestellt, daß John Hatteras der Kapitän des Forward war.

Dreizehntes Capitel.


Dreizehntes Capitel.

Des Kapitän Hatteras Pläne.

Die Erscheinung dieses kühnen Mannes machte auf die Mannschaft einen verschiedenen Eindruck; die Einen schlossen sich enge an ihn an, sei’s aus Kühnheit oder Geldliebe; Andere ergaben sich drein, und behielten sich vor, später zu protestiren. Uebrigens schien es im Augenblick doch schwierig,, einem solchen Manne Widerstand zu leisten. Also begab sich Jeder wieder an seinen Posten. Der 20. Mai war Sonntag, für die Mannschaft ein Ruhetag.

Beim Kapitän fand eine Berathung der Officiere statt: Hatteras, Shandon, Wall, Johnson und der Doctor bildeten die Versammlung.

»Meine Herren, sagte der Kapitän in dem zugleich sanften und gebieterischen Ton, welcher ihm eigen war, mein Vorhaben, bis zum Pol zu dringen, ist Ihnen bekannt; ich wünschte Ihre Ansicht über diese Unternehmung zu hören. Was halten Sie davon, Shandon?

– Es kommt mir nicht zu, Kapitän, erwiderte Shandon kalt, darüber zu denken, sondern zu gehorchen.«

Hatteras wunderte sich nicht über die Antwort.

»Richard Shandon, versetzte er ebenso kalt, ich bitte, sich über unsere Aussichten auf Erfolg auszusprechen.

– Nun, Kapitän, erwiderte Shandon, die Thatsachen sprechen an meiner Statt; bis jetzt sind alle Versuche der Art gescheitert; ich wünsche, wir möchten besseren Erfolg haben.

– Wir werden ihn haben. Und Sie, mein Herr, was halten Sie davon?

– Ich meinestheils, sagte der Doctor, halte Ihren Plan für ausführbar, Kapitän; und da es klar am Tage liegt, daß die Seefahrer früher oder später einmal zum Nordpol gelangen werden, so sehe ich nicht ein, warum wir nicht so glücklich sein sollten.

– Und es sind Gründe vorhanden zu glauben, daß eben uns dies Glück zu Theil wird, erwiderte Hatteras, denn wir haben demnach unsere Maßregeln ergriffen und werden die Erfahrungen unserer Vorgänger benutzen. Und in dieser Hinsicht sage ich Ihnen, Shandon, meinen Dank für die Sorgfalt, womit Sie die Ausrüstung betrieben haben; es sind zwar unter der Mannschaft einige schlimme Gesellen, ich werde sie aber zur Vernunft zu bringen wissen; aber im Ganzen hab‘ ich Sie nur dafür zu beloben.«

Shandon machte eine kühle Verbeugung. Er war in eine falsche Stellung gekommen, da er an Bord des Forward das Commando zu führen meinte. Hatteras verstand ihn, und setzte ihm nicht weiter zu.

»Und Sie, meine Herren, sprach er darauf zu Wall und Johnson, ich hätte keine Officiere zur Mitwirkung finden können, die mehr, wie Sie, sich durch Muth und Erfahrung auszeichnen.

– Wahrhaftig! Kapitän, ich bin Ihnen mit Leib und Seele ergeben, erwiderte Johnson, und obwohl mir Ihre Unternehmung etwas kühn vorkommt, können Sie doch bis auf’s Aeußerste auf mich bauen.

– Und auf mich ebenfalls, sagte James Wall.

– Ihren Werth, Herr Doctor, weiß ich zu schätzen.

– So, da wissen Sie mehr, wie ich, erwiderte der Doctor lebhaft.

– Jetzt, meine Herren, fuhr Hatteras fort, sollen Sie erfahren, auf welche unbestreitbare Thatsachen sich meine Behauptung stützt, daß wir am Pol anlangen werden. Im Jahre 1817 kam der Neptun aus Aberdeen im Norden von Spitzbergen bis zum zweiundachtzigsten Grade. Im Jahre 1826 fuhr der berühmte Parry nach seiner dritten Reise in die Polar-Meere, ebenfalls vom Ende Spitzbergens aus mit Schlittenbarken bis hundertundfünfzig Meilen nordwärts. Im Jahre 1852 drang der Kapitän Inglefield, im Smith-Sund bis zu 78° 35′ Breite. Alle diese Schiffe waren englische und von Engländern commandirt.«

Nach einer Pause fuhr er fort.

»Hinzufügen muß ich, daß im Jahre 1854 der Amerikaner Kane, Commandant der Brigg Advance, noch höher hinaufkam, und sein Lieutenant Morton, durch die Eisfelder vordringend, die Flagge der Vereinigten Staaten noch über den zweiundachtzigsten Grad flattern ließ. Auf dies werd‘ ich nicht mehr zurückkommen. Das aber ist wohl zu merken, daß die Kapitäne des Neptun, der Entreprise, der Isabelle, des Advance übereinstimmend berichtet haben, daß von diesen hohen Breitegraden an ein ganz eisfreies Becken des Polar-Meeres existire.

– Eisfrei! rief Shandon unterbrechend. Unmöglich!

– Merken Sie wohl, Shandon, fuhr Hatteras ruhig fort, daß ich Ihnen Thatsachen anführe, gestützt auf Namen. Ich füge weiter bei, daß, während der Commandant Parry im Jahre 1851 am Ufer des Wellington-Canals sich aufhielt, sein Lieutenant Stewart ebenfalls ein freies Meer antraf, und daß dieser besondere Umstand im Jahre 1853, während des Winteraufenthalts Sir Edward Belcher’s, in der Northumberland-Bai unter 76° 52′ Breite und 99° 20′ Länge bestätigt wurde. Das sind unbestreitbare Thatsachen, die man gelten lassen muß, will man nicht unredlich sein.

– Doch, Kapitän, fuhr Shandon fort, sind diese Thatsachen so sehr in Widerspruch …

– Irrthum, Shandon, Irrthum! rief der Doctor Clawbonny; diese Thatsachen widersprechen keinem Satz der Wissenschaft; der Kapitän wird mir gestatten, es Ihnen auseinanderzusetzen.

– Thun Sie das, Doctor! erwiderte Hatteras.

– Nun, so hören Sie, Shandon. Es ergiebt sich sehr klar aus den geographischen Thatsachen und dem Studium der isothermen Linien, daß der kälteste Punkt der Erde nicht am Pol selbst sich befindet; gleich dem magnetischen Punkt liegt er einige Grad vom Pol ab. So zeigen die Berechnungen Brewsters, Bergham’s und einiger Physiker, daß auf unserer Hemisphäre zwei Kältepole existiren: der eine läge in Asien unter 79° 30′ nördlicher Breite und 120° Länge; der andere in Amerika unter 78° nördlicher Breite und 97° westlicher Länge. Dieser letztere geht uns an, und Sie sehen, Shandon, daß er mehr wie zwölf Grad unterhalb des Pols liegt. Nun frage ich Sie, warum sollte nicht am Pol das Meer ebenso eisfrei sein, als es im Sommer, unter 66° Breite sein kann, d. h. südlich der Baffins-Bai?

– Das hieß vortrefflich auseinander gesetzt, erwiderte Johnson; Herr Clawbonny redet von diesen Dingen als Mann vom Fach.

– Das scheint möglich, versetzte James Wall.

– Hirngespinnste und Vermuthungen! Bloß Hypothesen! erwiderte Shandon hartnäckig.

– Nein, Shandon, fuhr Hatteras fort, nehmen wir die beiden Fälle in Betracht: entweder das Meer ist eisfrei, oder nicht, und mögen wir das eine annehmen, oder das andere, so kann uns nichts hindern, zum Pol zu gelangen. Ist es frei, so wird uns der Forward leicht hinbringen; ist er von Eis umgeben, so führen wir es auf unsern Schlitten aus. Sie werden mir zugeben, daß dies nicht unausführbar ist; sind wir einmal mit unserer Brigg bis zum dreiundachtzigsten Grad gedrungen, so haben wir nur noch sechshundert Meilen bis zum Pol zu machen.

– Und was wollen sechshundert Meilen bedeuten, sagte der Doctor lebhaft, wenn es man weiß, daß ein Kosacke, Alexis Markoff, auf dem Eismeer längs der Nordküste Rußlands mit Schlitten von Hunden gezogen eine Strecke von achthundert Meilen binnen vierundzwanzig Tagen zurückgelegt hat.

– Hören Sie das, Shandon, erwiderte Hatteras, und sagen Sie mir, ob die Engländer weniger zu Stande bringen, als ein Kosack?

– Nein, gewiß nicht! rief hitzig der Doctor aus.

– Nein, gewiß nicht! stimmte der Rüstmeister ein.

– Nun, Shandon? fragte der Kapitän.

– Kapitän, erwiderte Shandon kalt, ich kann nur wiederholen, was ich vorhin gesagt habe: ich werde Gehorsam leisten.

– Gut. Jetzt, fuhr Hatteras fort, denken wir an unsere gegenwärtige Lage; wir stecken im Eise fest, und es scheint mir unmöglich, daß wir noch dieses Jahr bis zum Smith-Sund dringen können. Sehen Sie nun, was am besten zu thun ist.«

Hatteras breitete auf dem Tische eine der trefflichen Karten aus, welche im Jahre 1859 auf Befehl der Admiralität herausgegeben wurden.

»Wollen Sie mir gefällig folgen. Wenn uns der Smith-Sund versperrt ist, so ist es an der Westseite des Baffins-Meeres mit dem Lancaster-Sund nicht ebenso; meiner Ansicht nach müssen wir diesen bis zur Barrow-Straße hinauffahren, und von da bis zur Insel Beechey; Segelschiffe haben diesen Weg hundertmal gemacht; mit einer Schraubenbrigg werden wir keine Schwierigkeiten haben. Sind wir einmal bei der Beechey-Insel, so fahren wir den Wellington-Canal so weit als möglich hinauf nordwärts bis zum Ausfluß des Fahrwassers, welches die Verbindung des Wellington-Canals mit dem Canal der Königin bildet, an eben der Stelle, wo man das freie Meer gewahrte. Nun sind wir jetzt erst am 20. Mai; in einem Monat, wenn es gut geht, werden wir diesen Punkt erreicht haben, und von da aus dringen wir weiter nach dem Pol zu. Was halten Sie davon, meine Herren?

– Offenbar, erwiderte Johnson, ist dies der einzige Weg, den wir zu nehmen haben.

– Nun, so wollen wir ihn einschlagen, und gleich morgen. Dieser Sonntag sei der Ruhe gewidmet; Sie werden dafür sorgen, Shandon, daß der Gottesdienst regelmäßig stattfindet; die Religion wirkt wohlthätig auf den Geist, ein Seemann darf das Vertrauen auf Gott nicht verlieren.

– Sie haben Recht, Kapitän, erwiderte Shandon, und ging mit dem Lieutenant und dem Rüstmeister hinaus.

– Doctor, sagte John Hatteras, und wies auf Shandon, das ist ein gedrückter Mann, den der Hochmuth verdorben hat; ich kann nicht mehr auf ihn rechnen.«

Am folgenden Morgen ließ der Kapitän in aller Frühe das Boot in’s Meer bringen, und untersuchte die Eisberge des Beckens, welche nicht über zweihundert Yard dick waren. Er nahm sogar wahr, daß in Folge eines allmäligen Druckes der Eisblöcke das Becken enger zu werden drohte; es wurde daher dringend nöthig, eine Bresche zu schaffen, damit das Schiff nicht zwischen diesen Bergen, wie in einem Schraubstock zertrümmert werde. Aus den von John Hatteras angewendeten Mitteln sah man wohl, daß es ein energischer Mann war.

Er ließ für’s Erste Stufen in die Eiswand hauen, und erstieg auf denselben den Gipfel eines Eisbergs; von da aus erkannte er, daß nach Südwesten leicht ein Ausgang zu bahnen sein würde. Auf seinen Befehl wurde fast in der Mitte des Berges eine Sprenggrube gemacht, eine Arbeit, die rasch vorgenommen, im Verlauf des Montags fertig wurde.

Hatteras konnte von seinen Sprengcylindern zu acht und zehn Pfund Pulver keinen Gebrauch machen, weil bei solchen Massen ihre Wirkung unbedeutend gewesen wäre; sie waren nur zum Zersprengen der Eisfelder tauglich. Er ließ daher tausend Pfund Pulver in die Grube schaffen, und die Richtung der Explosion sorgfältig berechnen. Eine lange, mit Guttapercha umgebene Lunte führte aus dieser Mine nach außen. Der zu der Grube führende Gang wurde mit Schnee und Eisstücken ausgefüllt, welche in der folgenden Nacht so hart wie Granit zusammenfroren. In der That sank die Temperatur unter Einwirkung des Ostwinds auf zwölf Grad (-11° hunderttheilig).

Am folgenden Morgen um sieben Uhr hielt sich der Forward mit geheizter Maschine bereit, den geringsten Ausweg zu benutzen. Johnson erhielt Auftrag, die Mine anzuzünden; die Lunte war so berechnet, daß sie eine halbe Stunde zu brennen, hatte, bevor das Feuer zum Pulver gelangte. Johnson hatte daher hinreichend Zeit, wieder an Bord zu kommen, und er war auch schon zehn Minuten nach Ausführung seines Auftrags wieder an seinem Posten.

Die Mannschaft befand sich auf dem Verdeck; das Wetter war, nachdem es aufgehört hatte zu schneien, trocken und ziemlich hell; Hatteras stand mit Shandon auf der Campanie, und der Doctor zählte die Minuten auf seinem Chronometer.

Um acht Uhr fünfunddreißig Minuten hörte man eine dumpfe Explosion, die weit weniger laut war, als man vorausgesetzt hatte. Die äußere Gestalt der Berge änderte sich, wie bei einem Erdbeben, plötzlich; dicker, weißer Rauch drang in beträchtlicher Höhe in die Lüfte; die Seiten des Eisbergs zerspalteten sich in langen Rissen, und sein oberer Theil wurde weit fortgeschleudert, so daß seine Trümmer um den Forward umher niederfielen.

Aber der Weg war noch nicht frei; ungeheure Eisstücke blieben auf die benachbarten Berge gelagert in der Luft schweben, und ließen befürchten, sie möchten herabfallend die Oeffnung wieder schließen.

Hatteras erkannte mit einem Blick, was noth that.

»Wolsten!« rief er.

Der Waffenschmied erschien.

»Kapitän!

– Laden Sie das Geschütz auf dem Vordertheil dreifach, sagte Hatteras, und stoßen Sie die Ladung möglichst stark.

– Also wollen wir das Gebirge mit Kanonenkugeln angreifen, fragte der Doctor.

– Nein, erwiderte Hatteras, das ist unnöthig. Keine Kugel, Wolsten, sondern dreifache Ladung Pulver. Aber rasch!«

Nach einigen Minuten war die Ladung vollzogen.

»Was will er ohne Kugeln ausrichten? brummte Shandon.

– Das wird sich zeigen, erwiderte der Doctor.

– Wir sind fertig, Kapitän, rief Wolsten.

– Gut, erwiderte Hatteras. Brunton! rief er dem Maschinisten zu, Achtung! Einige Schritte voran.«

Brunton öffnete die Schieber, und die Schraube setzte sich in Bewegung; der Forward fuhr nahe zu dem gesprengten Berg heran.

»Richten Sie wohl auf den Fahrpaß!« rief der Kapitän zum Waffenschmied.

Derselbe gehorchte; als die Brigg nur noch eine halbe Kabellänge entfernt war, rief Hatteras:

»Feuer!«

Es erfolgte ein furchtbarer Knall, und durch die Luftbewegung erschüttert, wurden die Blöcke mit einem Mal in’s Meer gestürzt. Die lebhafte Erregung der Luftschichten war schon hinreichend gewesen.

»Jetzt mit vollem Dampf, Brunton! rief Hatteras. Gerade in den Fahrpaß hinein, Johnson!«

Johnson hielt das Steuer; die Brigg, vom Dampf getrieben drang mitten durch die nun offene Bahn. Es war hohe Zeit. Kaum war der Forward hindurchgefahren, so schloß sich die Oeffnung wieder.

Es war ein ängstlicher Moment, und es befand sich an Bord nur ein einziges ruhiges und festes Herz, – der Kapitän. Darum brach auch die Mannschaft, in freudigem Staunen über das Gelingen, in den einstimmigen Ruf aus:

»Hurrah für John Hatteras!«