Sechstes Capitel

Sechstes Capitel

Der griechische Archipel

Am folgenden Morgen, den 12. Februar, mit Tages-Anbruch, tauchte der Nautilus auf die Oberfläche empor. Ich eilte auf die Plattform. Drei Meilen südlich sah man einen unklaren Schattenriß von Pelusium. Wir waren mit reißend abfallender Strömung durchgefahren; aber aufwärts diesen Tunnel zu fahren, mußte unausführbar sein.

Gegen sieben Uhr kamen Ned und Conseil zu mir. Diese beiden unzertrennlichen Kameraden hatten ruhig geschlafen, ohne sich weiter über die Heldenthaten des Nautilus Gedanken zu machen.

»Nun, Herr Naturforscher, fragte der Canadier mit etwas spöttischem Ton, und das Mittelländische Meer?

– Wir fahren auf demselben, Freund Ned.

– Hm! sagte Conseil, diese Nacht ….?

– Ja, just diese Nacht, in einigen Minuten sind wir durch diesen Isthmus gefahren.

– Das glaub‘ ich nicht, erwiderte der Canadier.

– Und Sie haben Unrecht, Meister Land, versetzte ich. Diese niedrige Küste im Süden ist die ägyptische.

– Das mag man, mein Herr, sonst Jemanden weiß machen, entgegnete der starrköpfige Canadier.

– Aber da mein Herr es versichert, sagte Conseil zu ihm, so muß man ihm glauben.

– Zudem, Ned, hat der Kapitän Nemo mir die Ehre erwiesen, mich zu sich in die Zelle des Steuerers zu nehmen, und ich war zugegen, als er selbst den Nautilus durch die enge Fahrt lenkte.

– Hören Sie, Ned, sagte Conseil.

– Und Sie, Ned, mit ihren guten Augen, fügte ich hinzu, Sie können die Dämme am Port Said von hier aus erkennen.«

Der Canadier schaute achtsam hin.

»Wirklich, sagte er, Sie haben Recht, Herr Professor, und Ihr Kapitän ist ein Mann, wie es keinen mehr giebt. Wir sind im Mittelländischen Meer. Gut. So wollen wir, wenn’s beliebt, von unseren Angelegenheiten plaudern, aber daß Niemand uns hören kann.«

Ich sah wohl, wo der Canadier hinaus wollte. Jedenfalls, dachte ich, sei es besser zu plaudern, weil er’s wünschte, und wir drei setzten uns neben den Fanal, wo wir weniger den feuchten Meeresdünsten ausgesetzt waren.

»Jetzt, Ned, hören wir Ihnen zu, sagte ich. Was haben Sie uns mitzutheilen?

– Was ich Ihnen mitzutheilen habe, ist sehr einfach, erwiderte der Canadier. Wir sind in Europa, und ehe die Launen des Kapitäns Nemo uns bis zum Meeresgrund des Nordens mit fortschleppen oder wieder nach dem Stillen Ocean zurück bringen, verlange ich den Nautilus zu verlassen.«

Ich gestehe offen, daß diese Erörterung mit dem Canadier mich stets in Verlegenheit setzte. Ich wollte in keiner Weise der Befreiung meiner Genossen hinderlich sein, und doch spürte ich kein Verlangen den Kapitän Nemo zu verlassen. Ihm und seinem Apparat verdankte ich es, daß ich täglich meine unterseeischen Studien vervollständigte, und ich arbeitete mein Werk über die Meerestiefen mitten in dem Element selbst um. Würde ich jemals eine solche Gelegenheit wieder finden, die Wunder des Oceans zu beobachten? Gewiß nicht! Ich konnte mich daher nicht dem Gedanken anschließen, den Nautilus vor Vollendung unserer Forschungen zu verlassen.

»Freund Ned, sagte ich, antworten Sie mir frei heraus. Haben Sie Unlust an Bord? Bedauern Sie, daß das Schicksal Sie dem Kapitän Nemo in die Hand gegeben hat?«

Der Canadier schwieg eine Weile. Dann kreuzte er die Arme und sprach:

»Offen gesagt, diese Reise unter’m Meere mißfällt mir nicht. Ich werde befriedigt sein, wenn sie gemacht ist. Dafür aber muß sie ein Ende nehmen. Dies denke ich darüber.

– Sie wird ein Ende nehmen, Ned.

– Wo und wann?

– Wo? weiß ich nicht. Wann? Das kann ich auch nicht sagen, oder vielmehr ich nehme an, daß sie ihr Ende erreichen wird, wann wir in diesen Meeren nichts mehr zu lernen haben werden. In dieser Welt hat alles, was einen Anfang genommen hat, auch sein Ende.

– Ich denke wie mein Herr, erwiderte Conseil, und es ist wohl möglich, daß der Kapitän Nemo, nachdem wir alle Meere des Erdballs durchlaufen haben, uns drei zusammen in Freiheit setzen wird.

– In Freiheit! rief der Canadier. Er wird uns schon etwas anderes vorsetzen.

– Uebertreiben wir nicht, Meister Land, versetzte ich. Wir haben vom Kapitän nichts zu besorgen, aber ich theile auch nicht die Idee Conseil’s. Wir sind im Besitz der Geheimnisse des Nautilus, und ich erwarte nicht, daß sein Commandant, um uns in Freiheit zu setzen, sich darein finden wird, daß sie mit uns sich in aller Welt verbreiten.

– Aber was erwarten Sie dann? fragte der Canadier.

– Daß sich Umstände ergeben werden, welche wir benutzen können und dürfen, und das in sechs Monaten eben so gut, wie jetzt.

– Der Henker! sagte Ned-Land. Und wo werden wir in sechs Monaten sein, wenn’s beliebt, Herr Naturforscher?

– Vielleicht hier, vielleicht in China. Sie wissen, der Nautilus fährt reißend schnell. Er fliegt durch die Oceane, wie eine Schwalbe durch die Lüfte, oder ein Eilzug über die Continente. Er scheut sich nicht vor den befahrenen Meeren. Wer sagt uns, daß er nicht einmal an die Küsten Frankreichs, Englands oder Amerikas kommen wird, wo eine Flucht mit eben so viel Vortheil unternommen werden kann, wie hier?

– Herr Arronax, erwiderte der Canadier, Ihren Gründen fehlt’s am Grund. Sie sprechen in zukünftiger Zeit: »Wir werden dort, wir werden hier sein!« Ich rede in der Gegenwart: »Wir sind hier, und man muß das benutzen.«

Die Logik Ned-Land’s hatte mich in die Enge getrieben. Ich hatte keine Argumente für mich gegen ihn geltend zu machen.

»Mein Herr, fuhr Ned fort, setzen wir, was unmöglich der Fall, der Kapitän Nemo bietet Ihnen schon heute die Freiheit an. Würden Sie’s annehmen?

– Ich weiß nicht, antwortete ich.

– Und wenn er beifügt, daß er das heute gemachte Erbieten später nicht wieder machen wird, werden Sie’s dann annehmen?«

Ich blieb die Antwort schuldig.

»Und was denkt Freund Conseil darüber? fragte Ned-Land.

– Freund Conseil, erwiderte gelassen dieser brave Junge, Freund Conseil hat nichts dabei zu sagen. Wie sein Herr, wie sein Kamerad Ned, ist er ohne Familie. Weder Frau, noch Eltern, noch Kinder erwarten ihn in der Heimat. Er steht im Dienste seines Herrn und denkt wie sein Herr, und spricht wie sein Herr, und zu seinem großen Bedauern darf man nicht auf ihn zählen, um eine Majorität zu bilden. Es sind nur zwei Personen da: Mein Herr auf der einen, Ned-Land auf der anderen Seite. Freund Conseil hört zu, und ist bereit die Stiche zu zählen.«

Ich konnte mich des Lachens nicht erwehren, als ich sah, wie Conseil seine Persönlichkeit so vollständig verleugnete. Im Grunde konnte der Canadier herzlich froh sein, daß er ihn nicht gegen sich hatte.

»Also, mein Herr, sagte Ned-Land, weil Conseil nicht existirt, wollen wir nur unter uns disputiren. Ich habe meine Meinung gesagt, Sie haben mich gehört. Was haben Sie zu erwidern?«

Man mußte offenbar zum Schluß kommen, und Ausflüchte waren mir zuwider.

»Freund Ned, sagte ich, ich will Ihnen meine Antwort sagen. Sie haben Recht gegen mich, und meine Gründe können gegen die Ihrigen nicht Stich halten. Auf den guten Willen des Kapitäns Nemo darf man nicht rechnen. Die gewöhnlichste Klugheit verbietet ihm, uns in Freiheit zu setzen. Dagegen räth die Klugheit, daß wir die erste Gelegenheit benutzen, den Nautilus zu verlassen.

– Richtig, Herr Arronax, das heißt verständig gesprochen.

– Nur, sag‘ ich, eine Bemerkung, eine einzige. Die Gelegenheit muß eine ernstliche sein. Unser erster Fluchtversuch muß glücken; denn wenn er fehl schlägt, werden wir die Gelegenheit zu einem abermaligen Versuch nicht wieder bekommen, und der Kapitän Nemo wird uns nicht verzeihen.

– Alles dies steht richtig, erwiderte der Canadier. Aber Ihre Bemerkung gilt für jeden Fluchtversuch, mag er in zwei Jahren oder in zwei Tagen stattfinden. Folglich kommt die Frage immer darauf hinaus: wenn eine günstige Gelegenheit sich darbietet, muß man sie ergreifen.

– Einverstanden. Und nun, sagen Sie mir, was verstehen Sie unter einer günstigen Gelegenheit?

– Wenn bei einer dunkeln Nacht der Nautilus einer europäischen Küste nahe käme.

– Und Sie würden versuchen, durch Schwimmen zu entkommen?

– Ja, wenn wir einem Ufer nahe genug wären, und wenn der Nautilus auf der Oberfläche führe. Nein, wenn wir zu fern wären, und wenn wir unter’m Wasser führen.

– Und in diesem Falle?

– In diesem Falle würde ich mich bemühen, in Besitz des Bootes zu gelangen. Ich verstehe es zu führen. Wir würden uns in’s Innere schleichen, die Zapfen wegnehmen und uns wieder auf die Oberfläche begeben, ohne daß selbst der vorne befindliche Steuermann unsere Flucht bemerkte.

– Gut, Ned. Spüren Sie diese Gelegenheit aus; aber behalten Sie im Sinn, daß ein Fehlschlagen unser Verderben wäre.

– Das werd‘ ich nicht vergessen, mein Herr.

– Und jetzt, Ned, wollen Sie meine Gedanken über Ihr Project vollständig kennen?

– Gerne, Herr Arronax.

– Nun, ich denke – ich sage nicht hoffe, – ich denke, daß diese günstige Gelegenheit sich nicht ergeben wird.

– Weshalb?

– Weil der Kapitän Nemo sich nicht verhehlen kann, daß wir die Hoffnung, unsere Freiheit wieder zu erlangen, nicht aufgegeben haben, und daß er achtsam sein wird, zumal in den Meeren und an den Küsten Europas.

– Ich theile meines Herrn Ansicht, sagte Conseil.

– Wir werden’s wohl sehen, erwiderte Ned-Land, der mit entschiedener Miene den Kopf schüttelte.

– Und jetzt, Ned-Land, fügte ich hinzu, bleiben wir dabei. Kein Wort weiter über das alles. Wenn Sie dazu gerüstet und bereit sind, melden Sie’s uns, und wir werden uns Ihnen anschließen. Ich verlasse mich gänzlich auf Sie.«

Diese Unterredung, welche später so schwere Folgen haben sollte, schloß also. Ich darf jetzt sagen, daß die Thatsachen mein Voraussehen zu bestätigen schienen, zur großen Verzweiflung des Canadiers. Mißtraute uns der Kapitän Nemo in diesen vielbesuchten Meeren, oder wollte er sich nur dem Angesicht der vielen Schiffe aller Nationen, welche das Mittelländische Meer befahren, entziehen? Ich weiß es nicht, aber er hielt sich meistens in mäßiger Tiefe unter Wasser und weit ab von den Küsten. Der Nautilus fuhr entweder so unter Wasser, daß nur des Steuermanns Gehäuse hervorragte, oder er verschwand in große Tiefen, denn zwischen dem griechischen Archipel und Kleinasien fanden wir bei zweitausend Meter noch keinen Grund.

Am 14. Februar beschloß ich, einige Stunden darauf zu verwenden, die Fische des Archipelagus zu studiren; aber aus irgend welchem Grunde blieben die Läden geschlossen. Wir fuhren in der Richtung nach der Insel Kandia. Am Abend befand ich mich mit dem Kapitän allein im Salon. Derselbe schien voll Gedanken schweigsam. Dann ließ er die beiden Läden öffnen, ging von einem zum andern und beobachtete sorgfältig die Gewässer. Diese Insel war, als ich auf dem Abraham Lincoln mich einschiffte, in vollem Aufstände gegen den türkischen Despotismus; ich hatte aber nie mit dem Kapitän Nemo davon gesprochen, da er ja außer Verbindung mit der Oberwelt war. Ich machte mich an die Betrachtung der Fische, und es fielen mir gleich einige schon im Alterthum bekannte Arten auf. Unter anderen sah ich den schon von Aristoteles angeführten Trichterfisch, den man gewöhnlich Meergrundel nennt; sodann Sackstoffen, die etwas phosphoresciren, eine Art Meerbrassen, die zu den heiligen Thieren der Aegypter gehörten, indem sie durch ihr Erscheinen im Fluß die befruchtende Überschwemmung desselben ankündigten. Sodann zog meine Aufmerksamkeit sich auf den sogenannten Hemmfisch, ein kleiner Fisch, von dem die Alten sagten, er könne, wenn er sich an den Kiel eines Schiffes anhängt, dessen Lauf hemmen.

Ich war ganz in die Anschauung dieser Herrlichkeit vertieft, als plötzlich eine unerwartete Erscheinung mein Erstaunen erregte. Mitten in den Gewässern zeigte sich ein Mann, ein Taucher mit einem ledernen Gurt um die Hüfte. Es war nicht ein Leichnam, der mit den Wogen trieb, sondern ein lebendiger Mensch, der mit kräftigem Arm ruderte, zuweilen verschwand, um an der Oberfläche Luft zu schöpfen, dann sogleich wieder untertauchte.

Ich wendete mich zum Kapitän und rief mit bewegtem Gemüth: »Ein Mann! ein Schiffbrüchiger! den müssen wir retten!«

Der Kapitän gab keine Antwort und lehnte sich an das Fenster. Der Mann war nahe gekommen und betrachtete uns durch die Fenster.

Zu meinem großen Erstaunen winkte ihm der Kapitän. Der Taucher erwiderte mit der Hand, begab sich unverzüglich wieder zur Oberfläche, und kam nicht wieder zum Vorschein.

»Beunruhigen Sie sich nicht, sagte zu mir der Kapitän. Es ist der auf allen Cykladen wohl bekannte, kühne Taucher Nicolas, vom Cap Matapan. Das Wasser ist sein Element, und er lebt in demselben mehr, wie auf dem Lande, indem er bis nach Kreta hin alle Inseln besucht.

– Ist er Ihnen bekannt, Kapitän?

– Warum nicht, Herr Arronax?«

Darauf wendete sich der Kapitän Nemo zu einem Schrank neben dem linken Fenster des Salons. Neben demselben sah ich einen mit Eisen beschlagenen Koffer, auf dessen Deckel eine kupferne Platte mit der Chiffre des Nautilus und seiner Devise Mobilis in mobile befand.

In dem Augenblick öffnete der Kapitän, ohne meine Anwesenheit zu beachten, den Koffer, der eine Menge Goldstangen enthielt. Woher kam das kostbare Metall von so ungeheurem Werth? Wo sammelte es der Kapitän, und was sollte damit geschehen?

Ich sprach kein Wort, sah zu. Der Kapitän Nemo nahm eine der Goldstangen nach der anderen heraus, legte sie regelmäßig in den Koffer hinein, den er ganz damit füllte. Ich schätzte den Inhalt auf mehr als tausend Kilogramm Gold, d. h. fast fünf Millionen Francs.

Der Koffer wurde wieder fest verschlossen, und der Kapitän schrieb auf seinen Deckel eine Adresse in einer Schrift, welche die neugriechische sein mußte.

Hierauf drückte der Kapitän Nemo auf einen Knopf, dessen Draht mit dem Posten der Mannschaft in Verbindung stand. Es erschienen vier Mann, und schoben nur mit Mühe den Koffer aus dem Salon hinaus. Nachher vernahm ich, daß sie ihn mit Hilfe von Stricken die eiserne Leiter hinauf zogen.

In dem Moment wandte sich der Kapitän Nemo zu mir:

»Und Sie sagten, Herr Professor? fragte er mich.

– Ich habe nichts gesagt, Kapitän.

– Dann erlauben Sie mir, mein Herr, Ihnen gute Nacht zu wünschen.«

Mit diesen Worten verließ der Kapitän den Salon.

Ich begab mich voll Unruhe, begreift man, auf mein Zimmer, versuchte vergebens zu schlafen. Ich suchte eine Beziehung zwischen der Erscheinung des Tauchers und dem mit Gold gefüllten Koffer. Bald merkte ich an einigen schwankenden Bewegungen, daß der Nautilus aus den niederen Schichten sich auf die Oberfläche der Gewässer hob.

Nachher vernahm ich Fußtritte auf der Plattform. Ich merkte, daß man das Boot los machte und es in’s Meer hinabließ. Es stieß einen Augenblick an die Seite des Nautilus an, dann hörte man kein Geräusch mehr.

Zwei Stunden nachher vernahm man dasselbe Geräusch, das nämliche Hin- und Hergehen. Das Boot wurde heraufgezogen, in seinem Gehäuse geborgen, und der Nautilus tauchte wieder unter.

So waren also die Millionen zu ihrem Adressaten geschafft worden. An welchen Ort des Continents? Mit wem stand der Kapitän in solcher Verbindung?

Am folgenden Morgen erzählte ich Conseil und dem Canadier die Ereignisse dieser Nacht, welche meine Neugierde im höchsten Grade erregt hatten. Meine Gefährten waren nicht minder, wie ich, darüber erstaunt.

»Aber woher bekommt er diese Millionen?« fragte Ned-Land.

Darauf war eine Antwort nicht möglich. Ich begab mich nach dem Frühstück an die Arbeit, und war bis fünf Uhr mit meinem Tagebuch beschäftigt. Dann empfand ich eine so außerordentliche Hitze, daß ich mein Byssuskleid ablegen mußte. Unbegreiflich, denn wir befanden uns nicht unter Breitegraden von hoher Temperatur, und zudem durfte der Nautilus in der Tiefe eine Erhöhung derselben nicht verspüren. Ich sah auf das Meer-Manometer. Es zeigte eine Tiefe von sechzig Fuß, wohin die atmosphärische Luft nicht hätte dringen können.

Ich fuhr fort zu arbeiten, aber die Temperatur stieg dermaßen, daß es nicht zum Aushalten war.

»Sollte ein Brand an Bord sein?« fragte ich mich.

Ich war im Begriff, den Salon zu verlassen, als der Kapitän Nemo eintrat. Er trat zum Thermometer, sah nach und sprach zu mir:

»Zweiundvierzig Grad.

– Ich spür‘ es wohl, Kapitän, erwiderte ich, und sollte diese Hitze noch steigen, so können wir’s nicht aushalten.

– O, Herr Professor, diese Hitze wird nur dann steigen, wenn wir wollen.

– Sie können sie also nach Belieben ändern?

– Nein, aber ich kann mich von der Quelle derselben entfernen.

– Also kommt sie von außen?

– Ja wohl. Wir fahren in siedendem Wasser.

– Ist’s möglich? rief ich aus.

– Schauen Sie her.«

Die Laden öffneten sich, und ich sah das Meer um den Nautilus herum ganz weiß. Dicke Schwefeldünste entwirbelten inmitten der Wogen, welche sprudelten wie siedendes Wasser im Kessel. Ich hielt meine Hand an eins der Fenster, aber es war so heiß, daß ich sie zurück ziehen mußte.

»Wo befinden mir uns? fragte ich.

– Nächst der Insel Santorin, Herr Professor, erwiderte der Kapitän, und gerade in dem Kanal, welcher Nea-Kamenni von Palea-Kamenni scheidet. Ich wollte Ihnen den merkwürdigen Anblick eines unterseeischen Vulkanausbruchs gewähren.

– Ich meinte, sagte ich, die Bildung dieser neuen Inseln sei fertig.

– In vulkanischen Gegenden ist nie etwas fertig, erwiderte der Kapitän Nemo, und die Arbeit der unterirdischen Feuer dauerte da stets fort. Bereits im Jahre neunzehn unserer Zeitrechnung zeigte sich, nach Cassiodorus und Plinius, eine neue Insel, die göttliche Theia, an derselben Stelle, wo sich neuerdings diese Eilande bildeten. Nachher versank sie wieder, um im Jahre neunundsechzig wieder zu erscheinen, um dann abermals zu versinken. Seit jener Zeit bis auf unsere Tage war die plutonische Arbeit unterbrochen. Aber am 3. Februar 1866 tauchte ein neues Eiland, dem man den Namen Georgsinsel gab, aus den Schwefeldünsten auf nächst Nea-Kamenni, und vereinigte sich mit dieser am 6. desselben Monats. Sieben Tage nachher, am 13. Februar, erschien das Inselchen Aphroessa so nahe bei Nea-Kamenni, daß nur ein Kanal von zehn Meter dazwischen blieb. Ich befand mich, während diese Naturerscheinung sich begab, in diesen Meeren, und ich konnte alle ihre Phasen beobachten. Das Eiland Aphroessa war von runder Gestalt und hatte dreihundert Fuß Durchmesser bei dreißig Fuß Höhe. Es bestand aus schwarzer glasartiger Lava, verbunden mit Feldspathstücken. Endlich, am 10. März, zeigte sich noch ein kleineres Inselchen, Reka genannt, nahe bei Nea-Kamenni, und seit dem bilden diese drei zusammengelötheten Eilande nur eine einzige Insel.

– Und der Kanal, worin wir uns in dem Augenblick befinden? fragte ich.

– Hier ist er, erwiderte der Kapitän Nemo, und wies auf eine Karte des Archipel. Sie sehen, daß ich die neuen Inselchen darauf eingetragen habe.

– Aber dieser Kanal wird sich einmal ausfüllen?

– Wahrscheinlich, Herr Arronax, denn seit 1866 sind acht kleine Lava-Eilande dicht vor dem Hafen St. Nicolas zu Palea-Kamenni aufgetaucht. Es ist also klar, daß Nea und Palea in kurzer Zeit sich vereinigen werden. Wie im Stillen Ocean die Continente durch Infusorien gebildet werden, so geschieht es hier durch vulkanische Ausbrüche. Sehen Sie, mein Herr, so vollzieht sich die Arbeit unter diesen Wogen.«

Ich trat wieder an’s Fenster. Der Nautilus fuhr nicht weiter. Die Hitze ward unerträglich. Die weiße Farbe des Meeres wurde roth durch Hinzukommen eines Eisensalzes. Trotzdem, daß der Salon hermetisch verschlossen war, entwickelte sich ein unerträglicher Schwefelgeruch, und ich bemerkte scharlachrothe Flammen, die so lebhaft waren, daß der Glanz des elektrischen Lichtes sich darin verlor.

Ich war über und über in Schweiß, war am Ersticken. Wahrhaftig, ich fühlte, wie ich im Begriff war zu braten!

»Man kann es in diesem siedenden Wasser nicht länger aushalten, sagte ich zum Kapitän.

– Nein, das wäre nicht klug,« erwiderte Nemo phlegmatisch.

Es wurde Befehl ertheilt, und der Nautilus drehte sich, um sich aus diesem Glühofen, welchem er nicht ungestraft trotzen konnte, zu entfernen. Nach einer Viertelstunde athmeten wir an der Oberstäche wieder auf.

Am folgenden Tage, den 16. Februar, verließen wir dieses Becken, welches zwischen Rhodos und Alexandria Tiefen von dreitausend Meter zeigte; und der Nautilus verließ, indem er auf hoher See vor Cerigo vorbeifuhr, den griechischen Archipel, nachdem er um Cap Matapan herum lavirt.

Siebentes Capitel

Siebentes Capitel

Das Mittelländische Meer in vierundzwanzig Stunden

Das Mittelländische, das vorzugsweise blaue Meer, von den Hebräern »das große Meer«, von den Griechen »das Meer«, von den Römern »unser Meer« genannt, ist an seinen Gestaden mit Orangen, Aloe, Cactus, Pinien besetzt, von Myrthendüften durchdrungen, von rauhem Gebirgsland eingefaßt, von reiner, durchsichtiger Luft gesättigt; aber die unablässig thätigen unterirdischen Feuer machen es zu einem wahren Schlachtfeld, wo Neptun und Pluto sich noch um die Weltherrschaft streiten. An seinen Ufern, auf seinen Gewässern findet der Mensch im trefflichsten Klima der Welt seine stärkende Erholung.

Aber trotz dieser herrlichen Eigenschaft habe ich doch von diesem Becken, das eine Oberfläche von zwei Millionen Quadratkilometer enthält, nur einen raschen Ueberblick nehmen können; und selbst die persönlichen Kenntnisse des Kapitäns Nemo gingen mir ab, denn der räthselhafte Mann ließ sich während der Eilfahrt nicht ein einziges Mal sehen. Ich schätze den Weg, welchen der Nautilus unter den Wogen dieses Meeres durchlief, auf etwa sechshundert Lieues, und diese Fahrt machte er in zweimal vierundzwanzig Stunden. Wir fuhren am Morgen des 16. Februar aus den Gewässern Griechenlands ab, und am 18. bei Sonnenaufgang hatten wir die Straße von Gibraltar passirt.

Offenbar war das Mittelländische Meer, eingeengt zwischen Ländern, welche der Kapitän Nemo vermeiden wollte, demselben kein angenehmer Aufenthalt. Er hatte darin nicht jene Freiheit der Bewegungen, jene Unabhängigkeit seiner Unternehmungen, welche die Oceane ihm gewährten, und es ward seinem Nautilus zu enge zwischen den allzu nahen Gestaden Europa’s und Afrika’s. Daher fuhren wir denn auch mit einer Schnelligkeit von fünfundzwanzig Meilen die Stunde. Es versteht sich von selbst, daß dabei Ned-Land auf sein Entweichungsproject verzichten mußte. Unter solchen Umständen den Nautilus verlassen, wäre so mißlich gewesen, als bei einem Eilzug aus dem Waggon zu springen. Zudem kam unser Fahrzeug nur Nachts an die Oberfläche, um seine Luft zu erneuern, und es nahm seine Richtung nur nach den Angaben des Compasses und des Logs.

Ich sah also vom Inneren des Mittelländischen Meeres nur, was der Passagier eines Eilzugs von der Landschaft, die vor seinen Blicken entflieht, d. h. den entfernten Horizont, und nicht die Gegenstände im Vordergrunde, welche blitzschnell enteilen. Doch konnten wir manche der mittelländischen Fische beobachten, welche kräftig genug waren, sich einige Augenblicke in der Umgebung des Nautilus zu halten. Wir standen daher vor den Fenstern auf der Lauer, und notirten, was uns möglich war.

In den vom elektrischen Licht hell erleuchteten Strichen sah man Lampreten, die in fast allen Klimaten zu Hause sind, von der Länge eines Meter; fünf Fuß breite Rochen mit weißem Bauch und aschgrauem gesteckten Rücken; zwölf Fuß lange Haifische überboten sich einander in Schnelligkeit; acht Fuß lange Seefüchse mit äußerst feiner Spürkraft; Goldbrassen, mitunter bis dreizehn Decimeter lang, wie in Silber und lasurblauer Kleidung und mit goldenen Wimpern, eine kostbare Fischgattung, die in allen Gewässern, Flüssen, Seeen und Meeren zu Hause, in jedem Klima fortkommt, alle Temperaturen verträgt. Prachtvolle Störe, neun bis zehn Meter lang, mit bläulichem, braun getüpfeltem Rücken, schlugen mit kräftigem Schwanz wider die Fenster. Sie sind den Haifischen ähnlich, doch nicht so stark, und finden sich in allen Meeren; im Frühling kommen sie gern in die großen Flüsse stromaufwärts, die Wolga, Donau, den Po, Rhein, die Loire, die Oder hinauf, fressen Häringe, Makrelen, Salme u. a.; sie gehören zwar zu den Knorpelfischen, sind aber schmackhaft, und werden frisch, getrocknet, marinirt oder gesalzen gegessen. Am besten konnte man, wann der Nautilus in die Nähe der Oberfläche kam, die Thunfische beobachten, mit blauschwarzem Rücken, silbergepanzertem Leib und goldschimmernden Rückenflossen. Man sagt von ihnen, sie begleiten gern die Schiffe auf ihrer Fahrt, und suchten in ihrem kühlen Schatten Schutz gegen die tropischen Sonnenstrahlen; und so begleiteten sie auch Stunden lang den Nautilus, an Schnelligkeit mit ihm wetteifernd. Ich konnte mich nicht satt sehen an diesen Thieren, die wie für die Schnellfahrt gebaut sind, mit kleinem Kopf, schlankem, glattem Leib, der mitunter über drei Meter maß, ausnehmend kräftigen Brustflossen und gabelförmigem Schwanz. Sie schwammen im Triangel, wie manche Zugvögel stiegen, denen sie an Schnelligkeit gleich kommen. Doch den Provenzalen entrinnen sie nicht, welche sie ebenfalls schmackhaft finden, und sie zu Tausenden in großen Netzen fangen, indem sie blindlings, wie betäubt in diese hinein gerathen.

Zahllos war die Menge der übrigen Fische, die wir nur flüchtig wahrnahmen, oder bei der großen Schnelligkeit nicht beobachten konnten.

Von Seesäugethieren bemerkte ich im Vorüberfahren an der Mündung des Adriatischen Meeres zwei bis drei Pottfische; einige Delphine von der Gattung der kugelköpfigen, welche besonders im Mittelländischen Meere vorkommen, mit hellgestreiftem Vorderkopf; und auch ein Dutzend Robben mit weißem Bauch und schwarzem Hauthaar, denen man den Beinamen Mönche gab, und die auch ganz wie Dominicaner aussehen.

Am Abend des 16. fuhren wir zwischen Sicilien und der Küste von Tunis. An dieser engen Stelle zwischen Cap Bon und der Straße von Messina erhebt sich der Meeresgrund fast plötzlich, so daß er einen Kamm bildet, über welchem das Wasser nur siebenzehn Meter Tiefe hat, während er auf beiden Seiten wieder bis zu hundertundsiebenzig Meter abfällt. Der Nautilus mußte also mit Vorsicht fahren, um nicht gegen diese unterseeische Wand anzustoßen.

Ich zeigte Conseil auf der Karte des Mittelländischen Meeres die Stelle, wo dieses Riff sich befand.

»Erlauben Sie, mein Herr, bemerkte Conseil, das ist ja ein wahrhafter Isthmus zwischen Europa und Afrika.

– Ja, lieber Junge, erwiderte ich, er versperrt völlig die Lybische Enge, und Smith’s Sondirungen haben bewiesen, daß zwischen Cap Bon und Cap Furina die Continente ehemals zusammen hingen.

– Ich glaub’s wohl, sagte Conseil.

– Dazu will ich bemerken, fuhr ich fort, daß eine ähnliche Sperre zwischen Gibraltar und Ceuta besteht, welche in der Urzeit das Mittelländische Meer völlig schloß.

– Ah! sagte Conseil, wenn einmal durch eine vulkanische Einwirkung diese beiden Schranken wieder über die Meeresfläche empor gehoben würden!

– Das ist nicht wahrscheinlich, Conseil.

– Mein Herr möge mir noch die Bemerkung erlauben, wenn dieses vorginge, so wäre das dem Herrn von Lesseps, der sich mit dem Durchstich des Isthmus so viel Mühe giebt, recht unangenehm!

– Gewiß, aber, wiederholte ich, dies Ereigniß wird nicht eintreten. Die Wirkung der vulkanischen Kräfte unter der Erde nimmt stets ab. Die in der Urzeit der Welt zahlreichen Vulkane erlöschen nach und nach, die im Inneren wirkende Wärme wird schwächer, die Temperatur der unteren Schichten des Erdballs wird von Jahrhundert zu Jahrhundert bedeutend niedriger, und zum Nachtheil der Erde, denn diese Wärme ist ihr Leben.

– Doch, die Sonne …

– Die Sonnenwärme ist nicht ausreichend, Conseil. Kann sie einem Leichnam sein Leben wieder geben?

– Nein, so viel ich weiß.

– Nun, die Erde wird dereinst so ein kalter Leichnam sein. Sie wird unbewohnbar und unbewohnt sein, wie der Mond, welcher längst seine Lebenswärme verloren hat.

– In wieviel Jahrhunderten? fragte Conseil.

– In einigen hunderttausend Jahren, mein Lieber.

– Dann haben wir noch Zeit, erwiderte Conseil, unsere Reise zu vollenden, sofern Ned-Land sich nicht darein mischt!«

Und Conseil machte sich ruhig wieder an das Studium der oberen Wasserschichten, durch welche eben der Nautilus mit mäßiger Schnelligkeit fuhr, und wo auf felsigem und vulkanischem Grund eine ganze Flora lebender Gewächse, Schwämme, Holoturien u. s. w. sich ausbreitete. Nicht minder eifrig befaßte er sich mit der Beobachtung der Mollusken und Gliederthiere, und stellte ein langes Verzeichniß auf, womit ich aber doch den Leser verschonen will. Er war mit denselben noch nicht fertig, als der Nautilus, nachdem er über die Lybische Enge hinaus gekommen, wieder tiefer auf den unteren Meeresgrund, wo es keine Mollusken und Zoophyten mehr giebt, sich begab, und seine gewöhnliche Schnelligkeit annahm.

Während der Nacht des 16. zum 17. Februar waren wir in das zweite Becken des Mittelländischen Meeres eingefahren, worin die größten Tiefen dreitausend Meter betragen; und der Nautilus tauchte bis in die untersten Schichten hinab.

Hier boten, in Ermangelung von Naturmerkwürdigkeiten, die Gewässer den Anblick rührender und furchtbarer Scenen; denn auf diesem Theil des Mittelländischen Meeres sind am häufigsten Unglücksfälle eingetreten, durch Schiffbruch oder Versinken von Schiffen. In Vergleichung mit dem Stillen Ocean ist das Mittelländische Meer nur ein See, aber ein launischer See mit tückisch wechselnden Wogen, heute günstig und schmeichelnd für eine zerbrechliche Tartane, morgen wüthend aufgeregt, von Stürmen gepeitscht, die stärksten Schiffe zertrümmernd. Was hatte ich also bei der raschen Fahrt für eine Masse Trümmer vor Augen, mit Korallen oder Rost überzogen, Kanonen, Anker, Kugeln, Eisengeräthe, Stücke von Maschinen, zerbrochene Cylinder, versenkte Kessel, Schiffsrümpfe in den verschiedensten Lagen.

Solche Trümmer waren zahlreicher, je näher man der Enge von Gibraltar kam, der Raum zwischen der afrikanischen und europäischen Küste sich verengte. Der Nautilus fuhr mit reißender Schnelligkeit gleichgiltig über sie alle hinweg, und langte am 18. Februar um drei Uhr früh beim Eingang der Straße an.

Hier giebt’s zwei Strömungen: die obere, welche längst bekannt ist, führt die Gewässer aus dem Ocean in das Becken des Mittelländischen, sodann eine tiefer in entgegengesetzter Richtung, deren Existenz nun durch Folgerungen bewiesen ist. In der That sollte die Gesammtmasse der Mittelländischen Gewässer, welche durch die Atlantischen und durch die einmündenden Flüsse unaufhörlich anwächst, alljährlich das Niveau derselben erhöhen, denn die Ausdünstung ist nicht in gleichem Grade wirksam, um ein Gleichgewicht herzustellen. Nun ist aber dem nicht so, und hieraus hat man geschlossen, daß in tieferen Schichten eine Gegenströmung den Ueberschuß der Mittelländischen Gewässer durch die Enge von Gibraltar wieder in das Atlantische Becken führe.

Und genau so ist’s wirklich. Der Nautilus fuhr mit dieser Strömung sehr rasch durch die Enge. Einen Augenblick Zeit hatte ich, um die Ruinen des Herkulestempels zu bewundern, welcher nach Plinius und Avienus sammt der niedrigen Insel, worauf er stand, einst versunken ist. Einige Minuten darauf schwammen wir auf den Wogen des Atlantischen Meeres.

Achtes Capitel

Achtes Capitel

Die Bai von Vigo

Das Atlantische Meer! Die ungeheure Wasserfläche umfaßt fünfundzwanzig Millionen Quadratmeilen, bei einer Länge von neuntausend Meilen gegen eine mittlere Breite von zweitausendsiebenhundert Meilen. Das nun so bedeutende Meer war im Alterthum fast nicht gekannt, außer vielleicht den Karthagern, die bei ihren Handelsfahrten längs den Westküsten Europa’s und Afrika’s segelten. Seine Gestade mit parallelen Krümmungen bilden eine ungeheure Umfangslinie, und es münden in dasselbe die größten Ströme der Welt, St. Lorenz, Mississippi, Amazonenstrom, La-Plata, Orinocco, Niger, Senegal, Elbe, Loire, Rhein, und führen ihm die Gewässer aus den civilisirtesten Ländern und den wildesten Gegenden zu. Die prachtvolle Fläche ist beständig von den Schiffen aller Nationen unter’m Schutz aller Flaggen der Welt befahren.

Der Nautilus hatte bis zur Stunde nahezu zehntausend Lieues in drei und ein halb Monaten zurückgelegt, was mehr beträgt, als der Umfang des ganzen Erdkreises. Wohin fuhren wir jetzt, und was sollte uns bevorstehen?

Sobald wir aus der Straße von Gibraltar heraus waren, fuhr der Nautilus in die hohe See und tauchte zur Oberfläche empor, so daß wir wieder unseren täglichen Spaziergang auf der Plattform machen konnten.

Ich stieg sogleich in Gesellschaft von Ned-Land und Conseil hinauf. Zwölf Meilen entfernt sah man in unbestimmten Umrissen das Cap St. Vincent, die südwestliche Spitze der spanischen Halbinsel. Es wehte ein ziemlich starker Südwind. Das Meer war unruhig, die Fluthen gingen hoch, brachte durch arge Stöße den Nautilus in Schwankung, so daß man sich auf der Plateform fast nicht aufrecht halten konnte. Wir begaben uns also, nachdem mir uns ein wenig an der frischen Luft erquickt hatten, wieder hinab.

Ich ging in mein Zimmer, Conseil in seine Cabine, aber der Canadier folgte mir nach mit etwas befangener Miene. Unsere rasche Fahrt durch’s Mittelländische Meer hatte ihm nicht gestattet, sein Vorhaben in Ausführung zu bringen, und er konnte sein Mißbehagen kaum verheimlichen.

Als die Thüre meines Zimmers geschlossen war, setzte er sich nieder, und sah mich schweigend an.

»Freund Ned, sagte ich zu ihm, ich verstehe Sie, aber Sie haben sich keinen Vorwurf zu machen. Unter den Umständen der Fahrt des Nautilus wäre der Gedanke an ein Entfliehen Narrheit gewesen!«

Ned-Land schwieg. Aus seinen zusammengepreßten Lippen, der gerunzelten Stirn konnte man abnehmen, daß er stark von einer fixen Idee befangen war.

»Sehen wir, fuhr ich fort, es ist noch nichts verloren. Wir fahren längs der portugiesischen Küste, sind nicht weit von Frankreich und England, wo wir leicht eine Zufluchtsstätte finden würden. Ja, wenn der Nautilus, als wir aus der Straße von Gibraltar herauskamen, sogleich südwärts gesteuert wäre; hätte er uns in Gegenden geschleppt, wo die Continente mangeln, so würde ich Ihre Unruhe theilen. Aber wir wissen jetzt, der Kapitän Nemo meidet nicht die civilisirten Länder, und ich glaube, daß Sie in einigen Tagen mit einiger Sicherheit werden handeln können.«

Ned-Land sah mich noch starrer an, öffnete endlich die Lippen und sprach: »Diesen Abend soll’s sein.«

Ich nahm mich schnell zusammen. Ich war, gestehe ich, auf diese Mittheilung nicht gefaßt. Gerne hätte ich dem Canadier geantwortet, aber es versagten mir die Worte.

»Wir waren darüber einig, eine Gelegenheit abzuwarten, fuhr Ned-Land fort. Eine solche ist nun da. Wir werden diesen Abend nur einige Meilen von der spanischen Küste entfernt sein. Die Nacht ist dunkel; der Wind weht günstig. Ich habe Ihr Wort, Herr Arronax, und ich rechne auf Sie.«

Da ich fortwährend schwieg, stand der Canadier auf, trat zu mir heran und sprach:

»Diesen Abend um neun Uhr. Ich hab’s Conseil schon gesagt. Dann wird der Kapitän Nemo in seiner Kammer sein, und wahrscheinlich schon zu Bette. Weder die Maschinisten, noch jemand von der Mannschaft kann uns sehen. Conseil und ich werden uns auf die Centralleiter begeben; Sie, Herr Arronax, werden in der Bibliothek sich aufhalten und auf mein Signal warten. Ruder, Mast und Segel befinden sich schon im Boot. Ich habe sogar einige Lebensmittel hingeschafft. Ich habe mir einen Schraubenschlüssel verschafft, um das Boot vom Nautilus los zu machen. So ist alles vorbereitet. Also diesen Abend.

– Das Meer ist nicht günstig, sagte ich.

– Ich geb’s zu, erwiderte der Canadier, aber man muß es riskiren. Die Freiheit will bezahlt sein. Uebrigens ist das Boot solid, und einige Meilen mit treibendem Wind haben nicht viel auf sich. Wer weiß, ob wir nicht binnen heut‘ und morgen hundert Meilen weit in die hohe See kommen. Wenn uns die Umstände günstig sind, werden wir zwischen zehn und elf Uhr an einem Punkt des festen Landes ausgeschifft, oder nicht mehr unter den Lebenden sein. Darum, Gott befohlen, und diesen Abend!«

Nach dieser Aeußerung zog sich der Canadier zurück und ließ mich in ziemlicher Bestürzung. Ich hatte gedacht, wann der Fall einträte, würde ich Zeit zu überlegen, zum Besprechen haben. Mein starrköpfiger Genosse gestattete mir dies nicht. Was hätte ich ihm auch trotzdem sagen können? Ned-Land hatte hundertmal Recht. Es war beinahe ein günstiger Umstand, den er benutzen wollte. Konnte ich die Verantwortlichkeit übernehmen, aus persönlichem Interesse die Zukunft meiner Gefährten zu beeinträchtigen? Konnte nicht morgen der Kapitän Nemo uns in die weite See hinaus nach allen Weltgegenden hin schleppen?

In diesem Augenblick gab mir ein ziemlich starkes Zischen zu erkennen, daß die Behälter gefüllt wurden, und der Nautilus tauchte unter in die Atlantischen Wogen.

Ich blieb auf meinem Zimmer. Ich wollte dem Kapitän aus dem Wege gehen, um die Bewegung, welche mich beherrschte, ihm zu verbergen. So brachte ich einen traurigen Tag hin im Schwanken zwischen dem Wunsch, wieder in Besitz meiner freien Verfügung über mich zu gelangen, und dem Bedauern, diesen merkwürdigen Nautilus zu verlassen, ohne meine unterseeischen Studien zu vollenden; diesen meinen Ocean, wie ich ihn schon gerne nannte, ohne seine tiefsten Schichten untersucht, ohne die Geheimnisse, welche mir die Gewässer der Indischen Meere und des Stillen Oceans enthüllt hatten, auch ihm abzulauschen! Mein Roman fiel mir beim ersten Band aus den Händen, mein Traum zerrann im schönsten Moment! Schlimme Stunden waren dies, während ich bald mich sammt meinen Gefährten am Lande in Sicherheit sah, bald im Widerspruch mit meiner Vernunft wünschte, es möge ein unvorhergesehener Umstand die Verwirklichung der Projecte Ned-Land’s hindern.

Ich begab mich zweimal in den Salon. Ich wollte den Compaß befragen. Ich wollte nachsehen, ob die Richtung des Nautilus uns wirklich der Küste näher oder von derselben abwärts führte. Nein. Der Nautilus hielt sich unverändert in den portugiesischen Gewässern, in nördlicher Richtung längs den Gestaden des Oceans.

Man mußte dieses benutzen und zur Flucht sich bereit machen. Mein Gepäck war nicht schwer: meine Notizen, nichts weiter.

Ich fragte mich weiter, wie der Kapitän Nemo unser Entweichen aufnehmen; welche Unruhe, vielleicht Kränkungen es ihm bereiten würde; was er wohl thun würde, wenn der Plan ihm enthüllt oder vereitelt würde. Ich hatte gewiß nicht über ihn zu klagen, im Gegentheil, nirgends war mir eine aufrichtigere Gastfreundschaft zu Theil geworden, wie bei ihm. Doch konnte man mich nicht des Undanks beschuldigen, wenn ich ihn verließ. Wir waren durch keinen Eid an ihn gebunden. Er zählte allein auf die Gewalt der Dinge, und nicht auf unser Wort, um uns auf immer in seine Nähe zu fesseln. Aber diese offen ausgesprochene Absicht, uns ewig als Gefangene an seinen Bord festzuhalten, rechtfertigte unsere Gegenbemühungen.

Seit unserem Besuch auf der Insel Santorin hatte ich den Kapitän nicht wieder gesehen. Sollte der Zufall mich vor unserem Entweichen noch einmal mit ihm zusammenbringen? Ich wünschte und fürchtete es zugleich. Ich horchte, ob ich ihn nicht in seinem an das meinige stoßenden Zimmer auf- und abgehen hören könnte. Ich vernahm nicht das geringste Geräusch; das Zimmer war ohne Zweifel leer.

Darauf fragte ich mich sogar, ob dieser seltsame Mann an Bord sei. Seit jener Nacht, in welcher das Boot den Nautilus um einer geheimnißvollen Verrichtung willen verlassen, hatten sich meine Ideen in Hinsicht auf denselben ein wenig geändert. Ich dachte, was er auch sagen mochte, der Kapitän Nemo müsse wohl einige Verbindungen gewisser Art mit der Erde unterhalten haben. Verließ er niemals den Nautilus? Oft verflossen ganze Wochen, ohne daß ich mit ihm zusammentraf. Was trieb er unterdessen? Und während ich glaubte, er sei einer Anwandlung von Menschenhaß anheim gefallen, vollführte er nicht indessen in der Entfernung einen stillen Act, dessen Natur mir bis jetzt verborgen geblieben?

Alle diese Ideen bestürmten mich mit einem Mal. In der seltsamen Lage, worin wir uns befanden, konnte das Feld der Vermuthungen nur ein unendliches sein. Ich empfand ein unerträgliches Mißbehagen. Dieser Tag schien kein Ende nehmen zu wollen. Meiner Ungeduld flossen die Stunden zu langsam hin.

Mein Diner wurde mir wie immer auf mein Zimmer gebracht. Das Essen schmeckte mir nicht, da ich zu sehr von Gedanken eingenommen war. Um sieben Uhr stand ich von der Tafel auf. Nur noch hundertundzwanzig Minuten, bis ich mit Ned-Land zusammen kommen sollte. Meine Unruhe verdoppelte sich. Mein Puls schlug ungestüm; ich konnte mich nicht stille halten, ging hin und her, hoffte durch die Bewegung den Aufruhr meines Geistes zu stillen. Der Gedanke an ein Mißlingen unseres verwegenen Vorhabens war mir am wenigsten peinlich; aber es pochte doch mein Herz bei dem Gedanken, daß dasselbe, bevor wir den Nautilus verlassen, entdeckt, und ich vor das Angesicht des entrüsteten Kapitäns zurückgebracht würde.

Ich wollte zum letzten Male den Salon sehen, schlich mich durch den Gang und kam in das Museum, wo ich so viele angenehme und nützliche Stunden hingebracht hatte. Ich schaute mir alle diese Schätze und Kleinodien noch einmal an, als sollte ich in ein ewiges Exil gehen. Ich war im Begriff, diese Wunder der Natur, diese Meisterwerke der Kunst, die mir so lieb geworden, auf immer zu verlassen.

Indem ich so den Salon durchlief, kam ich an die Thüre, welche in des Kapitäns Zimmer führte. Zu meinem großen Erstaunen war sie halb geöffnet. Ich fuhr unwillkürlich zurück. Wenn der Kapitän Nemo in seinem Zimmer war, konnte er mich sehen. Doch da ich kein Geräusch hörte, trat ich näher. Das Zimmer war leer; ich drückte die Thüre auf, that einige Schritte hinein. Stets das gleiche, mönchische Aussehen.

Jetzt fielen mir einige, an den Wänden hängende Kupferstiche auf, welche ich früher übersehen hatte. Es waren Brustbilder der großen historischen Männer, deren Dasein eine ununterbrochene Hingebung an eine große menschliche Idee enthielt, Kosziusko, Botzaris, Oconnel, Washington, Manin, Lincoln, und endlich der Märtyrer der Negerbefreiung, John Brown.

Welches Band einigte diese heroischen Seelen mit der des Kapitäns Nemo? Konnte ich endlich das Geheimniß seines Lebens lösen? War er der Kampfheld unterdrückter Völker, Befreier der Sclavenmassen? Hatte er in den letzten politischen oder socialen Bewegungen dieses Jahrhunderts eine Rolle gespielt?

Plötzlich schlug es acht Uhr. Der erste Glockenschlag riß mich aus meinen Träumen. Ich zitterte, als hätte ein unsichtbares Auge in’s tiefste Geheimniß meiner Gedanken dringen können, und stürzte zum Zimmer hinaus.

Hier hafteten meine Blicke auf dem Compaß. Die Richtung unserer Fahrt war stets nördlich. Das Log zeigte eine mäßige Schnelligkeit, das Manometer eine Tiefe von etwa sechzig Fuß. Die Umstände waren also dem Vorhaben des Canadiers günstig.

Ich ging wieder in mein Zimmer und kleidete mich rasch an: Seestiefel, Ottermütze, Reiserock von Byssus mit Robbenfell gefüttert. Nun war ich fertig, ich wartete. Der Wellenschlag der Schraube allein unterbrach die tiefe Stille, welche an Bord herrschte. Ich horchte, spitzte mein Ohr. War nicht aus einigen Stimmen, die man plötzlich vernahm, abzunehmen, daß Ned-Land bei seinem Entweichungsplan war überrascht worden? Eine Unruhe zum Sterben befiel mich. Vergeblich trachtete ich meine Gemüthsruhe wieder zu gewinnen.

Einige Minuten vor neun Uhr lauschte ich an der Thüre des Kapitäns. Kein Geräusch. Ich verließ mein Zimmer und begab mich wieder in den Salon, der in halbem Dunkel war, aber Niemand anwesend.

Ich öffnete die Thüre zur Bibliothek. Sie war ebenso düster, ebenso leer. Ich stellte mich neben die Thüre, welche zur Mittelstiege führte, und wartete auf Ned-Land’s Zeichen.

In dem Moment wurden die Bewegungen der Schraube merklich schwächer, dann hörte sie gänzlich auf. Weshalb diese Veränderung? Sollte dieses Anhalten das Vorhaben Ned-Land’s begünstigen oder stören? Ich konnte es nicht sagen.

Nur noch meine Pulsschläge unterbrachen die Stille.

Plötzlich verspürte man einen leichten Stoß. Ich merkte, daß der Nautilus auf dem Meeresgrund hielt. Meine Unruhe verdoppelte sich. Kein Signal vom Canadier war zu vernehmen. Ich hatte Lust, Ned-Land aufzusuchen, um ihn aufzufordern, seinen Versuch zu verschieben, denn wir fuhren jetzt nicht mehr unter den gewöhnlichen Bedingungen …

In dem Augenblick öffnete sich die Thüre des großen Saales und der Kapitän Nemo erschien. Er bemerkte mich, und sprach ohne weiteres:

»Ah! Herr Professor, sagte er in liebenswürdigem Ton, ich suchte Sie. Kennen Sie die Geschichte Spaniens?«

Mag man die Geschichte seines eigenen Landes noch so gründlich verstehen, in einer Lage, wie die meinige war, den Geist verstört, den Kopf verloren, wäre es unmöglich, ein Wort daraus anzuführen.

»Nun? wiederholte der Kapitän Nemo, Sie haben meine Frage gehört? Kennen Sie die Geschichte Spaniens?

– Sehr wenig, erwiderte ich.

– Das sind rechte Gelehrte, sagte der Kapitän, die nichts wissen. Dann setzen Sie sich, fuhr er fort, und ich will Ihnen eine merkwürdige Episode aus der spanischen Geschichte erzählen.«

Der Kapitän lagerte sich auf einen Divan, und ich setzte mich neben ihn im Halbdunkel.

»Herr Professor, sagte er zu mir, geben Sie wohl Acht. Diese Geschichte wird Sie in gewisser Hinsicht interessiren, denn sie wird auf eine Frage antworten, welche Sie wohl noch nicht zu lösen vermochten.

– Ich gebe Acht, Kapitän, sagte ich, indem ich nicht wußte, wo er damit hinaus wollte, und fragte mich, ob dieser Zwischenfall sich auf unser Fluchtproject beziehe.

– Herr Professor, fuhr der Kapitän Nemo fort, wenn es Ihnen beliebt, gehen wir bis auf 1702 zurück. Es ist Ihnen bekannt, daß damals Ihr König Ludwig XIV., in der Meinung, ein Machtherrscher brauche nur die Hand aufzuheben, um die Scheidewand der Pyrenäen niederzuwerfen, seinen Enkel, den Herzog von Anjou, den Spaniern zum König aufnöthigte. Dieser Prinz, der unter dem Namen Philipp V. regierte, fand im Ausland starken Widerstand.

»In der That hatten im Jahre zuvor die Königshäuser von Holland, Österreich und England im Haag einen Allianztractat geschlossen, um Philipp V. die spanische Krone zu entreißen und einem Erzherzog auf das Haupt zu setzen, welchem sie zu früh den Namen Karl III. gaben.

»Spanien mußte dieser Coalition Widerstand leisten, aber es war fast ohne Soldaten und Seeleute. Doch an Gold fehlte es ihm nicht, freilich unter der Bedingung, daß seine mit Gold und Silber beladenen Galionen aus Amerika in seine Häfen einlaufen konnten. Nun erwartete es gegen Ende des Jahres 1702 eine reiche Sendung, unter Bedeckung einer französischen Flotte von dreiundzwanzig Schiffen unter dem Oberbefehl des Admirals Chateau-Renaud, denn die Flotten der Alliirten kreuzten damals im Atlantischen Meer.

»Diese Sendung sollte zu Cadix landen; aber da der Admiral hörte, daß in jener Gegend die englische Flotte kreuzte, beschloß er einen französischen Hafen aufzusuchen.

»Die spanischen Befehlshaber der Sendung protestirten gegen diesen Beschluß. Sie wollten in einen spanischen Hafen einlaufen, und in Ermangelung von Cadix in die Bai von Vigo an der Nordwestküste Spaniens, welche nicht blockirt war.

»Der Admiral Chateau-Renaud war schwach genug, dieser Zumuthung Folge zu geben, und die Galionen liefen in die Bai von Vigo ein.

»Leider hat diese Bai nur eine offene Rhede, die nicht vertheidigt werden kann. Man mußte daher schleunigst, bevor die Flotten der Coalirten heran kamen, die Galionen ausladen, und es hätte auch dafür nicht an Zeit gemangelt, wäre nicht plötzlich eine elende Rivalitätsfrage entstanden.

»Sie folgen wohl dem Zusammenhang der Thatsachen? fragte mich der Kapitän Nemo.

– »Vollständig,« sagte ich, indem ich noch nicht wußte, weshalb er mir diese historische Lection ertheilte.

»Ich fahre fort. Hören Sie, was vorging. Die Kaufmannschaft zu Cadix hatte ein Privileg, wonach alle Waaren aus Westindien dort mußten ausgeladen werden. Diesem Vorrecht also widersprach es, daß man die Goldbarren zu Vigo auslud. Auf ihre Beschwerde gewährte ihnen der schwache Philipp V., daß die Sendung, ohne ausgeladen zu werden, auf der Rhede zu Vigo in Sequester bleiben sollte, bis die feindlichen Flotten sich wieder entfernt haben würden.

– Während man nun diesen Bescheid gab, erschien am 22. October 1702 die englische Flotte in der Bai von Vigo. Der Admiral Chateau-Renaud, obwohl schwächer an Streitkräften, kämpfte tapfer. Als er aber sah, daß die Schätze in die Hände der Feinde fallen mußten, steckte er seine Galionen in Brand und versenkte sie sammt ihrer reichen Ladung.«

Hier hielt der Kapitän inne. Ich gestehe, ich sah noch nicht, worin das Interesse dieser Geschichte für mich liegen sollte.

»Nun? fragte ich.

– Nun, Herr Arronax, erwiderte der Kapitän Nemo, wir befinden uns eben in dieser Bai von Vigo, und es steht bei uns, in ihre Geheimnisse zu dringen.«

Der Kapitän stand auf und bat mich, ihn zu begleiten. Ich hatte Zeit gehabt, mich zu fassen. Ich folgte. Der Salon war dunkel, aber durch die Fenster funkelten die Meeresfluthen. Ich schaute.

In einem Umkreis von einer halben Meile um den Nautilus herum waren die Gewässer von elektrischem Licht durchdrungen. Ein Theil der Mannschaft mit Skaphandern gepanzert, war beschäftigt, halb verfaulte Fässer abzuräumen und Kisten zu leeren inmitten des schwarzen Strandgutes. Aus diesen Kisten und Tonnen kamen Gold- und Silberbarren zum Vorschein, Piaster und Edelsteine gleich Springwassern. Der Sand war damit bedeckt. Beladen mit so kostbarer Beute brachten diese Männer sie zum Nautilus, legten sie nieder, und setzten dann ihr Fischen in der unerschöpflichen Quelle fort.

Ich verstand wohl, daß an dieser Stelle am 22. October 1702 die Schlacht vorgefallen, und die für Rechnung der spanischen Regierung geladenen Galionen versenkt waren. Hierhin begab sich der Kapitän Nemo, um nach Bedürfniß Millionen einzukassiren, und sie als Ballast mit zu nehmen. Für ihn allein hatte Amerika diese reichen Schätze gesendet. Er war directer Universalerbe der den Incas und den von Ferdinand Cortez überwundenen Eingeborenen entrissenen Schätze.

»Wußten Sie, Herr Professor, fragte er mich lächelnd, daß das Meer solche Schätze birgt?

– Ich wußte, erwiderte ich, daß man das in den Gewässern außer Umlauf gesetzte Geld auf zwei Millionen Tonnen anschlägt.

– Allerdings, aber um dasselbe heraufzuholen, würden die Kosten den Gewinn überwiegen. Hier dagegen habe ich nur zusammen zu raffen, was die Menschen verloren haben, und nicht blos in dieser Bai von Vigo, sondern auch noch unzähligen anderen Stellen von Schiffbruch, welche auf meiner unterseeischen Karte notirt sind. Begreifen Sie jetzt, daß ich einen Reichthum von Milliarden habe?

– Ja wohl, Kapitän. Gestatten Sie mir jedoch Ihnen zu sagen, daß Sie mit dem Ausbeuten dieser Bai nur den Arbeiten einer rivalisirenden Gesellschaft zuvorgekommen sind.

– Und welcher?

– Einer Gesellschaft, welche von der spanischen Regierung das Privilegium erhalten hat, die versenkten Galionen aufzusuchen. Die Actionäre werden durch den Köder einer ungeheuren Dividende angelockt, denn man schlägt den Werth dieser versenkten Schätze auf fünfhundert Millionen an.

– Fünfhundert Millionen! erwiderte der Kapitän Nemo. Sie waren vorhanden, sind’s aber nicht mehr.

– Wirklich, sagte ich. Daher wäre eine angemessene Warnung an die Aktionäre eine Wohlthat. Wer weiß übrigens, ob man’s danken würde. Die Spieler bedauern bei alledem meist weniger die Einbuße an Geld, als an thörichten Hoffnungen. Trotzdem bedaure ich sie weniger, als die Tausende von Unglücklichen, welchen bei richtiger Vertheilung solche Schätze nützen konnten, während sie nun für dieselben auf immer unfruchtbar sind!«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ich merkte, daß sie den Kapitän Nemo verletzen mußten.

– Unfruchtbar! erwiderte er lebhaft. Glauben Sie denn, mein Herr, daß diese Schätze verloren sind, wenn ich sie hole? Nicht für mich selbst, wie Sie meinen, gab‘ ich mir die Mühe diese Schätze zu heben. Woher wissen Sie denn, daß ich nicht einen guten Gebrauch davon mache? Glauben Sie, ich wisse nicht, daß es auf dieser Erde leidende Geschöpfe giebt, unterdrückte Racen, Unglückliche zu unterstützen, Opfer zu rächen? Begreifen Sie nicht? …«

Bei diesen letzten Worten hielt der Kapitän Nemo ein, vielleicht bedauernd, daß er zu viel gesprochen habe. Aber ich hatte es geahnt. Welche Beweggründe auch ihn gedrungen hatten, die Unabhängigkeit unter’m Meer zu suchen, vor allem war er Mensch geblieben! Sein Herz schlug noch bei den Leiden der Menschheit, und seine unbegrenzte Barmherzigkeit wendete sich sowohl den unterdrückten Racen, als dem Einzelnen zu!

Jetzt begriff ich auch, welche Bestimmung jene Millionen hatten, welche der Kapitän Nemo ausschiffte, als der Nautilus in den Gewässern der im Aufstand begriffenen Insel Creta fuhr!