Vierzehntes Capitel

Vierzehntes Capitel

Der Südpol

Ich eilte auf die Plattform. Ja! Das freie Meer. Kaum einzelne zerstreute Eisblöcke, bewegliche Eisberge; in der Ferne eine weite Meeresfläche; eine Menge Vögel in den Lüften, und Myriaden Fische in den Gewässern, welche, je nach dem Grund, wechselnd tiefblau und olivengrün waren. Das Thermometer zeigte drei hunderttheilige Grad über Null. Es war verhältnißmäßig gleichsam Frühling hinter dieser Eisdecke, deren ferne Massen am nördlichen Horizont sich abzeichneten.

»Sind wir am Pol? fragte ich mit klopfendem Herzen den Kapitän.

– Ich weiß es nicht, erwiderte er mir, zu Mittag werden wir die Aufnahme machen.

– Aber wird die Sonne durch diesen Nebel sichtbar werden? fragte ich mit einem Blick auf den grauen Himmel.

– So wenig sie zum Vorschein kommt, genügt sie mir,« erwiderte der Kapitän.

Zehn Meilen vom Nautilus südlich ragte ein vereinzeltes Eiland zweihundert Meter hoch. Wir fuhren auf dasselbe los, aber vorsichtig, denn dieses Meer konnte mit verdeckten Klippen bedeckt sein.

Nach einer Stunde hatten wir das Eiland erreicht. Zwei Stunden später waren wir um dasselbe herum gefahren. Es hatte vier bis fünf Meilen Umfang, und war durch einen engen Kanal von einem ansehnlichen Land geschieden, das vielleicht ein Festland war, dessen Grenzen wir noch nicht wahrnehmen konnten. Das Dasein dieses Landes schien für die Hypothesen Maury’s einen Beleg zu geben. Der geistreiche Amerikaner hat die Bemerkung gemacht, daß zwischen dem Südpol und dem sechzigsten Breitegrade das Meer mit treibenden Eisblöcken von enormer Größe bedeckt ist, wie man sie im Nordatlantischen niemals trifft. Aus dieser Thatsache hat er den Schluß gezogen, daß der Südpolarkreis bedeutendes Festland enthalten müsse, weil die Eisberge sich nicht im hohen Meere bilden können, sondern nur an den Küsten. Seinen Berechnungen nach bildet die Eismasse, welche den Südpol umgiebt, eine große Kappe, die bis viertausend Kilometer breit sein müsse.

Der Nautilus hielt jedoch, um nicht fest zu fahren, drei Kabellängen von einem flachen Sandufer an, über welches eine prachtvolle Felsengruppe ragte. Das Boot wurde in’s Meer hinabgelassen, und der Kapitän nebst zwei seiner Leute mit den Instrumenten, Conseil und mir, stiegen in dasselbe ein. Es war zehn Uhr Vormittags. Ned-Land sah ich nicht, dem vermuthlich der Augenschein des Südpollandes nicht angenehm war.

Mit einigen Ruderschlägen landete das Boot. Als eben Conseil herausspringen wollte, hielt ich ihn zurück.

»Mein Herr, sagte ich zum Kapitän Nemo, Ihnen gehört die Ehre, zuerst dieses Land zu betreten.

– Ja, mein Herr, erwiderte der Kapitän, und ich eile, den Fuß auf diesen Boden des Südpols zu setzen, wo bis jetzt noch kein menschliches Wesen aufgetreten ist.«

Nach diesen Worten sprang er flink auf den Sand. In tiefer Rührung schlug ihm das Herz. Er stieg auf einen Felsen, der überhängend ein kleines Vorgebirge bildete, wo er mit gekreuzten Armen und glühendem Blick, stumm, unbeweglich verweilte. Er schien von diesem Südland Besitz zu nehmen. Nach fünf Minuten solcher Gemüthserhebung wendete er sich zu uns, und rief mir zu:

»Wenn es Ihnen beliebt, mein Herr.«

Ich stieg mit Conseil aus, die beiden Männer blieben im Boot.

Der Boden zeigte in weiter Ausdehnung einen Tuff von röthlicher Farbe, als bestehe er aus zerstampftem Ziegelstein. Von Schlacken, Lavarinnen, Bimssteinen bedeckt, ließ er seinen vulkanischen Ursprung nicht verkennen. An manchen Stellen bezeugten leichte Dünste von Schwefelgeruch, daß das innere Feuer noch fortdauernd thätig war. Doch sah ich von einer hohen Böschung aus im Umkreis von mehreren Meilen durchaus nichts von einem Vulkan. Bekanntlich hat James Roß in dieser Südpolgegend unter’m hundertsiebenundsechzigsten Meridian bei 77° 32′ Breite die Krater des Erebus und Terror in voller Thätigkeit angetroffen.

Die Vegetation dieses öden Continents schien mir äußerst beschränkt. Die magere Flora dieser Gegend bestand aus einigen Flechten auf den schwarzen Felsen, gewissen mikroskopischen Pflänzchen, eine Art Zellen in quarzartigen Muscheln, langem, purpur- und carmoisinfarbigem Seetang auf Schwimmbläschen.

Das Ufer war besäet mit Mollusken, kleinen Muscheln aller Art, besonders von Clio’s mit länglichem, häutigem Leib, und einem aus zwei runden Lappen bestehenden Kopf. Ich sah auch Myriaden von den drei Centimeter langen, niedlichen Clio’s, von welchen der Wallfisch eine ganze Welt mit einem Male verschlingt. Diese reizenden Flossenfüßler, wahre Seeschmetterlinge, belebten die freien Gewässer am Uferrand.

Von Zoophyten fanden sich da unter Andern in den höhern Schichten einige baumartige Korallengewächse, welche in diesen Meeren bis zur Tiefe von tausend Meter fortkommen, und eine große Anzahl diesem Klima eigenthümlicher Asterien und Seesterne.

Aber in der Luft war reiches Leben: Vögel verschiedener Gattungen flogen und flatterten da zu Tausenden, und betäubten mit ihrem Geschrei. Andere bedeckten die Felsen, sahen uns ohne Schüchternheit an, und drängten sich vertraulich um uns; es waren Pinguine, die im Wasser ebenso flink und beweglich sind, wie zu Lande unbeholfen und schwerfällig. Ferner bemerkte ich weiße Strandläufer mit kurzem Schnabel und einem rothen Ring um’s Auge; rußfarbige Albatros mit einer Flügelweite von vier Meter; riesenhafte Sturmvögel, und eine Menge kleinerer dieser Gattung, theils blau, theils weißlich mit braun eingefaßten Flügeln. Diese letzteren sind so ölhaltig, daß die Bewohner der Faroer-Inseln sie nur mit einem Docht versehen, um sie als Lampe zu gebrauchen.

Doch der Nebel stieg nicht auf, und um elf Uhr war noch keine Sonne zu sehen. Dies beunruhigte mich; denn sonst war eins Beobachtung nicht möglich, und ohne diese ließ sich nicht feststellen, ob wir am Pol angekommen seien.

Als ich wieder zu dem Kapitän Nemo kam, fand ich ihn schweigend wider einen Felsblock gelehnt und den Blick zum Himmel gerichtet. Er schien ungeduldig, mißgestimmt. Aber was war da zu machen? Der kühne und mächtige Mann konnte der Sonne nicht so gebieten, wie dem Meere.

Es kam der Mittag heran, ohne daß das Tagesgestirn einen Augenblick sichtbar wurde. Es ließ sich nicht einmal die Stelle erkennen, welche es hinter dem Nebelvorhang einnahm. Bald löste sich der Nebel in Schnee auf.

»Auf morgen«, sagte nur der Kapitän zu mir, und wir begaben uns mitten im Schneegestöber zum Nautilus zurück.

Während unserer Abwesenheit hatte man die Garne ausgesteckt, und ich betrachtete mit Interesse die Fische, welche man an Bord gezogen hatte. Die Südpolarmeere dienen einer großen Anzahl von Wanderfischen zur Zuflucht, welche aus den minder hohen Breitegraden entfliehen, um freilich den Meerschweinen und Robben unter die Zähne zu gerathen.

Der Schneesturm dauerte bis zum folgenden Morgen. Auf der Plattform konnte man unmöglich bleiben. Vom Salon aus, wo ich die Begebenheiten dieses Ausfluges auf das Polar-Festland notirte, vernahm ich das Geschrei der Sturmvögel und Albatros, die sich mitten im Unwetter ergötzten. Der Nautilus lag nicht stille; er fuhr längs der Küste noch etwa zehn Meilen weiter nach Süden, umgeben von dem halben Licht, welches die Sonne, indem sie am Rande des Horizonts streifte, hinter sich ließ.

Am folgenden Morgen, den 20. März, hatte der Schneefall aufgehört. Die Kälte war etwas strenger; das Thermometer zeigte zwei Grad unter Null. Der Nebel stieg auf, und ich konnte hoffen, daß an diesem Tage unsere Beobachtung stattfinden könne.

Da der Kapitän Nemo noch nicht erschienen war, so stieg ich mit Conseil in das Boot und setzte an’s Land. Der Boden war von gleicher Beschaffenheit, vulkanisch: überall Spuren von Lava, Schlacken, Basalte, ohne daß man einen Krater sah, woraus sie hervorgegangen waren. Auch dieser Theil des Polarcontinents war von unzähligen Vögeln belebt. Aber sie theilten dieses Reich damals mit ungeheuren Heerden von Seesäugethieren, die uns mit sanften Augen anblickten. Es waren Robben verschiedener Gattung, theils auf dem Boden gelagert, theils auf treibenden Eisblöcken; manche kamen aus dem Meere heraus, oder gingen wieder hinein. Bei unserer Annäherung ergriffen sie nicht die Flucht, da sie noch nie mit Menschen zu thun gehabt hatten; und ich zählte ihrer so viele, daß man einige Schiffe damit hätte verproviantiren können.

»Wahrhaftig, sagte Conseil, es ist ein Glück, daß Ned-Land nicht bei uns ist!

– Warum, Conseil?

– Weil der leidenschaftliche Jäger sie alle erlegt hätte.

– Alle, das will viel heißen, aber ich glaube wirklich, daß wir unsern Freund, den Canadier, nicht hätten abhalten können, einige dieser prächtigen Thiere zu harpunieren, und dies wäre dem Kapitän Nemo unlieb gewesen, da er nicht gern unnütz das Blut unschädlicher Thiere vergossen haben will.

– Er hat Recht.

– Unstreitig, Conseil. Aber, sage mir, hast Du diese Prachtexemplare der Seefauna noch nicht classificirt?

– Mein Herr weiß wohl, erwiderte Conseil, daß ich im Praktischen nicht sehr bewandert bin. Wenn ich ihre Namen weiß …

– Es sind Robben und Wallrosse, deren verschiedene Arten wir, wenn ich nicht irre, hier zu beobachten Gelegenheit haben werden. Machen mir uns auf den Weg.«

Es war acht Uhr Vormittags. Wir hatten noch vier Stunden Zeit, bis die Sonne mit Vortheil beobachtet werden konnte. Ich lenkte unsere Schritte zu einer großen Bucht, die von den steilen Granitfelsen des Uferlandes gebildet ward.

Da waren, ich kann wohl sagen in unabsehbarem Umkreis die Landschaft und die Eisblöcke mit Seesäugethieren schaarenweise bedeckt, so daß mein Blick unwillkürlich den alten Proteus suchte, der, wie die Sage will, Neptuns unzählbare Heerden weidete.

Es waren vorzugsweise Robben, welche gesonderte Gruppen bildeten, Männchen und Weibchen, der Vater seine Familie überwachend, die Mütter ihre Säuglinge stillend, einige halbwüchsige Junge in einiger Entfernung sich frei tummelnd. Wenn diese Robben von ihrer Stelle hinweg wollten, bewegten sie sich mit Zusammenziehung ihrer Leiber in kleinen Sprüngen, wobei ziemlich unbeholfen ihre mangelhaften Flossen sie unterstützten. Im Wasser jedoch, muß ich sagen, welches vorzugsweise ihr Element ist, verstehen sich diese Thiere mit beweglichem Rückgrat, engem Becken, glattem, kurzhaarigem Fell und handförmigen Füßen vortrefflich auf’s Schwimmen. Beim Ausruhen und auf dem Lande nahmen sie äußerst graciöse Stellungen an. Daher haben auch die Alten, in Betracht ihrer sanften Züge, ihres ausdrucksvollen Blickes, der noch über den schönsten Frauenblick geht, ihrer sammetartigen, klaren Augen, ihre reizenden Stellungen, – dieselben, gemäß der ihnen eigentümlichen poetischen Anschauungen, die Männchen in Tritonen, die Weibchen in Sirenen verwandelt.

Ich machte Conseil aufmerksam, wie bei diesen gescheiten Thieren das Gehirn bedeutend entwickelt ist. Kein Säugethier, ausgenommen den Menschen, hat eine reichlichere Gehirnmasse. Daher sind auch die Robben einer gewissen Erziehung fähig; sie lassen sich leicht zähmen, und ich bin mit einigen Naturforschern der Meinung, daß sie, gehörig abgerichtet, bei der Fischerei wie Hunde zu gebrauchen sein würden.

Die meisten dieser Robben schliefen auf den Felsen oder dem Sande. Unter den eigentlichen Robben, die keine äußern Ohren haben, beobachtete ich einige Varietäten, die drei Meter lang, mit weißen Haaren und Bullenbeißerkopf, in jedem Kiefer zehn Zähne hatten. Zwischen ihnen sah man auch See-Elephanten, mit kurzem und beweglichem Rüssel, die Riesen der Gattung, zehn Meter lang mit einem Umfang von fünfundzwanzig Fuß. Sie rührten sich nicht, als wir in die Nähe kamen.

»Es sind keine gefährlichen Thiere? fragte Conseil.

– Nein, erwiderte ich, nur darf man sie nicht angreifen. Wenn ein Robbe sein Junges vertheidigt, wird er furchtbar wüthend, und nicht selten zertrümmert er ein Fischerboot.

– Er ist dazu berechtigt, versetzte Conseil.

– Ich widerspreche nicht.«

Zwei Meilen weiter waren wir durch ein Vorgebirge gehemmt, welches die Bucht gegen die Südwinde schützte. Es fiel senkrecht in’s Meer ab und schäumte beim Wellenschlag. Hinter demselben vernahm man fürchterliches Gebrülle, wie etwa von einer Heerde Wiederkäuer.

»Schön, sagte Conseil, ein Concert von Stieren?

– Nein, versetzte ich, von Wallrossen.

– Sie sind im Kampf?

– Im Kampf oder beim Spiel.

– Mit Erlaubniß, mein Herr, das müssen wir sehen.

– Ja wohl, Conseil.«

Wir überstiegen rasch die Felsen, indem wir über dem Glatteis der Steine häufig ausglitten. Manchmal fiel ich zu Boden, daß mich die Nieren schmerzten, Conseil, der vorsichtiger war oder fester auf den Füßen stand, wankte nicht, und hob mich auf mit den Worten:

»Wenn mein Herr die Güte haben wollte, die Beine auseinander zu spreizen, würde er besser das Gleichgewicht halten.«

Als wir auf dem höchsten Kamm des Vorgebirges ankamen, sahen wir auf eine ausgedehnte weiße Ebene, die mit Wallrossen bedeckt war, welche mit einander sich vergnügten. Es war Freudejauchzen, was wir gehört hatten.

Die Wallrosse gleichen den Robben an Körperbildung und Anordnung der Gliedmaßen. Doch mangeln ihrem Unterkiefer die Hundezähne und Schneidezähne, und ihre obern bestehen aus zweiundachtzig Centimeter langen Hauern, die an der Wurzel einen Umfang von dreiunddreißig Centimeter haben. Diese Zähne, welche aus gediegenem Elfenbein ohne Streifen bestehen, der härter wie das der Elephanten ist, und nicht so leicht gelb wird, sind eine sehr gesuchte Waare. Daher macht man auch in unbesonnenster Weise Jagd auf die Wallrosse, so daß sie bald völlig ausgetilgt sein werden; denn die Jäger, welche jährlich bei viertausend erlegen, machen ohne Unterschied auch die trächtigen Weibchen und die Jungen nieder.

Als wir an den merkwürdigen Thieren vorbei kamen, konnte ich sie nach Muße betrachten, denn sie ließen sich nicht stören. Ihr Fell war dicht und runzelig, von heller in’s Rothe spielender Farbe, mit kurzen, nicht dichten Haaren. Manche waren vier Meter lang. Ruhiger und weniger furchtsam, als ihre Gattungsgenossen im Norden, stellen sie nicht zur Hut ihrer Lagerstätten Schildwachen aus.

Nach dieser Musterung dachte ich auf den Rückweg. Es war schon elf Uhr, und wenn der Kapitän Nemo sich in günstiger Lage zum Beobachten befand, wollte ich bei der Verrichtung zugegen sein. Doch hatte ich keine Hoffnung, daß die Sonne an diesem Tage zum Vorschein kommen werde, da der mit gebrochenem Gewölk bedeckte Horizont sie unserm Anblick entzog.

Dennoch dachte ich an den Rückweg. Ein schmaler Anberg führte uns auf den Gipfel der Felswand. Um halb zwölf langten wir an der Landungsstelle an. Das Boot hatte den Kapitän an’s Land gebracht. Er stand, von seinen Instrumenten umgeben auf einem Basaltblock, den Blick unverwandt auf den Norden des Horizonts gerichtet, wo eben die Sonne ihre längliche Curve beschrieb.

Ich stellte mich neben ihn, und wartete still. Es kam die Mittagsstunde, und wie Tags zuvor kam die Sonne nicht zum Vorschein.

Eine schlimme Sache. Es war noch die Beobachtung zu machen, um unsre Lage aufzunehmen. Ward dies morgen nicht ausführbar, so mußten wir definitiv darauf verzichten.

In der That, es war eben der 20. März, und morgen, am Aequinoctialtage, sollte die Sonne, abgerechnet die Strahlenbrechung, auf sechs Monate vom Horizont verschwinden, und damit die lange Polarnacht beginnen. Seit dem Aequinoctium des September war sie am nördlichen Himmel aufgetaucht, um in langen Spirallinien bis zum 21. December aufzusteigen. Von diesem Zeitpunkt der Sommersonnenwende des Nordens wieder hinabsteigend sollte sie morgen ihre letzten Strahlen zusenden.

Ich theilte meine Besorgnisse dem Kapitän Nemo mit.

»Sie haben Recht, Herr Arronax, sagte er, wenn ich morgen die Sonnenhöhe nicht aufnehme, kann ich vor Ablauf von sechs Monaten die Operation nicht wieder vornehmen. Aber auch, weil der Zufall mich auf meiner Fahrt gerade am 21. März in diese Meere geführt hat, werde ich die Aufnahme sehr leicht machen, wenn zu Mittag die Sonne sichtbar sein wird.

– Warum, Kapitän?

– Ich brauche dazu nur mein Chronometer anzuwenden, erwiderte der Kapitän Nemo. Wenn morgen, am 21. März, um zwölf Uhr Mittags, die Sonnenscheibe, die Strahlenbrechung in Betracht gezogen, genau vom nördlichen Horizont durchschnitten wird, so bin ich am Südpol.

– So ist’s wirklich, sagte ich. Doch ist die Behauptung nicht mathematisch genau zu nehmen, weil das Aequinoctium nicht nothwendig auf zwölf Uhr fällt.

– Allerdings, mein Herr, aber der Irrthum wird keine hundert Meter betragen, und mehr bedürfen wir nicht. Auf morgen also.«

Der Kapitän Nemo kehrte an Bord zurück. Ich blieb mit Conseil bis fünf Uhr, und wir gingen die Küste auf und ab, mit Beobachten und Studien beschäftigt. Ich hob ein Pinguinei von merkwürdiger Größe auf, für das ein Liebhaber wohl tausend Francs gezahlt hätte. Isabellenfarbig, mit Streifen und Zeichen gleich Hieroglyphen verziert, gab es ein seltenes Spielzeug ab. Ich übergab es den Händen Conseil’s und der vorsichtige Junge, mit sicherem Tritt, hielt es wie kostbares chinesisches Porcellan, und brachte es wohlbehalten zum Nautilus.

Hier legte ich das seltene Stück in einen Glaskasten des Museums. Ich verzehrte mit Appetit ein treffliches Stück Robbenleber, das fast wie Schweinefleisch schmeckte; und legte mich zu Bette.

Am folgenden Morgen, den 21. März, stieg ich schon um fünf Uhr auf die Plattform, wo sich der Kapitän Nemo bereits befand.

»Das Wetter heitert sich ein wenig auf, sagte er zu mir. Ich habe gute Hoffnung. Nach dem Frühstück wollen wir an’s Land gehen und eine gute Stelle für die Beobachtung wählen.«

Ich war einverstanden und suchte Ned-Land auf, um ihn mit zu nehmen. Der Starrkopf weigerte sich, und ich sah wohl, daß seine Schweigsamkeit nebst seiner schlimmen Laune täglich zunahm. Trotzdem hatte ich unter den gegebenen Umständen seinen Eigensinn nicht zu bedauern. Es waren so viele Robben am Lande, und man durfte einen so unbesonnenen Jäger nicht der Versuchung aussetzen.

Als das Frühstück beendigt war, begab ich mich an’s Land. Der Nautilus war während der Nacht noch einige Meilen höher hinauf gefahren. Er befand sich auf hoher See, eine gute Meile von der Küste entfernt, die von einer spitzen, fünfhundert Meter hohen Anhöhe beherrscht wurde. Auf dem Boote mit mir befanden sich der Kapitän Nemo, zwei Leute der Bemannung und die Instrumente, nämlich ein Chronometer, ein Fernrohr und ein Barometer.

Während unserer Ueberfahrt sah ich zahlreiche Wallfische von drei den südlichen Meeren eigenthümlichen Arten. Sie belustigten sich truppweise in den ruhigen Gewässern, und man sah wohl, daß dieses Becken des Südpols gegenwärtig den allzu arg von den Jägern verfolgten Thieren dieser Art eine Zufluchtsstätte war. Sodann bemerkte ich lange weißliche Reihen Seescheiden, eine Art Mollusken, die in Gesellschaft zusammen leben, und stattliche Medusen, die zwischen den Wirbeln der Wellen schaukelten.

Um neun Uhr landeten wir. Der Himmel klärte sich auf, die Wolken flohen nach dem Süden; die Nebel verließen die kalte Oberfläche der Gewässer. Der Kapitän Nemo ging auf die Anhöhe zu, welche er wohl zu seinem Observatorium machen wollte. Das Hinaufsteigen über spitze Lavastücke und Bimssteine ist in einer häufig mit ausströmenden Schwefeldünsten durchdrungenen Luft beschwerlich. Der Kapitän, der doch des Bergsteigens entwöhnt war, klimmte die steilsten Abhänge mit einer Leichtigkeit hinan, um die ein Gemsjäger ihn beneidet hätte.

Wir brauchten zwei Stunden, um auf den Gipfel der Anhöhe, die aus Porphyr und Basalt bestand, zu gelangen. Von hier aus blickten wir auf ein weites Meer, bis wo das Himmelsgewölbe den Horizont begrenzte. Zu unsern Füßen blendende Schneefelder; über unserm Haupte blasses Blau, frei von Nebel. Im Norden erschien die Sonnenscheibe wie eine Feuerkugel, woraus die Linie des Horizonts bereits einen Ausschnitt gemacht hatte. In der Ferne lag der Nautilus wie ein schlafender Wallfisch. Hinter uns, nach Süden und Osten, ein unermeßliches Land, eine chaotische Häufung von Fels- und Eisblöcken in unabsehbarer Weite.

Als der Kapitän Nemo auf dem Gipfel der Anhöhe ankam, nahm er vermittelst des Barometers sorgfältig die Höhe auf.

Ein viertel vor zwölf erschien die Sonne, welche man damals nur durch Brechung des Lichtes sah, wie eine goldene Scheibe, welche ihre letzten Strahlen auf den verlassenen Continent warf.

Der Kapitän Nemo beobachtete durch ein mit einem Netz versehenes Fernrohr, welches vermittelst eines Spiegels die Strahlenbrechung corrigirte, das Gestirn, das in einer sehr langen Diagonale allmälig unter den Horizont hinabsank. Ich hielt das Chronometer mit klopfendem Herzen. Wenn das Verschwinden der hellen Sonnenscheibe mit zwölf Uhr des Chronometers zusammentraf, so befanden wir uns am Pol.

»Zwölf Uhr, rief ich aus.

– Der Südpol«, erwiderte der Kapitän Nemo mit ernster Stimme, indem er mich in das Fernrohr sehen ließ, welches zeigte, wie das Tagesgestirn vom Horizont genau in zwei gleiche Theile geschnitten war.

Ich sah, wie die letzten Strahlen auf die Anhöhe fielen, und das Dunkel allmälig sich ihrem Abhang hinauf zog.

Darauf legte der Kapitän Nemo seine Hand auf meine Schulter, und sprach zu mir:

»Mein Herr, im Jahre 1600 erreichte der Holländer Gherrick, durch Stürme verschlagen, den 64° südlicher Breite, und entdeckte New-Shetland. Im Jahre 1773 kam der berühmte Cook längs dem achtunddreißigsten Meridian bis zum 67° 30′, und 1774 auf dem hundertneunten Meridian bis 71° 15′ Breite. Im Jahre 1819 befand sich der Russe Bellinghausen auf dem neunundsechzigsten, und 1821 auf dem sechsundsechzigsten Parallelkreis unter 111° westlicher Länge. Im Jahre 1820 fuhr der Amerikaner Morrel, dessen Berichte zweifelhaft sind, auf dem zweiundvierzigsten Meridian, und entdeckte das freie Meer unter’m 70° 14′ der Breite. Im Jahre 1825 konnte der Engländer Powell nicht über den zweiundsechzigsten Grad. In demselben Jahre drang ein einfacher Robbenjäger, der Engländer Weddel bis zum 72° 14′ der Breite auf dem fünfunddreißigsten Meridian, und bis zu 74° 15′ auf dem sechsunddreißigsten. Im Jahre 1829 nahm der Engländer Forster, Commandant des Chanticleer, Besitz vom Südpolcontinent unter 63° 26′ Breite und 66° 26′ Länge. Im Jahre 1831 entdeckte der Engländer Biscoé am 1. Februar das Land Enderby unter 68° 50′ Breite, 1832 den 5. Februar das Land Adelaide unter 67° Breite und am 21. Februar das Graham-Land unter 64° 45′ Breite. Im Jahre 1838 mußte der Franzose Dumont d’Urville vor der Eisdecke unter 62° 57′ Breite Halt machen, nahm jedoch das Land Louis-Philippe auf; zwei Jahre später unter 66° 30′ das Land Adelie und gleich darauf unter 64° 40′ die Küste Clarie. Im Jahre 1838 kam der Engländer Wilkes bis zum 69. Breitegrad auf dem hundertsten Meridian; 1839 entdeckte der Engländer Balleny das Land Sabrina an der Grenze des Polarkreises. Endlich entdeckte der Engländer James Roß mit dem Erebus und Terror unter 76° 56′ Breite und 171° 7′ Länge das Land Victoria; sodann nahm er unter’m 74° Breite den höchsten damals erreichten Punkt auf; nachher kam er noch zu 76° 8′; 77° 32′ und 78° 4′; im Jahre 1842 kam er wieder, konnte aber nicht über den 71. Grad dringen. Nun aber habe ich, Kapitän Nemo, am 21. März 1868 den Südpol unter’m 90. Grad erreicht, und ich nehme von diesem Theil des Erdkreises Besitz.

– In wessen Namen, Kapitän?

– In meinem eigenen, mein Herr!«

Und bei diesen Worten entfaltete der Kapitän Nemo eine schwarze Flagge mit einem goldenen  N.

Darauf zum Tagesgestirn gewendet, dessen letzte Strahlen den Horizont des Meeres berührten, rief er aus:

»Lebe wohl, Sonne, und lasse eine sechsmonatliche Nacht ihre Schatten über mein neues Reich breiten!«

Fünfzehntes Capitel

Fünfzehntes Capitel

Unfall oder Zwischenfall

Am folgenden Tage, den 22. März, wurden um sechs Uhr früh die Vorbereitungen zur Abreise begonnen. Der letzte Dämmerschein zerfloß in Nacht. Es war streng kalt; die Sternbilder schimmerten in auffallend starkem Glanz. Im Zenith strahlte das wunderschöne Südkreuz, der Polarstern der antarktischen Gegenden.

Das Thermometer zeigte zwölf Grad unter Null, und wenn frischer Wind wehte, verursachte er stechenden Schmerz. Die Eisblöcke vermehrten sich auf dem freien Wasser; das Meer fing an überall zu gefrieren. Zahlreiche schwärzliche Platten auf seiner Oberfläche kündigten die bevorstehende Bildung frischen Eises an. Offenbar war das südliche Becken, wenn es während der sechs Wintermonate gefroren war, durchaus unzugänglich. Was wurde aus den Wallfischen während dieser Zeit? Ohne Zweifel zogen sie unter der Eisdecke in andere Meere, die mehr Verkehr gestatten. Die Robben und Wallrosse, welche in so strengem Klima zu leben gewohnt sind, blieben in den Eisgegenden. Diese Thiere werden durch Instinct getrieben, Löcher in die Eisfelder zu bohren und sie beständig offen zu halten, um an denselben Luft zu schöpfen. So sind denn, wenn auch die Vögel von der Kälte nach Norden wandern, diese Seesäugethiere die einzigen Herren des Polarcontinents.

Unterdessen waren die Wasserbehälter gefüllt worden, und der Nautilus tauchte langsam hinab und machte in einer Tiefe von tausend Fuß halt. Seine Schraube setzte ihn in Bewegung und er fuhr gerade nordwärts mit einer Schnelligkeit von fünfzehn Meilen die Stunde. Gegen Abend schwamm er bereits unter der unermeßlichen Eisdecke.

Die Laden des Salons waren aus Vorsicht geschlossen worden, denn der Rumpf des Nautilus konnte wider einen versenkten Eisblock stoßen. Daher brachte ich diesen Tag damit hin, meine Notizen in’s Reine zu bringen. Mein Geist war ganz in die Erinnerungen an den Pol versenkt. Wir hatten diesen unzugänglichen Punkt ohne Beschwerden und Gefahr erreicht, als wenn unser schwimmender Waggon über die Schienen einer Eisenbahn glitt. Und jetzt begann die Rückkehr. Sollte sie mir noch ähnliche Überraschungen bereiten? Ich dachte es, da die Reihe der unterseeischen Wunder unerschöpflich ist! Indessen hatten wir seit den fünf Monaten, da uns der Zufall auf dieses Fahrzeug verschlagen, vierzehntausend Lieues zurück gelegt, und auf dieser Fahrt, welche eine längere Linie enthielt, als der Erdäquator, wie viel merkwürdige oder fürchterliche Zwischenfälle hatten unserer Reise Reiz verliehen, die Jagd auf Crespo, das Stranden in der Torres-Straße, die Perlfischerei, der Korallenfriedhof, der arabische Tunnel, das Heben des Schatzes zu Vigo, die Atlantis, nun der Südpol! Während der Nacht beschäftigten alle diese Erinnerungen von Traum zu Traum meinen Geist, und ließen ihn nicht einen Augenblick zur Ruhe kommen.

Um drei Uhr früh wurde ich durch einen heftigen Stoß aufgerüttelt. Ich richtete mich auf und horchte in dem Dunkel, als ich mit einem heftigen Ruck mitten in das Zimmer geschleudert wurde. Offenbar saß der Nautilus fest und hatte sich auf die Seite gelegt.

Ich stützte mich seitwärts an die Wände und drückte mich durch die Gänge bis zu dem Salon, welcher vom Plafond herab erleuchtet war. Die Möbel waren umgeworfen; glücklicher Weise waren die unten fest gefügten Glaskästen in ihrer Lage geblieben. Die Gemälde der rechten Seitenwand hatten sich bei Veränderung der Verticallinse fest an die Tapeten gelegt, während sie auf der linken unten um einen Fuß abstanden. Der Nautilus hatte sich also rechts gelegt, und zwar vollständig unbeweglich.

Innen hörte ich Fußtritte, verwirrte Stimmen. Aber der Kapitän Nemo erschien nicht. Im Moment, als ich den Salon zu verlassen im Begriff war, traten Ned-Land und Conseil ein.

»Was ist vor? fragte ich sie gleich.

– Das wollten wir von meinem Herrn hören, erwiderte Conseil.

– Tausend Teufel! rief der Canadier, ich weiß es wohl! Der Nautilus sitzt fest, und nach der Lage zu urtheilen, welche er angenommen hat, glaube ich nicht, daß er sich, wie das erste Mal in der Torres-Straße herausziehen wird.

– Aber doch, fragte ich, ist er wieder auf die Oberfläche gekommen?

– Das wissen wir nicht, erwiderte Conseil.

– Wir können uns leicht darüber Gewißheit verschaffen«, erwiderte ich. Ich befragte das Manometer. Zu meiner großen Ueberraschung zeigte es eine Tiefe von dreihundertsechzig Metern.

»Was will das bedeuten? rief ich aus.

– Man muß den Kapitän Nemo fragen, sagte Conseil.

– Aber wo ist er zu finden? fragte Ned-Land.

– Folgen Sie mir«, sagte ich zu meinen Gefährten.

Wir verließen den Salon. In der Bibliothek Niemand. Auf der Mittelstiege, dem Posten der Mannschaft, Niemand. Ich vermuthete, der Kapitän Nemo müsse sich im Gehäuse des Steuerers befinden. Das Beste war abwarten. Wir gingen wieder in den Salon.

Die Verwünschungen des Canadiers übergehe ich. Er konnte nun seinen ganzen Zorn auslassen.

Ich ließ ihn seiner üblen Laune ganz nach Belieben Luft machen, ohne etwas zu erwidern.

In dieser Lage befanden wir uns seit zwanzig Minuten, indem wir das geringste Geräusch im Innern des Nautilus belauschten, als der Kapitän Nemo eintrat. Er schien uns nicht zu sehen. Seine gewöhnlich so bewegungslose Physiognomie gab eine gewisse Unruhe zu erkennen. Er sah schweigend auf den Compaß, das Manometer, und legte seinen Finger auf einen Punkt der Karte, in der Gegend der Süd-Meere.

Ich mochte ihn nicht unterbrechen. Nur, als er nach einer kleinen Weile sich zu mir wendete, sagte ich, indem ich mich eines Ausdrucks, welchen er in der Torres-Straße gebraucht hatte; bediente:

»Ein Zwischenfall, Kapitän?

– Nein, mein Herr, erwiderte er, dieses Mal ein Unfall.

– Von ernstlicher Bedeutung?

– Vielleicht.

– Ist die Gefahr dringend?

– Nein.

– Der Nautilus sitzt fest?

– Ja.

– Und woran liegt die Schuld?

– In einer Laune der Natur, nicht in der Unerfahrenheit der Menschen. Bei unseren Manoeuvren ist kein Versehen vorgekommen. Doch die Wirkung der Gleichgewichtsgesetze läßt sich nicht hemmen. Man kann wohl menschlichen Gesetzen Trotz bieten, aber nicht den Naturgesetzen sich widersetzen.«

Diese Antwort gab mir keine Auskunft.

»Darf ich wissen, mein Herr, fragte ich ihn, was diesen Unfall veranlaßt hat?

– Ein ungeheurer Eisblock, ein ganzer Berg, hat sich umgewendet, erwiderte er. Wenn die Eisberge durch wärmeres Wasser oder wiederholte Stöße an ihrer Basis untergraben sind, verändert sich ihr Schwerpunkt. Dann wendet sich die ganze Masse, sie stürzen um. Dieser Fall ist eingetreten. Ein solcher Eisblock ist beim Umstürzen wider den Nautilus, der unter’m Wasser schwamm, gefallen. Dann glitt er darunter, hob ihn mit unwiderstehlicher Gewalt in die Höhe und brachte ihn in minder dichte Schichten, wo er jetzt auf der Seite fest liegt.

– Aber kann man den Nautilus nicht durch Entleeren seiner Behälter frei machen, so daß er wieder in’s Gleichgewicht kommt?

– Das geschieht in diesem Augenblick, mein Herr, Sie können hören, wie die Pumpen arbeiten. Sehen Sie auf den Zeiger des Manometer. Er zeigt an, daß der Nautilus im Steigen begriffen ist, aber der Eisblock steigt mit ihm zugleich, und bis daß ein Hinderniß seine steigende Bewegung hemmt, bleibt unsere Lage unverändert.«

In der That, der Nautilus lag fortwährend aus der rechten Seite. Ohne Zweifel würde er sich aufrichten, wenn der Block selbst fest läge. Aber in diesem Augenblicke, wer weiß, ob wir nicht an die Eisdecke oben anstoßen, ob wir nicht erschrecklich zwischen die beiden Eisoberflächen gedrängt wurden?

Ich überdachte alle Consequenzen dieser Lage. Der Kapitän Nemo beobachtete unablässig das Manometer. Der Nautilus war seit dem Herabsturz des Eisberges um etwa hundertundfünfzig Fuß gestiegen, aber er blieb stets in demselben Winkel zur senkrechten Linie.

Plötzlich spürte man im Schiffsraum eine leichte Bewegung. Offenbar richtete sich der Nautilus ein wenig auf. Die hängenden Gegenstände nahmen allmälig ihre richtige Lage wieder ein. Die Wände wurden fast wieder senkrecht. Keiner von uns sprach nur ein Wort. Mit unruhigem Gemüth beobachteten, spürten wir das Wiederaufrichten. Der Fußboden wurde wieder wagrecht.

»Endlich sind wir aufrecht! rief ich aus.

– Ja, sagte der Kapitän Nemo, und ging nach der Thüre des Salons zu.

– Aber werden wir wieder flott? fragte ich.

– Zuverlässig, erwiderte er, da die Behälter noch nicht leer sind; und sind sie leer, so muß der Nautilus wieder zur Meeresoberfläche aufsteigen.«

Der Kapitän ging hinaus, und ich sah bald, daß man auf seinen Befehl die aufsteigende Bewegung des Nautilus gehemmt hatte. Wirklich würde er bald wider die untere Seite der Eisdecke gestoßen sein, und es war besser, ihn etwas tiefer sich bewegen zu lassen.

»Wir sind gut davon gekommen! sagte darauf Conseil.

– Ja, wir konnten zwischen diesen Eisblöcken erdrückt oder wenigstens eingesperrt werden. Und dann, Luftmangel … Ja! wir sind gut durchgekommen!

– Wenn jetzt alles zu Ende ist!« brummte Ned-Land.

Ich wollte mich nicht mit dem Canadier in eine unnütze Erörterung einlassen, und gab ihm keine Antwort. Uebrigens öffneten sich in diesem Augenblick die Laden, und durch das freie Glas drang das äußere Licht ein.

Wir befanden uns, wie gesagt, im freien Wasser; aber in einer Entfernung von zehn Meter ragte auf beiden Seiten des Nautilus eine glänzende Eiswand. Ueber und unter uns eine gleiche Wand, Ueber uns, weil die untere Seite der Eisdecke gleichsam einen ungeheuren Plafond bildete. Unter uns, weil der herabgestürzte Block, indem er allmälig hinabrutschte, an den Seitenwänden auf zwei Stützpunkte gestoßen war, welche ihn in dieser Lage fest hielten. Der Nautilus war in einem wahrhaften Eistunnel eingesperrt. Es war ihm jedoch leicht, durch Vorwärts- oder Rückwärtsfahren aus demselben herauszukommen, um dann einige hundert Meter tiefer freie Bahn unter der Eisdecke zu finden.

Die Leuchte am Plafond war erloschen, und dennoch war der Salon von starkem Licht zum Blenden erhellt, weil die Lichtströme des Fanal von den Eiswänden in großer Stärke zurückgestrahlt würden. Unbeschreiblich war die Wirkung der Voltaischen Strahlen auf die großen launenhaft gestalteten Eisblöcke mit ihren verschiedenen Winkeln, Spitzen, kleinen Flächen, welche jede nach Beschaffenheit ihrer Adern ein verschiedenes Licht zurück warfen, eine unerschöpfliche Mine von Edelgestein, besonders von Saphir, der seine blauen Strahlen mit den grünen des Smaragds durchkreuzte.

»Wie herrlich schön! Wie schön! rief Conseil aus.

– Ja! sagte ich, ’s ist ein wundervoller Anblick. Nicht wahr, Ned?

– Ei, Tausend Teufel! ja erwiderte Ned-Land. Prachtvoll! Ich bin entrüstet, daß ich nicht nein sagen kann. So etwas hat man noch nie gesehen. Aber dieser Anblick kann uns theuer zu stehen kommen. Und, offen gestanden es kommt mir vor, als sähen wir hier Dinge, die Gott den Blicken der Menschen hat entziehen wollen!«

Ned hatte Recht. Es war allzu schön. Plötzlich schrie Conseil laut auf; ich drehte mich um.

»Was giebt’s? fragte ich.

– Schließe mein Herr seine Augen! Schaue nicht!«

Bei diesen Worten hielt Conseil seine Hände auf beide Augen.

»Was ist Dir, lieber Junge?

– Ich bin geblendet, blind!«

Meine Blicke richteten sich unwillkürlich nach dem Fenster, aber ich konnte das entgegen strahlende Feuer nicht aushalten.

Ich verstand, was vorgegangen war. Der Nautilus hatte sich mit größter Schnelligkeit in Bewegung gesetzt. Aller ruhige Glanz der Eiswände hatte sich dadurch in blitzende Strahlen verwandelt und es war, als fahre der Nautilus durch eine Scheide von Blitzen.

Darauf schlossen sich die Läden des Salons wieder.

Wir hielten unsere Hände vor die Augen, die ganz von dem concentrischen Lichtschein durchdrungen waren, welcher vor der Netzhaut flimmert, wenn sie von den Sonnenstrahlen allzustark getroffen wird. Es bedurfte einiger Zeit, um die Unruhe unseres Blickes zu beruhigen.

Endlich ließen wir die Hände wieder herabsinken.

»Meiner Treu, das hätte ich niemals geglaubt, sagte Conseil.

– Und ich glaube es noch nicht! entgegnete der Canadier.

– Wenn wir wieder auf die Erde kommen werden, fügte Conseil bei, überreizt von so vielen Naturwundern, was werden wir dann von dem armseligen Festland denken, und von den kleinen, aus der Menschenhand herrührenden Werken! Nein! Die bewohnte Welt ist unser nicht mehr würdig!«

Solche Worte im Munde eines phlegmatischen Flamländers zeigte, bis zu welchem Höhepunkt der Wallung unser Enthusiasmus gestiegen war. Aber der Canadier ermangelte nicht, ein Tröpfchen kaltes Wasser hinein zu gießen.

»Die bewohnte Welt! sagte er mit Kopfschütteln. Seien Sie nur ruhig, Freund Conseil, wir werden nie dahin zurückkehren!«

Es war damals fünf Uhr früh. In diesem Augenblicke spürten wir, daß der Nautilus mit dem Vordertheil widerstieß. Ich dachte mir, daß sein Schnabel wider einen Eisblock gefahren sei. Dies mußte ein falsches Manoeuvre sein, denn der unterseeische, von Blöcken versperrte Tunnel bot nicht eine leichte Fahrt. Also meinte ich, der Kapitän Nemo werde seinen Weg ändernd diese Hindernisse umfahren oder den Krümmungen des Tunnels folgen. Jedenfalls konnte die Fahrt vorwärts nicht gänzlich gehemmt sein. Doch nahm der Nautilus, gegen meine Erwartung, eine entschiedene Rückwärtsbewegung vor.

»Wir fahren rückwärts? sagte Conseil.

– Ja, antwortete ich. Der Tunnel muß nach dieser Seite hin ohne Ausgang sein.

– Und dann? …

– Dann, sagte ich, ist das Verfahren sehr einfach. Wir fahren den Weg, welchen wir kamen, zurück, um an der südlichen Mündung heraus zu kommen. Das ist alles.«

Mit diesen Worten wollte ich mehr Beruhigung zu erkennen geben, als ich wirklich hatte. Indessen wurde die Rückwärtsbewegung des Nautilus rascher und brachte uns mit großer Schnelligkeit weiter.

»Das wird nur eine Verzögerung sein, sagte Ned-Land.

– Was liegt daran, einige Stunden früher oder später, wenn wir nur heraus kommen.

– Ja, widerholte Ned-Land, wenn wir nur heraus kommen!«

Ich ging auf einige Augenblicke aus dem Salon in die Bibliothek. Meine Gefährten blieben schweigend sitzen. Ich warf mich bald auf einen Divan und nahm ein Buch in die Hand, das meine Augen mechanisch durchliefen.

Nach einer Viertelstunde trat Conseil zu mir heran und sprach:

»Ist es ein interessantes Buch, worin Sie lesen?

– Sehr interessant, erwiderte ich.

– Das glaube ich. Es ist meines Herrn eigenes Werk!

– Mein Werk?«

Wirklich hatte ich mein eigenes Werk: »Ueber die großen Meerestiefen« in der Hand, was ich gar nicht vermuthet hatte. Ich machte das Buch zu und setzte meinen Spaziergang fort. Ned und Conseil standen auf, um sich zurück zu ziehen.

»Bleiben Sie, meine Freunde, sagte ich, indem ich sie zurückhielt. Bleiben wir beisammen, bis wir aus der Sackgasse wieder heraus sind.

– Wie es meinem Herrn beliebt,« erwiderte Conseil.

Es verflossen wieder einige Stunden. Ich sah häufig auf die an der Wand des Salons hängenden Instrumente. Das Manometer zeigte, daß der Nautilus sich standhaft in einer Tiefe von dreihundert Meter hielt; der Compaß, daß er immer südwärts fuhr; das Log, daß er zwanzig Meilen in der Stunde fuhr, was in einem so engen Raum etwas Außerordentliches war. Aber der Kapitän Nemo wußte, daß er nicht genug eilen konnte, und daß damals die Minuten Jahrhunderte galten.

Um acht Uhr fünfundzwanzig Minuten spürten wir einen abermaligen Stoß; diesmal am Hintertheil. Ich erbleichte. Meine Gefährten waren zu mir getreten. Ich erfaßte Conseil’s Hand. Wir fragten uns mit Blicken, und zwar directer, als Worte unsere Gedanken ausgedrückt hätten.

In dem Augenblick trat der Kapitän in den Salon. Ich ging auf ihn zu.

»Der Weg ist auch im Süden versperrt? fragte ich.

– Ja, mein Herr. Der Eisberg hat mit einer Wendung jeden Ausweg abgeschnitten.

– Wir sind abgesperrt?

– Ja.«

Sechzehntes Capitel

Sechzehntes Capitel

Luftmangel

Also befanden wir uns in einem Kerker, über und unter uns, und ringsum undurchdringliche Eiswände. Der Canadier schlug fürchterlich mit der Faust auf den Tisch. Conseil schwieg. Ich sah dem Kapitän in’s Angesicht; seine Züge waren, wie gewöhnlich, rührungslos. Er kreuzte die Arme, sann nach. Der Nautilus war unbeweglich.

Der Kapitän ergriff das Wort:

»Meine Herren, sprach er in ruhigem Tone, in unserer jetzigen Lage giebt es zwei Arten zu sterben.«

Der unbegreifliche Mann sprach wie ein Professor der Mathematik, der einen Satz demonstrirt.

»Erstens, fuhr er fort, den Tod des Erdrückens, und zweitens den des Erstickens. Vom Hungertode rede ich nicht, denn unsere Lebensmittel reichen gewiß weiter aus, als unser Leben.

– Ein Ersticken, Kapitän, erwiderte ich, ist doch wohl nicht zu besorgen, denn unsere Behälter sind gefüllt.

– Richtig, versetzte der Kapitän Nemo, aber sie liefern nur noch für zwei Tage unseren Bedarf an Luft. Bereits sind wir sechsunddreißig Stunden unter’m Wasser, und die schwüle Atmosphäre des Nautilus bedarf der Erneuerung, binnen achtundvierzig Stunden wird unser Vorrath zu Ende sein.

– Nun, Kapitän, so müssen wir uns vor Ablauf von achtundvierzig Stunden frei machen!

– Wenigstens wollen wir einen Versuch machen, die uns umgebende Wand zu durchbrechen.

– Auf welcher Seite? fragte ich.

– Das müssen wir erst durch Sondiren erfahren. Ich will den Nautilus auf die innere Bank aufsitzen lassen, und meine Leute werden in ihren Skaphandern die Eishülle an der mindest dicken Stelle durchhauen.

– Kann man die Läden des Salons öffnen?

– Ohne Nachtheil. Wir sind nicht mehr in Bewegung.«

Der Kapitän ging hinaus. Bald gab ein Rauschen zu erkennen, daß das Wasser in die Behälter strömte. Der Nautilus senkte sich langsam und saß auf dem Eisgrunde in einer Tiefe von dreihundertundfünfzig Metern.

»Meine Freunde, sprach ich, unsere Lage ist ernst, aber ich zähle auf Ihren Muth und Ihre Energie.

– Mein Herr, erwiderte der Canadier, jetzt ist es nicht Zeit zu Beschuldigungen. Ich werde alles thun für das allgemeine Beste.

– Gut, Ned, sagte ich, und reichte dem Canadier die Hand.

– Ich verstehe, fuhr er fort, die Hacke so gut zu führen, wie die Harpune, und wenn ich nützlich sein kann, stehe ich dem Kapitän zu Diensten.

– Er wird Ihren Beistand nicht ablehnen. Kommen Sie, Ned.«

Ich führte den Canadier in die Kammer, wo die Leute des Nautilus ihre Skaphander anlegten. Ich theilte dem Kapitän Ned’s Anerbieten mit und es wurde angenommen.

Der Canadier legte seine Meerkleidung an, und war augenblicklich zur Arbeit bereit. Jeder von ihnen trug auf dem Rücken seinen Rouquayrol-Apparat, der aus den Behältern reichlich mit reiner Luft gefüllt war.

Es war das ein ansehnliches, aber nothwendiges Darlehen. Die Ruhmkorff’schen Leuchten waren nicht nöthig, weil das Wasser genug erhellt war.

Als Ned angekleidet war, begab ich mich in den Salon zurück, nahm mit Conseil Platz vor den Fenstern, deren Läden geöffnet wurden, und besah die umgebenden Schichten, worauf der Nautilus ruhte.

Gleich darauf sahen wir ein Dutzend Mann auf der Eisbank sich aufstellen, unter ihnen Ned, der durch seinen hohen Wuchs kenntlich war. Der Kapitän Nemo befand sich auch bei ihnen.

Bevor man zum Durchhauen schritt, mußte man sondiren, um gewiß zu sein, wo die Arbeiten am besten vorzunehmen waren. Lange Sonden wurden an den Seitenwänden hinab gelassen; aber bei fünfzehn Meter wurden sie noch durch die dicke Wand aufgehalten. Nach unten waren wir zehn Meter vom Wasser geschieden; so dick war dieses Eisfeld. Demnach handelte sich’s darum, ein Stück desselben von der Größe des Nautilus an seiner Wasserlinie auszuhauen. Es betrug ungefähr sechstausendfünfhundert Kubikmeter für ein Loch, wodurch wir unter das Eis gelangen konnten.

Die Arbeit wurde unverzüglich in Angriff genommen, und mit unermüdlicher Ausdauer gefördert. Der Kapitän ließ auf der linken Seite des Nautilus acht Meter weit eine Grube abstecken. Darauf bohrten seine Leute an verschiedenen Punkten ihres Umfangs zu gleicher Zeit sie an. Bald griff die Hacke diese feste Masse kräftig an, und große Blöcke wurden abgelöst.

Die specifische Schwere ergab den merkwürdigen Erfolg, daß diese Blöcke, weil sie leichter als das Wasser waren, zur Decke des Tunnels so zu sagen empor flogen, so daß diese um so viel an Dicke zunahm, als der Boden dünner wurde.

Nach zwei Stunden rüstiger Arbeit kehrte Ned-Land erschöpft zurück, und wurde von frischen Arbeitern abgelöst, zu denen wir, Conseil und ich, uns gesellten. Der Schiffslieutenant des Nautilus leitete uns an.

Das Wasser kam mir ausnehmend kalt vor, aber ich wurde bald durch Schwingen der Hacke warm. Meine Bewegungen, obwohl unter einem Drucke von dreißig Atmosphären, waren sehr frei.

Als ich nach zweistündiger Arbeit zurück kehrte, um auszuruhen und einige Nahrung zu mir zu nehmen, fand ich einen bedeutenden Unterschied zwischen dem reinen Stoff, welchen mir der Apparat Rouquayrol zuführte, und der Atmosphäre des Nautilus, die schon voll Kohlensäure war. Die Luft war seit achtundvierzig Stunden nicht erneuert worden, und ihre belebenden Eigenschaften waren beträchtlich schwächer. Doch hatten wir nach Verlauf von zwölf Stunden nicht mehr, als eine Schicht von der Dicke eines Meters weggeschafft, das machte etwa sechshundert Kubikmeter. Nahmen wir an, daß in den folgenden zwölf Stunden das Gleiche geleistet wurde, so bedurfte es noch fünf Nächte und vier Tage, um das Unternehmen zum Ziel zu führen.

»Fünf Nächte und vier Tage! sagte ich zu meinen Gefährten, und wir haben nur noch für zwei Tage Luft in den Behältern.

– Ohne zu rechnen, versetzte Ned, daß wir, wenn wir einmal aus diesem verdammten Kerker heraus sind, dann doch noch unter der Eisdecke stecken ohne eine mögliche Verbindung mit der Atmosphäre!«

Die Bemerkung war richtig. Wer konnte damals berechnen, wieviel Zeit bis zu unserer Befreiung mindestens erforderlich war? Mußten wir nicht alle ersticken, bevor der Nautilus wieder an die Oberfläche des Wassers kommen konnte? Sollte er das Loos haben, sammt Allem, die er in sich faßte, in dieser Eisgruft zu Grunde zu gehen? Schreckliche Lage. Aber alle sahen der Gefahr in’s Angesicht, entschlossen, bis zum letzten Augenblick ihre Schuldigkeit zu thun.

Während der Nacht wurde, meiner Berechnung gemäß, abermals eine Schicht von einem Meter fortgeschafft. Aber, als ich am Morgen in meinem Skaphanderkleide bei einer Temperatur von sechs bis sieben Grad unter Null durch die flüssige Masse schritt, bemerkte ich, daß die Seitenwände sich allmälig annäherten. Die von unserem Graben entfernten Wasserschichten, welche nicht durch die Arbeit und die Werkzeuge in Bewegung gesetzt wurden, zeigten ein Bestreben fest zu gefrieren. Was konnten wir bei dieser neuen und dringenden Gefahr für Aussicht auf Rettung haben, und wie konnten wir das Einfrieren vermeiden, wodurch die Wände des Nautilus wie Glas zersprengt würden?

Ich ließ meine beiden Gefährten von dieser neuen Gefahr nichts merken, um nicht ihre für die Rettungsarbeit nöthige Thatkraft herabzustimmen. Aber als ich an Bord zurück kam, bemerkte ich dem Kapitän Nemo den ernsten Fall.

»Ich weiß es, sprach er mit derselben Kaltblütigkeit, welche unter den fürchterlichsten Umständen keine Aenderung erlitt. Es ist eine weitere Gefahr, sehe aber keine Mittel, sie abzuwenden. Die einzige Aussicht auf Rettung besteht darin, daß man dem Festfrieren zuvorkommt. Das ist alles.«

Zuvorkommen! An solche Art zu reden hätte ich gewöhnt sein müssen!

An diesem Tage führte ich einige Stunden lang die Hacke mit hartnäckiger Ausdauer. Diese Arbeit hielt mich aufrecht. Zudem war man bei dieser Arbeit nicht in der verdorbenen Luft des Nautilus, und athmete direct die reine Luft, welche den Apparaten aus den Behältern geliefert wurde.

Gegen Abend war unser Graben abermals um einen Meter tiefer geworden. Als ich wieder an Bord kam, war ich durch die Kohlensäure, womit die Luft gesättigt war, dem Ersticken nahe. Ach! wie mußten wir die chemischen Mittel vermissen, wodurch man das verdorbene Gas entfernen kann! An Sauerstoff hatten wir keinen Mangel, und wir konnten ihn durch unsere Voltaischen Säulen aus dem Wasser durch Zersetzung gewinnen. Aber wozu half es, da die durch unser Athmen erzeugte Kohlensäure alle Theile des Schiffes durchdrungen hatte. Um dieselbe fortzuschaffen hätte man Gefäße mit kaustischem Kali füllen und beständig rütteln müssen. Dieser Stoff, welcher durch sonst nichts zu ersetzen war, fehlte aber an Bord.

Diesen Abend mußte der Kapitän Nemo die Hähne seiner Luftbehälter öffnen, und einige Ströme reiner Luft in den Nautilus hineinlassen. Ohne diese Vorsorge wären wir nicht wieder aufgewacht.

Am folgenden Tage, den 26. März, setzte ich meine Grubenarbeit mit dem fünften Meter fort. Die Seitenwände und die innere Fläche der Eisdecke wurden sichtbar dicker. Es war unverkennbar, daß sie zusammen gefrieren würden, ehe der Nautilus frei sein konnte. Muthlosigkeit befiel mich einen Augenblick, und die Hacke entfiel meinen Händen. Wozu das Graben, wenn wir ersticken, wenn wir durch das zu Stein gefrierende Wasser zerdrückt werden mußten.

In diesem Augenblicke kam der Kapitän Nemo, welcher die Arbeit leitete und selbst Hand anlegte, in meine Nähe. Ich rührte ihn mit der Hand an, und zeigte auf die Wände unseres Kerkers, dessen linke Wand sich nun fast vier Meter dem Nautilus genähert hatte.

Der Kapitän verstand mich, und winkte mir, ihm zu folgen. Wir begaben uns an Bord; ich legte meinen Skaphander ab und begleitete ihn in den Salon.

»Herr Arronax, sagte er zu mir, wir müssen irgend ein heroisches Mittel versuchen, sonst werden wir in diesem gefrierenden Wasser wie von Kitt umgossen.

– Ja! sagte ich, aber was anfangen?

– Ach! Wäre doch mein Nautilus stark genug, um diesen Druck auszuhalten, ohne erdrückt zu werden!

– Nun? fragte ich, da ich des Kapitäns Idee nicht begriff.

– Begreifen Sie nicht, fuhr er fort, daß dieses Gefrieren des Wassers uns dann zum Beistand käme! Sehen Sie nicht, daß es durch sein Gefrieren die Eisfelder, welche uns gefangen halten, zersprengen würde, wie es beim Gefrieren die härtesten Steine zersprengt! Merken Sie nicht, daß es so, anstatt ein Agent der Zerstörung, ein Agent der Rettung sein würde!

– Ja! Kapitän, vielleicht. Aber so groß auch die Widerstandskraft des Nautilus gegen Eindrückung sein mag, – diesen fürchterlichen Druck würde er nicht aushalten können, und so platt werden, wie ein Stück Blech.

– Ich weiß es, mein Herr. Man muß also nicht auf den Beistand der Natur rechnen, sondern nur auf uns selbst. Man muß dem Festgefrieren einen Widerstand entgegen setzen; man muß es hemmen. Nicht allein die Seitenwände verengen sich, es bleiben beim Nautilus vorne und hinten keine zehn Fuß Wasser. Das Einfrieren wird von allen Seiten zu uns heran kommen.

– Wieviel Zeit, fragte ich, wird die Luft der Behälter uns noch das Athmen an Bord gestatten?

Der Kapitän sah mir in’s Gesicht.

»Uebermorgen, sprach er, werden die Behälter leer sein.«

Ein kalter Schweiß befiel mich. Und doch war diese Antwort nicht zum Erstaunen. Am 22. März war der Nautilus im freien Meere untergetaucht. Jetzt hatten wir den 26. Seit fünf Tagen also lebten wir von dem Vorrath an Bord! Und den Rest von athmungsfähiger Luft mußte man für die Arbeiter aufsparen. Im Augenblick, da ich dieses schreibe, befällt noch beim Gedanken daran ein unwillkürlicher Schrecken mein ganzes Wesen.

Doch der Kapitän sann nach, schweigend, unbeweglich. Man sah, eine Idee fuhr ihm durch den Kopf. Aber er schien sie abzuweisen. Er antwortete sich mit Nein. Endlich entfuhren seinen Lippen die Worte:

»Siedend Wasser!

– Siedend Wasser? rief ich.

– Ja, mein Herr. Wir sind in einem verhältnißmäßig engen Raum eingeschlossen. Würden denn nicht siedende Wasserstrahlen, welche die Pumpen des Nautilus beständig ausströmten, die Temperatur in demselben erhöhen, und so das Gefrieren verzögern?

– Man muß es versuchen, sagte ich entschlossen.

– So machen wir den Versuch, Herr Professor.«

Das Thermometer gab damals außen sieben Grad unter Null an. Der Kapitän Nemo führte mich in die Küchen, wo ungeheure Destillations-Apparate in Thätigkeit waren, um durch Verdunstung trinkbares Wasser zu bereiten. Sie wurden mit Wasser gefüllt und die ganze Hitze der elektrischen Säulen wurde durch die Serpentinen getrieben. In einigen Minuten hatte dieses Wasser hundert Grad Hitze erreicht. Es wurde zu den Pumpen geleitet, während es durch frisches Wasser nach Verhältniß ersetzt wurde. Die elektrischen Säulen entwickelten eine solche Hitze, daß das aus dem Meere geschöpfte kalte Wasser nur den Apparat zu durchlaufen hatte, um siedend in die Pumpen zu gelangen.

Die Arbeit der Pumpen begann, und nach drei Stunden zeigte das Thermometer außen sechs Grad unter Null; zwei Stunden später nur noch vier.

»Es wird gelingen, sagte ich zum Kapitän, nachdem ich den Fortgang der Operation genau beobachtet hatte.

– Ich denke wohl, erwiderte er, wir werden nicht erdrückt werden. Nur das Ersticken ist noch zu fürchten.«

Während der Nacht stieg die Temperatur des Wassers auf einen Grad unter Null; eine höhere ließ sich nicht erzielen. Aber da das Gefrieren des Wassers nur bei zwei Grad vorgeht, so war ich endlich sicher, daß wir nicht einfrieren würden.

Am folgenden Tage, den 27. März, waren sechs Meter Eis herausgeschafft; vier blieben noch übrig. Das kostete noch achtundvierzig Stunden Arbeit. Die Luft im Innern des Nautilus ließ sich nicht mehr erneuern; sie wurde diesen Tag über fortwährend übler.

Es drückte mich eine unerträgliche Schwere. Gegen drei Uhr Nachmittags wurde dies Gefühl der Beklemmung auf’s Höchste gesteigert. Die Kinnladen wurden mir durch Gähnen verrenkt. Meine Lungen keuchten, indem sie das zum Athmen nöthige Luftbestandtheil suchten, welches immer spärlicher wurde. Eine moralische Erstarrung befiel mich; ich lag da ohne Kraft, fast ohne Besinnung. Mein wackerer Conseil, welcher dasselbe zu leiden hatte, wich nicht von meiner Seite. Er faßte meine Hand, suchte mich zu ermuthigen, und ich hörte ihn noch murmeln:

»Ach! könnte ich doch zu athmen aufhören, um meinem Herrn mehr Luft zu lassen!«

Thränen traten mir in die Augen, als ich das hörte.

Da diese schlimme Lage für uns alle unerträglich war, so legte man mit hastiger Freude das Skaphanderkleid an, um zu arbeiten. Die Arme ermüdeten, die Hände wurden wund, aber man achtete diese Beschwerden nicht. Hatte man doch Lebensluft für die Lungen! Man konnte athmen!

Und doch blieb Niemand länger als die ihm bestimmte Zeit bei der Arbeit. Jeder trat seinem keuchenden Genossen, der ihn ablöste, den lebenspendenden Ranzen ab. Der Kapitän Nemo ging mit dem Beispiel voran, unterwarf sich zuerst der strengen Ordnung. Kam die Stunde der Ablösung, so übergab er seinen Apparat, und kehrte in die verdorbene Atmosphäre zurück, stets ruhig, ohne Schwäche, ohne Murren.

An diesem Tage wurde die gewöhnliche Arbeit noch mit mehr Kraft fortgeführt. Es waren nur noch zwei Meter auf der ganzen Oberfläche fortzuschaffen; dann befanden wir uns im freien Meere. Aber die Luftbehälter waren beinahe leer; der kleine Rest mußte für die Arbeiter aufgehoben werden.

An Bord zurück gekehrt, war ich dem Ersticken nahe. Welche Nacht! Solche Leiden lassen sich nicht schildern. Am folgenden Morgen war mein Athmen unterdrückt; betäubender Schwindel machte mich einem Trunkenen gleich. Meine Gefährten hatten Gleiches zu erleiden. Einige Mann röchelten.

Nun, am sechsten Tage unserer Einsperrung, beschloß der Kapitän Nemo, da die Arbeit der Hacke und Schaufel zu langsam war, die Eisschicht, welche uns noch von dem Wasser trennte, zu zerdrücken. Dieser Mann bewahrte seine Kaltblütigkeit und Thatkraft, überwand durch moralische Stärke die physischen Schmerzen. Er dachte, handelte.

Auf seinen Befehl wurde das Fahrzeug leichter gemacht, d. h. durch Minderung seines specifischen Gewichts von seinem Eisboden emporgehoben. Als es flott war, zog man es über die ungeheure Grube, welche ausgehauen wurde. Darauf wurden seine Wasserbehälter gefüllt, daß es wieder abwärts ging und in die Grube sich einsenkte.

Jetzt begab sich die gesammte Mannschaft wieder an Bord, die doppelte Verkehrspforte wurde geschlossen. Der Nautilus lag auf der nur noch einen Meter dicken Eisschicht, welche an unzähligen Stellen von der Sonde durchbohrt war. Die Hähne der Behälter wurden weit geöffnet, und hundert Kubikmeter Wasser stürzten ein, und erhöhten das Gewicht des Nautilus um hunderttausend Kilogramm.

Wir warteten, horchten, vergaßen unsere Leiden, stets hoffend. Ein letzter Wurf im Spiel um unsere Rettung.

Trotz dem Summen in meinem Kopf hörte ich bald ein Dröhnen unter dem Rumpf des Nautilus. Das Niveau legte sich tiefer. Das Eis krachte gewaltig, und wie Papier zerreißt, wurde die Schicht vom herab sinkenden Nautilus zersprengt.

»Wir dringen durch!« murmelte Conseil in mein Ohr.

Unfähig zu antworten, ergriff ich seine Hand und drückte sie unwillkürlich krampfhaft.

Mit einem Male sank der Nautilus in Folge seines bedeutend verstärkten Gewichts wie eine Kugel in die Tiefe hinab!

Nun wurde die elektrische Kraft den Pumpen zugewendet, welche alsbald das Wasser aus den Behältern trieben. Nach einigen Minuten war unser jähes Hinabsinken gehemmt; bald zeigte das Manometer eine aufsteigende Bewegung und die Schraube trieb uns mit höchster Geschwindigkeit dem Norden zu.

Doch wie lange sollte die Fahrt unter der Eisdecke noch dauern? Einen Tag noch? Das hätte ich nicht mehr erlebt!

Auf einem Divan der Bibliothek liegend war ich am Ersticken. Mein Angesicht war violett, meine Lippen blau, meine Geisteskräfte gelähmt. Ich hörte, sah nicht mehr. Der Zeitbegriff war mir geschwunden. Meine Muskeln konnten sich nicht zusammenziehen.

Wie viele Stunden so verflossen, weiß ich nicht anzugeben. Aber ich hatte das Bewußtsein des beginnenden Todeskampfes.

Plötzlich kam ich wieder zu mir. Einige Tropfen Luft drangen in meine Lungen. Waren wir bereits an der Oberfläche? Waren wir aus der Versperrung heraus?

Nein! Meine wackeren Freunde, Ned und Conseil, opferten sich, um mich zu retten. Es waren einige Restchen Luft in einem Apparat geblieben, welche sie, anstatt selbst einzuathmen, für mich aufgehoben hatten, und träufelten mir, während sie selbst dem Ersticken sich näherten, das Leben tropfenweise ein! Ich wollte den Apparat zurück schieben; sie hielten mir die Hände, und ich schlürfte mit Lust den Athem.

Meine Blicke fielen auf die Uhr. Es war elf Uhr Vormittags; es mußte der 28. März sein. Der Nautilus fuhr mit der erschrecklichen Geschwindigkeit von vierzig Meilen in der Stunde.

Wo befand sich der Kapitän Nemo? War er gestorben? Waren seine Genossen mit ihm erlegen?

In dem Augenblicke zeigte das Manometer, daß wir nur noch zwanzig Fuß von der Oberfläche waren. Blos ein Eisfeld trennte uns noch von der Atmosphäre. War es nicht möglich, dieses zu zertrümmern?

Vielleicht! Jedenfalls sollte der Nautilus den Versuch machen. Wirklich fühlte ich, daß er eine schiefe Lage annahm, das Hintertheil gesenkt, den Schnabel aufwärts. Um sein Gleichgewicht zu ändern, hatte ein Einführen von Wasser genügt. Darauf mit voller Dampfkraft getrieben, griff er die Eisdecke wie ein furchtbarer Widder von unten an. Er brachte sie allmälig zum Bersten, zog sich zurück und schoß mit größter Schnelligkeit wieder gegen dieselbe, zersprengte sie und gelangte durch einen letzten, mit äußerstem Ungestüm geführten Stoß auf die Oberfläche des Eises, welches er mit seinem Gewicht zerdrückte.

Die Lücke wurde geöffnet, so zu sagen, gesprengt, und die reine Luft drang nun in alle Räume des Nautilus.

Siebenzehntes Capitel

Siebenzehntes Capitel

Vom Cap Horn nach dem Amazonenstrom

Wie ich auf die Plattform kam, weiß ich nicht zu sagen. Vielleicht hatte mich der Canadier hinauf getragen. Aber ich athmete, schlürfte die belebende Seeluft. Meine beiden Gefährten an meiner Seite tranken in vollen Zügen die Erfrischung. Die Unglücklichen, welche lange Zeit die Nahrung entbehrten, dürfen nicht unbesonnen über die erste Nahrung, welche sich darbietet, herfallen. Wir dagegen brauchten uns nicht zurückzuhalten, konnten unseren Lungen die volle Erquickung des Einathmens gönnen, und der Seewind selbst übergoß uns mit dieser Wonne der Trunkenheit.

»Ach! sagte Conseil, wie erquickend ist der Sauerstoff! Jetzt braucht mein Herr nicht mehr mit Angst zu athmen. Es ist genug da für Jedermann!«

Ned-Land sprach nichts, aber er sperrte die Kinnladen auf, daß ein Haifisch erschrecken konnte. Und was für kräftige Athemzüge!

Allmälig kamen uns wieder die Kräfte, und als ich um mich blickte, sah ich, daß wir uns allein auf der Plattform befanden. Von der Bemannung nicht ein Einziger; auch der Kapitän Nemo nicht. Sonderbar genug begnügten sich die Seeleute mit der innen befindlichen Luft.

Meine ersten Worte waren Worte des Dankes und der Erkenntlichkeit gegen meine beiden Gefährten. Ned und Conseil hatten während der letzten Stunden dieses Todeskampfes mein Dasein verlängert. Ich konnte ihnen für diese Hingebung nicht genug Dankbarkeit zollen.

»Lassen Sie das, Herr Professor, erwiderte Ned-Land, es ist nicht der Mühe werth davon zu reden! Wir hatten kein Verdienst dabei. Es war nur ein Rechenexempel. Ihr Dasein ist mehr werth als das unsrige. Darum mußte es erhalten werden.

– Nein, Ned, versetzte ich, es war nicht mehr werth. Ueber einen edlen und guten Menschen geht nichts, und das seid Ihr!

– Gut! Gut! wiederholte der Canadier in Verlegenheit.

– Und Du, lieber Conseil, hast recht zu leiden gehabt.

– Doch nicht allzusehr, offen gesagt. Es fehlten mir zwar einige Schluck Luft, aber ich glaube, ich würde mich schon darein gefunden haben.«

Conseil war verlegen, daß er unpassend gesprochen, und brach ab.

»Meine Freunde, sprach ich tief gerührt, wir sind auf ewig mit einander verbunden und Sie haben Ansprüche auf mich …

– Ich werde diese mißbrauchen, versetzte der Canadier.

– Wie? sagte Conseil.

– Ja, fuhr Ned-Land fort, das Recht, Sie mit mir zu nehmen, wann ich diesen höllischen Nautilus verlassen werde.

– Zur Sache, sagte Conseil, fahren wir in guter Richtung?

– Ja, erwiderte ich, weil wir der Sonne zufahren, und hier ist die Sonne im Norden.

– Allerdings, fuhr Ned-Land fort, aber ich möchte wissen, ob wir wieder in’s Stille oder Atlantische Meer fahren, d. h. in besuchte oder verlassene Meere.«

Hierauf wußte ich nicht zu antworten, und ich fürchtete, der Kapitän Nemo werde uns eher vielmehr in den ungeheuren Ocean führen, welcher Asien und Amerika zugleich bespült, um seine unterseeische Rundreise zu vollenden und dort seine Unabhängigkeit vollständiger zu finden. Aber was wurde dann aus Ned-Land’s Plänen?

Wir mußten über diesen wichtigen Punkt bald im Reinen sein. Der Nautilus fuhr reißend schnell. Bald war man über den Polarkreis hinaus, und nun ging es nach dem Cap Horn zu. Am 31. März, um sieben Uhr Abends, befanden wir uns der Spitze Amerika’s gegenüber.

Nun waren alle überstandenen Leiden vergessen, unsere Gedanken waren nur auf die Zukunft gerichtet. Der Kapitän Nemo zeigte sich nicht mehr, weder im Salon, noch auf der Plattform. Da der Lieutenant jeden Tag die Lage feststellte, und auf die Karte eintrug, so war ich im Stande, die Richtung des Nautilus genau aufzunehmen. Diesen Abend nun war es zu meiner großen Befriedigung klar, daß wir durch das Atlantische Meer wieder nach Norden fuhren.

Ich theilte dem Canadier und Conseil das Ergebniß meiner Beobachtungen mit.

»Gute Neuigkeit, erwiderte der Canadier, aber wohin fährt der Nautilus?

– Das kann ich nicht sagen, Ned.

– Will sein Kapitän nach dem Südpol auch dem Nordpol Trotz bieten, und durch die berufene nordwestliche Durchfahrt in das Stille Meer kommen?

– Man sollte ihn nicht dazu herausfordern, erwiderte Conseil.

– Dann, sagte der Canadier, werden wir zuvor uns davon machen.

– Jedenfalls, fügte Conseil bei, ist dieser Kapitän Nemo ein ganzer Mann, und wir werden nicht bedauern, seine Bekanntschaft gemacht zu haben.

– Besonders wann wir von ihm fort sind!« versetzte Ned-Land.

Am folgenden Tage, den 1. April, als der Nautilus auf der Oberfläche fuhr, bekamen wir um Mittag westlich eine Küste in Sicht. Es waren die Feuerlande, ein Haufen Inseln, die sich zwischen 53 und 56° südlicher Breite und 67° 50′ und 77° 15′ westlicher Länge, dreißig französische Meilen lang und achtzig breit, erstrecken. Die Küste schien mir niedrig, aber in der Entfernung ragten hohe Berge empor. Ich glaubte sogar den Sarmiento zu sehen, der sich zweitausendundsiebenzig Meter hoch über dem Meeresspiegel erhebt, ein pyramidaler Schieferblock, mit sehr spitzigem Gipfel, der, je nachdem er mit Dünsten umgeben oder davon frei ist, »gutes oder schlechtes Wetter anzeigt«, wie Ned-Land sagte.

– Ein merkwürdiges Barometer, mein lieber Freund.

– Ja, mein Herr, ein natürliches Barometer, das mich noch nie getäuscht hat, wenn ich in der Magelhaenischen Straße fuhr.«

So eben zeigte sich diese Spitze in klarer Zeichnung von dem Hintergrund des Himmels. Ein Wahrzeichen guten Wetters.

Der Nautilus tauchte wieder unter und näherte sich der Küste, an welcher er nur einige Meilen weit vorüber fuhr. Durch die Fenster des Salons sah ich lange Lianen und Riesentang, das birntragende Meergras, wovon wir im freien Polarmeer einige Musterproben gesehen hatten; mit ihren glatten und klebrigen Fasern waren sie bis zu dreihundert Meter lang; wahre Taue, über einen Zoll dick und sehr zähe, dienen sie oft zum Festbinden der Schiffe. Ein anderes Kraut, unter dem Namen Velp bekannt, mit vier Fuß großen Blättern, die zwischen den korallenartigen Versteinerungen staken, bedeckte den Meeresgrund. Es diente Myriaden von Schal- und Weichthieren zum Lager und zur Nahrung; bot namentlich den Robben und Ottern ein prächtiges Mahl.

Ueber diesen fetten und üppigen Grund fuhr der Nautilus mit äußerster Schnelligkeit. Gegen Abend näherte er sich dem Archipel der Falklands-Inseln, deren steile Gipfel ich am folgenden Morgen erkennen konnte. Die Meerestiefe war mäßig. Ich dachte daher, nicht ohne Grund, daß diese beiden Inseln, umgeben von einer Menge Eilande, ehemals zu den Magelhaenischen Ländern gehörten.

Die Falklands-Inseln, welche jetzt den Engländern gehören, hießen früher, als sie französisch waren, Malouinen.

In diesen Gegenden brachten unsere Garne schöne Sorten von Algen herauf, und besonders eins Art Tang, an dessen Wurzeln die schönsten Muscheln hingen. Gänse und Enten ließen sich zu Dutzenden auf der Plattform nieder, und fanden bald ihren Platz in der Küche. Von Fischen beobachtete ich besonders eine Art Trichterfische, die zwei Decimeter lang und ganz mit weißlichen und gelben Flecken besäet waren.

Desgleichen hatte ich zahlreiche Quallen zu bewundern, die schönsten der Gattung, wie sie jenen Meeren eigenthümlich sind. Bald hatten sie die Gestalt eines halbrunden, sehr feinen Schirmchens, das mit rothbraunen Streifen geschmückt war und in zwölf regelmäßige Blumengehänge endigte; bald bildeten sie ein umgekehrtes Körbchen, woraus reiche Blätter und lange rothe Zweige herabhingen. Sie bewegten schwimmend ihre vier blattartigen Arme, und ließen ihren reichen Hauptschmuck von Fühlhörnern herabhängend in den Fluthen treiben. Ich hätte gerne einige Proben dieser zarten Zoophyten aufgehoben; aber es sind nur Wolken, Schatten und Schein; sie schmelzen und verdunsten, wenn sie aus ihrem Element heraus kommen.

Als die letzten Höhen der Falklands-Inseln unter’m Horizont verschwunden waren, tauchte der Nautilus zwanzig bis fünfundzwanzig Meter tief unter, und fuhr längs der amerikanischen Küste. Der Kapitän Nemo ließ sich nicht sehen.

Bis zum 3. April fuhren wir an den Küsten von Patagonien, bald unter’m Ocean, bald an der Oberfläche. Der Nautilus passirte die weite, von der Mündung des La Plata gebildete Untiefe, und befand sich am 4. April Uruguay gegenüber, aber fünfzig Meilen auf hoher See. Seine Richtung war immer nördlich längs den Krümmungen der südamerikanischen Küsten. Wir hatten damals sechzehntausend Lieues seit unserer Abreise aus den Japanischen Meeren zurückgelegt.

Gegen elf Uhr Vormittags wurde der Wendekreis des Steinbocks unter’m siebenunddreißigsten Meridian durchschnitten, und wir fuhren auf hohem Meere beim Cap Frio vorüber. Der Kapitän Nemo war, zum Aerger Ned-Land’s, nicht gerne in der Nähe dieser bewohnten Küsten Brasiliens, denn er eilte mit schwindelhafter Schnelligkeit. Kein Fisch, noch Vogel, so flink sie auch sein mochten, konnten uns begleiten, und die Naturmerkwürdigkeiten dieser Meere entzogen sich aller Beobachtung.

Diese reißende Eile dauerte einige Tage, und am 4. April Abends bekamen wir die östlichste Spitze Südamerikas, das Cap San Roque, in Sicht. Aber damals entfernte sich der Nautilus abermals, und suchte in größeren Tiefen ein unterseeisches Thal auf zwischen diesem Cap und Sierra Leona an der afrikanischen Küste. Dieses Thal theilt sich auf der Höhe der Antillen in zwei Richtungen, und endigt nördlich in eine enorme, neuntausend Meter tiefe Einsenkung. An dieser Stelle bildet der geologische Aufriß des Oceans bis zu den kleinen Antillen einen steilen senkrechten Abhang von sechs Kilometer, und auf der Höhe der Capverdischen Inseln eine andere, ebenso beträchtliche Wand. Diese beiden umschließen also die ganze versunkene Atlantis. Der Grund dieses ungeheuren Thales ist hier und da mit einigen Bergen besetzt, welche malerische Ansichten darbieten. Ich berichte dieses hauptsächlich nach den Karten im Manuskript, welche offenbar von der Hand des Kapitäns Nemo auf Grund seiner persönlichen Beobachtungen herrühren.

Zwei Tags lang wurden diese öden und tiefen Gewässer vermittelst der geneigten Ebenen besucht. Doch am 11. April stieg der Nautilus plötzlich wieder zur Oberfläche und wir bekamen das Land an der Mündung des Amazonenstromes zu sehen, dessen Wasser so weit hin und so beträchtlich ausströmt, daß das Meer auf einige Meilen seinen Salzgehalt verliert.

Wir hatten den Aequator durchschnitten, und ließen zwanzig Meilen westlich das französische Cayenne, wo wir leicht eine Zufluchtstätte gefunden hätten. Aber der Wind wehte zu stark und die wüthend aufgeregten Wellen hätten einem einfachen Boot nicht gestattet, ihnen zu trotzen. Ned-Land sah dies wohl selbst ein, denn er sprach kein Wort mit mir. Ich meinerseits spielte nicht mit einem Wort auf seine Fluchtprojecte an, denn ich wollte ihn nicht zu einem Versuch veranlassen, welcher unfehlbar gescheitert wäre.

Ich entschädigte mich leicht für diese Verzögerung durch interessante Studien. Während dieser beiden Tage, am 11. und 12. April, blieb der Nautilus auf der Oberfläche, und sein Sacknetz that einen wundervollen Fang an Zoophyten, Fischen und Reptilien.

Die Zoophyten waren zum großen Theil schöne Phyctalinen, zu den Strahlenthieren gehörig, unter anderem eine in diesem Ocean einheimische Gattung mit kleinem cylindrischen Stamm, der mit vertikalen Linien und rothen Punkten verziert, und mit einem wundervollen Strauß von Fühlfäden gekrönt war. Mollusken waren es von den bereits beschriebenen, Thurmschnecken, durchsichtige Hyalen, Argonauten, vortreffliche eßbare Tintenfische, einige Arten Calmar u. s. w.

Von Fischen, die ich noch nicht zu studiren Gelegenheit hatte, bemerkte ich einige Arten. Unter den Knorpelfischen eine Aalart, fünfzehn Zoll lang, mit grünlichem Kopf, violetten Flossen, bläulich grauem Rücken, braun silberfarbenem, lebhaft geflecktem Bauch, einem goldenen Ring um die Iris, merkwürdige Thiere, die im Süßwasser leben, und vermuthlich vom Amazonenstrom hierher getrieben wurden; kleine, einen Meter lange Haie, unter dem Namen Pantoffelfisch bekannt, grau und weißlich, deren in mehrere Reihen stehende Zähne rückwärts gekrümmt sind; Fledermaus-Seeteufel, eine Art gleichschenkeliger Triangel, röthlich, einen halben Meter groß, mit einer fleischigen Verlängerung der Brustflossen, wodurch sie das Aussehen von Fledermäusen bekommen, und mit einem hornartigen Ansatz neben den Nasenlöchern, weshalb man sie See-Einhorn benannte; einige Sorten Hornfische u. a. m.

Von Knochenfischen beobachtete ich eine große Menge, deren Aufzählung zu langweilig sein würde. Ich hebe daraus hervor: Goldflosser, auf denen Silber- und Goldglanz mit Rubin und Topasen sich mischen; phosphorescirende Goldschwanzbrassen; hellrothe Lippfische; drei Decimeter lange Sardinen mit lebhaftem Silberglanz. Besonders aber muß ich noch einen Fisch nennen, dessen Conseil noch lange Zeit gedenken wird.

Unser Garn brachte einen sehr flachen Rochen, der vollkommen wie eine kreisrunde Scheibe geformt war und zwanzig Kilogramm wog. Er war oben weiß, unten röthlich mit großen tiefblauen, schwarz gerandeten Flecken, hatte eine sehr glatte Haut und eine zweilappige Flosse. Er zappelte auf der Plattform, versuchte durch krampfhafte Bewegungen wieder in’s Meer zu kommen, und war im Begriff, mit einem letzten Satze diesen Zweck zu erreichen. Da stürzte sich Conseil auf ihn, und faßte ihn, ehe ich ihn noch abhalten konnte, mit beiden Händen.

Aber plötzlich lag er zu Boden geworfen und streckte die Beine in die Luft; an der Hälfte seines Körpers gelähmt, schrie er:

»Ach! mein Herr! mein Herr! zu Hilfe!«

Unterstützt vom Canadier hob ich ihn auf, und wir rieben ihn aus Leibeskräften. Als er wieder zum Bewußtsein kam, murmelte er mit gebrochener Stimme:

»Classe der Knorpelfische, Ordnung der Knorpelflosser, mit festen Kiemen, Unterordnung der phosphorescirenden, Familie der Rochen, Gattung der Zitterfische!«

– Ja wohl. Lieber, erwiderte ich, ein Zitterfisch hat Dich in den jämmerlichen Zustand versetzt.

– Ach, mein Herr kann mir’s wohl glauben, versetzte Conseil, aber ich werde mich an diesem Thiere rächen.

– Und wie?

– Ich werde es aufzehren.«

Dies that er noch denselben Abend, aber nur zur Revanche, denn offen gestanden, er war zähe wie Leder.

Es war ein Zitterfisch der schlimmsten Art, la Cumana, von dem Conseil getroffen wurde. Das seltsame Thier ist fähig, in einer so leitungsfähigen Umgebung, wie das Wasser ist, mehrere Meter weit die Fische mit seinem Blitz zu treffen, so stark ist die Kraft seines elektrischen Organes, dessen beide Hauptoberflächen nicht weniger als siebenundzwanzig Quadratfuß messen.

Am folgenden Tage, der 12. April, kam der Nautilus in der Nähe der Holländischen Küste, bei der Mündung des Maroni, vorbei. Daselbst lebten einige Trupp Seekühe beisammen. Es waren Manati, welche gleich dem Dugong zur Ordnung der Sirenen gehören. Diese schönen, friedlichen und unschädlichen Thiere, sechs bis sieben Meter groß, mußten wenigstens viertausend Kilogramm wiegen. Ich belehrte Ned-Land und Conseil, daß die Sorge der Natur diesen Säugethieren eine wichtige Rolle zugewiesen habe. Sie haben in der That, gleich den Robben, die Obliegenheit, die unterseeischen Wiesen zu beweiden, und also die Anhäufung von Kräutern zu zerstören, welche die Mündung der tropischen Flüsse versperren.

»Und wissen Sie, fügte ich bei, was erfolgt ist, seit die Menschen diese nützlichen Racen fast ganz vernichtet haben? Die verfaulten Gewächse haben die Luft verpestet und das gelbe Fieber erzeugt, wodurch diese herrlichen Gegenden verödet werden. Die Giftpflanzen sind unter diesen Meeren der heißen Zone zahlreicher geworden, und das Uebel hat sich von der Mündung des Rio de la Plata bis nach Florida unwiderstehlich entwickelt!

»Und darf man Toussenel glauben, so ist diese Plage noch unbedeutend gegen die, welche unsere Nachkommen treffen wird, wann die Wallfische und Robben in diesen Meeren vertilgt worden sind. Dann werden sie, voll Polypen, Quallen, Kalmar, ungeheure Heerde der Verpestung, weil es nicht mehr die weiten Magen giebt, welche von Gott beauftragt sind, die Oberfläche des Meeres abzuschäumen.«

Die Mannschaft des Nautilus, ohne jedoch diese Theorien zu verachten, erlegte ein halbes Dutzend dieser Manati. Es handelte sich in der That darum, die Vorrathskammer mit einem vortrefflichen Fleisch, welches noch vorzüglicher ist als Ochsen- und Kalbfleisch, zu versorgen. Diese Jagd bot kein Interesse dar. Die Manati ließen sich ohne Widerstand erlegen. Einige tausend Kilo Fleisch, zum Trocknen bestimmt, wurden an Bord gebracht. Eben so wurden durch einen reichen Fischfang die Vorräthe vermehrt.

Als der Fischzug vollendet war, näherte sich der Nautilus der Küste. Hier schliefen eine Anzahl See-Schildkröten auf der Oberfläche des Wassers. Es würde schwer gehalten haben sich ihrer zu bemächtigen, da das geringste Geräusch sie aufweckt, und ihr Schild sie gegen jede Harpune schützt. Aber mit Hilfe von See-Igeln, deren man einige im Garn gefangen hatte, gelang die Operation mit großer Sicherheit, denn dieses Thier ist wie eine Angel zu gebrauchen.

Die Bootsleute des Nautilus befestigten an den Schwanz dieser Fische einen Ring, der weit genug war, um ihre Bewegungen nicht zu hindern, und an diesen Ring ein langes Tau, das mit dem andern Ende an Bord fest war. Als die Thiere in’s Meer geworfen wurden, fingen sie sogleich ihre Rolle an, schwammen hin, und hingen sich an das Bauchschild der Schildkröten, und hielten da mit solcher Zähigkeit fest, daß sie nicht mehr los zu machen waren. Man zog sie dann sammt den Schildkröten an Bord.

Auf diese Weise fing man einige Cacuanen, die einen Meter lang waren und zweihundert Kilo wogen. Ihre Schilddecken, die mit großen, feinen, durchsichtigen, braun und weiß oder gelb gesprenkelten Horndecken bedeckt sind, haben einen hohen Preis. Zudem sind sie eßbar und von ausgezeichnetem Geschmack.

Nach diesem Fang verließen wir den Amazonenstrom und stachen während der Nacht wieder in die hohe See.

Achtzehntes Capitel

Achtzehntes Capitel

Riesenpolypen

Einige Tage lang entfernte sich der Nautilus beständig von der amerikanischen Küste. Offenbar wollte er nicht in dem mexikanischen Golf oder dem Meer der Antillen fahren. An Wassertiefe hätte es zwar dort nicht gemangelt, denn dieselbe beträgt durchschnittlich achtzehnhundert Meter; aber vermuthlich gefiel diese Gegend dem Kapitän Nemo deshalb nicht, weil sie mit Inseln besäet, und beständig von Booten befahren ist.

Am 16. April bekamen wir Martinique und Guadeloupe in einer Entfernung von etwa dreißig Meilen in Sicht. Eine Weile konnte ich ihre hohen Spitzberge sehen.

Der Canadier hatte darauf gerechnet, in dem Golf seine Pläne in Ausführung zu bringen, entweder, indem er an’s Land kam oder in eins der zahlreichen Boote, welche beständig von einer Insel zur andern fuhren; nun gerieth er in große Verlegenheit. Das Entrinnen wäre leicht gewesen, wenn es Ned-Land gelungen wäre, sich heimlich des Bootes zu bemächtigen. Aber in hoher See war nicht mehr daran zu denken.

Wir hatten, der Canadier, Conseil und ich, darüber eine lange Unterredung. Seit sechs Monaten waren wir Gefangene an Bord des Nautilus. Wir hatten siebenzehntausend Meilen zurück gelegt, und wie Ned-Land sagte, man sah keinen Grund dafür, daß es ein Ende nehmen werde. Er machte mir daher einen Vorschlag, dessen ich mich nicht versehen hatte; nämlich, an den Kapitän Nemo kategorisch die Frage zu richten, ob er im Sinne habe, uns ewig an seinem Bord fest zu halten?

Ein solcher Schritt mißfiel mir. Meiner Ansicht nach konnte er nicht zum Ziele führen. Man durfte nichts vom Commandanten des Nautilus hoffen; alles nur von uns selbst. Uebrigens wurde dieser Mann seit einiger Zeit düsterer, zurückgezogener, weniger gesellig. Er schien mich zu meiden; ich sah ihn nur in seltenen Fällen. Sonst machte es ihm Vergnügen, mir die unterseeischen Wunder auseinander zu setzen; jetzt überließ er mich meinen Studien, und kam nicht mehr in den Salon.

Welche Veränderung war mit ihm vorgegangen? Weshalb? Ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Vielleicht war ihm unsere Anwesenheit an Bord lästig? Jedoch konnte ich nicht hoffen, daß er fähig sei, uns die Freiheit wieder zu geben.

Ich bat daher Ned, mich überlegen zu lassen, bevor wir handelten. Wenn dieser Schritt keinen Erfolg hatte, so konnte derselbe seinen Argwohn wieder beleben, unsere Lage peinlicher machen, und den Projecten des Canadiers schaden. Ich fügte bei, daß wir uns in Beziehung auf unsere Gesundheit nicht im mindesten zu beschweren hatten. Ausgenommen das harte Probestück der Eisdecke des Südpols hatten wir uns niemals besser befunden, weder Ned, noch Conseil, noch ich. Diese gesunde Nahrung, diese zuträgliche Atmosphäre ließen Krankheiten nicht aufkommen, und für einen Mann, dem die Erinnerung an das Land nichts vermissen ließ, für einen Kapitän Nemo, der hier seine Heimat hat, hingeht, wohin er will, der auf Wegen, welche für andere, nicht für ihn selbst geheimnißvoll sind, auf sein Ziel zuschreitet, war mir eine solche Existenz begreiflich. Aber wir hatten mit der Menschheit nicht gebrochen. Ich meines Theils wollte nicht meine so merkwürdigen und so neuen Studien mit mir in’s Grab nehmen. Jetzt war ich berechtigt, das wahre Buch über das Meer zu schreiben, und ich wünschte, daß dieses Buch lieber früher wie später erschiene.

Auch hier, in diesen Gewässern der Antillen, zehn Meter unterhalb des Meeresspiegels, wenn ich durch die geöffneten Fenster sah, welche interessante Producte hatte ich in meinem Tagebuch zu verzeichnen! Unter anderen Zoophyten waren da die bekannten Galeerenquallen, große, längliche Blasen mit Perlmutterglanz, mit blauen Fühlfäden, die gleich Seidenfäden herabhängen wollten; reizende Medusen zum Anschauen, wahre Nesseln beim Anfühlen, indem sie eine ätzende Flüssigkeit träufeln ließen. Unter den Gliederthieren Ringwürmer von anderthalb Meter Länge mit rosenfarbigem Rüssel und siebenzehnhundert Fortbewegungsorganen, schlängelten sich unter’m Wasser, und warfen beim Vorbeifahren alle Strahlen des Sonnenspectrums. Unter den Fischen waren Rochen, zehn Fuß lang und sechshundert Pfund schwer, die bisweilen gleich einem dunkeln Laden unsere Fenster deckten; sechzehn Decimeter große Skomber, zur Gattung der großen Makrelen gehörig. Sodann in großen Schwärmen Meerbarben, mit goldenen Streifen vom Kopf bis zum Schwanz, wahre Juwelen, die schon von den römischen Damen besonders gesucht waren; endlich Stacheldeckel, mit smaragdenen Schnüren, in Sammt und Seide gehüllt, zogen vor unseren Blicken gleich stattlichen Herren; silberfarbige Mondfische stiegen am Horizont der Gewässer auf, gleich Monden im Silberschein ihres blassen Lichtes.

Wie manche wunderhafte Musterstücke hätte ich noch beobachten können, wäre nicht der Nautilus allgemach in tiefere Schichten hinabgegangen, bis zu zweitausend und dreitausendfünfhundert Meter, wo das Thierleben nur noch durch Seesterne, reizende Medusenhäupter, Blutzähne, und große Ufermollusken repräsentirt war.

Am 20. April waren wir wieder zu einer Höhe von durchschnittlich fünfzehnhundert Fuß aufgestiegen. Das nächste Land war damals der Archipel der Lucaischen Inseln, die an der Meeresfläche wie ein Haufen Pflastersteine liegen, Steile Felsen ragten da hoch unter dem Meere empör, grad anstrebende Mauern aus angefressenen Steinblöcken in mächtigen Schichten aufgebaut, dazwischen schwarze, dunkle Löcher, wohin unsere elektrischen Strahlen nicht durchdringen konnten.

Diese Felsen waren mit starkem Gebüsch überzogen, riesenhafte Laminarien und Seetang, ein wahres Spalier von Wasserpflanzen, einer Riesenwelt entsprechend.

Diese kolossalen Pflanzen führten uns, Conseil, Ned und mich im Gespräch auf die Riesenthiere des Meeres.

Etwa um elf Uhr machte mich Ned-Land auf ein fürchterliches Wimmeln in den großen Tangmassen aufmerksam.

»Nun, sagte ich, da sind ja die wahren Polypenhöhlen, und es würde mich nicht eben wundern, wenn wir einige dieser Ungeheuer zu sehen bekämen.

– Wie? sagte Conseil, Kalmar, bloße Kalmar, von der Classe der Kopffüßler?

– Nein, sagte ich, Meerpolypen von riesenhafter Größe. Freund Ned hat sich ohne Zweifel geirrt, denn ich sehe nichts.

– Das thut mir leid, versetzte Conseil. Ich möchte gerne so einem Ungeheuer in’s Angesicht schauen, von denen ich so viel reden hörte, und die ja selber Schiffe in den Abgrund ziehen können. Diese Ungethüme, man heißt sie Krak…

– Krach genügt schon, sagte der Canadier ironisch.

– Krakens, entgegnete Conseil, ohne sich um die Scherze seines Kameraden zu kümmern.

– Es wird mich nie Jemand davon überzeugen, sagte Ned-Land, daß es solche Thiere giebt.

– Warum nicht? erwiderte Conseil. Wir haben ja auch an den Narwal meines Herrn geglaubt.

– Und wir haben nicht Recht gehabt, Conseil.

– Allerdings! Aber andere glauben gewiß noch daran.

– Vermutlich, Conseil, aber ich für meinen Theil gebe ganz entschieden die Existenz solcher Ungeheuer nicht eher zu, als bis ich sie eigenhändig zerlegt habe.

– Also, fragte mich Conseil, glaubt mein Herr nicht an die Riesenpolypen?

– Wer den Teufel hat je daran geglaubt? rief der Canadier.

– Gar manche Leute, Freund Ned.

– Keine Fischer. Gelehrte, vielleicht!

– Entschuldigen Sie, Ned. Fischer und Gelehrte!

– Aber ich, sagte Conseil mit der ernstesten Miene von der Welt, erinnere mich wohl gesehen zu haben, wie ein großes Fahrzeug von den Armen eines Kopffüßlers unter’s Wasser hinab gezogen wurde.

– Sie haben das gesehen? fragte der Canadier.

– Ja, Ned.

– Mit eigenen Augen?

– Mit meinen eigenen Augen.

– Wo, wenn’s beliebt?

– Zu St. Malo, erwiderte Conseil, ohne sich irre machen zu lassen.

– Im Hafen? fragte Ned-Land ironisch.

– Nein, in einer Kirche, erwiderte Conseil.

– In einer Kirche! schrie der Canadier.

– Ja, Freund Ned. Ein Gemälde stellte den fraglichen Polypen dar.

– Gut! sagte Ned-Land mit hellem Lachen. Herr Conseil hat mich zum Besten.

– Wirklich, er hat Recht, sagte ich. Ich habe von diesem Gemälde reden hören; aber der dargestellte Gegenstand ist aus einer Legende genommen, und Sie wissen, was von Legenden in Hinsicht auf Naturgeschichte zu halten ist!

– Aber was ist denn Wahres an den Wundergeschichten? fragte Conseil.

– Nichts, meine Freunde, wenigstens nichts über die Grenzen der Wahrscheinlichkeit hinaus, um bis zur Fabel oder Legende gesteigert zu werden. Ja, doch für die Einbildungskraft der Erzähler bedarf es, wo nicht einer Ursache, doch eines Vorwandes. Unleugbar giebt’s Polypen und Kalmar von riesenhafter Größe; doch sind sie immer nicht so groß als Wallfische. Unsere Fischer sehen deren häufig, welche fast zwei Meter lang sind. Die Museen zu Triest und Montpellier haben zwei Meter große Skelette von Polypen. Uebrigens hat ein solches Thier, das nur sechs Fuß groß ist, Fühlfäden von siebenundzwanzig Fuß Länge. Und das reicht schon hin, um ein furchtbares Ungeheuer daraus zu machen.

– Fischt man sie noch heutiges Tages? fragte der Canadier.

– Wenn die Seeleute sie nicht fischen, so sehen sie doch solche. Einer meiner Freunde, der Kapitän Paul Bos zu Havre, hat mir oft versichert, er habe in den Indischen Meeren ein solches Ungeheuer von kolossaler Größe gesehen. Aber eine Thatsache zum Erstaunen, die keinen Zweifel mehr über die Existenz dieser Riesenthiere läßt, ist vor einigen Jahren, 1861, vorgefallen.

– Was für eine Thatsache? fragte Ned-Land.

– Ich will die Begebenheit erzählen. Im Jahre 1861 bemerkte die Mannschaft des Avisoschiffes Alecton nordöstlich von Teneriffa, ungefähr unter dem Breitegrade, wo wir uns jetzt befinden, ein Ungeheuer von Kalmar, das in diesen Gewässern schwamm. Der Commandant Bouguer näherte sich dem Thiere, griff es mit der Harpune und der Flinte an, ohne großen Erfolg, denn Kugel und Harpune drangen durch das Fleisch hindurch, daß weich wie eine Gallerte ohne festen Kern ist. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen gelang es den Leuten, eine Schlinge um den Körper der Molluske zu werfen. Diese Schlinge glitt bis zu den Schwanzflossen, wo sie festhielt. Darauf versuchte man das Thier an Bord zu ziehen, aber sein Gewicht war so bedeutend, daß es beim Hinaufziehen seinen Schwanz im Stiche ließ, und ohne diese Zierde in den Wogen verschwand.

– Das ist doch endlich eine Thatsache, sagte Ned-Land.

– Eine unbestreitbare Thatsache, wackerer Ned. Man hat auch vorgeschlagen, diese Polypen »Kalmar Bouguer« zu nennen.

– Und wie groß war das Thier? fragte der Canadier.

– Maß es nicht etwa sechs Meter? sagte Conseil, der am Fenster stehend, wiederholt die Spalten der Küstenwand besah.

– Gerade soviel, erwiderte ich.

– Waren nicht an seinem Kopf, fuhr Conseil fort, acht Fühlfäden, die sich wie eine Brut Schlangen über dem Wasser bewegten?

– Gerade so.

– Waren nicht seine vorstehenden Augen von ansehnlicher Größe?

– Ja, Conseil.

– Glich nicht sein Maul einem Papageischnabel, aber einem furchtbaren?

– Wirklich, Conseil.

– Nun denn! wenn’s meinem Herrn beliebt, versetzte ruhig Conseil, ist da nicht der Kalmar Bouguer, so ist’s doch ein Bruder desselben.«

Ich sah Conseil an. Ned-Land stürzte an’s Fenster.

»Das fürchterliche Thier!« rief er aus.

Ich sah ebenfalls hin, und konnte mich einer Bewegung des Widerwillens nicht erwehren. Vor meinen Augen bewegte sich ein gräßliches Ungeheuer, das einen Platz in den Wunderlegenden verdiente.

Es war ein Kalmar von kolossaler Größe, acht Meter lang. Derselbe bewegte sich äußerst schnell rückwärts nach dem, Nautilus zu, mit starrem Blick aus enorm großen Augen von graugrüner Farbe. Seine acht Arme, oder vielmehr Füße, befanden sich am Kopfe – weshalb man dieser Gattung Thiere den Namen Kopffüßler giebt – waren von doppelter Größe, wie der Leib, und ringelten sich gleich den Schlangen am Haupt der Furien. Deutlich konnte man zweihundert schröpfkopfartige Warzen erkennen, welche an der inneren Fläche der Fühlarme in Form von halbrunden Kapseln saßen. Diese legten sich mitunter am Fensterglas an, so daß sie einen luftleeren Raum bildeten. Das Maul des Ungeheuers, – ein hörnerner Schnabel von Gestalt wie der eines Papageis – öffnete und schloß sich vertical, wie eine Blechscheere. Aus dieser streckte es zischend eine Zunge von Hornsubstanz, welche ebenfalls mit mehreren Reihen spitzer Zähne besetzt war. Wie phantastisch! Eine Molluske mit Vogelschnabel! Sein spindelförmiger, in der Mitte aufgedunsener Leib bildete eine fleischige Masse, welche zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend Kilogramm wiegen mußte. Die Farbe des Thieres blieb sich nicht gleich, wechselte äußerst schnell, wenn es gereizt war, wobei sie von Grauschwarzblau in’s Braunröthliche überging.

Worüber gerieth die Molluske in Zorn? Ohne Zweifel über die Anwesenheit dieses Nautilus, der stärker war, und dem seine saugenden Arme oder seine Kinnladen nichts anhaben konnten. Und doch, was für Ungeheuer sind diese Polypen, welche Lebenskraft hat der Schöpfer ihnen zugetheilt, welche Kraft in den Bewegungen, denn sie sind im Besitz von drei Herzen.

Der Zufall hatte mich mit diesem Kalmar in Berührung gebracht, und ich wollte nicht die Gelegenheit vorüber lassen, dieses Musterstück von Kopffüßlern sorgfältig zu studiren. Ich überwand den widerwilligen Ekel, welchen mir sein Anblick erregte, ergriff einen Bleistift und fing an es abzuzeichnen.

»Es ist vielleicht das nämliche Thier des Alecton, sagte Conseil.

– Nein, erwiderte der Canadier, denn jenes hat seinen Schwanz verloren, und dieses ist damit noch versehen!

– Das gäbe keinen Grund ab, entgegnete ich, Arme und Schwanz erneuern sich bei diesen Thieren, und seit sieben Jahren hatte der Schwanz des Kalmar Bouguer wohl Zeit nachzuwachsen.

– Uebrigens, versetzte Ned, ist’s nicht der nämliche, so ist er doch von derselben Art und Gattung!«

Wirklich zeigten sich andere Thiere dieser Art vor dem Fenster. Ich zählte ihrer sieben. Sie gaben dem Nautilus das Geleit, und ich hörte, wie sie mit dem Schnabel am eisernen Schiffsrumpf kratzten. Also ein Geleite nach Wunsch.

Ich setzte meine Arbeit fort. Die Ungethüme hielten sich so genau in unserem Wasser, daß sie unbeweglich schienen, und ich hätte sie am Fenster in Verkürzung abzeichnen können. Zudem fuhren wir langsamer.

Plötzlich stand der Nautilus stille. Ein Stoß, und er zitterte in allen Fugen.

»Sind wir gestrandet? fragte ich.

– Jedenfalls, erwiderte der Canadier, würden wir bereits wieder frei sein, denn wir sitzen nicht auf.«

Der Nautilus war ohne Zweifel flott, fuhr aber nicht. Die Schraube war nicht in Thätigkeit. Nach einer Minute trat der Kapitän Nemo in Begleitung seines Lieutenants in den Salon.

Ich hatte ihn seit einiger Zeit nicht gesehen; er sah verdrießlich aus. Ohne ein Wort zu reden, vielleicht ohne uns zu sehen, trat er an’s Fenster, besah die Polypen, und sagte einige Worte zu seinem Lieutenant.

Dieser ging hinaus. Alsbald wurden die Läden geschlossen, der Salon von oben erleuchtet.

Ich trat zum Kapitän.

»Eine merkwürdige Sammlung von Polypen, sagte ich zu ihm mit dem unbefangenen Tone eines Betrachters vor dem Fenster eines Aquariums.

– Es ist wahr, Herr Naturforscher, erwiderte er, und wir sind im Begriff, Mann gegen Mann ihnen zu Leibe zu gehen.«

Ich blickte den Kapitän an; ich glaubte ihn nicht recht verstanden zu haben.

»Mann gegen Mann? wiederholte ich.

– Ja, mein Herr, die Schraube steht still. Ich glaube, daß der hörnerne Schnabel eines solchen Kalmars zwischen ihren Schaufeln steckt, so daß sie dadurch gehemmt ist.

– Und was wollen Sie thun?

– Zur Oberfläche aufsteigen, und die ganze Brut vertilgen.

– Das ist schwierig.

– Allerdings. Die elektrischen Kugeln sind unwirksam gegen dieses weiche Fleisch, und sie finden nicht Widerstand genug, um zu platzen. Aber wir greifen sie mit dem Beil an.

– Und mit der Harpune, mein Herr, sagte der Canadier, wenn Sie meinen Beistand nicht abweisen.

– Ich nehme ihn an, Meister Land.

– Wir wollen Sie begleiten«, sagte ich, und wir gingen in Gesellschaft des Kapitäns Nemo zur Mittelstiege.

Hier standen zehn Mann mit Enterbeilen bewaffnet zum Angriff bereit. Auch ich nebst Conseil ergriff ein Beil. Ned-Land nahm eine Harpune in die Hand.

Der Nautilus befand sich damals auf der Oberfläche des Wassers. Einer der Bootsleute stand auf den obersten Sprossen und schraubte die Zapfen des Deckels auf. Aber die Schrauben waren kaum los, als der Deckel mit äußerster Gewalt aufgehoben wurde, offenbar von einem Polypenarme mit seinen Schröpfköpfen.

Alsbald glitt einer dieser langen Arme gleich einer Schlange durch die Oeffnung, und zwanzig andere ringelten sich oben. Der Kapitän Nemo hieb mit einem Beile den fürchterlichen Arm entzwei, der sich krümmend über die Treppenstufen rutschte.

Im Moment, wo wir uns über einander drängten, um auf die Plattform zu kommen, senkten sich zwei andere Arme, die Luft durchschneidend auf den vor dem Kapitän Nemo stehenden Mann herab, und hoben ihn mit unwiderstehlicher Gewalt in die Höhe.

Der Kapitän schrie laut auf und schwang sich hinaus. Wir stürzten hinter ihm nach.

Welche Scene! Der Unglückliche, von dem Fühlarm umschlungen und mit den Warzen festgehalten, wurde von dem enormen Rüssel nach Gelüsten in der Luft geschüttelt. Röchelnd, erstickend rief er um Hilfe. Dieser Angstruf in französischer Sprache setzte mich in tiefe Bestürzung. Also hatte ich einen Landsmann an Bord, mehrere vielleicht! Diesen herzzerreißenden Ruf werd‘ ich mein Lebtag hören!

Der Unglückliche war verloren. Wer vermochte ihn dieser erdrückenden Umschlingung zu entreißen? Inzwischen hatte sich der Kapitän Nemo auf das Ungethüm gestürzt und ihm noch einen Arm mit dem Beile abgehauen. Sein Lieutenant kämpfte wüthend gegen andere Ungeheuer an den Seiten des Nautilus. Die Bemannung kämpfte mit Beilen. Der Canadier, Conseil und ich hieben in die Fleischmassen ein. Ein starker Moschusgeruch durchdrang die Atmosphäre. Es war erschrecklich.

Einen Augenblick glaubte ich, der unglückliche, von dem Ungeheuer umschlungene Mann werde dem gewaltigen Aussaugen entrissen werden. Sieben von den acht Armen waren abgehauen; ein einziger nur, der das Opfer schwang, wie eine Feder, krümmte sich noch in der Luft. Aber in dem Augenblick, da der Kapitän Nemo und sein Lieutenant sich auf ihn stürzten, strömte das Thier einen Strahl schwarzer Flüssigkeit, welche es in einem Beutel an seinem Unterleibe absonderte, uns entgegen. Wir wurden dadurch wie blind. Als diese Wolke sich zerstreute, war der Kalmar verschwunden sammt meinem unglücklichen Landsmanne!

Wie fielen wir nun wüthend über die Ungeheuer her! Geriethen außer uns: Zehn bis zwölf Polypen hatten die Plattform und die Seiten des Nautilus angefallen. Wir purzelten durch einander inmitten der zerstümmelten Schlangen, die auf der Plattform in einer Lache von Blut und Tinte zappelten.

Es schien, als wüchsen die klebrigen Fühlhörner wie die Köpfe der Hydra wieder auf. Ned-Land’s Harpune tauchte bei jedem Stoß in die graugrünen Augen der Kalmar und bohrte sie aus. Aber plötzlich wurde mein kühner Genosse von den Armen eines Ungeheuers, welchen er nicht ausweichen konnte, zu Boden geworfen.

Ah! mein Herz wollte brechen vor Rührung und Grausen! Schon öffnete sich der fürchterliche Schnabel des Thieres über Ned-Land, um den Unglücklichen zu zerreißen. Ich stürzte zu seinem Beistande herbei. Aber der Kapitän Nemo war mir schon zuvor gekommen. Sein Beil verschwand zwischen den enormen Kinnbacken, und der Canadier, wie durch ein Wunder gerettet, richtete sich auf und tauchte seine Harpune tief bis in’s dreifache Herz des Polypen.

»Diese Revanche war ich mir schuldig!« sagte der Kapitän Nemo zu dem Canadier.

Ned verbeugte sich ohne Antwort.

Dieser Kampf hatte eine Viertelstunde lang gedauert.

Die Ungeheuer, überwältigt, verstümmelt, zu Tode getroffen, räumten uns endlich den Platz und verschwanden unter den Wellen.

Der Kapitän Nemo, in Blut gebadet, unbeweglich neben dem Fanal, sah in’s Meer hinaus, welches einen seiner Gefährten verschlungen hatte, und dicke Thränen quollen aus seinen Augen.

Neunzehntes Capitel

Neunzehntes Capitel

Der Golfstrom

Diese fürchterliche Scene des 20. April wird Niemand von uns je vergessen können. Ich habe sie unter’m Eindruck heftigster Gemüthsbewegung niedergeschrieben, und später durchgesehen: meine Darstellung ist völlig genau, aber ausreichend als Schilderung nicht. Der Schmerz des Kapitän Nemo war unermeßlich. Nun hatte er schon den zweiten Genossen an Bord verloren. Und was für ein Tod! Zerdrückt, erstickt, zerfleischt von dem Ungeheuer, sollte er nicht auf dem stillen Friedhof des Korallenreichs seine Ruhestätte finden!

Mir war das Verzweiflungsgeschrei des Unglücklichen herzzerreißend gewesen. Die Todesangst hatte seine Muttersprache verrathen. Ich hatte also einen Heimatgenossen unter der, dem Kapitän Nemo mit Leib und Seele verbundenen Mannschaft! War er der einzige Repräsentant Frankreichs in der aus verschiedenen Nationalitäten gemischten Gesellschaft? Ein ungelöstes Räthsel, das mich unablässig quälte.

Der Kapitän Nemo zog sich in sein Zimmer zurück, und ich bekam ihn einige Zeit lang nicht zu sehen. Aber daß er traurig, verzweifelt, unentschlossen sein mußte, gab mir das Fahrzeug, dessen Seele er war, zu erkennen. Der Nautilus fuhr nicht mehr in einer bestimmten Richtung, sondern hin und her streifend, gleich einem Leichnam dem Spiel der Wellen überlassen. Seine Schraube war wieder frei, und doch gebrauchte er sie kaum, segelte auf’s Geradewohl.

So verliefen zehn Tage. Erst am 1. Mai setzte der Nautilus, nachdem er die Lucayischen Inseln bis zur Mündung des Bahama-Canals in Sicht bekommen, entschieden in nördlicher Richtung seine Fahrt fort. Wir folgten darauf dem Laufe des Golfstromes, des größten Flusses im Meere, der seine Ufer, seine eigene Temperatur und Fische hat.

Es ist in der That ein Fluß, der mitten im Atlantischen Ocean selbständig fließt, ohne daß sein Wasser mit dem des Oceans sich mischt. Dieser Fluß hat mehr Salzgehalt, als das umgebende Meer. Seine durchschnittliche Tiefe beträgt dreitausend Fuß, seine mittlere Breite sechzig Meilen. An manchen Stellen fließt er mit einer Schnelligkeit von vier Kilometer die Stunde. Der unveränderliche Umfang seiner Gewässer ist bedeutender, als der aller Flüsse der Erde.

Die wahre Quelle des Golfstromes, wie sie der Commandant Maury erkannte, sein Ausgangspunkt, wenn man will, liegt im Golf von Gascogne. Hier fangen seine Gewässer, an Temperatur und Farbe noch schwach, sich zu bilden an. Er fließt südwärts längs der afrikanischen Küste, wärmt seine Fluthen in den Strahlen der heißen Zone, dann quer durch das Atlantische bis zum Cap San Roque an der brasilischen Küste, wo er sich in zwei Arme theilt, von welchen der eine in dem Antillenmeere noch satter zu erwärmen trachtet. Nun beginnt der Golfstrom, welcher die Bestimmung hat, das Gleichgewicht zwischen den Temperaturen herzustellen und die tropischen Wasser mit den nördlichen zu mischen, seine ausgleichende Rolle. Mit gesteigerter Wärme zieht er aus dem mexikanischen Golf nordwärts den amerikanischen Küsten zu bis zu Newfoundland, beugt beim Andrang der kalten Strömung aus der Davisstraße von jener Richtung ab, und fließt wieder dem Ocean zu, indem er auf einem der großen Kreise der loxodromischen Linie folgt, theilt sich unter’m dreiundvierzigsten Grade in zwei Arme, wovon der eine, unterstützt von den Passatwinden zu dem Golf von Gascogne und den Azoren zurückkehrt, und der andere, nachdem er die laue Temperatur der Küsten Islands und Norwegens veranlaßt, bis über Spitzbergen hinaus, wo seine Wärme bis auf vier Grad herabsinkt, fortströmt, und das freie Meer des Polarlandes bildet.

Auf diesem Strome des Oceans fuhr damals der Nautilus. Da wo derselbe aus dem Bahama-Canal heraus kommt, bei vierzehn Lieues Breite und dreihundertfünfzig Meter Tiefe, fließt der Golfstrom im Verhältniß von acht Kilometer die Stunde. Diese Schnelligkeit nimmt regelmäßig ab im Verhältniß wie er weiter nördlich kommt, und es ist zu wünschen, daß diese Regelmäßigkeit fortbestehe, weil, wenn, wie man zu bemerken glaubte, seine Schnelligkeit und Richtung sich ändern sollten, die europäischen Klimate Störungen ausgesetzt wären, deren Folgen nicht zu berechnen sind.

Gegen Mittag befand ich mich mit Conseil auf der Plattform und theilte ihm die Eigentümlichkeiten des Golfstromes mit. Darauf lud ich ihn ein, seine Hände in die Strömung zu tauchen.

Conseil folgte und war sehr erstaunt, daß er gar kein Gefühl von Wärme oder Kälte empfand.

»Dies kommt daher, sagte ich ihm, daß der Wärmegrad der Wasser des Golfstromes beim Herausfließen aus dem mexikanischen Golf wenig von der Blutwärme verschieden ist. Der Golfstrom ist ein großer Wärmeleiter, welcher den Küsten Europa’s es möglich macht, sich mit ewigem Grün zu schmücken. Und will man Maury Glauben schenken, so würde die Wärme dieses Stromes, vollständig benutzt, hinlänglich Wärmestoff liefern, um einen Strom von geschmolzenem Eisen, so groß wie der Amazonenstrom oder Missouri, in Fluß zu erhalten.«

In diesem Augenblicke betrug die Schnelligkeit des Golfstromes zwei Meter fünfundzwanzig in der Secunde. Sein Wasser ist dergestalt von dem umgebenden Meere geschieden, daß es zusammengedrückt über den Ocean vorragt und ein anderes Niveau als das kalte Wasser annimmt. Außerdem sticht es, dunkel und reicher an Salzgehalt, durch seine rein indigoblaue Farbe von der grünen der umgebenden Wasser ab. Bei Nacht ist es stark phosphorescirend.

Dieser Strom zieht eine ganze Welt lebender Wesen mit sich fort. Die Argonauten wandern da schaarenweise; Rochen finden sich von fünfundzwanzig Fuß Länge, und eine kleine Art Haifische, einen Meter lang, mit mehreren Reihen spitzer Zähne. In der unzähligen Menge von Knochenfischen sind manche eigenthümliche, darunter eine Art Lippfische, die in allen Regenbogenfarben schimmernd mit den schönsten Vögeln der Tropengegenden wetteifern, und der sogenannte amerikanische Ritter, ein schöner Fisch, der sich ausnimmt, als sei er mit allen Ordensbändern der Welt geschmückt.

Am 8. Mai befanden wir uns noch dem Cap Hatteras gegenüber, auf der Höhe der Nord-Carolinen, wo der Golfstrom fünfundsiebenzig Meilen breit und zweihundertzehn Meter tief ist. Der Nautilus fuhr fortwährend unstät auf’s Geradewohl, es schien jede Überwachung zu fehlen. Unter diesen Umständen konnte ein Entweichen gelingen, und die bewohnten Uferlande boten überall leichte Zuflucht. Das Meer war unablässig von zahllosen Dampfern und kleinen Goeletten, welche den Küstenverkehr besorgen, befahren, wo man Aufnahme zu finden hoffen konnte. Obwohl die Küste noch dreißig Meilen entfernt, war diese Gelegenheit doch günstig.

Aber die sehr ungünstige Witterung machte doch die Ausführung der Pläne des Canadiers durchaus unmöglich. Gewitter sind in diesen Strichen sehr häufig, und es ist da eine eigentliche Heimat der Wasserhosen, welche eben durch den Golfstrom erzeugt werden. Diesem Meere mit einem zerbrechlichen Kahne Trotz zu bieten, war sicheres Verderben. Ned-Land sah dies selbst ein, und gab sich darein, ungeachtet eines bis zur Wuth gediehenen Heimwehs, welches nur durch die Flucht zu heilen war.

»Mein Herr, sagte er zu mir in diesen Tagen, es muß jetzt sin Ende haben, mein Gemüth muß davon frei werden. Ihr Nemo entfernt sich wieder vom Lande und steuert dem Norden zu. Aber ich habe am Südpol satt bekommen, und werde zum Nordpol nicht folgen.

– Was ist zu machen, Ned, da ein Entweichen in diesem Moment unausführbar ist?

– Ich komme wieder auf meinen Gedanken, daß man mit dem Kapitän reden muß. Als wir in den Meeren Ihrer Heimat uns befanden, haben Sie geschwiegen; jetzt, da wir meiner Heimat nahe sind, will ich reden. In einigen Tagen wird der Nautilus auf der Höhe Neuschottlands sein, wo sich, bei Neufoundland eine weite Bai öffnet, worin der St. Lorenz mündet, mein heimatlicher Fluß, woran meine Geburtsstadt liegt. Wenn ich daran denke, steigt mir die Wuth in’s Gesicht und meine Haare stehen zu Berge. Wissen Sie, mein Herr, ich stürze mich lieber in’s Meer! Ich bleibe nicht hier!«

Der Canadier hatte offenbar die Geduld gänzlich verloren. Seine lebenskräftige Natur konnte sich nicht in die stets fortgesetzte Gefangenschaft fügen. Seine Gesichtszüge änderten sich, sein Charakter wurde täglich finsterer. Ich fühlte, wie er leiden mußte, denn auch mich befiel das Heimweh. Fast sieben Monate waren verflossen, ohne daß wir irgend etwas vom Lande gehört hatten. Ferner, die Absonderung des Kapitäns Nemo, sein veränderter Humor, besonders seit dem Kampfe mit den Ungeheuern, seine Schweigsamkeit, – alles ließ mich die Dinge in ganz anderem Licht ansehen. Mein Enthusiasmus der ersten Tage war vorüber. Nur ein Flamländer wie Conseil konnte sich in diese Lage fügen.

»Nun, mein Herr? fuhr Ned-Land fort, als ich nicht antwortete.

– Nun, Ned, Sie wollen, daß ich den Kapitän Nemo um seine Absichten in Hinsicht auf uns befrage?

– Ja, mein Herr.

– Und das, obwohl er sie bereits zu erkennen gegeben hat?

– Ja. Ich will nun ein für allemal darüber im Reinen sein. Sprechen Sie nur für mich allein, wenn Sie wollen.

– Aber ich treffe ihn selten. Er meidet mich sogar.

– Um so mehr Grund, ihn aufzusuchen.

– Ich will ihm die Frage stellen, Ned.

– Wann? fragte der Canadier dringend.

– Wenn ich ihn treffen werde.

– Herr Arronax, wollen Sie, daß ich ihn selbst aufsuche?

– Nein. Lassen Sie mich gewähren. Morgen …

– Heute noch, sagte Ned-Land.

– Meinetwegen. Heute will ich ihn aufsuchen«, erwiderte ich dem Canadier, denn, wenn er selbst handelte, würde er gewiß alles verdorben haben.

Ned ließ mich allein. Da ich zu fragen beschlossen hatte, so wollte ich unverzüglich damit in’s Reine kommen. Besser gethan, als noch zu thun.

Ich begab mich auf mein Zimmer. Hier hörte ich den Kapitän auf und ab gehen. Diese Gelegenheit, ihn zu treffen, durfte ich nicht vorüber lassen. Ich klopfte an seine Thüre; keine Antwort. Ich klopfte abermals, drehte die Schlenke und die Thüre öffnete sich.

Ich trat ein. Der Kapitän war über seinen Arbeitstisch gebeugt; er hatte mich nicht gehört. Entschlossen, nicht ohne ihn zu fragen wieder fort zu gehen, trat ich zu ihm heran. Er hob den Kopf rasch, runzelte die Stirn, und führ mich ziemlich barsch an.

»Sie hier! Was wollen Sie von mir?

– Mit Ihnen reden, Kapitän.

– Aber ich bin beschäftigt, mein Herr, habe zu arbeiten. Gönnen Sie mir doch auch diese Freiheit, allein zu sein, welche ich Ihnen lasse.«

Ein wenig ermutigender Empfang. Aber ich war entschlossen, alles anzuhören, um auf alles zu antworten.

»Mein Herr, sagte ich kalt, ich habe mit Ihnen etwas zu reden, was sich nicht aufschieben läßt.

– Und was, mein Herr? erwiderte er ironisch. Haben Sie eine Entdeckung gemacht, die mir entgangen ist? Sind Sie auf neue Geheimnisse des Meeres gekommen?«

Unsere Rechnung stimmte bei weitem nicht überein. Aber ehe ich noch antworten konnte, zeigte er mir ein auf dem Tische liegendes Manuscript und sprach in ernstem Tone:

»Hier, Herr Arronax, ein Manuscript in mehreren Sprachen. Es enthält eine Uebersicht meiner Studien über das Meer, und wenn Gott will, soll es nicht mit mir zu Grunde gehen. Dieses Manuscript, von mir unterzeichnet, sammt einem Abriß meiner Biographie, soll in ein kleines, unversenkbares Geräthe verschlossen werden. Wer von uns an Bord des Nautilus die anderen überlebt, soll dasselbe in’s Meer werfen, daß es die Wellen tragen, wohin sie treiben.«

Der Name dieses Mannes, seine selbstverfaßte Lebensgeschichte, sein Geheimniß sollten also dereinst enthüllt werden? Doch im Augenblick sah ich in dieser Mittheilung nur einen Anlaß, auf meinen Gegenstand zu kommen.

»Kapitän, erwiderte ich, ich kann die Idee, welche Sie dazu bestimmt, nur billigen. Die Frucht Ihrer Studien darf nicht verloren gehen. Aber das Mittel, welches Sie anwenden, scheint mir etwas naiv. Wer weiß, wohin die Winde dieses Geräthe treiben werden? In welche Hände es gerathen wird? Ließe sich dafür nichts besseres finden? Könnten nicht Sie, oder einer der Ihrigen …?

– Nein, mein Herr, sagte lebhaft der Kapitän, mich unterbrechend.

– Aber ich und meine Genossen sind bereit, dies Manuscript aufzubewahren, und wenn Sie uns die Freiheit geben …

– Die Freiheit! sagte der Kapitän Nemo, und stand auf.

– Ja, mein Herr, und deshalb kam ich. Sie zu befragen. Nun sind wir bereits sieben Monate an Ihrem Bord, und ich frage Sie heute, in meiner Genossen und eigenem Namen, ob Ihre Absicht ist, uns ewig hier fest zu halten.

– Herr Arronax, sagte der Kapitän Nemo, ich antworte Ihnen heute, wie vor sieben Monaten: Wer in den Nautilus hinein kommt, darf ihn nicht wieder verlassen.

– Die Sclaverei wollen Sie uns also auferlegen!

– Nennen Sie’s, wie Sie belieben.

– Aber überall bleibt dem Sclaven das Recht, sich seine Freiheit wieder zu verschaffen! Er darf alle Mittel, die sich ihm darbieten, für die richtigen hatten.

– Wer versagt Ihnen dieses Recht? erwiderte der Kapitän, habe ich je daran gedacht, Sie durch einen Eid zu binden?«

Der Kapitän blickte mich an und kreuzte die Arme.

»Mein Herr, es würde weder Ihnen, noch mir behagen, nochmals über den Gegenstand zu reden. Da wir nun aber einmal davon zu reden angefangen haben, so lassen Sie uns denselben fertig besprechen. Ich wiederhole Ihnen, es handelt sich nicht blos um meine Person. Für mich ist das Studium eine Stütze, eine Ableitung, eine Neigung, eine Leidenschaft, die mich alles vergessen lassen kann. Wie Sie, bin ich im Stande, ungekannt im Dunkeln zu leben, mit der unsicheren Hoffnung, das Ergebniß meiner Arbeiten dereinst, vermittelst eines zweifelhaften den Wellen und Winden preisgegebenen Geräthes, der Zukunft zu vermachen. Ich kann Sie bewundern. Ihnen ohne Unlust folgen. Aber ich sehe Ihr Leben von Verwickelungen umgeben, die uns fremd sind; und so viel wir auch Theilnahme hegen für Ihr Genie und Ihren Muth: wir fühlen uns hier fremd in Beziehung auf alles, was Sie betrifft; und dies macht unsere Lage unerträglich, unmöglich, selbst für mich, geschweige für Ned-Land. Haben Sie sich gefragt, was Freiheitsliebe, Haß gegen Sclaverei, für Rache-Entwürfe in einer Natur, wie die des Canadiers hervorrufen, was er denken, planen, versuchen kann?« …

Hier brach ich ab. Der Kapitän Nemo stand auf.

»Neo-Land, sprach er, mag denken, planen, versuchen, was er will, was liegt mir daran? Ich habe ihn nicht aufgesucht! Ich halte ihn nicht zu meinem Vergnügen an diesen Bord! Sie, Herr Arronax, können alles begreifen, selbst das Schweigen. Ich habe Ihnen nichts weiter zu erwidern. Lassen Sie dieses erste Wort, welches Sie über diesen Gegenstand führten, auch das letzte sein, denn ein andermal würde ich Sie nicht einmal anhören.«

Ich zog mich zurück. Von diesem Tage an war unsere Lage sehr gespannt. Ich hinterbrachte meinen Gefährten den Inhalt unserer Unterredung.

»Wir wissen jetzt, sagte Ned-Land, daß wir von diesem Manne nichts zu erwarten haben. Der Nautilus kommt jetzt in die Nähe von Long-Island. Wir wollen entfliehen trotz allem Unwetter.«

Aber das Wetter wurde immer drohender; die Vorzeichen eines bevorstehenden Orkans gaben sich kund. Die Atmosphäre wurde weißlich, milchfarben. Statt feiner Wolkengarben sah man am Horizont Schichten sich aufthürmenden Gewölkes; niedriger zog anderes in reißender Flucht. Das Meer schwoll an in hohlen Wogen; die Vögel verschwanden, mit Ausnahme der Sturmvögel. Das Barometer sank bedeutend, und zeigte in der Luft eine äußerste Spannung der Dünste. Die Mischung im Wetterglas zersetzte sich unter Einwirkung der Elektricität, wovon die Atmosphäre durchdrungen war. Der Kampf der Elemente stand nahe bevor.

Das Gewitter kam im Laufe des 18. Mai zum Ausbruch, gerade als der Nautilus auf der Höhe von Long-Island fuhr, einige Meilen von den Engen New-Yorks. Der Kapitän Nemo, anstatt in der Tiefe des Meeres dem Sturme auszuweichen, zog es mit unbegreiflicher Laune vor, demselben auf der Oberfläche Trotz zu bieten.

Der Wind wehte aus Südwest, anfangs sehr frisch, d. h. mit einer Geschwindigkeit von fünfzehn Meter in der Secunde und stieg gegen drei Uhr Nachmittags bis auf fünfundzwanzig, der Ziffer des Sturmes.

Der Kapitän Nemo, gegen die Windstöße unerschütterlich, nahm seinen Platz auf der Plattform. Um dem Andringen ungeheurer Wogen widerstehen zu können, hatte er sich mit halbem Körper angebunden; ich folgte seinem Beispiel, um diesen Sturm zu bewundern, und zugleich den unvergleichlichen Mann, der ihm Trotz bot.

Das entfesselte Meer wurde von großen Fetzen Gewölk, das in seine Fluchen tauchte, wie mit Besen gefegt.

Von den kleinen mittleren Wellen, welche sich innerhalb der großen Höhlungen bilden, sah ich nichts mehr: nichts als lange, rußfarbige Wogen, die so dicht sind, daß sich ihre Spitze nicht bricht. Sie nahmen an Höhe zu, thürmten sich gegen einander auf. Der Nautilus, bald auf der Seite liegend, bald wie ein Mast sich aufbäumend, schwankte und stampfte fürchterlich.

Gegen fünf Uhr fiel ein Regen gleich einem reißenden Bergstrom; aber er stillte weder den Wind, noch das Meer. Der Orkan brach los mit einer Schnelligkeit von fünfundvierzig Meter die Secunde, d. h. bei vierzig Lieues in der Stunde. Bei solcher Stärke reißt er Häuser zu Boden, schleudert die Dachziegel durch die Thüren, zerbricht eiserne Gitter, rückt Vierundzwanzigpfünder-Kanonen von ihrer Stelle. Der Nautilus trotzte diesem Sturme, und rechtfertigte das Wort eines geschickten Ingenieurs: »Ein Schiff ist nicht richtig gebaut, wenn es nicht dem Meer Trotz bieten kann!« Es war wohl nicht ein Fels, den solche Wogen zertrümmert hätten; es war eine Spindel von Stahl, folgsam und beweglich, ohne Takelwerk und Mäste, gefahrlos ihrer Wuth trotzend.

Inzwischen beobachtete ich achtsam diese entfesselten Wogen. Sie waren bis fünfzehn Meter hoch bei einer Länge von hundertundfünfzig bis hundertfünfundsiebenzig Meter, und die Geschwindigkeit, womit sie sich fortschoben, der des Windes zur Hälfte entsprechend, betrug fünfzehn Meter in der Secunde. Ihr Umfang und ihre Stärke wuchsen mit der Tiefe der Gewässer.

Die Stärke des Sturmes nahm beim Herannahen der Nacht zu. Das Barometer sank bis auf siebenhundertundzehn Millimeter. Mit dem Sinken des Tages gewahrte ich am Horizont ein großes Schiff, das fürchterlich ankämpfte.

Es war wohl ein Dampfer der Linie New-York, Liverpool oder Havre.

Um zehn Uhr Abends war der Himmel wie in Feuer und Flammen, die Atmosphäre von Blitzen durchzuckt. Ich konnte den blendenden Glanz derselben nicht aushalten, während der Kapitän Nemo mit unverwandtem Blick die Seele des Sturmes in sich einzuathmen schien. Ein entsetzliches Getöse füllte die Luft, ein zusammengesetztes aus dem Tosen der gebrochenen Wellen, dem Heulen des Sturmwinds, dem Rollen des Donners. Der Wind sprang von allen Seiten des Horizonts über.

Ja! dieser Golfstrom rechtfertigt wohl die Benennung König der Stürme! Er verursacht die fürchterlichen Wirbelwinde durch die Verschiedenheit der Temperatur der Luftschichten, welche über seiner Strömung sich befinden.

Auf den Platzregen folgte ein Feuerregen. Die Wassertropfen verwandelten sich in leuchtende Strahlenbüschel. Man hätte meinen sollen, der Kapitän Nemo, nach einem Tode trachtend, der seiner würdig wäre, wolle vom Blitz getroffen werden. Bei einer erschrecklichen Stampfbewegung streckte der Nautilus seinen stählernen Schnabel in die Höhe gleich dem Schaft eines Blitzableiters, und ich sah lange Funken aus ihm sprühen.

Erschöpft an Kräften rutschte ich auf plattem Leibe der Lucke zu, öffnete und stieg hinab in den Salon. Das Gewitter war eben auf dem Höhepunkt seiner Stärke. Im Innern des Nautilus war es unmöglich, sich auf den Beinen zu halten.

Der Kapitän Nemo erschien gegen Mitternacht wieder. Ich hörte, wie die Behälter sich allmälig füllten, und der Nautilus tauchte gemach unter die Oberfläche der Wellen.

Durch die unverdeckten Fenster des Salons sah ich große Fische voll Bestürzung, die gleich Phantomen in den feurigen Gewässern schwammen. Einige wurden vor meinen Augen vom Blitz getroffen!

Der Nautilus senkte sich fortwährend. Ich dachte, er werde in einer Tiefe von fünfzehn Meter wieder ruhiges Wasser finden. Nein. Die oberen Schichten waren zu gewaltig aufgeregt. Man mußte die Ruhe bis in der Tiefe von fünfzig Meter aufsuchen.

Da aber, welche Ruhe, welche Stille, welche friedliche Umgebung! Wer hätte denken können, daß damals auf der Oberfläche dieses Oceans ein furchtbarer Orkan sich entfesselte!

Zwanzigstes Capitel

Zwanzigstes Capitel

Unter 47° 24′ Breite und 17° 28′ Länge

In Folge dieses Sturmes waren wir östlich zurückgeworfen worden. Jede Hoffnung, auf die Landungsstellen von New-York oder St. Lorenz zu entrinnen, schwand. Der arme Ned, in Verzweiflung, entzog sich, gleich dem Kapitän Nemo, der Gesellschaft. Conseil und ich, wir blieben unzertrennlich.

Ich habe gesagt, der Nautilus sei in östlicher Richtung gefahren; genauer hätte ich gesagt, in nordöstlicher. Einige Tage lang fuhr er unstät, bald an der Oberfläche, bald unterhalb, mitten in den Nebeln, welche den Seefahrern so furchtbar sind. Sie entstehen hauptsächlich durch das Aufthauen des Eises, welches in der Atmosphäre eine ausnehmende Feuchtigkeit fortwährend unterhält. Wie viele Fahrzeuge gingen in diesen Strichen zu Grunde, als sie im Begriff waren, die unsichern Feuer der Küste zu erkennen! Welche Unglücksfälle werden durch diese dichten Nebel verursacht! Wie Manche scheiterten an diesen Klippen, deren Brandung vor dem Getöse des Windes nicht gehört wurde! Wie viele Fahrzeuge stießen zusammen trotz den Leuchtfeuern, trotz den Warnungen ihrer Pfeifen und ihrer Alarmglocken!

Daher bot auch der Meeresgrund hier den Anblick eines Schlachtfeldes, wo von Trümmern bedeckt die vom Ocean geforderten Opfer lagen, mit Schiff und Geräthe; Fahrzeuge aller Art, die mit Mann und Maus untergegangen, mit den Massen von Auswanderern an den gefährlichen Stellen, wie Cap Race, Insel St. Paul, Straße Belle-Isle, Mündung des St. Lorenz! Der Nautilus fuhr mitten durch diese Trümmer, als wie zu einer Todtenschau!

Am 15. Mai befanden wir uns am Südende der Newfoundländer Bank. Diese ist ein Product der Anschwemmung des Meeres, eine beträchtliche Anhäufung organischer Abfälle, welche theils durch den Golfstrom vom Aequator her, theils durch die längs der amerikanischen Küste laufende Gegenströmung kalten Wassers vom Nordpol herbeigeschwemmt werden. Hier häufen sich auch die durch den Eisgang beigeführten Treibeisblöcke; und es hat sich da eine ungeheure Todtenstätte für Fische, Mollusken oder Zoophyten gebildet, welche dort myriadenweise zu Grunde gehen.

Die Meerestiefe ist in dieser Bank nicht bedeutend, beträgt höchstens einige hundert Ellen. Aber nach Süden zu bildet sich plötzlich eine tiefe Einsenkung, ein dreitausend Meter tiefes Loch. Hier erweitert sich der Golfstrom. In dieser Ausbreitung seiner Gewässer verliert er an Geschwindigkeit und Temperatur, aber er wird zu einem Meer.

Ich übergehe hier die Menge der schönen oder seltenen Fische, welche der Nautilus in diesen Strichen aufscheuchte, um mich etwas bei dem Kabeljau aufzuhalten, der hier in unerschöpflicher Menge seinen Lieblingsaufenthalt hat.

Man könnte den Kabeljau einen Bergfisch nennen, denn Newfoundland ist nur ein unterseeisches Gebirge.

Als der Nautilus durch ihre dichtgedrängten Massen fuhr, machte Conseil die Bemerkung:

»Ei! die Kabeljaue! ich meinte, sie seien platt, wie die Klieschen und Solen?

– Wie naiv! erwiderte ich. Die Kabeljaue sind platt beim Krämer, wo sie ausgenommen und zum Verkauf ausgelegt sind; aber im Wasser sind sie rund, wie die Seebarben.

– Ich will’s glauben, mein Herr, versetzte Conseil. Aber welch Gewimmel, welche Schwärme!

– Ei! mein Freund, es gäbe deren noch weit mehr, hätten sie nicht die Menschen und die Seescorpionen zu Feinden! Weißt Du, wie viele Eier man in einem einzigen Weibchen gezählt hat?

– Ich will einmal tüchtig rathen, sagte Conseil. Fünfhunderttausend.

– Elf Millionen, mein Freund.

– Elf Millionen! Das laß ich nicht gelten, wenn ich sie nicht selbst zähle.

– Zähle nur immer, Conseil. Aber Du wirst schneller fertig, wenn Du mir glaubst. Uebrigens werden sie von Franzosen, Engländern, Amerikanern, Dänen, Norwegern zu Tausenden weggefischt. Man verzehrt sie in unglaublicher Menge, und wäre nicht die Fruchtbarkeit dieser Fische so erstaunlich, so wären diese Meere bald entvölkert. So sind allein in England und Amerika fünfundsiebenzigtausend Mann auf fünftausend Schiffen mit dem Fang des Kabeljau’s beschäftigt. Jedes Schiff liefert deren durchschnittlich Vierzigtausend, das macht fünfundzwanzig Millionen. An den norwegischen Küsten dasselbe Ergebniß.

– Gut, erwiderte Conseil, ich will mich auf meinen Herrn berufen, und das Zählen unterlassen.

– Was denn?

– Die elf Millionen Eier. Aber ich will die Bemerkung machen, daß, wenn alle diese Eier ausschlüpften, vier Kabeljauweibchen genug wären, um England, Amerika und Norwegen zu versorgen.«

Während wir am Grund der Bank von Newfoundland her fuhren, sah ich genau die langen, mit zweihundert Angeln versehenen Schnüre, welche jedes Boot zu Dutzenden auswirft. Jede Schnur, am einen Ende vermittelst eines kleinen Hakens fortgezogen, war durch eine Leine, die an einer Korkkoje befestigt wurde, an der Oberfläche festgehalten. Der Nautilus mußte inmitten dieses unterseeischen Netzes gut manoeuvriren.

Uebrigens verweilte er nicht lange in diesen bevölkerten Gegenden. Er fuhr bis zum zweiundvierzigsten Breitegrad hinauf, der Höhe von St. Jean de Terre Neuve und von Heart’s Content, wo der transatlantische Kabel endigt. Von da an richtete er seine Fahrt östlich, als wollte er der telegraphischen Hochfläche folgen, worauf der Kabel ruht.

Am 17. Mai, als wir etwa fünfhundert Meilen von Heart’s Content entfernt waren, bemerkte ich in einer Tiefe von zweitausendachthundert Meter den auf dem Boden liegenden Kabel. Conseil, dem ich nichts davon zum Voraus gesagt hatte, nahm ihn Anfangs für eine Riesenschlange. Ich belehrte ihn über die Sache näher, wie folgt:

Der erste Kabel wurde in den Jahren 1857 und 1858 gelegt; aber nachdem er etwa vierhundert Telegramme befördert hatte, hörte er auf zu wirken. Im Jahre 1863 verfertigten die Ingenieure einen neuen Kabel in der Länge von dreitausendvierhundert Kilometer, und dreitausendvierhundert Kilogramm schwerer, welcher auf dem Great-Eastern eingeschifft wurde. Auch dieser Versuch scheiterte.

Am 25. Mai befand sich der Nautilus in einer Tiefe von dreitausendachthundertsechsunddreißig Meter, gerade an der Stelle, wo der Kabel gerissen war, sechshundertachtunddreißig Meilen von der Küste Irlands entfernt. Man gewahrte damals, um zwei Uhr Nachmittags, daß die Mittheilungen nach Europa unterbrochen waren. Die Sachverständigen an Bord beschlossen den Kabel zu zerhauen, und dann ihn wieder aufzufischen, und um elf Uhr Abends hatte man die beschädigte Partie wieder heraufgeholt. Man machte ein Gelenk und eine Splissung, und senkte den Kabel von Neuem unter. Aber einige Tage später zerriß er, und konnte in den Tiefen des Oceans nicht wieder aufgefischt werden.

Die Amerikaner verloren den Muth nicht. Der kühne Cyrus Field, welcher die Unternehmung zu Wege gebracht, und sein ganzes Vermögen dafür eingesetzt hatte, veranlaßte eine neue Subscription, welche sogleich mit Zeichnungen bedeckt wurde. Nun wurde unter den besten Bedingungen ein anderes Kabel gefertigt. Der Bund leitender, in einer Hülle von Guttapercha isolirter Drähte wurde durch ein Polster spinnbarer Stoffe in einer Metallfassung geschützt. Der Great-Eastern stach am 13. Juli 1866 abermals in See.

Die Operation hatte guten Fortgang, doch begab sich ein Zwischenfall. Einigemal hatten die Ingenieure beim Abwickeln des Kabels wahrgenommen, daß Nägel frisch eingeschlagen waren, um die Seele desselben zu schädigen. Der Kapitän Anderson berieth mit seinen Officieren und Ingenieuren, und sie machten bekannt, wenn sich der Thäter an Bord betreffen ließe, würde er ohne Weiteres in’s Meer geworfen werden. Seitdem kam der sträfliche Versuch nicht weiter vor.

Am 23. Juli war der Great-Eastern nur noch achthundert Kilometer von Newfoundland entfernt, als man ihm von Irland aus die Nachricht vom Abschluß des Waffenstillstands zu Sadowa telegraphirte. Am 27. erreichte er mitten im Nebel den Hafen von Heart’s Content, die Unternehmung war glücklich zu Stande gebracht, und das junge Amerika schickte dem alten Europa als erste Depesche zum Gruß die so selten verstandenen Worte: »Ehre sei Gott im Himmel, und Friede den gut gesinnten Menschen auf Erden!«

Ich hatte nicht erwartet, den Kabel in dem frischen Zustande, wie er aus den Werkstätten der Fabriken hervorgegangen war, zu treffen. Die lange Schlange, mit Muscheltrümmern bedeckt, war mit einem steinigen Teig überzogen, der sie gegen die durchbohrenden Mollusken schützte.

Sie lag ruhig, gegen die Bewegungen des Meeres gesichert, und unter einem Druck, welcher die Hinüberleitung des elektrischen Funkens, der in zweiunddreißig Hunderttheilen einer Secunde von Amerika nach Europa läuft, begünstigt. Der Kabel ist ohne Zweifel von unbegrenzter Dauer, denn man hat die Beobachtung gemacht, daß die Guttapercha-Hülle durch das dauernde Verweilen im Meerwasser besser wird.

Uebrigens ist auf dieser so glücklich gewählten Hochfläche der Kabel niemals so tief untergesenkt, daß er reißen könnte. Der Nautilus folgte ihm bis zum tiefsten Punkt seiner Lage, viertausendvierhunderteinunddreißig Meter, und hier lag er noch, ohne daß das Ziehen irgend anstrengte. Hernach kamen wir zu der Stelle, wo er im Jahre 1863 Schaden gelitten hatte.

Den Grund des Meeres bildete damals ein hundertundzwanzig Kilometer breites Thal, auf welches man den Mont-Blanc hätte stellen können, ohne daß sein Gipfel über den Meeresspiegel emporragte. Dasselbe ist im Westen durch eine steile Wand von zweitausend Meter geschlossen. Wir langten da am 28. Mai an, und der Nautilus war nur noch hundertundfünfzig Kilometer von Irland entfernt.

War der Kapitän Nemo im Begriff noch weiter aufwärts zu fahren in die Nähe der Britischen Inseln? Nein. Zu meiner großen Ueberraschung fuhr er wieder südwärts und kam in die europäischen Meere. Indem wir um die Smaragd-Insel fuhren, gewahrte ich einen Augenblick das Cap Clear und das Feuer von Fasteart, welches den Tausenden von Schiffen, welche von Glasgow oder Liverpool ausfahren, zur Leuchte dient.

Es stellte sich mir damals eine wichtige Frage: Sollte wohl der Nautilus wagen, in den Canal zu dringen? Ned-Land, der, seit mir uns dem Land näherten, wieder zum Vorschein gekommen war, fragte mich unablässig. Was könnt‘ ich ihm antworten? Der Kapitän Nemo ließ sich fortwährend nicht sehen. Nachdem er dem Canadier das Küstenland Amerika’s zu sehen vergönnt hatte, wollte er’s nun gegen mich mit der französischen Küste ebenso machen?

Indessen fuhr der Nautilus immer mehr südwärts.

Am 30. Mai bekam er Land’s End zu sehen, zwischen der äußersten Spitze Englands und den Scilly-Inseln, welche er rechter Hand ließ.

Wollte er in den Canal einfahren, so mußte er grad ostwärts fahren. Er that’s nicht.

Am 31. Mai beschrieb der Nautilus den ganzen Tag lang eine Reihe von Kreislinien, die mich lebhaft beunruhigten. Er schien einen Ort zu suchen, welchen zu finden ihm schwer wurde. Zu Mittag nahm der Kapitän Nemo die Lage selbst auf. Er gönnte mir nicht ein Wort; schien düsterer, wie jemals. Was konnte ihn so verstimmen? Etwa die Nähe der europäischen Gestade? Empfand er heimatliche Erinnerungen? Und was für Empfindungen waren es, Vorwürfe oder Sehnsucht? Solche Gedanken beschäftigten mich, als hätte ich eine Ahnung, daß mir der Zufall bald die Geheimnisse des Kapitäns enthüllen würde.

Am folgenden Tag, den 1. Juni, machte der Nautilus die nämlichen Bewegungen. Es war offenbar, daß er einen bestimmten Punkt des Oceans zu erkennen suchte. Der Kapitän Nemo kam, wie Tags zuvor, den Höhestand der Sonne aufzunehmen. Das Meer war schön, der Himmel rein. Acht Meilen östlich zeigte sich ein großes Dampfschiff am Horizont. Es wehte keine Flagge von seinem Mast, und ich konnte seine Nationalität nicht erkennen.

Einige Minuten, bevor die Sonne den Meridian durchschnitt, ergriff der Kapitän Nemo seinen Sextant und beobachtete mit äußerster Genauigkeit. Die vollständige Ruhe der Wellen erleichterte es ihm. Der Nautilus lag unbeweglich ohne Wanken und Schwanken.

Ich befand mich gerade auf der Plattform. Als der Kapitän seine Aufnahme gemacht, sprach er nur das einzige Wort:

»Hier!«

Er stieg wieder durch die Lücke hinab. Hatte er das Fahrzeug gesehen, welches seinen Lauf änderte und uns nahe zu kommen schien? Ich wußte es nicht zu sagen.

Ich begab mich wieder in den Salon. Die Lücke schloß sich, und ich hörte das Zischen des Wassers in den Behältern. Der Nautilus fing an in verticaler Richtung unterzusinken, indem die Bewegung der Schraube gehemmt war.

Nach einigen Minuten hielt er in einer Tiefe von achthundertdreiunddreißig Meter an und ruhte auf dem Grund.

Die Leuchte am Plafond des Salons erlosch darauf, die Läden öffneten sich, und ich sah durch die Fenster das Meer von den Strahlen des Fanal im Umfang einer halben Meile hell erleuchtet.

Ich blickte rechts und sah nichts als ruhiges Gewässer bis in unermeßliche Ferne.

Links zeigte sich auf dem Boden eine starke Erhöhung, die meine Aufmerksamkeit erregte. Man konnte es für Ruinen halten, die unter einer Decke weißlicher Muscheln wie unter einem Schneemantel vergraben waren. Als ich die Masse achtsam betrachtete, glaubte ich, etwas verdickt, die Formen eines Schiffes ohne Masten zu erkennen, das vorlängst untergesunken war. Das Unglück mußte schon vor langer Zeit sich begeben haben, wie aus der Verkalkung seiner Hülle abzunehmen war.

Was für ein Schiff war es? Weshalb besuchte der Nautilus seine Grabstätte? War das Schiff nicht durch Schiffbruch untergegangen?

Ich wußte nicht, was ich davon denken sollte, als ich an meiner Seite den Kapitän langsam sprechen hörte:

»Früher hatte dies Schiff den Namen Le Marseillais. Es wurde 1762 erbaut und trug vierundsiebenzig Kanonen. Im Jahr 1778, am 13. August, kämpfte es tapfer gegen den Preston. 1799 am 11. Juli war es mit dem Geschwader des Admirals d’Estaing bei der Eroberung Granada’s. 1781 am 5. September nahm es am Kampf des Grafen de Grasse in der Bai von Chesapeak Theil. Im Jahre 1794 gab ihm die französische Republik einen anderen Namen. Am 16. April desselben Jahr schloß es sich zu Brest dem Geschwader von Villaret-Joyeuse an, welches eine Ladung Getreide aus Amerika zu escortiren hatte. Am 11. und 12. Prairial des Jahres II traf dieses Geschwader mit den englischen Schiffen zusammen. Heute ist der 13. Prairial 1. Juni 1868. Heute sind’s gerade vierundsiebenzig Jahr, daß an derselben Stelle, unter 47° 24′ Breite und 17° 28′ Länge, dieses Schiff, als es nach heroischem Kampf seine drei Maste verloren, das Wasser in seine Räume drang, ein Drittheil seiner Mannschaft kampfunfähig geworden, sammt seinen dreihundertsechsundfünfzig Mann lieber sich versenkte, als sich ergab, und mit aufgepflanzter Flagge und dem Ruf: »Es lebe die Republik!« in die Tiefe sank.

– Der Vengeur! rief ich aus.

– Ja, mein Herr, der Vengeur! Ein schöner Name!« murmelte der Kapitän Nemo mit gekreuzten Armen.

Einundzwanzigstes Capitel

Einundzwanzigstes Capitel

Eine Hekatombe

Diese Art zu reden, das Unvorbereitete der Scene, die Geschichte des patriotischen Schiffes, die Aufregung, womit der außerordentliche Mann diese letzten Worte sprach, der Name Vengeur, dessen Bedeutsamkeit mir nicht entging – Alles dieses machte auf mich tiefen Eindruck. Meine Blicke waren unablässig auf den Kapitän gerichtet, wie er dastand und die ruhmvollen Reste betrachtete. Vielleicht sollte ich niemals erfahren, wer er war, wohin er ging, aber ich lernte mehr und mehr den Menschen in ihm kennen. Nicht ein gewöhnlicher Menschenhaß hielt den Kapitän Nemo mit seinen Genossen abgesondert in seinem Nautilus, sondern ein ungeheurer oder erhabener Haß, den die Zeit nicht abschwächen konnte.

War es ein Haß, der noch nach Rache dürstete? Die nahe Zukunft sollte mich’s lehren.

Inzwischen stieg der Nautilus wieder langsam zum Meeresspiegel auf, und bald gab mir ein leichtes Schwanken zu erkennen, daß wir wieder in freier Luft schwammen.

In diesem Augenblick hörte man einen dumpfen Knall. Ich blickte den Kapitän an. Er rührte sich nicht.

»Kapitän?« sagte ich.

Keine Antwort.

Ich ließ ihn und begab mich auf die Plattform. Conseil und der Canadier waren mir vorausgegangen.

»Woher dieser Ton? fragte ich.

– Ein Kanonenschuß«, erwiderte Ned-Land.

Ich richtete meine Blicke nach dem Schiff hin, welches ich bemerkt hatte. Es kam näher heran, und man sah, daß es mit verstärkter Kraft fuhr. Sechs Meilen noch war es von uns entfernt.

»Was ist’s für ein Schiff, Ned?

– Seinem Takelwerk, seinen Masten nach, erwiderte der Canadier, wollte ich wetten, daß es ein Kriegsschiff ist. Wenn es doch käme, den verfluchten Nautilus nöthigenfalls zu versenken.

– Freund Ned, erwiderte Conseil, was kann er dem Nautilus für einen Schaden zufügen? Soll er ihn unter’m Meer angreifen? Werden seine Kanonen ihn auf dem Meeresgrund erreichen?

– Sagen Sie mir, Ned, können Sie erkennen, welcher Nation das Schiff angehört?«

Der Canadier runzelte die Augenbrauen, senkte seine Wimpern, blinzelte mit den Augen und heftete eine Weile seinen Blick mit aller Schärfe auf das Schiff.

»Nein, mein Herr«, erwiderte er. »Ich kann nicht erkennen, welcher Nation es angehört. Es ist keine Flagge aufgesteckt. Aber ich kann versichern, daß es ein Kriegsschiff ist, denn ein langer Wimpel weht von der Spitze seines Hauptmastes.«

Eine Viertelstunde lang fuhren wir fort, das Schiff, welches auf uns zufuhr, zu beobachten. Ich konnte jedoch nicht annehmen, daß es aus dieser Entfernung den Nautilus erkannt hätte, und noch weniger, daß es wußte, was es für eine unterseeische Maschine war.

Bald meldete mir der Canadier, das Schiff sei ein großes Kriegsschiff, mit Schnabel, ein gepanzerter Zweidecker. Aus seinen beiden Rauchfängen stieg ein dichter Rauch auf, seine Segel waren zusammengeschlagen, sein Mast ohne Flagge. Die weite Entfernung ließ noch nicht die Farben seiner Wimpel erkennen.

Es näherte sich rasch. Wenn der Kapitän Nemo es herankommen ließ, bot sich uns eine Aussicht auf Rettung.

»Mein Herr, sagte Ned-Land, fährt das Schiff nur eine Meile entfernt, so stürz‘ ich mich in’s Meer, und fordere Sie auf, meinem Beispiele zu folgen.«

Ich gab auf diesen Vorschlag keine Antwort und betrachtete fortwährend das Schiff, welches immer näher kam. Mochte es englisch, französisch, amerikanisch oder russisch sein, sicherlich fanden wir Aufnahme an Bord, wenn wir hin gelangen konnten.

»Mein Herr wird sich wohl erinnern, daß wir einige Uebung im Schwimmen haben. Er kann sich auf mich verlassen, daß ich ihn bis zu dem Schiff bugsiren werde, wenn es ihm gefällig ist, Freund Ned zu folgen«.

Ich war im Begriff zu antworten, als vorne am Kriegsschiff eine weiße Dampfwolke sichtbar wurde. Nach einigen Secunden ward das Hintertheil des Nautilus von einem in’s Meer fallenden Körper bespritzt. Kurz darauf vernahm man einen Knall.

»Wie? Sie schießen auf uns! rief ich aus.

– Wackere Leute! murmelte der Canadier.

– Sie nehmen uns also nicht für Schiffbrüchige auf einem Wrack!

– Mit Erlaubniß, mein Herr …. – Gut, sagte Conseil und schüttelte das Wasser ab, womit eine abermalige Kugel ihn bespritzt hatte. – Mit Erlaubniß, mein Herr, sie haben den Narwal erkannt, und schießen auf den Narwal.

– Aber sie müssen wohl sehen, rief ich, daß sie’s mit Menschen zu thun haben.

– Vielleicht eben deshalb!« erwiderte Ned-Land und sah mich an.

Nun ging mir im Kopf ein Licht auf. Ohne Zweifel wußte man jetzt, was man von dem vermeintlichen Seeungeheuer zu halten hatte. Ohne Zweifel hatte der Commandant des Abraham Lincoln bei seinem Zusammentreffen mit dem Nautilus, als der Canadier seine Harpune auf denselben schleuderte, erkannt, daß der Narwal ein unterseeisches Fahrzeug sei, und zwar gefährlicher, als ein übernatürliches Seethier.

Ja, so mußte es sein, und ohne Zweifel verfolgte man jetzt auf allen Meeren das fürchterliche Zerstörungswerkzeug.

Ein erschreckliches gewiß, wenn, wie man annehmen konnte, der Kapitän Nemo den Nautilus zu einer Racheübung gebrauchte!

In jener Nacht, als er mitten im Indischen Ocean uns einsperrte, hatte er wohl einen Kampf mit einem Schiff zu bestehen. Jener auf dem Korallenkirchhof bestattete Mann war gewiß bei einem Zusammenstoß des Nautilus getroffen worden. Ja, sag‘ ich abermals, so mußte es sein. So enthüllte sich ein Theil der geheimnisvollen Existenz des Kapitäns Nemo. Und wenn er auch nicht als derselbe wieder erkannt wurde, so machten doch die gegen ihn verbundenen Nationen jetzt nicht auf ein chimärisches Wesen Jagd, sondern auf einen Mann, der ihnen unversöhnlichen Haß geschworen hatte.

Diese ganze fürchterliche Vergangenheit stand mir jetzt vor Augen. Anstatt auf dem herannahenden Schiffe Freunde zu treffen, konnten wir nur auf erbarmungslose Feinde stoßen.

Inzwischen fielen häufiger Kugeln in unserer Nähe nieder. Manche, welche den Meeresspiegel trafen, sprangen abprallend weiter, um in weiter Ferne sich zu verlieren. Aber den Nautilus traf keine.

Das Panzerschiff war damals nur noch drei Meilen entfernt. Trotz der heftigen Kanonade ließ sich der Kapitän nicht auf der Plattform sehen. Und doch hätte eine einzige seiner Spitzkugeln, wenn sie regelrecht den Rumpf des Nautilus traf, ihm verderblich sein müssen.

Der Canadier sprach da zu mir:

»Mein Herr, wir müssen Alles aufbieten, um uns aus dieser schlimmen Lage zu ziehen. Wir wollen Signale geben! Tausend Teufel! Vielleicht wird man einsehen, daß wir brave Leute sind!«

Ned-Land nahm sein Taschentuch, um es in der Luft zu schwingen. Aber kaum hatte er’s entfaltet, als er trotz seiner furchtbaren Stärke von einer eisernen Hand zu Boden geworfen wurde.

»Elender, rief der Kapitän, soll ich Dich an den Schnabel des Nautilus nageln, ehe ich mit demselben gegen dieses Schiff anrenne?«

So fürchterlich dieser Zuruf war, noch fürchterlicher war das Aussehen des Kapitäns Nemo. Sein Angesicht erbleichte bei den Kämpfen seines Herzens, dessen Pulsschläge einen Augenblick stocken mußten. Seine Augäpfel zogen sich fürchterlich zusammen. Seine Stimme brüllte. Mit vorgebeugtem Körper schüttelte er den Canadier bei den Schultern.

Darauf ließ er ihn, wendete sich gegen das Kriegsschiff, dessen Kugeln um ihn regneten, und rief:

»Ah! Du weißt, wer ich bin. Du Schiff einer verfluchten Nation! Ich brauchte Deine Farben nicht zu sehen, um Dich zu erkennen! Schau! Hier zeig‘ ich Dir die meinige!«

Und der Kapitän Nemo entfaltete vorn auf seiner Plateform eine schwarze Flagge, gleich derjenigen, welche er am Südpol aufgepflanzt hatte.

In dem Moment schlug eine Kugel schief auf den Rumpf des Nautilus, ohne einzudringen, prallte neben dem Kapitän ab und sprang weiter in’s Meer.

Der Kapitän Nemo zuckte die Achseln. Darauf sprach er zu mir im barschen Ton:

»Gehen Sie hinab sammt Ihren Genossen!

– Mein Herr, rief ich, wollen Sie denn dieses Schiff angreifen?

– Mein Herr, ich werd‘ es in den Grund bohren.

– Thun Sie das nicht!

– Ja, ich werd‘ es thun, erwiderte kalt der Kapitän Nemo. Lassen Sie sich nicht einfallen, mein Richter zu sein, mein Herr. Der Zufall hat Sie sehen lassen, was Sie nicht sehen durften. Der Angriff ist geschehen. Die Erwiderung wird erschrecklich sein. Gehen Sie.

– Was ist’s für ein Schiff?

– Sie wissen’s nicht? Nun denn, um so besser! Seine Nationalität wenigstens soll Ihnen ein Geheimniß bleiben. Gehen Sie hinab!«

Ich konnte nichts anders, als gehorchen, sammt Conseil und dem Canadier. Fünfzehn Mann von den Leuten des Nautilus umgaben den Kapitän und blickten mit unversöhnlichem Haß auf das gegen sie anfahrende Schiff. Man fühlte, wie alle diese Gemüther von gleichem Rachedurst beseelt waren.

Ich begab mich in dem Augenblick hinab, als abermals ein Geschoß auf den Nautilus anschlug, und hörte den Kapitän ausrufen:

»Schieße nur, thörichtes Schiff! Vergeude unnütz Deine Kugeln! Du sollst dem Schnabel des Nautilus nicht entgehen. Aber nicht an dieser Stelle sollst Du sinken. Ich will nicht, daß Deine Trümmer sich mit denen des Vengeur Vermischen!«

Ich ging wieder auf mein Zimmer. Der Kapitän war mit seinem Lieutenant auf der Plattform geblieben. Die Schraube ward in Bewegung gesetzt. Der Nautilus entfernte sich rasch aus der Schußweite des Schiffes. Aber die Verfolgung dauerte fort, indeß der Kapitän Nemo sich damit begnügte, seine Distanz zu wahren.

Gegen vier Uhr Nachmittags konnte ich die Ungeduld und Unruhe, welche mich peinigten, nicht aushalten, und begab mich zur Mittelstiege. Die Lücke war offen; ich wagte mich auf die Plattform. Der Kapitän ging mit raschen Schritten noch immer auf und ab. Ich sah nach dem Schiff, welches fünf bis sechs Meilen unter’m Wind ihm Stand hielt. Er kreiste um dasselbe wie ein Stück Rothwild, zog es östlich und ließ sich von ihm verfolgen. Doch griff er’s nicht an; schwankte er vielleicht noch?

Ich wollte noch einmal ein Wort einlegen. Aber ich hatte den Kapitän kaum angeredet, als er mir Schweigen anbefahl:

»Ich bin im Recht, ich übe Gerechtigkeit! sprach er zu mir. Ich bin unterdrückt, und hier ist der Unterdrücker! Durch ihn hab‘ ich alles verloren, was ich geliebt und verehrt habe; Vaterland, Weib, Kinder, Vater, Mutter, das Alles sah ich zu Grunde gehen! Dort ist Alles, was ich hasse! Schweigen Sie!«

Ich warf einen letzten Blick auf das Kriegsschiff, welches seine Dampfkraft verstärkte. Darauf suchte ich Ned und Conseil auf.

»Wir wollen entfliehen! rief ich aus.

– Gut, sagte Ned. Was ist’s für ein Schiff?

– Ich weiß nicht. Aber was es auch für eins sein mag, vor Abend wird es in Grund gebohrt sein. Jedenfalls besser mit ihm untergehen, als an einer Racheübung Theil zu haben, deren Gerechtigkeit man nicht ermessen kann.

– Der Meinung bin ich auch, erwiderte Ned-Land kalt. Warten wir die Nacht ab.«

Die Nacht kam heran. Tiefe Stille herrschte an Bord. Der Compaß zeigte, daß der Nautilus seine Richtung nicht geändert hatte. Ich hörte die Schraube mit reißender Regelmäßigkeit die Wogen schlagen. Er hielt sich an der Oberfläche des Wassers und in leichtem Schwanken neigte er bald auf die eine, bald auf die andere Seite.

Ich war mit meinen Gefährten entschlossen, in dem Augenblick zu entfliehen, wo das Schiff nahe genug wäre, daß es uns hören oder sehen konnte, denn es war heller Mondschein, einige Tage vor Vollmond. Waren wir einmal an Bord dieses Schiffes, so wollten wir, wenn es nicht möglich märe, dem drohenden Stoß zuvorzukommen, wenigstens Alles thun, was die Umstände uns zu versuchen gestatten würden. Einigemal glaubte ich, der Nautilus schicke sich zum Angriff an. Aber er beschränkte sich darauf, seinen Gegner sich nahe kommen zu lassen, und kurz darauf zog er sich wieder fliehend zurück.

Ein Theil der Nacht verfloß ohne Zwischenfall. Wir lauerten auf die Gelegenheit zu handeln, sprachen wenig, weil wir zu aufgeregt waren. Ned-Land hätte sich gerne in’s Meer gestürzt; ich nöthigte ihn zu warten. Meiner Ansicht nach sollte der Nautilus auf der Oberfläche des Wassers den Zweidecker angreifen und dann wäre eine Flucht nicht nur möglich sondern leicht.

Um drei Uhr Morgens stieg ich voll Unruhe auf die Plattform. Der Kapitän Nemo hatte sie nicht verlassen. Er stand auf dem Vordertheil nahe bei seiner Flagge, die ein leichter Seewind über seinem Kopf entfaltete. Er behielt das Schiff beständig im Auge. Dieses Schiff hielt sich zwei Meilen von uns entfernt. Es hatte sich genähert, immer auf den phosphorescirenden Schein zufahrend, welcher die Anwesenheit des Nautilus bezeichnete. Ich sah seine Warnungsfeuer, grün und roth, und seine weiße Schiffsleuchte, die am Fockstag hing. Ein unklarer Widerschein, der auf sein Takelwerk fiel, zeigte an, daß man das Feuern auf den höchsten Grad getrieben hatte. Strahlenbüschel, Schlacken brennender Kohlen, die aus seinen Rauchfängen ausgeworfen wurden, bestrahlten die Atmosphäre.

Ich blieb also bis sechs Uhr früh, ohne daß der Kapitän Nemo mich zu bemerken schien. Das Schiff hielt erst in einer Entfernung von anderthalb Meilen Stand und begann mit Anbruch des Tages seine Kanonade von Neuem. Der Augenblick konnte nicht mehr fern sein, wo ich, während der Nautilus seinen Gegner angriff, nebst meinen Genossen diesen Mann für immer verlassen würde.

Ich war im Begriff hinabzugehen, um ihnen davon Kenntniß zu geben, als der Lieutenant von einigen Matrosen begleitet auf die Plattform kam. Der Kapitän Nemo sah sie nicht oder wollte sie nicht sehen. Es wurden einige einfache Vorkehrungen getroffen: man legte die Geländereinfassung der Plateform nieder: die Gehäuse des Fanal und des Steuerers wurden in den Schiffskörper so weit eingezogen, daß sie dem Boden gleich waren. Die Oberfläche der langen Cigarre von Eisenblech hatte keinen Vorsprung mehr, welcher ihren Bewegungen hinderlich sein konnte.

Ich begab mich wieder in den Salon. Der Nautilus war noch immer auf der Oberfläche. Einiger Dämmerungsschein drang durch die obere Wasserschichte. Der schreckliche 2. Juni brach an.

Um fünf Uhr gab mir das Log zu erkennen, daß der Nautilus langsamer fuhr; offenbar wollte er den Gegner herankommen lassen. Uebrigens wurde der Geschützesdonner heftiger und die Kugeln flogen ringsum.

»Meine Freunde, sagte ich, der Augenblick ist da. Einen Handschlag, und Gott sei mit uns!«

Ned-Land war entschlossen, Conseil ruhig; ich in allen Nerven erregt, konnte mich kaum halten.

Wir gingen in die Bibliothek. Im Augenblick, als ich die Thüre, welche zur Mitteltreppe führte, öffnen wollte, hörte ich, daß man die Lücke hastig abschloß.

Der Canadier stürzte zur Treppe, aber ich hielt ihn zurück. Ein wohl bekanntes Rauschen gab mir zu erkennen, daß die Behälter sich mit Wasser füllten. In der That tauchte der Nautilus unverweilt einige Meter tief unter die Oberfläche des Wassers.

Ich verstand das Manoeuvre. Es war zum Handeln zu spät. Der Nautilus hatte nicht im Sinne, den Zweidecker an seinem undurchdringlichen Panzer zu treffen, sondern unterhalb der Wasserlinie, wo er nicht mehr von der Metalldecke geschützt war.

Wir wurden von Neuem eingesperrt, gezwungen, Zeugen der Unglücksscene, welche man vorbereitete. Uebrigens hatten wir kaum Zeit, unsere Gedanken zusammen zu fassen. In mein Zimmer geflüchtet, sahen wir uns einander an, ohne ein Wort zu reden. Große Bestürzung befiel meinen Geist; die Bewegung des Gedankens stockte in mir. Ich befand mich in dem peinlichen Zustand, welcher der Erwartung einer fürchterlichen Katastrophe vorausgeht. Ich wartete, horchte, ich lebte nur noch durch’s Gehör!

Inzwischen nahm die Schnelligkeit des Nautilus wirklich zu. So nahm er seinen Anlauf; er zitterte am ganzen Körper.

Plötzlich schrie ich auf. Ein Stoß war versetzt worden, doch verhältnißmäßig leicht. Ich spürte, wie der stählerne Schnabel kräftig eindrang; ich hörte ein Kratzen und Schaben. Aber der Nautilus drang mit der mächtigen Gewalt seines Stoßes durch die Schiffsmasse, wie die Nadel des Segelmachers durch die Leinwand!

Ich konnte mich nicht halten. Bis zum Wahnsinn verstört stürzte ich aus meinem Zimmer in den Salon.

Der Kapitän Nemo befand sich darin. Stumm, düster, unversöhnlich schaute er durch das Fenster zur Linken.

Eine enorme Masse sank unter das Wasser, und um von ihrem Todeskampf nichts zu verlieren, senkte sich der Nautilus zugleich mit ihr in die Tiefe. In einer Entfernung von zehn Meter sah ich den aufgeschlitzten Schiffskörper, in welchen mit donnerähnlichem Getöse das Wasser einstürzte, darauf die doppelte Reihe der Kanonen und die Schanzverkleidung. Das Verdeck war mit schwarzen Schattengestalten bedeckt in unruhiger Bewegung.

Das Wasser stieg. Die Unglücklichen schwangen sich in’s Tauwerk, kletterten auf die Mäste, rangen und drehten sich unter’m Wasser. Es war ein Menschenschwarm vom eindringenden Meer überwältigt!

Gelähmt, starr vor Schrecken, die Haare zu Berge, schaute auch ich mit weit aufgerissenen Augen, stockendem Athem, lautlos! – Unwiderstehlich zog mich’s an das Fenster!

Das enorme Schiff sank langsam in die Tiefe. Der Nautilus spähte auf alle seine Bewegungen. Plötzlich eine Explosion. Die zusammengepreßte Luft sprengte das Verdeck, als sei Feuer in den Schiffsräumen ausgebrochen. Die Wasser waren so stark in Bewegung, daß der Nautilus aus seiner Richtung kam.

Darauf sank das Unglücksschiff schneller. Sein mit Opfern gefüllter Mastkorb kam zum Vorschein, dann sein mit Menschen belastetes Gebälk, endlich die Spitze seines Hauptmastes. Hierauf verschwand die düstere Masse und mit ihr die ganze Mannschaft als Leichen, in fürchterlichem Wirbel hinabgezogen.

Ich wandte mich um nach dem Kapitän Nemo. Dieser entsetzliche Henker, ein wahrer Erzengel des Hasses, schaute fortwährend zu. Als Alles zu Ende war, ging der Kapitän auf die Thür seines Zimmers zu, öffnete und trat ein. Ich folgte ihm mit den Augen.

Auf dem hintersten Feld, über den Bildern seiner Heroen, sah ich das Porträt einer noch jungen Frau nebst zwei kleinen Kindern. Der Kapitän Nemo betrachtete sie einige Augenblicke, breitete die Arme nach ihnen aus und kniete schluchzend nieder.

Zweiundzwanzigstes Capitel

Zweiundzwanzigstes Capitel

Letzte Worte des Kapitän Nemo

Die Läden wurden nach diesem erschrecklichen Anblick geschlossen, aber das Licht im Salon nicht wieder angezündet. Im Inneren des Nautilus nur Dunkel und Schweigen. Er verließ diesen heillosen Ort, hundert Fuß unter’m Wasser, mit reißender Schnelligkeit. Wohin fuhr er? nord- oder südwärts? Wohin floh dieser Mann nach der grauenhaften Racheübung?

Ich begab mich zurück in mein Zimmer, wo Ned und Conseil sich schweigend befanden. Ich empfand ein unüberwindliches Grauen vor dem Kapitän Nemo. Was er auch von Seiten der Menschen erlitten haben mochte, so zu strafen war er nicht befugt. Er hatte mich, wenn auch nicht zum Mitschuldigen, doch zum Zeugen seiner Unthat gemacht! Das war schon zu viel.

Um elf Uhr kam das elektrische Licht wieder zum Vorschein. Ich begab mich in den Salon. Er war leer. Ich besorgte die verschiedenen Instrumente. Der Nautilus floh nordwärts mit einer Schnelligkeit von fünfundzwanzig Meilen die Stunde, bald auf der Oberfläche des Meeres, bald dreißig Fuß darunter.

Ein Blick auf die Karte zeigte mir, daß wir am Eingang des Canals fuhren, und unsere Richtung uns mit unvergleichlicher Schnelligkeit in die nördlichen Meers führte.

Am Abend hatten wir zweihundert Lieues des Atlantischen Meeres zurückgelegt. Es wurde Nacht und das Meer war mit Dunkel bedeckt bis zum Aufgang des Mondes.

Ich begab mich wieder in mein Zimmer, konnte nicht schlafen; ich war von Alpdrücken geplagt. Die grauenhafte Vernichtungsscene stand immer erneuert vor meinem Geist.

Seit diesem Tag, wer konnte sagen, bis zu welchem Punkt im Nordatlantischen Meer der Nautilus uns schleppte? Stets mit einer nicht zu schätzenden Schnelligkeit! Stets inmitten hyperboräischer Nebel. Berührte er die Vorgebirge Spitzbergens oder die Küsten von Novaja Semlia? Durchlief er das Weiße Meer, das Meer von Kara, den Busen des Ob, den Archipel Lizarow und die unbekannten Gestade der Asiatischen Küste? Ich kann es nicht sagen, und konnte auch die verflossene Zeit nicht berechnen. Die Uhren an Bord standen still; Tag und Nacht schienen nicht mehr regelmäßig auf einander zu folgen.

Ich schätze – aber vielleicht irre ich mich – daß diese abenteuerliche Fahrt des Nautilus vierzehn bis zwanzig Tage dauerte, und ich weiß nicht, wie lang sie gedauert haben würde ohne die Katastrophe, womit diese Reise endigte. Vom Kapitän Nemo war nicht mehr die Rede; auch nicht von seinem Lieutenant, Nicht ein Mann von den Bootsleuten ließ sich nur einen Augenblick sehen. Fast beständig fuhr der Nautilus unter’m Wasser, und wenn er zur Lufterneuerung auftauchte, öffneten oder schlossen sich die Lucken automatisch. Die Lage wurde nicht mehr eingetragen; ich wußte nicht, wo wir uns befanden.

Auch der Canadier, dessen Geduld und Kraft erschöpft war, ließ sich nicht mehr sehen. Conseil konnte nicht ein Wort aus ihm herausbringen und fürchtete, er möge, in einem Anfall von Wahnsinn oder von erschrecklichem Heimweh getrieben, Hand an sich legen. Er überwachte ihn daher jeden Augenblick mit Hingebung.

Es ist begreiflich, daß unter diesen Umständen die Lage unhaltbar war.

Eines Tages – wann, kann ich nicht angeben – war ich gegen Morgen eingeschlafen, – ein peinlicher und krankhafter Schlaf. Als ich aufwachte, sah ich Ned-Land über mich gebeugt und hörte ihn leise sagen:

»Wir wollen entfliehen!«

Ich richtete mich auf.

»Wann wollen wir fliehen? fragte ich.

– In nächster Nacht. Jede Ueberwachung scheint vom Nautilus verschwunden. Man meint, es herrsche Verstörung an Bord. Werden Sie bereit sein, mein Herr?

– Ja. Wo befinden wir uns?

– Im Angesicht von Land, das ich diesen Morgen mitten im Nebel zwanzig Meilen östlich wahrgenommen habe.

– Was für Land?

– Ich weiß nicht, aber es sei, was es wolle, wir wollen dahin fliehen.

– Ja! Ned. Ja, wir fliehen diese Nacht, sollte uns auch das Meer verschlingen!

– Das Meer ist schlimm, der Wind stark, aber zwanzig Meilen in dem leichten Boot des Nautilus zu machen, ist für mich nichts Erschreckliches. Ich habe unbemerkt einige Lebensmittel und einige Flaschen Wasser hinschaffen können.

– Ich schließe mich an.

– Uebrigens, fügte der Canadier bei, wenn ich ertappt werde, wehr‘ ich mich, lasse mich umbringen.

– Dann werden wir mit einander sterben, Freund Ned.«

Ich war zu Allem entschlossen. Der Canadier verließ mich. Ich begab mich auf die Plattform, wo ich mich gegen den Wellenschlag kaum halten konnte. Der Himmel war drohend, aber da im dichten Nebel Land in der Nähe war, so mußte man fliehen. Kein Tag und keine Stunde war zu verlieren.

Ich kam in den Salon zurück, fürchtete und wünschte zugleich den Kapitän Nemo zu treffen, wollte und wollte nicht mehr ihn sehen. Was hätte ich ihm sagen können? Konnte ich ihm das unwillkürliche Grauen verhehlen, das er mir einflöße? Nein! Besser war nicht mehr vor sein Angesicht zu kommen. Besser war, ihn vergessen! Und doch!

Wie wurde mir dieser Tag lang, der letzte, den ich an Bord des Nautilus verleben sollte! Ich blieb allein. Ned-Land und Conseil vermieden mit mir zu reden, aus Furcht sich zu verrathen.

Um sechs Uhr speiste ich, aber ich hatte keinen Hunger. Ich zwang mich wider Willen zu essen, um nicht an Kräften schwächer zu werden.

Um halb sieben kam Ned-Land auf mein Zimmer und sagte:

»Wir werden uns vor unserer Abfahrt nicht wieder sehen. Um zehn Uhr ist der Mond noch nicht aufgegangen, und die Dunkelheit wird uns zu Gute kommen. Kommen Sie zum Boot. Ich werde mit Conseil Sie dort erwarten.«

Darauf entfernte sich der Canadier, ehe ich Zeit hatte, ihm zu antworten.

Ich wünschte über die Richtung des Nautilus Auskunft zu haben, und begab mich in den Salon.

Wir fuhren Nord-Nord-Ost unter erschrecklicher Geschwindigkeit bei fünfzig Meter Tiefe.

Ich warf einen letzten Blick auf diese Wunder der Natur, auf die in diesem Museum gehäuften Schätze der Kunst, auf diese unvergleichliche Sammlung, die einst in der Tiefe des Meeres zugleich mit ihrem Gründer zu Grunde gehen sollte. Ich wünschte in meinem Geist einen letzten Eindruck festzuhalten. Eine Stunde lang blieb ich hier, in der hellen Beleuchtung die Schätze musternd, welche unter ihren Glaskästen glänzten. Darauf kehrte ich auf mein Zimmer zurück.

Hier zog ich dauerhafte Meerkleidung an, nahm meine Notizen zusammen und steckte sie wie Kostbarkeiten zu mir. Mein Herz pochte gewaltig; seine Schläge ließen sich nicht hemmen. Gewiß, meine Unruhe, meine Aufregung würden mich dem Kapitän Nemo verrathen haben.

Was that er in diesem Moment? Ich horchte an der Thüre seines Zimmers; hörte da Fußtritte. Der Kapitän war darin; er hatte sich nicht zu Bette gelegt. Bei jeder Bewegung kam es mir vor, er werde zu mir treten und mich fragen, weshalb ich fliehen wollte! Ich empfand unablässige Beunruhigung. Meine Einbildungskraft vergrößerte sie noch. Diese Empfindungen waren so peinigend, daß ich mich fragte, ob es nicht besser wäre, in’s Zimmer des Kapitäns zu treten, ihm grade in’s Angesicht zu sehen, mit Blick und Geberde zu trotzen!

Ein wahnsinniger Gedanke. Glücklicherweise that ich’s nicht, und legte mich auf mein Bett, um die körperliche Aufregung in mir zu stillen. Meine Nerven wurden ein wenig ruhiger, aber bei der Überspannung meines Gehirns überblickte ich in rascher Erinnerung mein ganzes Leben an Bord des Nautilus, alle die glücklichen oder unglücklichen Erlebnisse seit meinem Verschwinden vom Abraham Lincoln bis zu der gräßlichen Scene des mit seiner Mannschaft versenkten Schiffes. Da erschien mir der Kapitän Nemo über die Maßen groß, als ein Charakter von übermenschlichen Verhältnissen, der seines Gleichen nicht hatte.

Es war damals halb zehn Uhr. Ich hielt meinen Kopf mit beiden Händen, damit er nicht zerspringe. Ich schloß die Augen; wollte nicht mehr denken. Also noch eine halbe Stunde! Das Warten konnte mich zum Narren machen!

In dem Augenblick vernahm ich die Accorde der Orgel, eine traurige Harmonie, eine unbeschreibliche Melodie, den klagenden Ausdruck einer Seele, welche ihre irdischen Bande sprengen will. Ich lauschte mit allen Sinnen zugleich, kaum athmend, gleich dem Kapitän Nemo in die musikalische Entzückung versenkt, welche ihn über die Grenzen dieser Welt hinauszog.

Darauf erschreckte mich ein plötzlicher Gedanke. Der Kapitän Nemo befand sich in dem Saal, durch welchen ich kommen mußte, um zu entfliehen. Hier sollte ich ihn zum letzten Male treffen. Er würde mich sehen, vielleicht mit mir sprechen! Eine Bewegung von ihm konnte mich vernichten, ein einziges Wort mich an seinen Bord fesseln!

Indessen war es gleich zehn Uhr. Der Zeitpunkt war gekommen, wo ich mein Zimmer verlassen und zu meinen Gefährten mich begeben mußte.

Es war nicht mehr zu zögern, sollte auch der Kapitän Nemo mir entgegen treten. Ich öffnete behutsam meine Thüre, und doch schien mir’s, als knarrte sie in den Angeln. Vielleicht bildete ich mir’s auch nur ein.

Ich schlich weiter durch die dunkeln Gänge des Nautilus, hielt bei jedem Schritt inne, um mein Herzklopfen zu unterdrücken.

Als ich an der Eckthüre des Salons ankam, öffnete ich leise. Der Salon lag in tiefem Dunkel; die Accorde der Orgel klangen schwach. Der Kapitän Nemo befand sich da, sah mich aber nicht. Ich glaube sogar, bei hellem Tageslicht hätte er mich nicht bemerkt, so sehr war er in Entzücken versunken.

Ich schlich auf dem Teppich und vermied das geringste Geräusch, das meine Anwesenheit verrathen hätte. Ich brauchte fünf Minuten, um zu der Thüre zu gelangen, welche zur Bibliothek führte.

Ich war im Begriff, sie zu öffnen, als ein Seufzen des Kapitäns mich an der Stelle fesselte. Er stand auf, kam auf mich zu, mit gekreuzten Armen, schweigend, schwebend wie ein Gespenst. Er schluchzte aus gedrückter Brust, und ich hörte ihn murmeln – die letzten Worte, die ich aus seinem Munde vernahm:

»Allmächtiger Gott! Genug! Genug!«

War’s ein Ausdruck von Gewissensbissen? …

Ganz bestürzt eilte ich in die Bibliothek. Ich stieg die Mitteltreppe hinauf und gelangte durch den obern Gang zum Boot. Durch die Oeffnung, welche bereits meinen beiden Gefährten gedient hatte, stieg ich ein.

»Fort nur! fort! rief ich.

– Im Augenblick!« erwiderte der Canadier.

Die in dem Eisenblech des Nautilus ausgeschnittene Oeffnung wurde erst geschlossen, und mit einem englischen Schlüssel, den sich Ned-Land zu Verschaffen gewußt hatte, zugeschraubt. Eben so auch die Oeffnung des Bootes und der Canadier fing an die Schrauben zu öffnen, welche uns noch am unterseeischen Boot fest hielten.

Da vernahm man plötzlich ein Geräusch innen; Stimmen in lebhaftem Wortwechsel. Was gab’s? Hatte man unsere Flucht gemerkt? Ned-Land steckte mir still einen Dolch in die Hand.

»Ja! murmelte ich, wir werden zu sterben wissen!«

Der Canadier hatte mit seiner Arbeit inne gehalten. Doch ein Wort, zwanzigmal wiederholt, ein fürchterliches Wort enthüllte mir die Ursache dieser unruhigen Bewegung an Bord des Nautilus, Uns galt die Aufregung nicht!

»Maelstrom! Maelstrom!« rief es.

Der Maelstrom! Ein schrecklicheres Wort in einer schrecklicheren Lage hatten wir nicht hören können. Wir befanden uns also an dieser gefährlichen Stelle der norwegischen Küste? Ward der Nautilus in diesen Abgrund gerissen im Moment, wo unser Boot sich von ihm los zu machen im Begriff war?

Bekanntlich bilden die zwischen den Farör- und Loffoden-Inseln eingeengten Gewässer zur Zeit der Fluth einen Strudel mit unwiderstehlicher Gewalt, dem noch niemals irgend ein Schiff entronnen ist. Von allen Seiten des Horizonts her strömen ungeheuerliche Wogen hier zusammen, und die Anziehungskraft dieses Strudels erstreckt sich auf eine Entfernung von fünfzehn Kilometer, so daß nicht allein Schiffe, sondern auch die Wallfische und Eisbären fortgerissen werden.

Hierhin war der Nautilus von seinem Kapitän – ohne, oder vielleicht mit Willen – geleitet worden. Er beschrieb eine Spirallinie, deren Umfang stets enger wurde. Mit ihm wurde auch das noch daran befestigte Boot in schwindelhaftem Zug fortgerissen. Todesschrecken befiel uns, im höchsten Grauen stockte das Blut, kalter Schweiß drang auf die Stirne! Und welches Getöse um unser zerbrechliches Boot herum! Ein Brausen, das vom Echo wiederholt gehört wurde. Ein Krachen der Wogen, die sich auf den Felsenspitzen meilenweit brachen im tiefen Grunde, wo die härtesten Körper zerschmettert werden.

Welche Lage! Wir wurden gräßlich hin und her geschleudert. Der Nautilus vertheidigte sich, daß seine eisernen Muskeln krachten.

»Wir müssen wacker fest halten, sagte Ned, und die Schrauben wieder befestigen! Bleiben wir am Nautilus fest, so können wir uns noch retten!« …

Er hatte noch nicht ausgeredet, als es krachte. Die Schrauben mangelten, das Boot wurde aus seinem Gehäuse gerissen und wie ein Stein aus einer Schleuder mitten in den Strudel geworfen.

Mein Kopf wurde wider einen eisernen Rahmen geschmettert, und bei der heftigen Erschütterung verlor ich die Besinnung.

Dreiundzwanzigstes Capitel

Dreiundzwanzigstes Capitel

Schluß

Hiermit schließt die unterseeische Reise. Was diese Nacht vorfiel, wie das Boot aus dem furchtbaren Wirbel des Maelstromes entrann, wie ich mit Ned-Land und Conseil aus dem Schlund wieder heraus kam, kann ich nicht sagen. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einer Fischerhütte der Loffoden-Inseln. Meine beiden Gefährten waren gesund und wohlbehalten an meiner Seite und drückten mir die Hände. Wir umarmten uns mit Innigkeit.

In diesem Augenblick können wir nicht daran denken nach Frankreich zurückzukehren. Die Verkehrsmittel zwischen dem nördlichen Norwegen und dem Süden sind spärlich! Ich muß daher die Vorüberfahrt des Dampfbootes abwarten, welches alle zwei Monate nach dem Nordcap fährt.

Hier also, umgeben von den braven Leuten, welche uns aufgenommen haben, sehe ich die Erzählung dieser Abenteuer durch. Sie ist genau: keine Thatsache ist übergangen, kein Detail übertrieben worden. Es ist der treue Bericht über diese unwahrscheinliche Fahrt unter einem für den Menschen unzugänglichen Element, dessen Bahnen der Fortschritt dereinst eröffnen wird.

Wird man mir glauben? Ich weiß es nicht. Es liegt auch nicht viel daran. Ich habe jetzt, kann ich wohl versichern, das Recht, über diese Meere zu reden, unter welchen ich nicht allein volle zehn Monate, zwanzigtausend Meilen zurückgelegt habe; von dieser unterseeischen Reise zu erzählen, die mir so manche Wunder im Stillen Meere, dem Indischen Ocean, dem Rothen Meere, dem Mittelländischen, dem Atlantischen, dem nördlichen und südlichen Eismeere enthüllte.

Aber, was ist aus dem Nautilus geworden? Hat er dem gewaltigen Druck des Maelstromes widerstanden? Verfolgte er seine erschrecklichen Repressalien weiter, oder ist er bei dieser letzten Hekatombe stehen geblieben? Werden uns die Fluthen eines Tages das Manuscript mit seiner ganzen Lebensgeschichte zuführen? Werde ich endlich den Namen dieses Mannes erfahren?

Ich hoffe es. Hoffe ebenfalls, daß sein mächtiges Fahrzeug das Meer in seinem erschrecklichsten Schlund überwältigt, und daß der Nautilus unverletzt geblieben ist, wo so viele Schiffe zu Grunde gegangen sind! Wenn das letztere der Fall ist, wenn der Kapitän Nemo immer noch im Meere hauset, seinem Adoptiv-Vaterlande, so möge der Haß in diesem wilden Gemüth sich beschwichtigen lassen! Die Anschauung so vieler Wunder möge den Rachedurst in ihm austilgen! Möge der strafende Richter aufhören, der Gelehrte die friedliche Erforschung des Meeres fortsetzen. Das seltsame Geschick ist auch ein erhabenes. Zehn Monate habe ich das außernatürliche Leben geführt.

Vor sechstausend Jahren hieß es, wie geschrieben steht: »Wer hat je die Tiefen des Abgrundes zu erforschen vermocht?« Zwei Männer sind die einzigen in der Menschenwelt, welche jetzt die Antwort auf diese Frage geben können. Der Kapitän Nemo – – und ich.