Sechzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

Unserem wachsamen Abenteurer entgingen diese schlimmen, wohlbekannten Vorzeichen nicht. Kaum erblickte er die eigentümliche Atmosphäre, die plötzlich das geheimnisvolle Bild, den Gegenstand seines ängstlichen, lang vergeblichen Forschens, umgab, so ertönte warnend seine klare und kräftige Stimme:

»Zu Hauf! Die Leesegel runter! Runter damit!« schrie er so rasch hintereinander, daß seine Untergebenen fast die ersten Worte nicht hören konnten. »Runter bis auf den letzten Lappen, vorn und hinten! Bemannt die Geitaue der Bramsegel, Earing. Geitaue auf und nieder! Herab mit allem, ihr Leute, munter! munter! Herab damit!«

Das war der Mannschaft der Carolina eine ebenso bekannte als willkommene Sprache, denn der gemeinste Matrose darunter hatte schon lange seine eigenen Gedanken über die leichtsinnige Art, wie sein Kommandeur mit der Sicherheit des Schiffes sein Spiel trieb und frech den unglückverkündenden Symptomen des Wetters Trotz bot. Allein sie verkannten den Scharfblick und die Beobachtungsgabe Wilders. Er hatte allerdings das Bristoler Handelsschiff zu einer bisher noch nicht erreichten Schnelligkeit angetrieben; allein noch sprach die Tatsache zu seinen Gunsten, daß seine vermeintliche Verwegenheit bis jetzt dem Schiffe keinen Schaden zugezogen hatte. Als indessen der rasche, plötzliche Befehl ertönte, war das ganze Schiff augenblicklich in einem Aufruhr. Ein Dutzend Matrosen riefen aus verschiedenen Teilen des Schiffes einander zu, mit Stimmen, die es dem brüllenden Ozean zuvorzutun suchten; es sah aus, als wenn sich alles in einen allgemeinen Wirrwarr auflösen wollte, allein der nämliche Herrschergeist, der so unerwartet ihre regste Tätigkeit hervorzurufen wußte, verstand es auch, ihre kräftigen, aber verwirrenden Anstrengungen zur Ordnung zurückzuführen. Seine bisherigen Alarmrufe hatten zum Zweck, die Schläfrigen munter und die Trägen regsam zu machen; sobald er aber diesen Zweck erreicht und jeden in voller Tätigkeit sah, erteilte er seine Befehle, zwar nicht ohne den Nachdruck, den der Drang des Augenblickes gebot, aber doch mit einer Ruhe, wodurch die Kräfte jedes einzelnen erst dahin geleitet wurden, wo sie nützen konnten.

Die zahllose Masse von Segeln, die am düstern, drohenden Himmel wie ebenso viele lichte Wölkchen ausgesehen hatten, flatterten wild im Winde, als sie von ihren hohen Stangen herabgelassen wurden, und nach einigen Minuten war das Schiff ausschließlich auf die Wirkung der schweren, größere Sicherheit darbietenden Segel beschränkt. Die Herstellung dieses Zweckes hatte nicht nur eine feste und entschlossene Leitung von seiten des Kommandeurs erfordert, sondern auch alle Kräfte sämtlicher Mannschaft bis aufs Äußerste in Anspruch genommen. Darauf folgte eine kurze, angstvolle Pause der Erholung, während der jedes Auge nach der Gegend hin gerichtet war, wo die schlimmen Vorzeichen zuerst entdeckt worden waren, und ein jeglicher versuchte die Bedeutung zu entziffern, mit einer mehr oder minder richtigen Einsicht, je nach dem Grade der gesammelten Erfahrung während seiner kürzeren und längeren Dienstzeit auf dem verräterischen, zu seiner Heimat gewordenen Elemente.

Die matte Spur der Gestalt des fremden Schiffes war in der lichten Nebelflut zerschmolzen, die sich jetzt die See entlang wälzte wie fliegender Dampf, halb durchsichtig, gespenstisch, und dem Scheine nach fühlbar. Der Ozean selbst schien gewarnt vor einem bevorstehenden schnellen und heftigen Wechsel. Nicht mehr brachen sich die Wellen mit schäumenden und schimmernden Spitzen, nein, schwarze Wassermassen sah man ihre zürnenden Häupter gegen den östlichen Horizont erheben, die aber nun nicht wie vorhin jenes eigentümliche funkelnde Geflimmer von sich gaben. Auch der bisher straffe Wind, der sich zuweilen zu einer kleinen Bö gesteigert hatte, begann zu lunen und unsicher zu werden, gleichsam eingeschüchtert von der höheren Macht, die sich an der vom Horizont begrenzten Seelinie, nach der Richtung des nächsten Festlandes hin, zu sammeln anfing. Mit jedem Moment verloren die östlichen Windstöße an Kraft und wurden schwächer und schwächer, bis man nach wenigen Augenblicken die schweren Segel gegen die Masten anschlagen hörte: – drauf eine schreckliche, ahnungsvolle Stille! In diesem Augenblick erleuchtete ein flüchtiger Blitz die Finsternis des Ozeans, und dann rollte ein Knall, wie der einer plötzlichen Entladung des Donners, auf dem Gewässer daher. Die Matrosen sahen sich erschrocken an und standen verblüfft, als wenn sie vom Himmel eine Warnung vernommen hätten, von dem, was bevorstehe. Allein der mehr besonnene und scharfsichtige Kommandeur legte das Signal ganz anders aus. Im vollen Kennerstolz die Lippen aufwerfend, murmelte er rasch und mit einer Art von Verachtung vor sich hin:

»Er glaubt wohl, wir schlafen hier? Ha, er ist selbst mitten drin und will uns gegen das Herannahende warnen? Wunderlich! Er bildet sich ein, wir seien müßig gewesen, seit die Mitternachtswache abgelöst ist!«

Dann drehte er sich auf der Schanze einigemal um, den Blick unaufhörlich von einer Himmelsgegend nach der anderen wendend, von dem schwarzen stillen Wasser, auf dem sein Schiff schlingerte, zu den Segeln, und von seinen stummen, in tiefer Erwartung versunkenen Matrosen hinauf zu den matten Linien der Spieren, die sich über seinem Haupt hin- und her bogen und sich in dem düstern Getriebe der Wolken wie ebenso viele kleine gekrümmte Stäbchen ausnahmen.

»Braßt die Hinterrahen ans Kreuz!« rief er mit einer Stimme, die nur einen Ton über die gewöhnliche Sprechstimme erhoben, aber doch einem jeden auf dem Verdeck vollkommen vernehmlich war. Selbst das Schwirren der Blöcke, als die Spieren langsam und schwerfällig in die genannte Lage gedreht wurden, steigerte das Erhabene des Augenblicks und tönte in den Ohren der Erfahreneren wie Signale furchtbarer Vorbereitung.

»Holt die großen Segel an!« fuhr Wilder nach einem kurzen Augenblick der Überlegung mit derselben beredten Ruhe in seinen Befehlen fort. Darauf sah er noch einmal nach dem drohenden Horizont hin und fügte dann mit Nachdruck hinzu: »Rollt sie zusammen, rollt sie beide zusammen. – Nehmt die Segel oben weg! Beschlagt die großen Untersegel!« schrie er hinauf; »rollt sie zusammen, rasch! Zusammen damit, Jungens! frisch, sag‘ ich!«

Die Matrosen fühlten wohl, daß der Drang des Augenblicks groß war, und die Töne ihres Kommandeurs beseelten sie alle zur äußersten Anstrengung. In einem Augenblick sah man zwanzig dunkle Gestalten wie Vierfüßler munter die Takelage hinaufklettern, und einen Augenblick darauf waren auch schon die ungeheuern gewaltigen Segeltücher unschädlich gemacht und dicht zusammengerollt an ihren verschiedenen Spieren befestigt.

Die Leute stiegen von den Rahen ebenso schnell wieder herab, als sie hinaufgestiegen waren, dann folgte noch eine kurze Erholungspause. In diesem Augenblick würde die Flamme eines Lichtes kerzengerade gen Himmel gestiegen sein, so windstill war es. Der regelmäßig antreibenden Gewalt des Windes beraubt schwankte das Schiff in den Vertiefungen zwischen den zunehmend kleiner werdenden Wellen. Es schien, als ob das aufgeschreckte Element jetzt alle die Teilchen, die es kurz vorher in der Gestalt zahlloser Wogen auf seiner Oberfläche wild herum tanzen ließ, in den sicheren Hort seines ungeheuern Schoßes zurückriefe. Bald bespülte das Wasser mürrisch den unteren Rand des Schiffes, bald schoß es in unzähligen kleinen schimmernden Kaskaden vom Verdeck, wenn das arbeitende Fahrzeug von der einen Seite einer Woge hinabstürzte und sich erhob, um eine neue zu erklimmen. Jede Schattierung am Himmel, jedes Rauschen des Wassers, jedes trübe und niederschlagende Gesicht, das bei einem vorübergehenden Schimmer sichtbar wurde, erhöhte die schmerzliche Spannung des Augenblicks. In diesem kurzen Zwischenraum des Erwartens und Ausruhens näherten sich die beiden Subalternoffiziere nochmals ihrem Kommandeur.

»Es ist eine entsetzenerregende Nacht, Herr Kapitän«, sagte Earing, der seines höheren Ranges halber das Gespräch einleitete.

»Ich kenne manche Beispiele, wo das Umsetzen des Windes weit plötzlicher eintrat«, war die Antwort.

»Es ist freilich wahr, Sir, wir hatten noch Zeit genug, unsere Drachen einzuziehen; aber bei alledem ist dieses Umsetzen von Warnungszeichen begleitet, vor denen wohl der älteste Seemann Respekt hat!«

»Ja,« fuhr Nighthead fort, mit einer Stimme, die an Rauheit und Gewalt das Grausenhafte der umgebenden Szene noch überbot; »jawohl, eine Kleinigkeit ist’s nicht, die gewisse Leute, die ich nicht nennen will, in einer Nacht wie dieser zur See ruft. Es war gerade ein solches Wetter, als ich die Bombenkiste Vesuv an einen Ort gehen sah, der so tief war, daß keine Bombe aus ihrem Mörser bis in die freie Luft hätte reichen können, wär’s auch angegangen, da eine abzudrücken, wo sie lag.«

»Ganz recht, solches Wetter war es auch, als der Grönländer an den Orkneyinseln strandete: die toteste Windstille, die je auf See gelegen.«

»Meine Herren,« sagte Wilder, mit einem eigentümlichen und etwas ironischen Druck auf dieses Wort; »was ist eigentlich Ihr Verlangen? Kein Lüftchen rührt sich, und das Schiff ist bis zu den Topps von Segeln entblößt!«

Diese Frage genügend zu beantworten, würde beiden Unzufriedenen schwer geworden sein. Der innere Sporn, der sie antrieb, war die unbestimmte, abergläubische Furcht vor etwas Geheimnisvollem, eine Furcht, die das bestimmtere und unzweideutigere Aussehen der Nacht freilich nicht wenig steigerte; doch hatte keiner von beiden seinen Mut und seemännischen Stolz so gänzlich verloren, daß er sich getraut hätte, die Blöße seiner ganzen Schwäche aufzudecken, zumal in einer Stunde, wo sie jeden Moment aufgefordert werden konnten, ihre Entschlossenheit und Unerschrockenheit durch die Tat zu beweisen. Demungeachtet aber verriet Earings Antwort, wie unumwunden sie auch war, was für ein Gefühl ihn am meisten beherrschte.

»Nu ja, das Fahrzeug ist in ziemlich gutem Stande,« sagte er, »obgleich der Augenschein uns allen die Lehre gegeben hat, daß es in einem schwer befrachteten Schiffe keine leichte Sache ist, mit einem Fahrzeug um die Wette zu segeln, von dem man nicht weiß, wer sein Steuer regieren, oder nach welchem Kompaß es segeln, oder wie tief es Wasser ziehen mag.«

»Das sag‘ ich auch,« setzte Nighthead hinzu; »für ein ehrliches Kauffahrteischiff ist die Carolina schnell genug, und wenig Rahesegelschiffe gibt’s unter denen, die nicht die königliche Flagge führen, die der Carolina den Wind abgewinnen, oder sie aus ihrem Fahrwasser bringen könnten, wenn sie ihre Leesegel beigesetzt hat. Aber bei solchem Wetter und zu solcher Stunde mag sich ein Seemann in acht nehmen! Seht dort jenes Nebellicht nach der Landseite zu, das so schnell auf uns zukommt, und dann sagt mir, ob es von der Küste von Amerika herkommt, oder nicht vielmehr aus dem fremden Schiff. Glaubt mir, das Schiff ist zwar lange unter unserer Leeseite gewesen; allein es gewinnt uns, ohne daß wir uns dessen versehen, endlich doch den Wind ab, wenn’s nicht schon geschehen ist. Ich lobe mir zum Nachbar ein Schiff, dessen Kapitän ich kenne, oder lieber gar keins – mehr sag‘ ich nicht!«

»Das ist Ihr Geschmack, Herr Nighthead,« sagte Wilder kalt: »meiner ist zufällig von ganz anderer Art.«

»Nu ja,« fiel der vorsichtigere und klügere Earing ein, »in Kriegszeiten und mit Kaperbriefen versehen, kann man in allen Ehren wünschen, mal einem Schiff zu begegnen, dessen Befehlshaber ein Fremder ist, sonst würde man niemals aus den Feind stoßen. Aber unter den jetzigen Umständen gesteh‘ ich, obgleich ein geborener Engländer, ich würde das Schiff in dem Nebel dort von Herzen gern laufen lassen, da man weder weiß, was für einer Nation es angehört, noch auf was für einer Fahrt es begriffen ist. Ach, Herr Kapitän, was wir jetzt, zur Zeit der Morgenwache, dort erblicken, das ist wahrlich nichts Tröstliches! Gar manch liebes Mal hab‘ ich die Sonne im Osten aufsteigen sehen, ohne daß es was geschadet hätte; aber nimmermehr kann ein Tag gut endigen, wenn das Licht zuerst in Westen anbricht. Herzlich gern schenkte ich dem Prinzipal die Gage eines ganzen Monats, wie blutsauer ich sie auch verdient habe, wüßte ich nur, unter welcher Flagge der Fremde dort segelt.«

»Franzose, Spanier oder Satan, dort kommt er!« schrie Wilder.

Dann, sich zu den stummen, aufpassenden Matrosen wendend, rief er mit einer Stimme, die durch das Heftige und Bedeutungsschwere darin entsetzlich klang: »Laßt die Hinterfalltaue schießen! Herum mit der Fockrahe! Herum damit, ihr Leute, den Augenblick!«

Gar wohl verstand die aufgeschreckte Mannschaft dies Kommando. Jeder Nerv, jeder Muskel wurde angestrengt, den Orders zeitig genug nachzukommen, um auf den Empfang des nahenden Sturmes bereit zu sein. Kein einziger gab einen Laut von sich; sondern jeder verwandte seine Kräfte und Geschicklichkeit, um der ernsten Stunde zu genügen. Auch war kein einziger Augenblick zu verlieren, noch der geringste Teil menschlicher Kräfte ohne mehr als hinreichenden Grund in Anspruch zu nehmen.

Der lichte und furchtbar drohende Nebel, der sich während der letzten Viertelstunde in Nordwest anballte, trieb nun auf sie zu, mit der Geschwindigkeit eines Rennpferdes. Schon hatte die Luft das eigentümlich Klamme des Ostwinds verloren; und zwischen den Mastbäumen fing der Wind an in kleinen Kreisen zu wirbeln – alles Vorboten des kommenden Sturmwinds. Jetzt sauste ein heulender Ton über den Ozean dahin, dessen Glätte stufenweise zu einer gekräuselten Glanzfläche weißen, fleckenlosen Schaums verwandelt wurde. Im nächsten Augenblick traf die Gewalt des Windes in vollster Wut das arbeitende Schiff.

Wilder hatte; als er den herannahenden Sturm bemerkte, den geringen Vorteil, den ihm das Abwechseln der Windstöße darbot, benutzen wollen, um das Schiff vor den Wind zu bringen; allein die träge Bewegung des Schiffes entsprach weder seiner eigenen Ungeduld, noch dem Drange des Augenblicks. Langsam und schwerfällig, mit der Seite von Norden abfallend, war es seiner Stellung nach der vollen Lage des Windes ausgesetzt. Glücklicherweise für alle, die in diesem wehrlosen Schiffe ein Leben zu verlieren hatten, wollte das Geschick nicht, daß die ganze Wucht des Sturms mit einem Male darauf fiele. Die Segel flatterten und zitterten an ihren starken Rahen, indem sie eine Minute lang abwechselnd voll wurden und wieder zusammenschrumpften; dann fuhr der jähe Orkan über ihre Spitzen weg.

Die Carolina bewährte sich in der Eigenschaft eines starken und doch leicht schwimmenden Schiffes, dem furchtbaren Druck des Sturmes nachgebend, bis sie einem auf dem Wasser liegenden Körper ähnlicher sah, als einem darauf schwimmenden. Sodann, als ob das Schiff ein Bewußtsein von der Gefahr hätte, tauchten seine Masten von ihrer tiefen Neigung wieder in die Höhe, und nun mußte sich das Schiff jeden Schritt vorwärts durch den heißesten Kampf erringen.

»Haltet das Steuer windwärts! So lieb euch euer Leben ist, klemmt es luv!« schrie Wilder mitten im Geheul des Sturms.

Der Veteran am Steuerrad gehorchte der Order mit vieler Festigkeit; allein vergebens haftete sein Blick an den Rand seines Vorsegels, um zu beobachten, wie das Schiff dem Manöver gehorchen würde. Noch zweimal, in ebenso vielen Augenblicken, neigten sich die hohen Masten gegen den Horizont, tauchten ebensooft zierlich wieder auf, bis sie, dem ungeheuern Druck unterliegend, den ganzen Bau flach aufs Wasser legten.

»Besinnung!« schrie Wilder, indem er Earing, der fassungslos und wie wahnsinnig am steilen Deck hinan rannte, beim Arm ergriff; »Besinnung! Es ist unsere Pflicht, gefaßt zu bleiben. Eine Axt her!«

Schnell, wie der Gedanke, der die Order eingab, gehorchte der Maat, sprang an das Besansegel, um den Befehl, der jetzt, wie er wohl wußte, folgen würde, mit eigenen Händen zu vollstrecken.

»Soll ich zuhauen?« fragte er mit aufgehobenen Armen und kräftiger gehaltener Stimme, die seine augenblickliche Verwirrung leicht vergessen machte.

»Noch nicht! Gehorcht das Schiff im geringsten seinem Steuer?«

»Nicht einen Zoll, Herr!«

»Dann zugehauen!« schloß Wilder ruhig das Kommando.

Ein einziger Hieb reichte hin. Das Reep, ohnedies schon durch die ungeheure Wucht, die es aufrecht hielt, bis zum Reißen gespannt, war kaum abgehauen, als die übrigen alle, eines rasch nach dem anderen, von selber abrissen und es nunmehr dem Mast allein überließen, das schwere und verwickelte Tauwerk zu tragen. Nun krachte das Holz, und nun fiel, gleich einem Baum mit längst angefressenen Wurzeln, das ganze Tauwerk vollends in die See, die es, noch am Mast, auch schon beinahe berührt hatte.

»Fällt das Schiff jetzt ab?« rief Wilder sogleich dem aufmerksamen Steuermann zu.

»Es gab ein bißchen nach, Herr; aber dieser frische Stoß legt’s wieder um.«

»Soll ich zuhauen?« schrie Earing vom Haupttauwerk, wohin er wie ein Tiger auf seine Beute gesprungen war.

»Haut zu!« war die Antwort.

Ein lautes und fürchterliches Krachen folgte diesem Befehl, obgleich erst verschiedene Male in den Hauptmast selbst eingehauen werden mußte. Die See verschlang wie vorher das ganze hineinstürzende Labyrinth von Rahen, Tauen und Segeln, und das Schiff, sich augenblicklich von seiner seitwärts geneigten Lage aufhebend, rollte langsam windwärts.

»Es richtet sich auf! Es richtet sich auf!« schrien zwanzig Stimmen, die bisher in einer Leben und Tod in sich schließenden Erwartung verstummt waren.

»Laßt es gemach abfallen!« fügte die gebieterische, aber fortwährend ruhige Stimme des jungen Kommandeurs hinzu. »Her! Rasch! Das Vormarssegel einschnüren! – Laßt’s einen Augenblick hängen, damit’s das Schiff aus der Nähe des Wracks kriegt! – Nun kappt, flink, ihr Leute, kappt zu, mit Äxten und Messern, was ihr könnt!«

Da die Matrosen jetzt durch die wiederkehrende Hoffnung mit frischer Kraft arbeiteten, so waren die Taue, durch die die gefallenen Spieren noch mit dem Schiffe verwickelt blieben, gar bald gekappt, und die Carolina, jetzt tot vor dem Winde hertreibend, schien den Schaum, der die See über und über bedeckte, kaum zu berühren. Der Wind kam das Meer entlang, heulend wie ferner Donner, und mit einer Wut, die das Schiff samt allem, was drin war, aus seinem eigenen Element zu heben drohte. In dem Augenblick, wo der Sturm herannahte, hatte einer der Matrosen die Falltaue des einzigen Segels, das noch übrig war, sehr weislich und vorsichtig fahren lassen: dadurch wurde das Bramsegel geräumiger, fiel aber auch tiefer am Mast herunter, daher der Wind es jetzt so sehr anfüllte, daß es den einzigen noch stehenden Mast umzubrechen drohte. Wilder sah die Notwendigkeit ein, dieses Segel aus dem Wege zu schaffen, aber auch zugleich die Unmöglichkeit, es zu beschlagen. Daher rief er Earing zu sich, wies auf den Gegenstand der Gefahr hin und gab den nötigen Befehl.

»Die Spiere dort kann solche Stöße unmöglich lange mehr aushalten,« schloß er, »und warten wir, bis sie von selber bricht, so fällt sie über die Seite, und bei der Schnelligkeit, mit der sich das Schiff bewegt, versetzt sie ihm höchstwahrscheinlich einen verderbenbringenden Schlag. Es müssen ein paar Leute hinaufgeschickt werden, um die Segel von den Rahen zu kappen.«

»Die Stange biegt sich wie ’ne Weidengerte,« erwiderte der Maat, »überdies ist das Unterteil des Mastes schon gesprungen. Bei diesem unbändigen Sturm kommt jeder in augenscheinlichste Lebensgefahr, wer sich auf das Topp raufwagt!«

»Sie können recht haben«, versetzte Wilder, plötzlich von der Wahrheit dieser Bemerkung überzeugt. »Bleiben Sie also hier; widerfährt mir was Menschliches, so versuchen Sie das Fahrzeug in Hafen zu bringen, wenigstens so weit nach Norden zu als die Vorgebirge von Virginien; auf keinen Fall steuern Sie auf Hatteras, in der gegenwärtigen Verfassung des …«

»Was haben Sie vor, Herr Kapitän?« unterbrach der Gehilfe seinen Kommandeur, der bereits seine Matrosenmütze aufs Verdeck geworfen hatte und im Begriff stand, noch einige hinderliche Kleidungsstücke auszuziehen, kräftig bei der Schulter fassend.

»Ich steig‘ rauf, um den Mast vom Bramsegel zu befreien, sonst verlieren wir die Spiere und wahrscheinlich das Schiff obendrein.«

»Sehr richtig, ich seh‘ das nur zu gut ein; soll man aber dem Eduard Earing nachsagen, ein anderer habe den Dienst getan, den er tun sollte? Es ist an Ihnen, das Fahrzeug bis zum Vorgebirge Virginiens zu führen, und an mir, das Bramsegel abzukappen. Geschieht mir Leides, je nu, so tragen Sie es ins Logbuch ein, mit einem oder zwei Worten über die Art, wie ich meine Rolle ausgespielt habe. Das ist immer die beste und passendste Grabschrift für einen Matrosen.«

Wilder widersetzte sich ihm nicht, und unbefangen nahm er seine beobachtende und nachdenkende Stellung wieder an, denn er war zu lange selbst zur Erfüllung der Dienstpflicht angehalten worden, um es auffallend zu finden, daß einem anderen das Gebot der Pflicht einleuchtete. Inzwischen schickte sich Earing standhaft an, das eben Versprochene auszuführen. Auf der Kuhl des Schiffes versah er sich mit einer zweckmäßigen Axt, worauf er, ohne zu den in sprachloser Aufmerksamkeit dastehenden Leuten ein Wörtchen zu sprechen, in das Vordertauwerk hineinsprang, wo der Sturm jede Ducht, jeden Schaft bis zum Reißen straff spannte. Die erfahrenen Blicke seiner Beobachter begriffen bald seine Absicht; und von demselben Kennerstolze bewegt, der ihn zu dem gefährlichen Unternehmen angespornt hatte, warfen auch sie sich auf die Linien, um sich mit ihm in eine Höhe zu schwingen, wo die Luft von hundert Orkanen wimmelte.

»Runter aus dem Vordertauwerk«, schrie Wilder durch einen Rufer. »Runter! Alle außer dem Maat herab!«

Seine Worte reichten wohl noch weiter als bis zu den Ohren der aufgeregten und pikierten Matrosen, die Earing nachkletterten; allein eben diese Aufgeregtheit vereitelte die Wirkung seines Befehls. Sie waren jeder viel zu sehr mit dem eigenen festen Vorsatz beschäftigt, um auf die Töne des Rückrufs zu achten. Es dauerte keine Minute, so sah man sie, den einen da, den anderen dort auf den Rahen verteilt, bereit, dem Signal ihres Befehlshabers zu gehorchen. Der Maat warf einen Blick um sich her, ergriff einen verhältnismäßig günstigen Moment des Wetters und tat einen Hieb auf das große Tau, das eine der Ecken des gespannten und fast platzenden Segeltuchs an der Unterrahe festhielt. Die Wirkung war beinahe dieselbe, als wenn man den Schlußstein eines schlecht zusammengekitteten Gewölbes heraushiebe. Mit einer lauten Explosion riß sich die Leinwand von allen Befestigungen los, und einen Augenblick lang sah man sie in der Luft, gleichsam von Adlerschwingen getragen, vor dem Schiffe vorbeisegeln. Das Fahrzeug hob sich auf einer trägen Welle, der zaudernden Nachzüglerin des früheren Windes, und schoß dann von der anderen Seite der rollenden Woge wieder herab, gleich sehr von seiner eigenen Wucht und der sich erneuernden Heftigkeit des Sturms getrieben. In diesem kritischen Augenblick, während die Matrosen oben noch immer nach der Richtung hinschauten, wo die kleine Wolke Leinwand verschwunden war, riß ein Taljereep des unteren Tauwerks mit einem solchen Geräusch, daß es selbst Wilder auf dem Deck hören konnte.

»Runter!« schrie er fürchterlich durch seine Trompete, »laßt euch an den Pardunen runter! Herab, wenn euch das Leben lieb ist, sag‘ ich! Alle runter!«

Nur ein einziger von ihnen allen ließ sich warnen, und man sah ihn mit der Schnelligkeit des Windes nach dem Verdeck zu gleiten. Allein ein Tau nach dem anderen ging los, und das verhängnisvolle Abbrechen des Mastes erfolgte ohne den geringsten Zwischenraum. Eine Sekunde schwankte das turmhohe Labyrinth und schien sich nach jeder Himmelsgegend hinzuneigen; dann aber, der Bewegung des Schiffsrumpfes nachgebend, fiel das Ganze mit einem Krach in die See. Stagen, Taljereepen, kurz, jedes Tau riß der fallende Mast wie einen Zwirnsfaden los, und der nackte und entblößte Rumpf des Fahrzeuges trieb weiter vor dem Sturm, als wenn sich nichts Hemmendes zugetragen hätte.

Eine sprachlose und doch beredte Pause folgte auf diesen Unfall. Es hatte den Anschein, als ob die Elemente durch das, was sie angerichtet hatten, nunmehr versöhnt wären; eingelullt schien das furchtbare Brüllen des Sturms auf einen Moment. Wilder sprang auf die Seite des Schiffs und konnte deutlich die Opfer unterscheiden, wie sie sich noch immer an ihren schwachen Stützen festhielten, konnte sehen, wie Earing mit der Hand Lebewohl winkte, mit einem echten Matrosenherzen, und wie einer, der nicht nur das Verzweiflungsvolle seiner Lage fühlte, sondern sich auch mit Ergebung in sein Schicksal zu fügen wußte. Darauf verschwand das Wrack von Spieren mit allen, die sich daran festhielten, in dem entsetzlichen, übernatürlich aussehenden Nebel, der sich von allen Seiten und vom Ozean bis zu den Wolken hinauf ausdehnte.

»Laßt ein Boot hinab!« schrie Wilder, ohne zu überlegen, daß bei einem solchen Küselwinde an Schwimmen oder sonstige Hilfe nicht zu denken war. Allein die verblüfften und verwirrten Seeleute, die noch am Bord waren, durften hierüber auch nicht erst belehrt werden. Keiner rührte sich, keiner gab auch das geringste Zeichen des Gehorsams. Wild um sich her schauend, suchte jeder in dem trüben Angesicht des andern dessen Meinung von dem Umfange des Übels zu erfahren; aber kein Mund öffnete sich.

»Es ist zu spät – es ist zu spät!« murmelte Wilder vor sich hin; »menschliche Geschicklichkeit, menschliche Anstrengung konnte sie nicht retten!«

»Segel, ahoi!« brüllte Nighthead mit einer Stimme voll abergläubischen Entsetzens.

»Mag’s doch nun herankommen,« erwiderte bitter sein junger Kommandeur; »der Sturm hat ihm die Arbeit erspart, das Unheil ist geschehen!«

»Sollt‘ es aber am Ende doch ein sterbliches Schiff sein, so ist es unsere Pflicht gegen die Eigentümer und die Reisenden, es anzusprechen, wenn man sich in diesem Orkan noch vernehmlich machen kann«, fuhr der zweite Gehilfe fort, indem er den Finger in den Nebel hinein ausstreckte, auf den matten, aber allerdings wirklich nahen Punkt hinzeigend.

»Es ansprechen! – Reisende!« murrte Wilder, des andern Worte unwillkürlich wiederholend. »Nein; lieber das Ärgste, als es ansprechen. Könnt Ihr das Fahrzeug sehen, das so schnell auf uns lostreibt?« fragte er rauh den achtsamen Seemann, der das Steuerrad der Carolina noch immer nicht aufgegeben hatte.

»Jawohl, Sir«, war die kurze, matrosenmäßige Antwort.

»Dann umgeschwait mit dem Schiffe, streicht das Steuer ganz an Backbord – vielleicht segelt er in der Dunkelheit bei uns vorbei, da wir mit dem Verdeck beinahe das Wasser berühren. Weit auf Backbord gestrichen, sag‘ ich!«

Die nämliche lakonische Antwort wie zuvor erfolgte, und das Bristoler Kauffahrteischiff strich einige Augenblicke lang ein wenig aus der Linie, in der der Fremde herannahte; allein ein zweiter Blick versicherte Wilder von der Vergeblichkeit des Versuches. Das fremde Schiff (und ein jeglicher am Bord hatte die innere Überzeugung, daß es kein anderes war als das, das man solange am nordwestlichen Horizont schweben sah) es fuhr, den Nebel durchschneidend, mit einer Geschwindigkeit heran, die der Blitzesschnelle des Sturmwindes fast gleichkam. Nicht ein Faden Leinwand war am Bord zu sehen, dagegen war jede Spierlinie hinauf bis zu den ins kleine verschwindenden und zart aussehenden Oberbramstengen an ihrem gehörigen Ort; kurz, die Schönheit und das Ebenmaß des ganzen Baues war erhalten, aber an keiner Stange war auch nur die Spur von einem dem Winde dargebotenen Segel zu erblicken. Vor seinem Buge her wälzte sich eine Schaummasse, die trotz der allgemeinen Aufregung des Ozeans deutlich zu unterscheiden war; und als es in den Bereich des Gehörs kam, glich das mürrische Rauschen dem Lärm eines Wasserfalls. Anfangs glaubten die Zuschauer auf dem Verdeck der Carolina, man sähe sie nicht, und einige der Matrosen riefen wahnsinnig nach Lichtern, damit die Schrecken der Nacht nicht mit einem gefürchteten Aufeinanderprall endigen möchten.

»Nein,« schrie Wilder; »schon sehen uns nur zuviele!«

»Ja, ja,« murrte Nighthead; »braucht nicht zu fürchten, man sieht uns nur zu gut, und zwar mit Augen, die nie aus einem sterblichen Kopfe stierten.«

Die Matrosen hielten inne. Noch einen Augenblick, und das lang gesehene, geheimnisvolle Schiff war schon innerhalb hundert Fuß Weges vor ihnen. Die Gewalt des Windes, der die Wogen sonst zu erheben pflegte, drückte jetzt mit der Wucht von Gebirgen das Element in sein Bett zurück: eine unendliche Fläche Schaums, aber keine, auch nicht die geringste Erhebung über den Wasserspiegel; und hob sich hier und da noch eine unachtsame Welle aus der Sicherheit des Meeresschoßes, so folgte die Strafe augenblicklich, der Küselwind jagte sie als glänzenden Wasserstaub weit, weit vor sich her. Diese schäumende und doch verhältnismäßig bewegungslose Fläche entlang kam nun der Fremde heran, alle Spieren ausgestreckt, stetig und erhaben, wie eine schwarze Wolke vor dem Winde treibt. Nirgendswo ein Lebenszeichen! Wenn ja Menschen darauf waren, die aus Luglöchern auf das bedrängte Wrack des Bristolers hinschauten, so taten sie es mit der sorgfältigsten Heimlichkeit und in einer Finsternis, gleich der des Sturmes hinter ihnen. Wilder hielt, solange der Fremde in der größten Nähe zu ihm war, in unsäglicher Spannung den Atem an sich. Da er aber kein Signal des Erkennens, keine menschliche Gestalt, noch die geringste Absicht gewahrte, die wütende Karriere womöglich aufzugeben, so überflog sein Antlitz ein Lächeln des Entzückens, und seine Lippen bewegten sich, als wenn ihm nichts mehr Freude machen könnte, als in seiner schlimmen Lage vom Fremden unberücksichtigt zu bleiben. Dieser jagte vorüber wie ein finsteres Gespenst: und nach einer Minute fing seine Gestalt schon an, in einer dichten Wasserstaubwolke immer weniger deutlich zu werden.

»Es verschwindet im Nebel!« brach Wilder, atemholend nach der fürchterlichen Pause der letzten Augenblicke, los.

»Jawohl im Nebel, oder in Wolken«, erwiderte Nighthead, der jetzt seinem unbekannten Befehlshaber nicht von der Seite wich und mit dem heftigsten Mißtrauen die geringste seiner Bewegungen beobachtete.

»In den Wolken oder in der See, mir gleich, wenn es nur fort ist.«

»Die meisten Seefahrer würden sich aber freuen, wenn sie sich, wie wir, auf einem bis aufs Verdeck geschorenen Rumpf befänden und ihnen ein fremdes Segel zu Gesichte käme.«

»Die Menschen laden aus Unwissenheit ihres wahren Wohles oft das zu sich ein, was ihnen den Untergang bereitet. Mag es weitersegeln, das ist mein Losungswort, mein Gebet! Es gehe vier Fuß, wenn wir einen gehen; und nun wünsch‘ ich nichts sehnlicher, als daß dieser Orkan fortblasen möge bis zum Sonnenaufgang.«

Nighthead schrak zusammen und warf einen anklagenden Seitenblick auf seinen Gefährten. Seine stumpfen Seelenkräfte, sein vom Aberglauben umdüstertes Gemüt konnten in einem solchen Aufruf an den Sturm nichts als die äußerste Gottlosigkeit erkennen, zumal in einem Augenblick, wo die Winde ohnedies schon ihre wildeste Wut zu erschöpfen schienen.

»Dies ist eine schwere Bö, ich geb‘ es zu,« sagte er, »und eine solche, wie sie viele Seefahrer ihr ganzes Lebenlang nicht zu sehen bekommen. Der aber weiß doch nur wenig von der See, wenn er glaubt, da, wo dieser Wind herkommt, gebe es nicht noch mehr.«

»Mag er doch blasen!« schrie der andere und rieb sich nicht ohne ein klein wenig Schwärmerei die Hände; »mein einziges Gebet ist, daß er fortdaure!«

Wenn Nighthead, in Hinsicht des Charakters des jungen Fremdlings, der so unbegreiflicherweise zum Besitz von Nikolas Nichols Amt gekommen war, überhaupt noch Zweifel hatte, so verschwanden sie jetzt mit einem Male. Mit der Miene eines Menschen, der soeben über etwas eine entschiedene Meinung gewonnen hat, ging er vorwärts, der stummen und gedankenvollen Mannschaft entgegen. Wilder widmete indessen den Bewegungen seines Untergeordneten keine Aufmerksamkeit, sondern fuhr stundenlang damit fort, auf und ab zu gehen, bald aufwärts nach dem Himmel schauend, bald ängstlich hin und her am Horizont herumspähend, während die Royal Carolina noch immer irrend vor dem Wind trieb, ein nacktes und geschorenes Wrack.

Siebzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

Mit dem Augenblick, wo Earing und seine unglücklichen Gefährten von ihrer schwindelerregenden Höhe in die See gestürzt wurden, hatte auch der Sturm den Gipfelpunkt seiner Stärke erreicht. Obgleich der Wind noch lange nach diesem verhängnisvollen Ereignisse zu wehen fortfuhr, so geschah dies doch mit immer abnehmender Heftigkeit. Sowie aber die Bö abnahm, fing die See an, sich zu heben, und das Schiff in demselben Grade zu arbeiten. Nun folgten zwei Stunden der angestrengtesten, umsichtigsten Sorgfalt von seiten Wilders, indem es seine ganze Sachkunde in Anspruch nahm, zu verhüten, daß der entblößte Rumpf des Bristoler Kauffahrteischiffes eine Beute der gierigen Wellen werde. Seine vollendete Geschicklichkeit war indessen der zu lösenden Aufgabe ganz gewachsen, und mit dem ersten Anzeichen des Tagesanbruchs längs dem Osten fingen Wind und Wogen an sich zu legen. Während dieses ganzen Zeitraums waren zwei erfahrene Matrosen, die er vorher an das Steuerrad beordert hatte, die einzigen von der sämtlichen Bemannung, die ihm in seinen Anstrengungen Beistand leisteten. Allein er war gegen die Vernachlässigung der übrigen um so gleichgültiger, als wirklich nicht viel mehr erforderlich war, als sein eigenes Urteil und die pünktliche Befolgung seiner Befehle durch die beiden genannten, unter seiner unmittelbaren Leitung handelnden Matrosen. Der Morgen rötete sich über einer Szene, die gar sehr verschieden war von der, die von der stürmischen Gräßlichkeit der Nacht bezeichnet worden war. Es war, als ob die Winde in ihrem unzeitigen Eifer ihre ganze Wut erschöpft hätten; von der mäßigen Bö, in die sich der Orkan gegen das Ende der Mitternachtwache verwandelt hatte, fielen sie in eine schlaffe, unstetige Kühlde, und ehe noch die Sonne aufging, hatte selbst dieses leise Schwanken einer toten Windstille Platz gemacht. Die See sank gleichzeitig mit dem Erlöschen der Macht, die sie aufgeregt hatte, und wie nun der goldene Sonnenstrahl das unbeständige Element mit seinem vollen Glanze übergoß, lag der Ozean mild und heiter da, und die langen, langsamen Bewegungen seiner Wellen glichen dem ruhigen Atemholen eines schlafenden Säuglings.

Es war noch früh, und die Heiterkeit des Himmels und der See verhießen einen Tag, der Ruhe genug darbieten dürfte zur Erfindung der nötigen Mittel, um das Schiff einigermaßen wieder unter die Gewalt seiner Mannschaft zu bringen.

»Untersucht die Pumpen«, sagte Wilder, als er sah, wie von der Mannschaft einer nach dem andern aus seinem Schlupfwinkel hervorzukommen begann, wo er sich mit seinen Sorgen während des letzten Teils der Nacht verkrochen hatte. »Habt Ihr mich gehört, Herr?« fügte er streng hinzu, als sich niemand anschickte, seinem Kommando Folge zu leisten. »Peilt die Pumpen, und schafft das Wasser bis auf den letzten Zoll aus dem Schiffe.«

Nighthead, an den Wilder diese Worte gerichtet hatte, sah düster und von der Seite auf seinen Kommandeur, dann wechselte er ganz eigene Blicke des Einverständnisses mit seinen Kameraden, ehe er es für gut befand, auch nur die geringste Bewegung zur Ausführung der erhaltenen Order zu machen. Allein es war etwas Zwingendes in der Gebietermiene seines Obern, das ihn endlich doch zum Gehorsam bewegte. Anfangs gingen die Matrosen zaudernd und mit einem gewissen fahrlässigen Wesen an den erwähnten Dienst, allein als der Peilstock in die Höhe stieg und sich die wohlbekannten Kennzeichen eines furchtbaren Lecks zeigten, da wurde der Versuch schneller und mit größerer Genauigkeit wiederholt.

»Wenn Zauberei das Wasser aus einem Schiffe rausschaffen kann, das schon halb angefüllt ist,« sagte Nighthead, indem er dem beobachtenden Wilder wieder einen seiner düsteren Blicke zuwarf, »so täte sie wohl dran, sich bald ans Werk zu machen; denn es erfordert die ganze Kunst eines Zauberers, und zwar eines solchen, der mehr als ein bloßer Pfuscher in der Zauberei ist, um die Pumpen der Royal Carolina nur zum Ansaugen zu bringen!«

»Ist das Schiff leck?« fragte sein Vorgesetzter mit einer Schnelligkeit in der Aussprache, die hinlänglich anzeigte, wie wichtig ihm die Nachricht schien.

»Noch gestern würde ich meinen Namen unerschrocken unter die Schiffsliste irgendeines Fahrzeuges gesetzt haben, das auf dem Ozean schwimmt; und hätte mich der Kapitän gefragt, ob ich mich auf die Beschaffenheit und Eigenschaften eines Schiffes verstände, so wahr ich Franz Nighthead heiße, meine Antwort wäre gewesen: Ja! Allein ich finde, der älteste Seemann kann vom Wasser noch Lektionen nehmen, und wär’s auch, indem er auf einem Schiffsbrett über eine Fähre setzt.«

»Wie ist das gemeint, Herr?« fragte Wilder, der nun erst das Meuterische in den Blicken seines Maaten und die drohende Weise, wie er von der Mannschaft unterstützt wurde, zu gewahren anfing. »Unverzüglich das Tau an die Pumpen angebracht, sag‘ ich, und das Wasser aus dem Schiff geschafft!«

Nighthead vollzog, obgleich mit Widerwillen, den ersten Teil der Order; und nach wenigen Augenblicken war alles instand, um den notwendigen, ja, wie es schien, dringenden Dienst des Pumpens anzufangen. Allein keiner legte Hand an das mühsame Werk. Wilder, der jetzt freilich Verdacht geschöpft hatte, entdeckte bald mit scharfem Blicke diese Widersetzlichkeit; strengeren Tones wiederholte er die Order und rief zwei der Matrosen beim Namen, sie auffordernd, den andern im Gehorsam voranzugehen. Allein sie zauderten, und das gab dem Maat Gelegenheit, sie durch seine Rede in ihrem meuterischen Vorhaben noch mehr zu bestärken.

»Wozu braucht’s der Hände, um an den Pumpen zu arbeiten, in einem Schiffe wie diesem?« sagte er und schlug dabei eine rohe Lache auf, in der sich zurückgehaltene Furcht und hervorbrechende Bosheit den Vorrang streitig machten. »Nach allem, was wir heut‘ nacht mit angesehen haben, würde sich keiner verwundern, wenn das Schiff auf einmal wie ein schnaubender Walfisch das Salzwasser herauszublasen anfinge.«

»Wie soll ich dieses Zaudern, diese Redensarten verstehen?« sagte Wilder, sich festen Trittes Nighthead nähernd, mit einem Auge, das zu stolz war, um selbst bei den unumwundensten Zeichen der Insubordination nicht gerade und ohne Blinzeln dreinzuschauen. »Seid Ihr es, Ihr, der in solchem Augenblicke der vorderste in der Pflichterfüllung sein sollte, und der es wagt, ein Beispiel des Ungehorsams zu geben?«

Der Gehilfe trat erschrocken einen Schritt zurück, seine Lippen bewegten sich, doch kein vernehmbarer Laut entkam ihnen. Mit einem ruhigen, gebietenden Tone hieß ihn Wilder nochmals selber Hand an den Pumpstock legen. Nun kam Nighthead die Stimme wieder, um rund heraus eine Weigerung auszusprechen. Im nächsten Augenblick war er auch schon von seinem entbrannten Kommandeur, dessen Schlag sich zu widersetzen, er weder Geschicklichkeit noch Kraft genug besaß, auf die Erde geworfen. Dieser entscheidenden Tat folgte ein einziger Moment atemlosen, ungewissen Schweigens unter der Mannschaft, darauf ein gräßlicher Laut gleichzeitig aus jeder Kehle und ein ebenso allgemeines Eindringen auf unsern wehrlosen und alleinstehenden Abenteurer – die unzweideutigen Signale erklärter Feindseligkeit. Mitten in ihrem Vorhaben, als schon ein Dutzend Hände die Person Wilders ergriffen hatte, lähmte sie ein Schrei von der Schanze her und veranlaßte einen augenblicklichen Waffenstillstand. Es war der Angstruf Gertrauds, der selbst auf das unmenschliche Vorhaben solcher Wesen einen Einfluß ausübte, und zwar in einem Moment, wo ihre rohe und unbändige Leidenschaften den höchsten Grad der Aufregung erreicht hatten. Wilder war befreit, ein und derselbe Impuls hatte aller Augen dahin gerichtet, woher der Ton gekommen war.

Während der letzten ereignisvollen Stunden der Nacht hatten die meisten derer, die ihre Pflicht auf dem Verdeck gehalten hatte, selbst das Dasein von Passagieren in der Kajüte vergessen. Dachte ja irgend jemand noch an sie, so war es der junge Seemann, der das Schiff leitete, in jenen flüchtigen Sekunden, wo sein Gemüt Muße fand, verstohlen in der Erinnerung auf sanftere Szenen hinzublicken, als den wilden Krieg der Elemente, der um ihn her wütete. Nighthead hatte ihrer erwähnt, wie er irgendeines andern Teils des Kargos erwähnt haben würde; ihr Geschick konnte seine abgehärtete Natur nicht rühren. Mistreß Wyllys hatte sich mit ihrer Pflegebefohlenen die ganze Zeit hindurch unten gehalten, sie blieb mithin von allem, was sich unterdessen zugetragen, vollkommen ununterrichtet. In ihren Hängematten vergraben, hatten sie wohl das Gebrüll der Winde und das unablässige Anschlagen des Wassers gehört; allein eben diese gewöhnlichen Begleiter eines Sturms hatten verhindert, daß sie das Krachen der abbrechenden Mastbäume und die rauhen Schreie der Matrosen vernahmen. Während der paar Momente entsetzlicher Ungewißheit, wo das Bristoler Schiff auf der Seite lag, blitzte freilich im Gemüt der erfahrenen Gouvernante eine Ahnung von dem wahren Zustand der Dinge auf, allein da sie fühlte, daß sie doch nichts nützen könnte, und ihre minder erfahrene Reisegefährtin nicht entsetzen wollte, so gewann sie es über sich zu schweigen. Die nun folgende Stille und verhältnismäßige Ruhe verleitete sie, ihre Besorgnisse für unbegründet zu halten; so daß sie ebensowohl als Gertraud, lange ehe der Morgen anbrach, in einen süßen und erfrischenden Schlummer versank. Beide waren endlich aufgestanden und zusammen aufs Verdeck gestiegen, und noch im ersten Ausbruch ihres Erstaunens über die Verheerung begriffen, die ihre Blicke traf, als der geschilderte, lange vorher beschlossene Angriff der Matrosen auf Wilder stattfand.

»Was bedeutet dieser entsetzliche Wechsel?« fragte Mistreß Wyllys mit zitternden Lippen und einer Wange, die trotz ihrer Selbstbeherrschung von Totenblässe überzogen war.

Tiefe Glut in den Augen, mit einer Stirn, finster wie der eben überstandene Sturm, antwortete Wilder, drohend den Arm nach den Angreifenden ausstreckend: »Meuterei bedeutet es, Madame, niederträchtige, feige Meuterei!«

»Konnte Meuterei die Masten vom Schiffe wegscheren und es als unbeholfenen Klotz auf der See lassen?«

»Hören Sie, Madame!« unterbrach sie der rohe Gehilfe, »mit Ihnen will ich offen reden, denn Sie kamen an Bord der Carolina als ein ehrlich zahlender Passagier, und jedermann weiß, wer Sie sind. Heut‘ nacht hab‘ ich Himmel und See sich benehmen sehen, wie ich es bisher niemals sah. Schiffe liefen vor dem Wind her, leicht und auftauchend wie Korkpfröpfe, die Spieren fest und unbeweglich ausgereckt, da doch dem unsrigen jeder Mast so glatt weggeschoren wurde, wie Barthaar durchs Rasiermesser. Auf Kreuzer ist man gestoßen, die einhersegelten, ohne daß lebendige Hände drauf gewesen wären, sie zu handhaben: kurz, kein Mann hier am Bord hat jemals so eine Mitternachtswache erlebt, wie die vergangene.«

»Und was hat das mit dem heftigen Auftritt zu schaffen, von dem ich eben Zeuge war? Hat denn das Geschick jede Art von Unfall über dies Schiff verhängt! – Können Sie mir Aufklärung geben, Herr Wilder?«

»Wenigstens können Sie nicht sagen, daß Sie ohne vorhergehende Warnung vor Gefahr das Schiff betraten«, erwiderte Wilder mit einem bittern Lächeln.

»Ja, ja,« fing der Gehilfe wieder an, »der Teufel selbst muß redlich sein, weil er dazu gezwungen ist, und seine Helfershelfer, die unter seinem Oberbefehl segeln, die haben, dem Himmel sei Dank, weder Mut noch Gewalt, anders zu handeln, wie sehr sie auch Lust dazu fühlen! Sonst wär‘ eine friedliche Seereise in diesen unruhigen Zeiten eine solche Seltenheit, daß man nicht viele treffen würde, kühn genug, sich ums liebe Brot aufs Wasser zu wagen. Ohne Warnung! Nein, nein, das müssen wir Euch lassen, Ihr habt oft und offen genug gewarnt. Als Nikolas Nichols beim Einwinden des Ankers der Unfall traf – die Warnung hätte der Kommissionär nicht übersehen sollen, denn es ist mir noch niemals vorgekommen, daß so ein Zufall zu so einer Zeit ohne das größte Unheil abgelaufen wäre. Dann hatten wir eine Warnung an dem Alten im Boot. Davon will ich gar nicht erst sprechen, daß es immer Unglück bringen muß, wenn man den Lotsen mit Gewalt aus dem Schiffe schickt. Als wäre das alles aber noch nicht genug, statt die Warnung anzunehmen und ruhig vor Anker liegen zu bleiben, müssen wir die Anker lichten, und einen sichern, freundlichen Hafen an einem Freitag, von allen Tagen der Woche gerade an einem Freitag, verlassen. Ich wundre mich nicht über das, was geschehen ist, im Gegenteil, ich wundre mich nur, daß ich mich noch unter den Lebendigen befinde; die Ursache hiervon ist aber die, daß ich meinen Glauben dem geschenkt habe, dem Glaube gebührt, nicht aber unbekannten Matrosen und fremden Kommandeurs. Hätte der Eduard Earing es ebenso gehalten, so würde er jetzt noch ein Brett zwischen sich und dem Meeresboden haben; allein er war nur halb willig, die Wahrheit zu glauben, und neigte sich im ganzen zu sehr auf die Seite des Aberglaubens und der Leichtgläubigkeit.«

Dieses ausgearbeitete und charakteristische Glaubensbekenntnis des Maaten war Wildern vollkommen verständlich, den weiblichen Zuhörern aber ein unauflösliches Rätsel. Nighthead hatte indessen keinen halben Entschluß genommen; er lag ihm fern, nachdem er so weit gegangen war, halb verrichteter Sache aufzuhören. Ohne viele Umschweife erklärte er der Frau Wyllys die verzweifelte Lage des Schiffes, und wie es höchst unwahrscheinlich sei, daß es sich noch viele Stunden über Wasser halten könne, indem ihn persönliche Untersuchungen überzeugt hätten, daß der untere Raum schon halb mit Wasser angefüllt sei.

»Was ist aber zu tun?« fragte die Erzieherin, einen Blick bitteren Schmerzes auf die blasse, zuhörende Gertraud werfend. »Ist kein Segel nahe, das uns von dem Wrack aufnehmen kann? Oder müssen wir hilflos untergehen?«

»Gott schütze uns gegen noch mehr fremde Segel!« rief der mürrische Nighthead. »Dort auf dem Spiegel hängt unsere Pinasse, und Land muß Nordwest innerhalb einiger vierzig Seemeilen liegen. Trinkwasser und Mundvorrat ist genug da, und zwölf starke Hände können schon ohne Mühe ein Boot nach dem Kontinent von Amerika rudern! Das heißt, wohlverstanden, wenn Amerika da noch ist, wo es gestern bei Sonnenuntergang zu sehen war.«

»Sie haben also vor, das Fahrzeug im Stich zu lassen?«

»Ja. Zwar ist der Nutzen des Prinzipals allen braven Matrosen teuer, doch das Leben ist süßer als Gold.«

»Der Wille des Himmels geschehe! Aber Sie haben doch nichts Arges im Sinn gegen diesen Herrn? Er hat, wie ich gewiß überzeugt bin, das Schiff unter höchst kritischen Umständen mit einer Geschicklichkeit geleitet, die weit über seine Jahre geht.«

Nighthead murmelte seine Ansicht unverständlich vor sich hin; dann ging er beiseite, offenbar um sich mit den Leuten zu besprechen, die bereits nur zu sehr geneigt waren, seine Pläne zu unterstützen, sie mochten noch so irrig, noch so gesetzlos sein. Es folgten nun ein paar Augenblicke der Ungewißheit, während Wilder ruhig und gelassen dastand, kaum imstande, ein Lächeln der Verachtung zu unterdrücken, das um seine Lippen spielte, kurz, mehr mit der Miene eines Menschen, der Gewalt hat, über das Schicksal anderer zu entscheiden, als eines solchen, über dessen Schicksal höchstwahrscheinlich in demselben Augenblicke entschieden wurde. Als die langsamen Willensmeinungen der Seeleute endlich zu einem Beschluß gediehen waren, schritt der Maat vorwärts, um das Ergebnis zu verkündigen. Doch waren seine Worte zur Mitteilung des wesentlichen Teils ihres Beschlusses überflüssig; denn eine Gruppe sammelte sich sofort um das Hinterboot, und schickte sich an, es in See zu lassen, während die übrigen sich damit beschäftigten, den nötigen Mundvorrat herbeizuholen. »Es ist Raum genug in der Pinasse für alle Christen hier im Schiff,« fing Nighthead wieder an; »und was die betrifft, die ihr Vertrauen auf eine gewisse Personage setzen, je nu, die mögen sich da nach Hilfe umsehen, wo sie sie bisher gefunden haben.«

»Soll ich aus alledem entnehmen,« sagte Wilder ruhig, »daß Eure Absicht sei, das Wrack und Eure Pflicht aufzugeben?«

Der halb zurückgeschüchterte, aber rachgierige Gehilfe begleitete seine Antwort mit einem Blicke, von dem es schwer war zu sagen, ob Triumph, ob Furcht darin die Oberhand hatten.

»Sie verstehen sich drauf, ein Schiff ohne Mannschaft fortzuschaffen, Sie werden daher wohl nie wegen eines Boots in Verlegenheit sein. Sie sollen sich indessen bei Ihren Freunden, wer sie auch sein mögen, nie darüber zu beklagen haben, daß wir Sie ohne die Mittel, das Land zu erreichen, gelassen haben, wenn Sie anders wirklich ein Landvogel sind. Dort ist die Barkasse!«

»Dort ist die Barkasse! Ihr wißt ja recht gut, daß ohne Stengen alle eure vereinigten Kräfte nicht hinreichen, sie nur vom Deck zu lüften; sonst würdet ihr sie auch wohl nicht stehen lassen.«

»Das Gesindel, das die Stengen von der Carolina weggenommen hat, kann sie auch wieder einsetzen,« rief ein Matrose mit grinsendem Lachen; »es dauert gewiß keine Stunde, nachdem wir fort sind, so kommt ein Kiellichter heran, der wird Euch die Spieren schon wieder einsetzen, und dann könnt Ihr die Küstenfahrt in Gesellschaft machen.«

Wilder schien jede Antwort zu verschmähen. Er fing an, auf und ab zu gehen, tiefsinnig, dabei aber doch gelassen und mit vollkommener Selbstbeherrschung. Inzwischen bewirkte es der allgemeine Wunsch der Mannschaft, das Wrack sobald als möglich zu verlassen, daß ihre Vorbereitungen unglaublich schnell zustande kamen. Die erstaunten und erschreckten Damen hatten kaum Zeit, sich über das Außerordentliche ihrer Lage einen klaren Begriff zu bilden, als die Gestalt des hilflosen Schiffspatrons an ihnen vorüber getragen wurde, und gleich darauf erging die Aufforderung an sie, ihren Platz an dessen Seite im Boot einzunehmen.

Dringend auf diese Weise zum Handeln aufgefordert, fühlten sie die Notwendigkeit, endlich einen Entschluß zu fassen. Vorstellungen, befürchteten sie, würden vergeblich sein; die wilden, boshaften Blicke, die unter der Arbeit von Zeit zu Zeit auf Wilder geworfen wurden, ließen die Gefahr ahnen, wenn diese halsstarrigen und unwissenden Gemüter zu neuen Tätlichkeiten wieder aufgeregt würden. Die Gouvernante beabsichtigte anfangs, sich an den verwundeten Schiffspatron zu wenden; allein der zerstreute, kummervolle Blick, den dieser um sich her tat, als er aufs Verdeck gehoben ward, und der Ausdruck von körperlichen sowohl als geistigen Schmerzen auf seinen rauhen Gesichtszügen, als er sie unter den Decken, in denen er getragen wurde, wieder vergrub, kündigte nur zu deutlich an, daß in seiner gegenwärtigen Lage nur wenig Hilfe von ihm zu erwarten war.

»Was bleibt uns zu tun übrig?« fragte sie endlich den scheinbar empfindungslosen Gegenstand ihres Kummers.

»Das wünschte ich selber zu wissen«, antwortete er hastig, indem er schnell und angestrengten Blickes den Horizont umher anschaute. »Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie die Küste erreichen, ja, dauert die Windstille vierundzwanzig Stunden, so erreichen sie sie gewiß.«

»Und wo nicht?«

»Bläst der Wind Nordwest, oder irgendwoher von der Küste, so ist’s um sie geschehen.«

»Aber das Schiff?«

»Muß untergehen, wenn es verlassen wird.«

»Dann will ich noch einmal versuchen, diese Herzen von Stein zu Ihren Gunsten zu bewegen! Ich weiß nicht, warum ich an Ihrem Wohl so sehr teilnehme, unbegreiflicher, junger Mensch! Doch die herbsten Leiden würde ich nicht scheuen, um nicht glauben zu müssen, daß Sie einem solchen Geschick unterlegen seien.«

»Halten Sie ein, teuerste Frau«, sagte Wilder, indem er die Fortgehende bei der Hand hielt. »Ich kann das Fahrzeug nicht verlassen.«

»Das wissen wir noch nicht. Die hartnäckigsten Naturen können zum Nachgeben gebracht, ja, der Stumpfsinn – taub gegen die Stimme der Belehrung – kann endlich bewogen werden, der des Flehens Gehör zu geben. Vielleicht gelingt es mir.«

»Sie haben ein Gemüt zu überwinden, ein Urteil zu überzeugen, ein Vorurteil zu besiegen, über das Sie keine Gewalt haben.«

»Wessen?«

»Mein eigenes.«

»Was haben Sie vor, Sir? Sie sind doch nicht schwach genug, der Empfindlichkeit gegen solche Wesen zu erlauben, Sie zu einer wahnsinnigen Handlung hinzureißen?«

»Habe ich das Ansehen eines Wahnsinnigen?« fragte Wilder. »Das Gefühl, das mich leitet, kann irrig sein, allein es ist nun einmal mit meinen Gewohnheiten, meinen Ansichten, ja ich darf wohl sagen mit meinen Grundsätzen, unzertrennlich verwebt. Die Ehre ist es, die mir verbietet, ein Schiff, das ich befehlige, zu verlassen, solang‘ noch eine Planke davon schwimmt.«

»Was kann ein einzelner Arm in einer solchen Krise nützen?«

»Nichts«, antwortete er mit einem traurigen Lächeln. »Ich muß aber sterben, damit andere, die in Zukunft nützlich sein könnten, ihre Pflicht, ihre ganze Pflicht erfüllen.«

Tief, fast bis zum Entsetzen ergriffen, sahen sowohl Mistreß Wyllys als Gertraud in sein ruhiges Antlitz mit dem Flammenauge. Die erstere las in der Gelassenheit seiner Miene das Unwiderrufliche einer Entscheidung. Die letztere schauderte sichtbar zusammen, wie sich das Bild des grausamen, seiner harrenden Geschickes, ihrem Geiste aufdrängte, und das Glutgefühl in ihrem jungen Herzen ließ sie seine Selbstaufopferung sogar für etwas Verdienstliches halten. Allein die Gouvernante sah aus dem Entschlusse Wilders neue Gründe zu Besorgnissen entspringen. Hatte sie von Anfang an Widerwillen dagegen gefühlt, sich und ihre Pflegebefohlene einer Bande anzuvertrauen, wie die war, die jetzt die oberste Gewalt besaß, so wurde dieser Widerwille jetzt mehr als verdoppelt durch den rauhen und lärmenden Ruf, zu eilen und bei ihnen Platz zu nehmen.

»Wollte Gott, ich wüßte, was ich wählen soll!« rief sie aus. »O sprechen Sie, raten Sie uns, junger Mann, wie Sie einer Mutter und Schwester raten würden.«

»Wäre ich so glücklich, so nahe und teure Verwandte zu besitzen,« erwiderte er mit Nachdruck, »so sollte, in einer Stunde, wie der gegenwärtigen, nichts auf der Welt uns trennen.«

»Ist denn Hoffnung für die auf dem Wrack Zurückbleibenden?«

»Nur geringe.«

»Und im Boot?«

Wilder machte beinahe eine minutenlange Pause. Noch einmal wendete er den Blick rund am glänzenden Horizont umher und ließ ihn besonders an der Himmelsgegend nach der Richtung des fernen Festlandes zu mit unendlicher Anstrengung forschend weilen. Kein Zeichen, das die wahrscheinliche Beschaffenheit des Wetters andeuten konnte, entging seiner Beobachtung, während auf seinem sprechenden Gesicht alle die verschiedenen Bewegungen deutlich zu lesen waren, die in seinem prüfenden Geiste aufeinander folgten. »So wahr ich ein Mann bin, Madame,« antwortete er innig, »dessen Pflicht es ist, Ihrem Geschlecht ratend und schützend beizustehen, ich traue dem Wetter nicht. Ich glaube vielmehr, es ist ebenso wahrscheinlich, daß uns irgendein vorübersegelndes Schiff erspäht und aufnimmt, als daß die, die sich in die Pinasse wagen, je das Land erreichen.«

»So lassen Sie uns bleiben«, sagte Gertraud, indem ihr das Blut, zum erstenmal, seit sie wieder auf dem Verdeck erschienen war, mit Macht in die blassen Wangen strömte. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, mit den Elenden dort in einem Boote zu sein.«

»Rasch, rasch!« rief Nighthead ungeduldig. »Jede Minute Tageslicht ist für uns alle eine Minute Leben, und jede Sekunde Windstille ein Jahr. Rasch, rasch, sonst lassen wir euch zurück!«

Mistreß Wyllys antwortete nicht, sondern stand da, ein Bild des Zweifels und der schmerzlichsten Unentschiedenheit. Sie hörten bald das Plätschern des Wassers und sahen im nächsten Augenblick die Pinasse über das Element gleiten, von den starken Armen sechs rüstiger Ruderer getrieben.

»Halt!« kreischte die Gouvernante, die nun nicht mehr unentschieden war: »Nehmt mein Kind auf und laßt mich zurück!«

Ein verneinendes Winken mit der Hand und ein undeutliches Gebrumme der rauhen Stimme des Maaten war die einzige Antwort auf ihren Ruf. Nun eine lange, tiefe, atemlose Stille unter den Verlassenen! Das Schroffe in den Gesichtern der Matrosen in der Pinasse zerfloß bald in der Ferne, dann fing das Boot an, den Augen immer kleiner und kleiner zu erscheinen, bis nur noch ein dunkler, ferner Punkt zu sehen war, der mit den blauen Wogen stieg und fiel. Während dieser ganzen Zeit entschlüpfte keinem auch nur das leiseste Wörtchen. Ein jeder schaute bis zum Ermüden der Sehnerven hin auf den sich entfernenden Punkt! Erst als ihm das Auge das winzige Bild nicht mehr zur Vorstellung zu bringen vermochte, raffte sich Wilder aus der starren Betäubung wieder auf, in die er versunken war. Nun heftete er den Blick auf seine Gefährtinnen, die Hand gegen die Stirn drückend, gleichsam als ob ihn die schwere Verantwortlichkeit verwirrt hätte, die er durch den Rat, daß sie bleiben sollten, übernommen hatte. Doch dauerte diese tödliche Furcht nicht lange, und an ihre Stelle trat Festigkeit, Entschlossenheit. Seine Seele war in Szenen zweifelhaften Ausgangs zu oft erprobt worden, um lange der Fassung und Selbstbeherrschung beraubt werden zu können.

»Sie sind fort!« rief er, indem er einen langen und tiefen Atemzug tat, wie einer, der den Atem mit Gewalt an sich gehalten hatte.

»Sie sind fort!« wiederholte die Erzieherin, indem sie das vor innigstem Gram zusammengezogene Auge aus die marmorgleiche, regungslose Gestalt ihrer Schülerin wendete. »Alle Hoffnung ist dahin!«

Auch Wilders Blick ruhte auf diesem stummen, lieblichen Bildnis, und zwar mit nicht geringerem Ausdrucke als der Blick derer, die die Kindheit dieser reichen Erbin aus dem Süden in Unschuld und Liebe gepflegt hatte. Mit gedankenvoller Stirn, fest verschlossenem Mund saß er da und musterte mit angestrengter, gründlicher Prüfung alle Hilfsmittel, die seine fruchtbare Einbildungskraft und lang gesammelte Erfahrung nur darboten.

»Ist noch Hoffnung vorhanden?« fragte die Erzieherin, die den wechselnden Ausdruck seines Gesichtes mit unablässiger Aufmerksamkeit bewachte. Die Düsterkeit entfloh aus seinen braunen Gesichtszügen, und das Lächeln, das sie nun überglänzte, glich dem Sonnenstrahl, der die schwärzeste Wolke des treibenden Sturmwindes durchbricht.

»Ja, es ist noch Hoffnung!« sagte er mit Zuversicht; »unsere Lage ist keineswegs eine hoffnungslose.«

»Gelobet sei Er, der über das Meer und das Land regiert!« rief die dankbare Gouvernante, ihrem enggepreßten Herzen in einem Tränenstrom Luft machend. Gertraud warf sich ihrer Wyllys an den Hals, und beide gaben sich einen Augenblick ganz ihren hervorbrechenden Gefühlen hin.

»Und nun, meine Teuerste,« sagte Gertraud, sich aus der Umarmung ihrer mütterlichen Erzieherin windend, »lassen Sie uns der Geschicklichkeit des Herrn Wilder vertrauen; er hat diese Gefahr vorausgesehen und vorausgesagt, warum sollte er nicht mit gleicher Gewißheit unsere Rettung voraussagen können?«

»Vorausgesehen! Vorausgesagt!« versetzte die andere auf eine Weise, die wohl zeigte, daß ihr eigener Glaube an die sachkundige Voraussicht des Fremdlings nicht so ganz unbedingt war, wie der ihrer jungen und lebhaften Gefährtin. »Kein Sterblicher konnte dieses schreckliche Unglück voraussehen, und am allerwenigsten würde einer, der es wirklich voraussehen konnte, sich der Gefahr aufgedrängt haben! Herr Wilder, ich will Sie nicht mit Bitten um Erklärungen belästigen, die jetzt von keinem Nutzen sein würden, aber Sie werden uns gewiß nicht Ihre Gründe vorenthalten, die Sie zur Hoffnung ermutigen.«

Wilder wußte wohl, eine solche Neugierde sei ebenso peinlich als natürlich, und beeilte sich daher, sie zu befriedigen. Die Meuterer hatten nämlich das größte und bei weitem sicherste Boot auf dem Wrack zurückgelassen, weil sie die Windstille benützen wollten, und es ihnen stundenlange, schwere Arbeit gekostet hätte, um es aus den Einschnitten zwischen den beiden Hauptmasten zu heben und über die Seite des Schiffes in den Ozean hinabzuschwingen. Diese Arbeit, die mit Hilfe der gewöhnlichen Maschinerie eines Schiffes das Werk einiger Augenblicke gewesen wäre, würde alle ihre vereinigten, mit der äußersten Achtsamkeit und Umsicht gebrauchten Kräfte erfordert haben, so daß allerdings zuviele der Augenblicke drauf gegangen wären, die sie mit Recht der stürmischen und unsteten Jahreszeit wegen für so kostbar hielten. Wilders Vorschlag ging nun dahin, soviel Lebensbedürfnisse und Bequemlichkeitsgegenstände in diese kleine Arche zu schaffen, als sie eilig aus dem verlassenen Schiff zusammenraffen könnten, dann mit seinen Gefährtinnen hineinzusteigen, und den kritischen Augenblick abzuwarten, wo das Wrack unter ihnen wegsinken würde.

»Und das nennen Sie Hoffnung?« rief die von neuem wegen getäuschter Erwartung erblassende Wyllys, als er mit seiner Erklärung geendigt hatte. »Ich habe mir sagen lassen, daß der Strudel, den untergehende Schiffe auf der Meeresfläche verursachen, alle geringeren Gegenstände in der Nähe an sich ziehe und verschlinge!«

»Das ist zuweilen der Fall. Nicht um Welten möchte ich Sie hintergehen; doch sage ich noch immer: es ist ebenso wahrscheinlich, daß wir entkommen, als daß wir samt dem Schiff im Strudel versinken.«

»Das ist fürchterlich!« sprach die Gouvernante leise, »doch der Wille des Himmels geschehe! Kann denn Scharfsinn die Stelle der Kraft nicht ersetzen, um das Boot vom Verdeck zu werfen, ehe der verhängnisvolle Augenblick da ist?«

Wilder schüttelte den Kopf, entschieden verneinend.

»Wir sind nicht so schwach, wie Sie vielleicht glauben«, sagte Gertraud. »Leiten Sie nur unsere Bemühungen, und lassen Sie uns versuchen, was wir ausrichten können. Hier ist Kassandra,« fügte sie hinzu, sich nach dem Negermädchen umdrehend, die jetzt hinter ihrer jungen und eifrigen Gebieterin stand, den Mantel und den Schal über den Arm geworfen, als sollte sie sie eben auf eine Morgenpromenade begleiten, »hier ist Kassandra, die allein fast so stark ist wie ein Mann.«

»Und wenn sie so stark wie zwanzig Männer wäre, so würde ich doch verzweifeln, ohne Maschinerie das Boot über Bord zu schwingen. Doch wir verplaudern die Zeit; ich steige hinab, um über die wahrscheinliche Dauer unserer Zweifel ein Urteil zu fällen, und dann zu unseren Vorbereitungen! Selbst Sie, schön und schwach wie Sie sind, liebenswürdiges Wesen, werden dabei helfen können.«

Alsdann wies er auf verschiedene nicht schwere Gegenstände hin, die zu ihrer Bequemlichkeit dienen würden, sollten sie so glücklich sein, vom Wrack gehoben zu werden, und riet ihnen, diese ungesäumt ins Boot zu bringen. Während die drei Frauen auf diese Weise nützlich beschäftigt waren, stieg er in den Schiffsraum hinab, um von der Zunahme des Wassers zu berechnen, wie lange es noch dauern würde, bis der sinkende Bau ganz verschwände. Der Tatbestand bewies, daß ihre Lage bei weitem bedenklicher war, als selbst Wilder erwartet hatte. Seiner Masten entblößt, hatte das Schiff so stark geschlingert, daß viele der Nahten zwischen den Planken gesprungen waren, und in dem Grade, wie sich die Oberteile des Schiffes unter die Meeresfläche senkten, nahm die Schnelligkeit des Hereinströmens des Wassers zu. Als der junge Seemann den sachkundigen Blick überall umherwarf, konnte er nicht umhin, mit bitterem Herzen die Unwissenheit und den Aberglauben zu verwünschen, der die Desertion der überlebenden Mannschaft verursacht hatte. Denn in der Tat war kein Unglück geschehen, das nicht Anstrengung und Geschicklichkeit hätten wieder gut machen können. Doch so, alles Beistandes beraubt, sah er ohne Mühe ein, daß der Versuch, die nun unvermeidlich gewordene Katastrophe auch nur einen Augenblick aufhalten zu wollen, der Gipfelpunkt aller Torheit sein würde. Schweren Herzens aufs Verdeck zurückkehrend, machte er sich gleich an die Vorkehrungen, die nötig waren, um die entfernteste Aussicht zur Rettung zu eröffnen.

Während seine weiblichen Gefährten das Gefühl der Furcht durch ihre leichte, obgleich ebenso notwendige Beschäftigung betäubten, setzte Wilder die beiden Bootmaste ein, brachte die Segel in Ordnung und legte alle übrigen Werkzeuge zurecht, die im Rettungsfall nützlich sein konnten. Also beschäftigt, verflogen ein paar Stunden, als wären die Minuten zu Sekunden zusammengedrängt. Mit dem Ablauf dieser Zeit war seine Arbeit fertig. Er kappte nun die beiden Krabber, die dazu dienten, die Barkasse während der Bewegung des Schiffes festzuhalten, so daß sie, auf ihrer hölzernen Bettung stehend, außer aller sonstigen Verbindung mit dem Rumpfe gebracht wurde, der sich jetzt schon so rief hinabließ, daß in jedem Augenblick zu erwarten stand, er werde unter ihnen wegsinken. Nachdem diese Vorsichtsmaßregel genommen war, lud er die Frauen ein, ins Boot zu steigen, aus Furcht, die Krise könnte näher sein, als er es sich dachte; denn er wußte recht gut, daß ein untergehendes Schiff, einer wankenden Mauer gleich, jeden Moment dem Truck nach unten folgen kann. Hierauf machte er sich an die kaum minder notwendige Arbeit einer Auswahl unter dem Chaos von Gegenständen, womit der einsichtslose Eifer seiner Gefährtinnen das Boot so überfüllt hatte, daß kaum Platz für ihre unendlich kostbaren Personen übrig blieb. Nun flogen, trotz der vielen Gegenvorstellungen der Negerin, Schachteln, Koffer, Pakete aller Art rechts und links von der Barkasse nach allen Richtungen, als ob er nicht die geringste Rücksicht habe für die Bequemlichkeit und Pflege jenes liebenswürdigen Wesens, zu dessen Gunsten Kassandra unbeachtet und so heftig remonstrierte, wie ihre alte Namensbase von Troja. Das Boot war bald von allem gereinigt, was unter diesen Umständen buchstäblich in die Rumpelkammer gehörte, weil es nur im Wege stand. Es blieben indessen der Gegenstände weit mehr als genug für alle Bedürfnisse und für viele Bequemlichkeiten auf den Fall, daß die Elemente ihnen den Gebrauch erlaubten.

Jetzt, und nicht eher, ruhte Wilder von der Arbeit aus. Er hatte seine Segel so geordnet, daß er sie augenblicklich aufhissen konnte, hatte sorgfältigst untersucht, daß auch kein heraushängendes Seil das Boot noch mit dem Wrack verbinde und es dem untergehenden Kolosse nachziehe; endlich hatte er sich darüber vergewissert, daß alles an seiner gehörigen Stelle und zur Hand liege, Speisen, Wasser, Kompaß und die unvollkommenen Instrumente, die man damals noch hatte, um auszumitteln, in welcher Breite sich das Schiff befinde. Als alle Vorbereitungen endlich soweit gediehen waren, nahm er seine Stellung im Spiegel des Bootes ein und bemühte sich durch die Gelassenheit seines Wesens, den minder mutigen Gefährtinnen einen Teil seiner Unerschrockenheit mitzuteilen.

Der milde Sonnenschein ruhte auf tausend Stellen rechts und links vom stillen, verlassenen Wrack. So tot war die Stille, die auf der See herrschte, daß die riesige, unbeholfene Masse, auf der sich die Arche unserer Erwartungsvollen befand, regungslos dalag; nur nach langen Pausen schlingerte sie einen Augenblick heftig und senkte sich dann etwas tiefer in das gierig verschlingende Element. Bei alledem war das Verschwinden des Rumpfes nur langsam, und das Allmähliche hatte für die sogar etwas Langweiliges, die mit Sehnsucht dem Augenblick des gänzlichen Eintauchens entgegenharrten, als dem Wendepunkt ihres eigenen Geschickes.

Während dieser Stunden schrecklicher, ermüdender Ungewißheit wurde die Unterredung zwischen den ängstlich Wachenden in Tönen des Vertrauens, ja oft der Zärtlichkeit, geführt, aber ach! oft unterbrochen durch lange Zwischenräume tief sinnenden Schweigens. Ein jeder schlüpfte über die Erwähnung der gefährlichen Lage hinweg, um die Gefühle des andern zu schonen; aber jene ewigwachende Liebe zum Leben, die allen gemeinsam war, gab ihnen ein um so lebendigeres inneres Bewußtsein der Gefahr, die sie liefen. So flossen Minuten, Stunden, der ganze Tag dahin; schon konnte man sehen, wie sich die Finsternis längs des Ozeans heranzuschleichen begann, immer enger nach Osten hin den Umkreis ihrer Aussicht zusammenziehend, bis endlich das Ganze der öden Szene beschränkt war auf einen kleinen, düstern Kreis, unmittelbar um den Fleck her, wo sie sich befanden. Diesem Wechsel folgte noch eine bange Stunde, während der es den Anschein bekam, als wolle sie der Tod in der Umgebung seiner grauenvollsten Schrecken besuchen. Ein schwerer Schlag aufs Wasser dröhnte durch die Luft, es war ein sich heranwälzender Walfisch, der seine ungeschlachte Gestalt auf der Oberfläche hin und her warf. Das mimische Blasen von hundert Nachahmern in der Suite des Monarchen der Gewässer vermehrte das Gräßliche. Der entzündeten, fieberhaften Einbildungskraft Gertrauds kam es vor, als ob das Salzwasser alle seine Ungeheuer herbeisende; umsonst versuchte Wilder sie mit der Versicherung zu beruhigen: diese gewohnten Töne seien eher Vorboten des Friedens, als irgendeiner frischen Gefahr – in ihrem Geist sah sie die verborgenen Meeresabgründe klaffen, über denen sie, nur von einem Faden gehalten, schwebte, und es wimmelte darin von den ekelhaften Bewohnern der großen Tiefe. Doch blieb der aufgeklärte Seemann selbst nicht ohne Schrecken, als er die Finnen des gefräßigen Hai über die Oberfläche des Wassers dunkel hervorragen und das Ungeheuer sich in abgesetzten Schüssen rund um das Wrack stehlen sah, wobei der Instinkt es zu lehren schien, daß der Inhalt des dem Untergang geweihten Schiffes nun bald seine Beute werden müsse. Nun ging der Mond auf mit seinem milden, täuschenden Zauberlicht über die stets wechselnde, aber stets schreckenvolle Szene.

»Sehen Sie, meine Damen,« sagte Wilder, als der Himmelskörper sein blasses, trauriges Rund aus dem Meeresbette hob, »wir werden Licht haben zu unserem gewagten Schwung!«

»Ist es schon soweit?« fragte Mistreß Wyllys, mit soviel Ausdruck von Entschlossenheit, als sie nur immer in einer so herben Lage sammeln konnte.

»Ja – schon steht das Schiff mit den Speigaten unter Wasser. Ein Fahrzeug hält es zuweilen aus, bis es von Salzwasser ganz gesättigt ist. Wenn unseres überhaupt sinkt, so sinkt es bald.«

»Überhaupt sinkt! Ist denn Hoffnung da, daß es noch schwimmen könne?«

»Keine!« sagte Wilder und hielt inne, den hohlen, drohenden Tönen zu lauschen, die, während das Wasser durch die Schotten eindrang und sich von einer Seite zur andern schon freie Bahn brach, aus dem Boden des Schiffes hervordröhnten, gleich dem Gestöhne eines gewaltigen Ungeheuers im letzten Kampfe der Natur. »Keine; schon verliert es seine wasserrechte Linie.«

Auch seinen Gefährtinnen entging die Veränderung nicht, doch war keine von ihnen imstande, eine Silbe hervorzubringen, und wenn es den Besitz einer Welt gegolten hätte. Noch ein dumpfer, drohender, kollernder Ton, und von der im Räume eingeschlossenen Luft getrieben, flog das Vorderteil des Verdecks in die Höhe, mit der Explosion einer Kanone.

»Jetzt die Seile angefaßt, die ich Ihnen gegeben habe!« schrie Wilder mit atemloser Hast.

Seine Worte ersäufte das Rauschen und Gurgeln des Strudels. Der Schiffskoloß tat einen Fall wie ein sterbender Walfisch, er hob seinen Spiegel hoch in die Luft, dann glitt er in die Tiefe wie der Leviathan, wenn er in seine verborgenen Abgründe hinabschießt. Die festliegende Barkasse hob sich natürlich mit dem Schiffe, so daß sie endlich – eine fürchterliche Lage – beinahe einen rechten Winkel mit der Wasserfläche bildete. So wie das Wrack hinabsank, kamen die Seiten der Barkasse ins Wasser und vergruben sich so tief, daß die Wellen fast darüber zusammenschlugen; doch leicht gebaut, tauchte sie elastisch wieder empor, und von dem sinkenden Schiffe einen gewaltigen Stoß gegen den Spiegel empfangend, schoß die kleine Arche vorwärts, als wäre sie von einer Menschenhand fortgestoßen. Allein, da das Wasser eine geraume Strecke ringsumher nach dem Strudel strömte, so wurde alles unwiderstehlich mir fortgerissen, und kaum war die Barkasse aufgetaucht, so schoß sie auch schon wieder pfeilschnell mit dem Gefälle, als könnte sie nicht ablassen von dem größern Körper, dessen Satellit sie solange gewesen war, als müsse sie ihm durch die Kluft des wirbelnden Strudels in den Abgrund hinab folgen. Drauf stieg sie wieder schaukelnd an die Oberfläche, und einen Augenblick lang wurde sie umhergeworfen und gedreht wie eine Wasserblase in den Kreiswellen eines Teiches. Dann ächzte das Meer tief auf, und alles wurde wieder ruhig.

Achtzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

»Wir sind gerettet!« rief Wilder, der während des heftigen Kampfes, fest gegen einen Mast gelehnt, dagestanden und mit der gespanntesten Aufmerksamkeit die Art ihrer Rettung beobachtet hatte. »Soweit wenigstens sind wir gerettet; dem Himmel allein sei Dank dafür, da der größten Kunst von meiner Seite hier auch die geringste Änderung unmöglich gewesen wäre.«

Die Frauen hatten das Gesicht in die Gewänder und Tücher, auf denen sie saßen, tief vergraben, und selbst der Gouvernante mußte ihr Reisegefährte zweimal die Versicherung geben, daß die höchste Gefahr vorüber sei, ehe sie den Kopf in die Höhe hob. Sie und Gertraud brachten auf der Stelle dem höchsten Wesen ihren Dank auf eine Weise und mit Worten dar, weit unzweideutiger als der Ausdruck, der soeben von den Lippen des jungen Seemanns gekommen war. Nach Verrichtung dieser wohltuenden Pflicht, gleichsam durch das Dankopfer gestärkt, standen sie auf, um ihrer jetzigen Lage fester ins Antlitz zu schauen.

Nach jeder Seite hin dehnte sich die scheinbar grenzenlose Wasserwüste aus. Für sie war ihr kleines, gebrechliches Zimmerwerk nun die Welt. Solange sich das Schiff noch unter ihren Füßen befand, obgleich im Untergehen begriffen und verderbendrohend, war eine Zwischenlinie zwischen ihrem Dasein und dem verschlingenden Ozean, wenigstens dem Scheine nach, vorhanden. Allein eine einzige Minute hatte sie dieser letzten, trügerischen Hoffnung beraubt, und sie sahen sich jetzt in einem Fahrzeuge, das nicht unpassend mit einer Wasserblase verglichen werden konnte, der See preisgegeben. Gertraud fühlte in diesem Augenblick eine solche Sehnsucht, daß ihr die Hälfte ihrer Lebenshoffnungen kein zu großes Opfer geschienen hätte, um jenes ungeheure und fast unbewohnte Festland nur sehen zu können, das sich so viele hundert Meilen dem Westen entlang ausdehnte und der Wasserwelt Grenzen setzte.

Der Andrang von Gefühlen, deren Heftigkeit in ihrer verlassenen Lage sehr natürlich war, nahm indes bald ab, und nun war der nächste, ebenso natürliche Gedanke der an die Mittel ihrer Rettung. Dies hatte Wilder jedoch geahnt, und noch waren Mistreß Wyllys und Gertraud kaum recht zu sich selbst gekommen, als es ihm, unterstützt von der dienstfertigen, erschrockenen, aber dabei immer redseligen Kassandra, schon gelungen war, die im Boote umherliegenden Sachen so anzuordnen, daß sie der Bewegung den geringstmöglichen Widerstand entgegensetzten.

»Mit einem wohlgeordneten Schiffchen und vernünftigem Winde«, rief unser Abenteurer freudig, nachdem seine kleine Arbeit vollendet war, »dürfen wir immer hoffen, in einem Tag und einer Nacht das Land zu erreichen. Es gab schon Stunden in meinem Leben, wo ich nicht angestanden hätte, in dieser trauten Barkasse die ganze Küstenlänge Amerikas zu messen, wenn …«

»Ach, das Wenn! Sie hatten das Wenn vergessen«, sagte Gertraud, als sie sah, daß er sich selbst unterbrach, wahrscheinlich weil er die Besorgnisse seiner Reisegefährtinnen durch eine Bedingtheit seiner Zuversicht nicht vermehren wollte.

»Wenn das Jahr um zwei Monate weniger vorgerückt wäre«, setzte er nun etwas weniger zuversichtlich hinzu,

»Die Jahreszeit ist also gegen uns; dies fordert nur um so größere Entschlossenheit von unserer Seite.«

Wilder wendete den Blick nach der schönen Sprecherin hin, deren bleiches und ergebenes Antlitz in den versilbernden Strahlen des Mondes nichts weniger als den Mut ausdrückte, die Mühseligkeiten zu ertragen, die sie, wie er nur zu gut wußte, noch zu erdulden hatte, ehe sie hoffen durfte, das Festland zu erreichen. Er sann eine kleine Weile nach, hob dann den Arm nach Südwest und fing mit der flachen Hand die Nachtluft auf.

»Für Personen in unserer Lage ist nichts nachteiliger als Müßiggehen«, sagte er. »Es hat den Anschein, daß der Luftzug von dieser Seite herkommt: ich will mich zu seinem Empfange bereit halten.«

Hierauf breitere er seine beiden Eversegel aus, setzte sie back und nahm seine Stellung am Steuer ein, wohl wissend, daß seine Dienste in kurzem vonnöten sein würden. Der Erfolg rechtfertigte seine Erwartungen. Nicht lange, so fing die leichte Leinwand des Bootes an, hin und her zu flattern, und nachdem er die Seiten in die gehörige Richtung gesteuert hatte, begann sich das kleine Fahrzeug langsam auf seinem irren Wasserpfade vorwärts zu bewegen.

Bald fühlten die Segel den Druck eines frischeren, von der klammen Nachtluft durchdrungenen Windes. Das gab Wildern einen Vorwand, die Frauen zu ermahnen, unter dem kleinen Obdach von Teertüchern, das seine Vorsicht ausgebreitet hatte, einige Ruhe auf den aus dem Schiffe mitgenommenen Matratzen zu suchen. Frau Wyllys und ihre Pflegebefohlene merkten, daß ihr Beschützer allein zu sein wünschte, und folgten daher dessen Aufforderung. Wenn sie auch nicht schliefen, so hätte doch nach einigen Augenblicken niemand sagen können, ob sich außer unserem Abenteurer noch ein anderes lebendiges Geschöpf in der einsamen Barkasse befinde.

Die Mitternachtstunde ging vorüber, ohne daß sich die Aussichten derer, deren Schicksal so sehr von dem unzuverlässigen Einflusse des Wetters abhing, wesentlich verändert hätten. Der Wind war bis zu einer tüchtigen Kühlde angefrischt; nach Wilders Berechnung hatte das Boot schon viele Seemeilen quer durch den Ozean zurückgelegt, und zwar geradeswegs nach dem östlichen Ende jenes langen und schmalen Eilandes zu, das die Gewässer, die die Küsten von Konnektikut bespülen, von denen der offenen See abschneidet. Flüchtig flogen die Minuten vorbei; denn das Wetter war günstig, und des jungen Seefahrers Gedanken verloren sich in der Erinnerung eines kurzen, aber an Abenteuern reichen Lebens. Oft beugte er sich rückwärts, um das leise Atemholen der einzigen aufzufangen, die unter dem dunkeln und kunstlosen Obdach schlief, als ob er den sanften Hauch ihres Schlummers von dem ihrer Gefährtinnen hätte unterscheiden können. Dann fiel er wieder in seinen Sitz zurück, und seine Lippe wölbte, ja bewegte sich, wie sich die phantastischen Gebilden seines Hirns unwillkürlich in leise Töne auslösten. Doch niemals, selbst als er sich seinen Träumen und Gedanken am meisten hingab, vergaß er die unablässige, fast instinktmäßige Pflicht, die ihm seine Lage auferlegte. Ein flüchtiger Blick nach den Wolken, ein anderer seitwärts auf seinen Kompaß, dann wieder von Zeit zu Zeit ein langes Forschen in das bleiche Antlitz des traurigen Mondes, dies waren die gewöhnlichen Richtungen, die seine geübten Augen nahmen. Noch immer stand der Mond im Zenit, und Wilders Stirn zog sich in besorgliche Furchen zusammen, als er bemerkte, daß seine Strahlen in einer nebellosen Atmosphäre glänzten. Ihm würden selbst jene drohenden wässerigen Kreise, von denen der Mond so oft umgeben ist, und die gewöhnlich als Vorboten des Sturmes gelten, viel besser gefallen haben, als die durchsichtige, trockene Luft, durch die jetzt die Mondstrahlen so hell auf die Wasserfläche fielen. Jetzt hatte die Kühlde auch nichts mehr von der Feuchtigkeit an sich, mit der sie anfangs geschwängert war; und statt ihrer entdeckten die scharfen, empfindlichen Sinnesorgane des Seemanns den Landgeruch, der zwar oft den Matrosen angenehm ist, doch in diesem Augenblick nichts weniger als willkommen war. Dies alles waren Anzeichen, daß die Winde vom Festlande her bald herrschen würden, und zwar mit einer der stürmischen Jahreszeit entsprechenden Gewalt, wie es ihm die grotesken, langen, schmalen Wolken verkündeten, die sich über dem westlichen Horizonte zusammenzogen.

Hätte Wilder in seinem Innern über die Genauigkeit dieser Vorzeichen noch den geringsten Zweifel gehegt, so würde er gegen Anfang der Tagwache verschwunden sein. Denn in dieser Stunde fing die schwankende Kühlde gänzlich hinzusterben an; und noch ehe die anschlagende Leinwand den letzten Stoß fühlte, kamen schon die Gegenwinde von Westen her. Es bedurfte keines langen Sinnens von seiten unseres Abenteurers, um einzusehen, daß der rechte Kampf jetzt erst beginnen würde, und demzufolge traf er seine Vorkehrungen. Durch doppelte Reffe holte er jetzt die viereckigen Segeltücher zusammen, die solange ausgebreitet waren, um die milden Südlüfte aufzufangen, damit sie nun dem Winde nur ein Drittel der vorigen Fläche darboten, und verschiedene der zuvielen Raum einnehmenden übrigen Artikel, deren Nutzen unter gegenwärtigen Umständen fraglich wurde, warf er, ohne sich einen Augenblick zu bedenken, über Bord. Auch war diese Vorsicht nicht ohne hinlänglichen Grund, denn bald ließ sich von Nordwest das dumpfe Gestöhn des Windes über der Tiefe vernehmen, verbunden mit der erstarrenden Rauhigkeit der unwirtlichen Regionen der Kanadas.

»Ach, ich kenne dich recht gut,« murmelte Wilder, als der erste Stoß dieses unwillkommenen Gastes seine Segel traf und das kleine Boot nötigte, sich unter seiner daherfahrenden Gewalt zu beugen; »ich kenne dich recht gut mit deinem Süßwassergeschmack und deinem Landgeruch! Wollte Gott, du kühltest dein Mütchen auf den Landseen und kämest nicht herab, um gar manchen müden Seemann in sein früheres Kielwasser zurückzutreiben, und ihn zu zwingen, seine schon zu lange Fahrt unter deiner beißenden Kälte und ausdauernden Halsstarrigkeit mit unablässigem Lavieren fortzusetzen!«

»Sagten Sie etwas?« sprach Gertraud, halb aus dem Teertuchzelt hervorguckend, aber ebenso schnell mit einem Schauder wieder zurückschreckend, als sie den Einfluß der veränderten Luft fühlte.

»Schlafen Sie, Fräulein, schlafen Sie!« antwortete er, als ob er in einem solchen Augenblicke selbst von ihrer sanften Silberstimme nur ungern unterbrochen würde.

»Ist neue Gefahr da?« fragte das Mädchen und erhob sich leise von der Matratze, um die Ruhe ihrer Gouvernante nicht zu unterbrechen. »Fürchten Sie nicht, mir das Ärgste mitzuteilen: ich bin ja ein Soldatenkind!«

Er zeigte mit dem Finger auf die von ihm so wohl verstandenen Vorboten hin, verharrte aber im Schweigen.

»Ich fühle wohl, daß der Wind kälter ist als vorher,« sagte sie, »aber weiter sehe ich keine Veränderung.«

»Und wissen Sie, welchen Weg das Boot jetzt nimmt?«

»Nach dem Lande zu, denk‘ ich. Sie haben uns ja die Versicherung gegeben, und gewiß, Sie wollen uns nicht hintergehen.«

»Sie lassen mir Gerechtigkeit widerfahren; und zum Beweis will ich Ihnen jetzt sagen, daß Sie sich irren. Wohl weiß ich, daß Ihr Auge auf dieser öden Fläche die Richtungen des Kompasses nicht voneinander unterscheiden kann: allein so leicht kann ich mich nicht betrügen.«

»Wir segeln also nicht der Heimat zu?«

»So wenig, daß, wenn diese Richtung fortdauert, wir erst das ganze Atlantische Meer hinüber müssen, ehe wir Land erblicken können.«

Gertraud antwortete nicht, sondern begab sich traurig an die Seite ihrer Erzieherin zurück. Inzwischen zog der nun wieder allein gelassene Wilder seinen Kompaß und die Richtung des Windes zu Rate. Er bemerkte, daß er sich durch eine veränderte Stellung des Bootes dem Festlande von Amerika mehr würde nähern können, fierte daher herum und brachte das Vorderteil so nahe an Südwest, als der Wind nur zulassen wollte.

Allein dieser unbedeutende Wechsel gab nicht viel Hoffnung. Mit jeder Minute wuchs die Gewalt des Windes, bis sie einen so hohen Grad erreicht hatte, daß er seine Hintersegel ganz einholen mußte. Der schlafende Ozean zögerte nicht, aufzuwachen; und kaum war die Barkasse bequem unter einem enggerefften Stagfock geborgen, so begann sie sich auch schon auf den schwarzen, wachsenden Wogen zu heben und dann hinabzustürzen in eine hohle See, um nach einer augenblicklichen Ruhe wieder in die Höhe zu steigen, wo ihrer die immer zunehmende Gewalt der Windstöße warteten. Das Anschlagen des Wassers und das Heulen des Windes, der jetzt voll und schwer über die blaue Wasserwüste einherstürmte, zog die Frauen bald an die Seite ihres Beschützers. Auf ihre vielen und ängstlichen Fragen gab er besonnene, aber kurze Antworten, wohl fühlend, daß die Stunde weit mehr zu Handlungen als zu Worten aufforderte.

Auf diese Weise verflossen die letzten zögernden Minuten der Nacht, schwer durch eine mit den Augenblicken wachsende Angst, die jedes frische Anschwellen des Windes geeignet war, doppelt qualvoll zu machen. Es kam der Tag, aber nur um die trostlose Aussicht deutlicher vor Augen zu führen. Die Wogen sahen jetzt grün und mürrisch aus, und hier und da stürzte schon von ihren Gipfeln der weiße Schaum herunter – der untrügliche Beweis, daß ein Kampf zwischen den Elementen bevorstehe. – Drauf erschien die Sonne über dem schroffen, ungleichen Saum des östlichen Horizonts, langsam hinanklimmend am blauen Himmelsgewölbe, das kalt, durchsichtig und wolkenlos herabstarrte.

Wilder beobachtete alle diese Wechsel der Stunde mit einer Angelegentlichkeit, die bewies, wie bedenklich ihm ihre Lage vorkam. Ihm schien es mehr darum zu tun, sich über die Zeichen der oberen Regionen zu unterrichten; denn wenig beachtete er das wilde Taumeln und Strömen des Wassers, das gegen die Seiten des kleinen Fahrzeuges so fürchterlich anschlug, daß seine Schicksalsgenossen ihren unvermeidlichen Untergang vor sich zu sehen glaubten. Allein, wie gefährlich dieses letztere dem minder unterrichteten Sinne auch scheinen mußte, so war doch Wilder viel zu sehr daran gewöhnt, um daraus über den eigentlichen Moment der Gefahr einen Schluß ziehen zu wollen. Ihm war es, was der Donner in seinem Verhältnis zu dem vorangehenden Blitz dem Naturforscher ist; er wußte, daß das Element, auf dem er schwamm, nur erst dann Unglück bringen könne, wenn dessen Kraft zu schaden durch die Macht eines verwandten Elementes in Tätigkeit gesetzt werde.

»Was denken Sie jetzt von unserer Lage?« fragte Mistreß Wyllys, ihn fest anschauend, gleichsam als traue sie dem Ausdruck seiner Züge bei der Antwort mehr als dieser selber.

»Solange der Wind diese Richtung behält, dürfen wir der Hoffnung immer Raum geben, uns in dem Pfade der von und nach den großen nördlichen Häfen segelnden Schiffe zu halten; wird aber eine schwere Bö daraus, und fangen die Wogen an, sich heftiger zu brechen, so zweifle ich, daß das Boot stark genug sein dürfte, um nicht aus dem Wege verschlagen zu werden.«

»Dann bleibt uns wohl nur übrig, vor dem Winde zu laufen?«

»Freilich, wir müssen dann lenzen.«

»Welche Richtung nehmen wir in diesem Fall?« fragte Gertraud, deren Sinn für Örtlichkeit und Entfernungen durch die starke Bewegung des Ozeans und die kahle Aussicht nach jeder Seite hin in der unentwirrbarsten Verworrenheit befangen war.

»In solchem Falle,« erwiderte unser Abenteurer, sie mit einem Blicke anschauend, in dem Mitleiden und grenzenlose Teilnahme so seltsam verschmolzen waren, daß Gertrauds ruhiges, gerades Anschauen zu einem verstohlenen, furchtsamen Blinzeln eingeschüchtert wurde, »in einem solchen Falle würden wir uns von dem Lande entfernen, das zu erreichen uns so wichtig ist.«

»Dort, was dort?« schrie Kassandra, deren große, dunkle Augen nach jeder Richtung mit einer Neugier umherglotzten, die keine Sorge oder Gefühl von Gefahr zu unterdrücken vermochte: »ist groß, sehr groß Fisch auf die Wasser.«

»Es ist ein Boot!« rief Wilder, auf ein Querbrett springend, um den dunkeln Gegenstand genau zu betrachten, der den glänzenden Gipfel einer Woge durchschnitt, innerhalb hundert Fuß von da, wo die Barkasse mit dem Wasser kämpfte. »Heda, ho! – Boot, ahoi! – Hallo dort! – Boot ahoi!«

Der dumpfe Ton des Windes fuhr an ihnen vorüber, aber keine menschliche Stimme antwortete seinem Rufe. Sie waren nun wieder zwischen zwei Wogen in ein hohles Wassertal hinabgefallen, das die Aussicht durch zwei dunkle, wogende Schranken von beiden Seiten beengte.

»Gnädiger Himmel!« rief die Gouvernante aus, »können noch andere Fahrzeuge so unglücklich sein wie wir?«

»Wenn mich mein richtiger Blick nicht verlassen hat, so war es ein Boot«, erwiderte Wilder, indem er auf dem Brett stehen blieb, um den Moment, wo er einen zweiten Blick erhaschen könnte, nicht zu verfehlen. Sein Wunsch wurde bald erfüllt. Er hatte während dieser Zeit das Steuer den Händen Kassandras anvertraut, die die Barkasse ein klein wenig aus ihrer Richtung gehen ließ. Noch waren die Worte auf seinen Lippen, als der nämliche schwarze Gegenstand von der Windseite der Woge herabfuhr, und eine umgestürzte Pinasse floß in der hohlen See dicht bei ihnen vorbei. Plötzlich kreischte die Negerin auf, ließ die Ruderpinne fahren, fiel auf die Knie und hielt sich die Hände vors Gesicht. Wilder erhaschte instinktmäßig das Steuer, indem er sich dabei nach der Gegend hinbog, wo der Gegenstand sein mußte, der den Blick Kassandras empört und zurückgescheucht hatte. Eine Menschengestalt war es, die, bis zur Hälfte über dem Wasser hervorragend, herangeschwommen kam, mitten in einer überstürzenden Wogenspitze, die den dunkeln Abhang windwärts mit Schaum bedeckte. Eine Sekunde lang stand die Gestalt aufrecht, von deren eingeweichten Haaren das Salzwasser heruntertroff, wie ein Wesen aus der Tiefe, das gekommen war, um mit seinen scheußlichen Zügen die Anschauenden wahnsinnig zu machen – in der nächsten Sekunde trieb der leblose Körper des Ertrunkenen bei der Barkasse vorbei. Es dauerte keine Minute, so schwang sich das Boot über eine Woge in ein zweites Tal, wo nichts mehr zu sehen und alles vorüber war wie ein Traum.

Nicht bloß Wilder, sondern auch Gertraud und Mistreß Wyllys hatten das grausenvolle Schauspiel nahe genug gesehen, um das rauhe Gesicht Nightheads zu erkennen, durch den vom Tode zurückgelassenen Eindruck nur noch rauher und abschreckender gemacht. Doch niemand sprach oder gab sonst sein Erkennen durch Zeichen zu verstehen; nicht Wilder, weil er hoffte, daß seine Gefährtinnen von dem empörenden Wiedererkennen des Opfers verschont geblieben wären, nicht die Frauen, weil sie in dem unglücklichen Schicksal des Meuterers zu sehr ein Vorspiel ihres eigenen, obgleich mehr hinausgeschobenen Geschickes zu sehen glaubten, um fähig zu sein, dem tiefgefühlten Abscheu Worte zu geben. Eine Zeitlang war nichts zu vernehmen, als das Geseufze der Elemente, gleichsam das heisere Requiem über die Opfer ihrer Kriegswut.

»Die Pinasse hat sich gefüllt!« war Wilders Bemerkung, als er endlich an den blassen Zügen und sprechenden Augen seiner Gefährtinnen sehen konnte, daß längere Zurückhaltung ein vergebliches Beginnen wäre. »Ihr Boot war zu gebrechlich, und bis an den Wasserrand überladen.«

»Glauben Sie, daß alle verunglückt sind?« fragte Mistreß Wyllys mit leiser, flüsternder Stimme.

»Es ist keine Hoffnung für irgendeinen! Freudig wollte ich einen Arm verlieren, könnte ich dem Ärmsten dieser verblendeten Matrosen helfen, die ihr unglückliches Geschick durch Ungehorsam und Unwissenheit beschleunigt haben.«

»Und von allen den menschlichen Wesen, die so kürzlich den Hafen von Newport glücklich und leichten Sinnes verlassen haben, in einem Fahrzeug, das lange der stolz der Seeleute war, von allen sind wir die einzigen, die noch leben!«

»Die einzigen: dieses Boot und sein Inhalt ist alles, was noch an die Royal Carolina erinnert.«

»Es lag nicht im Bereich menschlichen Wissens, dieses Unglück vorherzusehen«, fuhr die Erzieherin fort und blickte Wildern dabei an, als wollte sie eine Frage tun, von der ihr jedoch das Gewissen sagte, daß sie aus demselben Aberglauben entsprungen sei, der den Untergang des soeben vorübergeschwommenen rohen Menschen herbeigerufen hatte.

»Nein.«

»Und die Gefahr, auf die Sie so oft und so geheimnisvoll anspielten, stand in keiner Verbindung mit der wirklich eingetretenen?«

»Nein.«

»Ist sie denn nun durch die Veränderung unserer Lage vorüber?«

»Ich hoffe es.«

»Sieh!« unterbrach Gertraud, die Hand in ihrer Hast auf Wilders Arm legend. »Gott sei gelobt, dort ist endlich etwas Erfrischendes für den Blick.«

»Es ist ein Schiff!« rief ihre Erzieherin, aber ach, eine neidische Woge erhob ihre grüne Mauer zwischen ihnen und dem Gegenstand, und sie sanken in die Hohlsee hinab, als ob sich die Erscheinung auf einen Augenblick ihnen gezeigt hätte, um sie mit ihrem Bilde zu verhöhnen. Doch hatte Wilder im Hinabsinken die sich an den Horizont malenden Spierenlinien flüchtig sehen können, und als das Boot nun wieder aufstieg, richtete er den geübten Blick so, daß er sich auch im Nu überzeugte, es sei ein Fahrzeug. Eine Woge kam nach der andern, ein Augenblick folgte dem andern, wo der Fremde abwechselnd mit dem Steigen der Barkasse erschien und mit ihrem Sinken wieder verschwand. Aber dieses kurze und flüchtige Erblicken war auch hinreichend, um das Auge dessen über alles Nötige zu belehren, der auf dem Elemente erzogen worden war, wo die Umstände jetzt so ausdauernde und unzweideutige Proben seiner Erfahrung heischten.

In der Entfernung einer Viertelmeile war allerdings ein Schiff zu sehen, das sich auf denselben Wogen, die der Barkasse jeden Fuß Weges streitig machten, mit Grazie und nur geringem Seitenschwanken, ohne scheinbare Anstrengung, vorwärts bewegte. Nur ein einsames Segel war beigesetzt, um der Bewegung des Schiffes mehr Stetigkeit zu geben; aber auch dieses eine war so zusammengerefft, daß es sich zwischen den schwarzen, verworrenen Linien der Taue und Spieren wie ein kleines weißes Wölkchen ausnahm. Zuweilen wies die Spitze der hohen, schlanken Masten nach dem Zenit, nicht selten schienen sie sich sogar vom Winde wegzuwenden, dann neigten sie sich wieder in langsamen und zierlichen Schwingungen nach der gekräuselten Meeresoberfläche hin, als wollten sie im Schoße des bewegten Elementes einen Zufluchtsort für ihre eigene endlose Bewegung suchen. Es gab Augenblicke, wo der lange, niedrige und schwarze Rumpf des Schiffes deutlich zu sehen war, auf einem Wogengipfel ruhend, und im Sonnenstrahle glänzend, wenn das Wasser seine Seiten umspielte; dann wieder sanken beide in eine Hohlsee nieder, Barkasse und Schiff, und alles verschwand dem Blick, selbst bis zu den feinen Linien, die die allerobersten Spieren in die Luft malten.

Sowohl Frau Wyllys als Gertraud beugten das Antlitz tief, in stille Anbetung und Dank zerflossen, als sie sich von der Erfüllung ihrer Hoffnungen versichert hatten. Dagegen war Kassandras Freude weniger zurückgehalten und geräuschvoller. Das einfältige Negermädchen lachte, weinte und jauchzte auf eine höchst rührende Weise, bei der sich eröffnenden Aussicht, ihre junge Gebieterin und sich selber nun einem Tode entrissen zu sehen, den der entsetzliche Anblick vor einigen Augenblicken ihrer Einbildungskraft unter einer so furchtbaren Gestalt vorgeführt hatte. Aber in dem trüben Auge Wilders war nichts zu spüren, was eine Teilnahme an der Freude der übrigen zu erkennen gegeben hätte.

»Jetzt,« sagte Mistreß Wyllys, seine Hand in ihre beiden schließend, »dürfen wir Rettung hoffen; und dann wird uns schon die Gelegenheit vergönnt sein, tapferer, trefflicher Jüngling, Ihnen zu beweisen, wie sehr wir Ihre Dienste zu schätzen wissen.«

Wilder litt den Ausbruch ihrer Gefühle, sprach aber nicht, noch äußerte er auf irgendeine andere Weise das geringste freudige Mitgefühl. Im Gegenteil, sein Wesen drückte eine Art von befangener Besorglichkeit aus.

»Es schmerzt Sie doch nicht, Herr Wilder,« setzte die verwunderte Gertraud die Rede ihrer Erzieherin fort, »daß sich uns endlich durch Gottes Barmherzigkeit eine Aussicht erschließt, aus diesen schrecklichen Wellen gerettet zu werden?«

»Mit Freuden ginge ich in den Tod, um Sie vor Leid zu schützen,« erwiderte der junge Seemann, »aber …«

»Jetzt ist keine Zeit für was anderes, als für Dank und Freude!« unterbrach ihn die Gouvernante. »Ich kann jetzt keinen kalten Ausnahmen Gehör gestatten; was soll Ihr freudedämpfendes Aber?«

»Vielleicht ist die Erreichung jenes Schiffes nicht so leicht als Sie glauben … der Wind kann es verhindern … kurz, der Blick erreicht wohl manches Schiff zur See, was deswegen doch nicht angesprochen werden kann.«

»Glücklicherweise ist das nicht unser grausames Los. Ich verstehe übrigens – Sie wünschen nicht Hoffnungen zu sehr zu ermuntern, die noch getäuscht werden könnten; allein zu lange und zu oft habe ich mich diesem gefährlichen Elemente anvertraut, um nicht zu wissen, daß, wer den Wind hat, sprechen kann oder nicht, nach Belieben.«

»Sie bemerken ganz richtig, Madame, daß wir die Windseite haben; und befände ich mich in einem größeren Fahrzeuge, so wäre nichts leichter, als dem Fremden nahe genug zu kommen, um ihn sprechen zu können. Das Schiff dort liegt freilich beim Winde, allein der Wind ist doch nicht stark genug, um ein so großes Fahrzeug einem so kleinen Segel nahe zu bringen.«

»Nun, so wird man uns sehen und warten, bis wir herankommen.«

»Nein, nein. Gottlob! noch sieht man uns nicht! Dieser kleine Lappen Segel zerfließt im Wasserstaube für den Blick der Leute in jenem Schiff, oder sie halten ihn für eine Seemöwe.«

»Und dafür danken Sie dem Himmel?« rief Gertraud aus, den ängstlichen Wilder mit einem Erstaunen ansehend, das sie nicht, wie ihre Erzieherin, Kraft genug zu unterdrücken besaß.

»Hab‘ ich dem Himmel gedankt, daß wir nicht gesehen werden? Kann sein, daß ich nicht um das Rechte dankte: es ist ein bewaffnetes Schiff.«

»Vielleicht ein königlicher Kreuzer. Um so wahrscheinlicher harrt unser eine willkommene Aufnahme! Darum zögern Sie nicht, ziehen Sie eine Notflagge in die Höhe, sonst setzt man vielleicht mehr Segel bei und läßt uns zurück.«

»Sie vergessen, daß der Feind oft an unseren Küsten kreuzt. Es könnte ein Franzose sein!«

»Ich fürchte einen großmütigen Feind nicht. Selbst ein Korsar würde Frauen in unserer Not Obdach und Willkommen geben.«

Hier folgte eine lange, tiefe Stille. Wilder stand auf dem Querbrett, sich anstrengend, jedes Seeleuten verständliche Zeichen zu lesen, eine Beschäftigung, die ihm wenig Freude zu machen schien.

»Wir wollen mir unserem Boot nach vorn steuern,« sagte er, »und da das Schiff anders beiliegt, so gelingt es vielleicht, uns noch so zu stellen, daß wir über unsere künftigen Bewegungen gebieten können.«

Seine Gefährtinnen wußten nicht recht, was sie gegen einen Vorschlag, den sie vielleicht nur halb verstanden, einwenden sollten. Mistreß Wyllys war so befremdet durch die sonderbare Kälte, mit der er diese Aussicht einer Zuflucht aus ihrer Lage aufnahm, einer Lage, die, nach seinem eigenen unmittelbar vorhergehenden Geständnis, hilflos war, so daß sie sich viel geneigter fühlte, über die Ursache dieser Kälte nachzudenken, als ihn mit Fragen zu belästigen, die, wie sie wohl einsah, zu nichts führen würden. Gertraud ihrerseits verwunderte sich, ja hatte fast Lust zu glauben, er könne doch recht haben, wenn sie auch nicht wußte warum. Nur Kassandra war aufrührerisch gesinnt. – Sie nahm wieder ihre Zuflucht zum lauten Remonstrieren gegen den geringsten Verzug und versicherte dem zerstreuten, nicht auf sie achtenden, jungen Seemann, daß, wenn ihre junge Gebieterin durch seinen Eigensinn ein Leid treffen sollte, der Herr General Grayson sehr böse sein würde; und dann überließ sie es ihm, über die Folgen eines Unwillens selbst nachzudenken, der in dem Sinne des naiven Negermädchens so voller Gefahren war, als der Zorn eines Monarchen nur immer sein kann. Durch sein übermütiges Nichtachten auf ihre Gegenvorstellungen gereizt, vergaß die Negerin, geblendet durch Liebe und Ehrerbietung für ihre Herrin, alle Achtung, erhaschte den Bootshaken, befestigte, ohne daß es Wilder bemerkte, mit großer Geschicklichkeit eines der aus dem Wrack mitgenommenen linnenen Tücher daran und hob es einige Minuten lang hoch über das eingereffte Segel hinweg, ehe noch ihr erfindungsreicher Streich von irgendeinem ihrer Reisegefährten entdeckt wurde. Dann freilich, als sie Wilders zürnender Blick traf, beeilte sie sich, das Signal fallen zu lassen. Allein ob auch der Triumph der Treue nur kurz war, so krönte ihn doch der unbedingteste Erfolg.

Noch herrschte in der Barkasse jene stumme Zurückhaltung, die gewöhnlich nach einem plötzlichen Hervorbrechen des Unwillens stattfindet, als eine Rauchwolke aus der Seite des Schiffes, gerade als es auf der Spitze einer Woge lag, hervordrang; und gleich darauf erdröhnte der dumpfe Knall einer Kanone, mühsam gegen den Wind ankämpfend.

»Jetzt ist Besinnen zu spät,« sagte Mistreß Wyllys; »wir werden gesehen, mag der Fremde Freund oder Feind sein.«

Wilder antwortete nicht, sondern fuhr fort, jede Gelegenheit zu benutzen, um die Bewegungen des Fremden zu beobachten. Im nächsten Augenblick sah er, wie die Spieren vom Winde abfielen, und nach noch einigen Minuten, wie das Vorderteil des Schiffes eine veränderte Richtung, gerade auf sie zu, erhielt. Nun erschienen vier oder fünf breitere Segeltücher an verschiedenen Teilen des zusammengesetzten Baues, während das Fahrzeug dem Winde nachgab, als ob es sich noch tiefer unter seiner Gewalt beugte. – Zuweilen, wenn es eine Woge bestieg, schien sein Kiel ganz und gar vom Elemente entblößt, und hohe Wasserstaubstrahlen schossen auf, die, wie sie in der Luft zerstoben, von der Sonne erglänzten, oder die Segel und das Tauwerk wie mit ebenso vielen Brillanten bedeckten.

»Jawohl, jetzt ist es zu spät«, brummte unser Abenteurer, indem er das Steuer aufhielt und das Segel durch die Hände laufen ließ, so daß es der Wind fast bis zum Bersten anfüllte.

Nun flog das Boot, das sich solange zwischen den Wogen herumarbeitete, um dem Festlande so nahe als möglich zu bleiben, hinweg über die See, eine lange Spur von Schaum hinter sich lassend; und ehe noch die Damen ihre Fassung ganz wieder erlangt hatten, schwamm es schon in der verhältnismäßigen Windstille, die der dazwischenliegende Rumpf eines großen Fahrzeugs zu verursachen pflegt.

Auf dem Tauwerk stand eine leichte, behende Gestalt, einem Hundert Matrosen die nötigen Befehle erteilend; und unter der Verwirrung und Erschrockenheit, die eine solche Szene in einem weiblichen Busen aufzuregen geeignet ist, wurden Gertraud und Mistreß Wyllys nebst ihren beiden Begleitern wohlbehalten aufs Verdeck des Fremden gebracht. Sobald sie und ihre Sachen in Sicherheit waren, überließ man die Barkasse wie ein unnützes Stück Gerät dem Spiel der Wogen. – Nun kletterten zwanzig Matrosen auf den Seilen herum, Segel nach Segel öffnete sich geräumiger, bis das Fahrzeug, die ungeheuern Falten aller seiner Leinwand ausgebreitet, auf seinem spurlosen Lauf dahingetrieben wurde, gleich einer schnellen Wolke in der dünnen Luft der höheren Regionen.