Der arme Spielmann

Franz Grillparzer

Der arme Spielmann

Erzählung (1847)

In Wien ist der Sonntag nach dem Vollmonde im Monat Juli jedes Jahres samt dem darauffolgenden Tage ein eigentliches Volksfest, wenn je ein Fest diesen Namen verdient hat. Das Volk besucht es und gibt es selbst; und wenn Vornehmere dabei erscheinen, so können sie es nur in ihrer Eigenschaft als Glieder des Volks. Da ist keine Möglichkeit der Absonderung; wenigstens vor einigen Jahren noch war keine.

An diesem Tage feiert die mit dem Augarten, der Leopoldstadt, dem Prater in ununterbrochener Lustreihe zusammenhängende Brigittenau ihre Kirchweihe. Von Brigittenkirchtag zu Brigittenkirchtag zählt seine guten Tage das arbeitende Volk. Lange erwartet, erscheint endlich das saturnalische Fest. Da entsteht Aufruhr in der gutmütig ruhigen Stadt. Eine wogende Menge erfüllt die Straßen. Geräusch von Fußtritten, Gemurmel von Sprechenden, das hie und da ein lauter Ausruf durchzuckt. Der Unterschied der Stände ist verschwunden; Bürger und Soldat teilt die Bewegung. An den Toren der Stadt wächst der Drang. Genommen, verloren und wiedergenommen, ist endlich der Ausgang erkämpft. Aber die Donaubrücke bietet neue Schwierigkeiten. Auch hier siegreich, ziehen endlich zwei Ströme, die alte Donau und die geschwollnere Woge des Volks, sich kreuzend quer unter- und übereinander, die Donau ihrem alten Flußbette nach, der Strom des Volkes, der Eindämmung der Brücke entnommen, ein weiter, tosender See, sich ergießend in alles deckender Überschwemmung. Ein neu Hinzugekommener fände die Zeichen bedenklich. Es ist aber der Aufruhr der Freude, die Losgebundenheit der Lust.

Schon zwischen Stadt und Brücke haben sich Korbwagen aufgestellt für die eigentlichen Hierophanten dieses Weihfestes: die Kinder der Dienstbarkeit und der Arbeit. Überfüllt und dennoch im Galopp durchfliegen sie die Menschenmasse, die sich hart vor ihnen öffnet und hinter ihnen schließt, unbesorgt und unverletzt. Denn es ist in Wien ein stillschweigender Bund zwischen Wagen und Menschen: nicht zu überfahren, selbst im vollen Lauf; und nicht überfahren zu werden, auch ohne alle Aufmerksamkeit.

Von Sekunde zu Sekunde wird der Abstand zwischen Wagen und Wagen kleiner. Schon mischen sich einzelne Equipagen der Vornehmeren in den oft unterbrochenen Zug. Die Wagen fliegen nicht mehr. Bis endlich fünf bis sechs Stunden vor Nacht die einzelnen Pferde- und Kutschen-Atome sich zu einer kompakten Reihe verdichten, die, sich selber hemmend und durch Zufahrende aus allen Quergassen gehemmt, das alte Sprichwort „Besser schlecht gefahren, als zu Fuße gegangen“ offenbar zuschanden macht. Begafft, bedauert, bespottet, sitzen die geputzten Damen in den scheinbar stillestehenden Kutschen. Des immerwährenden Anhaltens ungewohnt, bäumt sich der Holsteiner Rappe, als wollte er seinen durch den ihm vorgehenden Korbwagen gehemmten Weg obenhin über diesen hinaus nehmen, was auch die schreiende Weiber- und Kinderbevölkerung des Plebejer-Fuhrwerks offenbar zu befürchten scheint. Der schnell dahinschießende Fiaker, zum ersten Male seiner Natur ungetreu, berechnet ingrimmig den Verlust, auf einem Wege drei Stunden zubringen zu müssen, den er sonst in fünf Minuten durchflog. Zank, Geschrei, wechselseitige Ehrenangriffe der Kutscher, mitunter ein Peitschenhieb.

Endlich, wie denn in dieser Welt jedes noch so hartnäckige Stehenbleiben doch nur ein unvermerktes Weiterrücken ist, erscheint auch diesem status quo ein Hoffnungsstrahl. Die ersten Bäume des Augartens und der Brigittenau werden sichtbar. Land! Land! Land! Alle Leiden sind vergessen. Die zu Wagen Gekommenen steigen aus und mischen sich unter die Fußgänger, Töne entfernter Tanzmusik schallen herüber, vom Jubel der neu Ankommenden beantwortet. Und so fort und immer weiter, bis endlich der breite Hafen der Lust sich auftut und Wald und Wiese, Musik und Tanz, Wein und Schmaus, Schattenspiel und Seiltänzer, Erleuchtung und Feuerwerk sich zu einem pays de cocagne, einem Eldorado, einem eigentlichen Schlaraffenlande vereinigen, das leider, oder glücklicherweise, wie man es nimmt, nur einen und den nächst darauffolgenden Tag dauert, dann aber verschwindet, wie der Traum einer Sommernacht, und nur in der Erinnerung zurückbleibt und allenfalls in der Hoffnung.

Ich versäume nicht leicht, diesem Feste beizuwohnen. Als ein leidenschaftlicher Liebhaber der Menschen, vorzüglich des Volkes, so daß mir selbst als dramatischem Dichter der rückhaltslose Ausbruch eines überfüllten Schauspielhauses immer zehnmal interessanter, ja belehrender war als das zusammengeklügelte Urteil eines an Leib und Seele verkrüppelten, von dem Blut ausgezogener Autoren spinnenartig aufgeschwollenen literarischen Matadors; als ein Liebhaber der Menschen, sage ich, besonders wenn sie in Massen für einige Zeit der einzelnen Zwecke vergessen und sich als Teile des Ganzen fühlen, in dem denn doch zuletzt das Göttliche liegt–als einem solchen ist mir jedes Volksfest ein eigentliches Seelenfest, eine Wallfahrt, eine Andacht. Wie aus einem aufgerollten, ungeheuren, dem Rahmen des Buches entsprungenen Plutarch lese ich aus den heitern und heimlich bekümmerten Gesichtern, dem lebhaften oder gedrückten Gange, dem wechselseitigen Benehmen der Familienglieder, den einzelnen halb unwillkürlichen Äußerungen mir die Biographien der unberühmten Menschen zusammen, und wahrlich! man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat. Von dem Wortwechsel weinerhitzter Karrenschieber spinnt sich ein unsichtbarer, aber ununterbrochener Faden bis zum Zwist der Göttersöhne, und in der jungen Magd, die, halb wider Willen, dem drängenden Liebhaber seitab vom Gewühl der Tanzenden folgt, liegen als Embryo die Julien, die Didos und die Medeen.

Auch vor zwei Jahren hatte ich mich, wie gewöhnlich, den lustgierigen Kirchweihgästen als Fußgänger mit angeschlossen. Schon waren die Hauptschwierigkeiten der Wanderung überwunden und ich befand mich bereits am Ende des Augartens, die ersehnte Brigittenau hart vor mir liegend. Hier ist nun noch ein, wenngleich der letzte Kampf zu bestehen. Ein schmaler Damm, zwischen undurchdringlichen Befriedungen hindurchlaufend, bildet die einzige Verbindung der beiden Lustorte, deren gemeinschaftliche Grenze ein in der Mitte befindliches hölzernes Gittertor bezeichnet. An gewöhnlichen Tagen und für gewöhnliche Spaziergänger bietet dieser Verbindungsweg überflüssigen Raum; am Kirchweihfeste aber würde seine Breite, auch vierfach genommen, noch immer zu schmal sein für die endlose Menge, die, heftig nachdrängend und von Rückkehrenden im entgegengesetzten Sinne durchkreuzt, nur durch die allseitige Gutmütigkeit der Lustwandelnden sich am Ende doch leidlich zurechtfindet.

Ich hatte mich dem Zug der Menge hingegeben und befand mich in der Mitte des Dammes, bereits auf klassischem Boden, nur leider zu stets erneutem Stillestehen, Ausbeugen und Abwarten genötigt. Da war denn Zeit genug, das seitwärts am Wege Befindliche zu betrachten. Damit es nämlich der genußlechzenden Menge nicht an einem Vorschmack der zu erwartenden Seligkeit mangle, hatten sich links am Abhang der erhöhten Dammstraße einzelne Musiker aufgestellt, die, wahrscheinlich die große Konkurrenz scheuend, hier an den Propyläen die Erstlinge der noch unabgenützten Freigebigkeit einernten wollten. Eine Harfenspielerin mit widerlich starrenden Augen. Ein alter invalider Stelzfuß, der auf einem entsetzlichen, offenbar von ihm selbst verfertigten Instrumente, halb Hackbrett und halb Drehorgel, die Schmerzen seiner Verwundung dem allgemeinen Mitleid auf eine analoge Weise empfindbar machen wollte. Ein lahmer, verwachsener Knabe, er und seine Violine einen einzigen ununterscheidbaren Knäuel bildend, der endlos fortrollende Walzer mit all der hektischen Heftigkeit seiner verbildeten Brust herabspielte. Endlich–und er zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich–ein alter, leicht siebzigjähriger Mann in einem fadenscheinigen, aber nicht unreinlichen Molltonüberrock mit lächelnder, sich selbst Beifall gebender Miene. Barhäuptig und kahlköpfig stand er da, nach Art dieser Leute, den Hut als Sammelbüchse vor sich auf dem Boden, und so bearbeitete er eine alte vielzersprungene Violine, wobei er den Takt nicht nur durch Aufheben und Niedersetzen des Fußes, sondern zugleich durch übereinstimmende Bewegung des ganzen gebückten Körpers markierte. Aber all diese Bemühung, Einheit in seine Leistung zu bringen, war fruchtlos, denn was er spielte, schien eine unzusammenhängende Folge von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie. Dabei war er ganz in sein Werk vertieft: die Lippen zuckten, die Augen waren starr auf das vor ihm befindliche Notenblatt gerichtet ja wahrhaftig Notenblatt! Denn indes alle andern, ungleich mehr zu Dank spielenden Musiker sich auf ihr Gedächtnis verließen, hatte der alte Mann mitten in dem Gewühle ein kleines, leicht tragbares Pult vor sich hingestellt mit schmutzigen, zergriffenen Noten, die das in schönster Ordnung enthalten mochten, was er so außer allem Zusammenhange zu hören gab. Gerade das Ungewöhnliche dieser Ausrüstung hatte meine Aufmerksamkeit auf ihn gezogen, so wie es auch die Heiterkeit des vorüberwogenden Haufens erregte, der ihn auslachte und den zum Sammeln hingestellten Hut des alten Mannes leer ließ, indes das übrige Orchester ganze Kupferminen einsackte. Ich war, um das Original ungestört zu betrachten, in einiger Entfernung auf den Seitenabhang des Dammes getreten. Er spielte noch eine Weile fort. Endlich hielt er ein, blickte, wie aus einer langen Abwesenheit zu sich gekommen, nach dem Firmament, das schon die Spuren des nahenden Abends zu zeigen anfing, darauf abwärts in seinen Hut, fand ihn leer, setzte ihn mit ungetrübter Heiterkeit auf, steckte den Geigenbogen zwischen die Saiten; „Sunt certi denique fines“, sagte er, ergriff sein Notenpult und arbeitete sich mühsam durch die dem Feste zuströmende Menge in entgegengesetzter Richtung, als einer, der heimkehrt.

Das ganze Wesen des alten Mannes war eigentlich wie gemacht, um meinen anthropologischen Heißhunger aufs äußerste zu reizen. Die dürftige und doch edle Gestalt, seine unbesiegbare Heiterkeit, so viel Kunsteifer bei so viel Unbeholfenheit; daß er gerade zu einer Zeit heimkehrte, wo für andere seinesgleichen erst die eigentliche Ernte anging; endlich die wenigen, aber mit der richtigsten Betonung, mit völliger Geläufigkeit gesprochenen lateinischen Worte. Der Mann hatte also eine sorgfältigere Erziehung genossen, sich Kenntnisse eigen gemacht, und nun–ein Bettelmusikant! Ich zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhange.

Aber schon befand sich ein dichter Menschenwall zwischen mir und ihm. Klein, wie er war, und durch das Notenpult in seiner Hand nach allen Seiten hin störend, schob ihn einer dem andern zu, und schon hatte ihn das Ausgangsgitter aufgenommen, indes ich noch in der Mitte des Dammes mit der entgegenströmenden Menschenwoge kämpfte. So entschwand er mir, und als ich endlich selbst ins ruhige Freie gelangte, war nach allen Seiten weit und breit kein Spielmann mehr zu sehen.

Das verfehlte Abenteuer hatte mir die Lust an dem Volksfest genommen. Ich durchstrich den Augarten nach allen Richtungen und beschloß endlich, nach Hause zu kehren.

In die Nähe des kleinen Türchens gekommen, das aus dem Augarten nach der Taborstraße führt, hörte ich plötzlich den bekannten Ton der alten Violine wieder. Ich verdoppelte meine Schritte, und siehe da! der Gegenstand meiner Neugier stand, aus Leibeskräften spielend, im Kreise einiger Knaben, die ungeduldig einen Walzer von ihm verlangten. „Einen Walzer spiel!“ riefen sie; „einen Walzer, hörst du nicht?“ Der Alte geigte fort, scheinbar ohne auf sie zu achten, bis ihn die kleine Zuhörerschar schmähend und spottend verließ, sich um einen Leiermann sammelnd, der seine Drehorgel in der Nähe aufgestellt hatte.

„Sie wollen nicht tanzen“, sagte wie betrübt der alte Mann, sein Musikgeräte zusammenlegend. Ich war ganz nahe zu ihm getreten. „Die Kinder kennen eben keinen andern Tanz als den Walzer“, sagte ich. „Ich spielte einen Walzer“, versetzte er, mit dem Geigenbogen den Ort des soeben gespielten Stückes auf seinem Notenblatte bezeichnend.

„Man muß derlei auch führen, der Menge wegen. Aber die Kinder haben kein Ohr“, sagte er, indem er wehmütig den Kopf schüttelte.–„Lassen Sie mich wenigstens ihren Undank wieder gutmachen“, sprach ich, ein Silberstück aus der Tasche ziehend und ihm hinreichend.–„Bitte! bitte!“ rief der alte Mann, wobei er mit beiden Händen ängstlich abwehrende Bewegungen machte, „in den Hut! in den Hut!“–Ich legte das Geldstück in den vor ihm stehenden Hut, aus dem es unmittelbar darauf der Alte herausnahm und ganz zufrieden einsteckte, „das heißt einmal mit reichem Gewinn nach Hause gehen“, sagte er schmunzelnd.–„Eben recht“, sprach ich, „erinnern Sie mich auf einen Umstand, der schon früher meine Neugier rege machte! Ihre heutige Einnahme scheint nicht die beste gewesen zu sein, und doch entfernen Sie sich in einem Augenblicke, wo eben die eigentliche Ernte angeht. Das Fest dauert, wissen Sie wohl, die ganze Nacht, und Sie könnten da leicht mehr gewinnen als an acht gewöhnlichen Tagen. Wie soll ich mir das erklären?“

„Wie Sie sich das erklären sollen“, versetzte der Alte. „Verzeihen Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie müssen ein wohltätiger Herr sein und ein Freund der Musik“, dabei zog er das Silberstück noch einmal aus der Tasche und drückte es zwischen seine gegen die Brust gehobenen Hände. „Ich will Ihnen daher nur die Ursachen angeben, obgleich ich oft deshalb verlacht worden bin. Erstens war ich nie ein Nachtschwärmer und halte es auch nicht für recht, andere durch Spiel und Gesang zu einem solchen widerlichen Vergehen anzureizen; zweitens muß sich der Mensch in allen Dingen eine gewisse Ordnung festsetzen, sonst gerät er ins Wilde und Unaufhaltsame. Drittens endlich–Herr! ich spiele den ganzen Tag für die lärmenden Leute und gewinne kaum kärglich Brot dabei; aber der Abend gehört mir und meiner armen Kunst.

Abends halte ich mich zu Hause, und“–dabei ward seine Rede immer leiser, Röte überzog sein Gesicht, sein Auge suchte den Boden–„da spiele ich denn aus der Einbildung, so für mich ohne Noten. Phantasieren, glaub ich, heißt es in den Musikbüchern.“

Wir waren beide ganz stille geworden. Er, aus Beschämung über das verratene Geheimnis seines Innern; ich, voll Erstaunen, den Mann von den höchsten Stufen der Kunst sprechen zu hören, der nicht imstande war, den leichtesten Walzer faßbar wiederzugeben. Er bereitete sich indes zum Fortgehen. „Wo wohnen Sie?“ sagte ich. „Ich möchte wohl einmal Ihren einsamen Übungen beiwohnen.“–„Oh“, versetzte er fast flehend, „Sie wissen wohl, das Gebet gehört ins Kämmerlein.“–„So will ich Sie denn einmal am Tage besuchen“, sagte ich.–„Den Tag über“, erwiderte er, „gehe ich meinem Unterhalt bei den Leuten nach.“–„Also des Morgens denn.“–„Sieht es doch beinahe aus“, sagte der Alte lächelnd, „als ob Sie, verehrter Herr, der Beschenkte wären und ich, wenn es mir erlaubt ist zu sagen, der Wohltäter; so freundlich sind Sie, und so widerwärtig ziehe ich mich zurück. Ihr vornehmer Besuch wird meiner Wohnung immer eine Ehre sein; nur bäte ich, daß Sie den Tag Ihrer Dahinkunft mir großgünstig im voraus bestimmten, damit weder Sie durch Ungehörigkeit aufgehalten, noch ich genötigt werde, ein zur Zeit etwa begonnenes Geschäft unziemlich zu unterbrechen. Mein Morgen nämlich hat auch seine Bestimmung. Ich halte es jedenfalls für meine Pflicht, meinen Gönnern und Wohltätern für ihr Geschenk eine nicht ganz unwürdige Gegengabe darzureichen. Ich will kein Bettler sein, verehrter Herr. Ich weiß wohl, daß die übrigen öffentlichen Musikleute sich damit begnügen, einige auswendig gelernte Gassenhauer, Deutschwalzer, ja wohl gar Melodien von unartigen Liedern, immer wieder von denselben anfangend, fort und fort herabzuspielen, so daß man ihnen gibt, um ihrer loszuwerden, oder weil ihr Spiel die Erinnerung genossener Tanzfreuden oder sonst unordentlicher Ergötzlichkeiten wieder lebendig macht. Daher spielen sie auch aus dem Gedächtnis und greifen falsch mitunter, ja häufig. Von mir aber sei fern zu betrügen. Ich habe deshalb, teils weil mein Gedächtnis überhaupt nicht das beste ist, teils weil es für jeden schwierig sein dürfte, verwickelte Zusammensetzungen geachteter Musikverfasser Note für Note bei sich zu behalten, diese Hefte mir selbst ins reine geschrieben.“ Er zeigte dabei durchblätternd auf sein Musikbuch, in dem ich zu meinem Entsetzen mit sorgfältiger, aber widerlich steifer Schrift ungeheuer schwierige Kompositionen alter berühmter Meister, ganz schwarz von Passagen und Doppelgriffen, erblickte. Und derlei spielte der alte Mann mit seinen ungelenken Fingern! „Indem ich nun diese Stücke spiele“, fuhr er fort, „bezeige ich meine Verehrung den nach Stand und Würden geachteten, längst nicht mehr lebenden Meistern und Verfassern, tue mir selbst genug und lebe der angenehmen Hoffnung, daß die mir mildest gereichte Gabe nicht ohne Entgelt bleibt durch Veredlung des Geschmackes und Herzens der ohnehin von so vielen Seiten gestörten und irregeleiteten Zuhörerschaft. Da derlei aber, auf daß ich bei meiner Rede bleibe“–und dabei überzog ein selbstgefälliges Lächeln seine Züge–, „da derlei aber eingeübt sein will, sind meine Morgenstunden ausschließend diesem Exercitium bestimmt. Die drei ersten Stunden des Tages der Übung, die Mitte dem Broterwerb, und der Abend mir und dem lieben Gott, das heißt nicht unehrlich geteilt“, sagt er, und dabei glänzten seine Augen wie feucht; er lächelte aber.

„Gut denn“, sagte ich, „so werde ich Sie einmal morgens überraschen. Wo wohnen Sie?“ Er nannte mir die Gärtnergasse.

–„Hausnummer?“–„Nummer 34 im ersten Stocke.“–„In der Tat“, rief ich, „im Stockwerke der Vornehmen?“–„Das Haus“, sagte er, „hat zwar eigentlich nur ein Erdgeschoß; es ist aber oben neben der Bodenkammer noch ein kleines Zimmer, das bewohne ich gemeinschaftlich mit zwei Handwerksgesellen.“–„Ein Zimmer zu dreien?“–„Es ist abgeteilt“, sagte er, „und ich habe mein eigenes Bette.“

„Es wird spät“ sprach ich, „und Sie wollen nach Hause. Auf Wiedersehen denn!“ und dabei fuhr ich in die Tasche, um das früher gereichte gar zu kleine Geldgeschenk allenfalls zu verdoppeln. Er aber hatte mit der einen Hand das Notenpult, mit der andern seine Violine angefaßt und rief hastig: „Was ich devotest verbitten muß. Das Honorarium für mein Spiel ist mir bereits in Fülle zuteil geworden, eines andern Verdienstes aber bin ich mir zur Zeit nicht bewußt.“ Dabei machte er mir mit einer Abart vornehmer Leichtigkeit einen ziemlich linkischen Kratzfuß und entfernte sich, so schnell ihn seine alten Beine trugen.

Ich hatte, wie gesagt, die Lust verloren, dem Volksfeste für diesen Tag länger beizuwohnen, ich ging daher heimwärts, den Weg nach der Leopoldstadt einschlagend, und, von Staub und Hitze erschöpft, trat ich in einen der dortigen vielen Wirtsgärten, die, an gewöhnlichen Tagen überfüllt, heute ihre ganze Kundschaft der Brigittenau abgegeben hatten. Die Stille des Ortes, im Abstich der lärmenden Volksmenge, tat mir wohl, und mich verschiedenen Gedanken überlassend, an denen der alte Spielmann nicht den letzten Anteil hatte, war es völlig Nacht geworden, als ich endlich des Nachhausegehens gedachte, den Betrag meiner Rechnung auf den Tisch legte und der Stadt zuschritt.

In der Gärtnergasse, hatte der alte Mann gesagt, wohne er. „Ist hier in der Nähe eine Gärtnergasse?“ fragte ich einen kleinen Jungen, der über den Weg lief. „Dort, Herr!“ versetzte er, indem er auf eine Querstraße hinwies, die, von der Häusermasse der Vorstadt sich entfernend, gegen das freie Feld hinaus lief. Ich folgte der Richtung. Die Straße bestand aus zerstreuten einzelnen Häusern, die, zwischen großen Küchengärten gelegen, die Beschäftigung der Bewohner und den Ursprung des Namens Gärtnergasse augenfällig darlegten. In welcher dieser elenden Hütten wohl mein Original wohnen mochte? Ich hatte die Hausnummer glücklich vergessen, auch war in der Dunkelheit an das Erkennen irgendeiner Bezeichnung kaum zu denken. Da schritt, auf mich zukommend, ein mit Küchengewächsen schwer beladener Mann an mir vorüber. „Kratzt der Alte einmal wieder“, brummte er, „und stört die ordentlichen Leute in ihrer Nachtruhe.“ Zugleich, wie ich vorwärtsging, schlug der leise, langgehaltene Ton einer Violine an mein Ohr, der aus dem offenstehenden Bodenfenster eines wenig entfernten ärmlichen Hauses zu kommen schien, das, niedrig und ohne Stockwerk wie die übrigen, sich durch dieses in der Umgrenzung des Daches liegende Giebelfenster vor den andern auszeichnete. Ich stand stille. Ein leiser, aber bestimmt gegriffener Ton schwoll bis zur Heftigkeit, senkte sich, verklang, um gleich darauf wieder bis zum lautesten Gellen emporzusteigen, und zwar immer derselbe Ton, mit einer Art genußreichem Daraufberuhen wiederholt. Endlich kam ein Intervall. Es war die Quarte. Hatte der Spieler sich vorher an dem Klange des einzelnen Tones geweidet, so war nun das gleichsam wollüstige Schmecken dieses harmonischen Verhältnisses noch ungleich fühlbarer. Sprungweise gegriffen, zugleich gestrichen, durch die dazwischen- liegende Stufenreihe höchst holperig verbunden, die Terz markiert, wiederholt. Die Quinte darangefügt, einmal mit zitterndem Klang wie ein stilles Weinen, ausgehalten, verhallend, dann in wirbelnder Schnelligkeit ewig wiederholt, immer dieselben Verhältnisse, die nämlichen Töne.–Und das nannte der alte Mann Phantasieren! –Obgleich es im Grunde allerdings ein Phantasieren war, für den Spieler nämlich, nur nicht auch für den Hörer.

Ich weiß nicht, wie lange das gedauert haben mochte und wie arg es geworden war, als plötzlich die Türe des Hauses aufging, ein Mann, nur mit dem Hemde und lose eingeknöpftem Beinkleide angetan, von der Schwelle bis in die Mitte der Straße trat und zu dem Giebelfenster emporrief: „Soll das heute einmal wieder gar kein Ende nehmen?“ Der Ton der Stimme war dabei unwillig, aber nicht hart oder beleidigend. Die Violine verstummte, ehe die Rede noch zu Ende war. Der Mann ging ins Haus zurück, das Giebelfenster schloß sich, und bald herrschte eine durch nichts unterbrochene Totenstille um mich her. Ich trat, mühsam in den mir unbekannten Gassen mich zurechtfindend, den Heimweg an, wobei ich auch phantasierte, aber, niemand störend, für mich, im Kopfe.

Die Morgenstunden haben für mich immer einen einen eigenen Wert gehabt. Es ist, als ob es mir Bedürfnis wäre, durch die Beschäftigung mit etwas Erhebendem, Bedeutendem in den ersten Stunden des Tages mir den Rest desselben gewissermaßen zu heiligen. Ich kann mich daher nur schwer entschließen, am frühen Morgen mein Zimmer zu verlassen, und wenn ich ohne vollgültige Ursache mich einmal dazu nötige, so habe ich für den übrigen Tag nur die Wahl zwischen gedankenloser Zerstreuung oder selbstquälerischem Trübsinn. So kam es, daß ich durch einige Tage den Besuch bei dem alten Manne, der verabredetermaßen in den Morgenstunden stattfinden sollte, verschob. Endlich ward die Ungeduld meiner Herr, und ich ging. Die Gärtnergasse war leicht gefunden, ebenso das Haus. Die Töne der Violine ließen sich auch diesmal hören, aber durch das geschlossene Fenster bis zum Ununterscheidbaren gedämpft. Ich trat ins Haus. Eine vor Erstaunen halb sprachlose Gärtnersfrau wies mich eine Bodentreppe hinauf. Ich stand vor einer niedern und halb schließenden Türe, pochte, erhielt keine Antwort, drückte endlich die Klinke und trat ein. Ich befand mich in einer ziemlich geräumigen, sonst aber höchst elenden Kammer, deren Wände von allen Seiten den Umrissen des spitzzulaufenden Daches folgten. Hart neben der Türe ein schmutziges, widerlich verstörtes Bette, von allen Zutaten der Unordentlichkeit umgeben; mir gegenüber, hart neben dem schmalen Fenster, eine zweite Lagerstätte, dürftig, aber reinlich, und höchst sorgfältig gebettet und bedeckt. Am Fenster ein kleines Tischchen mit Notenpapier und Schreibgeräte, im Fenster ein paar Blumentöpfe. Die Mitte des Zimmers von Wand zu Wand war am Boden mit einem dicken Kreidenstriche bezeichnet, und man kann sich kaum einen grelleren Abstich von Schmutz und Reinlichkeit denken, als diesseits und jenseits der gezogenen Linie, dieses Äquators einer Welt im kleinen, herrschte.

Hart an dem Gleicher hatte der alte Mann sein Notenpult hingestellt und stand, völlig und sorgfältig gekleidet, davor und–exerzierte. Es ist schon bis zum Übelklang so viel von den Mißklängen meines, und ich fürchte beinahe, nur meines Lieblings die Rede gewesen, daß ich den Leser mit der Beschreibung dieses höllischen Konzertes verschonen will. Da die Übung größtenteils aus Passagen bestand, so war an ein Erkennen der gespielten Stücke nicht zu denken, was übrigens auch sonst nicht leicht gewesen sein möchte. Einige Zeit Zuhörens ließ mich endlich den Faden durch dieses Labyrinth erkennen, gleichsam die Methode in der Tollheit. Der Alte genoß, indem er spielte. Seine Auffassung unterschied hierbei aber schlechthin nur zweierlei, den Wohlklang und den Übelklang, von denen der erstere ihn erfreute, ja entzückte, indes er dem letztern, auch dem harmonisch begründeten, nach Möglichkeit aus dem Wege ging. Statt nun in einem Musikstücke nach Sinn und Rhythmus zu betonen, hob er heraus, verlängerte er die dem Gehör wohltuenden Noten und Intervalle, ja nahm keinen Anstand, sie willkürlich zu wiederholen, wobei sein Gesicht oft geradezu den Ausdruck der Verzückung annahm. Da er nun zugleich die Dissonanzen so kurz als möglich abtat, überdies die für ihn zu schweren Passagen, von denen er aus Gewissenhaftigkeit nicht eine Note fallen ließ, in einem gegen das Ganze viel zu langsamen Zeitmaß vortrug, so kann man sich wohl leicht eine Idee von der Verwirrung machen, die daraus hervorging. Mir ward es nachgerade selbst zuviel. Um ihn aus seiner Abwesenheit zurückzubringen, ließ ich absichtlich den Hut fallen, nachdem ich mehrere Mittel schon fruchtlos versucht hatte. Der alte Mann fuhr zusammen, seine Knie zitterten, kaum konnte er die zum Boden gesenkte Violine halten. Ich trat hinzu. „Oh, Sie sind’s, gnädiger Herr!“ sagte er, gleichsam zu sich selbst kommend. „Ich hatte nicht auf Erfüllung Ihres hohen Versprechens gerechnet.“ Er nötigte mich zu sitzen, räumte auf, legte hin, sah einigemal verlegen im Zimmer herum, ergriff dann plötzlich einen auf einem Tische neben der Stubentür stehenden Teller und ging mit demselben zu jener hinaus. Ich hörte ihn draußen mit der Gärtnersfrau sprechen. Bald darauf kam er wieder verlegen zur Türe herein, wobei er den Teller hinter dem Rücken verbarg und heimlich wieder hinstellte. Er hatte offenbar Obst verlangt, um mich zu bewirten, es aber nicht erhalten können. „Sie wohnen hier recht hübsch“, sagte ich, um seiner Verlegenheit ein Ende zu machen. „Die Unordnung ist verwiesen. Sie nimmt ihren Rückzug durch die Türe, wenn sie auch derzeit noch nicht ganz über die Schwelle ist.–Meine Wohnung reicht nur bis zu dem Striche“, sagte der Alte, wobei er auf die Kreidenlinie in der Mitte des Zimmers zeigte. „Dort drüben wohnen zwei Handwerksgesellen.“–„Und respektieren diese Ihre Bezeichnung?“–„Sie nicht, aber ich“, sagte er. „Nur die Türe ist gemeinschaftlich.“–„Und werden Sie nicht gestört von Ihrer Nachbarschaft?“–„Kaum“, meinte er. „Sie kommen des Nachts spät nach Hause, und wenn sie mich da auch ein wenig im Bette aufschrecken, so ist dafür die Lust des Wiedereinschlafens um so größer. Des Morgens aber wecke ich sie, wenn ich mein Zimmer in Ordnung bringe. Da schelten sie wohl ein wenig und gehen.“ Ich hatte ihn währenddessen betrachtet. Er war höchst reinlich gekleidet, die Gestalt gut genug für seine Jahre, nur die Beine etwas zu kurz. Hand und Fuß von auffallender Zartheit.–„Sie sehen mich an“, sagte er, „und haben dabei Ihre Gedanken?“–„Daß ich nach Ihrer Geschichte lüstern bin“, versetzte ich.–„Geschichte?“ wiederholte er. „Ich habe keine Geschichte. Heute wie gestern, und morgen wie heute. übermorgen freilich und weiter hinaus, wer kann das wissen? Doch Gott wird sorgen, der weiß es“–„Ihr jetziges Leben mag wohl einförmig genug sein“, fuhr ich fort; „aber Ihre früheren Schicksale. Wie es sich fügte–“ „Daß ich unter die Musikleute kam?“ fiel er in die Pause ein, die ich unwillkürlich gemacht hatte. Ich erzählte ihm nun, wie er mir beim ersten Anblicke aufgefallen; den Eindruck, den die von ihm gesprochenen lateinischen Worte auf mich gemacht hätten. „Lateinisch“, tönte er nach. „Lateinisch? das habe ich freilich auch einmal gelernt oder vielmehr hätte es lernen sollen und können. Loqueris latine?“ wandte er sich gegen mich, „aber ich könnte es nicht fortsetzen. Es ist gar zu lange her. Das also nennen Sie meine Geschichte? Wie es kam?–Ja so! da ist denn freilich allerlei geschehen; nichts Besonderes, aber doch allerlei. Möchte ich mir’s doch selbst einmal wieder erzählen. Ob ich’s nicht gar vergessen habe. Es ist noch früh am Morgen“, fuhr er fort, wobei er in die Uhrtasche griff, in der sich freilich keine Uhr befand.–Ich zog die meine, es war kaum 9 Uhr.–„Wir haben Zeit, und fast kommt mich die Lust zu schwatzen an.“ Er war während des letzten zusehends ungezwungener geworden. Seine Gestalt verlängerte sich. Er nahm mir ohne zu große Umstände den Hut aus der Hand und legte ihn aufs Bette; schlug sitzend ein Bein über das andere und nahm überhaupt die Lage eines mit Bequemlichkeit Erzählenden an.

„Sie haben“–hob er an–„ohne Zweifel von dem Hofrate–gehört?“ Hier nannte er den Namen eines Staatsmannes, der in der [zweiten] Hälfte des vorigen Jahrhunderts unter dem bescheidenen Titel eines Bureauchefs einen ungeheuren, beinahe ministerähnlichen Einfluß ausgeübt hatte. Ich bejahte meine Kenntnis des Mannes. „Er war mein Vater“, fuhr er fort.–Sein Vater? des alten Spielmanns? des Bettlers? Der Einflußreiche, der Mächtige sein Vater? Der Alte schien mein Erstaunen nicht zu bemerken, sondern spann, sichtbar vergnügt, den Faden seiner Erzählung weiter. „Ich war der mittlere von drei Brüdern, die in Staatsdiensten hoch hinaufkamen, nun aber schon beide tot sind; ich allein lebe noch“, sagte er und zupfte dabei an seinen fadenscheinigen Beinkleidern, mit niedergeschlagenen Augen einzelne Federchen davon herablesend. „Mein Vater war ehrgeizig und heftig. Meine Brüder taten ihm genug. Mich nannte man einen langsamen Kopf; und ich war langsam. Wenn ich mich recht erinnere“, sprach er weiter, und dabei senkte er, seitwärts gewandt, wie in eine weite Ferne hinausblickend, den Kopf gegen die unterstützende linke Hand–„wenn ich mich recht erinnere, so wäre ich wohl imstande gewesen, allerlei zu erlernen, wenn man mir nur Zeit und Ordnung gegönnt hätte. Meine Brüder sprangen wie Gemsen von Spitze zu Spitze in den Lehrgegen- ständen herum, ich konnte aber durchaus nichts hinter mir lassen, und wenn mir ein einziges Wort fehlte, mußte ich von vorne anfangen. So ward ich denn immer gedrängt. Das Neue sollte auf den Platz, den das Alte noch nicht verlassen hatte, und ich begann stockisch zu werden. So hatten sie mir die Musik, die jetzt die Freude und zugleich der Stab meines Lebens ist, geradezu verhaßt gemacht. Wenn ich abends im Zwielicht die Violine ergriff, um mich nach meiner Art ohne Noten zu vergnügen, nahmen sie mir das Instrument und sagten, das verdirbt die Applikatur, klagten über Ohrenfolter und verwiesen mich auf die Lehrstunde, wo die Folter für mich anging. Ich habe zeitlebens nichts und niemand so gehaßt, als ich damals die Geige haßte.

Mein Vater, aufs äußerste unzufrieden, schalt mich häufig und drohte, mich zu einem Handwerke zu geben. Ich wagte nicht zu sagen, wie glücklich mich das gemacht hätte. Ein Drechsler oder Schriftsetzer wäre ich gar zu gerne gewesen. Er hätte es ja aber doch nicht zugelassen, aus Stolz. Endlich gab eine öffentliche Schulprüfung, der man, um ihn zu begütigen, meinen Vater beizuwohnen beredet hatte, den Ausschlag. Ein unredlicher Lehrer bestimmte im voraus, was er mich fragen werde, und so ging alles vortrefflich. Endlich aber fehlte mir, es waren auswendig zu sagende Verse des Horaz–ein Wort. Mein Lehrer, der kopfnickend und meinen Vater anlächelnd zugehört hatte, kam meinem Stocken zu Hilfe und flüsterte es mir zu. Ich aber, der das Wort in meinem Innern und im Zusammenhange mit dem übrigen suchte, hörte ihn nicht. Er wiederholte es mehrere Male; umsonst. Endlich verlor mein Vater die Geduld. Cachinnum! (so hieß das Wort) schrie er mir donnernd zu. Nun war’s geschehen. Wußte ich das eine, so hatte ich dafür das übrige vergessen. Alle Mühe, mich auf die rechte Bahn zu bringen, war verloren. Ich mußte mit Schande aufstehen, und als ich, der Gewohnheit nach, hinging, meinem Vater die Hand zu küssen, stieß er mich zurück, erhob sich, machte der Versammlung eine kurze Verbeugung und ging. Ce gueux schalt er mich, was ich damals nicht war, aber jetzt bin. Die Eltern prophezeien, wenn sie reden! Übrigens war mein Vater ein guter Mann. Nur heftig und ehrgeizig.

Von diesem Tage an sprach er kein Wort mehr mit mir. Seine Befehle kamen mir durch die Hausgenossen zu. So kündigte man mir gleich des nächsten Tages an, daß es mit meinen Studien ein Ende habe. Ich erschrak heftig, weil ich wußte, wie bitter es meinen Vater kränken mußte. Ich tat den ganzen Tag nichts als weinen und dazwischen jene lateinischen Verse rezitieren, die ich nun aufs Und wußte mit den vorhergehenden und nachfolgenden dazu. Ich versprach, durch Fleiß den Mangel an Talenten zu ersetzen, wenn man mich noch ferner die Schule besuchen ließe, mein Vater nahm aber nie einen Entschluß zurück.

Eine Weile blieb ich nun unbeschäftigt im väterlichen Hause. Endlich tat man mich versuchsweise zu einer Rechenbehörde. Rechnen war aber nie meine Stärke gewesen. Den Antrag, ins Militär zu treten, wies ich mit Abscheu zurück. Ich kann noch jetzt keine Uniform ohne innerlichen Schauder ansehen. Daß man werte Angehörige allenfalls auch mit Lebensgefahr schützt, ist wohl gut und begreiflich; aber Blutvergießen und Verstümmlung als Stand, als Beschäftigung. „Nein! Nein! Nein!“ Und dabei fuhr er mit beiden Händen über beide Arme, als fühlte er stechend eigene und fremde Wunden.

„Ich kam nun in die Kanzlei unter die Abschreiber. Da war ich recht an meinem Platze. Ich hatte immer das Schreiben mit Lust getrieben, und noch jetzt weiß ich mir keine angenehmere Unterhaltung, als mit guter Tinte auf gutem Papier Haar- und Schattenstriche aneinander- zufügen zu Worten oder auch nur zu Buchstaben. Musiknoten sind nun gar überaus schön. Damals dachte ich aber noch an keine Musik.

Ich war fleißig, nur aber zu ängstlich. Ein unrichtiges Unterscheidungszeichen, ein ausgelassenes Wort im Konzepte, wenn es sich auch aus dem Sinne ergänzen ließ, machte mir bittere Stunden, Im Zweifel, ob ich mich genau ans Original halten oder aus eigenem beisetzen sollte, verging die Zeit angstvoll, und ich kam in den Ruf, nachlässig zu sein, indes ich mich im Dienst abquälte wie keiner. So brachte ich ein paar Jahre zu, und zwar ohne Gehalt, da, als die Reihe der Beförderung an mich kam, mein Vater im Rate einem andern seine Stimme gab und die übrigen ihm zufielen aus Ehrfurcht.

Um diese Zeit–sieh nur“, unterbrach er sich, „es gibt denn doch eine Art Geschichte. Erzählen wir die Geschichte! Um diese Zeit ereigneten sich zwei Begebenheiten: die traurigste und die freudigste meines Lebens. Meine Entfernung aus dem väterlichen Hause nämlich und das Wiederkehren zur holden Tonkunst, zu meiner Violine, die mir treu geblieben ist bis auf diesen Tag.

Ich lebte in dem Hause meines Vaters, unbeachtet von den Hausgenossen, in einem Hinterstübchen, das in den Nachbars-Hof hinausging. Anfangs aß ich am Familientische, wo niemand ein Wort an mich richtete. Als aber meine Brüder auswärts befördert wurden und mein Vater beinahe täglich zu Gast geladen war–die Mutter lebte seit lange nicht mehr–, fand man es unbequem, meinetwegen eine eigene Küche zu führen. Die Bedienten erhielten Kostgeld; ich auch, das man mir aber nicht auf die Hand gab, sondern monatweise im Speisehause bezahlte. Ich war daher wenig in meiner Stube, die Abendstunden ausgenommen; denn mein Vater verlangte, daß ich längstens eine halbe Stunde nach dem Schluß der Kanzlei zu Hause sein sollte. Da saß ich denn, und zwar, meiner schon damals angegriffenen Augen halber, in der Dämmerung ohne Licht. Ich dachte auf das und jenes und war nicht traurig und nicht froh.

Wenn ich nun so saß, hörte ich auf dem Nachbarshofe ein Lied singen. Mehrere Lieder heißt das, worunter mir aber eines vorzüglich gefiel. Es war so einfach, so rührend und hatte den Nachdruck so auf der rechten Stelle, daß man die Worte gar nicht zu hören brauchte. Wie ich denn überhaupt glaube, die Worte verderben die Musik.“ Nun öffnete er den Mund und brachte einige heisere, rauhe Töne hervor. „Ich habe von Natur keine Stimme“, sagte er und griff nach der Violine. Er spielte, und zwar diesmal mit richtigem Ausdrucke, die Melodie eines gemütlichen, übrigens gar nicht ausgezeichneten Liedes, wobei ihm die Finger auf den Saiten zitterten und endlich einzelne Tränen über die Backen liefen.

„Das war das Lied“, sagte er, die Violine hinlegend. „Ich hörte es immer mit neuem Vergnügen. Sosehr es mir aber im Gedächtnis lebendig war, gelang es mir doch nie, mit der Stimme auch nur zwei Töne davon richtig zu treffen. Ich ward fast ungeduldig von Zuhören. Da fiel mir meine Geige in die Augen, die aus meiner Jugend her, wie ein altes Rüststück, ungebraucht an der Wand hing. Ich griff darnach, und–es mochte sie wohl der Bediente in meiner Abwesenheit benützt haben–sie fand sich richtig gestimmt. Als ich nun mit dem Bogen über die Saiten fuhr, Herr, da war es, als ob Gottes Finger mich angerührt hätte. Der Ton drang in mein Inneres hinein und aus dem Innern wieder heraus. Die Luft um mich war wie geschwängert mit Trunkenheit. Das Lied unten im Hofe und die Töne von meinen Fingern an mein Ohr, Mitbewohner meiner Einsamkeit. Ich fiel auf die Knie und betete laut und konnte nicht begreifen, daß ich das holde Gotteswesen einmal gering geschätzt, ja gehaßt in meiner Kindheit, und küßte die Violine und drückte sie an mein Herz und spielte wieder und fort.

Das Lied im Hofe–es war eine Weibsperson, die sang–tönte derweile unausgesetzt; mit dem Nachspielen ging es aber nicht so leicht.

Ich hatte das Lied nämlich nicht in Noten. Auch merkte ich wohl, daß ich das Wenige der Geigenkunst, was ich etwa einmal wußte, so ziemlich vergessen hatte. Ich konnte daher nicht das und das, sondern nur überhaupt spielen. Obwohl mir das jeweilige Was der Musik, mit Ausnahme jenes Lieds, immer ziemlich gleichgültig war und auch geblieben ist bis zum heutigen Tag. Sie spielen den Wolfgang Amadeus Mozart und den Sebastian Bach, aber den lieben Gott spielt keiner. Die ewige Wohltat und Gnade des Tons und Klangs, seine wundertätige Übereinstimmung mit dem durstigen, zerlechzenden Ohr, daß“–fuhr er leiser und schamrot fort–„der dritte Ton zusammenstimmt mit dem ersten, und der fünfte desgleichen, und die Nota sensibilis hinaufsteigt wie eine erfüllte Hoffnung, die Dissonanz herabgebeugt wird als wissentliche Bosheit oder vermessener Stolz und die Wunder der Bindung und Umkehrung, wodurch auch die Sekunde zur Gnade gelangt in den Schoß des Wohlklangs.–Mir hat das alles, obwohl viel später, ein Musiker erklärt. Und, wovon ich aber nichts verstehe, die fuga und das punctum contra punctum und der canon a due, a tre und so fort, ein ganzes Himmelsgebäude, eines ins andere greifend, ohne Mörtel verbunden, und gehalten von Gottes Hand. Davon will niemand etwas wissen bis auf wenige. Vielmehr stören sie dieses Ein- und Ausatmen der Seelen durch Hinzufügung allenfalls auch zu sprechender Worte, wie die Kinder Gottes sich verbanden mit den Töchtern der Erde; daß es hübsch angreife und eingreife in ein schwieliges Gemüt. Herr“, schloß er endlich, halb erschöpft, „die Rede ist dem Menschen notwendig wie Speise, man sollte aber auch den Trank rein erhalten, der da kommt von Gott.“

Ich kannte meinen Mann beinahe nicht mehr, so lebhaft war er geworden. Er hielt ein wenig inne. „Wo blieb ich nur in meiner Geschichte?“ sagte er endlich. „Ei ja, bei dem Liede und meinen Versuchen, es nachzuspielen. Es ging aber nicht. Ich trat ans Fenster, um besser zu hören. Da ging eben die Sängerin über den Hof. Ich sah sie nur von rückwärts, und doch kam sie mir bekannt vor. Sie trug einen Korb mit, wie es schien, noch ungebackenen Kuchenstücken. Sie trat in ein Pförtchen in der Ecke des Hofes, da wohl ein Backofen inne sein mochte, denn immer fortsingend, hörte ich mit hölzernen Geräten scharren, wobei die Stimme einmal dumpfer und einmal heller klang wie eines, das sich bückt und in eine Höhlung hineinsingt, dann wieder erhebt und aufrecht dasteht. Nach einer Weile kam sie zurück, und nun merkte ich erst, warum sie mir vorher bekannt vorkam. Ich kannte sie nämlich wirklich seit längerer Zeit. Und zwar aus der Kanzlei.

Damit verhielt es sich so. Die Amtsstunden fingen früh an und währten über den Mittag hinaus. Mehrere von den jüngeren Beamten, die nun entweder wirklich Hunger fühlten oder eine halbe Stunde damit vor sich bringen wollten, pflegten gegen eilf Uhr eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Die Gewerbsleute, die alles zu ihrem Vorteile zu benutzen wissen, ersparten den Leckermäulern den Weg und brachten ihre Feilschaften ins Amtsgebäude, wo sie sich auf Stiege und Gang damit hinstellten. Ein Bäcker verkaufte kleine Weißbrote, die Obstfrau Kirschen. Vor allem aber waren gewisse Kuchen beliebt, die eines benachbarten Grieslers Tochter selbst verfertigte und noch warm zu Markt brachte. Ihre Kunden traten zu ihr auf den Gang hinaus, und nur selten kam sie, gerufen, in die Amtsstube, wo dann der etwas grämliche Kanzleivorsteher, wenn er ihrer gewahr wurde, ebenso selten ermangelte, sie wieder zur Türe hinauszuweisen, ein Gebot, dem sie sich nur mit Groll, und unwillige Worte murmelnd, fügte.

Das Mädchen galt bei meinen Kameraden nicht für schön. Sie fanden sie zu klein, wußten die Farbe ihrer Haare nicht zu bestimmen. Daß sie Katzenaugen habe, bestritten einige, Pockengruben aber gaben alle zu. Nur von ihrem stämmigen Wuchs sprachen alle mit Beifall, schalten sie aber grob und einer wußte viel von einer Ohrfeige zu erzählen, deren Spuren er noch acht Tage nachher gefühlt haben wollte.

Ich selbst gehörte nicht unter ihre Kunden. Teils fehlte mir’s an Geld, teils habe ich Speise und Trank wohl immer–oft nur zu sehr–als ein Bedürfnis anerkennen müssen, Lust und Vergnügen darin zu suchen aber ist mir nie in den Sinn gekommen. Wir nahmen daher keine Notiz voneinander. Einmal nur, um mich zu necken, machten ihr meine Kameraden glauben, ich hätte nach ihren Eßwaren verlangt. Sie trat zu meinem Arbeitstisch und hielt mir ihren Korb hin. Ich kaufe nichts, liebe Jungfer, sagte ich. Nun, warum bestellen Sie dann die Leute? rief sie zornig. Ich entschuldigte mich, und sowie ich die Schelmerei gleich weg hatte, erklärte ich ihr’s aufs beste. Nun, so schenken Sie mir wenigstens einen Bogen Papier, um meine Kuchen daraufzulegen, sagte sie. Ich machte ihr begreiflich, daß das Kanzleipapier sei und nicht mir gehöre, zu Hause aber hätte ich welches, das mein wäre, davon wollt‘ ich ihr bringen. Zu Hause habe ich selbst genug, sagte sie spöttisch und schlug eine kleine Lache auf, indem sie fortging.

Das war nur vor wenigen Tagen geschehen, und ich gedachte aus dieser Bekanntschaft sogleich Nutzen für meinen Wunsch zu ziehen. Ich knöpfte daher des andern Morgens ein ganzes Buch Papier, an dem es bei uns zu Hause nie fehlte, unter den Rock und ging auf die Kanzlei, wo ich, um mich nicht zu verraten, meinen Harnisch mit großer Unbequemlichkeit auf dem Leibe behielt, bis ich gegen Mittag aus dem Ein- und Ausgehen meiner Kameraden und dem Geräusch der kauenden Backen merkte, daß die Kuchenverkäuferin gekommen war, und glauben konnte, daß der Hauptandrang der Kunden vorüber sei. Dann ging ich hinaus, zog mein Papier hervor, nahm mir ein Herz und trat zu dem Mädchen hin, die, den Korb vor sich auf dem Boden und den rechten Fuß auf einen Schemel gestellt, auf dem sie gewöhnlich zu sitzen pflegte, dastand, leise summend und mit dem auf den Schemel gestützten Fuß den Takt dazu tretend. Sie maß mich vom Kopf bis zu den Füßen, als ich näher kam, was meine Verlegenheit vermehrte. Liebe Jungfer, fing ich endlich an, Sie haben neulich von mir Papier begehrt, als keines zur Hand war, das mir gehörte. Nun habe ich welches von Hause mitgebracht und–damit hielt ich ihr mein Papier hin. Ich habe Ihnen schon neulich gesagt, erwiderte sie, daß ich selbst Papier zu Hause habe. Indes, man kann alles brauchen. Damit nahm sie mit einem leichten Kopfnicken mein Geschenk und legte es in den Korb. Von den Kuchen wollen Sie nicht? sagte sie, unter ihren Waren herummusternd, auch ist das Beste schon fort. Ich dankte, sagte aber, daß ich eine andere Bitte hätte. Nu, allenfalls? sprach sie, mit dem Arm in die Handhabe des Korbes fahrend und aufgerichtet dastehend, wobei sie mich mit heftigen Augen anblitzte. Ich fiel rasch ein, daß ich ein Liebhaber der Tonkunst sei, obwohl erst seit kurzem, daß ich sie so schöne Lieder singen gehört, besonders eines. Sie? Mich? Lieder? fuhr sie auf, und wo? Ich erzählte ihr weiter, daß ich in ihrer Nachbarschaft wohne und sie auf dem Hofe bei der Arbeit belauscht hätte. Eines ihrer Lieder gefiele mir besonders, so daß ich’s schon versucht hätte auf der Violine nachzuspielen. Wären Sie etwa gar derselbe, rief sie aus, der so kratzt auf der Geige?–Ich war damals, wie ich bereits sagte, nur Anfänger und habe erst später mit vieler Mühe die nötige Geläufigkeit in diese Finger gebracht“, unterbrach sich der alte Mann, wobei er mit der linken Hand, als einer, der geigt, in der Luft herumfingerte. „Mir war es“, setzte er seine Erzählung fort, „ganz heiß ins Gesicht gestiegen, und ich sah auch ihr an, daß das harte Wort sie gereute. Werte Jungfer, sagte ich, das Kratzen rührt von daher, daß ich das Lied nicht in Noten habe, weshalb ich auch höflichst um die Abschrift gebeten haben wollte. Um die Abschrift? sagte sie. Das Lied ist gedruckt und wird an den Straßenecken verkauft.–Das Lied? entgegnete ich. Das sind wohl nur die Worte. –Nun ja, die Worte, das Lied.–Aber der Ton, in dem man’s singt. –Schreibt man denn derlei auch auf? fragte sie.–Freilich! war meine Antwort, das ist ja eben die Hauptsache. Und wie haben denn Sie’s erlernt, werte Jungfer?–Ich hörte es singen, und da sang ich’s nach. –Ich erstaunte über das natürliche Ingenium; wie denn überhaupt die ungelernten Leute oft die meisten Talente haben. Es ist aber doch nicht das Rechte, die eigentliche Kunst. Ich war nun neuerdings in Verzweiflung. Aber welches Lied ist es denn eigentlich? sagte sie. Ich weiß so viele.–Alle ohne Noten?–Nun freilich; also welches war es denn?–Es ist gar so schön, erklärte ich mich. Steigt gleich anfangs in die Höhe, kehrt dann in sein Inwendiges zurück und hört ganz leise auf. Sie singen’s auch am öftesten. Ach, das wird wohl das sein! sagte sie, setzte den Korb wieder ab, stellte den Fuß auf den Schemel und sang nun mit ganz leiser und doch klarer Stimme das Lied, wobei sie das Haupt duckte, so schön, so lieblich, daß, ehe sie noch zu Ende war, ich nach ihrer herabhängenden Hand fuhr. Oho! sagte sie, den Arm zurückziehend, denn sie meinte wohl, ich wollte ihre Hand unziemlicherweise anfassen, aber nein, küssen wollte ich sie, obschon sie nur ein armes Mädchen war.–Nun, ich bin ja jetzt auch ein armer Mann.

Da ich nun vor Begierde, das Lied zu haben, mir in die Haare fuhr, tröstete sie mich und sagte: der Organist der Peterskirche käme öfter um Muskatnuß in ihres Vaters Gewölbe, den wolle sie bitten, alles auf Noten zu bringen. Ich könnte es nach ein paar Tagen dort abholen. Hierauf nahm sie ihren Korb und ging, wobei ich ihr das Geleite bis zur Stiege gab. Auf der obersten Stufe die letzte Verbeugung machend, überraschte mich der Kanzleivorsteher, der mich an meine Arbeit gehen hieß und auf das Mädchen schalt, an dem, wie er behauptete, kein gutes Haar sei. Ich war darüber heftig erzürnt und wollte ihm eben antworten, daß ich, mit seiner Erlaubnis, vom Gegenteile überzeugt sei, als ich bemerkte, daß er bereits in sein Zimmer zurückgegangen war, weshalb ich mich faßte und ebenfalls an meinen Schreibtisch ging. Doch ließ er sich seit dieser Zeit nicht nehmen, daß ich ein liederlicher Beamter und ein ausschweifender Mensch sei.

Ich konnte auch wirklich desselben und die darauffolgenden Tage kaum etwas Vernünftiges arbeiten, so ging mir das Lied im Kopfe herum, und ich war wie verloren. Ein paar Tage vergangen, wußte ich wieder nicht, ob es schon Zeit sei, die Noten abzuholen oder nicht. Der Organist, hatte das Mädchen gesagt, kam in ihres Vaters Laden, um Muskatnuß zu kaufen; die konnte er nur zu Bier gebrauchen. Nun war seit einiger Zeit kühles Wetter und daher wahrscheinlich, daß der wackere Tonkünstler sich eher an den Wein halten und daher so bald keine Muskatnuß bedürfen werde. Zu schnell anfragen schien mir unhöfliche Zudringlichkeit, allzu langes Warten konnte für Gleichgültigkeit ausgelegt werden. Mit dem Mädchen auf dem Gange zu sprechen, getraute ich mir nicht, da unsere erste Zusammenkunft bei meinen Kameraden ruchbar geworden war und sie vor Begierde brannten, mir einen Streich zu spielen.

Ich hatte inzwischen die Violine mit Eifer wieder aufgenommen und übte vorderhand das Fundament gründlich durch, erlaubte mir wohl auch von Zeit zu Zeit aus dem Kopfe zu spielen, wobei ich aber das Fenster sorgfältig schloß, da ich wußte, daß mein Vortrag mißfiel. Aber wenn ich das Fenster auch öffnete, bekam ich mein Lied doch nicht wieder zu hören. Die Nachbarin sang teils gar nicht, teils so leise und bei verschlossener Tüte, daß ich nicht zwei Töne unterscheiden konnte.

Endlich–es waren ungefähr drei Wochen vergangen–vermochte ich’s nicht mehr auszuhalten. Ich hatte zwar schon durch zwei Abende mich auf die Gasse gestohlen–und das ohne Hut, damit die Dienstleute glauben sollten, ich suchte nur nach etwas im Hause–, sooft ich aber in die Nähe des Grieslerladens kam, überfiel mich ein so heftiges Zittern, daß ich umkehren mußte, ich mochte wollen oder nicht. Endlich aber–wie gesagt–konnte ich’s nicht mehr aushalten. Ich nahm mir ein Herz und ging eines Abends–auch diesmal ohne Hut–aus meinem Zimmer die Treppe hinab und festen Schrittes durch die Gasse bis zu dem Grieslerladen, wo ich vorderhand stehenblieb und überlegte, was weiter zu tun sei. Der Laden war erleuchtet, und ich hörte Stimmen darin. Nach einigem Zögern beugte ich mich vor und lugte von der Seite hinein. Ich sah das Mädchen hart vor dem Ladentische am Lichte sitzen und in einer hölzernen Mulde Erbsen oder Bohnen lesen. Vor ihr stand ein derber, rüstiger Mann, die Jacke über die Schulter gehängt, eine Art Knittel in der Hand, ungefähr wie ein Fleischhauer. Die beiden sprachen, offenbar in guter Stimmung, denn das Mädchen lachte einigemale laut auf, ohne sich aber in ihrer Arbeit zu unterbrechen oder auch nur aufzusehen. War es meine gezwungene vorgebeugte Stellung oder sonst was immer, mein Zittern begann wiederzukommen; als ich mich plötzlich von rückwärts mit derber Hand angefaßt und nach vorwärts geschleppt fühlte. In einem Nu stand ich im Gewölbe, und als ich, losgelassen, mich umschaute, sah ich, daß es der Eigentümer selbst war, der, von auswärts nach Hause kehrend, mich auf der Lauer überrascht und als verdächtig angehalten hatte. Element! schrie er, da sieht man, wo die Pflaumen hinkommen und die Handvoll Erbsen und Rollgerste, die im Dunkeln aus den Auslagkörben gemaust werden. Da soll ja gleich das Donnerwetter dreinschlagen. Und damit ging er auf mich los, als ob er wirklich dreinschlagen wolle.

Ich war wie vernichtet, wurde aber durch den Gedanken, daß man an meiner Ehrlichkeit zweifle, bald wieder zu mir selbst gebracht. Ich verbeugte mich daher ganz kurz und sagte dem Unhöflichen, daß mein Besuch nicht seinen Pflaumen oder seiner Rollgerste, sondern seiner Tochter gelte. Da lachte der in der Mitte des Ladens stehende Fleischer laut auf und wendete sich zu gehen, nachdem er vorher dem Mädchen ein paar Worte leise zugeflüstert hatte, die sie, gleichfalls lachend, durch einen schallenden Schlag mit der flachen Hand auf seinen Rücken beantwortete. Der Griesler gab dem Weggehenden das Geleit zur Türe hinaus. Ich hatte derweil schon wieder all meinen Mut verloren und stand dem Mädchen gegenüber, die gleichgültig ihre Erbsen und Bohnen las, als ob das Ganze sie nichts anginge. Da polterte der Vater wieder zur Türe herein. Mordtausendelement noch einmal, sagte er, Herr, was soll’s mit meiner Tochter? Ich versuchte, ihm den Zusammenhang und den Grund meines Besuches zu erklären. Was Lied? sagte er, ich will euch Lieder singen! wobei er den rechten Arm sehr verdächtig auf und ab bewegte. Dort liegt es, sprach das Mädchen, indem sie, ohne die Mulde mit Hülsenfrüchten wegzusetzen, sich samt dem Sessel seitwärts überbeugte und mit der Hand auf den Ladentisch hinwies. Ich eilte hin und sah ein Notenblatt liegen. Es war das Lied. Der Alte war mir aber zuvorgekommen. Er hielt das schöne Papier zerknitternd in der Hand. Ich frage, sagte er, was das abgibt? Wer ist der Mensch? Es ist ein Herr aus der Kanzlei, erwiderte sie, indem sie eine wurmstichige Erbse etwas weiter als die andern von sich warf. Ein Herr aus der Kanzlei? rief er, im Dunkeln, ohne Hut? Den Mangel des Hutes erklärte ich durch den Umstand, daß ich ganz in der Nähe wohnte, wobei ich das Haus bezeichnete. Das Haus weiß ich, rief er. Da wohnt niemand drinnen als der Hofrat–hier nannte er den Namen meines Vaters–, und die Bedienten kenne ich alle. Ich bin der Sohn des Hofrats, sagte ich, leise, als ob’s eine Lüge wäre.–Mir sind im Leben viele Veränderungen vorgekommen, aber noch keine so plötzliche, als bei diesen Worten in dem ganzen Wesen des Mannes vorging. Der zum Schmähen geöffnete Mund blieb offen stehen, die Augen drohten noch immer, aber um den untern Teil des Gesichtes fing an eine Art Lächeln zu spielen, das sich immer mehr Platz machte. Das Mädchen blieb in ihrer Gleichgültigkeit und gebückten Stellung, nur daß sie sich die losgegangenen Haare, fortarbeitend, hinter die Ohren zurückstrich. Der Sohn des Herrn Hofrats? schrie endlich der Alte, in dessen Gesichte die Aufheiterung vollkommen geworden war. Wollen Euer Gnaden sich’s vielleicht bequem machen? Barbara, einen Stuhl! Das Mädchen bewegte sich widerwillig auf dem ihren. Nu wart, Tuckmauser! sagte er, indem er selbst einen Korb von seinem Platze hob und den darunter gestellten Sessel mit dem Vortuche vom Staube reinigte. Hohe Ehre, fuhr er fort. Der Herr Hofrat–der Herr Sohn, wollt‘ ich sagen, praktizieren also auch die Musik? Singen vielleicht, wie meine Tochter, oder vielmehr ganz anders, nach Noten, nach der Kunst? Ich erklärte ihm, daß ich von Natur keine Stimme hätte. Oder schlagen Klavizimbel, wie die vornehmen Leute zu tun pflegen? Ich sagte, daß ich die Geige spiele. Habe auch in meiner Jugend gekratzt auf der Geige, rief er. Bei dem Worte Kratzen blickte ich unwillkürlich auf das Mädchen hin und sah, daß sie ganz spöttisch lächelte, was mich sehr verdroß.

Sollten sich des Mädels annehmen, heißt das in Musik, fuhr er fort. Singt eine gute Stimme, hat auch sonst ihre Qualitäten, aber das Feine, lieber Gott, wo soll’s herkommen? wobei er Daumen und Zeigefinger der rechten Hand wiederholt übereinanderschob. Ich war ganz beschämt, daß man mir unverdienterweise so bedeutende musikalische Kenntnisse zutraute, und wollte eben den wahren Stand der Sache auseinandersetzen, als ein außen Vorübergehender in den Laden hereinrief: Guten Abend alle miteinander! Ich erschrak, denn es war die Stimme eines der Bedienten unseres Hauses. Auch der Griesler hatte sie erkannt. Die Spitze der Zunge vorschiebend und die Schulter emporgehoben, flüsterte er: Waren einer der Bedienten des gnädigen Papa. Konnten Sie aber nicht erkennen, standen mit dem Rücken gegen die Türe. Letzteres verhielt sich wirklich so. Aber das Gefühl des Heimlichen, Unrechten ergriff mich qualvoll. Ich stammelte nur ein paar Worte zum Abschied und ging. Ja selbst mein Lied hätte ich vergessen, wäre mir nicht der Alte auf die Straße nachgesprungen, wo er mir’s in die Hand steckte.

So gelangte ich nach Hause, auf mein Zimmer, und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Und sie blieben nicht aus. Der Bediente hatte mich dennoch erkannt. Ein paar Tage darauf trat der Sekretär meines Vaters zu mir auf die Stube und kündigte mir an, daß ich das elterliche Haus zu verlassen hätte. Alle meine Gegenreden waren fruchtlos. Man hatte mir in einer entfernten Vorstadt ein Kämmerchen gemietet, und so war ich denn ganz aus der Nähe der Angehörigen verbannt. Auch meine Sängerin bekam ich nicht mehr zu sehen. Man hatte ihr den Kuchenhandel auf der Kanzlei eingestellt, und ihres Vaters Laden zu betreten konnte ich mich nicht entschließen, da ich wußte, daß es dem meinigen mißfiel. Ja, als ich dem alten Griesler zufällig auf der Straße begegnete, wandte er sich mit einem grimmigen Gesichte von mir ab, und ich war wie niedergedonnert. Da holte ich denn, halbe Tage lang allein, meine Geige hervor und spielte und übte.

Es sollte aber noch schlimmer kommen. Das Glück unseres Hauses ging abwärts. Mein jüngster Bruder, ein eigenwilliger, ungestümer Mensch, Offizier bei den Dragonern, mußte eine unbesonnene Wette, infolge der er, vom Ritt erhitzt, mit Pferd und Rüstung durch die Donau schwamm–es war tief in Ungarn–, mit dem Leben bezahlen. Der ältere, geliebteste, war in einer Provinz am Ratstisch angestellt. In immerwährender Widersetzlichkeit gegen seinen Landesvorgesetzten und, wie sie sagten, heimlich dazu von unserem Vater aufgemuntert, erlaubte er sich sogar unrichtige Angaben, um seinem Gegner zu schaden. Es kam zur Untersuchung, und mein Bruder ging heimlich aus dem Lande. Die Feinde unseres Vaters, deren viele waren, benutzten den Anlaß, ihn zu stürzen. Von allen Seiten angegriffen und ohnehin ingrimmig über die Abnahme seines Einflusses, hielt er täglich die angreifendsten Reden in der Ratssitzung. Mitten in einer derselben traf ihn ein Schlagfluß. Er wurde sprachlos nach Hause gebracht. Ich selbst erfuhr nichts davon. Des andern Tages auf der Kanzlei bemerkte ich wohl, daß sie heimlich flüsterten und mit den Fingern nach mir wiesen. Ich war aber derlei schon gewohnt und hatte kein Arges. Freitags darauf–es war mittwochs gewesen–wurde mir plötzlich ein schwarzer Anzug mit Flor auf die Stube gebracht. Ich erstaunte und fragte und erfuhr. Mein Körper ist sonst stark und widerhältig, aber da fiel’s mich an mit Macht. Ich sank besinnungslos zu Boden. Sie trugen mich ins Bette, wo ich fieberte und irresprach den Tag hindurch und die ganze Nacht. Des andern Morgens hatte die Natur die Oberhand gewonnen, aber mein Vater war tot und begraben.

Ich hatte ihn nicht mehr sprechen können; ihn nicht um Verzeihung bitten wegen all des Kummers, den ich ihm gemacht; nicht mehr danken für die unverdienten Gnaden–ja Gnaden! denn seine Meinung war gut, und ich hoffe ihn einst wiederzufinden, wo wir nach unsern Absichten gerichtet werden und nicht nach unsern Werken.

Ich blieb mehrere Tage auf meinem Zimmer, kaum, daß ich Nahrung zu mir nahm. Endlich ging ich doch hervor, aber gleich nach Tische wieder nach Hause, und nur des Abends irrte ich in den dunkeln Straßen umher wie Kain, der Brudermörder. Die väterliche Wohnung war mir dabei ein Schreckbild, dem ich sorgfältigst aus dem Wege ging. Einmal aber, gedankenlos vor mich hinstarrend, fand ich mich plötzlich in der Nähe des gefürchteten Hauses. Meine Knie zitterten, daß ich mich anhalten mußte. Hinter mir an die Wand greifend, erkenne ich die Türe des Grieslerladens und darin sitzend Barbara, einen Brief in der Hand, neben ihr das Licht auf dem Ladentische und hart dabei in aufrechter Stellung ihr Vater, der ihr zuzusprechen schien. Und wenn es mein Leben gegolten hätte, ich mußte eintreten. Niemanden zu haben, dem man sein Leid klagen kann, niemanden, der Mitleid fühlt! Der Alte, wußte ich wohl, war auf mich erzürnt, aber das Mädchen sollte mir ein gutes Wort geben. Doch kam es ganz entgegengesetzt. Barbara stand auf, als ich eintrat, warf mir einen hochmütigen Blick zu und ging in die Nebenkammer, deren Türe sie abschloß. Der Alte aber faßte mich bei der Hand, hieß mich niedersetzen, tröstete mich, meinte aber auch, ich sei nun ein reicher Mann und hätte mich um niemanden mehr zu kümmern. Er fragte, wieviel ich geerbt hätte. Ich wußte das nicht. Er forderte mich auf, zu den Gerichten zu gehen, was ich versprach. In den Kanzleien, meinte er, sei nichts zu machen. Ich sollte meine Erbschaft im Handel anlegen. Knoppern und Früchte werfen guten Profit ab; ein Compagnon, der sich darauf verstände, könnte Groschen in Gulden verwandeln. Er selbst habe sich einmal viel damit abgegeben. Dabei rief er wiederholt nach dem Mädchen, die aber kein Lebenszeichen von sich gab. Doch schien mir, als ob ich an der Türe zuweilen rascheln hörte. Da sie aber immer nicht kam und der Alte nur vom Gelde redete, empfahl ich mich endlich und ging, wobei der Mann bedauerte, mich nicht begleiten zu können, da er allein im Laden sei. Ich war traurig über meine verfehlte Hoffnung und doch wunderbar getröstet. Als ich auf der Straße stehenblieb und nach dem Hause meines Vaters hinüberblickte, hörte ich plötzlich hinter mir eine Stimme, die gedämpft und im Tone des Unwillens sprach: Trauen Sie nicht gleich jedermann, man meint es nicht gut mit Ihnen. So schnell ich mich umkehrte, sah ich doch niemand; nur das Klirren eines Fensters im Erdgeschosse, das zu des Grieslers Wohnung gehörte, belehrte mich, wenn ich auch die Stimme nicht erkannt hätte, daß Barbara die geheime Warnerin war. Sie hatte also doch gehört, was im Laden gesprochen worden. Wollte sie mich vor ihrem Vater warnen? oder war ihr zu Ohren gekommen, daß gleich nach meines Vaters Tode teils Kollegen aus der Kanzlei, teils andere ganz unbekannte Leute mich mit Bitten um Unterstützung und Nothilfe angegangen, ich auch zugesagt, wenn ich erst zu Geld kommen würde. Was einmal versprochen, mußte ich halten, in Zukunft aber beschloß ich, vorsichtiger zu sein. Ich meldete mich wegen meiner Erbschaft. Es war weniger, als man geglaubt hatte, aber doch sehr viel, nahe an eilftausend Gulden. Mein Zimmer wurde den ganzen Tag von Bittenden und Hilfesuchenden nicht leer. Ich war aber beinahe hart geworden und gab nur, wo die Not am größten war. Auch Barbaras Vater kam. Er schmälte, daß ich sie schon drei Tage nicht besucht, worauf ich der Wahrheit gemäß erwiderte, daß ich fürchte, seiner Tochter zur Last zu sein. Er aber sagte, das solle mich nicht kümmern, er habe ihr schon den Kopf zurechtgesetzt, wobei er auf eine boshafte Art lachte, so daß ich erschrak. Dadurch an Barbaras Warnung rückerinnert, verhehlte ich, als wir bald im Gespräche darauf kamen, den Betrag meiner Erbschaft; auch seinen Handelsvorschlägen wich ich geschickt aus.

Wirklich lagen mir bereits andere Aussichten im Kopfe. In der Kanzlei, wo man mich nur meines Vaters wegen geduldet hatte, war mein Platz bereits durch einen andern besetzt, was mich, da kein Gehalt damit verbunden war, wenig kümmerte. Aber der Sekretär meines Vaters, der durch die letzten Ereignisse brotlos geworden, teilte mir den Plan zur Errichtung eines Auskunfts-, Kopier- und Übersetzungs-Comptoirs mit, wozu ich die ersten Einrichtungskosten vorschießen sollte, indes er selbst die Direktion zu übernehmen bereit war. Auf mein Andringen wurden die Kopierarbeiten auch auf Musikalien ausgedehnt, und nun war ich in meinem Glücke. Ich gab das erforderliche Geld, ließ mir aber, schon vorsichtig geworden, eine Handschrift darüber ausstellen. Die Kaution für die Anstalt, die ich gleichfalls vorschoß, schien, obgleich beträchtlich, kaum der Rede wert, da sie bei den Gerichten hinterlegt werden mußte und dort mein blieb, als hätte ich sie in meinem Schranke.

Die Sache war abgetan und ich fühlte mich erleichtert, erhoben, zum ersten Male in meinem Leben selbständig, ein Mann. Kaum, daß ich, meines Vaters noch gedachte. Ich bezog eine bessere Wohnung, änderte einiges in meiner Kleidung und ging, als es Abend geworden, durch wohlbekannte Straßen nach dem Grieslerladen, wobei ich mit den Füßen schlenkerte und mein Lied zwischen den Zähnen summte, obwohl nicht ganz richtig. Das B in der zweiten Hälfte habe ich mit der Stimme nie treffen können. Froh und guter Dinge langte ich an, aber ein eiskalter Blick Barbaras warf mich sogleich in meine frühere Zaghaftigkeit zurück. Der Vater empfing mich aufs beste, sie aber tat, als ob niemand zugegen wäre, fuhr fort, Papiertüten zu wickeln, und mischte sich mit keinem Worte in unser Gespräch. Nur als die Rede auf meine Erbschaft kam, fuhr sie mit halbem Leibe empor und sagte fast drohend: Vater! worauf der Alte sogleich den Gegenstand änderte. Sonst sprach sie den ganzen Abend nichts, gab mir keinen zweiten Blick, und als ich mich endlich empfahl, klang ihr: Guten Abend! beinahe wie ein Gott sei Dank!

Aber ich kam wieder und wieder, und sie gab allmählich nach. Nicht als ob ich ihr irgend etwas zu Danke gemacht hätte. Sie schalt und tadelte mich unaufhörlich. Alles war ungeschickt; Gott hatte mir zwei linke Hände erschaffen; mein Rock saß wie an einer Vogelscheuche; ich ging wie die Enten, mit einer Anmahnung an den Haushahn. Besonders zuwider war ihr meine Höflichkeit gegen die Kunden. Da ich nämlich bis zur Eröffnung der Kopieranstalt ohne Beschäftigung war und überlegte, daß ich dort mit dem Publikum zu tun haben würde, so nahm ich, als Vorübung, an dem Kleinverkauf im Grieslergewölbe tätigen Anteil, was mich oft halbe Tage lang festhielt. Ich wog Gewürz ab, zählte den Knaben Nüsse und Welkpflaumen zu, gab klein Geld heraus; letzteres nicht ohne häufige Irrungen, wo denn immer Barbara dazwischenfuhr, gewalttätig wegnahm, was ich eben in den Händen hielt, und mich vor den Kunden verlachte und verspottete. Machte ich einem der Käufer einen Bückling oder empfahl mich ihnen, so sagte sie barsch, ehe die Leute noch zur Türe hinaus waren: Die Ware empfiehlt! und kehrte mir den Rücken. Manchmal aber wieder war sie ganz Güte. Sie hörte mir zu, wenn ich erzählte, was in der Stadt vorging; aus meinen Kinderjahren; von dem Beamtenwesen in der Kanzlei, wo wir uns zuerst kennengelernt. Dabei ließ sie mich aber immer allein sprechen und gab nur durch einzelne Worte ihre Billigung oder–was öfter der Fall war–ihre Mißbilligung zu erkennen.

Von Musik oder Gesang war nie die Rede. Erstlich meinte sie, man müsse entweder singen oder das Maul halten, zu reden sei da nichts. Das Singen selbst aber ging nicht an. Im Laden war es unziemlich, und die Hinterstube, die sie und ihr Vater gemeinschaftlich bewohnten, durfte ich nicht betreten. Einmal aber, als ich unbemerkt zur Türe hereintrat, stand sie eben auf den Zehenspitzen emporgerichtet, den Rücken mir zugekehrt und mit den erhobenen Händen, wie man nach etwas sucht, auf einem der höheren Stellbretter herumtastend. Und dabei sang sie leise in sich hinein.–Es war das Lied, mein Lied!–Sie aber zwitscherte wie eine Grasmücke, die am Bache das Hälslein wäscht und das Köpfchen herumwirft und die Federn sträubt und wieder glättet mit dem Schnäblein. Mir war, als ginge ich auf grünen Wiesen. Ich schlich näher und näher und war schon so nahe, daß das Lied nicht mehr von außen, daß es aus mir herauszutönen schien, ein Gesang der Seelen. Da konnte ich mich nicht mehr halten und faßte mit beiden Händen ihren in der Mitte nach vorn strebenden und mit den Schultern gegen mich gesenkten Leib. Da aber kam’s. Sie wirbelte wie ein Kreisel um sich selbst. Glutrot vor Zorn im Gesichte stand sie vor mir da; ihre Hand zuckte, und ehe ich mich entschuldigen konnte-Sie hatten, wie ich schon früher berichtet, auf der Kanzlei öfter von einer Ohrfeige erzählt, die Barbara, noch als Kuchenhändlerin, einem Zudringlichen gegeben. Was sie da sagten von der Stärke des eher klein zu nennenden Mädchens und der Schwungkraft ihrer Hand, schien höchlich und zum Scherze übertrieben. Es verhielt sich aber wirklich so und ging ins Riesenhafte. Ich stand wie vom Donner getroffen. Die Lichter tanzten mir vor den Augen.–Aber es waren Himmelslichter. Wie Sonne, Mond und Sterne; wie die Engelein, die Versteckens spielen und dazu singen. Ich hatte Erscheinungen, ich war verzückt. Sie aber, kaum minder erschrocken als ich, fuhr mit ihrer Hand wie begütigend über die geschlagene Stelle. Es mag wohl zu stark ausgefallen sein, sagte sie, und–wie ein zweiter Blitzstrahl–fühlte ich plötzlich ihren warmen Atem auf meiner Wange und ihre zwei Lippen, und sie küßte mich; nur leicht, leicht; aber es war ein Kuß auf diese meine Wange, hier!“ Dabei klatschte der alte Mann auf seine Backe, und die Tränen traten ihm aus den Augen. „Was nun weiter geschah, weiß ich nicht“, fuhr er fort. „Nur daß ich auf sie losstürzte und sie in die Wohnstube lief und die Glastüre zuhielt, während ich von der andern Seite nachdrängte. Wie sie nun zusammengekrümmt und mit aller Macht sich entgegenstemmend gleichsam an dem Türfenster klebte, nahm ich mir ein Herz, verehrtester Herr, und gab ihr ihren Kuß heftig zurück, durch das Glas.

Oho, hier geht’s lustig her! hörte ich hinter mir rufen. Es war der Griesler, der eben nach Hause kam. Nu, was sich neckt–sagte er. Komm nur heraus, Bärbe, und mach keine Dummheiten! Einen Kuß in Ehren kann niemand wehren.–Sie aber kam nicht. Ich selbst entfernte mich nach einigen halb bewußtlos gestotterten Worten, wobei ich den Hut des Grieslers statt des meinigen nahm, den er lachend mir in der Hand austauschte. Das war, wie ich ihn schon früher nannte, der Glückstag meines Lebens. Fast hätte ich gesagt: der einzige, was aber nicht wahr wäre, denn der Mensch hat viele Gnaden von Gott.

Ich wußte nicht recht, wie ich im Sinne des Mädchens stand. Sollte ich sie mir mehr erzürnt oder mehr begütigt denken? Der nächste Besuch kostete einen schweren Entschluß. Aber sie war gut. Demütig und still, nicht auffahrend wie sonst, saß sie da bei einer Arbeit. Sie winkte mit dem Kopfe auf einen nebenstehenden Schemel, daß ich mich setzen und ihr helfen sollte. So saßen wir denn und arbeiteten. Der Alte wollte hinausgehen. Bleibt doch da, Vater, sagte sie; was Ihr besorgen wollt, ist schon abgetan. Er trat mit dem Fuße hart auf den Boden und blieb. Ab- und zugehend sprach er von diesem und jenem, ohne daß ich mich in das Gespräch zu mischen wagte. Da stieß das Mädchen plötzlich einen kleinen Schrei aus. Sie hatte sich beim Arbeiten einen Finger geritzt, und obgleich sonst gar nicht weichlich, schlenkerte sie mit der Hand hin und her. Ich wollte zusehen, aber sie bedeutete mich, fortzufahren. Alfanzerei und kein Ende! brummte der Alte, und vor das Mädchen hintretend, sagte er mit starker Stimme: Was zu besorgen war, ist noch gar nicht getan! und so ging er schallenden Trittes zur Türe hinaus. Ich wollte nun anfangen, mich von gestern her zu entschuldigen; sie aber unterbrach mich und sagte: Lassen wir das und sprechen wir jetzt von gescheitern Dingen.

Sie hob den Kopf empor, maß mich vom Scheitel bis zur Zehe und fuhr in ruhigem Tone fort: Ich weiß kaum selbst mehr den Anfang unserer Bekanntschaft, aber Sie kommen seit einiger Zeit öfter und öfter, und wir haben uns an Sie gewöhnt. Ein ehrliches Gemüt wird Ihnen niemand abstreiten, aber Sie sind schwach, immer auf Nebendinge gerichtet, so daß Sie kaum imstande wären, Ihren eigenen Sachen selbst vorzustehen. Da wird es denn Pflicht und Schuldigkeit von Freunden und Bekannten, ein Einsehen zu haben, damit Sie nicht zu Schaden kommen. Sie versitzen hier halbe Tage im Laden, zählen und wägen, messen und markten; aber dabei kommt nichts heraus. Was gedenken Sie in Zukunft zu tun, um Ihr Fortkommen zu haben? Ich erwähnte der Erbschaft meines Vaters. Die mag recht groß sein, sagte sie. Ich nannte den Betrag. Das ist viel und wenig, erwiderte sie. Viel, um etwas damit anzufangen; wenig, um vom Breiten zu zehren. Mein Vater hat Ihnen zwar einen Vorschlag getan, ich riet Ihnen aber ab. Denn einmal hat er schon selbst Geld bei derlei Dingen verloren, dann, setzte sie mit gesenkter Stimme hinzu, ist er so gewohnt, von Fremden Gewinn zu ziehen, daß er es Freunden vielleicht auch nicht besser machen würde. Sie müssen jemand an der Seite haben, der es ehrlich meint.–Ich wies auf sie.–Ehrlich bin ich, sagte sie. Dabei legte sie die Hand auf die Brust, und ihre Augen, die sonst ins Graulichte spielten, glänzten hellblau, himmelblau. Aber mit mir hat’s eigene Wege. Unser Geschäft wirft wenig ab, und mein Vater geht mit dem Gedanken um, einen Schenkladen aufzurichten. Da ist denn kein Platz für mich. Mir bliebe nur Handarbeit, denn dienen mag ich nicht. Und dabei sah sie aus wie eine Königin. Man hat mir zwar einen andern Antrag gemacht, fuhr sie fort, indem sie einen Brief aus ihrer Schürze zog und halb widerwillig auf den Ladentisch warf; aber da müßte ich fort von hier. –Und weit? fragte ich. Warum? was kümmert Sie das?–Ich erklärte, daß ich an denselben Ort hinziehen wollte.–Sind Sie ein Kind! sagte sie. Das ginge nicht an und wären ganz andere Dinge. Aber wenn Sie Vertrauen zu mir haben und gerne in meiner Nähe sind, so bringen Sie den Putzladen an sich, der hier nebenan zu Verkauf steht. Ich verstehe das Werk, und um den bürgerlichen Gewinn aus Ihrem Gelde dürften sie nicht verlegen sein. Auch fänden Sie selbst mit Rechnen und Schreiben eine ordentliche Beschäftigung. Was sich etwa noch weiter ergäbe, davon wollen wir jetzt nicht reden.–Aber ändern müßten Sie sich! Ich hasse die weibischen Männer.

Ich war aufgesprungen und griff nach meinem Hute. Was ist? wo wollen Sie hin? fragte sie. Alles abbestellen, sagte ich mit kurzem Atem. –Was denn?–Ich erzählte ihr nun meinen Plan zur Errichtung eines Schreib- und Auskunfts-Comptoirs. Da kommt nicht viel heraus, meinte sie. Auskunft einziehen kann ein jeder selbst und schreiben hat auch ein jeder gelernt in der Schule. Ich bemerkte, daß auch Musikalien kopiert werden sollten, was nicht jedermanns Sache sei. Kommen Sie schon wieder mit solchen Albernheiten? fuhr sie mich an. Lassen Sie das Musizieren und denken Sie auf die Notwendigkeit! Auch wären Sie nicht imstande, einem Geschäfte selbst vorzustehen. Ich erklärte, daß ich einen Compagnon gefunden hätte. Einen Compagnon? rief sie aus. Da will man Sie gewiß betrügen! Sie haben doch noch kein Geld hergegeben?–Ich zitterte, ohne zu wissen, warum.–Haben Sie Geld gegeben? fragte sie noch einmal. Ich gestand die dreitausend Gulden zur ersten Einrichtung.–Dreitausend Gulden? rief sie, so vieles Geld! –Das übrige, fuhr ich fort, ist bei den Gerichten hinterlegt und jedenfalls sicher.–Also noch mehr? schrie sie auf.–Ich gab den Betrag der Kaution an.–Und haben Sie die selbst bei den Gerichten angelegt?–Es war durch meinen Compagnon geschehen.–Sie haben doch einen Schein darüber?–Ich hatte keinen Schein. Und wie heißt Ihr sauberer Compagnon? fragte sie weiter. Ich war einigermaßen beruhigt, ihr den Sekretär meines Vaters nennen zu können.

Gott der Gerechte! rief sie aufspringend und die Hände zusammenschlagend. Vater! Vater!–Der Alte trat herein.–Was habt Ihr heute aus den Zeitungen gelesen?–Von dem Sekretarius? sprach er. –Wohl! wohl!–Nun, der ist durchgegangen, hat Schulden über Schulden hinterlassen und die Leute betrogen. Sie verfolgen ihn mit Steckbriefen!–Vater, rief sie, er hat ihm auch sein Geld anvertraut. Er ist zugrunde gerichtet.–Potz Dummköpfe und kein Ende! schrie der Alte. Hab ich’s nicht immer gesagt? Aber das war ein Entschuldigen. Einmal lachte sie über ihn, dann war er wieder ein redliches Gemüt. Aber ich will dazwischenfahren! Ich will zeigen, wer Herr im Hause ist. Du, Barbara, marsch hinein in die Kammer! Sie aber, Herr, machen Sie, daß Sie fortkommen, und verschonen uns künftig mit Ihren Besuchen. Hier wird kein Almosen gereicht.–Vater, sagte das Mädchen, seid nicht hart gegen ihn, er ist ja doch unglücklich genug.–Eben darum, rief der Alte, will ich’s nicht auch werden. Das, Herr, fuhr er fort, indem er auf den Brief zeigte, den Barbara vorher auf den Tisch geworfen hatte, das ist ein Mann! Hat Grütz‘ im Kopfe und Geld im Sack. Betrügt niemanden, läßt sich aber auch nicht betrügen; und das ist die Hauptsache bei der Ehrlichkeit.–Ich stotterte, daß der Verlust der Kaution noch nicht gewiß sei.–Ja, rief er, wird ein Narr gewesen sein, der Sekretarius! Ein Schelm ist er, aber pfiffig. Und nun gehen Sie nur rasch, vielleicht holen Sie ihn noch ein! Dabei hatte er mir die flache Hand auf die Schulter gelegt und schob mich gegen die Türe. Ich wich dem Drucke seitwärts aus und wendete mich gegen das Mädchen, die, auf den Ladentisch gestützt, dastand, die Augen auf den Boden gerichtet, wobei die Brust heftig auf und nieder ging. Ich wollte mich ihr nähern, aber sie stieß zornig mit dem Fuße auf den Boden, und als ich meine Hand ausstreckte, zuckte sie mit der ihren halb empor, als ob sie mich wieder schlagen wollte. Da ging ich, und der Alte schloß die Tür hinter mir zu.

Ich wankte durch die Straßen zum Tor hinaus, ins Feld. Manchmal fiel mich die Verzweiflung an, dann kam aber wieder Hoffnung. Ich erinnerte mich, bei Anlegung der Kaution den Sekretär zum Handelsgericht begleitet zu haben. Dort hatte ich unter dem Torwege gewartet, und er war allein hinaufgegangen. Als er herabkam, sagte er, alles sei berichtigt, der Empfangsschein werde mir ins Haus geschickt werden. Letzteres war freilich nicht geschehen, aber Möglichkeit blieb noch immer. Mit anbrechendem Tage kam ich zur Stadt zurück. Mein erster Gang war in die Wohnung des Sekretärs. Aber die Leute lachten und fragten, ob ich die Zeitungen nicht gelesen hätte? Das Handelsgericht lag nur wenige Häuser davon ab. Ich ließ in den Büchern nachschlagen, aber weder sein Name noch meiner kamen darin vor. Von einer Einzahlung keine Spur. So war denn mein Unglück gewiß. Ja, beinahe wäre es noch schlimmer gekommen. Denn da ein Gesellschaftskontrakt bestand, wollten mehrere seiner Gläubiger auf meine Person greifen. Aber die Gerichte gaben es nicht zu. Lob und Dank sei ihnen dafür gesagt! Obwohl es auf eines herausgekommen wäre.

In all diesen Widerwärtigkeiten war mir, gestehe ich’s nur, der Griesler und seine Tochter ganz in den Hintergrund getreten. Nun, da es ruhiger wurde und ich anfing zu überlegen, was etwa weiter geschehen sollte, kam mir die Erinnerung an den letzten Abend lebhaft zurück. Den Alten, eigennützig wie er war, begriff ich ganz wohl, aber das Mädchen. Manchmal kam mir in den Sinn, daß, wenn ich das Meinige zu Rate gehalten und ihr eine Versorgung hätte anbieten können, sie wohl gar–aber sie hätte mich nicht gemocht.“–Dabei besah er mit auseinanderfallenden Händen seine ganze dürftige Gestalt.–„Auch war ihr mein höfliches Benehmen gegen jedermann immer zuwider.

So verbrachte ich ganze Tage, sann und überlegte. Eines Abends im Zwielicht–es war die Zeit, die ich gewöhnlich im Laden zuzubringen pflegte–saß ich wieder und versetzte mich in Gedanken an die gewohnte Stelle. Ich hörte sie sprechen, auf mich schmähen, ja es schien, sie verlachten mich. Da raschelte es plötzlich an der Türe, sie ging auf, und ein Frauenzimmer trat herein.–Es war Barbara.–Ich saß auf meinem Stuhl angenagelt, als ob ich ein Gespenst sähe. Sie war blaß und trug ein Bündel unter dem Arme. In die Mitte des Zimmers gekommen, blieb sie stehen, sah rings an den kahlen Wänden umher, dann nach abwärts auf das ärmliche Geräte und seufzte tief. Dann ging sie an den Schrank, der zur Seite an der Mauer stand, wickelte ihr Paket auseinander, das einige Hemden und Tücher enthielt–sie hatte in der letzten Zeit meine Wäsche besorgt–, zog die Schublade heraus, schlug die Hände zusammen, als sie den spärlichen Inhalt sah, fing aber gleich darauf an, die Wäsche in Ordnung zu bringen und die mitgebrachten Stücke einzureihen. Darauf trat sie ein paar Schritte vom Schranke hinweg, und die Augen auf mich gerichtet, wobei sie mit dem Finger auf die offene Schublade zeigte, sagte sie: Fünf Hemden und drei Tücher. So viel habe ich gehabt, so viel bringe ich zurück. Dann drückte sie langsam die Schublade zu, stützte sich mit der Hand auf den Schrank und fing laut an zu weinen. Es schien fast, als ob ihr schlimm würde, denn sie setzte sich auf einen Stuhl neben dem Schranke, verbarg das Gesicht in ihr Tuch, und ich hörte aus den stoßweise geholten Atemzügen, daß sie noch immer fortweinte. Ich war leise in ihre Nähe getreten und faßte ihre Hand, die sie mir gutwillig ließ. Als ich aber, um ihre Blicke auf mich zu ziehen, an dem schlaff hängenden Arme bis zum Ellenbogen emporrückte, stand sie rasch auf, machte ihre Hand los und sagte in gefaßtem Tone: Was nützt das alles? Es ist nun einmal so. Sie haben es selbst gewollt, sich und uns haben Sie unglücklich gemacht; aber freilich sich selbst am meisten. Eigentlich verdienen Sie kein Mitleid–hier wurde sie immer heftiger–, wenn man so schwach ist, seine eigenen Sachen nicht in Ordnung halten zu können; so leichtgläubig, daß man jedem traut, gleichviel ob es ein Spitzbube ist oder ein ehrlicher Mann.–Und doch tut’s mir leid um Sie. Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen. Ja, erschrecken Sie nur. Ist’s doch Ihr Werk. Ich muß nun hinaus unter die groben Leute, wogegen ich mich so lange gesträubt habe. Aber da ist kein Mittel. Die Hand habe ich Ihnen schon gegeben, und so leben Sie wohl–für immer. Ich sah, daß ihr die Tränen wieder ins Auge traten, aber sie schüttelte unwillig mit dem Kopfe und ging. Mir war, als hätte ich Blei in den Gliedern. Gegen die Türe gekommen, wendete sie sich noch einmal um und sagte: Die Wäsche ist jetzt in Ordnung. Sehen Sie zu, daß nichts abgeht. Es werden harte Zeiten kommen. Und nun hob sie die Hand auf, machte wie ein Kreuzeszeichen in die Luft und rief: Gott mit dir, Jakob!–In alle Ewigkeit, Amen! setzte sie leiser hinzu und ging.

Nun erst kam mir der Gebrauch meiner Glieder zurück. Ich eilte ihr nach, und auf dem Treppenabsatze stehend, rief ich ihr nach: Barbara! Ich hörte, daß sie auf der Stiege stehenblieb. Wie ich aber die erste Stufe hinabstieg, sprach sie von unten herauf: Bleiben Sie! und ging die Treppe vollends hinab und zum Tore hinaus.

Ich habe seitdem harte Tage erlebt, keinen aber wie diesen; selbst der darauffolgende war es minder. Ich wußte nämlich doch nicht so recht, wie ich daran war, und schlich daher am kommenden Morgen in der Nähe des Grieslerladens herum, ob mir vielleicht einige Aufklärung würde. Da sich aber nichts zeigte, blickte ich endlich seitwärts in den Laden hinein und sah eine fremde Frau, die abwog und Geld herausgab und zuzählte. Ich wagte mich hinein und fragte, ob sie den Laden an sich gekauft hätte? Zur Zeit noch nicht, sagte sie.–Und wo die Eigentümer wären?–Die sind heute frühmorgens nach Langenlebarn gereist.–Die Tochter auch? stammelte ich.–Nun freilich auch, sagte sie, sie macht ja Hochzeit dort.

Die Frau mochte mir nun alles erzählt haben, was ich in der Folge von andern Leuten erfuhr. Der Fleischer des genannten Ortes nämlich–derselbe, den ich zur Zeit meines ersten Besuches im Laden antraf–hatte dem Mädchen seit lange Heiratsanträge gemacht, denen sie immer auswich, bis sie endlich in den letzten Tagen, von ihrem Vater gedrängt und an allem übrigen verzweifelnd, einwilligte. Desselben Morgens waren Vater und Tochter dahin abgereist, und in dem Augenblick, da wir sprachen, war Barbara des Fleischers Frau.

Die Verkäuferin mochte mir, wie gesagt, das alles erzählt haben, aber ich hörte nicht und stand regungslos, bis endlich Kunden kamen, die mich zur Seite schoben, und die Frau mich anfuhr, ob ich noch sonst etwas wollte, worauf ich mich entfernte.

Sie werden glauben, verehrtester Herr“, fuhr er fort, „daß ich mich nun als den unglücklichsten aller Menschen fühlte. Und so war es auch im ersten Augenblicke. Als ich aber aus dem Laden heraustrat und, mich umwendend, auf die kleinen Fenster zurückblickte, an denen Barbara gewiß oft gestanden und herausgesehen hatte, da kam eine selige Empfindung über mich. Daß sie nun alles Kummers los war, Frau im eigenen Hause, und nicht nötig hatte, wie wenn sie ihre Tage an einen Herd- und Heimatlosen geknüpft hätte, Kummer und Elend zu tragen, das legte sich wie ein lindernder Balsam auf meine Brust, und ich segnete sie und ihre Wege.

Wie es nun mit mir immer mehr herabkam, beschloß ich durch Musik mein Fortkommen zu suchen; und solange der Rest meines Geldes währte, übte und studierte ich mir die Werke großer Meister, vorzüglich der alten, ein, welche ich abschrieb; und als nun der letzte Groschen ausgegeben war, schickte ich mich an, von meinen Kenntnissen Vorteil zu ziehen, und zwar anfangs in geschlossenen Gesellschaften, wozu ein Gastgebot im Hause meiner Mietfrau den ersten Anlaß gab. Als aber die von mir vorgetragenen Kompositionen dort keinen Anklang fanden, stellte ich mich in die Höfe der Häuser, da unter so vielen Bewohnern doch einige sein mochten, die das Ernste zu schätzen wußten–ja endlich auf die öffentlichen Spaziergänge, wo ich denn wirklich die Befriedigung hatte, daß einzelne stehenblieben, zuhörten, mich befragten und nicht ohne Anteil weitergingen. Daß sie mir dabei Geld hinlegten, beschämte mich nicht. Denn einmal war gerade das mein Zweck, dann sah ich auch, daß berühmte Virtuosen, welche erreicht zu haben ich mir nicht schmeicheln konnte, sich für ihre Leistungen, und mitunter sehr hoch, honorieren ließen. So habe ich mich, obzwar ärmlich, aber redlich fortgebracht bis diesen Tag.

Nach Jahren sollte mir noch ein Glück zuteil werden. Barbara kam zurück. Ihr Mann hatte Geld verdient und ein Fleischhauergewerbe in einer der Vorstädte an sich gebracht. Sie war Mutter von zwei Kindern, von denen das älteste Jakob heißt, wie ich. Meine Berufsgeschäfte und die Erinnerung an alte Zeiten erlaubten mir nicht, zudringlich zu sein, endlich ward ich aber selbst ins Haus bestellt, um dem ältesten Knaben Unterricht auf der Violine zu geben. Er hat zwar nur wenig Talent, kann auch nur an Sonntagen spielen, da ihn in der Woche der Vater beim Geschäft verwendet, aber Barbaras Lied, das ich ihn gelehrt, geht doch schon recht gut; und wenn wir so üben und hantieren, singt manchmal die Mutter mit darein. Sie hat sich zwar sehr verändert in den vielen Jahren, ist stark geworden und kümmert sich wenig mehr um Musik, aber es klingt noch immer so hübsch wie damals.“ Und damit ergriff der Alte seine Geige und fing an, das Lied zu spielen, und spielte fort und fort, ohne sich weiter um mich zu kümmern. Endlich hatte ich’s satt, stand auf, legte ein paar Silberstücke auf den nebenstehenden Tisch und ging, während der Alte eifrig immer fortgeigte.

Bald darauf trat ich eine Reise an, von der ich erst mit einbrechendem Winter zurückkam. Die neuen Bilder hatten die alten verdrängt, und mein Spielmann war so ziemlich vergessen. Erst bei Gelegenheit des furchtbaren Eisganges im nächsten Frühjahre und der damit in Verbindung stehenden Überschwemmung der niedrig gelegenen Vorstädte erinnerte ich mich wieder an ihn. Die Umgegend der Gärtnergasse war zum See geworden. Für des alten Mannes Leben schien nichts zu besorgen, wohnte er doch hoch oben am Dache, indes unter den Bewohnern der Erdgeschosse sich der Tod seine nur zu häufigen Opfer ausersehen hatte. Aber entblößt von aller Hilfe, wie groß mochte seine Not sein! Solange die Überschwemmung währte, war nichts zu tun, auch hatten die Behörden nach Möglichkeit auf Schiffen Nahrung und Beistand den Abgeschnittenen gespendet. Als aber die Wasser verlaufen und die Straßen gangbar geworden waren, beschloß ich, meinen Anteil an der in Gang gebrachten, zu unglaublichen Summen angewachsenen Kollekte persönlich an die mich zunächst angehende Adresse zu befördern.

Der Anblick der Leopoldstadt war grauenhaft. In den Straßen zerbrochene Schiffe und Gerätschaften, in den Erdgeschossen zum Teil noch stehendes Wasser und schwimmende Habe. Als ich, dem Gedränge ausweichend, an ein zugelehntes Hoftor hintrat, gab dieses nach und zeigte im Torwege eine Reihe von Leichen, offenbar behufs der amtlichen Inspektion zusammengebracht und hingelegt; ja, im Innern der Gemächer waren noch hie und da, aufrecht stehend und an die Gitterfenster angekrallt, verunglückte Bewohner zu sehen,–es fehlte eben an Zeit und Beamten, die gerichtliche Konstatierung so vieler Todesfälle vorzunehmen.

So schritt ich weiter und weiter. Von allen Seiten Weinen und Trauergeläute, suchende Mütter und irregehende Kinder. Endlich kam ich an die Gärtnergasse. Auch dort hatten sich die schwarzen Begleiter eines Leichenzuges aufgestellt, doch, wie es schien, entfernt von dem Hause, das ich suchte. Als ich aber nähertrat, bemerkte ich wohl eine Verbindung von Anstalten und Hin- und Hergehenden zwischen dem Trauergeleite und der Gärtnerswohnung. Am Haustor stand ein wacker aussehender, ältlicher, aber noch kräftiger Mann. In hohen Stiefeln, gelben Lederhosen und langherabgehendem Leibrocke sah er einem Landfleischer ähnlich. Er gab Aufträge, sprach aber dazwischen ziemlich gleichgültig mit den Nebenstehenden. Ich ging an ihm vorbei und trat in den Hofraum. Die alte Gärtnerin kam mir entgegen, erkannte mich auf der Stelle wieder und begrüßte mich unter Tränen. „Geben Sie uns auch die Ehre?“ sagte sie. „Ja, unser armer Alter! der musiziert jetzt mit den lieben Engeln, die auch nicht viel besser sein können, als er es war. Die ehrliche Seele saß da oben sicher in seiner Kammer. Als aber das Wasser kam und er die Kinder schreien hörte, da sprang er herunter und rettete und schleppte und trug und brachte in Sicherheit, daß ihm der Atem ging wie ein Schmiedegebläs. Ja–wie man denn nicht überall seine Augen haben kann–als sich ganz zuletzt zeigte, daß mein Mann seine Steuerbücher und die paar Gulden Papiergeld im Wandschrank vergessen hatte, nahm der Alte ein Beil, ging ins Wasser, das ihm schon an die Brust reichte, erbrach den Schrank und brachte alles treulich. Da hatte er sich wohl verkältet, und wie im ersten Augenblicke denn keine Hilfe zu haben war, griff er in die Phantasie und wurde immer schlechter und schlechter, ob wir ihm gleich beistanden nach Möglichkeit und mehr dabei litten als er selbst. Denn er musizierte in einem fort, mit der Stimme nämlich, und schlug den Takt und gab Lektionen. Als sich das Wasser ein wenig verlaufen hatte und wir den Bader holen konnten und den Geistlichen, richtete er sich plötzlich im Bette auf, wendete Kopf und Ohr seitwärts, als ob er in der Entfernung etwas gar Schönes hörte, lächelte, sank zurück und war tot. Gehen Sie nur hinauf, er hat oft von Ihnen gesprochen. Die Madame ist auch oben. Wir haben ihn auf unsere Kosten begraben lassen wollen, die Frau Fleischermeisterin gab es aber nicht zu.“

Sie drängte mich die steile Treppe hinauf bis zur Dachstube, die offen stand und ganz ausgeräumt war bis auf den Sarg in der Mitte, der, bereits geschlossen, nur der Träger wartete. An dem Kopfende saß eine ziemlich starke Frau, über die Hälfte des Lebens hinaus, im buntgedruckten Kattunüberrocke, aber mit schwarzem Halstuch und schwarzem Band auf der Haube. Es schien fast, als ob sie nie schön gewesen sein konnte. Vor ihr standen zwei ziemlich erwachsene Kinder, ein Bursche und ein Mädchen, denen sie offenbar Unterricht gab, wie sie sich beim Leichenzuge zu benehmen hätten. Eben als ich eintrat, stieß sie dem Knaben, der sich ziemlich tölpisch auf den Sarg gelehnt hatte, den Arm herunter und glättete sorgfältig die herausstehenden Kanten des Leichentuches wieder zurecht. Die Gärtnersfrau führte mich vor; da fingen aber unten die Posaunen an zu blasen, und zugleich erscholl die Stimme des Fleischers von der Straße herauf: Barbara, es ist Zeit! Die Träger erschienen, ich zog mich zurück, um Platz zu machen. Der Sarg ward erhoben, hinabgebracht, und der Zug setzte sich in Bewegung. Voraus die Schuljugend mit Kreuz und Fahne, der Geistliche mit dem Kirchendiener. Unmittelbar nach dem Sarge die beiden Kinder des Fleischers und hinter ihnen das Ehepaar. Der Mann bewegte unausgesetzt, als in Andacht, die Lippen, sah aber dabei links und rechts um sich. Die Frau las eifrig in ihrem Gebetbuche, nur machten ihr die beiden Kinder zu schaffen, die sie einmal vorschob, dann wieder zurückhielt, wie ihr denn überhaupt die Ordnung des Leichenzuges sehr am Herzen zu liegen schien. Immer aber kehrte sie wieder zu ihrem Buche zurück. So kam das Geleite zum Friedhof. Das Grab war geöffnet. Die Kinder warfen die ersten Handvoll Erde hinab. Der Mann tat stehend dasselbe. Die Frau kniete und hielt ihr Buch nahe an die Augen. Die Totengräber vollendeten ihr Geschäft, und der Zug, halb aufgelöst, kehrte zurück. An der Türe gab es noch einen kleinen Wortwechsel, da die Frau eine Forderung des Leichenbesorgers offenbar zu hoch fand. Die Begleiter zerstreuten sich nach allen Richtungen. Der alte Spielmann war begraben.

Ein paar Tage darauf–es war ein Sonntag–ging ich, von meiner psychologischen Neugierde getrieben, in die Wohnung des Fleischers und nahm zum Vorwande, daß ich die Geige des Alten als Andenken zu besitzen wünschte. Ich fand die Familie beisammen ohne Spur eines zurückgebliebenen besondern Eindrucks. Doch hing die Geige mit einer Art Symmetrie geordnet neben dem Spiegel und einem Kruzifix gegenüber an der Wand. Als ich mein Anliegen erklärte und einen verhältnismäßig hohen Preis anbot, schien der Mann nicht abgeneigt, ein vorteilhaftes Geschäft zu machen. Die Frau aber fuhr vom Stuhle empor und sagte: „Warum nicht gar! Die Geige gehört unserem Jakob, und auf ein paar Gulden mehr oder weniger kommt es uns nicht an!“ Dabei nahm sie das Instrument von der Wand, besah es von allen Seiten, blies den Staub herab und legte es in die Schublade, die sie, wie einen Raub befürchtend, heftig zustieß und abschloß. Ihr Gesicht war dabei von mir abgewandt, so daß ich nicht sehen konnte, was etwa darauf vorging. Da nun zu gleicher Zeit die Magd mit der Suppe eintrat und der Fleischer, ohne sich durch den Besuch stören zu lassen, mit lauter Stimme sein Tischgebet anhob, in das die Kinder gellend einstimmten, wünschte ich gesegnete Mahlzeit und ging zur Türe hinaus. Mein letzter Blick traf die Frau. Sie hatte sich umgewendet, und die Tränen liefen ihr stromweise über die Backen.

Der Traum ein Leben

Franz Grillparzer

Der Traum ein Leben

Dramatisches Märchen in vier Aufzügen

Personen:

Massud, ein reicher Landmann
Mirza, seine Tochter
Rustan, sein Neffe
Zanga, Negersklave
Der König von Samarkand
Gülnare, seine Tochter
Der alte Kaleb

(stumm)

Karkhan
Der Mann vom Felsen
Ein altes Weib
Ein Königlicher Kämmerer
Ein Hauptmann
Erster und Zweiter Anführer
Eine Dienerin Gülnarens
Gefolge und Kämmerlinge des Königs
Frauen und Dienerinnen Gülnarens
Zwei Verwandte Karkhans
Zwei Knaben. Diener. Krieger. Volk (beiderlei Geschlechts)
Erster Aufzug

(Ländliche Gegend mit Felsen und Bäumen. Links im Vorgrunde eine Hütte. Neben der Tür eine Bank. Sommerabend. Hörnertöne erschallen aus der Ferne.)

Mirza (kommt aus der Hütte).
Horch! War das nicht Hörnerschall?
Ja, er ist’s! Er kommt! Er naht!
Doch so spät erst!–Warte, Wilder,
Du sollst mir’s fürwahr entgelten!
Unerbittlich will ich sein,
Schmollen will ich, zürnen, schelten,
Und nur spät–erst spät verzeihn.
Ja, verzeihn! Das ist es eben,
Darin liegt das Maß des Unglücks.
Oh, man sollte grollen können,
Grollen, so wie andre fehlen,
Lang und unabänderlich,
Daß Verzeihung Preis der Beßrung
Und nicht Lohn des Fehlers schiene.
Denn es ist fürwahr nicht billig,
Daß die Strafe der Beleid’gung
Nicht einmal so lange währe,
Ach, als der Beleid’gung Schmerz.
Könnt‘ ich trotzig sein, wie er,
Oh, ich weiß, er wäre milder.
Doch wo bleibt er? Dort herüber
Schien des Hornes Ton zu kommen.

(Zurücktretend und nach allen Seiten blickend.)

Dort vom Hügel steigt ein Mann
Mit des Weidwerks Raub beladen.
Ob er’s ist?–Die Sonne blendet.
Scheidend an der Berge Saum,
Schüttet sie, in Glut versunken
Ihres Brandes letzte Funken
Durch die abendliche Flur
Auf des späten Wandrers Spur.
Jetzo wendet er das Antlitz!
Rustan!?–Armes, oft getäuschtes Herz!
Wohl ein Jäger schreitet her,
Rasch beflügelnd seine Schritte,
In der lauten Doggen Mitte,
Wohl ein Jäger, doch nicht er.
Trage, wunder Busen, trage,
Bist des Tragens ja gewohnt!

(Setzt sich.)

(Abend) ist’s, die Schöpfung (feiert),
Und die Vögel aus den Zweigen,
Wie beschwingte Silberglöckchen,
Läuten aus den Feier(abend),
Schon bereit, ihr süß Gebot,
Ruhend, selber zu erfüllen.
Alles folgt dem leisen Rufe,
Alle Augen fallen zu;
Zu den Hürden zieht die Herde,
Und die Blume senkt in Ruh‘
Schlummerschwer das Haupt zur Erde.
Ferneher vom düstern Osten
Steigt empor die stille Nacht;
Ausgelöscht des Tages Kerzen,
Breitet sie den dunkeln Vorhang
Um die Häupter ihrer Lieben
Und summt säuselnd sie in Schlaf.
Alles ruht, nur er allein
Streift noch durch den stillen Hain,
Um in Berges dunkeln Schlünden,
Was er hier vermißt zu finden.
Und mich martert hier die Sorge,
Und mich tötet hier die Angst.
Jener Jäger, Kaleb ist’s,
Sieh, sein Weib eilt ihm entgegen
Mit dem Kleinen an der Brust.
Wie er eilt sie zu erreichen!
Und der Knabe streckt die Hände
Jauchzend nach dem Vater aus.
Ihr seid glücklich!–Ja, ihr seid’s!

(Sie versinkt in Nachdenken.)
(Massud kommt aus der Hütte.)

Massud.
Mirza!

Mirza.
Rustan!

Massud.
Ich bin’s, Mirza!
Mädchen, lässest du den Vater
In der Dämmrung so allein?

Mirza.
Ach, verzeiht, ich wollte sehen–

Massud.
Ob er komme?

Mirza.
Ach, ja wohl.

Massud.
Nun, und–?

Mirza.
Keine Spur.

Massud.
’s ist spät.

Mirza.
Nacht beinahe. Alle Jäger
Ringsum aus der ganzen Gegend
Sind zurück schon von den Bergen.
Glaubt mir, denn ich kenne alle,
Die in jenen Bergen jagen,
Muß ich sie nicht täglich zählen,
Wenn den letzten ich erwarte?
Alle Jäger sind zurück,
Er allein streift noch im Dunkeln.

Massud.
Ja, fürwahr, ein wilder Geist
Wohnt in seinem düstern Busen,
Herrscht in seinem ganzen Tun
Und läßt nimmerdar ihn ruhn.
Nur von Kämpfen und von Schlachten,
Nur von Kronen und Triumphen,
Von des Kriegs, der Herrschaft Zeichen
Hört man sein Gespräch ertönen;
Ja, des Nachts, entschlummert kaum,
Spricht von Kämpfen selbst sein Traum.
Während wir des Feldes Mühn
Und des Hauses Sorge teilen,
Sieht man ihn bei Morgens Glühn
Schon nach jenen Bergen eilen.
Dort, nur dort im düstern Wald
Ist des Rauhen Aufenthalt,
Du bist, alles ist vergessen,
Und es scheint ihm hohe Lust,
Mal die Wildheit seiner Brust
An des Waldes Wild zu messen.
Das ist ein unselig Treiben!
Ich beklage dich, mein Kind.

Mirza.
Scheltet drum ihn nicht, mein Vater!
War er doch nicht immer so.
Oh, ich weiß wohl eine Zeit,
Wo er sanft war, fromm und mild,
Wo er stundenlange saß
Auf dem Grund zu meinen Füßen,
Bald des Hauses Arbeit teilend,
Bald ein Märchen mir erzählend,
Bald–o glaubt mir, lieber Vater,
Er war damals sanft und gut.
Hat er seither sich verändert,
Ei, er kann sich wieder ändern
Und er wird’s, gewiß, er wird’s.

Massud.
Wähnst du mich zu überzeugen,
Und kannst es dich selber nicht?

Mirza.
Glaubt, mein Vater, dieser Sklave,
Zanga, er trägt alle Schuld.
Seit er trat in unsre Hütte,
Seit erklang sein Schmeichelwort,
Floh die Ruh‘ aus unsrer Mitte
Und aus Rustans Busen fort.
Rustan, wahr ist’s, schon als Knabe
Horcht‘ er gerne großen Taten,
Übt‘ er gerne Ungewohntes,
Wollt‘ er gerne was er kann,
Wär‘ das schlimm? Er ist ein Mann.
Stets doch hielt er die Gedanken
In des Hauses frommen Schranken
Und gebot dem raschen Mut.
Zanga kam. Sein Hauch, verstohlen,
Blies die Asche von den Kohlen
Und entflammte hoch die Glut.
Oh, ich habe sie belauscht!
Oft, wenn Rustan mir versprochen,
Nicht zu gehen nach den Bergen,
Und er still und ruhig saß;
Da trat Zanga vor ihn hin,
Und von Schlachten hört‘ ich’s tönen,
Und von Kämpfen und von Siegen.
Hoch empor und immer höher
Stieg die Glut in Rustans Wangen,
Jede seiner Fibern zuckte,
Und die Hände ballten sich;
Aus den tiefgezognen Brauen,
Schossen Blitze wilden Feuers,
Und zuletzt–
da sprang er auf,
Langte von der Wand den Bogen,
Warf den Köcher um den Nacken,
Und hinaus–hinaus zum Walde!

Massud.
Armes Kind! und achtet nicht,
Hart und sorglos, der Verkehrte!
Deines Kummers, deiner Angst.

Mirza.
Angst? Warum denn Angst, mein Vater?
Oh, ich weiß, der starke Rustan
Kennt nicht Furcht und nicht Gefahr.
Dann ist Zanga ja mit ihm.

Massud.
(Doch) nur zwei.

Mirza.
Er zählt für viele.

Massud.
In der Nacht–

Mirza.
Er kennt den Pfad.

Massud.
Wie so leicht ein wildes Tier–

Mirza.
Oh, es (flieht) das Wild den Jäger!

Massud.
Oder gar–

Mirza.
Was, Vater, was?
Sprecht es aus und tötet mich!

Massud.
Armes Kind, das ist dein Los,
Wenn dich, wie ich sonst wohl dachte,
Einst an ihn ein festres Band–

Mirza.
Vater, es wird kühl, wir wollen
In die Hütte doch zurück.
Eh‘ wir’s denken, kommt auch er.

Massud.
Nun, so sei’s denn, wie es ist!
Die dort oben mögen walten.
Was ihn heut zurückehält,
Denk ich wohl beinah zu wissen.

Mirza.
Wie? Ihr wißt? O sprecht!

Massud.
Dein Derwisch,
Der besorgte fromme Mann,
Der dort haust in jenem Walde,
Sandte kaum nur schnelle Botschaft,
Mir zu melden, daß man sage,
Rustan habe Streit erhoben
Auf der Jagd mit einem Weidmann.

Mirza.
Streit? Mit wem?

Massud.
Mit Osmin, heißt es,
Unsers Emirs ältstem Sohn,
Der am Hof zu Samarkand
In des Königs Kammer dienet,
Und, mit Urlaub bei dem Vater,
Sich den Jägern beigesellt.
Rustan schlug nach ihm und–

Mirza.
Mehr noch?

Massud.
Und sie griffen zu den Waffen.

Mirza.
Waffen?

Massud.
Doch man schied sie schnell,
Und der Streit ward ausgetragen.

Mirza.
Doch vielleicht–

Massud.
Sei ruhig, Kind!
Osmin ist schon heimgekehrt
Und nichts weiter zu besorgen.
Aber Rustan ahnet wohl,
Daß mir Kunde seiner Raschheit,
Und er scheut, mir zu begegnen.
Kaum wird’s vollends Nacht, so schleicht er,
Seines Oheims Blick vermeidend,
Leise wohl in sein Gemach.
Darum, Mirza, laß uns gehn;
Unsre Gegenwart, bedünkt mich,
Hielt ihn wohl so lange fern.

Mirza.
Und Ihr zürnt ihm?

Massud.
Sollt‘ ich nicht?
Siehst du mich schon flehend an?
Oh, ich weiß wohl, jedes Wort,
Tadelnd, rauh zu ihm gesprochen,
Wie ein Pfeil aus schwachen Händen,
Prallt von seinem starren Busen
Und dringt in dein weiches Herz.
Komm nur, komm! Ich will nicht schelten.

(Beide in die Hütte ab.)
(Pause. Dann schleicht Zanga, nach allen Seiten umherspähend, herein.)

Zanga.
Kommt nur, Herr! die Luft ist rein!

(Rustan tritt auf mit Bogen und Köcher.)

Zanga.
Munter, Herr! was soll das heißen?
Warum düster und beklommen?
Was ist Arges denn geschehn?
Daß Ihr einem platten Jungen,
Der recht unverständig prahlte,
Euch zu höhnen sich erfrechte,
Etwas unsanft mitgespielt,
Das ist alles. Und was weiter?
Euer Oheim wird wohl schelten;
Sei es drum! Gönnt ihm die Lust.

Rustan.
Glaubst du, daß ich seine Worte,
Seines Tadels Ausbruch scheue?
Nimmer brauch ich zu erröten,
Was ich tat, kann ich vertreten;
Könnt‘ ich’s nicht, ich wär‘ nicht hier.
Nicht der Schmerz, den mir sein Zürnen,
Der, den es ihm selber kostet,
Macht mich seinen Anblick fliehn.
Könnt‘ er all doch seine Sorge,
Seine Angst um mich, mit einem,
Einem Feuergusse strömen
Auf dies unverwahrte Herz,
Und dann kalt und ruhig bleiben
Bei des Wilden Tun und Treiben,
Hier! er kühle seinen Schmerz.
Aber, daß ich sehen muß,
Wie der Nahverwandten Wünsche,
Gleich entzügelt wilden Pferden,
Nord- und südenwärts gespannt,
An dem Leichnam unsers Friedens,
Raschgespornt, zerfleischend reißen;
Daß ich sehe, wie wir beide,
Bürgern gleich aus fremden Zonen,
Bang uns gegenüberstehn,
Sprechen und uns nicht begreifen,
Einer mit dem andern zürnend,
Ob gleich Lieb‘ in beider Herzen,
Weil, was Brot in einer Sprache,
Gift heißt in des andern Zunge,
Und der Gruß der frommen Lippe
Fluch scheint in dem fremden Ohr:
Das ruft diesen Schmerz empor.

Zanga.
Nun, so lernt denn seine Sprache,
Er wird Eure nimmer lernen!
Und wer weiß? An Lektionen
Läßt’s der alte Herr nicht fehlen.
Bleibt im Land und nährt Euch redlich!
Auch die Ruhe hat ihr Schönes.

Rustan.
Spotte nicht! Denk an Osmin!
Gleicher Lohn harrt gleicher Frechheit.
Ha, bei Gott! Es soll kein Prahler
Trotzig vor mich hin sich stellen
Und mich mit den Augen messen,
Den verschämten, keuschen Degen
Wiegend auf den glatten Schenkeln.
Er soll’s nicht, wenn nicht sein Kopf
Härter ist als Osmins Schädel,
Tücht’ger ist als diese Faust.
Bin ich nichts, ich kann noch werden,
Rasch und hoch ist Heldenbrauch;
Was ein andrer kann auf Erden,
Ei, bei Gott! das kann ich auch.

Zanga.
Herr, Ihr sprecht nach meinem Herzen.

Rustan.
Wie so schal dünkt mich dies Leben,
Wie so schal und jämmerlich!
Stets das Heute nur des Gestern
Und des Morgen flaches Bild.
Freude, die mich nicht erfreuet,
Leiden, das mich nicht betrübt,
Und der Tag, der stets erneuet,
Nichts doch als sich selber gibt.
Oh, wie anders dacht‘ ich’s mir
In entschwundnen, schönern Tagen!

Zanga.
’s ist auch anders, muß ich sagen.
Nur Geduld! es wird schon kommen.
Zeit tut alles, Zeit und Mut.
Jener Fürst von Samarkand,
Den Osmin als Herrn genannt,
War, wie Ihr, des Dorfes Sohn,
Jetzt von Macht und Glanz umgüldet;
Ihr seid aus demselben Ton,
Aus dem Glück die Männer bildet
Für den Purpur, für den Thron.

Rustan.
Oh, es mag wohl herrlich sein,
So zu stehen in der Welt
Voll erhellter, lichter Hügel,
Voll umgrünter Lorbeerhaine,
Schaurig schön, aus deren Zweigen,
Wie Gesang von Wundervögeln,
Alte Heldenlieder tönen,
Und vor sich die weite Ebne,
Lichtbestrahlt und reich geschmückt,
Die zu winken scheint, zu rufen:
Starker, nimm dich an der Schwachen!
Kühner, wage! Wagen siegt!
Was du nimmst, ist dir gegeben!
Sich hinabzustürzen dann
In das rege, wirre Leben,
An die volle Brust es drücken,
An sich und doch unter sich:
Wie ein Gott, an leisen Fäden
Trotzende Gewalten lenken,
Rings zu sammeln alle Quellen,
Die, vergessen, einsam murmeln,
Und in stolzer Einigung,
Bald beglückend, bald zerstörend,
Brausend durch die Fluren wälzen.
Neidenswertes Glück der Größe!
Welle kommt und Welle geht,
Doch der Strom allein besteht.

Zanga.
Recht! Der Strom allein besteht.

Rustan.
Schon mein Vater war ein Krieger,
Meines Vaters Vater auch,
Und so fort durch alle Grade.
Ihr Blut pocht in diesen Adern,
Ihre Kraft stählt diese Faust,
Und ich soll hier müßig träumen,
Schauen, wie sich jedermann
Lorbeern pflückt vom Feld der Ehre,
Früchte bricht vom Lebensbaum,
Und mich selbst zur Ruh‘ verdammen?

Zanga.
Ihr sollt nicht! beim Himmel, nicht!
Wenn Ihr wollt, ei, Herr, so handelt!
Ja, wenn die da drin nicht wären!
Dieser Oheim, diese Muhme
Hängen Euch wie schwere Fesseln–

Rustan.
Laß uns von was anderm sprechen!
Von was anderm, Zanga.

Zanga.
Seht Ihr?
Da kommt Euer weiches Herz,
Und der Vorsatz ist zum Henker.
Oh, daß ich Euch draußen hätte,
Draußen aus dem dumpfen Tale,
Auf den Höhen, auf den Gipfeln,
In der unermeßnen Welt!
Herr, Ihr solltet anders sprechen!
Seht nur erst ein Schlachtgefild‘,
Hört nur erst Trompeten klingen,
Und es soll Euch Kraft durchdringen,
Wie sie diese Adern füllt.
Herr, ich war mal auch so wählig,
Als ich, freilich jung genug,
Meine ersten Waffen trug.
Ging im Kopf mir hin und her,
War das Herz mir zentnerschwer;
Als es hieß: dem Feind entgegen!
Schlug’s da drin mit harten Schlägen,
Und die Nacht
Vor der Schlacht
Ward gar bange zugebracht.
Doch beim ersten Sonnenstrahl
Ward mir’s klar mit einem Mal.
Ha! da standen beide Heere,
Zahllos, wie der Sand am Meere,
Still und stumm
Weit hinum,
Düster, wie das Nebelgrauen,
Das noch lag auf Feld und Auen.
Durch den Duftqualm sah man’s blitzen
Von dem Strahl der Eisenspitzen,
Und als jetzt der Nebel wich,
Zeigte Roß und Reiter sich,
Da fühlt‘ ich mein Herz sich wandeln,
Jeder Zweifel war besiegt,
Klar ward’s, daß im Tun und Handeln,
Nicht im Grübeln ’s Leben liegt.
Und als nun erschallt das Zeichen,
Beide Heere sich erreichen,
Brust an Brust,
Götterlust!
Herüber, hinüber,
Jetzt Feinde, jetzt Brüder
Streckt der Mordstahl nieder.
Empfangen und geben,
Der Tod und das Leben
Im wechselnden Tausch,
Wild taumelnd im Rausch.
Die Lüfte erschüttert,
Die Erde zittert
Von Pferdegestampf,
Laut toset der Kampf.
Die Gegner, sie wanken,
Die Gegner, sie weichen,
Wir, mutig und jach
Den Fliehenden nach,
Über Freundes und Feindes Leichen.
Jetzt auf weitem Feld
Der Würger hält,
Überschaut die gefallenen Ähren,
Doch kann er der Freude nicht wehren.
Sieg, rufet es, Sieg!
Herr, das heißt leben! Es lebe der Krieg!

Rustan.
Oh, halt ein! Du tötest mich!

Zanga.
Wenn so ein Gefangener,
Ein Verkaufter spricht, ein Sklave,
Was muß erst–doch still! Genug!

(Er zieht sich zurück.)
(Mirza kommt aus der Hütte.)

Mirza.
Rustan!

Rustan.
Ha, man kömmt!

Mirza.
Du bist es!
Konntest du so lange weilen?
Oh, wir zitterten um dich.

Rustan.
Ist es denn so ungewöhnlich?

Mirza.
Ungewöhnlich? Das wohl nicht,
Aber schmerzlich drum nicht minder.
Sag ich mir gleich jeden Morgen:
Spät erst wird er wiederkehren,
Hoff ich dich doch immer früh;
Und der Wunsch und die Erwartung
Sind gar reich an Möglichkeiten.
Weil du ruhig bist und sorglos,
Glaubst du denn, wir wären’s auch?
Immer fließen meine Tränen,
Was auch die Erfahrung spricht;
Für den Mut gibt’s ein Gewöhnen,
Aber für die Sorge nicht.
Warum wendest du dich ab?

Rustan.
Horch! Mich dünkt, dein Vater ruft.

Mirza.
Ich soll gehn? Oh, komm du mit!
Du bist heiß, die Nachtluft kühl,
Und der müde Fuß will Ruhe.

Rustan.
Laß nur! Hier–

Mirza.
Nicht doch! Du sollst!
In der Hütte ruht sich’s besser
Und das Abendessen wartet.
Komm! Der Vater zürnt nicht mehr,
Alles ist vergessen.–Komm!

(Mit Rustan in die Hütte ab.)

Zanga.
Deut mir eins der Liebe Werke,
Ob Verlust sie, ob Gewinn?
Gibt dem Weibe Männerstärke
Und dem Manne–Weibersinn!
Sei’s! Man muß nicht gleich
verzweifeln!

(Er folgt ihnen.)

(Das Innere der Hütte. Im Mittelgrunde ein Tisch mit den Resten einer Abendmahlzeit und Licht, an dessen einem Ende Massud nachdenklich sitzt. Rechts im Hintergrunde ein Ruhebett. Mirza führt Rustan herein; bald nach ihnen Zanga.)

Mirza.
Hier ist Rustan, lieber Vater,
Seht, er hatte sich verirrt.
Wo?–Ei gleichviel! Er ist hier.
Ja, die Wege dort im Walde
Sind verworren und verschlungen;
Bricht der Abend noch herein,
Braucht es Glück, den Pfad zu finden.
Nun, er fand ihn, Dank dem Himmel!
Künftig eilt er wohl ein wenig,
Sieht er sich die Sonne neigen. Setze dich!

(Da Rustan neben dem Alten niedersetzen will, sich zwischen beide drängend.)

Nicht hier! Nein dorthin!
Ich muß bei dem Vater sitzen.
Seht doch! ’s ist mein Ehrenplatz.

(Rustan setzt sich an das andere Ende des Tisches.)

Massud (sanft, doch ernst).
Rustan!

Mirza (rasch einfallend).
Vater, könnt Ihr’s glauben?
Racha, unsre Magd will wissen–

Massud.
Liebe Tochter!

Mirza.
Wollt Ihr Wein?

Massud.
Gönne mir ein Wort mit ihm!
Nur ein Tor verhehlt den Brand;
Wir, mein Kind, wir wollen löschen.

Mirza.
Ihr verspracht mir–

Massud.
Fürchte nichts!
Doch es muß einmal zur Sprache.
Sohn, seit lange schon bemerk ich,
Daß du unsern Anblick meidest.
Die Bewohner dieses Hauses
Und ihr stilles Tun und Treiben
Scheint dir nicht mehr zu gefallen.
Auf den Bergen ist dein Lager,
In den Wäldern deine Wohnung,
Und das Heulen wilder Tiere,
Sturmbewegter Bäume Dröhnen
Scheint dir lieblicher zu tönen,
Als der Nahverwandten Wort.
Rauh und düster ist dein Wesen,
Zank und Hader dein Geschäft.
Heute nur, ich hab’s vernommen,
Daß du mit Osmin im Walde
Streit erregt.

Zanga (der sich um den Tisch beschäftigt hat, einfallend).
Erregt? Mit Gunst,
Das kann ich Euch besser sagen.

Massud.
Du?

Zanga.
Ich hab’s mit angesehn.

Massud.
Hüte dich!

Zanga.
Ei, wahr ist wahr!
Und erlaubt Ihr, so erzähl ich’s.

Mirza.
Hört ihn Vater, mir zulieb!

Zanga.
Mittag war es, und die Jäger,
Von der Arbeit Last zu ruhn,
Kamen alle, wie sie pflegen,
Auf dem Wiesengrund zusammen,
Um am Rand der klaren Quelle
Mit des Weidsacks kargem Vorrat
Und Gespräch sich zu erlaben.
Unter ihnen war Osmin,
Ein verwöhnter trotz’ger Junge,
Der von Öl und Salben duftet,
Wie ’nes Blumenhändlers Laden.
Der tat denn gar breit und vornehm,
Sprach von seinen Heldentaten,
Seinem Glücke bei den Weibern,
Wie des Königs Tochter selber
Bei der Tafel nach ihm schiele,
Und was denn des Zeugs noch mehr.
Meinem Herrn dort stieg die Röte
Ungeduldig ins Gesicht,
Doch, ob kochend, dennoch schwieg er.
Aber als Osmin nun fortfuhr,
Daß der Fürst von Samarkand,
Hart bedrängt von Feindeshand,
Seine Tochter und ihr Erbe,
Seines weiten Reiches Krone
Gerne gönnte dem zum Lohne,
Der ihn rette aus der Not,
Und mein Herr, von Glut ergriffen,
Angeregt von dem Gedanken,
Solcher Tat und solchen Lohns,
Aufsprang und voll Eifer fragte:
Wo der Weg nach Samarkand?
Da schlug Osmin auf ein Lachen,
Und vor Rustan hin sich stellend,
Rief er aus: „Ei, welch ein Helfer!
Heil dir, Fürst von Samarkand!
Guter Freund, bleibt fein zu Hause,
Hinterm Pfluge zeigt die Kraft!“
Da–

Rustan (aufspringend).
Bei Gott! ich mag’s nicht denken,
Daß er lebt, der das gesagt!

Massud.
Sohn, nur ruhig!

Rustan.
Ruhig? Ich?
Und fürwahr, hat er nicht recht?
Was hab ich getan noch, um mich
Solchen Werks zu unterwinden?
Er hat recht, hat heute recht,
Morgen nicht mehr, leb ich noch.
Oheim, gebt mir Urlaub!

Massud.
Wie?

Rustan.
Seht, mich duldet’s hier nicht länger.
Diese Ruhe, diese Stille,
Lastend drückt sie meine Brust.
Ich muß fort, ich muß hinaus,
Muß die Flammen, die hier toben,
Strömen in den freien Äther,
Drücken diesen heißen Busen
An des Feindes heiße Brust,
Daß er in gewalt’gem Anstoß
Breche, oder sich entlade;
Muß der auf geregten Kraft
Einen würd’gen Gegner suchen,
Eh‘ sie gen sich selber kehrt
Und den eignen Herrn verzehrt.
Seht Ihr mich verwundert an?
„Nur ein Tor verhehlt den Brand“,
Spracht Ihr selber, laßt mich löschen.
Gebt mir Urlaub und entlaßt mich.

Massud.
Wie, du wolltest–?

Rustan.
Was ich muß.

Massud.
Und denkst nicht–?

Rustan.
’s ist bedacht.

Massud.
So vergiltst du unsre Liebe?

Rustan.
Nimmer sie hinfür mißbrauchen,
Das ist alles, was ich kann.

Massud.
Rauh und dornicht ist der Pfad.

Rustan.
Sei es! Führt er nur zum Ziele.

Massud.
Und das Ziel, es ist verderblich.

Rustan.
Also sagt man. Ich will’s kennen.
Was man weiß, befriedigt nur.

Massud.
Diese, mich willst du verlassen?

Rustan.
Lange nicht, kehr ich zurück
In der Teuern liebe Mitte,
Teile wieder eure Hütte,
Oder ihr mit mir mein Glück.

Mirza.
Rustan!

Rustan.
Mirza! Ich verstehe.
Doch wir sehen uns ja wieder,
Doppelt glücklich, doppelt froh.

Massud.
Magst du ihre Tränen schauen
Und dich kalt–

Rustan.
Ich kann nicht anders.

Massud.
Wisse denn nun auch das Letzte:
Diese hier, sie liebt dich.

Rustan.
Mirza!
Hier auch–doch es ist beschlossen!
Niemals, oder deiner wert!

Mirza.
Rustan!

Massud.
Halt! So meint‘ ich’s nicht!
Kann er deiner, Kind, entraten,
Massuds Tochter bettelt nicht.
Zieh denn hin, Verblendeter,
Ziehe hin! und mögest du
Nie der jetz’gen Stunde fluchen.

Rustan.
Heute noch?

Massud(sich abwendend).
Sobald du willst.

Rustan.
Zanga, nach den Pferden!

Zanga.
Gern!

Massud.
Wozu diese hast’ge Eile?
Halt! Es ist jetzt dunkle Nacht.
Ungebahnet sind die Pfade
Und gefahrvoll jeder Schritt.
Davor wahr ich dich zum mindsten.
Schlaf noch einmal hier im Hause,
Denk noch einmal, was du willst,
Trifft der Tag dich gleichen Sinnes,
Nun, wohlan, so ziehe hin!
Mirza, komm! wir lassen ihn.

Mirza.
Vater! nur dies einz’ge Wort.
Rustan, jener alte Derwisch,
Der dort wohnt in nahen Bergen
Und den du, ich weiß, nicht liebst,
Ja, kaum einmal wolltest sehen,
Während er besorgt um dich:
Er versprach mir, heut zu kommen,
Und nur erst glaubt‘ ich zu hören
Seines Saitenspieles Ton,
Das er führt auf allen Wegen.
Oh, versprich mir, eh‘ du scheidest,
Ihn zu hören, ihn zu sprechen;
Erst, wenn fruchtlos, zieh mit Gott.

Rustan.
Und wozu?

Mirza.
Die letzte Bitte!

Rustan.
Kommt er morgen früh genug,
Mag er wie die andern sprechen.

Massud.
Nun zur Ruh‘! Laß ihn sich selbst.
Jedem Sprecher fehlt die Sprache,
Fehlt dem Hörenden das Ohr.
Gute Nacht denn!

(Er geht mit Mirza.)

Mirza.
Rustan!

Rustan.
Zanga!
Morgen früh die Pferde!

Zanga.
Wohl!

(Er folgt den beiden. Alle drei ab.)

Rustan.
Sie sind fort!–Es pocht doch ängstlich!
Sie ist gar zu lieb und gut.–
Ob auch!–Fort!–Ich bin erhört,
Und was lang als Wunsch geschlummert,
Tritt nun wachend vor mich hin.
Seid gegrüßt, ihr holden Bilder,
Seid mit Jubel mir gegrüßt!
Ich bin müd, die Stirne drückt,
Mattigkeit beschleicht die Glieder.

(Nach dem Lager blickend.)

Nun, wohlan! Noch einmal ruhn
In dem dumpfen Raum der Hütte,
Kräfte sammeln künft’gen Taten,
Dann befreit auf immerdar.

(Er sitzt auf dem Ruhebette, Harfenklänge erklingen von außen.)

Horch! Was ist das? Harfentöne?
Wohl der alte Klimprer nah?

(In halb liegender Stellung, mit dem Oberleibe aufgerichtet. Er spricht die Worte des Gesanges nach, die sich jetzt mit den Harfentönen verbinden.)

„Schatten sind des Lebens Güter,
Schatten seiner Freuden Schar,
Schatten Worte, Wünsche, Taten;
Die Gedanken nur sind wahr.
Und die Liebe, die du fühlest,
Und das Gute, das du tust,
Und kein Wachen als im Schlafe,
Wenn du einst im Grabe ruhst.“
Possen! Possen! Andre Bilder
Werden hier im Innern wach.

(Er sinkt zurück. Die Harfentöne währen fort.)

König! Zanga! Waffen! Waffen!
(Mehrstimmige leise Musik greift in die Harfentöne ein. Zu des Bettes Häupten und Füßen tauchen zwei Knaben auf. Der eine, buntgekleidet, mit verlöschter Fackel, der zweite in braunem Gewande mit brennender. Über Rustans Bette hin nähern sie einander die Fackeln. Die des Buntgekleideten entzündet sich, der Dunkle
verlöscht die seine gegen die Erde.)
(Da öffnet sich die Wand des Hintergrundes. Wolken verhüllen die Aussicht. Sie heben sich. Die Gegend, in der der zweite Akt spielt, wird sichtbar, von Schleiern bedeckt. Auch diese schwinden. Ein erster, ein zweiter. Die Gegend liegt offen da. Neben dem im Vorgrunde stehenden Palmbaum hebt sich in weiten Ringen eine große goldglänzende Schlange, bis zu seinen untersten Blättern hinanstrebend nach und nach empor. Rustan macht eine Bewegung im Schlafe.)

(Der Vorhang fällt.)
Zweiter Aufzug

(Waldgegend. Im Hintergrunde Felsen, die ein Bergstrom trennt und eine Brücke verbindet. Rechts im Vorgrunde ein vereinzelt stehender Fels, an dessen nach vorn gekehrter Seite ein Springquell und daneben eine Moosbank. Gegenüber links eine einzelne Palme.)
(Rustan und Zanga kommen.)

Rustan.
Freiheit! Ha, mit langen Zügen
Schlürf ich deinen Äther ein.
In des Morgens Purpurschein
Seh ich deine Banner fliegen,
Die auf Höhn, am Himmelszelt
Weit umher du aufgestellt;
Allen Lebenden ein Zeichen
In der Schöpfung weiten Reichen.
Freiheit! Atem der Natur,
Zeiger an der Weltenuhr,
Alles Großen Wieg‘ und Thron,
Nimm ihn auf, den neuen Sohn;
Laß mein Stammeln dir gefallen,
Die du Mutter bist von allen!

Zanga.
Herr, und jetzt genug geschwärmt.
Nun laßt uns von Nöt’germ sprechen.

Rustan.
Nötig? Nöt’germ? Oh, nicht denken,
Laß mich fühlen jetzo noch!
Nicht mehr in dem Qualm der Hütte,
Eingeengt durch Wort und Sorge,
Durch Gebote, durch Verbote;
Frei, mein eigner Herr und König.
Wie der Vogel aus dem Neste,
Nun zum erstenmal versuchend
Die noch ungeprüften Flügel.
Schaudernd steht er ob dem Abgrund,
Der ihn angähnt. Wagt er’s? Soll er?
Er versucht’s, er schlägt die Schwingen–
Und es trägt ihn, und es hebt ihn.
Weich schwimmt er in lauen Lüften,
Steigt empor, erhebt die Stimme,
Hört sich selbst mit eignen Ohren,
Und ist nun erst, nun geboren.
Also fühl ich mich im Raume;
Möcht auf alle Berge steigen,
Möcht aus allen Quellen trinken,
Laub und Bäume möcht ich grüßen,
Bin ein Mensch erst und ein Mann.

Zanga.
Sprecht nur zu, ’s hat keine Eile,
Ich erfrische mich derweile.

(Er setzt sich.)

Rustan.
Zanga, nein! Nicht ruhn, nicht rasten,
Bis begonnen unser Werk.

Zanga.
Unser Werk? So wollt Ihr also
Handeln, prüfen, denken, trachten?

(Er steht auf.)

Nun, da bin ich Euch zu Dienst.

Rustan.
Fort, und auf nach Samarkand!
Oben nur von jenen Hügeln
Sah in seiner Türme Brand
Ich die Sonne strahlend spiegeln,
Wir sind dort, eh‘ sie entschwand.

Zanga.
Nur so zu, und auf gut Glück?
Herr, um selig einst zu sterben,
Denkt bei allem mir ans Ende;
Doch wollt Ihr, ein Tücht’ger, leben,
So erwägt und prüft den Anfang,
Denn das Ende kommt von selber.
Tretet ein bei Unbekannten,
Herr, und strauchelt auf der Schwelle,
Bleibt Ihr Meister Ungeschickt,
Sprächt Ihr, wie die sieben Weisen;
Freunde, die’s beim Becher wurden,
Lachen auf aus voller Kehle,
Sehn sie sich nach Jahren wieder;
Und die Braut, gefreit in Tränen,
Folgt mit Seufzern Euch durchs Leben.
Unsre Neigungen, Gedanken,
Scheinen gleich sie ohne Schranken,
Gehn doch, wie die Rinderherde,
Eines in des andern Tritt.
Drum, bei allem, was Ihr macht,
Sei der Anfang reif bedacht.
Ihr geht nun nach Samarkand;
Da ist denn vor allem nötig,
Daß Ihr gleich als der erscheinet,
Der Ihr später denkt zu werden.
Euern Vater, lobesam,
Adeln wir nur gleich im Grabe,
Machen ihn zum Khan, zum Emir
Aus–Grusinien,–aus dem Monde.
So was hilft beim ersten Eintritt,
Und erreicht Ihr Eure Wünsche,
Deckt das andre der Erfolg.

Rustan.
Gut!

Zanga.
Ei, gut? Nu, das geht besser,
Als ich glaubte, als ich hoffte.
Euer Oheim, seine Hütte–

Rustan.
Arme Mirza!

Zanga.
Ja, weil arm,
Hindert sie ein reiches Wollen.
Ahmt mir nur nicht jene nach,
Die das nahe Gut verschmähen,
Aber unerhört, getrennt,–
Lichterloh, wie Wolle brennt,–
Heiß in Liebesglut vergehen.
Laßt das jetzt, und seid ein Mann!
Jener Fürst aus Samarkand
Ist gedrängt von seinem Feinde,
Von dem mächtgen Khan aus Tiflis,
Der um seine Tochter freite:
Ein verwöhntes, einz’ges Kind,
Das gar stolz und hochgesinnt,
Selbst den Gatten wählen möchte.
Ein geziertes, äff’ges Wesen,
Tat so was in Dichtern lesen.
Ich war erst in wirren Zweifeln,
Ob dem Stärkern, ob dem Schwachen
Zu vertrauen unsre Sachen;
Doch der Starke g’nügt sich selbst,
Und das Unglück macht erkenntlich.
Darum geht nach Samarkand,
Suchet Dienst in seinem Heere,
Und wenn an Entscheidungstagen
Ich Euch sage: losgeschlagen!
Stürzt dann in den Feind mit Macht,
Tief ins Herz der wilden Schlacht;
Augen zu, und links und rechts
Kreuzt die Blitze des Gefechts.
Fallt Ihr, war’s Euch so bestimmt;
Siegt Ihr, sprechen wir vom Lohne.
Mancher fand so eine Krone.

Rustan.
Also sei es, und so komm!

Zanga.
Herr, nur noch ein kleines Weilchen!
Auch der Körper will sein Recht.
Hier in meines Ränzels Weite
Führ ich Kost für mäß’ge Leute,
Erst getafelt, eins gezecht,
Dann hervor die besten Kleider,
Euch als Junker angetan!
So was hilft und fördert leider!
Drauf als wackrer Edelmann
Hin zur Stadt, dem Glücke nach;
Komme dann, was kommen mag!

Eine Stimme (hinter der Bühne).
Hilfe! Hilfe!

Zanga.
Horch, welch Rufen?

Stimme.
Hilfe! Hilfe!

Zanga.
Näher kommt’s.
Das beginnt mit Weh und Ach.
Abenteuer, seid ihr wach?

(Ein reichgekleideter Mann erscheint im Hintergrunde auf der Brücke. Er wird von einer nur je und dann auf Augenblicke sichtbaren Schlange verfolgt.)

König.
Keine Rettung! Hilft denn niemand?

(Er flieht über die Brücke und verschwindet auf Der linken Seite des Hintergrundes.)

Zanga.
Herr, den Speer nun angefaßt!
Rasch zum Wurf mit kluger Hast.

Der König (tritt fliehend vom Hintergrunde her links auf. Er eilt nach vorn, während Rustan rechts, Zanga links im Mittelgrunde sich gestellt haben).
Götter! Götter! Kein Erbarmen?

(Er sinkt besinnungslos am Felsensitze nieder.)

Zanga.
Werft und trefft!

Rustan (wirft den Speer nach dem noch nicht sichtbar gewordenen Untier).

Zanga.
Verfehlt! Nun, Herr,
Braucht die Beine, nehmt Euch Raum,
Ich erklettr‘ indes den Baum.

(Im Begriffe, die auf der linken Seite stehende Palme zu erklettern.)
(Während die Schlange links im Hintergrunde zum Teil sichtbar wird und Rustan nach dem Vorgrunde rechts flieht, erscheint auf dem daselbst vorspringenden Felsen ein Mann in einen braunen Mantel gehüllt mit gehobenem Wurfspieß.)

Der Mann auf dem Felsen.
Schlechte Schützen!

(Er wirft und heftet, durchbohrend, die Schlange an den Boden.)

Topp!

(Herablachend.)

Ha, ha!
Schlechte Schützen! lernt erst treffen!

(Verschwindet von der Höhe.)

Zanga (vom Baum herabsteigend).
Was war das?–He, liegt die Schlange?

Rustan.
Nicht durch mich.

Zanga.
Nu, desto schlimmer!
Und doch gut, daß sie nur liegt.

(Zu dem Hingesunkenen tretend.)

Herr, das ist ein reicher Mann!
Wohl ein Fürst, vielleicht ein König.
Zieltet besser Ihr ein wenig,
Zahlten Ehren Euch und Gold.

Rustan.
Wirst du, Glück, mir nimmer hold?

Zanga.
Seht die Perlen, das Geschmeide!–
Herr, und seid Ihr sicher auch,
Daß nicht Ihr, daß jener andre
Hingestreckt das grimme Tier?
Eure Lanze traf.

Rustan.
Nicht meine.

Zanga.
Und wo ist er, dieser andre?
Warum steigt er nicht hernieder,
Pflückt die Früchte seiner Tat?

(Gegen den Felsen emporrufend.)

Mann vom Felsen, Mann vom Berge,
Komm herunter, sprich mit uns!
Seht, er kommt nicht, war wohl nie.
Wo auch sollt‘ er sein und weilen?
Ringsherum auf viele Meilen
Kein Lebendiger als wir.

(Bei dem am Boden Liegenden.)

Hu, am Turban, seht, die Krone!
Ich verwette Hals und Hand,
’s ist der Fürst von Samarkand.
Täuschung, Augentrug das Ganze,
Herr, ich sah es, Eure Lanze
Streckte jenes Tier in Sand.

Rustan.
Der war’s, der am Felsen stand.

Zanga.
Nun, zum Henker! Noch einmal:
Mann vom Berge, komm herunter!
Zeige dich zu dieser Frist;
Sonst negier ich frisch und munter,
Leugne, daß du warst und bist.
Seht, er kommt nicht, seht, er war nie.
Schaut umher doch in der Runde,
Niemand kann sich da verbergen;
Rings der Felsen abgeschnitten,
Auf dem Felsen selber niemand.

Rustan.
Doch ich sah ihn.

Zanga.
Saht und seht!
Herr, Ihr hattet Furcht, gesteht!
Und der Schrecken, wild und wilder,
Zeigt gar sonderbare Bilder.
Hier ein Mann im Fürstenschmuck,
Leichenblaß in Sand gebettet,
Und Ihr seid’s, der ihn gerettet.
Nehmt die Gabe des Geschickes,
Und glaubt nur, der heut’ge Tag
Ist der Anfang unsers Glückes.

(Hörnerklang in der Ferne.)

Hört Ihr fernen Hörnerklang?
Zweifelt nur nicht ewig lang!
Ihr erlegtet jenes Tier;
Schoß ein andrer, schoßt auch Ihr.
Wir sind zwei hier gegen einen;
Wag er nur, es zu verneinen!

Der Gerettete (sich emporrichtend).
Hörnerschall!–Ha, und wo bin ich?

Zanga (zu Rustan).
Ha, nun gilt’s!

(Zum Fremden.)

Herr, unter Freunden.
Edler Fürst! vielleicht wohl mehr noch?
Hochgeehrt nach Rang und Stande.

Der Fremde (der aufgestanden ist).
Ich bin König dieser Lande.

Zanga (kniend).
Herr, dein Knecht–

(Rustan läßt sich in einiger Entfernung aufs Knie nieder.)

König.
Und jenes Tier?
Blutig, tot, liegt’s dort am Boden.
Meine Retter!

(Zu Zanga.)

Du?

(Auf Rustan zugehend.)

Nein, du!

Zanga.
Herr, Ihr habt es gut erraten!

(Auf Rustan zeigend.)

Jener war’s. Ein tücht’ger Wurf,
Stracks hinein durch Herz und Lungen,
Und es hatte ausgerungen.

Rustan.
Herr, verzeiht–

Zanga.
’s ist wohl verziehn!

Rustan.
Wenn noch Zweifel–

Zanga.
Ob wir leben?
Ob dort jenes tot genug?

(Leise.)

Nun, zum Henker, seid doch klug!

(Wiederholter Hörnerschall.)

König.
Ha, sie rufen, meine Lieben,
Suchend, wo ihr Hort geblieben.
Hier, Getreue! hier der Ort!

(Er geht in die Mitte der Bühne zurück, wo er, antwortend, in ein an seiner Hüfte hängendes Jagdhorn stößt.)

Rustan.
Zanga, komm, und laß uns fort!

Zanga.
Nach dem allen, Herr, und fliehn?
Jetzt, da unsre Bohnen blühn?

Rustan.
Nimmer sollst du mich berücken,
Mich mit fremder Tat zu schmücken.
Und doch könnt‘ ich’s auch nicht sehn,
Erst gepriesen, erst gehuldigt,
Zager Feigheit dann beschuldigt,
Einem andern nachzustehn.

(Nach wiederholtem Hörnerruf kommt nun das Gefolge des Fürsten. Gülnare, seine Tochter, an der Spitze.)

Gülnare.
Vater! Vater!

König.
Oh, mein Kind!

(Sie stürzen sich in die Arme.)

Zanga (zu Rustan).
Schaut nur, schaut! Seht halb Euch blind!
Gold und Spangen, Perlen, Kleider,
Seht der Hoheit Vollgewalt.

Rustan.
Zanga, jene Lichtgestalt,
Sich um seinen Nacken schmiegend,
Weich in Vaterarmen liegend.
Wie sie atmet, wie sie glüht,
Jede Fiber wogt und blüht.
Nun weist her auf mich sein Blick,
Danket mir der Rettung Glück.
Zanga, nun nicht mehr zurück!
Wär’s am Rand mit meinen Tagen;
(Ich) hab jenes Tier erschlagen.

König.
Ja, mein Kind, ein Raub des Todes,
Wenn nicht dieser Jüngling war;
Sieh, so nahe die Gefahr.

(Auf das erlegte Tier weisend.)

Gülnare (mit der Hand die Augen bedeckend).
Ah!

König.
Entfernt dies Schreckbild!

Gülnare.
Nein!
Stark, entschlossen will ich sein.

(Nach vorn kommend.)

Glaub nur nicht, mein edler Fremdling,
Daß, ein schwach erbärmlich Weib,
Hinter dir so fern ich bleib!
Oft hat man mich wohl gesehen,
Männlich die Gefahr bestehen,
Eine Gleiche stand ich ihr.
Doch das Widrige, den Grauen
So verwirklicht anzuschauen,
Nimmt entfremdend mich von mir.
Und doch, schafft’s nicht fort, es bleibe;
Selbst bezwingen will ich mich.
Nun zu dir, mein edler Retter,
Der mit seines Armes Walten
Alles, alles mir erhalten,
Was der Schwachen übrigblieb.
Rings von Feindesmacht umgeben,
Von verschmähter Liebe Trutz,
War mir dieses Greises Leben
Einz’ge Stütze, all mein Schutz.
Und der Drache bleckt‘ die Zähne,
Und es war um ihn geschehn;
Da–o lohn es diese Träne!–
Hebt sich eines Armes Sehne,
Und das Untier muß vergehn.
Vater, schau, so sehen Helden!
Vater, schau, so blickt ein Mann!
Was uns alte Lieder melden,
Schau es hier verwirklicht an!

Rustan (leise).
Kohlen, Zanga, glühnde Kohlen!

Zanga (ebenso).
Laßt die Furcht den Henker holen!

Gülnare.
Doch du sprichst nicht? Doch du schweigest?

Rustan (auf die Knie stürzend).
Herrin, oh, ich bin vernichtet!

König (entschuldigend zu Gülnare).
Wohl das Neue unsers Anblicks–

Gülnare.
Laß ihn, Vater! Es erquickt mich,
Einen Mann beschämt zu sehn!
Oh, ich sah sie brüstend gehn,
Mit gedunsnen Worten prahlend,
Mit Versprechen Taten zahlend,
Doch kam der Erfüllung Zeit,
Wie war Held und Tat so weit!
Dieser kommt uns, als von oben,
In der Stunde der Gefahr,
Tut, was seiner würdig war,
Und verstummt, wenn wir ihn loben.
Vater, sag es selbst! fürwahr,
Stellt er nicht die Zeit dir dar,
Nicht die Zeit, die einst gewesen,
Und von der wir staunend lesen,
Wo noch Helden höhern Stammes,
Wo ein Rustan weltbekannt
In der Parsen Fabelland–

Zanga.
Rustan ist auch er genannt.

Gülnare.
Rustan! Hörst du, Vater? Rustan!
Oh, die Zeiten sind noch immer,
Wo, wenn Menschenkräfte enden,
Götter ihre Hilfe senden.
Er kommt uns von ihrer Hand.

(Zu ihrem Vater.)

Und so wird gefaßt dich finden,
Was soeben Boten künden:
Jener blut’ge Khan von Tiflis,
Mein Bewerber und mein Feind,
Hat in mächt’gen Heeres Mitten
Unsre Grenzen überschritten,
Hundert Völker stolz vereint,
Weil er hilflos uns vermeint.

(Auf Rustan zeigend.)

Hier die Hilfe! Hier der Hort!
Stell ihn an der Treuen Spitze,
Laß ihn tragen deine Blitze,
Mut sein Atem, Tat sein Wort;
Und die Deinen, neu ermutet,
Sehn mit Neid, wenn einer blutet,
Und sein Beispiel reißt sie fort.

(Zu Rustan.)

Sei mein Schützer, sei mein Retter,
Banne diese dunkeln Wetter,

(Nach und nach langsamer sprechend.)

Und der glänzend neue Tag
Bringt dir dar, was er vermag.

König (halblaut).
Sprichst du doch, als hättest du
Sie vernommen, die Gelübde,
Die ich tat in der Gefahr.
Dem Erretter, käme Rettung,
Schwur ich, nichts, ich nichts zu weigern,
Und wenn es das Höchste war.
Du errötest, du verstehst mich.

Gülnare.
Vater, komm und laß uns gehn.

König.
Nun so karg, und erst so warm!
Warst du hier an meiner Stelle,
Dünkte jeder Lohn dir arm.

Gülnare (nach rückwärts gewendet, wie ablenkend).
Und wo ist, wo ist die Stelle,
Die so vieles mir gedroht?

König.
Dort kam ich, und floh den Tod,
Jene Schlange mein Gefolg‘,
Keine Wehr als meinen Dolch.

Zanga.
Seht, hier liegt er noch am Boden,
Reich besetzt mit edlen Steinen.

(Er hebt den Dolch auf und gibt ihn seinem Herrn, der ihn dem Könige überreicht.)

König (mit ablehnender Gebärde).
Zähl, was mein ist, zu dem Deinen.
Zahlt‘ ich mit so armen Steinen
So beglückenden Erfolg?
Dort kam ich, und dort die Schlange;
Dieser Mann–

(Auf Rustan zeigend.)

Zanga (am Boden den Platz bezeichnend).
Hier stand er, hier.

König.
Nein, du irrst, er stand dort oben,
Eingehüllt in braunen Mantel.

Rustan.
Zanga! Zanga!

Zanga.
Heißer Tag!

König (auf Zanga).
Erst warfst du, allein du fehltest,
Dann schoß er, die Schlange lag.
In der Sinnenkraft Vergehen
Hab wie träumend ich’s gesehen.
Du standst hier, und er stand dort,
Und war bleich und schien viel kleiner,
Wohl gebückt zum Wurf sich neigend.
Wo auch blieb der braune Mantel?

Zanga.
Irgend dort wohl in den Sträuchen.

Rustan (leise).
Zanga, Zanga!

Zanga.
Mut, nur Mut!

König.
Nun genug, und damit gut!
Dort auf jener Klippe Zinnen
Soll ein Tempelbau beginnen
Dem, der waltend niederblickt,
In der Not den Retter schickt.
Tochter, komm!

Gülnare (zu Rustan).
Du folg uns bald!

(Gehend und vor der getöteten Schlange zurückschaudernd.)

Oh, des Anblicks Nachtgewalt
Übt von neuem seine Rechte.
Oh, verzeih es dem Geschlechte,
Das der Seele Kraft bezwingt,
Kindisch solche Schauer bringt.

König.
Reich den Arm ihr, gib die Rechte.

Gülnare.
Vor dem Toten schütze mich,
Lebt‘ es noch, ich zagte nicht.

(Sie stützt sich auf Rustans Arm. Alle bis auf Zanga ab.)

Zanga (ihnen nachschauend).
Das geht gut, bei meiner Treu!
Das Prinzeßchen hat gefangen.
Tat zwar noch ein bißchen scheu,
Kämpft noch Stolz mit dem Verlangen.
Wie sie fest an ihm sich hält.
Nun ein Graben–Hupp! gesprungen!
Ha, sie gleitet, strauchelt–fällt?
Nein, er hat sie rasch umschlungen.
Nichts so köstlich in der Welt,
Als wenn eins das andre hält.

Rustan (zurückkommend).
Zanga, Zanga! Ich bin selig!

Zanga.
Ei, es geht? nicht wahr? es geht!

Rustan.
Und nun komm! Dort deinen Bündel,
Wirf ihn in den nächsten Fluß.
Nichts laß unsern Stand verraten,
Wir sind Kinder unsrer Taten,
Und nach aufwärts strebt der Fuß.
Komm nur, komm!

Zanga.
Doch früher, Herr,
Laßt die Gegend uns durchspüren,
Ob nicht jener Mann vom Felsen–

Rustan.
Zanga, ich hab’s überdacht;
Jener Mann war kein Lebend’ger!
Bote einer höhern Macht,
Kam er in des Schreckens Nöten,
Um zu treffen, um zu töten,
Und entschwand, da er’s vollbracht.

Zanga.
Nun, der Dank wär‘ abgemacht!

Rustan.
Laß ihn Mensch auch sein, wie wir,
Kommen, und sich stellen mir;
Will mit Gold ihn überhäufen,
Fülle auf ihn niederträufen,
Groß ihn machen, groß und reich,
Wenn auch nicht dem Geber gleich,
Stellen auf des Glückes Zinne,
Und wer wirft mir Unrecht vor?
Zanga, denn, was ich gewinne,
Ist nicht das, was er verlor.
Laß ihn tun sie, jene Tat,
Bittend dann nach Lohn sich wenden,
Man gibt Gold mit spröden Händen,
Und er geht, wie er genaht.
Doch bei mir, mit mir war’s anders:
Unerklärt, ein dunkles Etwas,
Zog des Vaters, zog der Tochter–
Oh, des Weibs voll hehrem Sinn!
Beider Blicke nach mir hin.
Gleich gilt nicht von gleichem Scheine,
Und ich nehme nur das Meine.
Komm und fort, dem Glücke nach!
Heut ums Jahr ist auch ein Tag.

Zanga.
Herr, ach Herr!

Rustan.
Was ist?

Zanga.
O schaut!

(Der Mann, dessen Wurf die Schlange getötet, ist hinter dem Felsen hervor und in den Vorgrund rechts getreten. Er hat den ihn umhüllenden braunen Mantel auf die Moosbank gelegt, und steht nun in kurzem schwarzem Leibrocke, nackten Armen und Beinen, mit schwarzem Bart und Haar, das Antlitz leichenblaß, da.)

Rustan.
Ha! wie mir’s im tiefsten graut!

Zanga.
’s ist derselbe, dessen Speer
Jenes Tier, vom Felsen her–

Rustan.
Unheil! nie dein Köcher leer?

Der Mann vom Felsen
(ist einige Zeit, unbeweglich vor sich hinschauend, auf der Moosbank gesessen, jetzt neigt er sich zur Quelle und trinkt).

Zanga.
Herr, er lebt! ist leibhaft, trinkt!

Rustan.
Meines Traums Gebäude sinkt.
Zanga!

Zanga.
Herr?

Rustan (die Hand am Dolche).
Ist’s nicht Osmin?
Der Verweichlichte, Verwöhnte,
Der mich jüngst beim Jagen höhnte?

Zanga.
Seht doch nur den Bart, das Haar.

Rustan.
Du hast recht, und es ist wahr.
Aber erst nur glich er ihm.
Jeder Blick, mit neuer Lüge,
Zeigt mir anders seine Züge.
Was je greulich und verhaßt,
All in sich sein Anschaun faßt.

Der Mann (richtet sich empor, legt den zusammengefalteten Mantel über den Arm, und macht sich gefaßt, quer nach dem Hintergrunde zu, fortzugehen).

Zanga.
Schaut, er geht.

Rustan.
Nicht so! Und halt!
Steht mir Rede! Wohin geht Ihr?

Der Mann vom Felsen (mit klangloser Stimme).
Hin nach Hofe, vor den Thron.

Rustan.
Was dort suchend?

Der Mann vom Felsen.
Meinen Lohn.

Rustan.
Lohn? Wofür?

Der Mann vom Felsen (auf das erlegte Tier zeigend).
Für meine Tat.

Rustan.
Deine?–Meine!–Unsre Tat!

Der Mann vom Felsen.
Arme Schützen! Ha, ha, ha!
Lernt erst treffen! Arme Schützen!

(Zum Fortgehen gewendet.)

Rustan.
Halt, noch einmal! Er, der König,
Dankbar dir für dein Bemühn,

(Den Dolch des Königs aus dem Gürtel ziehend.)

Sendet dir dies edle Kleinod,
Diesen reich besetzten Dolch,
Wo des Demants klares Scheinen–

Der Mann vom Felsen.
Zahlt Ihr mit so armen Steinen
So beglückenden Erfolg?

Rustan.
Nun, der Dolch hat eine Spitze,
(Sie) auch zahlt.

Der Mann vom Felsen.
Ei ja! Ja doch!

Rustan.
Scheusal! Teufel! Greulich Untier!
Zieh nicht deine grimmen Fratzen,
Denn der Dolch in meinen Händen
Zuckt und mahnt mich, rasch zu enden.
Zanga!

Zanga.
Herr?

Rustan.
Sieh hin! Nur hin!
Gleicht er wieder nicht Osmin?
Wenn er grinset, wenn er lacht.

Zanga.
Fassung, Herr! Und kühl bedacht!

Rustan.
Nun, es sei! Ich will mich fassen.
Mensch, was willst du? was begehrst du?
Geizest du nach Reichtum, Schätzen?
Will dich in ein Goldmeer setzen,
Gießen aus ob deinem Haupt,
Was die Welt das Höchste glaubt.
All dein Wünschen, dein Verlangen,
Eh’s zu keimen angefangen,
Soll’s verwirklicht vor dir stehn,
Sollst du’s reif in Garben sehn.

Der Mann vom Felsen.
Langes Rinnen trübt die Welle–
Ich trink gerne aus der Quelle.

Rustan (vor ihm niederstürzend).
Sieh mich denn zu deinen Füßen,
Sieh ein flehendes Geschöpf.
Heut zu allen künft’gen Tagen
Hat des Glückes Stund‘ geschlagen;
Geh und schreite über mich,
Tritt ein Dasein unter dich!

Der Mann vom Felsen.
Willst mit andrer Taten prahlen,
Willst mit fremdem Golde zahlen?
Glück und Unrecht? Luft’ger Wahn!
Rühm dich des, was du getan!

(Er geht nach dem Hintergrunde, indem er den Mantel wieder um die
Schultern wirft.)

Rustan (nach vorn kommend).
Er hat recht, und ich will fort.
Zanga, komm! Wir kehren heim.
In der Nahverwandten Mitte
Sei das Glück der ersten Schritte,
Sei die Schmach–Und dennoch! Nein!
Nein, es darf, es soll nicht sein!

Der Unbekannte (ist den Steig, der zur Brücke führt, hinaufgeschritten).

Rustan (folgt ihm).
Unmensch! halt! Nicht von der Stelle!
Diese Brücke wölbet sich
Als des Glücks, der Hoheit Schwelle,
Sei es dir, sei es für mich.
Unmensch, halt!

(Er hat den Mantel des vor ihm Hinschreitenden angefaßt.)

Der Mann.
’s ist nur mein Kleid.

Rustan.
Nun, der Herr ist auch nicht weit.
Halt! Ich, oder du!

(Er faßt ihn an.)

Der Mann.
Nicht ich!

(Sie ringen auf der Brücke.)

Rustan.
Sein Berühren ist Entmannen.
Zanga, Zanga, rette mich!

(Der Fremde drängt Rustan bis hart an den Rand der Brücke, im Begriff, ihn hinabzustürzen.)

Rustan.
Ich erliege!

Zanga.
Braucht den Dolch!
Braucht den Dolch! Ihr seid bewaffnet.

Der Fremde.
Ganz nun mein!

Rustan.
Noch nicht! Noch nicht!

(Er hat den Dolch gezogen und stößt ihn nun dem Fremden in die
Brust.)

Der Fremde (auf der Brücke niedersinkend).
Blutig! Blutig! Schwarzer Tag!

Rustan (von der Höhe herankommend).
Zanga! Zanga! Lebt er? Bin ich?

Zanga.
Herr, Ihr seid! Und seht, er blutet.

Rustan.
Oh, daß ich’s getan! Entsetzen!

Der Fremde (halb emporgerichtet).
Kinderjahre! Kinderjahre!
Folgt der Unschuld Leichenbahre!

(Zurücksinkend.)

Rustan! Rustan! Mirza, Rustan!

Rustan.
Zanga, schnell! Sieh, ob noch Rettung,
Ob noch Hilfe möglich. Eile!

Der Fremde (der sich im Todeskampfe auf der Brücke gewälzt, stürzt
jetzt in die Flut).

Zanga.
Herr, zu spät! Ihn hat die Flut.

(Zu Rustan, der, die Hände vors Gesicht geschlagen, dasteht.)

Schlimm genug, und dennoch gut.
Wenn nicht er, wart Ihr verloren.

Rustan.
Oh, und wär‘ ich nie geboren!

(Hörnerschall.)

Zanga.
Herr, nur Fassung! Fassung! Mut!
Fall der Notwehr.–Hört, man ruft uns.
Seht, man kommt. Nun ausgehalten!

Ein Kämmerer (kommt von der linken Seite).
Herr, des Königs hohe Gnaden
Lassen Euch zur Heimkehr laden,
Und zum Heereszug demnächst.
Dort sie selbst.

(Der König und Gülnare erscheinen im Hintergrunde auf der Anhöhe, rechts der Brücke.)

König.
Nun, Rustan, folgt ihr?

Rustan.
Hoher Herr, ich bin bereit.

(Zu Zanga.)

Nun gilt’s fallen, oder siegen!
Ausgedauert und–geschwiegen!

(Indem er sich zum Gehen wendet und die Hörner von neuem ertönen, fällt der Vorhang.)

Dritter Aufzug

(Offener Platz in Samarkand. Die ersten Kulissen des Vorgrundes bilden eine zeltartige Estrade, deren hintere Vorhänge offen sind. Rechts ist ein Sofa von Kissen angebracht, nach oben mit einem Baldachin, nach rückwärts mit einer herabhängenden Draperie geziert. Daneben ein Tischchen. Gegenüber auf der linken Seite ein größerer Tisch, dunkelrotbehangen. Der Platz von außen ist mit Volk beiderlei Geschlechts besetzt. Jubelruf, kriegerische Musik, Truppenaufzüge.)

Volk.
Heil dem Sieger!–Heil dem König!
Rustan! Rustan!–Hoch Gülnare!

(Der König kommt, zu beiden Seiten Rustan und Gülnare an der Hand führend. Reichgekleidete Große hinter ihm. Sie gehen in dem Raume außer dem Zelte quer über die Bühne und auf der linken Seite ab.)

Zanga (durch das Volk kommend, zu denen, die am Eingange des Zeltes stehen).
Platz da! Platz! Ich bin vom Hause!

(Er kommt nach vorn.)

Nun, bei Gott! Das geht vortrefflich!
Unser Rustan wirkte Wunder!
Tritt hervor aus jenem Wald,
Und der Ruf der Tat durchschallt
Rings das Land nach allen Seiten.
Nieder von den Bergen schreiten
Hirten, jetzt zum erstenmal,
Völker ohne Maß und Zahl,
Die sich sammeln, die sich scharen
Um den Retter in Gefahren.
Und der Feind, er steht verblüfft;
Ihm, der kam zu leichtem Krieg,
Dünkt der Rückzug jetzt schon Sieg.
Rasch wir nach, und weit und weiter!
Schon sind handgemein die Streiter.
Da sieht Rustan jenen Khan,
Der so überstolz getan,
Sprengt auf ihn,–zwar, wie mich dünkt,
Ist das just der Punkt, der hinkt–
Rustan stürzt. Allein, was tut’s!
Unsre Völker, hohen Muts,
Sehen bange Zweifel schweben
Ob des Führers teurem Leben,
Dringen nach, und–sahst du’s nicht!
Bald kein Feind mehr im Gesicht.
Also sich’s begeben hat;
Ich bin selbst das Zeitungsblatt,
Schwarz gekommen schon zur Erden,
Darf’s nicht erst durch Lügen werden.
Da kommt Rustan mit dem König,
Tut schon vornehm, blickt schon stolz.
Ei, umgüldet’s nur ein wenig,
Dünkt sich Edelstein das Holz.

(Der König und Rustan kommen.)

König.
Hörtest du? vernahmst du? sahst du?
Ihres Mundes freundlich Lächeln,
Ihrer Rede Sommerfächeln,
Fühltest du den Druck der Hand?
Ja, Gülnare, meine Tochter,
Sinnt nicht länger Widerstand.
Freude, Wonne, sondergleichen!
Ihre Hand will sie dir reichen;
Und was an des Todes Toren
Ich mir selber zugeschworen,
Und was Nacht bisher verhüllt,
Glänzend, herrlich wird’s erfüllt.
Du, an meiner Tochter Seite,
Sitzest auf der Väter Thron,
Breitest aus in alle Weite
Mit der Kriegsdrommete Ton
(Dieses Landes) Macht und Ruhm,
Noch vor wenig kurzen Tagen
Stolzer Nachbarn Eigentum.
Und sie zittern und sie beben
Vor dem Dräun der starken Hand,
Und des Ruhmes Säulen heben
Hoch den Thron von Samarkand.
Sieh dies Land, es ist das deine,
Sieh mein Selbst, es folgt dem Land;
Oh, des sel’gen Abends Scheine,
Da ich dich, den Retter fand!

(Er setzt sich.)

Ich bin müd, bringt mir zu trinken,
Selbst die Freude schwächt die Kraft.
Alles scheint mir zuzuwinken:
Tu, was neu das Alte schafft.
Gebt mir Wein, die Zunge lechzet,
Und verschließt des Zeltes Hüllen.
Freuden, wie sie mich erfüllen,
Hegt man gern bei sich allein.

(Zanga gibt den Auftrag. Man geht um Wein. Die Vorhänge des Zeltes fallen herab.)

Rustan.
Wenn auch das, was ich getan,
Voll und wirklich Lohn erheischet,
Doch so übermäß’ge Gunst–

König (aufstehend).
Laß du über dem Geschick,
Auszugleichen Wert und Glück!
Wär’s Verdienst denn, wenn der Regen
Niederträuft auf unsre Flur?
Ist Verdienst es, wenn der Leu,
Reichbegabt und stark und frei
Hineilt auf des Wildes Spur;
Wenn die kreisende Natur
Aus der Gaben Reichtum spendet,
Achtlos, wer ihn zu sich wendet?
Auch der Zufall will sein Spiel.
Nimm, was dein; und scheint’s zuviel,
Dieses als zuviel Erkennen
Macht dich wert, es dein zu nennen.
Eins nur ist noch zu bericht’gen:
Rustan, alle, die ich fragte
Nach den Eltern, die du nanntest,
Nach den Deinen, deiner Abkunft,
Niemand will die Namen kennen,
Und den Stamm, das Volk, den Ort.

Zanga.
Ist’s doch auch ein kleines Völkchen,
Seiner Herden Zucht ergeben,
Und da sie nomadisch leben,
Kommt’s heut an, zieht morgen fort.

Rustan.
Dann, o Herr, wenn erst das Was
Des Geschehnen klar und deutlich,
Forscht man viel noch hinterher
Um das Wie und um das Wer?

König.
Du hast recht! und wer auch immer,
Bist du immer doch derselbe,
Der mein Land, mein Volk befreit;
Der an jenem grausen Morgen
Meiner Tage Rest geborgen,
Dessen Mute, dessen Schlag
Jenes Untiers Grimm erlag.
Bist derselbe, und bist’s nicht;
Und wenn nicht, mir so viel teurer,
Als mir teuer dies dein Selbst.
Wenn ich dich so vor mir sehe,
Hochgewachsen, stark und kühn,
Mit der hellen, klaren Stimme,
Freu ich doppelt mich und dreifach,
Daß du anders, als ich damals
In der Sinne wirrem Wanken,
Mehr ein Wahnbild der Gedanken,
Meines Retters Bild gesehn.
Du schienst damals klein und bleich,
Eingehüllt in braunen Mantel,
Und die Stimme scharf und schneidend–

(Man hört aus der Ferne Gemurmel von Stimmen, dazwischen klagend ausgestoßene Laute.)

König.
Welch Geräusch?–Seht zu, was ist.

(Es geht jemand.)

Widerlich stört’s meine Rede,
Und dazwischen Klagetöne,
Fast wie jene–

(Zu Rustan.)

Warst du damals
Auch mit diesem ganz allein?

(Auf Zanga weisend.)

War kein dritter, war kein andrer
Neben dir?

Rustan.
Nur er und ich.

König.
Eine Stimme, dumpf und schaurig,
Die ich früher schon gehört,
Sonst im Leben schon vernommen,
Schien da in mein Ohr zu kommen,
Wie ich lag von Angst betört.
Du standst damals–

Rustan.
Herr, am Felsen.

Zanga.
Oben, oben, auf dem Felsen.

König.
Oben, recht! Je mehr ich sinne,
Um so widerlicher wird’s.
Auf dem Felsen, klein und bleich,
Eingehüllt in braunen Mantel,
Und die Stimme–

(Die vorigen Klagelaute wiederholen sich.)

König.
Pfui des Lauts!
Schafft sie fort, die ekle Stimme,
Die Erinnerung mit ihr.

(Zanga geht ab.)
(Ein Diener hat Wein gebracht.)

König.
Hier ist Wein. Komm, laß uns trinken!
Weg es waschen dieses Bild!
Was ich damals dumpf geträumt,
Lieblich hat’s den Platz geräumt
Dem Erfreulichen, dem Wahren.
Wo sich Götter offenbaren,
Kündigt sie ein Schauder an,
Daß, wenn ein die Mächt’gen fahren,
Schon die Pforten aufgetan.
Hier ist Wein. Komm, laß uns trinken!
Und noch diesen Abend sollen
Laute Zimbeln und Trommeten
Hoch von dieser Feste Türmen
Es in alle Lüfte stürmen,
Daß du Erbe mir und Sohn.
Ja, du Edler, ja, du Guter,
Schutzgeist, Lebensretter du,
Sieh dein Vater trinkt dir’s zu!

(Indem er den Becher emporhebt und Rustan sich vor ihm auf ein Knie niederläßt, kommt Zanga eilig zurück; hart hinter ihm ein Kämmerling.)

König (einhaltend).
Was begab sich?

Zanga (zu Rustan leise).
Herr, nur Mut!

König.
Soll ich länger noch erwarten–?

Kämmerling.
Herr, die Stadt beinah in Aufruhr.

König (den Becher abgebend).
Aufruhr? Torheit! Und warum?

Kämmerling.
Herr, die Wellen des Tschihun,
Die an unsern Mauern nagen,
Haben auf den flachen Sand
Eines Mannes Leib getragen,
Der durch Mord sein Ende fand.

König.
Laßt sie das dem Richter klagen!

Kämmerling.
Und der Mann, er ward erkannt
Als derselbige mit jenem,
Den, aus deiner Kämmrer Scharen,
Nie hat man den Grund erfahren,
Du vorlängst vom Hof verbannt.

König.
Wohl, ich weiß.–Doch diese Laute?
Schaurig, widrig, wirren Klanges–?

Kämmerling.
Herr, es ist sein alter Vater,
Den du kennst, der stumme Mann;
Eine Schrift in seinen Händen,
Fleht er um Gericht dich an.

König.
Wohl, es sei ihm, doch er schweige!
Rustan!

Rustan.
Herr!

König.
Du kanntest nie
Jenen Mann, der nun getötet?

Rustan.
Herr, so meinst du–?

König.
Nun, nur Gutes.
Doch die Stimme, deren Klang
Damals mir zu Ohren drang,
Als du mich befreit beim Jagen,
Schien des Manns, der nun erschlagen.
Es kommt näher, wächst im Raum,
Wie ein halbvergeßner Traum.

Und wen klagt man an als Täter?

Kämmerling.
Herr–

König.
Du zögerst?

Kämmerling.
Wag ich’s?

König.
Sprich!
Wen zeiht man des Mordes?

Kämmerling.
Dich!

König.
Mich? Ha Torheit und Verrat!
Nicht nur ein Sinn fehlt dem Alten,
Alle fehlen in der Tat.

(Die Vorhänge auseinanderschlagend.)

Komm herein, du Mann der Torheit,
Stumm an Zunge, an Verstand,
Und beweise deine Klagen,
Oder stirb von meiner Hand!

(Der alte Kaleb, grau gekleidet, mit schwarzem Überwurf, weißem Bart und Haar, tritt, von Karkhan geleitet, eine Schrift emporhaltend, ein und wirft sich vor dem Könige nieder, wobei er, nach Art der Stummen, unartikulierte Laute ausstößt.)

König.
Nicht berühre meine Kleider,
Bis du Widerruf getan.

Zanga (leise).
Herr, was dünkt euch?

Rustan.
Harr und schweig!

Zanga.
Diesen Mann sah ich schon früher.
Gleicht er nicht–?

Rustan.
Ob auch! Wem immer!
Laß uns hören, was er bringt.

König (dem der Alte eine Schrift emporgereicht hat).
Was soll ich mit diesen Zeilen?
Zorn quillt mir im Auge heiß.

(Zu dem Führer des Greisen.)

Bist du einer, der da weiß?

Karkhan.
Seinem Hause nah verwandt.

König.
Nun, so sprich, was dir bekannt.

Karkhan.
Was man sagt, nicht was ich meine.
Jenen Toten, dir bewußt,
Fanden wir im Abendscheine,
Einen Dolch in seiner Brust.
Und der Dolch–er war der deine.

König.
Mein Dolch? Wie?

(Seinen Dolch halb ziehend.)

Hier ist mein Dolch.

Karkhan.
Jenen Dolch, den du beim Jagen
Pflegtest in dem Gurt zu tragen,
Und auch trugst zu jener Zeit,
Da ein Wunder dich befreit.

König (zu Rustan tretend, halblaut).
Rustan, dir gab ich den Dolch,
Der im Wahnwitz der Gefahr
Meiner Hand entfallen war.
Bring ihn her! Gib mir ihn wieder!
Du entfärbst dich?–Rustan! Rustan!
Jener Mann, den sie beschrieben,
Ward durch mich vom Hof vertrieben,
Weil sein Trachten, frech gesinnt,
Sich erhob zu meinem Kind.
Also denn dein Nebenbuhler!
Rustan! Rustan! Und die Stimme,
Die von jenem Felsen sprach,
Und nun auftaucht, hell und wach,
Sie glich jenes Mannes Stimme,
Der nur jetzt des Mörders Grimme,
Unbekanntem Tod erlag.
Rustan, gib den Stahl mir wieder.

(Laut.)

War’s ein Dolch mit grünen Steinen?

Karkhan.
Mit Smaragden reich besetzt;
Tief im Busen eingetrieben,
Wo er graß zusammenhielt
Den durchnäßten braunen Mantel.

König.
Braunen Mantel?–Stand am Felsen
Bleich und hager–du standst seitwärts.
Oben er, und schoß–Wer traf?
Rustan, Rustan!–Sprich nicht jetzt!
Nicht ein Wort, das dich gereuet.
Ich will hin, den Toten sehn,
Du magst nach dem Dolche gehn.
Alter, folg! und folget ihr!

(Zu Rustan tretend.)

Auf! zerstreue diese Wolke!
Denn Rechtfert’gung schulden wir,
Ich, der Fürst, dem ganzen Volke,
Du, der Sohn und Bürger, mir.

(Er geht, von Kaleb und seinem Gefolge begleitet ab.)

Zanga.
Herr, was nun?

Rustan.
Das fragst du mich?
Du, der sonst so überreichlich
Mittel wußte, Kniffe, Ränke,
Der mich bis hierher geleitet;
Losgerissen von der Heimat,
Mich die Würfel hieß ergreifen
Zu des Glückes falschem Spiel?
Dessen Zunge Schmeichellaut
Ich, ein Törichter, vertraut;
Der mit Lügen und mit Leugnen
Mich verlockt, mir anzueignen,
Was ein anderer getan;
Abgelockt mich von der Bahn,
Von der ebenen, geraden,
Von des Ruhmes goldnen Pfaden.

Zanga.
Ebnen Pfaden? Schöner Wahn!
Ach, verzeiht zu hohen Gnaden,
Fast kommt mir ein Lachen an:
Wackre Faust und schlichter Geist
Fördern auch und bringen weiter,
Etwa zu ’ner Fahne Reiter,
Einer Hauptmannsstell‘ zumeist,
Läßt mit halbzerschoßnen Knochen
Magre Gnadensuppen kochen.
Aber wen es höher treibt,
Auf zu Glückes reichern Spenden,
Wenn auch der im Fußweg bleibt,
Mag er nur die Schritte wenden.
Ich stellt‘ Euch mit einem Ruck,
Sei’s im Guten, sei’s im Schlimmen,
Auf des Berges höchsten Hang,
Dessen Mitte zu erklimmen
Ihr gebraucht ein Leben lang.

Rustan.
Und nun gähnt der Untergang!

Zanga.
Pah! und was ist auch verloren?
Wenn Ihr nicht die Schlange schlugt,
Habt Ihr doch den Feind geschlagen,
Allen ihren künft’gen Tagen
Heil gebracht und Sicherheit.
Habt Ihr nicht das Heer für Euch?
Flüchtet Euch in ihre Reihen,
Die Euch kühn gefolgt im Streit;
Mag dann dieser König dräuen,
Und wer weiß, wer noch gebeut.
Herr, nur Mut! Dort seh ich zwei
Von den Führern unsers Heeres.
Wie sie lauern! wie sie spähn!
Bleibt nur hier und harrt der Dinge,
Ich will mal sie prüfen gehn.

(Er geht nach dem Hintergrunde auf den Halbkreis von Menschen zu, die dort zurückgeblieben sind.)

Rustan.
Folg ich ihm? benütz ich eilend
Die Gelegenheit der Flucht?
Schändlich! Niedrig! Greulich! Greulich!
Nicht daß ich den Mann erschlug.
Hab ich ihm den Tod gegeben,
War’s, verteidigend mein Leben,
War’s, weil jener Brücke Pfad,
Schmal und gleitend wohl genug,
Einen nur von beiden trug.
War’s, weil er mit gift’gem Hohn
Lauernd seine Tat versteckte,
Und die Hand erst nach dem Lohn,
Dem bereits gegebnen, streckte.
War es, weil–muß ich’s denn sagen
Er und ich zwei Häupter tragen,
Und dies Land nur eine Kron‘.
Es geschah. Allein, wenn nicht,
Ständ‘, genüber seiner Tücke,
Jetzt ich auf der Schauerbrücke,
Es geschähe jetzt, wie da.
Doch, daß nach durchfochtnem Krieg,
Da mein Stern zum Scheitel stieg,
Ich, verklagt, soll Antwort geben
Über ein so niedrig Leben,
Dafür tröstet mich kein Sieg.
Oh, hätt‘ ich, o hätt‘ ich nimmer
Dich verlassen, heimisch Dach,
Und den Taumelpfad betreten,
Dem sich Sorgen winden nach.
Hätt‘ ich nie des Äußern Schimmer
Mit des Innern Wert bezahlt,
Und das Gaukelbild der Hoffnung
Fern auf Nebelgrund gemalt.
Wär‘ ich heimisch dort geblieben,
Wo ein Richter noch das Herz,
Wo kein Trachten ohne Lieben,
Kein Versagen ohne Schmerz!
Ha, und doch! zurück es lassen,
Was mir anbeut das Geschick?
Diese Stadt mit lauten Gassen,
Eines Reiches fürstlich Glück?
Wornach heiß mein Wunsch getrachtet,
Leibhaft, wirklich, schau ich’s an
Und beim Griff der Hand umnachtet
Mich ein gaukelhafter Wahn?
Standen nicht der Vorzeit Helden
Oft auf gleicher Zweifelbahn?
Tu’s! ließ Geist und Mut sich hören;
Tu’s nicht! rief das Herz sie an;
Und sie ließen sich betören,
Um den Zaudrer war’s getan;
Oder taten’s, und wir schwören
Nun bei dem, was sie getan.
Ich will harren, ich will bleiben,
Gähnte weit des Todes Schlund;
Und wer’s wagt, mich zu vertreiben,
Stehe fest auf seinem Grund.

(In einer Öffnung des Halbkreises, den die in der Ferne stehenden Menschen bilden, wird Zanga sichtbar.)

Rustan.
Zanga! Zanga!

Zanga (kommt nach vorn, von einem graugekleideten alten Weibe gefolgt, das einen Becher trägt).
Fort, du Hexe!

Die Alte.
Zanga, komm! gib’s deinem Herrn!

Zanga.
Laß mich! Laß mich!

Die Alte.
Böser Diener!
Sorgst du nicht um deinen Herrn?

Rustan.
Was ist das?

Zanga.
Weiß ich es selber?
Sie verfolgt mich mit dem Becher,
Nennt’s ein Mittel, nennt’s Arznei.

Die Alte.
Wohl Arznei! Du böser Diener!
Nimm es nur, gib’s deinem Herrn!

Zanga.
Laß mich, laß!

Rustan.
Wer sendet sie?

Die Alte.
Ich mich selbst, mein schöner Herr!
Du bist krank; sieh, das erfuhr ich–

Rustan.
Krank?

Die Alte.
Ei, Sohn! Bedenklich krank!
Wie glimmt wild dein dunkles Auge,
Wie zuckt gichterisch der Mund!
Gib die Hand mir, reich den Arm,
Und ich deute dir dein Fieber.

Rustan.
Laß!

Die Alte.
Wohl krank! (ansteckend) krank!
Einer starb schon, der dir nahte,
Draußen liegt er auf dem Sand.
Und der König fürchtet auch wohl,
Daß dein Übel ihn ergreife,
Darum harrt er, weilt mit Vorsatz,
Will dir Zeit, mein Söhnlein, geben,
Zu entweichen, zu entfliehn.

Rustan.
Zanga!

Die Alte.
Nun! Nur nicht verzagt!
Sieh, mein Sohn, hier ist ein Mittel,
Sieh den glimmernd schäum’gen Saft.
Kaum benetzt er deine Lippen,
Sinkt die Brandung ebbend nieder,
Lösen sich die müden Glieder,
Schweigt der Schmerz, erlischt der Tag,
Zürne dann, wer zürnen mag!

Rustan.
Greulich! Greulich!

Die Alte.
Ei, ich seh wohl,
Dich erschreckt des Trankes Anblick,
Weil er gar so brausend zischt.
Ei, das gibt sich, ei, das legt sich,
Wie Begeisterung der Jugend.
Auch, mein Sohn, in Wein gegossen,
Wirkt ein Tropfen wie das Ganze.
Hier steht Wein. Ha, und der Becher,
Sieh! wie gleicht er hier dem meinen.
Nun, ich mische dir den Trank.

(Sie nähert sich dem Tischchen neben dem Ruhebette, auf dem des Königs Becher steht.)

Rustan (sie anfassend).
Halt!–Und Zanga!–Laß den Vorhang
Laß des Zeltes Vorhang nieder!

(Zanga zieht den Vorhang, er schließt sich.)

Die Alte.
Hi, hi, hi! Warum den Vorhang?
Warum Decken denn und Hüllen,
Wenn wir Rechtes nur erfüllen?
Ei, du möchtest wohl den Trank,
Aber auch, daß man dich zwänge!
Ei, ich zwinge niemand, Sohn!
Bietend reich ich meine Gaben,
Wer sie nimmt, der mag sie haben.
Und so stell ich hin den Becher,
Der dich reizt, und der dich schreckt.
Wird dein Übel, Söhnlein, schlimmer,
Weißt du, was dir Heilung weckt.
Doch nicht bloß an dich gebunden,
Andern auch hilft dieser Trank,
Macht die Kranken schnell gesunden,
Die Gesunden freilich krank.

(Sie hat den Becher auf den links stehenden Tisch gestellt.)

Nun, mein Söhnlein, Gott befohlen!
Ohne Abschied, ohne Dank!

Rustan

(der mit gesenktem Haupte sinnend im Vorgrunde gestanden, fährt jetzt empor und faßt die Alte an).
Halt! und nimm zurück den Becher,
Nimm zurück ihn, deinen Trank!

(Er ergreift den auf dem Tischchen rechts stehenden Becher und drückt ihn der Alten in die Hand.)

Die Alte.
Hi, hi, hi! Hast dich vergriffen!
Dort steht er, der edle Trank.
Das hier ist ja Saft der Trauben.

(Sie trinkt.)

Wie das labt–wie das erquickt!

(Den Becher umwendend.)

Leer und aus!–Nu, dir zum Heile!
Und den Becher mir zum Lohn.

(Sie steckt den Becher in ihr Gewand.)

Wohlgemut, mein teurer Sohn.
Nicht die Hand vors Aug‘ geschlagen!
Was dir kommt, das mußt du tragen,
Eine Leiche, auf dem Thron.
Bist nun deines Schicksals Meister,
Sprichst ein Wort im Rat der Geister,
Trägst dein eigen Los davon.
Horch! man kommt. Nun, ich will gehen.
Unbesorgt! Sie sehn mich nicht.
Ob gleich alle zu mir flehen,
Scheut doch jeder mein Gesicht.
Sieh dort offen eine Spalte
In des Zeltes dünner Wand,
Raums genug für eine Alte.
Nun, mein Sohn, die Zukunft walte!
Glück, Entschlossenheit, Verstand!

(Sie hinkt nach der rechten Seite des Zeltes und zieht sich hinter die Umhänge des dort stehenden Ruhebettes zurück, blickt noch einmal, die Vorhänge aufhebend, hervor und wird dann nicht mehr gesehen.)

Rustan.
Sieh! wo kam sie hin, die Alte?

Zanga.
Herr, ich weiß nicht. Sie entschwand.
War’s dort durch des Umhangs Spalte,
War’s–mir bleibt es unerkannt.

Rustan.
Schweig, und gib das Tuch.

(Auf ein dunkelrotes Tuch zeigend, das Zanga lose um den Hals geschlungen trägt.)

Zanga.
Das Tuch?

Rustan.
Wohl, das Tuch–so!–und nun stille!

(Er hat das dunkelrote Tuch über den gleichbehangenen Tisch links und den darauf stehenden Becher gebreitet und steht in banger Erwartung.)
(Die Vorhänge des Zeltes tun sich auf. Der König tritt ein, hinter ihm Kaleb, Karkhan und zwei Begleiter.)

König.
Du noch hier?

Rustan.
Wo sonst, mein König?

König.
Nun, ich dachte dich entfernt.
Geht, ihr andern.

(Zu Kaleb.)

Du nur bleib!

(Das Gefolge entfernt sich, die Vorhänge des Zeltes werden geschlossen.)

König (der einem der Abgehenden den braunen Mantel und den Dolch abgenommen hat, die dieser trug, den Mantel auf den Boden hinwerfend).
Rustan! kennst du diesen Mantel?
Diesen Mantel, diesen Dolch?

Rustan.
Schlecht versteh ich mich auf Kleider;
Doch auf Waffen gut, du weißt’s.

König.
Nun denn: kennst du diese Waffe?

Rustan.
Wohl; es ist derselbe Dolch,
Den du einst verlorst beim Jagen.

König.
Ich verlor? Den ich dir gab.

Rustan.
Ja, nachdem du ihn verloren,
Und ich ihn gefunden, Herr;
Wie ihn wohl ein andrer fand,
Als ich selbst ihn drauf verloren.

König.
Du verlorst ihn?

Rustan.
Wohl.

König.
Ein andrer
Fand ihn?

Rustan.
Also scheint’s.

König.
Und tat
Jener andre das Verbrechen,
Das laut aufmahnt, es zu rächen?

Rustan.
Laß mich Herr, von dem nur sprechen,
Was ich selber tat und weiß.

König.
Und der Mantel?

Rustan.
Herr, ich sagt‘ es:
Schlecht versteh ich mich auf Kleider.

König.
Doch die Züge jenes Toten,
Sie sind auch des Mannes Züge,
Der mich auf der Jagd befreit.

Rustan.
Du warst damals kaum bei Sinnen,
Erst nur hast du’s selbst bekannt.

König (die Schrift emporhaltend, die ihm Der alte Kaleb gab).
Und die Schrift hier sagt so vieles,
Zeigt, wie dem so graß Verblichnen
Hohes Unrecht ich getan.

Rustan.
Tatst du dem Verblichnen unrecht,
Tu nicht Gleiches dem Lebend’gen.
Was soll mir die tote Schrift?
Laß dir meine Taten sprechen!
Wer schlug jene blut’ge Schlacht,
Die dir Heil und Sieg gebracht?
Wer befestigte die Krone,
Halb von einem Feind geraubt,
Wieder dir auf deinem Haupt?
Dankst du’s nicht, wenn du noch dräust,
Dem Bedrohten, mir, zumeist?
Ha, ich find es wohl bequem,
Dadurch sich den Dank zu sparen,
Daß dem Retter, daß wir dem,
Durch den Heil uns widerfahren,
Häufen auf des Vorwurfs Last;
Den Berechtigten, mit Lachen,
Zum Verpflichteten uns machen.
König, mir gib erst mein Recht!
Was geschehn an jenem Knecht,
Laß uns künftig sehn und rächen.
Jetzt erst halte dein Versprechen,
Gib, was du mir zugesagt!

König.
Halt! Was damals ich versprach,
Zogen andre Gründe nach!
Wer mein Höchstes sein will sehn,
Muß, ein Reiner, vor mir stehn.
Reine dich vor meiner Macht!
Noch hat niemand es erfahren,
Was dich drücket für Verdacht;
Zeit geb ich dir diese Nacht
Mit dir selbst zu Rat zu sitzen,
Was dir frommen mag und nützen.
Aber bricht der Morgen an,
Ohne daß du’s dargetan,
Samml‘ ich einen andern Rat
Aus den Besten meines Heeres;
Der soll sitzen und entscheiden,
Wer im Recht ist von uns beiden.

(Er wendet sich von ihm; zu Kaleb.)

Alter, komm! Ich will nun lesen
Deine Schrift, so weit sie geht.
Was dein armer Sohn gewesen,
Zeigt sie deutlich–nur zu spät.

(Am Sofa rechts stehend.)

Doch erst geh nach Licht und Wein.
Es wird dunkel, und mich dürstet.
Hier ließ ich, da erst ich ging,
Stehen einen vollen Becher,
Einen Becher Freudenwein.
Sog ihn denn der Boden ein?
Zwar, die Freude ist vergangen,
Und verging denn auch der Wein?

(Rustan hat ergrimmt das über dem Becher auf dem Tische links ausgebreitete Tuch hinweggerissen.)

König.
Doch, dort steht er. Wie er blinkt,
Freundlich mir entgegenwinkt!
Ach, was ist seitdem vergangen,
Seit mein Mund an dir gehangen!
Zanga, geh nach Licht!

(Zanga geht ab.)

Du, Alter,
Bring mir her dort jenen Becher,
Jenen frohen, holden Wein!
Ach, vielleicht, daß von dem Glück,
Das in mir, als ich getrunken,
In den Kelch ein Hauch gesunken,
Und er gibt ihn nun zurück.
Bring den Becher, bring den Wein!

(Er hat sich auf das Sofa gestreckt. Der alte Kaleb geht nach dem Becher auf dem Tisch links. Da er ihn bereits ergriffen, fällt ihm Rustan in den Arm.)

Rustan.
König, trink nicht!

König.
Und warum?

Rustan.
Nicht aus dieses Mannes Hand,
Der durch schlau erdachte Lügen
Ab mir deine Gunst gewandt,
Und der töten kann, wie lügen;
Nicht aus dieses Mannes Hand!

König.
Ruhig sei du nur zur Stund‘!
Was er sprach,

(Die Schrift in seiner Hand haltend.)

was hier geschrieben,
Ist dem Wahren treu geblieben,
Wahrheit sprach sein stummer Mund.
Und so nehm ich mit Vertrauen
Das Gefäß aus seiner Hand.
Wer wird allen denn mißtrauen,
Weil ein einz’ger nicht bestand?

Rustan.
Wohl denn! sei’s zum Glück gewandt!

(Er läßt den Alten los, der den Becher dem Könige bringt.)

König.
Rustan, sieh hier diesen Becher,
Den ich erst dir zugetrunken,
Erst als Erben und als Sohn,
Sieh, ich halt ihn jetzt noch immer
Mit versöhnlichem Gemüt.
Dünkt es gut dir, aufzuklären,
Was geschehn, was du getan;–
Zwar nicht mehr als Sohn und Erbe,
Da reicht Höhres nur hinan;–
Doch mit Zeichen meiner Gnade,
Mit Geschenken reich geschmückt,
Sollst du ziehen deine Pfade,
Wie kein Sterblicher beglückt.
Laß den Frieden uns erneuen!

(Den Becher emporhebend.)

Rustan! Allen, die bereuen!

Rustan (vor sich hin).
Prosit!–Wen’s zuerst gereut!

(Er wendet sich ab.)
(Da der König im Begriffe ist zu trinken, öffnen sich die Vorhänge des Zeltes und Zaziga tritt ein; hinter ihm Diener mit Lichtern und Wein.)

König.
Setzt die Lichter auf den Tisch,
Und geht hin zu meiner Tochter;
Ich will hier des Abends Kühle
Noch ein Stündchen mir genießen.
Erst zu Nacht erwartet mich!
Aber fort mit den Gefäßen!
Hier ja steht mein Freudenwein.

(Er trinkt.)

Nie ja trank ich so gewürzten,
Feurig-starken, schäum’gen, dunkeln;
Jugendähnlich gleitet er
Durch die abgespannten Fibern
Und die Luft im Raum erzittert
Von dem sprühend geist’gen Duft.
Köstlich! labend!

(Er trinkt.)

Zanga.
Herr, o sieh!

Rustan.
Schweig!

Zanga.
Die Führer auch des Heeres
Sind gewonnen, Euch zu Dienste.
Über Undank murren sie,
Harren Eurer.

Rustan.
Nun, ich komme.

König.
Geht ihr andern! Kaleb, bleib!

(Die Diener gehen.)

Laß uns sehen diese Schrift,
Die zerstreuten einzlen Blätter,
Die dein Sohn aus der Verbannung,
Nebst der Schutzschrift, die wir lasen,
Schrieb dem tiefgekränkten Vater.
Hier stehn Namen, die ich kenne.
Horch! und–schweig! sagt‘ ich beinah,
Doch du schweigst ja jetzt und immer.

(Rustan ist, den übrigen folgend, bis zu des Zeltes Ausgang gekommen, dort bleibt er stehen und tut, lauschend, einige Schritte zurück. Der König liegt lesend auf dem Sofa, an dessen Seite der alte Kaleb, auf den Knien niedergekauert, zuhört. Die Lichter auf dem Tische erhellen die Gruppe. Der übrige Teil der Bühne ist dunkel.)

Der König (liest).
„An den Quellen des Wahia
Leb ich einsam, ein Verbannter,
Nah des alten Massud Hause.“
Also schreibt dein armer Sohn
In dem ersten seiner Blätter.
„Sah dort Mirza, seine Tochter,
Sie, die einz’ge, die vergleichbar,
Nahe mindstens kommt Gülnaren,
Meines Herrn erlauchter Tochter.“
Wohl erlaucht! Hättst du’s bedacht,
Dein Geschick wär‘ leicht und milde.

(Weiterlesend.)

„Rustan, Rustan, wilder Jäger!
Warum quälst du deine Liebe,
Suchst auf unbetretnen Pfaden
Ein noch zweifelhaft Geschick?“

(Die hintern Vorhänge werden durchsichtig und zeigen in heller Beleuchtung Mirza mit in dem Schoße liegenden Händen vor der Hütte ihres Vaters sitzend. Vor ihr steht ein Greis, in Gestalt und Kleidung ganz dem alten Kaleb ähnlich. Er hält eine kleine Harfe im Arm. Rustan, der zusammenfahrend einige Schritte zurückgewichen ist, macht, mit beiden Händen auf die beiden Greise zeigend, ihre Ähnlichkeit bemerkbar.)

König (lesend).
„Schau, sie kommt dir ja entgegen,
Sorgt um dich mit frommen Blick,

(Mirzas Gestalt erhebt sich.)

Kehr zurück auf deinen Wegen,
Wenn nicht hier, wo ist das Glück?“

Rustan.
Mirza! Mirza!

(Die Erscheinung verschwindet.)

König.
Wer ist hier?

Rustan (vortretend).
Ich, mein Fürst.

König.
Und was führt her dich?

Rustan.
Nennen hört‘ ich meinen Namen,
Und ich glaubte, Herr, du riefst.

König.
Nicht nach dir; doch rief ich Rustan;
War’s ein andrer gleich, der fern wohnt
An den Quellen des Wahia.
Doch, da hier, magst du nur bleiben.
Manches steht wohl hier geschrieben,
Das du deuten kannst und sollst.

(Rustan zieht sich zurück.)

Der König (liest weiter).
„Rustan, Rustan! wilder Jäger“–

(Einhaltend.)

Wird’s mir dunkel doch und wirre!
Alter, rück die Leuchte näher,
Schlummer, scheint’s, trübt meinen Blick.
Noch ein Schluck.

(Er trinkt.)

Nun, so scheint’s besser.

(Er liest.)

„Rustan, Rustan, wilder Jäger,
Kehr zurück auf deinen Pfaden!
Was ist Ruhm, der Größe Glück?
Sieh auf mich! Weil ich getrachtet
Nach zu Hohem, nach Verbotnem,
Irr ich hier in dieser Wüste,
Freigestellt das nackte Leben
Jedes Meuchelmörders Dolch.“

(Die Wand des Zeltes wird von neuen durchscheinend. Es zeigt sich, hell beleuchtet, der Mann vom Felsen. Der braune Mantel hängt nachschleppend über die rechte Schulter. An der linken entblößtem Brust nagt eine Natter, die er in der Hand hält.)

König (liest).
„Und wenn ich ihn auch zermalme,
Wie der Hirt die Schlange tritt,
Bin ich minder tot?“

(Der Mann vom Felsen macht eine Bewegung mit der Hand, als wollte er die Schlange nach Rustan schleudern.)

Rustan (niederstürzend).
Entsetzen!

(Die Erscheinung verschwindet.)

König.
Was ist hier?

(Die Umhänge des Ruhebettes zurückschlagend.)

Rustan am Boden?
Was geschah? Sieh, Alter, hin!

(Der alte Kaleb nähert sich dem Hingesunkenen.)

Rustan (sich emporrichtend).
Ist er fort? Ha, Zauberkünste!
Und doch nur der Sinne Traum.

(Nach rückwärts gewendet.)

Kommst du immer, wenn’s zu spät?
Immer, wenn’s bereits geschehen?
Sieh den Becher halb geleert,
Ganz erfüllt schon mein Geschick.

König.
Mir wird schwül, mein Innres brennt.
Aufwärts bäumen sieh die Fluten,
Alle Tropfen meines Blutes.
Böser Trank.–Was war im Becher?
Rustan! Rustan! Was im Becher?

Rustan (bebend).
Herr, weiß ich’s?

König.
Und das Gefäß!
Was nur trübte meine Augen?
Das ist nicht derselbe Becher!
Fremde Zeichen stehen drauf,
Sinnlos wilde, wirre Zeichen.
Wo mein Becher? Rustan, Rustan!

Rustan (in die Knie sinkend).
Herr, weiß ich’s?

Die Alte (kommt hinter den Umhängen des Ruhebettes hervor. Sie rollt den mitgenommenen Becher mit dem Fuße vor sich her, dem Vorgrunde zu).
Hi, hi, hi!
Lauf mein Rädchen,
Spinn dein Fädchen!
Nun und nie!
Hi, hi!

(Sie verschwindet hinter den Vorhängen.)
(Rustan hat sich bemüht den rollenden Becher aufzuhalten und unter dem am Boden liegenden Mantel zu verbergen.)

König.
Welch Geräusch?–Das ist mein Becher;
Dieser hier ein unterschobner.

(Er ist vom Bette aufgestanden.)

Rustan, Rustan! Heil’ge Götter!
Ist denn niemand hier? Kein Helfer?
Alter, komm, sei du mir Stütze!

(Zu Rustan, der noch immer mit dem Becher beschäftigt ist.)

Ha, umsonst verhüllst du es!
Ewig sichtbar dein Verbrechen!
Alter, hilf! Ach, ich vergehe!
Hört denn niemand? Eilt nach Ärzten!
Rettung! Beistand! Rache! Hilfe!

(Er sinkt am Eingange des Zeltes den dort Entgegenkommenden in die Arme. Die Vorhänge schließen sich über der Gruppe.)

Rustan (nachdem er einige Male nach dem vor ihm liegenden Becher gegriffen hat, ihn endlich fassend).
Endlich! Endlich!–Ha, und dort!

(Er hebt auch den zweiten neben dem Ruhebette liegenden Becher auf, die Becher in beiden Händen wechselweise betrachtend.)

Eins und eins!

(Mit den Augen am Boden suchend.)

Wo ist der zweite?
Eins und eins! Der zweite, wo?
Wo der andre, andre Becher?

(Er sinkt erschöpft mit dem Haupt gegen das Ruhebette.)

Zanga (kommt).
Herr! ach, alles ist verloren!

Rustan (fährt empor).

Zanga.
In den Armen drauß der Seinen
Liegt der alte Fürst vergehend.
Seine Lippen stammeln Worte,
Er enthüllt wohl, was geschehn,
Was hier vorging, spricht er aus.

Rustan (den Tisch neben dem Sofa von der Stelle rückend).
Fort den Tisch hier und das Bette!
Dort hinaus entkam die Alte;
Da hinaus entflieh auch ich.

Zanga.
Fruchtlos, denn hier grenzt die Halle
An des Schlosses innre Räume;
Hier im Wege feste Mauern,
Dort verwehrt’s ein tobend Volk.

Rustan.
Hier hinaus! Mit meinen Zähnen
Will ich an der Mauer brechen,
Hier mit diesen meinen Armen
Einen Rettungsweg zur Flucht.

Zanga.
All umsonst! Denn horch! man kommt.

Rustan.
Nun, so halt bereit dein Messer,
Und wenn sie mich greifen, Zanga,
Stoß von rückwärts mir’s in Leib.
Hörst du wohl? von rückwärts, Zanga,
Und wenn alles erst verloren.

(Er steht, auf Zanga gestützt, mit vorhängendem Haupte.)
(Die Vorhänge des Zeltes teilen sich nach beiden Seiten. Die Stadt ist vom Monde hell beleuchtet. Volk erfüllt den äußern Raum.)

Gülnare (von ihren Frauen gefolgt, kommt von der linken Seite und eilt nach dem Vorgrunde).
Hier ist der, den ich genannt!

Rustan.
Zanga! Deinen Dolch! Gib Waffen!

Gülnare.
Herr, zu dir gehn meine Schritte.
Tot im Staube liegt mein Vater,
Und die wutentbrannten Mörder–

Rustan.
Wer? Wer sah’s? Wer weiß? Weiß ich’s?

Gülnare (fortfahrend).
Jener greise, stumme Mann,
Der, den Tod des Sohnes rächend,
Ausgestreckt die frevle Hand
Nach des edlen Fürsten Leben,
Seine Helfer und Genossen
Ruhen nicht, bis sie dem Vater
Mich, die Tochter, nachgesandt.
Zwar, der Frevler ist gefangen,
Aber mächtig sind die Seinen,
Man befreit ihn, er kehrt wieder,
Und vollendet sein Geschäft.

Rustan.
Zanga! Zanga! Spricht sie? Hör ich?

Gülnare (kniend).
Herr, o stoß mich nicht zurück!
Deinen Namen auf den Lippen,
Starb der gute, alte Vater,
Gleich, als wollt‘ er seine Liebe,
Sein Vertraun auf deinen Beistand
Noch im Abschied von dem Leben
Mir als letzte Erbschaft geben.
„Rustan“, sprach er, und verschied.
Und so fleh ich denn im Staube:
Nimm die Einsame, Verlaßne,
Einst bestimmt zu nähern Banden,
Nimm sie auf in deinen Schutz!

(Trompeten.)

Gülnare (aufstehend).
Hörst du? Auch das Heer in Aufruhr.
Es rückt an auf diese Mauern.
Deinen Namen nennen sie,
Ihren Führer, dich, als Herrn.
Und das Volk schart sich zu ihnen,
Alle gegen mich gerichtet,
Ohne deinen, deinen Schutz.

(Von der linken Seite, außer den Vorhängen, bringen einige Gewaffnete den alten Kaleb.)

Gülnare.
Siehst du dort den grauen Mörder?
Wie er funkelt, wie er glüht!
Weh!

Zanga (die Hand an den Säbel gelegt).
Auf ihn! Haut ihn in Stücke!

(Von der rechten Seite, aus dem Hintergrunde, ziehen in Reihen bewaffnete Krieger und schwenken sich gegen die Mitte zu halb auf.)

Gülnare.
Dort das Heer! Ich bin verloren!

Rustan (gegen Zanga und die Bewaffneten, die den alten Kaleb bedrohen).
Halt!

(Gegen die Reihen der Krieger.)

Und ihr!

(Auf Kaleb.)

Was er verbrochen,
Ob er schuldig, ob er’s nicht,
Übergebt ihn meiner Obhut
Und bestellet ein Gericht.

(Gegen das Heer.)

Und ihr andern, wackre Krieger,
Aber schuldig jetzt–gleich mir!

(Er wirft sich vor Gülnaren nieder.)

Werft, gleich mir, euch hin im Staube.
Eure Herrscherin steht hier!

(Die vordersten des Heeres knien, die übrigen senken die Lanzen.)

Gülnare.
Habe Dank!–Euch sei verziehen!
Allzu glücklich, als Empörer,
Daß, was ihr mit Trotz begehrt,
Eure Fürstin frei gewährt.

(Man hat den Turban des Königs gebracht und die Krone davon abgelöst.)

Dieses Landes Herrscherschmuck,
Er bleibt mein, ich geb ihn niemand,
Sollte Tod mich übereilen,
Niemand, keinem, auch nicht dir!
Geben nie–wohl aber teilen!

(Sie hebt die Krone in der Rechten hoch empor, während Rustan mit den Zeichen wilder Verzweiflung die Stirne gegen den Boden drückt.)

Das Volk.
Hoch Gülnare, unsre Fürstin!
Hoch Gülnare, Rustan! Rustan!

(Der Vorhang fällt.)
Vierter Aufzug

(Saal im Königlichen Schlosse, links und rechts Seitentüren. Im Hintergrunde links der Haupteingang, daneben ein alkovenartiger Raum, durch einen Vorhang bedeckt. Rechts im Vorgrunde ein Tisch und Stuhl.
Rustan, kostbar gekleidet, einen goldenen Reif im Haar, kommt hastig durch den Haupteingang. In demselben Augenblicke tritt Zanga durch die Seitentüre links ein. Rustan bedeutet ihm mit auf den Mund gelegtem Finger, umzukehren. Zanga zieht sich durch die Tür zurück. Rustan selbst tritt in den durch den Vorhang
abgeschlossenen Raum. Karkhan und zwei seiner Verwandten kommen durch den Haupteingang.)

Karkhan.
Hierher kommt, und folgt mir, Freunde!
Was ich längst bei mir beschlossen,
Jetzt und jetzo führ ich’s aus.
Könnt ihr länger es mit ansehn,
Wie der eingedrungne Fremde
Eurer und der Euren spottet?
Jeden Tag an Kühnheit wachsend,
Jede Stunde an Gewalt?
Schwinden täglich nicht die Besten,
Denen seine Furcht mißtrauet,
Unbemerkt aus unsrer Mitte?
Wie? Wohin? Wer kann es wissen?
Und sein Helfer, jener Schwarze,
Den der Abgrund ausgespien,
Stachelt tückisch seine Kühnheit
Bis zu selbstvergeßner Wut.
Wo ist Recht noch und Gericht?
Schmachtet nicht mein alter Ohm,
Er, der sprachlos Unglücksel’ge,
Schwarzer Frevel falsch beschuldigt,
Ungehört und unvernommen,
Rechtlos hinter schwarzen Mauern,
Überwiesen, weil verklagt?
Oh, daß ein gerechter Richter
Mit den Augen, statt den Ohren,
Hörte seine stumme Sprache,
Die er spricht, der Unglücksel’ge,
Statt mit Lippen, mit der Hand;
Manche Zweifel würden schwinden,
Manche Rätsel würden klar;
Die jetzt, richtend, andre binden,
Stellten selbst sich schuldig dar.
Ha, ihr schweigt? Blickt auf den Boden?
Seid ihr Männer, wagt’s zu sein!
Folgt mir! Hier der Fürstin Zimmer,
Wir zu drei, wir treten ein,
Klagen ihr des Landes Nöten,
Klagen ihr die eigne Not,
Zeigen ihrem Schamerröten,
Wie so machtlos ihr Gebot.
Oh, ich weiß, sie seufzet selber
Unter jener Ketten Last,
Die der Fremde um sie herschlingt
Wie um eine Sklavin fast.
Laßt uns auf die Hohe richten,
Meinem Oheim werde Recht;
Frei und laut vor allem Volke
Tue sich Verborgnes kund,
Und wer schuldig, und wer schuldlos,
Richte weiser Richter Mund.
Einen Schritt schon tat ich selber,
Einen schon hab ich gewagt–
Doch ein Tor, der früher sagt,
Was getan erst nützt und frommt.
Kommt und folget mir zur Fürstin,
Dort allein ist Schutz und Halt;
Dieser Tag, er sei der letzte
Eingedrungner Machtgewalt.

(Sie gehen auf die Seitentüre rechts zu.)

Rustan (der während der letzten Worte hinter dem Vorhange hervorgetreten ist, verstellt ihnen den Weg).
Halt noch erst! Gebt euch gefangen!

Karkhan.
Welchen Rechtes?

Rustan.
Hochverräter!
Zanga! Wachen! Wachen! Zanga!

(Die drei ziehen die Dolche.)

Rustan.
Zieht nur aus die feigen Waffen,
Nicht ein Heer von euresgleichen
Fürcht ich, einzeln, wie ich bin.

(Aus der Seitentüre links kommt Zanga, durch die Mitteltüre ein Hauptmann mit Soldaten.)

Rustan.
Schafft sie fort, die Hochverräter!

Karkhan.
Hochverräter? Wir?

Rustan.
Ihr leugnet’s?
Blinkt nicht noch in euren Händen
Der Empörung frecher Stahl?
Oh, ich kenne euer Treiben!
In dem Innern eurer Häuser
Lauern meine wachen Späher,
Was ihr noch so leis gesprochen,
Reicht von fern bis an mein Ohr.
Fort mit ihnen, ohne Zaudern!
Ich will dieses Land durchflammen
Wie ein reinigend Gewitter,
Niederschmettern seine Stämme,
Aus dem Grund die Wurzeln haun
Und dem Boden, wenn gereutet,
Neuen Samen anvertraun!
Fort mit ihnen!

(Der Hauptmann hat sich Karkhan genähert, der mit einer bittenden, stummen Gebärde, auf die Tür der Königin zeigend, ihn einzuhalten bittet.)

Rustan (zu Zanga im Vorgrunde, leise).
Aber du
Geh zum Kerker jenes Alten,
Den ich selbst dem Licht erhalten,
Die Notwendigkeit gebeut:
Schaff ihn fort!

Zanga.
Wohl, Herr, doch wie?

Ein Kämmerer (kommt aus der Seitentür rechts).
Herr, die Königin läßt fragen,
Welch Geräusch in ihren Zimmern–?

Rustan.
Früh genug soll sie’s erfahren,
Wenn getan, was not zu tun.

(Der Kämmerer geht wieder ab.)

Rustan (zu Zanga leise).
Schaff ihn fort aus diesen Mauern!
Laß mit vorgehaltnem Dolch
Ihn geloben teure Eide;
Aber, von Gefahr bedrängt,
Besser er, als–merk–wir beide!

(Zanga zieht sich zurück, während des Folgenden geht er leise fort.)

Rustan (die Gefangenen erblickend).
Ihr noch hier? Fort mit den Frevlern!

Hauptmann.
Herr, die Königin naht selber.

(Er zieht sich zurück.)

(Zwei Kämmerlinge haben die Seitentüre geöffnet. Gülnare tritt heraus mit Begleitung.)

Gülnare.
Man verweigert die Erklärung
Dem von mir gesandten Diener.
Hier bin ich, mein eigner Bote,
Um zu fragen, was geschah.

Rustan (auf Karkhan zeigend).
Führt sie fort!

Gülnare.
Wer sind die Leute?

Rustan.
Hochverräter.

Karkhan.
Unterdrückte,
Die zu deinen Füßen flehn.

(Die drei knien.)

Gülnare.
Laßt sie sprechen.

Rustan.
Einverstanden
Mit dem alten grauen Frevler,
Der nur allzu leicht gebüßt–

Karkhan.
Einverstanden, wenn er schuldlos,
Doch sein Feind, wenn er der deine.
Nicht Verzeihung und nicht Schonung,
Nur Gehör bitt ich für ihn;
Was Verbrechern selbst zuteil wird,
Eines Richters Aug‘ und Ohr.

Gülnare.
Billig scheint, was sie begehren.

Rustan.
Wär‘ es so, würd‘ ich’s gewähren.

Gülnare.
Und wenn ich’s nun selber wünsche?

Rustan.
Wünsche! Wünsche!

Gülnare.
Und befehle.

Rustan.
Ließe gleich sich mancherlei
Noch entgegnen diesem Spruche,
Der ein Wunsch und ein Befehl;
Doch, gefällig gegen Damen,
Füg ich gern mich unbedingt.
Und schon sandt‘ ich meinen Diener,
Der den vielbesprochnen Alten
Hin vor seinen Richter bringt.

Karkhan.
Trifft ihn der, ist er verloren.
Sende selbst nach seinem Kerker,
Leih ihm selbst ein gnädig Ohr.

Gülnare (zum Kämmerer).
Geh denn hin, und führ ihn vor.

Rustan.
Halt!

(Dem Kämmerer den Weg vertretend.)

Gülnare.
Ich sprach!

(Der Kämmerer geht ab.)

Rustan.
Nun wohl, ich sehe,
Was ein Bund mir schien der Kleinen,
Und ein Anschlag in geheim,
Ist ein offenkundig Bündnis
Zwischen Hohen, zwischen Niedern,
Gift von Schlangen und Insekten
Auf des Leuen Untergang.
Und auf nichts Geringres zielt man,
Als den überläst’gen Vormund,
Der mit seines Armes Walten
Weiberhafter Launen Willkür
Fern von diesem Reich gehalten,
Einzuschüchtern, wenn nicht mehr.

Gülnare.
Was es sei, es wird sich zeigen,
Bringt man erst den Alten her.

Rustan.
Eines nur hast du vergessen:
Daß des weiten Landes Beste
Meinem Arm ihr Heil vertraun.
Meinem Rufe folgt dein Krieger,
Und dein Höfling meinem Wort;
Zutraunsvoll der stille Bürger
Sieht nach mir, als seinem Hort.
Ja, der Diener, den du sandtest,
Jenen Alten zu befrein,
Kehrt erfolglos von der Pforte,
Läßt nicht mein Geheiß ihn ein.
Denn des festen Turmes Wache
Steht in meiner Fahnen Eid,
Mit dem Kopf bezahlt der Schwache,
Der ihn ohne mich befreit.
Längst schon dieses Tags gewärtig,
Sah ich so mich weise vor:
Wer von Gnade lebt, ist zaghaft,
Wer auf Dank zählt, ist ein Tor.

Gülnare.
Wie nur allzu schnell enthüllst du,
Was die Ahnung längst befürchtet.
Vater, Vater! Welchem Schützer
Gabst dein Liebstes du in Haft!

Rustan.
Er wohl wußte, wem zu trauen:
Nicht der blöden Scheu, der Kraft.

Karkhan.
Fürstin, sei du nicht beklommen,
Noch ist alles nicht verloren,
Mancher Helfer bleibt dir noch.
Meine Freunde stehn in Waffen,
Und was lange still beschlossen,
Frei und offen künd ich’s nun.
Während hier zu dir ich spreche,
Sprechen sie zu deinem Volke,
Schütteln ab das feige Joch.
Und schon, dünkt mich, hat’s begonnen,
Denn der Helfer seiner Taten,
Sieh, verschüchtert, stumm, beklommen,
Wie nach schlecht vollbrachtem Auftrag,
Kehrt er wieder, ist er da.

Zanga (ist mit allen Zeichen der Verwirrung eingetreten und hat sich in Rustans Nähe gestellt).

Karkhan.
Und herauf die weiten Stiegen
Dringt ein bunt verworrnes Rauschen,
Wie von Tritten, wie von Stimmen.
Ja, dein Volk führt deine Sache,
Und es kam der Tag der Rache.
Siehst du dort? Mein Ohm ist frei!

(Der alte Kaleb erscheint an der Türe. Bewaffnetes Geleite hinter ihm.)

Rustan (zu Zanga).
Tor und Schurke!

Zanga.
Herr, gar alt
Ist der Spruch: vor Recht Gewalt.

(Der alte Kaleb ist eingetreten. Da er Rustan erblickt, will er wieder zurück.)

Gülnare.
Bleib du nur und fürchte nichts.
Ich bin hier zu deinem Beistand.
Ja, man braucht dein einfach Zeugnis
Über einen wicht’gen Punkt,
Den noch Nebel dicht umwallen,
Und nur dir bekannt von allen:
Deut uns deines Königs Tod.

Rustan.
Er ihn deuten? Raserei!
Er, der selbst der Tat verdächtig,
Überwiesen wohl sogar,
Der in jener grausen Stunde
Schuldig hieß in jedem Munde,
Stellt sich jetzt, ein Kläger, dar?

Gülnare.
Der Verdacht der ersten Stunde
Ist darum nicht immer wahr.
Wohl hab ich seitdem vernommen,
Daß der König, als er hinging
In den letzten, tiefen Schlaf,
Diesen hier als Freund umfangen,
Ihm vertraut die letzten Worte;
Und er wußte, wer ihn traf.

(Der alte Kaleb ist auf die Knie gesunken, und streckt flehend die Hände empor.)

Rustan.
Ha, vortrefflich ausgesonnen,
Nur nicht auch so leicht vollbracht.
Du vergißt, daß hier dein Zeuge,
Daß er lautlos wie die Nacht,
Und mit Blicken und mit Mienen,
Die ihr schlau ihm beigebracht,
Kann vor Kindern er bestehen,
Nicht vor der Gesetze Macht.

Gülnare.
Und du selber hast vergessen,
Daß der Mensch in seiner Weisheit
Längst ein Mittel ausgedacht,
Zu verkörpern seine Laute,
Festzuhalten, was gedacht.
Dort ein Tisch, Papier und Feder,
Mit zwei Zügen ist’s vollbracht,
Und ein ärmlich Blatt erhellet
Des Geschehnen dunkle Nacht.
Setzt ihn hin und laßt ihn schreiben,
Ihn beschützet meine Macht.

(Der Alte ist von seinen Verwandten an das Tischchen rechts im Vorgrunde gesetzt worden. Man hat ihm Schreibgeräte gegeben.)

Rustan.
Mag er schreiben, mag er lügen,
Gleichviel wen, ob mich es trifft.

(Den Säbel in der Scheide emporhaltend.)

Meine Feder birgt die Scheide,
Blut’ge Wunden meine Schrift.
Geifre Wurm! ich geh, zu ordnen,
Was unschädlich macht dein Gift.

(Er geht nach dem Hintergrunde zu, bleibt aber in der Mitte, halb gegen den Alten gewendet, erwartend stehen.)

Karkhan (zu dem Alten).
Zittre nicht, sei nicht beklommen,
Ist es doch schon halb vollbracht!
Silben bilden sich und Worte.

(Lesend.)

„Eures Königs Mörder–“

Rustan (mit heftiger Bewegung, den Säbel halb aus der Scheide gezogen).
Halt!

(Der Alte fährt erschreckt empor und hält sich zitternd am Tische fest, die Feder entsinkt seiner Hand und fällt auf der rechten Seite des Tisches zur Erde.)

Rustan.
Ich verbiete, daß er schreibe!

Gülnare.
Ich befehle, daß er’s soll!

Rustan.
Stellt ihn mir! Mir fest ins Auge
Mag er schauen und vergehn!
Oder ihr, die ihr so eifrig
Seine Meuterkünste fördert.
Ist hier Landes denn nicht Sitte,
Daß in Fällen dunklen Rechts,
Wo’s an Licht fehlt und Beweisen,
Beide Teile sich zum Zweikampf
Stellen mit geschärften Eisen?
Auf! Wer ficht für diesen Alten?
Ich will Gegenpart ihm halten.

Gülnare.
Nicht wer stärker, wer im Recht,
Zeige Einsicht, statt Gefecht!
Schreib du nur! Wo ist die Feder?
Er verlor sie, bringt ihm neue.

Zanga (der während des Vorigen, in Absätzen sich von seinem Herrn entfernend, von rückwärts auf die rechte Seite des Vorgrundes gekommen ist).
Neu ist gut, doch alt ist besser.

(Er hebt die am Boden liegende Feder auf.)

Hier die Feder!

(Rasch nach dem Eingange blickend.)

Doch wer naht?

(Die Blicke der Nächststehenden folgen den seinigen und wenden sich nach der Türe.)

Zanga.
Alter, hier!

(Er reicht ihm die Feder mit der linken Hand. Während der Alte zögernd darnach greift, fährt Zanga mit der Rechten, in der er den Dolch verborgen hält, ihm entgegen und verwundet ihn.)

Doch sieh dich vor!
(Der Alte sinkt mit einem unartikulierten Schmerzenslaut in den Stuhl zurück, die verwundete Rechte mit der Linken, später mit einem Tuche bedeckend.)

Gülnare (nach dem Alten blickend).
Ha, was ist? Du bist verwundet?

(Zanga hat die Hand, in der er den Dolch hält, rasch auf den Rücken gelegt, und sucht den Hintergrund und die Seite zu gewinnen, wo sein Herr steht.)

Gülnare.
Wo der Täter? Schließt die Türen!

Karkhan.
Dieser war’s! Seht ihr das Blut?
Seht den Dolch in seinen Händen!
Greift ihn!

Zanga.
Herr, errett, beschütze!

Gülnare.
Schütz ihn, ja, und hab’s nicht Hehl!
War die Tat doch dein Befehl!

Rustan.
Mein Befehl? Der ich vor allen
Wünschen muß, daß dieser Mann,
Der allein den gift’gen Argwohn
Mir vom Haupt entfernen kann,
Daß er lebe, daß er fähig–
Mit der Hand, wenn stumm sein Mund
Auszusagen, was ihm kund;
Und ich sollt‘ ihn selbst verletzen,
Selbst Unmöglichkeit mir setzen,
Mich zu reinen hier zur Stund‘?
Hat ihn dieser hier verwundet,
Steh dafür er selber ein;
Wer des Zeugen Worte scheuet,
Fühlt am mindesten sich rein.
War denn er nicht auch zugegen,
Als der alte Fürst erblich?
Warum einen nur beschuld’gen,
Teilt der Schein in viele sich?
Hat sein Arm es nicht vollzogen,
Tat’s vielleicht sein Wort, sein Rat;
Oh, es gibt der Arten viele,
Zu begehen eine Tat!
Und so kehr ich ihm den Rücken,
Wende ab von ihm den Blick;
Ist er schuldlos, sei’s zum Glücke,
Schuldig, hab ihn sein Geschick.

Zanga.
Herr!

Rustan.
Umsonst! Der Alte zeugte.

Zanga.
Das mein Dank?

Rustan.
Verräter, Dank?
Warst nicht du’s, der mich verleitet,
Aus der Heimat mich gerissen,
Mich umgarnt, umsponnen mich?

Zanga.
Wohl! Nur eins dient dir zu wissen:
Stumm der Alte, doch nicht ich!
Sammelt euch! Ich will verkünden,
Wie man Reich und Krone finden,
Heben kann vom Staube sich.

Rustan.
Zanga!

Zanga.
Nun?

Rustan.
Du wolltest–?

Zanga.
Will!

Rustan.
Du hast recht! und wir sind töricht,
Uns dem dunkeln Werk der Lügen,
Unsrer Feinde Trug zu fügen,
Nun, da ihre List zerstört.
Jener Zeuge, dem sie trauten,
All ihr Treiben auf ihn bauten,
Ihres Hoffens einzig Pfand,
Stumm an Zunge, tot die Hand.
Bleib bei mir, ich will dich schützen,
Ewig sei der Treue Band! Fürstin, ist dir sonst ein Mittel,
Muß zum letztenmal ich fragen,
Zu beweisen deine Klagen?
Noch ein Zeuge? Bring ihn her!

Gülnare.
Niemand, nein, als Gott und er.

Rustan.
Gott ist endlich über allen;
Aber nicht nur, (was) begangen,
Sieht das (Wie) auch, das (Warum.)
Nein, dein Zeuge hier vor Menschen
Zeuge jetzt zum letzten Male,
Schweige dann auf immerdar!

(Er ist zum Tische getreten und hat den darauf liegenden Zettel ergriffen, sich damit vor den Alten hinstellend.)

„Eures Königs Mörder“–Wer?
Warst du’s selbst? Du wirst’s nicht sagen.
War es jener dort, dein Neffe?
Er, ein Heuchler, und mein Feind?
War’s des Königs eigner Mundschenk?
Oder sie, des Fürsten Tochter,
Die, nach Reich und Krone lüstern,
Vorgriff seinem trägen Ende?
Nicht mit Winken und Gebärden,
Deutlich zeug vor dem Gesetz!

(Mit steigender Schnelligkeit.)

War’s mein Diener, den ich selber
Angeklagt im Taumelwahn?
War’s ein Zufall? war’s natürlich?
Waren’s Krieger, waren’s Bürger?

(Einzelne mit dem Finger bezeichnend.)

Jener? Der dort? Dieser?

Der Alte (der sich während des Vorigen emporgerichtet und mit blitzenden Augen und hocharbeitender Brust dagestanden hat, stammelt jetzt in höchster Anstrengung, nach einigen unartikulierten Lauten).
D-U!

Gülnare.
Spricht er?

Rustan.
Torheit! Aberwitz!
Abgebrochne Schmerzenslaute,
Formt ihr euch zu Sinn und Worten?
Kannst du zeugen, wohl, so zeuge!
Breche dann der Himmel ein.
Gib den Namen und vollende!

(Den Zettel hinhaltend.)

„Eures Königs Mörder“–

Der Alte (nach einigen heftigen Bewegungen plötzlich die verwundete rechte Hand aus der sie haltenden Linken loslassend und mit gebrochenen Gliedern in die Arme der Umstehenden sinkend, leise aber schnell).
Rustan!

Karkhan.
Gott, er stirbt!

Gülnare.
O ew’ge Vorsicht!

(Alle um den Alten beschäftigt. Pause.)

Rustan.
Zanga!

Zanga.
Herr!

Rustan.
Hast du vernommen?

Zanga.
Wohl!

Rustan.
Es ist nichts Wirklichs, sag ich.
Truggestalten, Nachtgebilde;
Krankenwahnwitz, willst du lieber,
Und wir sehen’s, weil im Fieber.

(Es schlägt die Uhr.)

Horch, es schlägt!–Drei Uhr vor Tage.
Kurze Zeit, so ist’s vorüber!
Und ich dehne mich und schüttle,
Morgenluft weht um die Stirne.
Kommt der Tag, ist alles klar,
Und ich bin dann kein Verbrecher,
Nein, bin wieder, der ich war.

(Eine Dienerin der Königin, die sich früher entfernt, kommt mit einem Fläschchen zum Beistande des Verwundeten zurück.)

Rustan.
Sieh, ist das nicht Muhme Mirza?
Auch ein Nachtgebild‘, wie jene,
Die dort um den Alten stehn!
Sieh, ich hauche, sie vergehn.
Wie? sie bleiben? nahen? dräuen?
Eingetaucht denn nur von neuen,
Laß uns nach dem Weitern sehn.

Gülnare (sich von dem Alten emporrichtend).
All umsonst! die Pulse stocken;
Nur zu sicher, er verging.

(Rustan erblickend.)

Du noch hier? noch immer trotzend?

Rustan.
Fürstin, halt! und ohne Hast!
Was hier wirklich, was geschehen,
Wieviel mir dran fällt zur Last,
Laß uns rechnen, laß uns abziehn,
Mir, was mein, dir, was du hast.
Manchen Dienst bist du mir schuldig,
Manches Gute dies dein Land,
Und doch schenk ich dir’s zur Stunde,
Lasse los all was dich band.
Wähle von den reichsten Schätzen,
Nimm die köstlichsten Provinzen,
Kleinod, Perlen, Edelstein;
Mir laß eine leere Wüste,
Wo Verlangen buhlt mit Armut,
Wo kein Gold als Sonnenschein.
Doch die Herrschaft, sie sei mein.

Gülnare.
Dir die Herrschaft? Herrsch in Ketten!
Nehmt gefangen ihn!

Rustan.
Bedenkt

(Der Hintergrund hat sich nach und nach mit Soldaten gefüllt.)

Nur ein Wort, und diese Krieger,
Deren Abgott ich in Schlachten–

Gülnare.
Für mich, doch nicht gegen mich!
Schau, sie fliehen deine Reihen!
Kommt zu mir her, meine Treuen!

(Die Krieger, die auf Rustans Seite gestanden haben, schließen sich einer nach dem andern, samt den Anführern, der gegenüberstehenden Reihe an.)

Rustan (ihnen zurufend).
Halt!

Gülnare.
Verlaßt ihn, der mein Feind!

(Alle, bis auf einige wenige, sind übergetreten.)

Rustan (den Säbel ziehend).
Nun, wohlan, so gilt’s zu fechten!
Hier mein Säbel, Zanga, bind ihn,
Bind ihn fest mit ehrnen Ketten.
Will den Kampfplatz denn betreten,
Erst im Tod laß ich den Stahl.

Zanga (vor sich hin).
Hier wird’s heiß nun allzumal.

(Er entfernt sich hinter Rustans Rücken durch die Seitentüre links, die offenstehen bleibt.)

Rustan (in Fechterstellung).
Kommt nur an! Ihr alle, alle!

Gülnare (ihm entgegentretend).
Diese nicht, sie sind nur Diener;
Triff mich selber, hast du Mut!

Rustan (zurückweichend).
Alle, nur nicht dich!

Gülnare.
Ei, Kühner!
Trafst den Vater; scheust du Blut?

Rustan (sich vor ihr zurückziehend).
Zanga! Zanga!

Gülnare.
Nun mag’s gelten!
Nun an euch! Nun nehmt ihn fest!

(Sie tritt nach der rechten Seite des Vorgrundes. Die dort Aufgestellten, Karkhan an ihrer Spitze, wenden sich nach dem Hintergrunde. Gefecht.)

Rustans Stimme.
Zanga! Zanga! Meine Pferde!

Karkhan.
Fürstin, schau dort durch die Zimmer,
Wo der Schwarze kaum entwich,
Sieh, mit hellentflammter Fackel
Ihn das weite Schloß durcheilen,
Und ich sorg, er steckt’s in Brand.

Gülnare.
Mag das Schloß, ich selbst vergehen,
Fällt nur er von ihrer Hand!

(Sie eilt mit ihren Dienerinnen durch die Seitentüre rechts ab. Der Alte ist schon früher weggebracht worden. Das Gefecht hat sich zur Türe des Hintergrundes hinausgedrängt. Waffenlärm. Kurze Pause. Dann ertönen aus der Türe links Rustans Stimme, die wiederholt „Zanga!“ ruft. Die Szene schließt.)

(Kurzes ländliches Zimmer mit einer Türe im Hintergrunde und einer Seitentüre rechts. Dichtes Dunkel.)

Mirza (tritt mit einer Lampe, vom Hintergrunde her, auf).
Horch! war das nicht seine Stimme?
Übrall, dünkt mich, hör ich ihn,
Hilfeflehend, Beistand rufend,
Wie in tödlicher Gefahr.

(An der Türe links horchend.)

Und ich bin allein, und niemand
Hört mich an und tröstet mich,
Schilt mich töricht, nennt ihn sicher,
Wahrhaft nichts als meinen Schmerz.
Nein, ich kann es nicht ertragen!
Muß ein nahes Wesen suchen,
Auszuschütten meinen Kummer,
Zu erleichtern dieses Herz!

(An der Türe rechts.)

Vater, kannst du ruhig schlafen,
Denkst nicht mein und meiner Angst?

Massuds Stimme (aus der Seitentüre rechts).
Mirza, du?

Mirza.
Ich bin’s, bin’s selber.
Wachst du, so wie ich in Kummer?
Bist besorgt um ihn, gleich mir?

Massud (von innen).
Ist’s schon spät?

Mirza.
Drei Uhr vor Tage.

Massud.
Tritt nur ein.

Mirza.
Zu dir?

Massud.
Jawohl!
Gehn zusammen dann hinüber.

Mirza.
Wirklich?–O mein guter Vater!
Sieh, ich komme!–Und ihr Götter,
Euch sei er indes vertraut!
Während ich auf andres denke,
Während ich von anderm spreche,
Schützet ihr den teuren Mann!
Nicht vor Leiden nur und Nöten,
Auch vor Wünschen und Gedanken,
Daß kein Unheil mir ihn anficht,
Bis mein Innres wieder bei ihm,
Und ich wieder beten kann.

Massuds Stimme.
Kommst du nicht?

Mirza.
Sie nur, hier bin ich.

(Die Türe öffnend.)

Schon vom Lager? Schon gekleidet?
Oh, mein Vater! Oh, wie gut!

(Sie geht hinein.)

(Waldgegend. Rechts im Vorgrunde der hereinspringende Fels, im Hintergrunde die Brücke, wie zu Anfang des zweiten Aufzuges. Dunkel. Ferner Schlachtlärm, der sich allmählich verliert. Dann kommt Rustan, verwundet, auf Zanga gestützt.)

Rustan.
Zanga, schau, wie steht das Treffen?

Zanga.
Treffen? Sag vielmehr: die Flucht!
Rings verlassen dich die Deinen,
Und der Rest, er liegt erschlagen
Unter Feindesschwerter Wucht.

Rustan.
Dahin kam es? Das das Ende?

Zanga.
Ei, verklage deine Hände!
Wie man schlägt, so fliegt der Ball.
Hättest du, so wie ich wollte,
Als der Feind uns hart bedrängte
In der buntverworrnen Stadt,
Wenn du damals mir vergönntest,
Feuerbrände einzuschleudern
In die schreckgeleerten Gassen,
In der Häuserreihe Zahl,
Hätten uns wohl ziehen lassen,
Stünde besser allzumal.

Rustan.
Ungeheuer! So viel Leben!–
Und wer weiß, ob es gelang?

Zanga.
Ob’s gelang? Da sitzt der Knoten!
Nicht, weil’s Frevel, weil’s gefährlich,
Macht’s der frommen Seele bang.
Und mit also schwankem Gang,
Mit so ärmlich halbem Mute
Wolltest du der Herrschaft Sprossen,
Du den steilen Weg zum Großen,
Du erklimmen Macht und Rang?
Bunt gemengt aus manchen Stoffen
Ist das Roherz der Gewalt,
Kaum der Brand von zehen Reichen
Gnügt, die Mischung auszugleichen,
Die im Tiegel kocht und wallt;
Doch ein Säkul erst im Nacken,
Dem Vergangnen ist man hold,
Feuer reint Metall von Schlacken,
Und der König glänzt wie Gold.
Doch du konntest’s nicht ertragen,
Eng der Sinn, das Aug‘ nur weit,
Willst du siegen, mußt du wagen;
Kehre denn zur Niedrigkeit!

Rustan.
Das zu hören von dem Diener,
Von der Frevel Stifter, Helfer!

Zanga.
Helfer? Stifter? Das vielleicht!
Aber Diener? Laß mich lachen!
Wessen Diener? wo der Herr?
Bist du nicht herabgestiegen,
Nicht gefallen von der Höhe,
Die mein Finger dir gewiesen,
Weil dem mächt’gen Willensriesen
Fehlte Mut zur kühnen Tat?
Gleich umfängt uns Schuld und Strafe,
Gleich an Anspruch, Rang und Macht;
Und wie gleich im Mutterschoße,
Schaut als Gleiche uns die Nacht.

Rustan.
Nun, wohlan, so rett uns beide!
Sinn auf Mittel, steh bei mir!
Denn welch Ausweg bliebe dir,
Der gewußt um solche Taten?

Zanga.
Welcher Ausweg? Dich verraten!
Oder glaubst du, kleinen Sold
Zahlt man dem, der aus dich liefert?
Ei, dein Kopf ist eitel Gold!

Rustan (einen Hieb nach ihm führend).
Teufel! Ungeheuer!

Zanga (mit dem Schwert, das er entblößt unter dem Mantel getragen, den Streich auffangend und ihm den Säbel aus der Hand schlagend).
Halt!
Darauf war ich vorbereitet.
Vorsicht übt man mit euch Herrn,
Die Verzweiflung schlägt gar gern!
Und was hält mich nun noch ab,
Dir den langgedehnten Stahl
Gradaus in die Brust zu stoßen,
Übend so die eigne Rache,
Des zertretnen Landes Sache
Eines Streichs mit einem Mal?
Und doch nein; schrick nicht zurück!
Warst du gleich ein schwacher Schüler,
Warst mein Schüler immer doch,
Das Gebilde meiner Hände
Ehr ich selbst zerschlagen noch.
Fliehe du, ich bleibe hier;
Sammle deines Glückes Trümmer,
Sonne mich in neuem Schimmer,
Du giltst tot. der Lohn wird mir.

(Nach dem Hintergrunde zeigend.)

Dort dein Weg! Nach dorthin flieh!

Rustan.
Zanga, noch zum letzten Male!
Geh mit mir! Denk, was ich war;
Wie die Menschen mir gehuldigt;
Denk der Gnaden, die ich häufte
Auch auf dich, ob deinem Haupt.

Zanga.
Als du mich des Mords beschuldigt,
Weil du hilflos mich geglaubt?

Rustan.
Eins und alles sei vergessen!
Bin verwundet, steh mir bei!
Nicht des Pfads, der Gegend kundig.

Zanga.
Nicht der Gegend? Ha, ha, ha!
Sieh um dich, es ist dieselbe,
Wo den König du gerettet,
Du und einer noch zumal;
Wo du jenen andern trafst.
Siehst du dort die dunkle Brücke?
Sie, der erste Weg zum Glücke,
Sei nun auch des Unheils Pfad.

Rustan.
Weh mir, weh!

Zanga (auf die Brücke zeigend).
Nach dorthin flieh!

Rustan.
Nimmermehr betret ich sie!
Dort hinaus!

(Nach der rechten Seite gewendet.)

Zanga.
Ei ja! ei ja!
Doch bemerk nur erst die Flämmchen,
Die die Gegend rings durchziehn.
Sind nicht Geister der Erschlagnen,
Krieger sind’s, die Fackeln tragen,
Suchend dich!

Rustan (nach links gekehrt).
Nun denn, zurück!
Rück den Weg, auf dem wir kamen.

(Entfernte Trompetenklänge von der linken Seite.)

Zanga.
Horch! Was dünkt dir von dem Klang?
Die Verfolger auch im Rücken,
Eingeengt bist du, umgarnt,
Traust du noch nicht dem, der warnt?
Dort dein Weg!

Rustan (der den emporsteigenden Weg betreten hat, der zur Brücke hinanführt, stehenbleibend).
Ich kann nicht, kann nicht!
Daß ich jemals dir getraut!

Zanga.
Fühlst du’s jetzt erst, da’s zu spät?

Rustan.
O mir schwindelt, o mir graut!
Fahles Licht zuckt durch die Gegend,
Fieber rasen im Gehirne,
Und die schwankenden Gestalten,
Nicht zu fassen, nicht zu halten,
Drehen sich im Wirbeltanz.
Feind! Versucher! Böser Engel!
Wohin schwandst du? Bist so dunkel!

Zanga (der Mantel und Kopfbedeckung weggeworfen hat und in ganz schwarzer Kleidung dasteht).
Mir ist warm, und ich bin schwarz.

Rustan.
Schlangen scheinen deine Haare!

Zanga (zwei flatternde Streifen, die sein Haupt umschlingen, aus den Haaren ziehend).
Bänder, Bänder! nichts als Bänder!

Rustan.
Und das Kleid auf deinem Rücken
Dehnt sich aus zu schwarzen Flügeln.

Zanga.
Böse Falten, und doch gut auch.
So trägt man’s bei uns zulande.

Rustan.
Und zu deinen Mörderfüßen
Leuchtet’s fahl mit düsterm Glanz.

Zanga (einen gestiegen kolbenartigen Körper aufhebend, der schon früher am Boden lag, aber erst jetzt zu leuchten anfängt).
Faules Holz und Moderschwamm!
Doch zu brauchen, dient als Leuchte.

(Den Körper emporhaltend, der ein stärkeres Licht gibt.)

Leuchtet dir hinab zum Abgrund.
Dort hinauf! dort nur ist Rettung.
Bist umsponnen, siehst du? Feinde!

(Auf der rechten Seite des Vorgrundes treten Gewaffnete auf.)

Anführer.
Ja, er ist’s! Gib dich gefangen!

Rustan.
Weh!

Zanga.
Hinauf!

(Auf der linken Seite, hinter Zangas Rücken, erscheinen Krieger.)

Anführer.
Hier ist der Frevler.

Zanga.
Nur hinauf!

Rustan (eilt den Weg zur Brücke hinauf).

Anführer (der auf der linken Seite stehenden Krieger).
Verrennt den Weg ihm!

(Einige folgen ihm.)

Rustan (erscheint neben der Brücke).
Zanga!

Zanga.
Nur die Brücke frei noch!

(Rustan hat die Brücke betreten.)
(Auf der rechten Seite der Anhöhe erscheint Gülnare mit Gefolge und Fackeln.)

Gülnare.
Halt! du Blut’ger!

Zanga.
Willst du fallen
Von des Henkers Hand, ein Feiger?
Nun stehst du am rechten Platze!
Stürz hinab dich in die Fluten,
Stirb als Krieger, fall als Held!

Gülnare.
Gib dich! gib dich!

(Von allen Seiten sind Krieger mit Fackeln aufgetreten. Die Gewaffneten dringen näher.)

Zanga.
Mir! Verloren!
(Eine Rustan ähnliche Gestalt stürzt sich in den Strom. In demselben Augenblicke bricht der Fels rechts im Vorgrunde zusammen. Rustan auf seinem Bett liegend wird sichtbar, die beiden Knaben, wie am Schlusse des ersten Aufzuges, ihm zur Seite. Ein Schleier zieht sich über die Gegend, ein zweiter, ein dritter. Die Gestalten werden undeutlich. Zanga versinkt, Wolken bedecken das Ganze.)

Rustan (sich im Schlafe bewegend).
Weh mir, weh! ich bin verloren!

(Der zu Füßen des Bettes stehende, dunkelgekleidete Knabe zündet seine Fackel an der brennenden des zu Häupten stehenden buntgekleideten an, der dafür die seine gegen den Boden auslöscht. Rustan erwacht. Die Knaben versinken. Die Wolken rückwärts verziehen sich. Das Innere der Hütte erscheint, wie im ersten
Aufzuge.)

Rustan (emporfahrend und seine Arme befühlend).
Leb ich noch? Bin ich gefangen?
So verschlang mich nicht der Strom?
Zanga! Zanga! O mein Elend!

Zanga (in seiner Haustracht, wie im ersten Aufzuge, tritt ein mit einer Lampe, die er hinsetzt).
Endlich wach! Der Morgen graut,
Und die Pferde stehn bereitet.

Rustan.
Unhold! Mörder! Schlange! Teufel!
Kommst du her, um mein zu spotten?
Sind gleich Vipern deine Haare,
Flammen deiner Augen Sterne,
Und ein Blitz in deiner Hand,
Doch, ein Sterblicher, Verlockter,
Will ich kühlen meine Rache,
Und der Dolch hier soll versuchen,
Ob dein Leib von gleichem Erz,
Als die Stirn, der Grimm, das Herz.

(Er hat den Dolch ergriffen, der neben seinem Bette hängt, im Begriff ihn zu schleudern.)

Zanga.
Hilfe! Weh, er ist von Sinnen!
Mirza! Massud! Hört denn niemand?

(Er entflieht.)

Rustan.
Er entfloh! Ich bin nicht machtlos,
Seine Macht nicht unbezwinglich!
Und nun fort aus diesen Räumen,
Rings umstellt mit Todesgrauen!
Nur noch erst verlöscht das Licht
Das mich kund gibt meinen Feinden.

(Er bläst die Lampe aus. Durch das breite Bogenfenster, das die größere Hälfte des Hintergrundes einnimmt, sieht man den Horizont mit den ersten Zeichen des anbrechenden Tages besäumt.)

Wo die Türe? Ist kein Ausgang
Aus den Schrecken dieser Orte?
Muß ich hier denn untergehn?
Horch! man kommt! So will ich teuer
Nur verkaufen dies mein Leben;
Tod empfangen, doch erst geben.

(Er ergreift den neben seinem Bett stehenden Säbel.)

(Massud und Mirza kommen. Letztere trägt eine hellbrennende Leuchte in der Hand.)

Rustan.
Ha, der König? und Gülnare?
Nicht der König!–Wär‘ es möglich?
Du scheinst Massud.–Mirza! Mirza!
Seid ihr tot, und bin ich’s auch?
Wie kam ich in eure Mitte?
Sehe wieder diese Hütte?
Oh, verschwende nicht dein Anschaun,
Diese liebevollen Blicke,
An den Dunkeln, den Gefallnen!
Denn was mir die Liebe gibt,
Zahl ich rück mit blut’gem Hasse.–
Und doch nein, dich haß ich nicht!
Nein, ich fühl’s, dich nicht.–Und dich nicht.–
Haß?–Oh, mit welch warmen Regen
Kommt mein Innres mir entgegen?
Hasse euch nicht! Hasse niemand!
Möchte aller Welt vergeben,
Und mit Tränen, so wie ehmals
In der Unschuld frommen Tagen,
Fühl ich neu mein Aug‘ sich tragen.

Mirza.
Rustan!

Rustan.
Nein, bleib fern von mir!
Wüßtest all du, was geschehn,
Seit wir uns zuletzt gesehn.

Mirza.
Uns gesehn?

Rustan.
Den Tagen, Wochen–

Mirza.
Wochen? Tagen?

Rustan.
Weiß ich’s? Weiß ich’s?
Furchtbar ist der Zeiten Macht.

Mirza.
War’s denn mehr als eine Nacht?

Zanga (in der Türe erscheinend).
Herr, befiehlst du nun die Pferde?

Mirza.
Ach, erinnre dich doch nur!
Gestern abends–Sag ihm’s, Vater,
Mir wird gar zu schwer dabei.

Massud.
Gestern abends, weißt du nicht?
Wolltest du von uns dich trennen,
Du befahlst für heut die Pferde.
Es ist Tag, und sie sind hier.

Rustan.
Gestern abends?

Massud.
Wann nur sonst?

Rustan.
Gestern abends? Und das alles,
Was gesehen ich, erlebt,
All die Größe, all die Greuel,
Blut und Tod, und Sieg und Schlacht–

Massud.
War vielleicht die dunkle Warnung
Einer unbekannten Macht,
Der die Stunden sind wie Jahre
Und das Jahr wie eine Nacht,
Wollend, daß sich offenbare,
Drohend sei, was du gedacht,
Und die nun, enthüllt das Wahre,
Nimmt die Drohung samt der Nacht.
Brauch den Rat, den Götter geben,
Zweimal hilfreich sind sie kaum.

Rustan.
Eine Nacht? und war ein Leben.

Massud.
Eine Nacht. Es war ein Traum.
Schau, die Sonne, sie, dieselbe,
Älter nur um einen Tag,
Die beim Scheiden deinem Trotze,
Deiner Härte Zeugnis gab,
Schau in ihren ew’gen Gleisen
Steigt sie dort den Berg hinan,
Scheint erstaunt auf dich zu weisen,
Der so träg in neuer Bahn;
Und mein Sohn auch, willst du reisen,
Es ist Zeit, schick nur dich an!

(Die durch das Fenster sichtbare Gegend, die schon früher alle Stufen des kommenden Tages gezeigt hat, strahlt jetzt im vollen Glanze des Sonnenaufganges.)

Rustan (auf die Knie stürzend).
Sei gegrüßt, du heil’ge Frühe,
Ew’ge Sonne, sel’ges Heut!
Wie dein Strahl das nächt’ge Dunkel
Und der Nebel Schar zerstreut,
Dringt er auch in diesen Busen,
Siegend ob der Dunkelheit.
Was verworren war, wird helle,
Was geheim, ist’s fürder nicht.
Die Erleuchtung wird zur Wärme,
Und die Wärme, sie ist Licht.
Dank dir, Dank! daß jene Schrecken,
Die die Hand mit Blut besäumt,
Daß sie Warnung nur, nicht Wahrheit,
Nicht geschehen, nur geträumt;
Daß dein Strahl in seiner Klarheit,
Du Erleuchterin der Welt,
Nicht auf mich, den blut’gen Frevler,
Nein, auf mich, den Reinen fällt.
Breit es aus mit deinen Strahlen,
Senk es tief in jede Brust:
Eines nur ist Glück hienieden,
Eins, des Innern stiller Frieden,
Und die schuldbefreite Brust.
Und die Größe ist gefährlich,
Und der Ruhm ein leeres Spiel;
Was er gibt, sind nicht’ge Schatten,
Was er nimmt, es ist so viel.
So denn sag ich mich auf immer
Los von seiner Schmeichelei,
Und von dir, noch auf den Knien,
Fleh ich, Ohm, der Gaben drei.

Mirza.
Rustan! Vater!

Rustan.
Erst verzeih!
Nimm, geneigt der heißen Bitte,
Wieder auf in deine Hütte
Den Verirrten, seine Reu‘!

Mirza.
Hörst du, Vater?

Massud.
Oh, wie gerne!

Rustan.
Dann gib dem Versucher dort,
Ihm, vor dem gewarnt die Sterne,
Gib die Freiheit ihm, gib Gold,
Laß ihn ziehn in alle Ferne!

Zanga.
Herr!

Rustan (zu Zanga).
Ich will’s!–Ich bitte, Vater!

Massud.
Du begegnest meinen Wünschen.

(Zu Zanga.)

Ziehe hin, denn du bist frei!
Nimm dir eins der beiden Pferde.
Was des Säckels Inhalt faßt,
Den ich gab als Reisezehrung,
Es sei dein, nur aber scheide!

Zanga.
Wirklich frei?

Massud.
Du bist’s!

Zanga (gegen Rustan).
Was sag ich?

Rustan.
Zeig den Dank, indem du gehst.

Zanga.
Ich benütz die erste Freude.
Lebt denn wohl, ihr Guten beide!
Schöne Jungfrau, seid bedankt.
Und nun fort, durch Busch und Heide!

(Mit einem Sprung zur Türe hinaus.)

Rustan (der aufgestanden ist).
Nun zur letzten meiner Bitten!
Gestern abend, noch beim Scheiden,
Ließest du mich hoffen, glauben,
Daß hier diese, deine Tochter–

Massud.
Davon schweig, und sprich nicht weiter!
Dies mein Haus und jede Gabe
Teil ich mit dem Reu’gen gern,
Doch was mehr als Haus und Habe,
Meines Lebens tiefsten Kern,
Damit laß für jetzt mich sparen,
Bis die Zeiten offenbaren,
Ob, was floh, auf immer fern.

Rustan.
Oheim, wie? und du kannst zweifeln?

Massud.
Nicht, daß jetzo du so fühlst,
Doch vergiß es nicht, die Träume,
Sie erschaffen nicht die Wünsche,
Die vorhandnen wecken sie;
Und was jetzt verscheucht der Morgen,
Lag als Keim in dir verborgen,
Hüte dich, so will auch ich.

Rustan.
Oheim, höre!

Mirza.
Hör ihn, Vater!

Massud.
Du auch trittst auf seine Seite?

Mirza.
Ist er doch so mild und gut.

(Leise Klänge lassen sich hören.)

Massud.
Horch!

Mirza.
Mein Vater!

Massud.
Leise Töne!

Mirza.
Sprich ein Wort!

Massud.
Sie kommen näher.

(Zanga und der alte Derwisch gehen außen am Fenster vorüber. Der Alte spielt die Harfe, Zanga bläst auf der Flöte dazu. Es ist die am Ende des ersten Aufzuges gehörte Melodie.)

Massud.
Ist das Zanga nicht, der Schwarze?
Und der Greis an seiner Seite–

Rustan.
Weh! Entsetzen!

Mirza.
Und warum?
Ist es doch der güt’ge Derwisch,
Er, der wundertät’ge Mann,
Der mit Raten und mit Lehren
Vatergleich an mir getan.

Rustan.
Nun hinab, ihr dunkeln Träume!
Vater, sprich ein gütig Wort!

Massud.
Schau, sie nahen, schau, sie kommen!
Neigen nun sich vor der Sonnen.

Mirza.
Vater! sprichst du nicht?

Massud (leise).
Ei später!
Laß uns horchen jetzt. Nur leis!

Rustan (ebenso).
Aber dann–?

Mirza (ebenso).
Versprich es!

Massud.
Stille!

Rustan (und) Mirza (sich umfassend).
Vater! Oheim!

Massud (noch immer nach außen hinhorchend, mit der linken Hand das Zeichen der Einwilligung gebend, leise).
Ja doch; sei’s!

(Die beiden sinken, ihn und sich umfassend, auf die Knie. Die Töne klingen noch immer fort.)

(Der Vorhang fällt.)

Das Kloster bei Sendomir

Das Kloster bei Sendomir

von Franz Grillparzer
Erzählung

Nach einer als wahr überlieferten Begebenheit

Die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten die Abhänge eines der reizendsten Täler der Woiwodschaft Sendomir. Wie zum Scheidekuß ruhten sie auf den Mauern des an der Ostseite fensterreich und wohnlich prangenden Klosters, als eben zwei Reiter, von wenigen Dienern begleitet, den Saum der gegenüberliegenden Hügelkette erreichten, und, von der Vesperglocke gemahnt, nach kurzem, betrachtendem Verweilen, ihre Pferde in schärfern Trott setzten, taleinwärts, dem Kloster zu.

Die Kleidung der späten Gäste bezeichnete die Fremden. Breitgedrückte, befiederte Hüte, das Elenkoller vom dunklen Brustharnisch gedrückt, die straffanliegenden Unterkleider und hohen Stulpstiefeln erlaubten nicht, sie für eingeborne Polen zu halten. Und so war es auch. Als Boten des deutschen Kaisers zogen sie, selbst Deutsche, an den Hof des kriegerischen Johann Sobiesky, und, vom Abend überrascht, suchten sie Nachtlager in dem vor ihnen liegenden Kloster.

Das bereits abendlich verschlossene Tor ward den Einlaßheischenden geöffnet, und der Pförtner hieß sie eintreten in die geräumige Gaststube, wo Erfrischung und Nachtruhe ihrer warte; obgleich, wie er entschuldigend hinzusetzte, der Abt und die Konventualen, bereits zur Vesper im Chor versammelt, sich für heute die Bewillkommnung so werter Gäste versagen müßten. Die Angabe des etwas mißtrauisch blickenden Mannes ward durch den eintönigen Zusammenklang halb sprechend, halb singend erhobener Stimmen bekräftigt, die, aus dämpfender Ferne durch die hallenden Gewölbe sich hinwindend, den Chorgesang einer geistlichen Gemeine deutlich genug bezeichneten.

Die beiden Fremden traten in das angewiesene Gemach, welches, obgleich, wie das ganze Kloster, offenbar erst seit kurzem erbaut, doch altertümliche Spitzformen mit absichtlicher Genauigkeit nachahmte. Weniges, doch anständiges Geräte war rings an den Wänden verteilt. Die hohen Bogenfenster gingen ins Freie, wo der in Osten aufsteigende Mond, mit der letzten Abendhelle kämpfend, nur sparsame Schimmer auf die Erhöhungen des hüglichten Bodens warf, indes in den Falten der Täler und unter den Bäumen des Forstes sich allgemach die Nacht mit ihrem dunkeln Gefolge lagerte, und stille Ruhe, hold vermischend, ihren Schleier über Belebtes und Unbelebtes ausbreitete.

Die eigenen Diener der Ritter trugen Wein auf und Abendkost. Ein derbgefügter Tisch, in die Brüstung des geöffneten Bogenfensters gerückt, empfing die ermüdeten Gäste, die, auf hohe Armstühle gelagert, sich bald an dem zauberischen Spiele des Mondlichtes ergötzten, bald, zu Wein und Speise zurückkehrend, den Körper für die Reise des nächsten Tages stärkten.

Eine Stunde mochte auf diese Art vergangen sein. Die Nacht war vollends eingebrochen, Glockenklang und Chorgesang längst verstummt. Die zur Ruhe gesendeten Diener hatten eine düsterbrennende Ampel, in der Mitte des Gemaches hängend, angezündet, und noch immer saßen die beiden Ritter am Fenster, im eifrigen Gespräch; vielleicht vom Zweck ihrer Reise, offenbar von Wichtigem. Da pochte es mit kräftigem Finger an die Türe des Gemaches, und ehe man noch, ungern die Rede unterbrechend, mit einem: Herein! geantwortet, öffnete sich diese, und eine seltsame Menschengestalt trat ein, mit der Frage: ob sie Feuer bedürften?

Der Eingetretene war in ein abgetragenes, an mehreren Stellen geflicktes Mönchskleid gehüllt, das sonderbar genug gegen den derben, gedrungenen Körperbau abstach. Obgleich von Alter schon etwas gebeugt und mehr unter als über der Mittelgröße, war doch ein eigener Ausdruck von Entschlossenheit und Kraft über sein ganzes Wesen verbreitet, so daß, die Kleidung abgerechnet, der Beschauer den Mann eher für alles, als für einen friedlichen Sohn der Kirche erkannt hätte. Haar und Bart, vormals augenscheinlich rabenschwarz, nun aber überwiegend mit Grau gemischt und, trotz ihrer Länge, stark gekräuselt, drängten sich in dichter Fülle um Stirne, Mund und Kinn. Das Auge, klösterlich gesenkt, hob sich nur selten; wenn es aber aufging, traf es wie ein Wetterschlag, so grauenhaft funkelten die schwarzen Sterne aus den aschfahlen Wangen, und man fühlte sich erleichtert, wenn die breiten Lider sie wieder bedeckten. So beschaffen und so angetan, trat der Mönch, ein Bündel Holz unter dem Arme, vor die Fremden hin, mit der Frage: ob sie Feuer bedürften?

Die beiden sahen sich an, erstaunt ob der seltsamen Erscheinung. Indessen kniete der Mönch am Kamine nieder und begann Feuer anzumachen, ließ sich auch durch die Bemerkung nicht stören, daß man gar nicht friere, und seine Mühe überflüssig sei. Die Nächte würden schon rauh, meinte er und fuhr in seiner Arbeit fort. Nachdem er sein Werk vollendet, und das Feuer lustig brannte, blieb er ein paar Augenblicke am Kamin stehen, die Hände wärmend, dann, ohne sich scheinbar um die Fremden zu bekümmern, schritt er schweigend der Türe zu.

Schon stand er an dieser und hatte die Klinke in der Hand, da sprach einer der Fremden: »Nun Ihr einmal hier seid, ehrwürdiger Vater« –

»Bruder!« fiel der Mönch, wie unwillig, ein, und ohne sich umzusehen, blieb er, die Stirn gegen die Türe geneigt, am Eingange stehen.

»Nun denn also, ehrwürdiger Bruder!« fuhr der Fremde fort, »da Ihr schon einmal hier seid, so gebt uns Aufschluß über einiges, das wir zu wissen den Wunsch hegen.«

»Fragt!« sprach, sich umwendend, der Mönch.

»So wißt denn«, sagte der Fremde, »daß uns die herrliche Lage und Bauart Eures Klosters mit Bewunderung erfüllt hat, vor allem aber, daß es so neu ist und vor kurzem erst aufgeführt zu sein scheint.«

Die dunkeln Augen des Mönches hoben sich bei dieser Rede und hafteten mit einer Art grimmigen Ausdruckes auf dem Sprechenden.

»Die Zeiten sind vorüber«, fuhr dieser fort, wo die Errichtung solcher Werke der Frömmigkeit nichts Seltenes war. Wie lange steht das Kloster?«

»Wißt Ihr es vielleicht schon?« fragte, zu Boden blickend, der Mönch, »oder wißt Ihr es nicht?«

»Wenn das erstere, würde ich fragen?« entgegnete der Fremde.

»Es trifft sich zuweilen«, murmelte jener. »Drei Jahre steht dies Kloster. Dreißig Jahre!« fügte er verbessernd hinzu und sah nicht auf vom Boden.

»Wie aber hieß der Stifter?« fragte der Fremde weiter. »Welch gottgeliebter Mann?« – Da brach der Mönch in ein schmetterndes Hohngelächter aus. Die Stuhllehne, auf die er sich gestützt hatte, brach krachend unter seinem Druck zusammen; eine Hölle schien in dem Blicke zu flammen, den er auf die Fremden richtete, und plötzlich gewendet, ging er schallenden Trittes zur Türe hinaus.

Noch hatten sich die beiden von ihrem Erstaunen nicht erholt, da ging die Türe von neuem auf, und derselbe Mönch trat ein. Als ob nichts vorgefallen wäre, schritt er auf den Kamin zu, lockerte mit dem Störeisen das Feuer auf, legte Holz zu, blies in die Flamme. Darauf sich umwendend, sagte er: »Ich bin der mindeste von den Dienern dieses Hauses. Die niedrigsten Dienste sind mir zugewiesen. Gegen Fremde muß ich gefällig sein, und antworten, wenn sie fragen. Ihr habt ja auch gefragt? Was war es nur?«

»Wir wollten über die Gründung dieses Klosters Auskunft einholen«, sprach der ältere der beiden Deutschen, »aber Eure sonderbare Weigerung« –

»Ja, ja!« sagte der Mönch, »Ihr seid Fremde, und kennet Ort und Leute noch nicht. Ich möchte gar zu gerne Eure törichte Neugierde unbefriedigt lassen, aber dann klagt Ihrs dem Abte, und der schilt mich wieder, wie damals, als ich dem Palatin von Plozk an die Kehle griff, weil er meiner Väter Namen schimpfte. Kommt Ihr von Warschau?« fuhr er nach einer kleinen Weile fort.

»Wir gehen dahin«, antwortete einer der Fremden.

»Das ist eine arge Stadt«, sagte der Mönch, indem er sich setzte. »Aller Unfrieden geht von dort aus. Wenn der Stifter dieses Klosters nicht nach Warschau kam, so stiftete er überhaupt kein Kloster, es gäbe keine Mönche hier, und ich wäre auch keiner. Da Ihr nicht von dorther kommt, mögt Ihr rechtliche Leute sein, und, alles betrachtet, will ich Euch die Geschichte erzählen. Aber unterbrecht mich nicht und fragt nicht weiter, wenn ich aufhöre. Am Ende sprech ich selbst gerne wieder einmal davon. Wenn nur nicht so viel Nebel dazwischen läge, man sieht kaum das alte Stammschloß durchschimmern – und der Mond scheint auch so trübe.« – Die letzten Worte verloren sich in ein unverständliches Gemurmel, und machten endlich einer tiefen Stille Platz, während welcher der Mönch, die Hände in die weiten Ärmel gesteckt, das Haupt auf die Brust gesunken, unbeweglich da saß. Schon glaubten die beiden, seine Zusage habe ihn gereut, und wollten kopfschüttelnd sich entfernen; da richtete er sich plötzlich mit einem verstärkten Atemzuge empor; die vorgesunkene Kapuze fiel zurück; das Auge, nicht mehr wild, strahlte in fast wehmütigem Lichte; er stützte das dem Mond entgegengewendete Haupt in die Hand und begann:

»Starschensky hieß der Mann, ein Graf seines Stammes, dem gehörte die weite Umgegend und der Platz, wo dies Kloster steht. Damals war aber noch kein Kloster. Hier ging der Pflug; er selber hauste dort oben, wo jetzt geborstene Mauern das Mondlicht zurückwerfen. Der Graf war nicht schlimm, wenn auch gerade nicht gut. Im Kriege hieß man ihn tapfer; sonst lebte er still und abgeschieden im Schlosse seiner Väter. Über eines wunderten sich die Leute am meisten: nie hatte man ihn einem weiblichen Wesen mit Neigung zugetan gesehen, sichtlich vermied er den Umgang mit Frauen. Er galt daher für einen Weiberfeind; doch war er keiner. Ein von Natur schüchterner Sinn, und – laßt sehn ob ichs treffe!« sagte der Mönch, indem er sich aufrichtete – »ein über alles gehendes Behagen am Besitz seiner selbst, hatte ihm bis dahin keine Annäherung erlaubt. Abwesenheit von Unlust war ihm Lust. – Habt Ihr noch Wein übrig? Gebt mir einen Becher! Der Graf war so schlimm nicht.«

Der Mönch trank, dann fuhr er fort: »So lebte Starschensky, so gedachte er zu sterben; doch war es ihm anders bestimmt. Ein Reichstag rief ihn nach Warschau. Unwillig über die Verkehrtheit der Menge, deren jeder nur sich wollte, wo es das Wohl des Ganzen galt, ging er eines Abends durch die Straßen der Stadt; schwarze Regenwolken hingen am Himmel, jeden Augenblick bereit, sich zu entladen, dichtes Dunkel ringsum. Da hörte er plötzlich hinter sich eine weibliche Stimme, die zitternd und schluchzend ihn anspricht: Wenn Ihr ein Mensch seid, so erbarmt Euch eines Unglücklichen! Rasch umgewendet, erblickt der Graf ein Mädchen, das bittend ihm die Hände entgegenstreckt. Die Kleidung schien ärmlich, Hals und Arme schimmerten weiß durch die Nacht. Der Graf folgt der Bittenden. Zehn Schritte gegangen, tritt sie in eine Hütte, Starschensky folgt, und bald steht er mit ihr allein auf dem dunkeln Flur. Eine warme, weiche Hand ergreift die seinige. – Seid Ihr Ordensritter?« unterbrach sich der Mönch, zu dem Jüngeren der Fremden gewendet. »Was bedeutet das Kreuz auf Eurem Mantel?« – »Ich bin Malteser«, entgegnete dieser. – »Ihr auch?« wendet der Mönch sich zum zweiten. – »Keineswegs«, war die Antwort. – »Habt ihr Weib und Kinder?« – »Beides hatt‘ ich nie.« – »Wie alt seid Ihr?« – »Fünfundvierzig.« – »So! so!« murmelte kopfnickend der Mönch. Dann fuhr er fort:

»Ein bis dahin unbekanntes Gefühl ergriff den Grafen bei der Berührung der warmen Hand. Sie erzählen ein morgenländisches Märchen von einem, dem plötzlich die Gabe verliehen ward, die Sprache der Vögel und andern Naturwesen zu verstehen, und der nun, im Schatten liegend am Bachesrand, mit freudigem Erstaunen rings um sich überall Wort und Sinn vernahm, wo er vorher nur Geräusch gehört und Laute. So erging es dem Grafen. Eine neue Welt stand vor ihm auf, und bebend folgte er seiner Führerin, die eine kleine Türe öffnete, und mit ihm in ein niederes, schwacherleuchtetes Zimmer trat.

Der erste Strahl des Lichtes fiel auf das Mädchen. Starschenskys innerstes Wesen jubelte auf, daß die Wirklichkeit gehalten, was die Ahnung versprach. Das Mädchen war schön, schön in jedem Betracht. Schwarze Locken ringelten sich um Stirn und Nacken, und erhoben, mit der gleichgefärbten Wimper, bis zum Sonderbaren den Reiz des hellblau strahlenden Auges. Der Mund mit üppig aufgeworfenen, beinahe zu hochroten Lippen, ward keineswegs durch eine kleine Narbe entstellt, die, als schmale, weißlich gefärbte Linie schräg abwärts laufend, sich in den Karmin der Oberlippe verlor. Grübchen in Kinn und Wangen; Stirn und Nase, wie vielleicht gerade der Maler sie nicht denkt, wie sie aber meinen Landsmänninnen wohl stehen, vollendeten den Ausdruck des reizenden Köpfchens und standen in schönem Einklange mit den Formen eines zugleich schlank und voll gebauten Körpers, dessen üppige Schönheit die ärmliche Hülle mehr erhob als verbarg. – Nicht wahr, davon wißt Ihr nichts, Malteser? Ja, ja, bei dem alten Mönch rappelts einmal wieder! Laßt uns noch eins trinken! – So, und nun gut.

Der Graf stand verloren im Anschaun des Mädchens und bemerkte kaum, daß in einem Winkel der Hütte, auf moderndes Stroh gebettet, einen zerrissenen Sattel statt des Kissens unter dem Kopfe, mit Lumpen bedeckt, die Jammergestalt eines alten Mannes lag, der jetzt die Hand aus seinen ärmlichen Hüllen hervorstreckte, und mit erloschener Stimme fragte: Bist dus, Elga? Wen bringst du mir da? – Hier der Unglückliche, sprach das Mädchen zu Starschensky gewendet, für den ich, durch äußerste Not getrieben, Euer Mitleid ansprach. Er ist mein Vater, ein Edelmann von altem Stamm und Adel, durch Verfolgung bis hierher gebracht. – Damit ging sie hin, und am Lager des Greises niedergekauert, suchte sie, durch Zurechtrücken und Ausbreiten, in die Lumpen, die ihn bedeckten, einen Schein von Anständigkeit und Ordnung zu bringen.

Der Graf trat näher. Er erfuhr die Geschichte. Der vor ihm lag, war der Starost von Laschek. Er und seine zwei Söhne hatten sich in politische Verbindungen eingelassen, die das Vaterland mißbilligte. Ihre Anschläge wurden entdeckt. Die beiden Söhne samt einigen Unvorsichtigen, die mit ihnen gemeinsame Sache gemacht, traf Verbannung; der Vater, seiner Güter beraubt, war im Elend.

Im ersten Augenblicke, als Starschensky den Namen Laschek hörte, wußte er auch schon, daß die Lage des Unglücklichen nicht ganz unverschuldet war. Denn, wenn er auch einer unmittelbaren Teilnahme an den Anschlägen seiner Söhne nicht geradezu überwiesen werden konnte, so hatte er doch durch Leichtsinn in der Jugend und üble Wirtschaft im vorgerückten Alter seinen Söhnen die rechtlichen Wege des Emporkommens schwierig, und Wagnisse willkommen gemacht. All dies war dem Grafen nicht verborgen. Aber es galt einen Unglücklichen zu retten, und Elgas Vater hatte den beredtesten Fürsprecher bei dem Entbrannten für seine Tochter.

Laschek ward in eine anständige Wohnung gebracht, er und seine Tochter mit dem Notwendigen versehen. Starschensky verwendete seinen Einfluß, seine Verbindungen, er ließ sich bis zu Geld und Geschenken herab, um die Wiederherstellung des Entsetzten, die Rückberufung der Verbannten zu erwirken. Glücklicherweise waren die äußeren Verhältnisse längst vorüber, welche die Anschläge jener Unvorsichtigen gefährlich gemacht hatten. Verzeihung ward bewilligt; die Verwiesenen rüsteten sich zur Heimkehr. Mehrere der Unglücksgenossen hatten, ihrem Leichtsinne treu, Dienste in fremden Landen genommen; nur Lascheks beide Söhne und ein entfernter Verwandter des Hauses, Oginsky genannt, machten Gebrauch von der schwer erlangten Erlaubnis. Täglich erwartete man ihre Ankunft.

Die Wiedergabe von Lascheks eingezogenen Gütern zeigte sich indes als wenig Nutzen bringend. Täglich erschienen neue Gläubiger. Hauptstock und rückständige Zinsen verschlangen weit den Wert des vorhandenen Unbeweglichen. Starschensky trat ins Mittel, bezahlte, verschuldete seine eigenen Güter und konnte dennoch kaum einen geringen Rest der Stamm-Besitzungen, als ein Pfropfreis für die Zukunft, retten.

Glücklicher schien er mittlerweile in seinen Bewerbungen um Elgas Herz. Als das Mädchen sich zum erstenmale wieder in anständigen Kleidern erblickte, flog sie ihm beim Eintritte aufschreiend entgegen, und ein lange nachgefühlter Kuß von ihren brennenden Lippen lohnte seine Vorsorge, sein Bemühn. Dieser erste Kuß blieb freilich vorderhand auch der letzte, nichtsdestoweniger durfte sich aber doch Starschensky mit der Hoffnung schmeicheln, ihrem Herzen nicht gleichgültig zu sein. Sie war gern in seiner Gesellschaft, sie bemerkte und empfand seine Abwesenheit. Oft überraschte er ihr Auge, das gedankenvoll und betrachtend auf ihn geheftet war; ja einigemale konnte er nur durch schnelles Zurückziehen verhindern, daß nicht ein Kuß, den er gar zu gerne seinen Lippen gegönnt hätte, auf seine Hand gedrückt wurde. Er war voll der schönsten Hoffnungen. Doch mit einemmale änderte sich die Szene. Elga ward düster und nachdenkend. Wenn sonst ihre Neigung für Zerstreuungen, für Kleiderzier und Lebensgenuß sich aufs bestimmteste aussprach, und manchmal hart an die Grenzen des Zuviel zu streifen schien, so mied sie jetzt die Gesellschaft. Streitende Gedanken jagten ihre Wolken über die schöngeglättete Stirne; das getrübte Auge sprach von Tränen, und nicht selten drängte sich ein einzelner der störenden Gäste unter der schnellgesenkten Wimper hervor. Starschensky bemerkte, wie der Vater sie dann ernst, beinahe drohend anblickte, und eine erkünstelte Heiterkeit das Bestreben des Mädchens bezeichnete, einen heimlichen Kummer zu unterdrücken. Einmal, rasch durchs Vorgemach auf die Türe des Empfangszimmers zuschreitend, hörte Starschensky die Stimme des Starosten, der aufs heftigste erzürnt schien und sich sogar ziemlich gemeiner Ausdrücke bediente. Der Graf öffnete die Türe und sah ringsum, erblickte aber kein drittes; nur die Tochter, die nicht weinend und höchst erhitzt, vom Vater abgekehrt, im Fenster stand. Ihr mußten jene Scheltworte gegolten haben. Da ward es fester Entschluß in der Seele des Grafen, durch eine rasche Werbung um Elgas Hand, der marternden Ungewißheit des Verhältnisses ein Ende zu machen.

Während er sich kurze Frist zur Ausführung dieses Vorsatzes nahm und Elgas vorige Heiterkeit nach und nach zurückkehrte, langten die aus der Verbannung heimberufenen Angehörigen an. Elga schien weniger Freude über den Wiederbesitz der so lange entbehrten Brüder zu empfinden, als der Graf vorausgesetzt hatte. Am auffallendsten aber war ihre schroffe Kälte, um es nicht Härte zu nennen, gegen den Gefährten von ihrer Brüder Schuld und Strafe, den armen Vetter Oginsky, den sie kaum eines Blickes würdigte. Gut gebaut und wohl aussehend, wie er war, schien er eine solche Abneigung durch nichts zu verdienen; vielmehr war in seinem beinahe zu unterwürfigen Benehmen das Streben sichtbar, sich um die gute Meinung von jedermann zu bewerben. Keine Härte konnte ihn aufbringen; nur schien ihm freilich jede Gelegenheit erwünscht, sich der beinahe verächtlichen Behandlung Elgas zu entziehen. Zuletzt verschwand er ganz, und niemand wußte, wo er hingekommen war.

Nun endlich trat der Graf mit seiner Bewerbung hervor, der alte Starost weinte Freudentränen, Elga sank schamerrötend und sprachlos in seine Arme, und der Bund war geschlossen. Laute Feste verkündeten der Hauptstadt Starschenskys Glück, und wiederholte, zahlreich besuchte Feste versicherten ihn der allgemeinen Teilnahme. Durch eine Ehrenbedienstung am Hofe festgehalten, lernte er bald sich in Geräusch und Glanz fügen, ja wohl gar daran Vergnügen finden, wenigstens insoweit Elga es fand, deren Geschmack für rauschende Lustbarkeiten sich immer bestimmter aussprach. Aber war sie nicht jung, war sie nicht schön? Hatte nicht, nach langen Unfällen, jede Lust für sie den doppelten Reiz, als Lust und als neu? Der Graf gewährte und war glücklich. Nur eines fehlte, um ihn ganz selig zu machen: schon war ein volles Jahr seit seiner Vermählung verstrichen, und Elga gab noch keine Hoffnung Mutter zu werden.

Doch plötzlich ward der Rausch des Glücklichen auf eine noch weit empfindlichere Weise gestört. Starschenskys Hausverwalter, ein als redlich erprobter Mann, erschien, trübe Wolken auf der gefurchten Stirn. Man schloß sich ein, man rechnete, man verglich, und es zeigte sich bald nur zu deutlich, daß durch das, was für Elgas Verwandte geschehen war, durch den schrankenlosen Aufwand der letzten Zeit, des Grafen Vermögensstand erschüttert war und schleunige Vorsorge erheischte. Das Schlimmste zu dieser Verwirrung hatten Elgas Brüder getan. Wie denn überhaupt das Unglück nur Besserungsfähige bessert, so war die alles verschlingende Genußliebe des leichtfertigen Paares durch die lange Entbehrung nur noch gieriger geworden. Auf die Kasse des Grafen mit ihrem Unterhalte angewiesen, hatten sie den überschwenglichsten Gebrauch von dieser Zugestehung gemacht, und nachdem der in Seligkeit schwimmende Graf auf die ersten Anfragen seiner besorgten Geschäftsleute ungeduldig die Antwort erteilt hatte: man solle es nicht zu genau nehmen und seinen Schwägern geben was sie bedurften, war bald des Forderns und Nehmens kein Ende.

Der Graf übersah mit einem Blicke das Bedenkliche seiner Lage und, ordnungsliebend wie er war, hatte für ihn ein rasches Umkehren von dem eingeschlagenen Taumelpfade nichts Beängstigendes. Nur der Gedanke an Elga machte ihm bange. Wird das heitere, in unbefangenem Frohsinn so gern hinschwebende Wesen -? Aber es mußte sein, und der Graf tat, was er mußte. Mit klopfendem Herzen trat er in Elgas Gemach. Aber wie angenehm ward er überrascht, als, da er kaum die Verhältnisse auseinandergesetzt und die Notwendigkeit geschildert hatte, die Stadt zu verlassen, um auf eigener Scholle den Leichtsinn der letztverflossenen Zeit wieder gut zu machen, als bei der ersten Andeutung schon Elga an seine Brust stürzte, und sich bereitwillig und erfreut erklärte. Was er wolle, was er gebiete, sie werde nur gehorsam sein! Dabei stürzten Tränen aus ihren Augen, und sie wäre zu seinen Füßen gefallen, wenn er es nicht verhindert, sie nicht emporgehoben hätte zu einer langen, Zeit und Außenwelt aufhebenden Umarmung.

Alle Anstalten zur Abreise wurden gemacht. Starschensky, der, von Jugend auf an Einsamkeit gewohnt, alle Freuden des Hofes und der Stadt nur in der Freude, die seine Gattin daran zeigte, genossen hatte, segnete beinahe die Unfälle, die ihn zwangen, in den Schoß seiner ländlichen Heimat zurückzukehren. Elga packte und sorgte, und in den ersten Nachmittagsstunden eines warmen Maientages war man mit Kisten und Päcken in dem altertümlichen Stammschlosse angekommen, das, neu eingerichtet, und aufs beste in Stand gesetzt, durch Nachtigallenschlag und Blütenduft wetteifernd ersetzte, was ein verwöhnter Geschmack in Vergleich mit den Palästen der Städte, allenfalls hätte vermissen können.

Bald nach der Ankunft schien sich zum Teile aufzuklären, warum Elgan die Änderung der bisherigen Lebensweise so leicht geworden war. Sie stand in den ersten Monaten einer bis jetzt verheimlichten Schwangerschaft, und Starschensky, mit der Erfüllung aller seiner Wünsche überschüttet, kannte keine Grenzen seines Glücks.

Frühling und Sommer verstrichen unter ländlichen Ergötzlichkeiten, ordnenden Einrichtungen und frohen Erwartungen. Als das Laub gefallen war und rauhe Stürme, die ersten Boten des Winters, an den Fenstern des Schlosses rüttelten, nahte Elgan die ersehnte und gefürchtete Stunde, sie gebar, und ein engelschönes, kleines Mädchen ward in die Arme des Grafen gelegt, der die Tochter mit segnenden Tränen benetzte. Leicht überstanden, wie die Geburt, waren die Folgen, und Elga blühte bald wieder einer Rose gleich.

Soviel günstige Vorfälle wurden leider durch unangenehme Nachrichten aus der Hauptstadt unterbrochen. Der alte Starost, Elgas Vater, war gestorben, und hatte seine Umstände in der größten Zerrüttung hinterlassen. Die beiden Söhne, in ihrer tollen Verschwendung nicht mehr von ihrem bedächtlicher gewordenen Schwager unterstützt, häuften Schulden auf Schulden, und ihre Gläubiger, die in der Hoffnung auf den Nachlaß des alten Vaters zugewartet hatten, sahen sich zum Teile in ihrer Erwartung dadurch getäuscht, daß in dem Testamente des Starosten eine beträchtliche Summe, in Folge einer früher geschehenen förmlichen Schenkung, an jenen armen Vetter Oginsky überging. Dieser Vetter war, wie bekannt, seit längerer Zeit verschwunden. Er mußte aber doch noch leben, und sein Aufenthalt nicht jedermann ein Geheimnis sein, denn die ihm bestimmte Summe ward gefordert, übernommen, und die Sache blieb abgetan.

Zu den Verschwendungen der beiden Laschek gesellten sich überdies noch Gerüchte, als ob sie neuerdings verbotene Anschläge hegten und Parteigänger für landesschädliche Neuerungen würben. Starschensky sah sich aufs überlästigste von seinen Schwägern und ihren Gläubigern bestürmt, er wies aber, nachdem er getan, was in seinen Kräften stand, alle weitere Anforderung standhaft von sich, und hatte das Vergnügen, Elgan in ihren Gesinnungen mit den seinigen ganz übereinstimmen zu sehen. Ja, als die Brüder, gleichsam zum letzten Versuch, sich auf dem Schlosse des Grafen einfanden, sahen sie sich von der Schwester mit Vorwürf en überhäuft, und man schied beinahe in Feindschaft.

So gingen mehr als zwei Jahre vorüber, und der Friede des Hauses blühte, nach überstandenen Stürmen, nur um so schöner empor. Sah sich gleich der Graf in seinen Wünschen nach einem männlichen Stammhalter fortwährend getäuscht, so wendete sich dafür eine um so größere, eine ungeteilte Liebe auf das teure, einzige Kind.

Kaum konnte aber auch etwas Reizenderes gedacht werden, als das kleine, rasch sich entwickelnde Mädchen. In allen schon angekündigten Formen der Mutter Abbild, schien sich die schaffende Natur bei dem holden Köpfchen in einem seltsamen Spiele gefallen zu haben. Wenn Elga bei der Schwärze ihrer Haare und Brauen durch ein hellblaues Auge auf eine eigene Art reizend ansprach, so war bei dem Kinde diese Verkehrung des Gewöhnlichen nachgeahmt, aber wieder verkehrt; denn goldene Locken ringelten sich um das zierliche Häuptchen, und unter den langen blonden Wimpern barg sich, wie ein Räuber vor der Sonne, das große schwarzrollende Auge. Der Graf scherzte oft über diese, wie er es nannte, auf den Kopf gestellte Ähnlichkeit, und Elga drückte dann das Kind inniger an sich und ihre Lippen hafteten auf den gleichgeschwellten, strahlenden von gleichem Rot.

Der Graf widmete alle Stunden, die er nicht den häuslichen Freuden schenkte, einzig der Wiederherstellung seiner, durch die unüberlegte Freigebigkeit an Elgas Verwandte herabgekommenen Vermögensumstände und der Verbesserung seiner Güter. Tagelang durchging er Meierhöfe und Fruchtscheuern, Saatfelder und Holzschläge, immer von seinem Hausverwalter begleitet, einem alten, redlichen Manne, der, vom Vater auf den Sohn vererbt, dessen ganzes Vertrauen besaß. Schon seit längerer Zeit bemerkte Starschensky eine auffallende Düsterheit in den Zügen des Alten. Wenn er unvermutet sich nach ihm umwendete, überraschte er das sonst immer heitere Auge beinahe wehmütig auf sich geheftet. Doch schwieg der Mann.

Einst, als beide die Hitze eines brennenden Vormittages mit den Schnittern geteilt hatten und der Graf, im Schatten eines Erlenbusches gelagert, mit Behagen einen Trunk frischen Wassers aus der Hand seines alten Dieners empfing, da rief dieser losbrechend aus: Wie herrlich Gottes Segen auf den Feldern steht! Wie glücklich sich der Besitzer von dem allen fühlen muß! Das tut er auch, entgegnete, kopfnickend und zu wiederholtem Trinken ansetzend, der Graf. Es begreift sich allenfalls noch, fuhr der Alte fort, wie es in den Städten Unzufriedene gibt, die an Staat und Ordnung rütteln, und denen die Gewalt nichts zu Danke machen kann, aber auf dem Lande, in Wald und Feld, fühlt mans deutlich, daß doch am Ende Gott allein alles regiert; und der hats noch immer gut gemacht bis auf diesen Augenblick. Aber die Ruhestörer haben keine Rast, bis sie alles verwirrt und zerrüttet, Vater und Bruder in ihr Netz gezogen, Schwester und Schwäger. Gottes Verderben über sie! – Der Graf war aufgestanden. Ich merke wohl, sprach er, daß du auf meiner Frau Brüder zielst. Hast du etwa neuerlich von ihnen gehört? Da fiel der alte Mann plötzlich zu Starschenskys Füßen, und in heiße Tränen ausbrechend, rief er: Herr, laßt Euch nicht verlocken! Denkt an Weib und Kind! An so manches, was Ihr besitzt! An Eurer Väter ruhmwürdigen Namen! – Was kommt dir an? zürnte der Graf. – Herr, rief der Alte, Eure Schwäger sinnen Böses, und Ihr wißt um ihr Vorhaben! – Spricht der Wahnsinn aus dir? schrie Starschensky. – Ich weiß was ich sage, entgegnete der Alte. Ein Vertrauter Eurer Schwäger kommt zu Euch heimlich aufs Schloß. Heimlich wird er eingelassen. Tagelang liegt er in der halbverfallenen Warte am westlichen Ende der Tiergartenmauer verborgen. – Wer sagt das? – Ich, der ich ihn selbst gesehen habe. – Heimlich aufs Schloß kommend? – Heimlich aufs Schloß! – Wann? – Oft! – Ein Vertrauter meiner Schwäger? – In Warschau sah ich ihn an ihrer Seite. – Weißt du seinen Namen? – Euch ist wohlbekannt, daß ich nur einmal in Warschau war, und da hatte ich Wichtigeres in Eurem Dienste zu schaffen, als mich um die Namen von Eurer Schwäger zahlreichen Zechgesellen zu bekümmern. Aber, daß ich ihn mit ihnen sah, des bin ich gewiß. – Zu welchen Stunden sahst du ihn aufs Schloß kommen? – Nachts! – Starschensky schauderte unwillkürlich zusammen bei dieser letzten Antwort, obgleich eine kurze Besinnung ihm so viele mögliche Erklärungsarten dieser rätselhaften Besuche darbot, daß er bei seiner Nachhausekunft schon wieder beinahe ganz ruhig war. Nur fragte er wie im Vorbeigehen Elgan: ob sie schon lange keine Nachricht von ihren Brüdern erhalten habe? Seit sie zuletzt selbst hier waren, keine, entgegnete sie ganz unbefangen. Der Graf gebot dem alten Hausverwalter, dem er seine patriotischen Besorgnisse leicht ausgeredet hatte, das tiefste Stillschweigen über die ganze Sache, beschloß aber doch, wo möglich, näher auf den Grund zu sehen.

Einige Zeit verstrich, da war er eines Nachmittags zu Pferde gestiegen, um eine seiner entferntern Besitzungen zu besuchen, wo er mehrere Tage zubringen wollte. Schon hatte er einen guten Teil des Weges gemacht, und der Abend fing an einzubrechen, da hörte er hinter sich laut und ängstlich seinen Namen rufen. Umblickend, erkannte er den alten Hausverwalter, der auf einem abgetriebenen Pferde keuchend und atemlos ihn einzuholen sich bestrebte und mit Rufen und Händewinken anzuhalten und ihn zu erwarten bat. Der Graf zog den Zügel seines Rosses an und hielt. Angelangt, drängte der Alte sich hart an seinen Herrn und stammelte ihm keuchend seine Kunde ins Ohr. Der Veranlasser jener Besorgnisse, der rätselhafte Unbekannte war wieder in der Nähe des Schlosses gesehen worden. Der Graf wandte sein Roß, und eines Laufes sprengten sie den Weg zurück, heimwärts, mit Mühe von den Dienern gefolgt. Eine gute Strecke vom Schlosse stiegen beide ab und gaben die Pferde dem Diener, der angewiesen wurde, ihrer an einem bezeichneten Platze zu harren. Durch Gestrüpp und Dickicht gingen sie jener Warte zu, wo der Fremde sich am öftesten zeigen sollte. Es war indes dunkel geworden, und der Mond zögerte noch aufzugehen, obschon bereits durch eine dämmernde Helle am Saum des Horizontes angekündigt. Da fiel plötzlich durch die dicht verschlungenen Zweige ein Licht in ihre Augen, in derselben Richtung, in der jene Warte liegen mußte. Sie beeilten sich, den Rand des Waldes zu erreichen, und waren nun am Fuße des von Bäumen entblößtem Hügels angekommen, auf dem die Warte stand. Aber kein Licht blickte durch die ausgebröckelten Schußscharten; keine Spur eines menschlichen Wesens. Zwar wollte der alte Verwalter bei dem Schein des eben aufgehenden Mondes frische Fußtritte am Boden bemerken, auch war es keineswegs in der Ordnung, die Türe unverschlossen zu finden; aber das erste Anzeichen konnte täuschen, das andere ließ sich so leicht aus einer Nachlässigkeit des Schloßwarts erklären.

Leichter atmend, ging der Graf mit seinem Begleiter den Hügel herab, dem Schlosse zu. Der Mond warf sein Silber über die ruhig schlummernde Gegend und verwandelte das vor ihnen liegende Schloß in einen schimmernden Feenpalast. In der Seele Starschenskys ging, reizender als je, das Bild seiner Gattin auf. Jetzt erst gestand er sichs, daß ein Teil des in ihm auf keimenden Verdachtes ihr gegolten hatte, und nun, im Gefühle seines Unrechts, ihr Bild, wie sie sorglos schlummernd im jungfräulichen Bette lag, vor den Augen seiner Seele, entstand eine Sehnsucht nach ihr in seinem Innern, wie er sie seit den Tagen des ersten Begegnens, der bräutlichen Bewerbung kaum je empfunden hatte.

So träumte er, so ging er. Da fühlte er sich plötzlich angestoßen. Sein Begleiter wars; der zeigte mit dem Finger vor sich hin in das hellerleuchtete Feld. Starschensky folgte der Richtung und sah eine Mannsgestalt, welche, die vom Monde unerleuchtete, dunkle Seite ihnen zugekehrt, übers Feld dem Schlosse zuschlich. Der Graf war sein selbst nicht mächtig. Mit einem lauten Ausruf, den gezückten Säbel in der Faust, stürzte er auf die Gestalt los. Der Fremde, frühzeitig gewarnt, floh, vom Schlosse ab, den Bäumen zu. Schon im Begriffe, ihn dahin zu verfolgen, ward der Graf durch eine zweite Erscheinung davon abgehalten, die dicht an der Mauer des Schlosses sich hinschob. Diese zweite ward bald erreicht und gab sich zitternd und bebend als Dortka, der Gräfin Kammermädchen, kund. Auf die erste Frage: Was sie hier gemacht? stotterte sie unzusammenhängende Entschuldigungen; die zweite: wie sie hierher gekommen? beantwortete an ihrer Statt das geöffnete Ausfallpförtchen, das, gewöhnlich versperrt und verriegelt, nur auf des Grafen Befehl mit einem Schlüssel, den er selbst verwahrte, geöffnet werden konnte.

Alle Versuche, von dem Mädchen ein Geständnis zu erpressen, waren vergeblich. Da ergriff sie der Graf hocherzürnt bei der Hand und führte sie gewaltsam durch die mannigfach verschlungenen Gänge bis zu den Zimmern seiner Gemahlin, die er noch erleuchtet und unverschlossen fand. Elga selbst war wach und in Kleidern. Der Graf, stotternd vor Wut, erzählte das Geschehene und verlangte, daß das Mädchen entweder augenblicklich bekenne, oder auf der Stelle aus Dienst und Hause entfernt werde. Dortka war auf die Kniee gefallen und zitterte und weinte.

Starschensky hatte sich seine Gattin verlegen oder seinem gerechten Zorne beistimmend gedacht. Keines von beiden geschah. Kalt und teilnahmslos bat sie ihn anfangs, die Ruhe des Hauses nicht durch sein lautes Schelten zu stören, und als er fortfuhr und die Entfernung des Mädchens begehrte, da erklärte sie mit steigender Wärme: Ihr gebühre, über das Verhalten ihrer Dienerinnen zu richten, sie selbst werde untersuchen und entscheiden. Der Graf, außer sich, zog das Mädchen vom Boden auf, sie gewaltsam aus dem Zimmer zu bringen, aber Elga sprang hinzu, ergriff des Mädchens andere Hand, riß sie zu sich, indem sie ausrief: Nun denn, so stoß auch mich aus dem Hause, denn darauf ist es doch wohl abgesehen! daß ich früher dich so gekannt! Unglückliche, die ich bin! fuhr sie laut weinend fort; gekränkt, mißhandelt! Aber schuldlose Diener sollen nicht um meinetwillen leiden! Dabei zeigte sie dem Mädchen mit dem Finger auf die Türe ihres Schlafgemaches; diese verstand den stummen Befehl und ging eilig hinein. Elga folgte und schloß die Türe hinter sich ab.

Starschensky stand wie vom Donner getroffen. Einmal raffte er sich empor und ging auf das Zimmer seiner Frau zu; halben Weges aber blieb er stehen und versank neuerdings in dumpfes Staunen. Der alte Hausverwalter trat zu ihm und sprach einige Worte; der Graf aber ging ohne Antwort an ihm vorüber zur Türe hinaus, über die Gänge, auf sein Gemach, das im entgegengesetzten Flügel des Schlosses lag. An der Schwelle wendete er sich um, durch eine Bewegung der Hand jede Begleitung zurückweisend, und die Türe ging hinter ihm zu. Wie er die Nacht zubrachte; wer kann es wissen? Der Diener, der des Morgens zu ihm eintrat, fand ihn angekleidet, auf einem Stuhle sitzend. Er schien zu schlafen, doch näher besehen, standen die Augen offen und starrten vor sich hin. Der Diener mußte einigemal seinen Namen nennen, bis er sich bewegte. Dann erst meldete jener seine Botschaft, indem er ihn im Namen der Gräfin bat, das Frühstück auf ihrem Zimmer einzunehmen. Starschensky sah ihn staunend an, dann aber stand er auf und folgte schweigend, wohin jener ihn, vortretend, geleitete.

Heiter und blühend, als ob nichts vorgefallen wäre, kam ihm Elga entgegen; sie erwähnte halb scherzend der Ereignisse der verflossenen Nacht. Das Kammermädchen ward eines heimlichen Liebeshandels angeklagt, Dortka selbst gerufen, die ein unwahrscheinliches Märchen unbeholfen genug erzählte. Zuletzt bat sie um Verzeihung, welche die Gräfin, mit Rücksicht auf sonst gezeigtes gutes Betragen, im eigenen und in ihres Gatten Namen großmütig erteilte. Der Graf, am Schlusse doch auch um seine Zustimmung befragt, erteilte diese kopfnickend, und das Mädchen blieb im Hause.

Schweigend nahm Starschensky das Frühstück ein, stumm ging er aus dem Schlosse. Der alte Hausverwalter, der ihm auf seinem Wege entgegenkam, wagte, neben ihm hergehend, nicht, das Stillschweigen zu brechen, und suchte nur in den Zügen seines Herrn Antwort auf seine zurückgehaltenen Fragen und Zweifel. So gingen sie, so verrichteten sie ihre Geschäfte, wie sonst, wie immer. Der Graf bestrebte sich nicht bloß, über die Vorfälle des gestrigen Tages nichts zu denken, er dachte wirklich nichts. Denn wenn der verfolgte Strauß sein Haupt verbirgt und wähnt, sein Nichtsehen der Gefahr sei zugleich ein Nichtdasein derselben, so tut der Mensch nicht anders. Unwillkürlich schließt er sein Auge vor einem hereinbrechenden Unvermeidlichen, und jedes Herz hat seine Geheimnisse, die es absichtlich verbirgt vor sich selbst.

Einige Tage darauf wollte Starschensky eintreten bei seiner Gemahlin. Es hieß, sie sei im Bade; doch hörte er die Stimme seines Kindes im nächsten Gemache, und er ging hinein. Da fand er die Kleine am Boden sitzend, mitten in einer argen Verwirrung, die sie angerichtet. Elgas Schmuck und Kleinodien lagen rings um das Kind zerstreut, und das offene, umgestürzte Schmuckkästchen nebst dem herabgezogenen Teppich des daneben stehenden Putztisches zeigte deutlich die Art, wie es sich das kostbare Spielzeug verschafft hatte. Starschensky trat gutmütig scheltend hinzu, stritt dem Kinde Stück für Stück seinen Raub ab, und versuchte nun die glänzenden Steine wieder an ihre Stelle zu legen. Der Deckel des Schmuckkästchens, augenscheinlich ein doppelter, war durch den Sturz vom Tische aus den Fugen gewichen, und da der Graf versuchte, ihn, mit dem Finger drückend, wieder zurückzupressen, fiel der innere Teil der doppelten Verkleidung auf den Boden und zeigte in dem rückgebliebenen hohlen Raume ein Porträt, das, schwach eingefügt, leicht von der Stelle wich und das nun der Graf hielt in der zitternden Hand.

Es war das Bild eines Mannes in polnischer Nationaltracht. Das Gefühl einer entsetzlichen Ähnlichkeit überfiel den Grafen wie ein Gewappneter. Da war das oft besprochene Naturspiel mit den schwarzen Augen und blondem Haare, wie – bei seinem Kinde. – Er sah das Mädchen an, dann wieder das Bild. – Diese Züge hatte er sonst schon irgend gesehen; aber wann? wo? – Schauer überliefen ihn. – Er blickte wieder hin. Da schaute ihn sein Kind mit schwarzen Schlangenaugen an, und die blonden Haare loderten wie Flammen, und die Erinnerung an jenen verschmähten Vetter in Warschau ging gräßlich in ihm auf. – Oginsky! schrie er und hielt sich am Tische, und die Zähne seines Mundes schlugen klappernd aneinander.

Ein Geräusch im Nebenzimmer schreckte ihn empor. Er befestigte den Deckel an seine Stelle, schloß das Kästchen, das Bild hatte er in seinen Busen gesteckt; so floh er, wie ein Mörder.

Diesen Tag ward er im Schlosse nicht mehr gesehen. Sein Platz blieb leer am Mittagstische. Gegen Abend kam er ins Zimmer der Wärterin und verlangte nach dem Kinde. Das nahm er bei der Hand und führte es in den Garten, der einsam gelegenen Mooshütte zu. Dort fand ihn nach einer Stunde der suchende Hausverwalter, in eine Ruhebank zurückgelehnt. Das Kind stand zwischen seinen Knieen, er selbst hielt ein Bild in der Hand, abwechselnd auf dieses, dann auf die Kleine blickend, wie einer, der vergleicht, meinte der alte Mann.

Am folgenden Morgen war Starschensky verreist, niemand wußte wohin. Er aber war in Warschau; dort forschte er, zu spät! nach Elgas früheren Verhältnissen. Er erfuhr, daß sie und Oginsky, der in des alten Starosten Hause erzogen war, sich schon frühzeitig geliebt, daß, aus Besorgnis vor der wachsenden Vertraulichkeit, der aussichtslose Vetter entfernt wurde; daß, aus seiner Verbannung zurückkehrend, kurz vor Starschenskys Vermählung, er seine Ansprüche erneuert habe und jene bedeutende Summe Geldes, die in des alten Laschek letztem Willen ihm zugedacht war, zum Teil der Preis seines Rücktrittes war; daß Elga sich nur schwer von ihm getrennt und seine Armut und Starschenskys Reichtum, verbunden mit dem Andringen ihrer Verwandten, der Hauptgrund ihrer Einwilligung zur Verbindung mit dem Grafen gewesen war. All diese Geheimnisse soll einer von Elgas Brüdern, gegen den er sich zur rechten Zeit freigebig zeigte, dem Grafen für Geld verraten und ihm zugleich den Ort angezeigt haben, wo Oginsky, einem geleisteten Schwur zufolge, sich verborgen hielt.

Auf dem Schlosse herrschte unterdessen Unruhe und Besorgnis. Elga selbst war übrigens augenscheinlich die Ruhigste von allen. Sie schien das befremdliche Betragen ihres Gatten noch auf Rechnung jener nächtlichen Überraschung zu schieben, über die, da durchaus niemandem etwas Bestimmtes zur Last gelegt werden konnte, der Graf, wie sie hoffte, sich am Ende wohl selbst beruhigen werde. Jenes Kammermädchen war noch immer in ihren Diensten.

Unvermutet erschien nach einiger Zeit der Graf auf der Grenze seiner Besitzung, in seinem Gefolge ein verschlossener Wagen, von dessen Inhalt niemand wußte. Eine verhüllte Gestalt, vielleicht durch Knebel am Sprechen verhindert, ward herausgehoben und dem durch Briefe im voraus an die Grenze beschiedenen Hausverwalter übergeben. Die alte Warte an der Westseite des Tiergartens, seitdem sorgfältig verschlossen, nahm die sonderbare Erscheinung in ihren Gewahrsam, und dunkle Gerüchte verbreiteten sich unter den Bewohnern der Umgegend.

Der Graf ging auf sein Schloß. Laut jubelnd kam ihm Elga entgegen, das Kind an ihrer Hand. Er hörte , wie unruhig man über seine plötzliche Abreise gewesen, wie sehnlich man ihn zurückerwartet. Der Kleinen Fortschritte wurden gerühmt, einige Proben der erlangten Geschicklichkeit auf der Stelle abgelegt. Da die Zeit des Abendessens gekommen war, erklärte Starschensky sich unpaß und ermüdet von der Reise. Er ging, trotz aller Gegenvorstellungen, allein auf sein Zimmer, wo er sich einschloß. Doch war sein Bedürfnis nach Ruhe nur vorgegeben, denn nachts verließ er sein Gemach und ging allein nach der Warte, wo er bis zum grauenden Morgen blieb.

Am darauf folgenden Tage war Elga verdrüßlich, schmollend. Des Grafen nächtlicher Gang war nicht unbemerkt geblieben. Elga fand sich vernachlässigt und zeigte ihre Unzufriedenheit darüber. Starschensky unterbrach ihre mißmutigen Äußerungen, indem er von ihrer beiderseitigen Lage zu sprechen anfing. Er bemerkte, daß bei seinem jetzigen Aufenthalte in Warschau, bei dem erneuten Anblick der Zerstreuungen jener genußliebenden Stadt es ihm klar geworden, wie ein so reizendes, lebensfrohes Wesen, als Elga, auf dem Lande gar nicht an ihrer Stelle sei. Er fragte sie, ob sie den Aufenthalt in der Hauptstadt vorziehen würde? An seiner Seite, entgegnete sie. – Er selbst, versicherte der Graf, werde durch seine Geschäfte auf den Gütern festgehalten; seine Vermögensumstände seien schlimmer, als man geglaubt, er müsse bleiben. Dann bleibe auch sie, sagte Elga. An seiner Seite wolle sie leben und sterben. Nun verwünschte sie die beiden Brüder, die durch ihre unverschämten Forderungen den allzu guten Gatten in so manche Verlegenheit gestürzt. Sie versicherte, nun aber auch jeden Rest von Liebe für sie abgelegt zu haben. Wenn ihre Brüder bettelnd vor der Türe ständen, sie würde nicht öffnen, sagte sie. Der Graf übernahm zum Teil die Verteidigung seiner Schwäger. Er habe sie in Warschau gesprochen. Es war einer ihrer Verbannungsgefährten bei ihnen – wie hieß er doch? – Elga sann gleichfalls nach. – Oginsky! rief der Graf und blickte sie rasch an. Sie veränderte nicht eine Miene und sagte: Die Genossen meiner Brüder sind alle schlecht, dieser aber ist der schlechteste! – Welcher? – Den du nanntest! – Welcher war das? – Nun, Oginsky! antwortete sie, und ein leichtes Zucken in ihren Zügen verriet eine vorübergehende Bewegung.

Der Graf war ans Fenster getreten und blickte hinaus. Elga folgte ihm, sie lehnte den Arm auf seine Schulter. Der Graf stand unbeweglich. Starschensky, sagte sie, ich bemerke eine ungeheure Veränderung in deinem Wesen. Du liebst mich nicht, wie sonst. Du verschweigst mir manches. Der Graf wendete sich um und sagte: Nun denn, so laß uns reden, weil du Rede willst. Du kennst die Zerrüttung meiner Vermögensumstände, du kennst deren Ursache. Was noch sonst mich drückt, weiß nur ich. Wenn nun diese Ereignisse schwer auf mir liegen, so martert nicht weniger der Gedanke, daß ich die Ursache wohl gar selbst herbeigeführt habe. Gewiß war der Leichtsinn tadelnswert, mit dem ich das Erbe meiner Väter verwaltete; vielleicht war ich aber sogar damals strafbar, als ich, der Störrische, an Abgeschiedenheit Gewohnte, um die Hand des lebensfrohen Mädchens warb, unbekümmert über die Richtung ihrer Gefühle und Neigungen, unbekümmert, ob ich sie, meine Frau geworden, zu einer Lebensart verdammte, deren Einförmigkeit ihr unerträglich werden mußte. – Starschensky! sagte Elga und sah ihn mit schmeichelndem Vorwurfe an. – Man hat mir fremde Dienste angeboten, fuhr Starschensky fort, und genau besehen, ist es vielleicht am besten, ich meide für einige, vielleicht für längere Zeit das Land meiner Väter. Gestern noch waren meine Entschlüsse finsterer. Aber die Überlegung der heutigen Nacht zeigte mir diesen Entschluß als den besten. Heute nacht, versetzte Elga mißtrauisch, heute nacht hast du überlegt? Und wo? Auf jener Warte etwa? Und da Starschensky betroffen zurückfuhr: Hab ich dich? – fuhr sie fort. Von dort her holst du deine Besorgnisse? Von dorther deinen Wunsch zu reisen? Und die Reisegefährtin wohl auch? Durch das Gerücht mußte ich erfahren, wie eine verhüllte Gestalt, wahrscheinlich eine glücklichere Geliebte, dort abgesetzt ward, zu der du nun allnächtlich die Zärtlichkeit trägst, die du an dem Altare mir zugeschworen. Ist das mein Lohn? Komm! wendete sie sich zu dem danebenstehenden Kinde, komm! Wir sind ihm zur Last! Er hat andere Freuden kennengelernt, als in dem Kreise der Seinen! Damit wendete sie sich zum Gehen. Ein gellendes Hohngelächter entfuhr dem Munde des Grafen, über das er selbst zusammenschrak, wie über das eines andern. Elga wendete sich um. Ich wußte wohl, sagte sie, daß es nur Scherz war. Aber die Enthüllung des Geheimnisses jener Warte ersparst du dir doch nicht. Ich muß selbst schauen, was sie verbirgt. Versprichst du mir das? Der Graf war auf ein Ruhebett gesunken und verhüllte das Gesicht in seine beiden Hände. Da hörte er eine Türe gehen. Durch die Finger blickend, sah er das Kammermädchen seiner Frau, die eben mit ihrem Nachtzeuge eintreten wollte, und Elgan, die mit einem listigen Gesichte ihr Entfernung zuwinkte. Elga nahte hierauf dem Ruhebette und, sich neben ihren Gatten hinsetzend, sprach sie: Komm, Starschensky, laß uns Frieden schließen! Wir haben uns ja doch schon so lange nicht ohne Zeugen gesprochen. Damit neigte sie ihre Wange an die seinige und zog eine seiner Hände an ihr klopfendes Herz. Ein Schauder überfiel den Grafen. Höllenschwarz stands vor ihm. Er stieß sein Weib zurück und entfloh.

Mitternacht hatte geschlagen. Alles im Schlosse war stille. Elga schlief in ihrem Zimmer. Da fühlte sie sich angefaßt und, aus dem Schlafe emporfahrend, sah sie beim Schein der Nachtlampe ihren Gatten, der, eine Blendlaterne in der Hand, sie aufstehen und sich ankleiden hieß. Auf ihre Frage: wozu? entgegnete er: Sie habe Verlangen gezeigt, die Geheimnisse jener Warte kennenzulernen. Am Tage ginge das nicht an; wenn sie aber Finsternis und Nachtluft nicht scheue, so möge sie ihm folgen. Aber hast du nichts Arges im Sinne? fragte die Gräfin; du warst gestern abends so sonderbar! Wenn du nicht folgen willst, so bleibe, sprach Starschensky und war im Begriffe, sich zu entfernen. Halt! rief Elga. Wenn Furchtsamkeit der Weiber allgemeines Erbteil ist, so bin ich kein Weib. Auch muß dieser Zustand von Ungewißheit enden. Vielleicht bist du in dich gegangen, hast erkannt. – Wenn du dich überzeugen willst – sprach Starschensky, so steh auf und folge mir. Elga war aus dem Bette gesprungen und hatte einen Schlafpelz übergeworfen. Sie wollte gehen. Aber indes war das Kind erwacht, das in dem Bette ihr zur Seite schlief. Es fing an zu weinen. Dein Kind wird die Bewohner des Schlosses wecken, sagte der Graf. Da, ohne ein Wort zu sprechen, nahm Elga die Kleine empor, wickelte sie in ein warmverhüllendes Tuch und, das Kind auf dem Arme, folgte sie dem leitenden Gatten.

Die Nacht war kühl und dunkel. Die Sterne zwar schimmerten tausendfältig am trauergefärbten Himmel, aber kein Mond beleuchtete der Wandler einsamen Pfad, nur des Grafen Blendlaterne warf kurze Streiflichte auf den Boden und die untersten Blätter der mitternächtig schlummernden Gesträuche.

So hatten sie den, von seiner ehemaligen Benützung so genannten Tiergarten durchschritten und waren nun bei jener Warte angelangt, dem eigentlichen Ziele ihrer Wanderung. Da wendete der Graf sich um zu seiner Gattin und sprach: Du bist nun im Begriffe, das verborgenste Geheimnis deines Gatten zu erforschen. Du willst ihn überraschen über dem Bruche seiner ehelichen Treue, ihn beschämen in Beisein einer verworfenen Geliebten. Es ist billig, daß Gefahr und Vorteil auf beiden Seiten gleich sei. Bevor du eintrittst, schwöre mir, daß du selber nie eines gleichen Fehls dich schuldig gemacht, daß du rein seist an dem Verbrechen, dessen du zeihst deinen Gatten. Du suchst Ausflüchte, sprach Elga. Weib! fuhr der Graf fort, durchgeh in Gedanken dein verflossenes Leben, und wenn du eine Makel, ich will nicht sagen, ein Brandmal, darin entdeckst, so tritt nicht ein in dieses Gemäuer. Elga drängte sich am Grafen vorbei, dem Eingange zu. Er stellte sich ihr von neuem in den Weg, indem er ausrief: Du gehst nicht ein, bevor du mirs endlich versichert. Lege die Hand auf das Haupt deines Kindes und schwöre! Da legte Elga die Rechte auf das Haupt der schlummernden Kleinen und sprach: So überflüssig mir ein solcher Schwur scheint, so gut du selbst davon überzeugt bist, wie sehr er es sei, so bekräftige ich doch! – Halt! schrie Starschensky, es ist genug. Tritt ein und sieh!

Der Graf schloß auf. Sie stiegen eine schmale Wendeltreppe hinan, die zu einer gleichfalls verschlossenen Türe führte. Der Graf öffnete auch diese, und nun traten sie in ein geräumiges Gemach, dessen innerer Teil durch einen dunklen Vorhang abgeschlossen war. Der Graf setzte Stühle an einem vorgeschobenen Tische zurecht, entzündete an dem Lichte seiner Blendlaterne zwei Wachskerzen in schweren, ehernen Leuchtern, zog aus der Schublade des Tisches ein Heft Papiere hervor und winkte seiner Frau, sich zu setzen, indem er sich gleichfalls niederließ. Elga sah rings um sich her, bemerkte aber niemand. Sie saß und hörte.

Da begann der Graf, dem Lichte näher rückend, zu lesen aus den Papieren, die er hielt: ›Auch bekenne ich mit der Tochter des Starosten Laschek unerlaubte Gemeinschaft gepflogen zu haben; vor und nach ihrer Vermählung mit dem Grafen Starschensky. Ihrer Ehre einziges Kind -‹ Unerhörte Verleumdung! schrie Elga und sprang auf. Wer wagt es, mich solcher Dinge zu zeihen? Oginsky! rief der Graf. Steh auf und bekräftige deine Aussage! Bei diesen Worten hatte er den Vorhang hinweggerissen, und eine Mannsgestalt zeigte sich, auf Stroh liegend, mit Ketten an die Wand gefesselt. Wer ruft mir? fragte der Gefangene. Elga ist hier, sagte der Graf, und fragt, ob es wahr sei, daß du mit ihr gekost? Wie oft soll ichs noch wiederholen? sagte der Mann, sich in seinen Ketten umkehrend. – Hörst du? schrie der Graf zu seiner Gattin, die bleich und erstarrt dastand. Nimm hier den Schlüssel und öffne die Fesseln dieses Mannes! Elga zauderte. Da riß der Graf seinen Säbel halb aus der Scheide, und sie ging. Klirrend fielen die Ketten ab, und Oginsky trat vor. Was wollt Ihr von mir? sagte er. Du hast mich am Tiefsten verletzt, sprach der Graf. Du weißt, wie Männer und Edelleute ihre Beleidigungen abtun. Hier nimm diesen Stahl, fuhr er fort, indem er einen zweiten Säbel aus seinem Oberrocke hervorzog, und stelle dich mir! – Ich mag nicht fechten! sagte Oginsky. Du mußt! schrie Starschensky und drang auf ihn ein. Mittlerweile hörte man Geräusch auf der Treppe. Elga, die unbeweglich dagestanden hatte, sprang jetzt der Türe zu und versuchte diese zu öffnen, indem sie laut um Hülfe schrie. Starschensky ereilte sie, da sie eben nach der Klinke griff, stieß das Weib zurück und schloß die Türe ab. Die Zwischenzeit benützte Oginsky, und während der Graf noch am Eingange beschäftigt war, riß er das Fenster auf und sprang hinab. Der Fall war nicht tief; Oginsky erreichte unbeschädigt den Boden, und als der Graf von der Türe weg zum Fenster eilte, verhallten bereits die Fußtritte des Entflohenen in weiter Entfernung.

Der Graf wendete sich nun zu seiner Gemahlin. Dein Mitschuldiger ist entflohen, sagte er, aber du entgehst mir nicht. Kannst du jene Verleumdung glauben? stammelte Elga. Ich glaube dem, was ich weiß, sprach Starschensky, und dem Stempel der Ähnlichkeit in den Zügen dieses Kindes. Du mußt sterben, sagte er, und zwar hier auf der Stelle! Elga war auf die Kniee gefallen. Erbarme dich meines Lebens, rief sie. Beginne mit mir, was du willst! Verbanne mich! verstoße mich! heiße mich in einem Kloster, in einem Kerker den Rest meiner Tage vollbringen, nur laß mich leben! leben! Der Graf bedachte sich eine Weile, dann sprach er: Weil du denn dieses schmacherfüllte, scheußliche Dasein schätzest, über alles, so wisse: ein einziges Mittel gibt es, dich zu retten. Nenn es, nenne es, wimmerte Elga. Der Brandfleck meiner Ehre, sprach der Graf, ist dies Kind. Wenn seine Augen der Tod schließt, wer weiß, ob mein Grimm sich nicht legt. Wir sind allein, niemand sieht uns, Nacht und Dunkel verhüllen die Tat. Geh hin und töte das Kind! – Wie, ich? schrie Elga. Töten? Mein Kind? Unmenschlicher! Verruchter! Was sinnst du mir zu? Nun denn! rief Starschensky und hob den weggeworfenen Säbel vom Boden auf. Halt! schrie Elga, halt! Ich will! Sie stürzte auf ihr Kind los und preßte es an ihren Busen, bedeckte es mit Tränen. Du zauderst? schrie Starschensky und machte eine Bewegung gegen sie. Nein! nein! rief Elga. Verzeihe mir Gott, was ich tun muß, was ich nicht lassen kann. Verzeihe du mir, zum Unglück Gebornes! Damit hatte sie das Kind wiederholt an ihre Brust gedrückt; mit weggewandtem Auge ergriff sie eine große Nadel, die ihren Pelz zusammenhielt; das Werkzeug blinkt, der bewaffnete Arm – Halt! schrie plötzlich Starschensky. Dahin wollt ich dich haben! sehen, ob noch eine Regung in dir, die wert des Tages. Aber es ist schwarz und Nacht. Dein Kind soll nicht sterben, aber, Schändliche, du! und damit stieß er ihr den Säbel in die Seite, daß das Blut in Strömen emporsprang, und sie hinfiel über das unverletzte Kind.

Dieselbe Nacht war eine des Schreckens für die Bewohner der umliegenden Gegend. Von einer Feuerröte am Himmel aufgeschreckt, liefen sie zu und sahen die alte Warte an der Westseite der Tiergartenmauer von Starschenskys Schlosse in hellen Flammen. Alle Versuche zu löschen waren vergebens; bald standen nur schwarze Mauern unter ausgebrannten rauchenden Trümmern. Man wollte den Grafen wecken; er fehlte, mit ihm sein Weib, sein Kind. Die Brandstätte ward durchsucht, und zwar allerdings menschliches Gebein aufgefunden, aber sollten das die Reste dreier Menschen sein?

Beim Scheiden derselben Nacht aber fühlte sich ein armes Köhlerweib im Gebirge die glücklichste aller Sterblichen. Denn als sie mit ihrem Manne lag und schlief, pochte es an der Hüttentüre. Sie stand auf und öffnete; da sah sie im Scheine des anbrechenden Morgens ein weinendes Kind von etwa zwei Jahren vor sich stehen, statt aller Kleider in ein weites Tuch gehüllt, ein Kästchen neben sich. Geöffnet, zeigte dieses mehr Gold, als sich das arme Paar je beisammen geträumt hatte. Ein paar beigelegte Zeilen empfahlen das Kind der Vorsorge der beiden und versprachen fernere Geldspenden in den Zukunft.

Nach zwei Tagen erschien der Graf wieder in der Mitte der Seinigen, aber nur, um sich zu einer Reise nach Warschau zu bereiten. Dort angelangt, suchte und erhielt er persönliches Gehör beim Könige, nach dessen Beendigung der Fürst, sichtbar erschüttert, seinen Kanzler holen ließ und ihm offene Briefe auszufertigen befahl, welche dem Grafen Starschensky, als letzten seines Stammes, die freie Verfügung über seine Lehengüter einräumten.

Die Güter selbst wurden teils verkauft und der Erlös zur Tilgung von Schulden verwendet, teils als Stiftung einem Kloster zu Eigentume gegeben, das man nicht fern von der Stelle zu bauen anfing, wo die alte, abgebrannte Warte gestanden hatte. Das ist die Geschichte dieses Klosters«, endete der Mönch.

»Der Graf selbst aber?« – fragte einer der Fremden.

»Ich habe Euch gleich anfangs gewarnt«, sagte der Mönch, »nicht weiter zu fragen, wenn ich aufhöre, nun tut Ihrs aber doch! Zahlreiche Seelmessen wurden gestiftet für die Ruhe derjenigen, die eine rasche Gewalttat hinweggerafft in der Mitte ihrer Sünden; um Vergebung für den Unglücklichen, der in verdammlicher Übereilung Verbrechen bestraft durch Verbrechen. Der Graf war Mönch geworden in dem von ihm gestifteten Kloster. Anfangs fand er Trost in der Stille des Klosterlebens, in der Einförmigkeit der Bußübungen. Die Zeit aber, statt den Stachel abzustumpfen, zeigte ihm stets gräßlicher seine Tat. Über ihn kam seines Stammes tatenheischender Geist und die Einsamkeit der Zelle ward ihm zur Folterqual. In Zweisprach mit Geistern und gen sich selber wütend, hütete man ihn als Wahnsinnigen manches Jahr. Endlich geheilt, irrte er bei Tag umher; jedes Geschäft war ihm Erquickung, an den Bäumen des Forstes übte er seine Kraft. Nur nachts, um die Stunde, da die beklagenswerte Tat geschah, die erste nach Mitternacht, wenn die Totenfeier beginnt« – – So weit war er in seiner Erzählung gekommen, da ward diese durch die ersten Töne eines aus der Klosterkirche herübertönenden Chorgesanges unterbrochen; zugleich schlug die Glocke ein Uhr.

Bei den ersten Lauten schütterte der Mönch zusammen. Seine Kniee schlotterten, seine Zähne schlugen aneinander, er schien hinsinken zu wollen, als sich plötzlich die Türe öffnete, und der Abt des Klosters in hochaufgerichteter Stellung, das Kreuz seiner Würde funkelnd auf der Brust, in die Schwelle trat. »Wo bleibst du, Starschensky?« rief er. »Die Stunde deiner Buße ist gekommen.« Da wimmerte der Mönch und zusammengekrümmt, wie ein verwundetes Tier, in weiten Kreisen, dem Hunde gleich, der die Strafe fürchtet, schob er sich der Türe zu, die der Abt, zurücktretend, ihm freiließ. Dort angelangt, schoß er wie ein Pfeil hinaus, der Abt, hinter ihm, schloß die Türe.

Noch lange hörten die Fremden dem Chorgesange zu, bis er verklang in die Stille der Nacht und sie ihr Lager suchten zu kurzer Ruhe.

Am Morgen nahmen sie Abschied vom Abte, ihm dankend für die gastfreundliche Bewirtung. Der jüngere gewann es über sich, nach dem Mönche der gestrigen Nacht zu fragen, worauf der Prälat, ohne zu antworten, ihnen eine glückliche Reise wünschte.

Sie zogen nach Warschau und nahmen sich vor, auf der Rückreise weitere Kunde von dem Zustande des Mönches einzuziehen, in dem sie wohl den unglücklichen Starschensky erkannt hatten. Aber eine Änderung in ihren Geschäften schrieb ihnen eine andere Straße zur Rückkehr vor, und nie haben sie mehr etwas von dem Mönche und dem Kloster bei Sendomir gehört.