Vierzehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Ich konnte einen Schrei des Erstaunens nicht unterdrücken.

»Was ist denn? Was ist denn?« fragte sie seltsamerweise. Sie war blaß und hatte ein finsteres Gesicht.

»Wie können Sie so fragen! Sie hier? Hier bei mir?«

»Wenn ich komme, so komme ich auch ganz. Das ist meine Gewohnheit. Sie werden das sogleich selbst sehen. Machen Sie Licht!«

Ich zündete eine Kerze an. Sie stand auf, trat an den Tisch und legte einen geöffneten Brief vor mich hin.

»Lesen Sie!« befahl sie.

»Das ist … das ist de Grieux‘ Handschrift!« rief ich, sobald ich den Brief in die Hand genommen hatte. Die Hände zitterten mir, und die Buchstaben tanzten vor meinen Augen. Ich habe den genaueren Wortlaut des Briefes vergessen; aber hier ist sein Inhalt, wenn auch nicht Wort für Wort, so doch nach der Reihenfolge der Gedanken.

»Mademoiselle«, schrieb de Grieux, »unangenehme Umstände zwingen mich zu sofortiger Abreise. Sie haben gewiß selbst bemerkt, daß ich eine endgültige Aussprache mit Ihnen absichtlich vermied, ehe sich nicht die ganze Lage geklärt haben würde. Die Ankunft Ihrer alten Verwandtin (de la vieille dame) und deren unsinniges Benehmen haben all meinen Zweifeln ein Ende gemacht. Die Zerrüttung meiner eigenen Vermögensverhältnisse verbietet es mir kategorisch, jene süßen Hoffnungen länger zu hegen, an denen ich mich eine Zeitlang so gern berauschte. Ich bedauere das Zurückliegende; aber ich hoffe, daß Sie in meinem Verhalten nichts finden werden, was eines Edelmannes und eines Mannes von Ehre (gentilhomme et honnête homme) unwürdig wäre. Da ich fast mein ganzes Geld Ihrem Stiefvater geliehen habe und jetzt fürchten muß, es zu verlieren, so sehe ich mich gezwungen, auf die verbliebenen Vermögensstücke die Hand zu legen; ich habe daher bereits meine Freunde in Petersburg angewiesen, den Verkauf der mir verpfändeten Besitztümer ungesäumt in die Wege zu leiten. Da ich aber weiß, daß Ihr leichtsinniger Stiefvater auch Ihr eigenes Geld vergeudet hat, so habe ich mich entschlossen, ihm fünfzigtausend Franc zu erlassen, und gebe ihm einige seiner Pfandverschreibungen in diesem Betrag zurück, so daß Sie jetzt in den Stand gesetzt sind, alles, was Sie verloren haben, wieder einzubringen, wenn Sie Ihr Eigentum von ihm auf gerichtlichem Wege zurückfordern. Ich hoffe, Mademoiselle, daß bei dem jetzigen Stand der Dinge mein Verfahren lür Sie sehr vorteilhaft sein wird. Und weiter hoffe ich, daß ich durch dieses Verfahren die Pflicht eines anständigen, ehrenhaften Mannes in vollem Maße erfülle. Seien Sie versichert, daß mein Herz die Erinnerung an Sie mein ganzes Leben lang bewahren wird.«

»Nun, das ist ja alles deutlich«, sagte ich, mich zu Polina wendend. »Haben Sie denn auch etwas anderes erwarten können?« fügte ich ingrimmig hinzu.

»Ich habe nichts erwartet«, antwortete sie anscheinend ruhig, aber ihre Stimme klang doch, als ob es in ihrem Innern zuckte, »ich hatte schon längst meinen Entschluß gefaßt; ich las ihm seine Gedanken vom Gesicht ab und wußte, was er glaubte. Er glaubte, mein Streben ginge danach … ich würde darauf bestehen …« Sie stockte, biß sich, ohne den Satz zu Ende zu bringen, auf die Lippe und schwieg. »Ich habe ihm absichtlich in verstärktem Maße meine Verachtung bezeigt«, begann sie dann wieder; »ich wartete, wie er sich wohl benehmen werde. Wäre das Telegramm über die Erbschaft gekommen, so hätte ich ihm das Geld, das ihm dieser Idiot (der Stiefvater) schuldet, hingeworfen und ihn weggejagt! Er war mir schon lange, schon lange verhaßt. Oh, er war früher ein anderer, ein ganz, ganz anderer; aber jetzt, aber jetzt …! Oh, mit was für einem Wonnegefühl würde ich ihm jetzt die fünfzigtausend Franc in sein gemeines Gesicht schleudern und ihn anspeien …«

»Aber dieses Schriftstück, diese von ihm zurückgegebene Pfandverschreibung im Betrag von fünfzigtausend Franc, hat doch wohl der General jetzt in Händen? So lassen Sie sie sich doch von ihm geben, und stellen Sie sie diesem de Grieux wieder zu!«

»Nein, nein, das geht nicht, das geht nicht!«

»Sie haben recht, Sie haben recht, das geht nicht. Der General ist ja auch jetzt zu allem unfähig. Aber wie ist’s mit der Tante?« rief ich plötzlich.

Polina sah mich zerstreut und ungeduldig an.

»Was soll dabei die Tante?« fragte sie ärgerlich. »Ich kann nicht zu ihr gehen … Und ich mag auch niemanden um Verzeihung bitten«, lugte sie gereizt hinzu.

»Was ist dann zu machen?« rief ich. »Aber wie, wie in aller Welt war es nur möglich, daß Sie einen Menschen wie diesen de Grieux liebten! O der Schurke, der Schurke! Wenn Sie wollen, werde ich ihn im Duell töten! Wo ist er jetzt?«

»Er ist in Frankfurt und wird da drei Tage bleiben.«

»Sie brauchen nur ein Wort zu sagen, so fahre ich hin, morgen, mit dem ersten Zug!« erbot ich mich in einer Art von törichtem Enthusiasmus. Sie lachte auf.

»Nun ja, er wird dann vielleicht gar noch sagen: >Geben Sie mir zuerst die fünfzigtausend Franc wieder!< Und was hätte er für Anlaß sich zu schlagen? … Das ist ja Unsinn!«

»Aber wo, wo sollen wir denn diese fünfzigtausend Franc hernehmen?« rief ich zähneknirschend. »Von der Erde können wir sie nicht so ohne weiteres aufheben! Hören Sie mal: Mister Astley?« sagte ich in fragendem Ton zur ihr, da sich eine seltsame Idee in meinem Gehirn zu bilden begann. Ihre Augen fingen an zu funkeln.

»Wie? Du selbst verlangst, daß ich von dir zu diesem Engländer gehe?« sagte sie, indem sie mir mit einem durchdringenden Blick ins Gesicht sah und bitter lächelte. Es war das erstemal im Leben, daß sie zu mir du sagte.

Es schien sie in diesem Augenblick infolge der starken Aufregung ein Schwindel zu überkommen, und sie setzte sich schnell auf das Sofa, wie wenn ihr schwach würde.

Mir war, als hätte mich ein Blitz getroffen; ich stand da und traute meinen Augen nicht, traute meinen Ohren nicht! Also … also sie liebte mich! Zu mir war sie gekommen, nicht zu Mister Astley! Sie, ein junges Mädchen, kam ganz allein zu mir auf mein Zimmer, in einem Hotel, kompromittierte sich also vor allen Leuten – und ich, ich stand vor ihr und begriff noch immer nicht!

Ein toller Gedanke blitzte in meinem Kopfe auf.

»Polina, gib mir nur eine einzige Stunde Zeit! Warte hier nur eine Stunde, und … ich komme wieder! Das … das ist notwendig! Du wirst sehen! Bleib hier, bleib hier!«

Mit diesen Worten lief ich aus dem Zimmer, ohne auf ihren verwunderten, fragenden Blick zu antworten; sie rief mir etwas nach, aber ich wandte mich nicht mehr um.

Ja, mitunter setzt sich ein ganz toller, anscheinend ganz unmöglicher Gedanke derartig im Kopf fest, daß man ihn schließlich für etwas Wirkliches hält. Und noch mehr: wenn eine solche Idee mit einem starken, leidenschaftlichen Wunsch verbunden ist, so betrachtet man sie manchmal am Ende sogar als etwas vom Schicksal Verhängtes, Unvermeidliches, Vorherbestimmtes, als etwas, was sich gar nicht anders zutragen kann! Es mag sein, daß dabei noch irgend etwas anderes mitwirkt, eine Kombination von Ahnungen, eine außerordentliche Anspannung der Willenskraft, eine Selbstvergiftung durch die eigene Phantasie oder sonst noch etwas – ich weiß es nicht; aber mir begegnete an diesem Abend, den ich in meinem ganzen Leben nie vergessen werde, ein ganz wundersames Erlebnis. Obgleich es sich durch die Regeln der Arithmetik vollständig erklären läßt, bleibt es dennoch für mich bis auf diesen Tag ein Wunder. Und woher kam es, woher kam es, daß diese Überzeugung damals in mir so tief, so fest wurzelte, und zwar schon seit so langer Zeit? Ich wiederhole es: Ich betrachtete das von mir erwartete Ereignis nicht als einen Zufall, der unter der ganzen Menge der übrigen Zufälle eintreten konnte oder somit auch ausbleiben konnte, sondern als etwas, was mit unbedingter Notwendigkeit geschehen mußte.

Es war ein Viertel auf elf. Ich ging nach dem Kurhaus in einer so festen Hoffnung und zugleich in einer so starken Aufregung, wie ich sie noch nie empfunden hatte. In den Spielsälen befanden sich noch ziemlich viel Menschen, wiewohl nur etwa halb so viel wie am Vormittag.

Nach zehn Uhr bleiben an den Spieltischen nur die echten, passionierten Spieler zurück, für die an den Kurorten nichts weiter existiert als das Roulett, die nur um deswillen hingekommen sind, die kaum bemerken, was um sie herum vorgeht, sich während der ganzen Saison für weiter nichts interessieren, sondern nur vom Morgen bis in die Nacht hinein spielen und womöglich auch noch die ganze Nacht über bis zum Morgengrauen würden spielen wollen, wenn es gestattet wäre. Nur ungern und unwillig gehen sie allabendlich weg, wenn um zwölf Uhr das Roulett geschlossen wird. Und wenn der Obercroupier vor dem Schluß des Roulett gegen Mitternacht ruft: »Les trois derniers coups, messieurs!« so setzen sie mitunter bei diesen drei letzten Malen alles, was sie in der Tasche haben, und pflegen tatsächlich gerade dann am meisten zu verlieren. Ich ging zu demselben Tisch, an dem kurz vorher die Tante gesessen hatte. Es war kein übermäßiges Gedränge, so daß ich sehr bald einen Stehplatz erlangte. Gerade vor mir stand auf dem grünen Tuche das Wort passe geschrieben.

Passe, das bedeutet die Gruppe der Zahlen von neunzehn bis sechsunddreißig. Die erste Gruppe, von eins bis achtzehn, heißt manque; aber was kümmerte mich das? Ich rechnete nicht: ich hatte nicht einmal gehört, welche Zahl zuletzt herausgekommen war, und erkundigte mich auch nicht danach, als ich zu spielen begann, wie es doch jeder auch nur ein wenig rechnende Spieler getan hätte. Ich zog alle meine zwanzig Friedrichsdor aus der Tasche und warf sie auf das vor mir stehende passe.

»Vingt-deux!« rief der Croupier.

Ich hatte gewonnen – und setzte wieder alles: was ich gehabt hatte, und was hinzugekommen war.

»Trente et un«, ertönte die Stimme des Croupiers.

Ein neuer Gewinn. Im ganzen besaß ich jetzt also achtzig Friedrichsdor. Ich schob sie alle achtzig auf die Gruppe der zwölf mittleren Zahlen (man erhält zu seinem Einsatz das Doppelte als Gewinn hinzu, hat aber zwei Chancen gegen sich und nur eine für sich); das Rad drehte sich, und es kam Vierundzwanzig. Man legte mir drei Rollen mit je fünfzig Friedrichsdor und zehn einzelne Goldstücke hin; mit dem Früheren zusammen hatte ich jetzt zweihundertvierzig Friedrichsdor.

Ich war wie im Fieber und schob diesen ganzen Haufen Geld auf Rot – und nun kam ich plötzlich zur Besinnung! Nur dieses einzige Mal im Laufe des ganzen Abends, während meines ganzen Spiels, geschah es, daß mir vor Angst ein kalter Schauder über den Rücken lief und mir die Arme und Beine zitterten. Mit Schrecken erkannte und fühlte ich für einen Moment, was es für mich bedeutete, wenn ich jetzt verlor! Mit diesem Einsatz stand mein ganzes Leben auf dem Spiel!

»Rouge!« rief der Croupier – und ich atmete tief auf; ein feuriges Kribbeln ging über meinen ganzen Leib. Die Auszahlung an mich erfolgte in Banknoten; im ganzen hatte ich also jetzt viertausend Gulden und achtzig Friedrichsdor. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch imstande, die einzelnen Rechenexempel auszuführen.

Ich erinnere mich, daß ich dann zweitausend Gulden auf die zwölf mittleren Zahlen setzte und sie verlor; ich setzte mein ganzes Gold, die achtzig Friedrichsdor, und verlor es. Da packte mich die Wut: ich nahm die letzten mir verbliebenen zweitausend Gulden und setzte sie auf die zwölf ersten Zahlen – gedankenlos, aufs Geratewohl, wie es sich gerade traf, ohne jede Berechnung! Aber es trat doch für mich ein Augenblick der Erwartung ein, in welchem meine Empfindung eine gewisse Ähnlichkeit gehabt haben mag mit der Empfindung der Madame Blanchard, als sie in Paris vom Luftballon herabfiel und auf die Erde zustürzte.

»Quatre!« rief der Croupier.

Nun hatte ich mit dem Einsatz wieder sechstausend Gulden. Jetzt fühlte ich mich bereits als Sieger; ich fürchtete nichts, schlechterdings nichts mehr und warf viertausend Gulden auf Schwarz. Ein Dutzend Spieler beeilte sich, meinem Beispiel folgend, gleichfalls auf Schwarz zu setzen. Die Croupiers warfen sich wechselseitig Blicke zu und besprachen sich miteinander. Die Umstehenden redeten von diesem Einsatz und warteten gespannt auf den Ausgang.

Es kam Schwarz. Von da an besinne ich mich weder auf die Höhe noch auf die Reihenfolge meiner Einsätze. Ich habe nur eine traumhafte Erinnerung, daß ich schon stark gewonnen hatte, etwas sechzehntauscnd Gulden, und auf einmal, durch drei unglückliche Spiele, zwölftausend davon wieder einbüßte; dann schob ich die übrigen viertausend auf passe (aber jetzt hatte ich dabei fast gar keine besondere Empfindung mehr; ich wartete nur sozusagen mechanisch, ohne Gedanken) und gewann wieder; darauf gewann ich noch viermal hintereinander. Ich erinnere mich nur, daß ich das Geld zu Tausenden einheimste; auch besinne ich mich, daß besonders häufig die zwölf mittleren Zahlen herauskamen, an denen ich daher auch vorzugsweise festhielt. Sie erschienen mit einer gewissen Regelmäßigkeit unfehlbar drei-, viermal hintereinander; dann verschwanden sie für zweimal und kehrten darauf wieder für drei- oder viermal nacheinander zurück. Diese wunderbare Regelmäßigkeit kommt mitunter sozusagen strichweise vor – und das ist es gerade, was die eingefleischten Spieler aus dem Konzept bringt, die mit dem Bleistift in der Hand rechnen. Und mit welchem schrecklichen Hohn und Spott behandelt das Schicksal hier nicht selten die Spieler!

Ich glaube, es war seit meiner Ankunft nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen, da benachrichtigte mich der Croupier, ich hätte dreißigtausend Gulden gewonnen, und da die Bank bei so hohem einmaligen Verlust zur Fortsetzung des Spieles nicht verpflichtet sei, so werde das Roulett bis morgen früh geschlossen. Ich nahm all mein Gold und schüttete es mir in die Taschen; ich nahm auch alle meine Banknoten und ging an einen anderen Tisch hinüber, in einen anderen Saal, wo sich ein anderes Roulett befand; hinter mir her strömte der ganze Spielerschwarm dorthin. Hier wurde sogleich für mich ein Platz freigemacht, und ich begann wieder zu setzen, blindlings und ohne zu überlegen. Ich begreife nicht, was mich rettete!

Mitunter huschte mir allerdings der Gedanke durch den Kopf, ich müsse doch mit Berechnung setzen. Ich hielt mich dann eine Weile an bestimmte Zahlen und bestimmte andere Arten des Einsatzes, hörte damit aber bald wieder auf und setzte von neuem fast ohne Bewußtsein. Ich mußte wohl sehr zerstreut sein; denn ich erinnere mich, daß die Croupiers mein Spiel mehrfach korrigierten. Ich beging grobe Fehler. Meine Schläfen waren feucht von Schweiß, und die Hände zitterten mir. Auch die Polen wollten sich mir mit ihren Diensten aufdrängen; aber ich hatte für niemand Ohren. Das Glück blieb mir fortwährend treu! Auf einmal erhob sich um mich herum Stimmengeschwirr und Lachen. »Bravo, bravo!« riefen alle, und manche klatschten sogar in die Hände. Ich hatte auch hier dreißigtausend Gulden erbeutet, und auch diese Bank wurde bis zum nächsten Tag geschlossen.

»Gehen Sie fort, gehen Sie fort!« flüsterte mir eine Stimme von rechts zu.

Es war ein Frankfurter Jude; er halle die ganze Zeit über neben mir gestanden und mir wohl manchmal beim Spiel geholfen.

»Um Gottes willen, gehen Sie fort!« flüsterte eine andere Stimme an meinem linken Ohr.

Ich blickte flüchtig hin. Es war eine sehr bescheiden und anständig gekleidete Dame von etwa dreißig jahren, mit einem krankhaft blassen, müden Gesicht, das aber doch noch ihre frühere wundervolle Schönheit erkennen ließ. Ich stopfte mir in diesem Augenblick gerade die Taschen mit Banknoten voll, die ich achtlos zerknitterte, und suchte das auf dem Tisch liegende Gold zusammen. Als ich die letzte Rolle mit fünfzig Friedrichsdor gefaßt hatte, gelang es mir, sie der blassen Dame ganz unbemerkt in die Hand zu schieben; ich hatte einen unwiderstehlichen Drang gefühlt, dies zu tun, und ich erinnere mich, daß ihre schlanken, mageren Finger sich in festem Druck um meine Hand legten, zum Zeichen tief empfundener Dankbarkeit. All das geschah in einem Augenblick.

Nachdem ich all mein Geld zusammengerafft hatte, begab ich mich zum Trente-et-quarante.

Beim Trente-et-quarante sitzt ein aristokratisches Publikum. Dies ist kein Roulett, sondern ein Kartenspiel. Hier muß die Bank für Gewinne bis zu hunderttausend Talern aufkommen. Der größte Einsatz beträgt gleichfalls viertausend Gulden. Ich verstand von dem Spiel gar nichts und kannte kaum eine der möglichen Arten von Einsätzen, nämlich nur Rot und Schwarz, die es hier ebenfalls gab. An diese Farben hielt ich mich also. Das gesamte Spielerpublikum drängte sich um mich herum. Ich erinnere mich nicht, ob ich die ganze Zeit über auch nur ein einziges Mal an Polina dachte. Es machte mir damals ein unsägliches Vergnügen, immer mehr Banknoten zu fassen und an mich heranzuziehen; sie wuchsen vor mir zu einem ansehnlichen Haufen an.

Es war tatsächlich, als stieße mich das Schicksal immer weiter vorwärts. Wie wenn es gerade auf mich abgesehen wäre, begab sich diesmal etwas, was sich übrigens bei diesem Spiel ziemlich oft wiederholt. Das Glück heftet sich zum Beispiel an Rot und bleibt bei dieser Farbe zehn-, selbst fünfzehnmal. Ich hatte erst vor zwei Tagen gehört, daß Rot in der vorigen Wochen zweiundzwanzigmal hintereinander gekommen sei; beim Roulett weiß sich an dergleichen niemand zu erinnern, und man erzählte es sich mit Erstaunen. Selbstverständlich wenden sich alle Spieler sofort von Rot ab, und zum Beispiel schon nach zehn Malen wagt fast niemand mehr auf diese Farbe zu setzen. Aber auch auf Schwarz, das Gegenstück von Rot, setzt dann kein routinierter Spieler. Der routinierte Spieler weiß, was es mit diesem »Eigensinn des Schicksals« auf sich hat. Man könnte ja zum Beispiel glauben, daß nach sechzehnmal Rot nun beim siebzehnten Male sicher Schwarz kommen werde. Auf diese Farbe stürzen sich daher die Neulinge scharenweis, verdoppeln und verdreifachen ihre Einsätze und verlieren in schrecklicher Weise.

Ich machte es anders. Als ich bemerkte, daß Rot siebenmal hintereinander gekommen war, hielt ich in sonderbarem Eigensinn mich absichtlich gerade an diese Farbe. Ich bin überzeugt, daß das zunächst die Wirkung eines gewissen Ehrgeizes war; ich wollte die Zuschauer durch meine sinnlosen Wagestücke in Staunen versetzen. Dann aber (es war eine seltsame Empfindung, deren ich mich deutlich erinnere) ergriff mich auf einmal wirklich, ohne jede weitere Reizung von seiten des Ehrgeizes, ein gewaltiger Wagemut. Vielleicht wird die Seele, die so viele Empfindungen durchmacht, von diesen nicht gesättigt, sondern nur gereizt und verlangt nach neuen, immer stärkeren und stärkeren Empfindungen bis zur vollständigen Erschöpfung. Und (ich lüge wirklich nicht) wenn es nach dem Spielreglement gestattet wäre, fünfzigtausend Gulden mit einem Male zu setzen, so hätte ich sie sicherlich gesetzt. Als die Umstehenden mich fortdauernd auf Rot setzen sahen, riefen sie, das sei sinnlos; Rot sei schon vierzehnmal gekommen!

»Monsieur a gagné déjà cent mille florins«, hörte ich jemand neben mir sagen.

Auf einmal kam ich zur Besinnung. Wie? Ich hatte an diesem Abend hunderttausend Gulden gewonnen? Wozu brauchte ich noch mehr? Ich griff nach den Banknoten, stopfte sie in die Tasche, ohne sie zu zählen, raffte all mein Gold, Rollen und einzelne Münzen, zusammen und lief aus dem Saal. Um mich herum lachten alle, als ich durch die Säle ging, beim Anblick meiner abstehenden Taschen und meines von der Last des Goldes unsicheren Ganges. Ich glaube, es waren weit über acht Kilo. Mehrere Hände streckten sich mir entgegen; ich gab reichlich, soviel ich gerade zu fassen bekam. Zwei Juden hielten mich am Ausgang an.

»Sie sind kühn, sehr kühn!« sagten sie zu mir. »Aber fahren Sie unter allen Umständen morgen früh weg, so früh wie möglich; sonst werden Sie alles wieder verlieren, alles …«

Ich hörte nicht weiter auf sie. Die Allee war so dunkel, daß man nicht die Hand vor den Augen sehen konnte. Bis zum Hotel waren es ungefähr neunhundert Schritte. Ich hatte mich nie vor Dieben oder Räubern gefürchtet, selbst nicht als kleiner Knabe; auch jetzt dachte ich an so etwas nicht. Ich erinnere mich übrigens nicht, woran ich denn eigentlich unterwegs dachte; wirkliche Gedanken waren es nicht. Ich empfand nur eine gewaltige Freude – über das Gelingen meines Planes, über den Sieg, über die erlangte Macht – ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Auch Polinas Bild tauchte vor meinem geistigen Blick auf; es kam mir die Erinnerung und das Bewußtsein, daß ich auf dem Weg zu ihr sei, in wenigen Augenblicken bei ihr sein, ihr alles erzählen, ihr das Geld zeigen würde … Aber ich konnte mich kaum mehr besinnen, was sie mir eigentlich vorhin gesagt hatte, und warum ich weggegangen war, und alle die Empfindungen, die mich noch vor anderthalb Stunden so stark bewegt hatten, erschienen mir jetzt bereits als etwas längst Vergangenes, Abgetanes, Veraltetes, als etwas, woran wir nun nicht mehr denken würden, weil jetzt alles einen neuen Anfang nehmen werde. Ich war schon fast am Ende der Allee, als mich plötzlich eine Angst überkam: »Wenn ich nun jetzt ermordet und beraubt werde!« Diese Angst wurde mit jedem Schritt ärger. Ich lief fast. Auf einmal stand, als ich am Ende der Allee angelangt war, unser Hotel mit all seinen erleuchteten Fenstern vor mir – Gott sei Dank, ich war zu Hause!

Ich lief nach meiner Etage hinauf und öffnete schnell die Tür zu meinem Zimmer. Polina war da und saß mit verschränkten Armen bei der brennenden Kerze auf meinem Sofa. Erstaunt musterte sie mich, und allerdings mochte ich in diesem Augenblick einen seltsamen Anblick bieten. Ich blieb vor ihr stehen, holte mein ganzes Geld hervor und warf es in einem Haufen auf den Tisch.

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Fünfzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Ich erinnere mich, daß sie mir ganz starr ins Gesicht blickte, aber ohne sich vom Platz zu rühren und ohne auch nur ihre Körperhaltung zu ändern. »Ich habe zweihunderttausend Franc gewonnen!« rief ich, indem ich die letzte Goldrolle aus der Tasche zog und hinwarf.

Der gewaltige Haufe von Banknoten und Goldrollen bedeckte den ganzen Tisch; ich vermochte meine Augen nicht mehr von ihm abzuwenden; in einzelnen Augenblicken hatte ich Polinas Anwesenheit völlig vergessen. Bald begann ich diese Haufen von Banknoten in Ordnung zu bringen und zusammenzupacken, das Gold zu einem einzigen Haufen zusammenzuschieben; bald ließ ich alles stehn und liegen und ging in Gedanken versunken mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab; dann trat ich plötzlich wieder an den Tisch und fing wieder an, das Geld zu zählen. Auf einmal stürzte ich, wie von einem plötzlichen Einfall erfaßt, nach der Tür und schloß sie schnell zu, wobei ich den Schlüssel zweimal umdrehte. Darauf blieb ich, da mir wieder ein neuer Gedanke gekommen war, vor meinem kleinen Koffer stehen.

»Soll ich es nicht bis morgen in den Koffer legen?« fragte ich Polina; ich hatte mich erinnert, daß sie da war, und wandte mich nun hastig zu ihr.

Sie saß immer noch auf demselben Fleck da, ohne sich zu rühren, folgte aber unablässig mit den Augen meinen Bewegungen. Auf ihrem Gesicht lag ein eigenartiger Ausdruck, ein Ausdruck, der mir nicht gefiel! Ich irre mich nicht, wenn ich sage, daß es ein Ausdruck des Hasses war.

Ich trat schnell zu ihr hin.

»Polina, hier sind fünfundzwanzigtausend Gulden; das sind fünfzigtausend Franc, sogar mehr. Nehmen Sie sie, und werfen Sie sie ihm morgen ins Gesicht!«

Sie gab mir keine Antwort.

»Wenn Sie wollen, werde ich sie ihm selbst hinbringen, morgen früh. Ja?«

Sie lachte auf. Dieses Lachen dauerte lange.

Erstaunt und gekränkt sah ich sie an. Dieses Lachen hatte die größte Ähnlichkeit mit jenem spöttischen Gelächter über mich, in das sie in letzter Zeit häufig ausgebrochen war, und zwar immer gerade, wenn ich ihr in leidenschaftlicher Weise meine Liebe erklärt hatte. Endlich hörte sie auf und machte nun ein finsteres Gesicht; unter der gesenkten Stirn hervor warf sie mir einen ärgerlichen Blick zu.

»Ich nehme Ihr Geld nicht«, sagte sie verächtlich.

»Wie? Was bedeutet das?« rief ich. »Warum nicht, Polina?«

»Ich lasse mir kein Geld schenken.«

»Ich biete es Ihnen als Freund an; ich biete Ihnen mein Leben an.«

Sie betrachtete mich mit einem langen, prüfenden Blick, als wollte sie mich durch und durch sehen.

»Sie geben einen zu hohen Preis«, sagte sie lächelnd. »De Grieux‘ Geliebte ist nicht fünfzigtausend Franc wert.«

»Polina, wie können Sie so zu mir reden!« rief ich vorwurfsvoll. »Bin ich denn ein de Grieux?«

»Ich hasse Sie! Ja … ja … Ich liebe Sie nicht mehr als de Grieux!« rief sie, und ihre Augen funkelten zornig auf. In diesem Augenblick schlug sie plötzlich die Hände vor das Gesicht und brach in ein krampfhaftes Weinen aus. Ich stürzte zu ihr hin.

Es mußte während meiner Abwesenheit etwas mit ihr vorgegangen sein. Sie war wie eine Irrsinnige.

»Kaufe mich! Willst du? Willst du? Für fünfzigtausend Franc wie de Grieux?« stieß sie unter heftigem Schluchzen hervor.

Ich umarmte sie, küßte ihre Hände, ihre Füße, fiel vor ihr auf die Knie.

Der Weinkrampf war vorübergegangen. Sie legte beide Hände auf meine Schultern und betrachtete mich unverwandt; sie schien auf meinem Gesicht etwas lesen zu wollen. Sie hörte an, was ich sagte, aber offenbar ohne es zu verstehen. Ein Ausdruck von sorgenvollem Nachdenken zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ich ängstigte mich um sie; ich hatte entschieden den Eindruck, daß sie von Irrsinn befallen wurde. Ganz unerwartet begann sie, mich leise an sich zu ziehen, und ein vertrauensvolles Lächeln breitete sich schon über ihr Gesicht; dann aber stieß sie mich plötzlich von sich und betrachtete mich wieder mit finsterer Miene. Auf einmal umarmte sie mich stürmisch.

»Du liebst mich doch, du liebst mich doch?« sagte sie. »Du wolltest … du wolltest dich ja um meinetwillen mit dem Baron duellieren!«

Dann lachte sie auf, als hätte sie sich soeben an etwas Komisches und Hübsches erinnert. Sie weinte und lachte, alles zu gleicher Zeit. Was konnte ich tun! Ich befand mich selbst in einem fieberhaften Zustand. Ich erinnere mich, sie fing an, mir etwas zu sagen; aber ich konnte so gut wie nichts davon verstehen. Es war eine Art von Irrereden, eine Art von Gestammel, als wenn sie mir recht schnell etwas erzählen wollte; und dieses Gerede wurde ab und zu von einem sehr heiteren Lachen unterbrochen, das mich erschreckte. »Nein, nein, du Lieber, Guter!« sagte sie einmal über das andere. »Du bist mir treu!« Und von neuem legte sie mir ihre Hände auf die Schultern, von neuem schaute sie mich prüfend an und sagte immer wieder: »Du liebst mich, nicht wahr? … Du liebst mich … Und du wirst mich immer lieben?« Ich konnte die Augen nicht von ihr abwenden; noch nie hatte ich sie in einem solchen Anfall von Zärtlichkeit und Liebe gesehen. Sie redete freilich wie im Fieber; aber als sie meinen leidenschaftlichen Blick bemerkte, lächelte sie schelmisch und fing ohne jeden äußeren Anlaß auf einmal an von Mister Astley zu sprechen.

Sie redete von ihm geraume Zeit ohne Unterbrechung und bemühte sich eine Weile besonders, mir etwas aus der jüngsten Vergangenheit zu erzählen; aber was es eigentlich war, das konnte ich nicht verstehen; sie schien sich sogar über ihn lustig zu machen; unaufhörlich wiederholte sie, daß er warte. »Weißt du wohl«, sagte sie, »er steht gewiß in diesem Augenblick unten vor dem Fenster. Ja, ja, unten vor dem Fenster. Mach doch einmal das Fenster auf und sieh zu; er ist gewiß da, er ist gewiß da!« Sie wollte mich zum Fenster hindrängen; aber kaum machte ich eine Bewegung, um hinzugehen, als sie in ein Gelächter ausbrach. Ich blieb bei ihr stehen, und sie umarmte mich wieder leidenschaftlich. »Wir fahren doch fort? Wir fahren doch morgen fort?« fragte sie unruhig, da ihr dieser Gedanke plötzlich in den Kopf gekommen war. »Ja …« (sie überlegte) »ja, ob wir wohl die Tante noch einholen? Was meinst du? Ich denke mir, wir werden sie in Berlin einholen. Was meinst du, was wird sie sagen, wenn wir sie einholen und sie uns sieht? Und was wird Mister Astley sagen …? Na, der wird nicht vom Schlangenberg hinabspringen, was meinst du?« (Sie kicherte.) »Hör mal zu: weißt du, wohin er im nächsten Sommer reisen wird? Er will zum Zwecke wissenschaftlicher Untersuchungen nach dem Nordpol fahren und hat mich eingeladen mitzukommen, hahaha! Er sagt, daß wir Russen ohne die Westeuropäer nichts verständen und nichts leisten könnten … Aber er ist ebenfalls ein guter Mensch! Weißt du, er entschuldigt die Handlungsweise des Generals; er sagt, daß Blanche … daß die Leidenschaft … na, ich weiß nicht mehr … ich weiß nicht mehr«, sagte sie ein paarmal hintereinander, wie wenn sie wirr geredet und den Faden verloren hätte. »Die Armen, wie leid sie mir tun; und auch die alte Tante tut mir leid … Na, hör mal, hör mal, wie willst du denn das anfangen, de Grieux zu töten? Hast du denn wirklieh gedacht, daß es dazu kommen würde? Du Lieber, Dummer! Hast du denn glauben können, ich würde es zugeben, daß du dich mit de Grieux duelliertest? Und auch den Baron wirst du nicht töten«, lugte sie auflachend hinzu. »Ach, wie komisch du damals in der Szene mit dem Baron warst! Ich beobachtete euch beide von der Bank aus. Und wie ungern du damals hingingst, als ich dich schickte! Was habe ich damals gelacht, was habe ich damals gelacht!« fügte sie kichernd hinzu.

Und dann küßte und umarmte sie mich wieder und schmiegte wieder leidenschaftlich und zärtlich ihr Gesicht an das meinige. Ich hatte jetzt keine Gedanken mehr und hörte nichts mehr; es war mir ganz schwindlig zumute.

Ich glaube, es war gegen sieben Uhr morgens, als ich erwachte; die Sonne schien ins Zimmer. Polina saß neben mir und blickte in sonderbarer Art und Weise rings um sich, als wäre sie eben erst aus einer dunklen Bewußtlosigkeit zu sich gekommen und nun bemüht, in ihre Erinnerungen Klarheit zu bringen. Sie war ebenfalls erst vor kurzem aufgewacht und blickte nun starr auf den Tisch und das Geld. Der Kopf war mir schwer und tat mir weh. Ich wollte Polinas Hand ergreifen; aber sie stieß mich zurück und sprang vom Sofa auf. Der beginnende Tag war trübe; es hatte vor Sonnenaufgang geregnet. Sie trat an das Fenster, öffnete es, bog den Kopf und den Oberkörper hinaus, stützte sich mit den Händen auf das Fensterbrett und lehnte die Ellbogen gegen den Rahmen; in dieser Stellung verharrte sie etwa drei Minuten lang, ohne sich zu mir umzuwenden und ohne zu hören, was ich zu ihr sagte. Voll Angst mußte ich denken: was wird jetzt geschehen, und wie wird das enden? Plötzlich richtete sie sich wieder auf und verließ das Fenster; sie trat an den Tisch, blickte mich mit einem Ausdruck grenzenlosen Hasses an und sagte mit Lippen, die vor Ingrimm bebten:

»Nun, dann gib mir jetzt meine fünfzigtausend Franc!«

»Polina, wie sprichst du wieder?« begann ich.

»Oder hast du dich anders besonnen? Hahaha! Es ist dir vielleicht schon wieder leid geworden?«

Die fünfundzwanzigtausend Gulden, die ich schon gestern abgezählt hatte, lagen auf dem Tisch, ich nahm sie und reichte sie ihr hin.

»Also sie gehören jetzt mir? Es ist doch so? Nicht wahr?« fragte sie mich ergrimmt, während sie das Geld in der Hand hielt.

»Sie haben dir schon immer gehört«, erwiderte ich.

»Nun dann also: da hast du deine fünfzigtausend Franc!« Sie holte aus und schleuderte sie mir ins Gesicht, so daß mich der Wurf schmerzte. Dann fiel das Päckchen auseinanderblätternd auf den Fußboden. Nachdem sie das vollführt hatte, lief sie aus dem Zimmer.

Ich weiß, sie hatte in diesem Augenblick sicherlich nicht ihren vollen Verstand, obgleich ich mir diese zeitweilige Geistesstörung nicht recht erklären kann. Allerdings ist sie auch jetzt noch, das heißt einen Monat nach jenem Ereignis, krank. Aber was war die Ursache dieses Zustandes und namentlich eines so schroffen Benehmens? Beleidigter Stolz? Verzweiflung darüber, daß sie sich dazu entschlossen hatte, zu mir zu kommen? Machte ich ihr vielleicht den Eindruck, als triumphiere ich wegen meines Glückes und wolle mich im Grunde ebenso wie de Grieux durch ein Geschenk von fünfzigtausend Franc von ihr losmachen? Aber das traf doch in keiner Weise zu; das kann ich auf mein Gewissen sagen. Ich glaube, ihre Handlungsweise war zum Teil eine Folge ihres Hochmutes; ihr Hochmut veranlaßte sie, mir zu mißtrauen und mich zu beleidigen, obgleich sie sich über alles dies wohl selbst nicht ganz klar wurde. Wenn dem so ist, so habe ich für de Grieux gebüßt und bin vielleicht bestraft worden, ohne daß ich selbst eine sehr große Schuld gehabt hätte. Ich muß zugeben: sie befand sich bei diesem Besuch auf meinem Zimmer in einem fieberhaften Zustand, und ich erkannte diesen Zustand, berücksichtigte ihn aber nicht, wie ich gesollt hätte. Vielleicht ist es das, was sie mir jetzt nicht verzeihen kann? Ja, für heute mag das richtig sein; aber damals, damals? So arg war schließlich ihr krankhafter Fieberzustand doch nicht, daß sie gar nicht mehr gewußt hätte, was sie tat, als sie mit de Grieux‘ Brief zu mir kam. Nein, sie wußte, was sie tat.

Eilig und ohne Sorgfalt legte ich meine Banknoten und meinen ganzen Haufen Gold in das Bett, deckte dieses wieder zu und ging hinaus, etwa zehn Minuten nach Polina. Ich war überzeugt, daß sie nach ihrem Zimmer gelaufen sei, und wollte mich daher unauffällig nach dem Logis des Generals begeben und im Vorzimmer die Kinderfrau nach dem Befinden des Fräuleins fragen. Wie groß war mein Erstaunen, als ich von der Kinderfrau, die mir auf der Treppe begegnete, erfuhr, daß Polina noch nicht in die Wohnung zurückgekehrt sei, und daß sie, die Kinderfrau, auf dem Weg zu mir gewesen sei, um sie zu suchen.

»Sie ist eben erst«, sagte ich zu ihr, »eben erst von mir weggegangen, vor etwa zehn Minuten. Wo kann sie denn nur geblieben sein?«

Die Kinderfrau sah mich vorwurfsvoll an.

Unterdessen waren die einzelnen Tatsachen zu einer Skandalgeschichte zusammengefügt worden, die bereits im ganzen Hotel kursierte. In der Loge des Portiers und im Büro des Oberkellners flüsterte man sich zu, das Fräulein sei am Morgen, um sechs Uhr, im Regen aus dem Hotel gelaufen und habe die Richtung nach dem Hotel d’Angleterre eingeschlagen. Aus den Reden und Andeutungen des Hotelpersonals entnahm ich, daß bereits bekannt war, daß Polina die ganze Nacht in meinem Zimmer verbracht hatte. Auch über die ganze Familie des Generals wurde allerlei erzählt: man behauptete, der General habe am vorigen Tage den Verstand verloren und dermaßen geweint, daß man es durch das ganze Hotel habe hören können. Dazu wurde noch erzählt, die alte Dame, die angereist gekommen sei, wäre seine Mutter und wäre expreß aus Rußland hergekommen, um ihrem Sohn die Heirat mit Mademoiselle Cominges zu verbieten und ihm im Falle des Ungehorsams die Erbschaft zu entziehen, und da er ihr nun wirklich nicht gehorcht habe, so hätte die Gräfin vor seinen Augen absichtlich all ihr Geld im Roulett verspielt, damit er auf diese Weise nichts bekäme. »Diese Russen!« wiederholte der Oberkellner mehrmals mit verwundertem, tadelndem Kopfschütteln. Die andern lachten. Der Oberkellner machte die Rechnung fertig. Auch mein Spielgewinn war schon allgemein bekannt; Karl, mein Zimmerkellner, war der erste, der mir Glück wünschte. Aber ich war nicht in der Stimmung, mich mit diesen Menschen abzugeben. Ich eilte nach dem Hotel d’Angleterre.

Es war noch früh am Tag; man sagte mir, Mister Astley nehme jetzt keinen Besuch an; als er jedoch hörte, daß ich es sei, kam er zu mir auf den Korridor heraus, blieb vor mir stehen, richtete schweigend seine zinnernen Augen auf mich und wartete, was ich ihm sagen würde. Ich fragte ihn nach Polina.

»Sie ist krank«, antwortete Mister Astley und fuhr fort, mich starr und unverwandt anzusehen.

»Also ist sie wirklich bei Ihnen?« »O ja, sie ist bei mir.«

»Aber wie können Sie denn … Beabsichtigen Sie, sie bei sich zu behalten?«

»O ja, ich beabsichtige es.«

»Mister Astley, das wird eine sehr häßliche Nachrede zur Folge haben; das geht nicht. Außerdem ist sie ernstlich krank; Sie haben das vielleicht nicht bemerkt?«

»O ja, ich habe es bemerkt und habe Ihnen ja schon selbst gesagt, daß sie krank ist. Wenn sie nicht krank wäre, hätte sie nicht die Nacht bei Ihnen zugebracht.«

»Also wissen Sie auch das?«

»Ich weiß es. Sie kam gestern hierher, und ich wollte sie zu einer Verwandten von mir bringen; aber da sie eben krank war, beging sie den Fehler, zu Ihnen zu gehen.«

»Was Sie da sagen! Nun, ich wünsche Ihnen Glück, Mister Astley. Apropos, da bringen Sie mich auf einen Gedanken: haben Sie nicht die ganze Nacht bei uns unter dem Fenster gestanden? Miß Polina verlangte in der Nacht fortwährend von mir, ich sollte das Fenster aufmachen und nachsehen, ob Sie unten ständen. Sie hat gewaltig darüber gelacht.«

»Wirklich? Nein, unter dem Fenster habe ich nicht gestanden; aber ich wartete auf dem Korridor und ging um das Hotel herum.«

»Aber sie muß in ärztliche Behandlung kommen, Mister Astley.«

»O ja, ich habe schon nach einem Arzt geschickt, und wenn sie sterben sollte, so werden Sie mir Rechenschaft für ihren Tod geben.«

Ich war ganz erstaunt.

»Ich bitte Sie, Mister Astley«, sagte ich. »Was meinen Sie damit?«

»Ist das richtig, daß Sie gestern zweihunderttausend Taler im Spiel gewonnen haben?«

»Im ganzen nur hunderttausend Gulden.«

»Nun, sehen Sie! Fahren Sie also heute vormittag nach Paris!«

»Wozu?«

»Alle Russen, die Geld haben, fahren nach Paris«, erwiderte Mister Astley in einem Ton, als ob er diesen Satz aus einem Buch vorläse.

»Was soll ich jetzt im Sommer in Paris anfangen? Ich liebe sie, Mister Astley. Das wissen Sie selbst.«

»Wirklich? Ich bin überzeugt, daß das nicht der Fall ist. Außerdem werden Sie, wenn Sie hierbleiben, aller Wahrscheinlichkeit nach Ihren ganzen Gewinn wieder verlieren, und dann haben Sie kein Geld, um nach Paris zu fahren. Nun, leben Sie wohl; ich bin der festen Überzeugung, daß Sie heute nach Paris fahren werden.«

»Nun gut, leben Sie wohl; aber nach Paris werde ich nicht fahren. Denken Sie doch nur daran, Mister Astley, welches Schicksal jetzt bei uns der ganzen Familie bevorsteht! Der General ist, kurz gesagt … Und jetzt dieser Vorfall mit Miß Polina; diese Geschichte wird ja durch die ganze Stadt die Runde machen.«

»Ja, durch die ganze Stadt; aber der General kümmert sich meiner Ansicht nach nicht darum; der hat jetzt andere Gedanken. Außerdem hat Miß Polina ein volles Recht zu leben, wo es ihr beliebt. Diese Familie anlangend kann man wahrheitsgemäß sagen, daß sie nicht mehr existiert.«

Ich ging und amüsierte mich über den seltsamen Glauben dieses Engländers, daß ich nach Paris fahren würde. »Aber er will mich im Duell erschießen«, dachte ich, »wenn Mademoiselle Polina stirbt – das ist ja eine tolle Geschichte!« Ich schwöre es, Polina tat mir leid; aber sonderbar: von diesem Augenblick an, wo ich gestern an den Spieltisch getreten war und angefangen hatte, Haufen Geldes zusammenzuscharren, von diesem Augenblick an war meine Liebe sozusagen in die zweite Reihe zurückgerückt. So spreche ich jetzt; aber damals hatte ich das alles noch nicht klar erkannt. Bin ich denn wirklich eine Spielernatur? Habe ich Polina wirklich nur in dieser sonderbaren Weise geliebt? Nein, ich liebe sie bis auf den heutigen Tag, das weiß Gott! Damals aber, als ich Mister Astley verlassen hatte und wieder nach Hause ging, empfand ich den bittersten Schmerz und machte mir schwere Vorwürfe. Aber … aber da passierte mir etwas sehr Seltsames, etwas sehr Dummes.

Ich war eiligen Ganges auf dem Wege nach dem Logis des Generals, als plötzlich nicht weit davon sich eine Tür öffnete und mich jemand rief. Es war Madame veuve Cominges, und sie rief mich im Auftrag der Mademoiselle Blanche. Ich ging hinein.

Sie hatten ein kleines Logis, nur aus zwei Zimmern bestehend. Aus dem Schlafzimmer hörte ich Mademoiselle Blanche lachen und laut reden. Sie schien eben aus dem Bett aufstehen zu wollen.

»Ah, c’est lui! Viens donc, bêta! Ist das wahr, que tu as gagné une montagne d’or et d’argent? J’aimerais mieux l’or.«

»Ja, ich habe gewonnen«, antwortete ich lachend.

»Wieviel?«

»Hunderttausend Gulden.«

»Bibi, comme tu es bête. Aber komm doch hier herein, ich verstehe nichts. Nous ferons bombance, n’est-ce pas?«

Ich ging zu ihr hinein. Sie lag lässig hingestreckt unter einer rosaseidenen Decke, aus der die bräunlichen, gesunden, wundervollen Schultern zum Vorschein kamen (Schultern, wie man sie sonst nur im Traume sieht), mangelhaft bedeckt von einem mit schneeweißen Spitzen besetzten Batisthemd, was zu ihrer bräunlichen Haut wundervoll paßte.

»Mon fils, as-tu du cœur?« rief sie, sobald sie mich erblickte, und kicherte munter. Sie lachte immer sehr lustig, und sogar manchmal von Herzen.

»Tout autre …«, begann ich aus Corneille zu zitieren.

»Siehst du wohl, vois-tu«, fing sie an zu schwatzen, »zuerst such mir mal meine Strümpfe und hilf mir sie anziehen; und dann, si tu n’es pas trop bête, je te prends à Paris. Du weißt wohl, ich reise gleich ab.«

»Gleich?«

»In einer halben Stunde.«

Tatsächlich war alles gepackt. Alle Koffer und ihre übrigen Sachen standen bereit. Der Kaffee wartete schon lange auf dem Tisch.

»Eh bien, wenn du willst, tu verras Paris. Dis donc qu’est-ce que c’est qu’un outchitel? Tu étais bien bête, quand tu étais outchitel. Wo sind meine Strümpfe? Zieh sie mir an, mach!« Sie streckte wirklich ein entzückendes, bräunliches, kleines Füßchen heraus, das nicht verunstaltet war wie fast alle jene Füßchen, die in den Modestiefelchen so zierlich aussehen. Ich lachte und machte mich daran, ihr den seidenen Strumpf anzuziehen. Mademoiselle Blanche saß unterdessen auf dem Bett und redete munter drauflos.

»Eh bien, que feras-tu, si je te prends avec? Zunächst, je veux cinquante mille francs. Die gibst du mir in Frankfurt. Nous allons à Paris; da leben wir zusammen, et je te ferai voir des étoiles en plein jour. Du wirst da Frauen kennenlernen, wie du sie noch nie gesehen hast. Hör mal …«

»Warte mal: also ich soll dir fünfzigtausend Franc geben; aber was behalte ich dann übrig?«

»Nun, hundertfünfzigtausend Franc; die hast du wohl vergessen? Und außerdem bin ich bereit, mit dir in deiner Wohnung zu wohnen, einen oder zwei Monate lang, que sais-je! In zwei Monaten werden wir natürlich die hundertfünfzigtausend Franc verbraucht haben. Siehst du wohl, je suis bonne enfant und sage es dir vorher: mais tu verras des étoiles.«

»Wie? Alles in zwei Monaten?«

»Erschreckt dich das? Ah, vil esclave! Weißt du wohl, daß ein einziger Monat eines solchen Lebens mehr wert ist als dein ganzes übriges Leben? Ein Monat – et après le déluge! Mais tu ne peux comprendre, va! Geh weg, geh weg, du bist mein Anerbieten nicht wert! Ah. que fais-tu?«

Ich zog ihr gerade den zweiten Strumpf an, konnte mich aber nicht enthalten, ihr Füßchen zu küssen. Sie riß es mir aus den Händen und stieß mich ein paarmal mit der Fußspitze ins Gesicht. Schließlich jagte sie mich hinaus.

»Eh bien, mon outchitel, je t’attends, si tu veux; in einer Viertelstunde fahre ich!« rief sie mir nach.

Als ich wieder auf mein Zimmer gekommen war, war mir der Kopf ganz schwindlig. Nun, im Grunde war es doch nicht meine Schuld, daß Mademoiselle Polina mir ein ganzes Päckchen Banknoten ins Gesicht geworfen und mir noch gestern diesen Mister Astley vorgezogen hatte. Einige der beim Fallen auseinandergeflatterten Banknoten lagen noch auf dem Fußboden umher; ich hob sie auf. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und es erschien in eigener Person der Oberkellner, der früher gar keinen Blick für mich übrig gehabt hatte, und fragte an, ob es mir nicht gefällig wäre, in eine tiefer gelegene Etage überzusiedeln, etwa in das ausgezeichnete Logis, in dem eben erst der Graf B. gewohnt habe.

Ich stand einen Moment da und überlegte.

»Die Rechnung!« rief ich. »Ich reise sogleich ab, in zehn Minuten.« Und im stillen dachte ich: »Nach Paris, also doch nach Paris! Es muß wohl so im Buche des Schicksals geschrieben stehen!«

Eine Viertelstunde darauf saßen wir wirklich zu dreien auf der Bahn in einem Familienabteil: ich, Mademoiselle Blanche und Madame veuve Cominges. Mademoiselle Blanche lachte, so oft sie mich ansah, bis zu Tränen. Die veuve Cominges stimmte in dieses Gelächter ein. Ich kann nicht sagen, daß mir lustig zumute war. Mein Leben war in zwei Teile auseinandergebrochen; aber seit dem vorhergehenden Tag hatte ich mich schon daran gewöhnt, alles auf eine Karte zu setzen. Vielleicht ist es wirklich richtig, daß ich es nicht ertragen konnte, viel Geld zu besitzen, und davon schwindlig wurde. Peut-être, je ne demandais pas mieux. Es schien mir, daß für ein Weilchen (aber auch nur für ein Weilchen) in meinem Leben die Dekorationen wechselten. »Aber in einem Monat«, sagte ich mir, »werde ich wieder hier sein, und dann … und dann messen wir uns noch einmal miteinander, Mister Astley!« Nein, wie ich mich jetzt recht gut entsinne, war mir auch damals sehr traurig zumute, obwohl ich mit dieser närrischen Blanche um die Wette lachte.

Aber es entging ihr trotzdem nicht, wie beschaffen meine wirkliche Stimmung war.

»Was ist dir denn? Wie dumm du bist! Oh, wie dumm du bist!« rief sie, ihr Lachen unterbrechend, und begann mich in allem Ernst auszuschelten. »Nun ja, nun ja, ja, wir werden deine zweihunderttausend Franc verbrauchen; aber dafür tu seras heureux, comme un petit roi. Ich selbst werde dir deine Krawatte binden und dich mit Hortense bekannt machen. Und wenn wir all unser Geld verbraucht haben, dann fährst du wieder hierher und sprengst wieder die Bank. Was haben doch die Juden zu dir gesagt? Die Hauptsache ist Kühnheit, und die besitzt du, und du wirst mir noch öfter Geld nach Paris bringen. Quant à moi je veux cinquante mille francs de rente et alors …«

»Aber der General?« fragte ich sie.

»Der General geht, wie du ja selbst weißt, jeden Tag um diese Zeit aus, um ein Bukett für mich zu kaufen. Für diesmal habe ich absichtlich verlangt, er solle suchen, gewisse besonders seltene Blumen für mich zu bekommen. Wenn der Ärmste dann nach Hause zurückkehrt, wird das Vögelchen ausgeflogen sein. Du wirst sehen: er wird uns nachfahren. Hahaha! Das wird mich sehr freuen. In Paris wird er mir gute Dienste leisten können. Hier wird Mister Astley für ihn bezahlen …«

So ging es zu, daß ich damals nach Paris fuhr.

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Sechzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Was soll ich von Paris sagen? Mein ganzes Leben dort war einerseits ein fieberhafter Taumel, andrerseits eine große Narrheit. Ich lebte in Paris im ganzen nur drei Wochen und einige Tage, und in diesem Zeitraum gingen meine hunderttausend Franc vollständig drauf. Ich rede nur von einhunderttausend; denn die andern hunderttausend hatte ich Mademoiselle Blanche in barem Gelde gegeben: fünfzigtausend gab ich ihr in Frankfurt, und drei Tage darauf stellte ich ihr in Paris noch einen Wechsel über fünfzigtausend Franc aus, für den sie sich aber eine Woche darauf von mir das Geld geben ließ; »et les cent mille Francs, qui nous restent, tu les mangeras avec moi, mon outchitel«. Sie nannte mich beständig mit dieser Bezeichnung. Es ist schwer, sich in der Welt etwas Sparsameres, Geizigeres, Knauserigeres zu denken, als es die Gattung von Geschöpfen ist, zu der Mademoiselle Blanche gehörte. Aber das bezieht sich nur auf die Art, wie sie mit ihrem eigenen Geld umgehen. Was die hunderttausend Franc betrifft, die eigentlich mir hätten verbleiben sollen, so erklärte sie mir nachher geradezu, die habe sie für ihre erste Einrichtung in Paris gebraucht, und fügte hinzu: »Jetzt habe ich aber auch ein für allemal in der besseren Gesellschaft Fuß gefaßt; nun wird so bald niemand meine Stellung erschüttern; wenigstens habe ich getan, was in meinen Kräften stand.« Übrigens hatte ich von diesen hunderttausend Franc, bis sie zu Ende waren, fast gar nichts mehr zu sehen bekommen; das Geld hielt sie die ganze Zeit über in ihrem eigenen Gewahrsam, und meine Börse, die sie selbst täglich revidierte, enthielt nie mehr als hundert Franc und meistens weniger.

»Wozu brauchst du Geld?« sagte sie manchmal mit der harmlosesten Miene, und ich ließ mich darüber in keinen Streit mit ihr ein.

Sie dagegen richtete von diesem Geld ihre neue Wohnung außerordentlich hübsch ein, und als sie mich dann hindurchführte und mir alle Zimmer zeigte, sagte sie: »Da kannst du sehen, was sich mit den armseligsten Mitteln ausrichten läßt, wenn man nur ökonomisch ist und Geschmack besitzt.« Diese armseligen Mittel, das waren aber genau fünfzigtausend Franc. Für die übrigen fünfzigtausend schaffte sie sich eine Equipage und Pferde an; außerdem gaben wir zwei Bälle oder vielmehr kleine Soiréen, auf denen auch Hortense und Lisette und Cléopâtre erschienen, Damen, die in vielfacher Hinsicht interessant und ganz und gar nicht häßlich waren. Auf diesen beiden Soiréen war ich genötigt, die sehr dumme Rolle des Hausherrn zu spielen und die Gäste zu empfangen und zu unterhalten. Und was für Gäste! Da waren bornierte, aber reichgewordene Kaufleute, die überall sonst wegen ihrer Ignoranz und Schamlosigkeit unmöglich waren, mehrere Leutnants und jämmerliche Literaten und Journalisten, die in modernen Fracks und mit strohgelben Handschuhen erschienen, und deren Eitelkeit und Aufgeblasenheit von so kolossalen Dimensionen waren, wie es sogar bei uns in Petersburg undenkbar wäre – und das will viel sagen. Sie erdreisteten sich sogar, sich über mich lustig zu machen; aber ich trank tüchtig Champagner und legte mich dann in der Hinterstube eine Weile aufs Sofa. All das war mir im höchsten Grade widerlich. »C’est un outchitel«, sagte Blanche von mir, »il a gagné deux cent mille francs und würde ohne mich nicht wissen, wie er sie ausgeben soll. Nachher wird er wieder Lehrer werden; weiß keiner von Ihnen eine Stelle für ihn? Man muß etwas für ihn tun.«

Zum Champagner nahm ich recht oft meine Zuflucht, weil ich beständig in sehr trüber Stimmung war und mich aufs äußerste langweilte. Der Haushalt, in dem ich lebte, trug einen im höchsten Grade kleinbürgerlichen, krämerhaften Charakter: bei jedem Sou, der ausgegeben werden sollte, wurde gerechnet und überlegt. Blanche liebte mich in den ersten zwei Wochen sehr wenig; das merkte ich recht wohl. Allerdings sorgte sie dafür, daß ich elegant gekleidet ging, und band mir eigenhändig alle Tage die Krawatte; aber im Grunde ihrer Seele verachtete sie mich. Ich meinerseits kümmerte mich darum nicht im geringsten. Aus Langeweile und Trübsinn wurde ich ein regelmäßiger Besucher des Château des Fleurs, wo ich mich jeden Abend betrank und Cancan tanzen lernte (der dort in recht garstiger Manier getanzt wird) und schließlich auf diesem Gebiet sogar einige Berühmtheit erwarb. Dann aber gewann Blanche doch etwas mehr Verständnis für mein Wesen. Aus irgendwelchem Grund hatte sie sich früher die Vorstellung gebildet, ich würde während der ganzen Dauer unseres Zusammenlebens mit dem Bleistift und dem Notizbuch in den Händen hinter ihr hergehen und alles berechnen, was sie mir gestohlen und ausgegeben habe, und was sie mir noch stehlen und ausgeben werde. Und sie war fest überzeugt, daß es bei uns um eines jeden Zehnfrancstücks willen eine hitzige Schlacht setzen werde. Auf jeden meiner Angriffe, die sie mit Sicherheit erwartete, hatte sie sich schon im voraus eine Erwiderung zurechtgelegt; aber da sie von meiner Seite keine Angriffe erfolgen sah, machte sie selbst mit ihren Erwiderungen den Anfang. Manchmal begann sie sehr hitzig; wenn sie dann aber sah, daß ich schwieg (ich rekelte mich meist auf einer Chaiselongue und blickte, ohne mich zu rühren, nach der Zimmerdecke), da wunderte sie sich schließlich doch. Anfangs dachte sie, ich sei einfach dumm, »un outchitel«, und brach einfach ihre Erklärungen ab, weil sie sich wahrscheinlich sagte: »Er ist ja dumm; es hat keinen Zweck, ihn erst auf etwas zu bringen, wenn er es nicht von selbst versteht. «Es kam jedoch vor, daß sie aus dem Zimmer ging, aber nach zehn Minuten wieder zurückkehrte und ihr Thema wieder aufnahm. Das folgende Gespräch begab sich in einem solchen Fall zur Zeit ihrer sinnlosen Ausgaben, Ausgaben, die weit über unsere Mittel hinausgingen: so gab sie zum Beispiel unsere Pferde weg und kaufte für sechzehntausend Franc ein anderes Paar.

»Na, also du bist nicht böse darüber, bibi?« fragte sie, zu mir herantretend.

»Nein, nein, wozu redest du noch?« antwortete ich gähnend und schob sie mit der Hand von mir weg. Aber dieses Benehmen von meiner Seite war ihr so merkwürdig, daß sie sich sofort neben mich setzte.

»Siehst du, wenn ich mich entschlossen habe, so viel dafür zu bezahlen, so habe ich es nur deswegen getan, weil es ein Gelegenheitskauf war. Wir können sie für zwanzigtausend Franc wieder verkaufen.«

»Ich glaube es, ich glaube es; es sind schöne Pferde, und wenn du jetzt ausfährst, wird es sich sehr gut ausnehmen; das wird dir für deine weitere Karriere zustatten kommen. Na, nun genug davon!«

»Also du bist nicht böse?«

»Warum sollte ich böse sein? Du handelst sehr verständig, wenn du dir einiges anschaffst, was du notwendig brauchst. All das wird dir später von Nutzen sein. Ich sehe ein, daß du dir in der Tat eine solche Stellung in der Gesellschaft schaffen mußt; sonst wirst du nie eine Million erwerben. Da sind unsere hunderttausend Franc nur der Anfang, nur ein Tropfen im Meer.«

Blanche, die von mir alles andere eher erwartet hatte als solche Anschauungen (sie hatte gemeint, ich würde ein großes Geschrei erheben und ihr Vorwürfe machen), fiel aus den Wolken.

»Also so einer … also so einer bist du! Mais tu as l’esprit pour comprendre. Sais-tu, mon garçon, du bist zwar ein outchitel, aber du hättest als Prinz auf die Welt kommen müssen! Also es tut dir nicht leid, daß das Geld bei uns schnell davongeht?«

»Laß es in Gottes Namen davongehen; so schnell wie es will!«

»Mais … sais-tu … mais dis donc, bist du denn reich? Mais sais-tu, du schätzt denn doch das Geld gar zu gering. Qu’est-ce que tu feras après, dis donc?«

»Après? Ich werde nach Homburg fahren und wieder hunderttausend Franc gewinnen.«

»Qui, oui, c’est ça, c’est magnifique! Und ich weiß, du wirst bestimmt gewinnen und mir das Geld herbringen. Dis donc, du bringst es noch dahin, daß ich dich wirklich liebgewinne. Eh bien, zum Lohn dafür, daß du so bist, werde ich dich auch diese ganze Zeit über lieben und dir kein einziges Mal untreu werden. Siehst du, diese ganze Zeit her habe ich dich allerdings nicht geliebt, parce que je croyais, que tu n’es qu’un outchitel (quelque chose comme un laquais, n’est-ce pas?); aber ich bin dir trotzdem treu gewesen, parce que je suis bonne fille.«

»Na, na, rede mir nichts vor! Habe ich dich nicht das vorige Mal mit Albert, diesem kleinen, brünetten Offizier, zusammen gesehen?« »Oh, oh, mais tu es …« »Na, nur nicht schwindeln, nur nicht schwindeln! Aber denkst du denn, daß ich darüber böse bin? Mir ganz gleichgültig; il faut que jeunesse se passe. Du kannst ihn doch nicht wegjagen, wenn du ihn vor meiner Zeit gehabt hast und ihn liebst. Nur gib ihm kein Geld, hörst du?«

»Also auch darüber bist du nicht böse? Mais tu es un vrai philosophe, sais-tu? Un vrai philosophe!« rief sie ganz entzückt. »Eh bien, je t’aimerai, je t’aimerai – tu verras, tu seras content!«

Und wirklich bewies sie mir seitdem eine Art von Anhänglichkeit, ja Freundschaft, und so vergingen unsere letzten zehn Tage. Die ›Sterne‹, die sie versprochen hatte mir zu zeigen, habe ich freilich nicht gesehen; aber in mancher Beziehung hielt sie tatsächlich Wort. Auch machte sie mich mit Hortense bekannt, die eine in ihrem Genre sehr bemerkenswerte Dame war und in unserm Kreis »Thérèse philosophe« genannt wurde …

Aber es hat keinen Zweck, darüber ausführlicher zu handeln; alles dies könnte eine besondere Erzählung abgeben; eine Erzählung mit besonderem Kolorit, die ich in die hier vorliegende nicht einschieben will. In summa: ich wünschte von ganzem Herzen, daß alles recht bald zu Ende sein möchte. Aber unsere hunderttausend Franc reichten, wie schon gesagt, fast einen Monat lang – worüber ich wirklich erstaunt war: denn für mindestens achtzigtausend Franc von diesem Geld hatte Blanche sich allerlei angeschafft, und wir hatten für unsern Lebensunterhalt nicht mehr als zwanzigtausend Franc verbraucht – und es hatte doch gereicht. Blanche, die gegen Ende unseres Zusammenseins mir gegenüber beinah aufrichtig war (wenigstens in manchen Dingen belog sie mich nicht), rühmte sich, daß ich wenigstens nicht für die Schulden würde einzustehen haben, die sie genötigt gewesen sei zu machen. »Ich habe«, sagte sie zu mir, »dich keine Rechnungen und Wechsel unterschreiben lassen, weil du mir leid tatest; eine andere hätte das unbedingt getan und dich ins Schuldgefängnis gebracht. Da siehst du, wie ich dich geliebt habe, und wie gut ich bin! Was wird mich schon allein diese verwünschte Hochzeit kosten!«

Es wurde bei uns wirklich Hochzeit gehalten. Sie fiel bereits ganz an das Ende unseres Monats, und es war anzunehmen, daß für sie der letzte Rest meiner hunderttausend Franc draufgehen werde; damit war denn auch die Sache zum Abschluß gelangt, das heißt unser Monat war zu Ende, und ich trat nun in aller Form in den Ruhestand.

Das trug sich folgendermaßen zu. Eine Woche, nachdem wir uns in Paris niedergelassen hatten, kam der General angereist. Er begab sich direkt zu Blanche und blieb von seinem ersten Besuch an fast dauernd bei uns. Allerdings hatte er irgendwo in der Nähe auch eine eigene Wohnung. Blanche begrüßte ihn freudig, mit Lachen und Ausrufen des Entzückens, und umarmte ihn sogar stürmisch; das Verhältnis gestaltete sich dann so, daß sie selbst ihn gar nicht mehr von sich fortlassen wollte und er sie überallhin begleiten mußte: auf den Boulevard, bei Spazierfahrten, ins Theater und zu Bekannten. Für diese Verwendung war der General ganz wohl brauchbar; er war eine stattliche, vornehme Erscheinung von mehr als Mittelgröße, mit gefärbtem Backenbart und gefärbtem, gewaltigem Schnurrbart (er hatte seinerzeit bei den Kürassieren gedient) und mit einem angenehmen, wenn auch etwas aufgedunsenen Gesicht. Er besaß vortreffliche Manieren und trug seinen Frack mit vielem Anstand. In Paris legte er auch seine Orden wieder an. Mit einem solchen Mann auf dem Boulevard zu gehen war nicht nur möglich, sondern, wenn ich mich so ausdrücken darf, sogar eine Empfehlung. Der gutmütige, einfältige General war mit alledem höchst zufrieden; er hatte darauf gar nicht gerechnet, als er nach seiner Ankunft in Paris zu uns kam. Er hatte damals beinah gezittert vor Angst, er hatte gedacht, Blanche würde ihn anschreien und ihm die Tür weisen; da er nun einen so ganz anderen Empfang gefunden hatte, war er in das größte Entzücken geraten und befand sich nun diesen ganzen Monat über in dem Zustand eines sinnlosen Wonnerausches; in diesem Zustand verließ ich ihn auch.

Erst hier habe ich genauer erfahren, daß ihm damals nach unserer plötzlichen Abreise aus Roulettenburg an demselben Vormittag etwas in der Art eines Schlaganfalls zugestoßen war. Er war besinnungslos niedergestürzt und war dann eine ganze Woche lang wie ein Wahnsinniger gewesen und hatte lauter törichtes Zeug geredet. Er war ärztlich behandelt worden, hatte aber auf einmal alles stehen und liegen lassen, sich auf die Bahn gesetzt und war nach Paris gefahren. Natürlich erwies sich der freundliche Empfang, den er bei Blanche fand, für ihn als das beste Heilmittel; aber Spuren seiner Krankheit blieben bei ihm noch lange Zeit zurück, trotz seiner frohen, seligen Gemütsstimmung. Etwas zu überlegen oder auch nur ein einigermaßen ernstes Gespräch zu führen war er völlig unfähig, in solchem Fall sagte er nur zu jedem Satz des andern: »Hm!« und nickte mit dem Kopf – auf weiteres ließ er sich nicht ein. Er lachte oft; aber es war ein nervöses, krankhaftes Lachen, als könnte er sich gar nicht genug tun; ein andermal saß er ganze Stunden lang da, mit einem Gesicht finster wie die Nacht, die buschigen Augenbrauen mürrisch zusammengezogen. Für viele Dinge war ihm das Gedächtnis ganz abhanden gekommen; seine Zerstreutheit ging über alles Maß, und er hatte sich angewöhnt, mit sich selbst zu reden. Nur Blanche vermochte ihn zu beleben, und diese Anfälle von Trübsinn und Schwermut, bei denen er sich in eine Ecke verkroch, traten auch nur dann ein, wenn er Blanche lange nicht gesehen hatte oder sie weggefahren war, ohne ihn mitzunehmen, oder sie beim Wegfahren ihm keine Liebkosung hatte zuteil werden lassen. Dabei hätte er selbst nicht sagen können, was er eigentlich wollte, und wußte selbst nicht, daß er finster und traurig war. Nachdem er eine oder zwei Stunden so dagesessen hatte (ich beobachtete das mehrere Male, als Blanche für den ganzen Tag weggefahren war, vermutlich zu Albert), begann er auf einmal sich nach allen Seiten umzusehen und unruhig hin und her zu laufen; es war, als ob ihm eine Frage eingefallen wäre und er jemand suchen wollte. Aber wenn er dann niemand sah und sich auch nicht mehr besinnen konnte, wonach er hatte fragen wollen, so sank er wieder in sein Dahinbrüten zurück, bis auf einmal Blanche erschien, heiter, ausgelassen, in eleganter Toilette, mit ihrem hellen Lachen; sie lief auf ihn zu, zupfte und schüttelte ihn; manchmal, wiewohl dies nur selten, küßte sie ihn sogar. Einmal freute sich der General darüber dermaßen, daß er in Tränen ausbrach. Ich war ganz verwundert.

Gleich von der Zeit an, wo der General bei uns eingetroffen war, begann Blanche ihn mir gegenüber wie ein Advokat zu verteidigen. Sie bediente sich dabei sogar aller möglichen rednerischen Kunstgriffe: sie erinnerte mich daran, daß sie dem General nur um meinetwillen untreu geworden sei, daß sie beinah schon seine Braut gewesen sei, ihm ihr Wort gegeben habe; daß er um ihretwillen seine Familie im Stich gelassen habe, und daß ich doch eigentlich bei ihm in Dienst gestanden hätte und ihn deswegen immer noch respektieren müsse, und ich solle mich schämen, jetzt über ihn zu lachen … Ich schwieg bei solchen Reden immer; aber ihr Mundwerk konnte gar nicht zur Ruhe kommen. Zuletzt pflegte ich in ein Gelächter auszubrechen, und damit war dann die Sache beendet, das heißt in der ersten Zeit hielt sie mich für einen Dummkopf, und in der letzten Zeit war sie der Ansicht, daß ich ein sehr guter, vernünftiger Mensch sei. Kurz, gegen das Ende unseres Zusammenwohnens hatte ich das Glück, mir das Wohlwollen dieses achtbaren Fräuleins erworben zu haben. (Übrigens war Blanche wirklich ein sehr gutes Mädchen – selbstverständlich nur in ihrer Art; ich hatte sie anfangs nicht richtig beurteilt.) »Du bist ein verständiger, guter Mensch«, sagte sie in der letzten Zeit manchmal zu mir, »und … und … es ist nur schade, daß du so dumm bist! Du wirst nie ordentlich Geld verdienen. Un vrai Russe, un calmouk!«

Mitunter schickte sie mich aus, um den General in den Straßen spazierenzuführen, ganz wie einen Diener mit einem Windspiel. Ich führte ihn auch ins Theater und nach dem Bal-Mabille und in Restaurants. Dazu gab Blanche sogar Geld her, obgleich der General auch eigenes Geld hatte und mit besonderem Vergnügen vor den Augen anderer Leute seine Brieftasche hervorholte. Einmal mußte ich beinahe Gewalt anwenden, um ihn davon abzuhalten, für siebenhundert Franc im Palais-Royal eine Brosche zu kaufen, die er schön fand und durchaus Blanche zum Geschenk machen wollte. Na, was hätte sie sich aus einer Brosche für siebenhundert Franc gemacht! Und dabei besaß der General an Geld nicht mehr als tausend Franc. Ich habe nie in Erfahrung bringen können, wo er diese Summe her hatte. Ich denke mir aber, von Mister Astley, und dies um so mehr, da dieser im Hotel für den General und die Seinen bezahlt hatte. Was nun die Meinung anlangt, die der General die ganze Zeit über von mir hatte, so glaube ich, daß er meine Beziehungen zu Blanche nicht im entferntesten ahnte. Er hatte zwar dunkel davon gehört, daß ich ein Kapital gewonnen hätte, nahm aber aller Wahrscheinlichkeit nach trotzdem an, daß ich bei Blanche so eine Art von Privatsekretär oder vielleicht sogar nur Diener sei. Jedenfalls redete er zu mir stets in der früheren Weise von oben herab, im Ton des Vorgesetzten, und verstieg sich sogar zuweilen dazu, mich energisch auszuschelten. Einmal versetzte er mich und Blanche in die größte Heiterkeit; es war in unserer Wohnung, beim Morgenkaffee. Er war sonst nicht besonders empfindlich; aber damals fühlte er sich auf einmal von mir beleidigt; wodurch, das weiß ich noch heute nicht. Und er selbst hätte es damals auch nicht sagen können. Kurz, er redete und redete das sinnloseste Zeug, à bâtons rompus, schrie, ich sei ein Grünschnabel, er werde mich lehren … er werde es mir schon zeigen usw. Aber keiner konnte von dem, was er sagte, das geringste verstehen. Blanche wollte sich ausschütten vor Lachen; endlich gelang es uns, ihn einigermaßen zu beruhigen, und ich führte ihn spazieren. Nicht selten aber bemerkte ich an ihm, daß er traurig wurde, daß ihm irgend jemand oder irgend etwas leid tat, und daß ihm, sogar wenn Blanche anwesend war, jemand fehlte. In solchen Augenblicken begann er ein paarmal von selbst mit mir zu reden, war aber nie imstande, sich verständlich auszudrücken; er sprach von seiner Dienstzeit, von seiner verstorbenen Frau, von der Landwirtschaft und von seinem Gut. Kam ihm dabei zufällig irgendein Wort in den Mund, das ihm Eindruck machte, so hatte er an ihm eine kindliche Freude und wiederholte es des Tags wohl hundertmal, obgleich es in Wirklichkeit weder seine Gefühle noch seine Gedanken wiedergab. Ich versuchte es, ein Gespräch mit ihm über die Kinder in Gang zu bringen; aber er machte sich davon in seiner alten Manier frei, indem er eilig ein paar Worte sagte und dann schnell zu einem andern Gegenstand überging: »Ja, ja! Die Kinder, die Kinder, Sie haben recht, die Kinder!« Nur einmal ließ er ein tieferes Empfinden erkennen (ich war gerade mit ihm auf dem Weg ins Theater), indem er plötzlich anfing: »Es sind unglückliche Kinder; ja, mein Herr, ja, es sind unglückliche Kinder!« Und nun wiederholte er an diesem Abend mehrmals die Worte: »Unglückliche Kinder!« Als ich einmal von Polina zu sprechen anfing, geriet er geradezu in Wut: »Das ist ein undankbares Frauenzimmer!« rief er. »Sie ist boshaft und undankbar! Sie hat Schande über die Familie gebracht! Wenn es hier Gesetze gäbe, so würde ich sie gehörig fassen! Jawohl, jawohl!« Was de Grieux betrifft, so konnte er es nicht einmal ertragen, dessen Namen zu hören: »Dieser Mensch hat mich ruiniert«, sagte er; »er hat mich bestohlen, er ist mein Halsabschneider gewesen! Ganze zwei Jahre lang habe ich das Verhältnis zu ihm wie ein Alpdrücken empfunden. Monatelang habe ich jede Nacht von ihm geträumt! Das ist… das ist…. Oh, erwähnen sie ihn nie wieder mir gegenüber!«

Ich sah, daß zwischen ihm und Blanche eine Verständigung zustande kam; aber ich schwieg nach meiner Gewohnheit. Eine Mitteilung darüber machte mir zuerst Blanche; es war genau eine Woche, bevor wir uns trennten. »Il a de la chance«, sagte sie in ihrer flinken Redeweise. »Seine Tante ist jetzt wirklich krank und wird bestimmt nächstens sterben. Mister Astley hat ein Telegramm geschickt. Trotz allem Geschehenen wird er sie beerben; daran ist wohl kein Zweifel. Und selbst wenn das nicht eintritt, wird er mir in keiner Weise lästig fallen. Erstens hat er seine Pension, und zweitens wird er in einer Hinterstube wohnen und sich dabei höchst glücklich fühlen. Ich werde madame la générale werden. Ich werde in die gute Gesellschaft eintreten« (das war das Ziel, von dem Blanche immer träumte und schwärmte), »und später werde ich eine russische Gutsbesitzerin werden, j’aurai un château, des moujiks, et puis j’aurai toujours mon million.«

»Na, aber wenn er eifersüchtig wird und von dir verlangt, daß du … du verstehst?«

»O nein, non, non, non! Wie sollte er das wagen! Dem habe ich vorgebeugt; da brauchst du dich nicht zu beunruhigen. Ich habe ihn schon veranlaßt, einige Wechsel mit Alberts Namen zu unterschreiben. Sowie er unangenehm werden sollte, wird er sofort wegen Wechselfälschung bestraft; aber er wird es ja nicht wagen!«

»Nun, dann heirate ihn …«

Die Hochzeit fand ohne besonderen Prunk still im Familienkreise statt. Eingeladen waren Albert und noch ein paar Bekannte. Hortense, Cléopâtre und andere Damen dieser Art wurden von diesem Fest absichtlich ferngehalten. Der Bräutigam war sehr stolz auf seine neue Würde. Blanche band ihm eigenhändig die Krawatte und pomadisierte ihm selbst das Haar; er sah in seinem Frack und in seiner weißen Weste très comme il faut aus.

»Il est pourtant très comme il laut«, äußerte Blanche mir gegenüber selbst, als sie aus dem Zimmer des Generals herauskam; daß der General très comme il faut war, schien für sie selbst eine überraschende Entdeckung zu sein. Ich kümmerte mich bei dieser Hochzeit sehr wenig um die Einzelheiten und nahm an dem ganzen Fest nur als müßiger Zuschauer teil; infolgedessen weiß ich heute nur noch mangelhaft, wie es dabei zuging. Ich erinnere mich nur, daß Blanche, wie jetzt auf einmal bekannt wurde, gar nicht de Cominges hieß (ebenso wie ihre Mutter keine veuve Cominges war), sondern du Placet. Warum die beiden sich bisher de Cominges genannt hatten, weiß ich nicht. Aber der General war auch hiermit sehr zufrieden, und der Name du Placet gefiel ihm sogar noch besser als der Name de Cominges. Am Morgen des Hochzeitstages ging er, schon vollstämdig festlich gekleidet, immer im Salon auf und ab und sagte fortwährend mit überaus ernster, würdevoller Miene vor sich hin: »Mademoiselle Blanche du Placet! Blanche du Placet, du Placet! Jungfrau Blanka du Placet!…« und dabei strahlte sein Gesicht von Eitelkeit. In der Kirche, beim Maire und zu Hause beim Frühstück war er nicht nur heiter und zufrieden, sondern sogar stolz. Mit ihm sowie mit seiner jungen Frau ging etwas Besonderes vor. Blanche hatte sogar eine Art von würdigem Aussehen angenommen.

»Ich muß mir jetzt ein ganz anderes Betragen zu eigen machen«, sagte sie zu mir mit großem Ernst; »mais vois-tu, an einen häßlichen Umstand hatte ich nicht gedacht: denk dir nur, ich kann immer noch nicht meinen neuen Familiennamen im Kopf behalten: Sagorjanski, Sagosianski, madame la générale de Sago… Sago… ces diables de noms russes, enfin madame la générale a quatorze consonnes! Comme c’est agréable, n’est-ce pas?«

Endlich trennten wir uns, und Blanche, diese dumme Blanche, fing beim Abschied von mir sogar an zu weinen. »Tu étais bon enfant«, sagte sie schluchzend. »Je te croyais bête et tu en avais l’air, aber das steht dir gut.« Und als sie mir schon zum letzten Male die Hand gedrückt hatte, rief sie plötzlich: »Attends!« lief in ihr Boudoir und brachte mir einen Augenblick darauf von dort zwei Tausendfrancscheine. So etwas hätte ich nie für möglich gehalten! »Das wird dir zustatten kommen; du bist vielleicht ein sehr gelehrter outchitel, aber ein schrecklich dummer Mensch. Mehr als zweitausend gebe ich dir auf keinen Fall; denn du verspielst es doch nur. Nun adieu! Nous serons toujours bons amis, und wenn du wieder gewinnst, dann komm unter allen Umständen zu mir, et tu seras heureux.«

Ich besaß selbst noch fünfhundert Franc, und außerdem habe ich noch eine prachtvolle Uhr im Wert von tausend Franc, Hemdknöpfe mit Brillanten und mehr dergleichen, so daß ich noch ziemlich lange Zeit leben kann, ohne mir Sorgen zu machen. Ich habe mich absichtlich in diesem kleinen Städtchen niedergelassen, um mich zu sammeln, und, was die Hauptsache ist, ich erwarte Mister Astley.

Ich habe aus guter Quelle gehört, daß er hier durchkommen und sich in Geschäften einen Tag hier aufhalten wird. Von dem werde ich über alles, was mich interessiert, Auskunft erhalten … und dann, dann sofort nach Homburg! Nach Roulettenburg will ich diesmal nicht fahren; vielleicht tue ich es im nächsten Jahr. Es soll ein böses Omen sein, wenn man sein Glück zweimal hintereinander an ein und demselben Tisch versucht. Und dann ist auch in Homburg das wahre Spiel, das Spiel, wie es sein muß.

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Siebzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Nun ist es schon ein Jahr und acht Monate, daß ich diese Aufzeichnungen nicht angesehen habe, und erst heute bin ich in meinem Kummer und Gram zufällig auf den Einfall gekommen, sie zu meiner Zerstreuung noch einmal durchzulesen.

Also ich blieb damals dabei stehen, daß ich nach Homburg fahren wollte. Wie leicht (das heißt verhältnismäßig leicht) war mir damals zumute, als ich diese letzten Zeilen schrieb! Ich will nicht sagen, daß mir so schlechthin leicht zumute gewesen wäre; aber was besaß ich für ein Selbstvertrauen, wie unerschütterlich glaubte ich an die Erfüllung meiner Hoffnungen! An mir selbst zweifelte ich nicht im geringsten. Und nun ist nur wenig mehr als eine Zeit von anderthalb Jahren vergangen, und ich bin meiner Ansicht nach weit schlechter als ein Bettler! Denn was hat ein Bettler groß zu klagen? Armut ist kein Unglück. Ich aber habe geradezu mich selbst, meine Persönlichkeit, zugrunde gerichtet! Übrigens gibt es eigentlich kaum etwas, was ich mit mir in Vergleich stellen könnte. Und es hätte keinen Zweck, wenn ich mir jetzt selbst eine Moralpredigt halten wollte! Nichts kann abgeschmackter sein als Moralpredigten in solcher Lage! O über die selbstzufriedenen Leute: mit welchem Stolz auf ihre eigenen Personen sind diese Schwätzer bereit, einem ihre Sentenzenweisheit vorzutragen! Wenn sie wüßten, wie klar ich selbst die ganze Erbärmlichkeit meines jetzigen Zustandes erkenne, so würden sie sich die Mühe sparen, mich belehren zu wollen. In der Tat, was könnten sie mir Neues sagen, das ich nicht wüßte? Aber hier handelt es sich nicht um Sagen und Wissen; hier handelt es sich darum, daß das Rad nur eine einzige Drehung zu machen braucht, und alles ändert sich, und diese selben Moralprediger werden dann (das ist meine feste Überzeugung) die ersten sein, die mit freundschaftlichen Scherzworten zu mir kommen, um mich zu beglückwünschen. Dann werden alle sich nicht so von mir abwenden, wie sie es jetzt tun. Hol sie alle der Teufel! Was bin ich jetzt? Zéro. Und was bin ich vielleicht morgen? Morgen erstehe ich vielleicht von den Toten und beginne ein neues Leben! Ich kann in mir den Menschen wiederfinden, solange er noch nicht ganz zugrunde gegangen ist.

Ich fuhr damals wirklich nach Homburg; aber … ich war dann auch wieder in Roulettenburg, ich war auch in Spaa. ich war sogar in Baden, wohin ich als Kammerdiener eines Herrn Hinze gereist war; er war Beamter mit dem Titel eines Rates, übrigens ein widerwärtiges Subjekt. Ja, ja, auch Diener bin ich gewesen, ganze fünf Monate lang! Das war, gleich nachdem ich aus dem Schuldgefängnis gekommen war. Ich habe nämlich auch im Schuldgefängnis gesessen, in Roulettenburg. Ein Unbekannter kaufte mich los; wer mag es gewesen sein? Mister Astley? Polina? Ich weiß es nicht; aber die Schuld wurde bezahlt, im ganzen zweihundert Taler, und so kam ich frei. Wo sollte ich bleiben? So trat ich bei diesem Hinze in Dienst. Er war ein junger, leichtlebiger Mensch, der gern faulenzte; ich aber verstehe drei Sprachen zu sprechen und zu schreiben. Ich war ursprünglich bei ihm als eine Art von Sekretär eingetreten, mit dreißig Gulden Monatsgehalt; aber ich wurde schließlich bei ihm ein bloßer Diener, da es auf die Dauer doch seine Mittel überstieg, sich einen Sekretär zu halten, und er mein Gehalt verringerte; ich aber wußte keine andere Stelle, die ich hätte annehmen können. So blieb ich denn bei ihm und wandelte mich auf diese Weise ganz von selbst in einen Diener um. Ich gönnte mir in seinem Dienste weder Essen noch Trinken in auskömmlichem Maß, sparte mir aber dadurch in den fünf Monaten siebzig Gulden. Und eines Abends in Baden machte ich ihm die Mitteilung, ich wolle aus seinem Dienst gehen, und noch an demselben Abend begab ich mich zum Roulett. Oh, wie pochte mir das Herz! Nein, nicht um das Geld war es mir zu tun! Damals wünschte ich weiter nichts als dies: es möchten am folgenden Tage alle diese Hinzes, alle diese Oberkellner, alle diese eleganten Badener Damen, die möchten alle von mir reden, einander meinen gelungenen Streich erzählen, mich bewundern und loben und vor meinem neuen Spielgewinn eine Reverenz machen. Das waren ja alles nur kindische Gedanken und Hoffnungen; aber … wer konnte es wissen: vielleicht würde ich Polina treffen und ihr alles erzählen, und sie würde sehen, daß mir all diese albernen Schicksalsschläge nichts hatten anhaben können … Oh, nicht um das Geld war es mir zu tun! Ich war überzeugt, daß ich es wieder irgendeiner Blanche in den Schoß werfen und wieder in Paris drei Wochen lang mit einem Paar eigener Pferde für sechzehntausend Franc umherkutschieren würde. Ich weiß ja recht gut, daß ich nicht geizig bin; ich halte mich sogar für einen Verschwender; aber trotzdem, mit welchem Zittern, mit welcher Herzbeklemmung höre ich jedesmal den Croupier rufen: trente et un, rouge, impair et passe, oder: quatre, noir, pair et manque! Mit welcher Gier blicke ich auf den Spieltisch, auf dem die Louisdors und Friedrichsdors und Taler umherliegen, und auf die kleinen Stapel von Goldstücken, wenn sie unter der Krücke des Croupiers in Häufchen auseinanderfallen, die wie feurige Glut schimmern, oder auf die eine halbe Elle langen Silberrollen, die um das Rad herumliegen. Schon wenn ich mich dem Spielsaal nähere und noch zwei Zimmer von ihm entfernt bin, bekomme ich fast Krämpfe, sobald ich das Klirren des hingeschütteten Geldes höre.

Oh, jener Abend, an dem ich meine siebzig Gulden zum Spieltisch trug, war für mich äußerst merkwürdig. Ich begann mit zehn Gulden, und zwar wieder auf passe. Für passe habe ich eine Vorliebe. Ich verlor. Es blieben mir noch sechzig Gulden in Silbergeld; ich überlegte und wählte zéro. Ich setzte auf zéro jedesmal fünf Gulden; beim dritten Einsatz kam plötzlich zéro; ich war halbtot vor Freude, als ich hundertfünfundsiebzig Gulden bekam; so sehr hatte ich mich nicht einmal damals gefreut, als ich die hunderttausend Gulden gewann. Sofort setzte ich hundert Gulden auf rouge – ich gewann; alle zweihundert auf rouge – ich gewann; alle vierhundert auf noir – ich gewann; alle achthundert auf manque – ich gewann; mit dem Früheren zusammen waren es jetzt tausendsiebenhundert Gulden, und das in weniger als fünf Minuten! Ja, in solchen Augenblicken vergißt man alles frühere Mißgeschick! Ich hatte das erreicht dadurch, daß ich mehr als mein Leben gewagt hatte; ich hatte mich zu diesem Wagnis erkühnt, und siehe da, ich gehörte wieder zu den Menschen!

Ich nahm mir in einem Hotel ein Zimmer, schloß mich ein und saß bis drei Uhr nachts und zählte mein Geld. Am Morgen erwachte ich mit dem Bewußtsein, daß ich nicht mehr Diener war. Ich beschloß, gleich an diesem Tag nach Homburg zu fahren: dort war ich nicht Diener gewesen und hatte nicht im Schuldgefängnis gesessen. Eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges ging ich nochmals zum Roulett, um zweimal zu setzen, nicht öfter, und verlor tausendfünfhundert Gulden. Indes ich fuhr trotzdem nach Homburg und bin jetzt schon einen Monat hier.

Ich lebe natürlich in beständiger Aufregung, spiele nur mit ganz kleinem Einsatz und warte immer auf etwas; ich rechne fortwährend und stehe ganze Tage lang am Spieltisch und beobachte das Spiel; sogar im Traum glaube ich immer das Spiel zu sehen. Aber dabei habe ich eine Empfindung, als ob ich eine Holzpuppe geworden wäre, oder als sei ich in tiefem Schlamm steckengeblieben. Ich schließe das aus meinem Gefühl bei meinem Zusammentreffen mit Mister Astley. Wir hatten uns seit jenem verhängnisvollen Tag nicht wieder gesehen und begegneten einander nun unerwartet. Das ging folgendermaßen zu. Ich ging im Park spazieren und überlegte, daß ich fast ganz abgebrannt war, da ich nur noch fünfzig Gulden besaß; im Hotel, wo ich ein geringes Kämmerchen bewohne, hatte ich meine Rechnung zwei Tage vorher vollständig beglichen. Also blieb mir die Möglichkeit, jetzt noch einmal zum Roulett zu gehen; gewann ich, und wenn’s auch nur wenig war, so konnte ich das Spiel fortsetzen; verlor ich, so mußte ich wieder Bedienter werden, falls es mir nicht gelang, schleunigst eine russische Familie zu finden, die einen Hauslehrer brauchte. Mit diesem Gedanken beschäftigt, schritt ich auf meinem gewöhnlichen Spazierweg dahin, der mich täglich durch den Park und einen Wald nach dem benachbarten Fürstentum führte; manchmal machte ich auf diese Art eine vierstündige Wanderung und kehrte müde und hungrig nach Homburg zurück. Diesmal war ich kaum aus dem Kurgarten in den Park gelangt, als ich plötzlich auf einer Bank Mister Astley erblickte. Er hatte mich zuerst bemerkt und rief mich nun an. Ich setzte mich neben ihn. Da ich an ihm ein ungewöhnlich ernstes Wesen wahrnahm, so stimmte ich meine Freude sogleich herab; sonst hätte ich mich außerordentlich über das Wiedersehen gefreut.

»Also Sie sind hier! Das hatte ich mir wohl gedacht, daß ich Sie treffen würde«, sagte er zu mir. »Machen Sie sich nicht die Mühe zu erzählen, wie es Ihnen gegangen ist; ich weiß das, ich weiß das alles; Ihr ganzes Leben in diesen zwanzig Monaten ist mir bekannt.«

»Ei, sehen Sie mal! Also so verfolgen Sie die Schicksale Ihrer alten Freunde!« antwortete ich. »Das macht Ihnen Ehre, daß Sie sie nicht vergessen … Warten Sie mal, da bringen Sie mich auf einen Gedanken: sind nicht etwa Sie derjenige gewesen, der mich aus dem Roulettenburger Gefängnis losgekauft hat, wo ich wegen einer Schuld von zweihundert Talern saß? Ein Unbekannter hat mich losgekauft.«

»Nein, o nein; ich habe Sie nicht aus dem Roulettenburger Gefängnis losgekauft, wo Sie wegen einer Schuld von zweihundert Talern saßen; aber ich wußte, daß Sie wegen einer solchen Schuld im Gefängnis waren.«

»Also wissen Sie doch, wer mich losgekauft hat?«

»O nein, ich kann nicht sagen, daß ich weiß, wer Sie losgekauft hat.«

»Sonderbar; von meinen russischen Landsleuten war ich niemandem bekannt, und die Russen lassen sich hier auch wohl kaum darauf ein, einen Landsmann aus dem Schuldgefängnis loszukaufen; das kommt wohl bei uns in Rußland vor; da erweist wohl ein Rechtgläubiger einem Glaubensgenossen eine solche Liebe. Darum hatte ich mir gedacht, es hätte es irgend so ein Kauz von Engländer aus Lust am Sonderbaren getan.«

Mister Astley hörte mich einigermaßen verwundert an. Er hatte wohl gedacht, mich in trüber, niedergedrückter Stimmung zu finden.

»Nun, ich freue mich sehr zu sehen, daß Sie sich Ihre ganze seelische Festigkeit, ja Heiterkeit bewahrt haben«, sagte er mit ziemlich unzufriedener Miene.

»Das heißt, innerlich knirschen Sie vor Ärger darüber, daß ich nicht geknickt und niedergeschlagen bin«, sagte ich lachend.

Er verstand nicht gleich; aber als er es dann verstanden hatte, lächelte er.

»Ihre Bemerkung gefällt mir. Ich erkenne in diesen Worten meinen früheren verständigen, idealgesinnten und dabei zugleich zynischen Freund wieder; nur die Russen bringen es fertig, solche Gegensätze in sich gleichzeitig zu vereinigen. In der Tat, der Mensch sieht gern auch seinen besten Freund im Zustand der Erniedrigung vor sich; die Freundschaft basiert größtenteils auf der Erniedrigung des einen und der Überlegenheit des andern; das ist eine alte, allen klugen Leuten bekannte Wahrheit. Aber im vorliegenden Falle kann ich Sie versichern, ich freue mich aufrichtig darüber, daß Sie nicht niedergeschlagen sind. Sagen Sie, Sie beabsichtigen wohl nicht, das Spiel aufzugeben?«

»Ach, hol das ganze Spiel der Teufel! Ich will es sofort aufgeben, ich möchte nur….«

»Sie möchten nur erst das Verlorene wiedergewinnen? Das habe ich mir wohl gedacht; Sie brauchen nicht weiterzureden, ich weiß schon; das kam Ihnen ganz unwillkürlich heraus, also ist es Ihre wahre Meinung. Sagen Sie, außer dem Spiel beschäftigen Sie sich mit nichts?«

»Nein, mit nichts.«

Er fragte mich nach allerlei Dingen. Ich wußte nichts; ich hatte fast gar nicht in die Zeitungen gesehen und faktisch die ganze Zeit über kein Buch aufgeschlagen.

»Sie sind gegen alles stumpf und gleichgültig geworden«, bemerkte er. »Sie haben sich vom frisch pulsierenden Leben losgesagt, sich losgesagt von Ihren eigenen Interessen und von denen der Gesellschaft, von Ihrer Pflicht als Bürger und Mensch, von Ihren Freunden (und Sie hatten doch solche), von dem Streben nach irgendeinem Ziel mit Ausnahme des Gewinnes im Spiel; ja, was noch mehr ist. Sie haben sich sogar von Ihren Erinnerungen losgesagt. Sie stehen mir noch vor der Seele, wie Sie damals waren, als in Ihnen Glut und Kraft lebten; aber ich bin überzeugt, Sie haben all Ihre damaligen guten und schönen Empfindungen vergessen; Ihre Zukunftspläne, Ihre Wünsche für jeden Tag gehen jetzt nicht hinaus über pair, impair, rouge, noir, die zwölf mittleren Zahlen usw. usw.; das ist meine Überzeugung!«

»Hören Sie auf, Mister Astley; bitte, erinnern Sie mich nicht daran!« rief ich ärgerlich und beinahe grimmig. »Glauben Sie: ich habe nichts davon vergessen; nur zeitweilig habe ich das alles aus meinem Kopf verbannt, sogar die Erinnerungen, nur so lange bis ich meine Verhältnisse gründlich gebessert haben werde; dann … dann (das sollen Sie sehen!) werde ich von den Toten auferstehen!«

»Sie werden noch nach zehn Jahren hier sein«, erwiderte er. »Ich biete Ihnen eine Wette an, daß ich Sie daran erinnern werde, wenn ich solange lebe, hier auf dieser Bank.«

»Na, nun hören Sie auf!« unterbrach ich ihn ungeduldig; »und um Ihnen zu beweisen, daß ich die Vergangenheit doch nicht so ganz vergessen habe, gestatten Sie mir die Frage: wo ist jetzt Miß Polina? Wenn Sie es nicht gewesen sind, der mich damals loskaufte, dann war es wahrscheinlich sie. Seit unserer Trennung habe ich nicht das geringste von ihr gehört.«

»Nein, o nein! Ich glaube nicht, daß sie Sie losgekauft hat. Sie ist jetzt in der Schweiz, und Sie werden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie mich nicht weiter nach Miß Polina fragen«, sagte er in energischem und sogar zornigem Ton.

»Danach scheint es, daß sie auch Ihrem Herzen bereits eine schwere Wunde beigebracht hat!« erwiderte ich und mußte unwillkürlich lachen.

»Miß Polina ist das beste, hochachtungswürdigste Wesen, das es auf der Welt gibt; aber ich wiederhole es Ihnen, Sie werden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie mich nicht weiter nach Miß Polina fragen. Sie haben sie nie gekannt, und wenn Sie ihren Namen in den Mund nehmen, so empfinde ich das als eine Beleidigung meines sittlichen Gefühls.«

»Nun sehen Sie mal! Übrigens, was das Kennen betrifft, haben Sie unrecht. Und wovon könnte ich denn auch mit Ihnen reden, wenn nicht davon? Sagen Sie selbst! Eben darin bestehen ja unsere ganzen gemeinsamen Erinnerungen. Aber seien sie unbesorgt: ich habe kein Verlangen, die Geheimnisse Ihres Seelenlebens zu erfahren. Ich interessiere mich nur für Miß Polinas äußere Lebenslage, für das Milieu, in dem sie sich jetzt befindet. Das läßt sich doch in wenigen Worten sagen.«

»Meinetwegen, aber unter der Bedingung, daß mit diesen wenigen Worten die Sache abgetan ist. Miß Polina war lange krank, und sie ist es auch jetzt noch; eine Zeitlang lebte sie bei meiner Mutter und meiner Schwester im nördlichen England. Vor einem halben Jahr ist ihre Großtante gestorben (Sie erinnern sich wohl: jenes verrückte Weib) und hat ihr persönlich ein Vermögen von siebentausend Pfund hinterlassen. Jetzt ist Miß Polina mit der Familie meiner verheirateten Schwester zusammen auf Reisen. Ihr kleiner Bruder und ihre kleine Schwester sind gleichfalls durch das Testament der Großtante versorgt und besuchen in London die Schule. Der General, ihr Stiefvater, ist vor einem Monat in Paris an einem Schlaganfall gestorben. Mademoiselle Blanche hat ihn gut behandelt, hat aber alles, was er von seiner Tante geerbt hatte, sogleich auf sich übertragen lassen …. Das ist wohl alles.«

»Und de Grieux? Reist der auch in der Schweiz?«

»Nein, de Grieux reist nicht in der Schweiz, und ich weiß nicht, wo de Grieux ist; außerdem ersuche ich Sie ein für allemal, dergleichen Andeutungen und ungehörige Zusammenstellungen zu unterlassen; andernfalls werden Sie es ganz sicher mit mir zu tun bekommen.«

»Wie? Trotz unserer früheren freundschaftlichen Beziehungen.«

»Ja, trotz unserer früheren freundschaftlichen Beziehungen.«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Mister Astley. Aber gestatten Sie die Bemerkung: in dem, was ich sagte, liegt nichts Beleidigendes und Ungehöriges; ich mache ja Miß Polina in keiner Weise einen Vorwurf. Außerdem, ganz allgemein gesagt: ein Franzose und eine junge russische Dame, das ist eine Kombination, Mister Astley, bei der wir beide, Sie und ich, die Gründe für ihr Zustandekommen nicht vollständig zu erkennen und zu begreifen vermögen.«

»Wenn Sie es vermeiden wollen, den Namen de Grieux zusammen mit dem andern Namen zu erwähnen, so würde ich Sie bitten, mir zu erklären, was Sie unter dem Ausdruck ›ein Franzose und eine junge russische Dame‹ verstehen. Was ist das für eine ›Kombination‹? Warum reden Sie gerade von einem Franzosen und gerade von einer jungen russischen Dame?«

»Sehen Sie, nun haben Sie doch Interesse dafür bekommen. Aber das ist ein Thema, das sich nicht so kurz abtun läßt, Mister Astley. Man muß sich vorher über mancherlei Voraussetzungen klarwerden. Übrigens ist es eine wichtige Frage, wie lächerlich das alles auch auf den ersten Blick aussehen mag. Der Franzose, Mister Astley, gilt als die vollendet schöne Form. Sie, als Brite, können es bestreiten, und ich, als Russe, tue es ebenfalls, man mag meinetwegen sagen: aus Neid; aber unsere jungen Damen sind anderer Meinung als wir. Sie können Racine eckig und verrenkt und parfümiert finden, und Sie werden ihn wahrscheinlich nicht einmal lesen. Ich finde ihn gleichfalls verkünstelt und verrenkt und parfümiert und in gewisser Hinsicht geradezu lächerlich; aber nach allgemeiner Anschauung ist er entzückend, Mister Astley, und vor allen Dingen ein großer Dichter, ob Sie und ich das nun zugeben wollen oder nicht. Der nationale Typus des Franzosen, das heißt des Parisers, hat sich zu einer eleganten Form herausgebildet, als wir noch Bären waren. Die Revolution wurde die Erbin des Adels. Heutzutage kann der gemeinste Franzose Manieren, Gebärden, Redewendungen und sogar Gedanken von durchaus eleganter Form besitzen, ohne zu dieser Form durch eigene Tätigkeit mitgewirkt zu haben oder an ihr mit seiner Seele und seinem Herzen beteiligt zu sein: es ist ihm alles durch Erbschaft zugefallen. An und für sich können sie die hohlsten, gemeinsten Gesellen sein. Jetzt nun, Mister Astley, will ich Ihnen verraten, daß es auf der ganzen Welt kein zutraulicheres, offenherzigeres Wesen gibt als eine gutherzige, hinreichend kluge, nicht zu verkünstelte russische junge Dame. Wenn nun so ein de Grieux in einer theatralischen Rolle, mit einer Maske vor seinem wahren Gesicht erscheint, so kann er mit größter Leichtigkeit ihr Herz erobern; er hat die elegante Form, Mister Astley, und die junge Dame hält diese Form für seine eigene Seele, für die natürliche Form seiner Seele und seines Herzens, und nicht für ein Gewand, das er durch Erbschaft erlangt hat. Gewiß zu Ihrem größten Miß- vergnügen muß ich Ihnen gestehen, daß die Engländer größtenteils recht eckig und unelegant sind; die Russinnen aber besitzen ein sehr feines Urteil für Schönheit und fühlen sich zu ihr besonders hingezogen. Um dagegen die Schönheit einer Seele und die Eigenart einer Persönlichkeit zu erkennen, dazu ist sehr viel mehr Selbständigkeit und Unbefangenheit des Urteils erforderlich, als unsere Frauen und nun gar unsere jungen Damen besitzen, und jedenfalls auch mehr Erfahrung. Miß Polina – verzeihen Sie; aber das ausgesprochene Wort kann man nicht zurückholen – wird eine sehr, sehr lange Überlegung nötig haben, ehe sie sich dazu entschließt, Sie dem Schuft de Grieux vorzuziehen. Sie wird Sie hochschätzen, Ihre Freundin sein, Ihnen ihr ganzes Herz aufschließen; aber in diesem Herzen wird doch der schändliche Schurke, der ekelhafte, armselige Wucherer de Grieux herrschen. Und schon allein Eigensinn und Eitelkeit werden diesem Zustand Dauer verleihen, weil dieser selbe de Grieux ihr früher einmal mit der Aureole eines eleganten Marquis erschienen ist, eines enttäuschten liberalen Idealisten, eines Mannes, der ihrer Familie und dem leichtsinnigen General hilfreich war und sich dabei selbst zugrunde richtete (wenn’s wahr wäre). Alle diese Verkleidungen sind ja nachher als solche erkannt worden; aber das tut nichts; trotz alledem: wenn Sie ihr jetzt den früheren de Grieux wiedergeben könnten, so hätte sie alles, was sie haben möchte! Und je mehr sie den jetzigen de Grieux haßt, um so mehr sehnt sie sich nach dem früheren, obgleich der frühere nur in ihrer Vorstellung existiert hat. Sie sind Zuckerfabrikant, Mister Astley?«

»Ja, ich bin jetzt bereits Kompagnon bei der bekannten Zuckerfirma Lowell und Comp.«

»Nun, dann sehen Sie selbst, Mister Astley: auf der einen Seite ein Zuckerfabrikant, auf der andern Seite ein Apollo von Belvedere; das ist ein schroffer Gegensatz. Und ich bin nicht einmal Zuckerfabrikant; ich bin weiter nichts als ein armseliger Roulettspieler und bin sogar Bedienter gewesen, was Miß Polina wahrscheinlich schon weiß, da sie ja, wie es scheint, von einer guten Geheimpolizei bedient wird.«

»Sie sind verbittert, und deshalb reden Sie all diesen Unsinn«, erwiderte nach kurzem Nachdenken Mister Astley kaltblütig. »Übrigens war in dem, was Sie sagten, nichts Neues und Originelles enthalten.«

»Das gebe ich zu! Aber gerade das ist das Schreckliche, mein verehrter Freund, daß alle diese meine Beschuldigungen, so alt und vulgär und possenhaft sie auch sein mögen, doch der Wahrheit entsprechen! Jedenfalls haben wir beide, Sie und ich, bei Miß Polina nichts erreicht!«

»Das ist abscheulicher Unsinn … denn … denn … nun, so mögen Sie es denn wissen!« rief Mister Astley mit zitternder Stimme und funkelnden Augen. »So mögen Sie denn wissen. Sie undankbarer und unwürdiger, armseliger und unglücklicher Mensch, daß ich mit Absicht nach Homburg gekommen bin, in ihrem Auftrag, um Sie wiederzusehen, eingehend und herzlich mit Ihnen zu reden und ihr dann alles zu berichten: welches Ihre Gefühle und Empfindungen seien, welche Gedanken und Pläne Sie hegten, was Sie von der Zukunft hofften, und… wie sie der Vergangenheit gedächten!«

»Wirklich? Ist das die Wahrheit?« rief ich, und die Tränen stürzten mir stromweise aus den Augen. Ich konnte sie nicht zurückhalten; es war wohl das erstemal in meinem Leben.

»Ja, Sie unglücklicher Mensch, sie hat Sie geliebt, und ich kann Ihnen das jetzt mitteilen, weil Sie ein verlorener Mensch sind! Noch mehr: selbst wenn ich Ihnen sage, daß sie Sie noch heutigen Tages liebt, so werden Sie trotzdem hierbleiben! Ja, Sie haben sich selbst zugrunde gerichtet. Sie besaßen einige Fähigkeiten und einen lebhaften Charakter und waren kein schlechter Mensch; Sie hätten sogar Ihrem Vaterland nützlich sein können, das an tüchtigen Männern wahrlich keinen Überfluß hat; aber – Sie werden hierbleiben, und Ihr Leben ist abgeschlossen. Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Meiner Ansicht nach sind alle Russen von dieser Art, oder sie neigen wenigstens dazu. Ist es nicht das Roulett, so ist es etwas anderes, dem Ähnliches. Ausnahmen sind nur sehr selten. Sie sind nicht der erste, der kein Verständnis dafür hat, was Arbeit bedeutet. (Ich rede nicht von den unteren Volksschichten in Ihrem Lande.) Das Roulett ist ein spezifisch russisches Spiel. Bisher waren Sie noch ehrenhaft und entschlossen sich lieber dazu, Bedienter zu werden, als zu stehlen… Aber es ist mir ein furchtbarer Gedanke, was noch in Zukunft alles geschehen kann. Aber genug! Leben Sie wohl! Sie sind gewiß in Geldnot? Hier haben Sie zehn Louisdor; mehr werde ich Ihnen nicht geben, da Sie das Geld ja doch nur verspielen werden. Nehmen Sie, und leben Sie wohl! So nehmen Sie doch!«

»Nein, Mister Astley, nach allem, was wir jetzt miteinander gesprochen haben…«

Neh-men – Sie!« rief er. »Ich bin überzeugt, daß Sie noch ein anständiger Mensch sind, und gebe es Ihnen so, wie ein Freund einem wahren Freunde etwas geben darf. Könnte ich überzeugt sein, daß Sie unverzüglich das Spiel aufgeben, Homburg verlassen und in Ihr Vaterland zurückreisen würden, so wäre ich bereit, Ihnen sofort tausend Pfund zu geben, damit Sie eine neue Lebenslaufbahn beginnen könnten. Aber eben deswegen gebe ich Ihnen nicht tausend Pfund, sondern nur zehn Louisdor, weil tausend Pfund und zehn Louisdor jetzt für Sie doch ein und dasselbe sind; Sie verspielen es doch nur. Nehmen Sie, und leben Sie wohl!«

»Ich nehme es, wenn Sie mir erlauben, Sie zum Abschied zu umarmen.«

»Oh, mit Vergnügen!«

Wir umarmten uns herzlich, und Mister Astley ging weg.

Nein, er hat nicht recht! Wenn ich törichterweise mich zu scharf über Polina und de Grieux aussprach, so hat er vorschnell ein zu scharfes Urteil über die Russen gefällt. Von mir will ich nicht reden. Übrigens … übrigens handelt es sich vorläufig um all das gar nicht: das sind alles nur Worte und wieder Worte, und hier sind Taten nötig! Die Hauptsache ist für mich jetzt die Schweiz! Morgen – o wenn ich gleich morgen hinfahren könnte! Ich will von neuem geboren werden, ich will auferstehen. Ich muß ihnen beweisen … Polina soll sehen, daß ich noch imstande bin ein Mensch zu sein. Ich brauche ja nur … Jetzt ist es freilich schon zu spät, aber morgen … Oh, ich habe ein Vorgefühl, und es muß, es muß so kommen! Ich habe jetzt zehn Louisdor und fünfzig Gulden, zusammen fünfzehn Louisdor, und ich habe früher schon mit fünfzehn Gulden angefangen zu spielen. Wenn man am Anfang vorsichtig ist … Aber bin ich denn wirklich ein so kleines Kind? Begreife ich denn nicht, daß ich ein verlorener Mensch bin? Aber doch … warum sollte ich nicht auferstehen können? Ja! Ich brauche nur ein einziges Mal im Leben ein guter Rechner zu sein und Geduld zu haben; das ist alles! Ich brauche mich nur ein einziges Mal charakterfest zu zeigen, und in einer Stunde kann ich mein Schicksal völlig umändern! Die Hauptsache ist Charakterfestigkeit. Ich brauche nur daran zu denken, wie es mir in dieser Hinsicht vor sieben Monaten in Roulettenburg ging, in der Zeit vor meinem völligen Zusammenbruch. Oh, das war ein merkwürdiger Beweis von Entschlußfähigkeit! Ich hatte damals alles verspielt, alles. Ich verließ das Kurhaus, da merkte ich, daß in meiner Westentasche noch ein Gulden steckte. »Ah«, dachte ich, »da habe ich ja noch etwas, wofür ich Mittagbrot essen kann!« Aber nachdem ich hundert Schritte weitergegangen war, wurde ich anderen Sinnes und kehrte wieder um. Ich setzte diesen Gulden auf manque (beim vorigen Mal war manque gekommen), und wirklich, es ist eine ganz besondere Empfindung, wenn man ganz allein, in fremdem Land, fern von der Heimat und allen Freunden, ohne zu wissen, was man an dem Tag essen soll, den letzten Gulden setzt, den allerletzten! Ich gewann, und nach zwanzig Minuten verließ ich das Kurhaus mit hundertsiebzig Gulden in der Tasche. Das ist eine Tatsache! Da sieht man, was manchmal der letzte Gulden ausrichten kann! Aber was wäre aus mir geworden, wenn ich damals den Mut verloren und nicht gewagt hätte, einen kühnen Entschluß zu fassen?…

Morgen, morgen wird alles zum guten Ende kommen!

Die wichtigsten handelnden Personen

Der General: Witwer

Polina Alexándrowna, auch Praskówja: seine Stieftochter

Alexéj Iwánowitsch: Hauslehrer im Hause des Generals, Spieler und Erzähler dieses Romans

Mademoiselle Blanche de Cominges, alias Mademoiselle

Barberini, alias Mademoiselle Selma, alias Mademoiselle du Placet: Verlobte und spätere Frau des Generals

Antonída Wassíljewna Tarassewitschewa: Gutsbesitzerin, Tante des Generals

Marquis de Grieux: Gläubiger des Generals

Mister Astley: englischer Zuckerfabrikant
Weitere Personen

Márja Filíppowna: Schwester des Generals

Míscha und Nádja: seine Kinder

Fedósja: Kinderfrau im Hause des Generals

Madame veuve de Cominges:

Potápytsch: Haushofmeister von Antonída Wassíljewna Tarasséwitschewa

Márfa: ihre Zofe

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Zweites Kapitel

Zweites Kapitel

Ich muß gestehen: dieser Auftrag war mir nicht angenehm. Ich hatte mir zwar vorgenommen gehabt, mich gleichfalls am Spiel zu beteiligen, dabei aber in keiner Weise angenommen, daß ich damit anfangen würde, es für andere zu tun. Das stieß mir gewissermaßen meine Pläne über den Haufen, und so betrat ich denn die Spielsäle in einer recht verdrießlichen Stimmung. Unausstehlich ist mir die Lakaienhaftigkeit in den Feuilletons der Zeitungen der ganzen Welt und namentlich unserer russischen Zeitungen, wo fast in jedem Frühjahr unsere Feuilletonisten von zwei Dingen erzählen: erstens von der prachtvollen, luxuriösen Einrichtung der Spielsäle in den Roulettstädten am Rhein, und zweitens von den Haufen Goldes, die angeblich auf den Tischen liegen. Bezahlt werden ja die Schriftsteller dafür nicht; sie erzählen das aus eigenem Antrieb, aus uneigennütziger Dienstfertigkeit. Von Pracht ist in diesen dürftigen Sälen nicht die Rede, und Gold bekommt man überhaupt kaum zu sehen, geschweige denn, daß es in Haufen auf den Tischen läge. Allerdings, manchmal erscheint im Laufe der Saison plötzlich irgendeine wunderliche Persönlichkeit, ein Engländer oder ein Asiat oder wie in diesem Sommer ein Türke, und verliert oder gewinnt auf einmal eine sehr große Summe; aber alle übrigen spielen um ein paar lumpige Gulden, und im großen und ganzen liegt auf den Tischen immer nur sehr wenig Geld.

Als ich in den Spielsaal trat (es war das erstemal in meinem Leben), konnte ich mich eine Zeitlang nicht dazu entschließen mitzuspielen. Ich fühlte mich durch das dichte Gedränge abgestoßen. Aber auch wenn ich allein dagewesen wäre, auch dann wäre ich wohl am liebsten bald wieder weggegangen und hätte nicht angefangen zu spielen. Ich bekenne: das Herz klopfte mir stark, und ich war nicht kaltblütig; ich glaubte zuverlässig und sagte mir das schon lange mit aller Bestimmtheit, daß es mir nicht beschieden sein werde, aus Roulettenburg so ohne weiteres wieder fortzukommen, daß sich da mit Sicherheit etwas zutragen werde, was für mein Lebensschicksal von tiefgehender, entscheidender Bedeutung sei. Das sei ein Ding der Notwendigkeit und werde so geschehen.

Mag es auch lächerlich sein, daß ich vom Roulett soviel für mich erwarte, für noch lächerlicher halte ich die landläufige, beliebte Meinung, daß es töricht und sinnlos sei, vom Spiel überhaupt etwas zu erwarten. Und warum soll denn das Spiel schlechter sein als irgendein anderes Mittel des Gelderwerbs, zum Beispiel schlechter als der Handel? Das ist ja richtig, daß von hundert nur einer gewinnt. Aber was geht mich das an?

Jedenfalls beschloß ich, zunächst nur zuzusehen und an diesem Abend nichts Ernstliches zu unternehmen. Wenn an diesem Abend überhaupt etwas geschah, so sollte es nur zu- fällig und nebenbei geschehen; das war meine Absicht. Überdies mußte ich doch auch das Spiel selbst erst lernen; denn trotz tausend Beschreibungen des Rouletts, die ich stets mit großer Gier gelesen hatte, verstand ich, ehe ich nicht seine Einrichtung selbst gesehen hatte, schlechterdings nichts davon.

Von vornherein erschien mir alles überaus schmutzig, ich meine im übertragenen Sinne garstig und schmutzig. Ich rede nicht von jenen gierigen, unruhigen Gesichtern, die zu Dutzenden, ja zu Hunderten die Spieltische umgeben. Ich sehe absolut nichts Schmutziges in dem Wunsch, möglichst schnell und möglichst viel Geld zu gewinnen; als sehr dumm ist mir immer der Gedanke eines behäbigen, wohlsituierten Moralphilosophen erschienen, der auf jemandes Entschuldigung: »Es wird ja nur niedrig gespielt«, antwortete: »Um so schlimmer, da dann der Eigennutz kleinlich ist.« Als ob kleinlicher Eigennutz und großartiger Eigennutz nicht auf dasselbe hinauskämen! Das sind nur relative Begriffe. Was für Rothschild eine Kleinigkeit ist, das ist für mich eine große Summe; aber was Gewinn und Profit anlangt, so geht das Streben der Menschen nicht etwa nur beim Roulett, sondern auf allen Gebieten nur darauf, einander etwas wegzunehmen oder abzugewinnen. Ob Profitmachen und Gewinnen überhaupt etwas Garstiges ist, das ist eine andere Frage, auf deren Beantwortung ich mich jetzt nicht einlasse. Da ich selbst im höchsten Grade von dem Wunsch, zu gewinnen, erfüllt war, so hatte all dieser Eigennutz und, wenn man es so ansehen will, all dieser Schmutz des Eigennutzes beim Eintritt in den Saal für mich sozusagen etwas Vertrautes und Verwandtes. Das beste ist, wenn einer dem andern gegenüber keine gewundenen Redensarten macht, sondern offen und ehrlich verfährt; und nun gar sich selbst zu betrügen, was hat das für einen Zweck? Eine ganz wertlose, unökonomische Tätigkeit!

Besonders häßlich erschien mir auf den ersten Blick bei dem unfeinen Teil der Roulettspieler die Wichtigkeit, die sie ihrer Tätigkeit beilegten, das ernste, sogar respektvolle Wesen, mit dem sie alle die Tische umringten. Darum wird hier scharf unterschieden zwischen derjenigen Art zu spielen, die als »mauvais genre« bezeichnet wird, und derjenigen, die einem anständigen Menschen gestattet ist. Es gibt eben zwei Arten zu spielen: eine gentlemanhafte und eine plebejische, selbstische, das ist die der unfeinen Menge, des Pöbels. Hier wird dazwischen ein strenger Unterschied gemacht; und doch, wie wertlos ist in Wirklichkeit dieser Unterschied! Ein Gentleman wird zum Beispiel fünf oder zehn Louisdor, selten mehr, setzen oder auch, wenn er sehr reich ist, tausend Franc; aber er darf das lediglich um des Spieles willen tun, nur zum Zeitvertreib, eigentlich nur um den Vorgang des Gewinnens oder Verlierens zu verfolgen; für den Gewinn selbst darf er durchaus kein Interesse zeigen. Hat er gewonnen, so darf er zum Beispiel laut lachen, zu einem der Umstehenden eine Bemerkung machen; er darf sogar noch einmal setzen und dabei verdoppeln, aber einzig und allein aus Wißbegierde, um die Chancen zu beobachten und Berechnungen anzustellen, aber nicht in dem plebejischen Wunsch zu gewinnen. Kurz, all diese Spieltische, Rouletts und Trente-et-quarante-Spiele darf er nur als einen Zeitvertreib betrachten, der lediglich zu seinem Amüsement eingerichtet ist. Von der Gewinnsucht und den Fallstricken, die die Grundlage und Einrichtung der Spielbank bilden, darf er nicht einmal eine Ahnung haben. Sehr gut wäre es sogar, wenn es ihm schiene, daß auch alle übrigen Spieler, dieser Pöbel, der um einen Gulden bangt und zittert, daß auch sie ebensolche reichen Leute und Gentlemen seien wie er selbst und nur zur Zerstreuung und zum Zeitvertreib spielten. Eine solche völlige Unkenntnis der Wirklichkeit und harmlose Meinung von den Menschen wäre gewiß sehr aristokratisch. Ich sah, daß viele Mütter ihre unschuldigen, hübschen, fünfzehn- oder sechzehnjährigen Töchter zum Spieltisch vorwärtsschoben, ihnen einige Goldstücke gaben und sie über das Spiel belehrten. Die jungen Damen gewannen oder verloren, lächelten aber in jedem Falle und traten sehr zufrieden wieder zurück. Unser General kam in gemessenem Schritt und würdevoller Haltung zum Spieltisch; ein Diener eilte herbei, um ihm einen Stuhl zu reichen; aber er bemerkte den Diener gar nicht. Sehr langsam zog er seine Börse heraus, sehr langsam entnahm er ihr dreihundert Franc in Gold, setzte sie auf Schwarz und gewann. Er nahm den Gewinn nicht, sondern ließ ihn auf dem Tisch. Wieder kam Schwarz; auch diesmal nahm er nichts an sich, und als nun beim drittenmal Rot kam, verlor er mit einem Schlag zwölfhundert Franc. Er ging lächelnd weg und fiel nicht aus der Rolle. Ich bin überzeugt, daß sein Herz sich krampfhaft zusammenzog, und daß, wäre der Einsatz zwei- oder dreimal so groß gewesen, er seiner Rolle nicht treu geblieben wäre, sondern seine Erregung verraten hätte. Übrigens gewann in meiner Gegenwart ein Franzose bis zu dreißigtausend Franc und verlor dann diese Summe wieder, beides mit heiterer Miene und ohne jede sichtbare Erregung. Ein wirklicher Gentleman darf, selbst wenn er sein ganzes Vermögen im Spiel verlöre, sich nicht darüber aufregen. Das Geld muß so tief unter der Würde eines Gentleman stehen, daß es kaum wert erscheint, daß man sich darum kümmere. Gewiß, es würde sehr aristokratisch sein, die ganze moralische Unsauberkeit des gesamten Pöbels und der gesamten Umgebung überhaupt nicht zu bemerken. Manchmal indessen ist das entgegengesetzte Verfahren nicht minder aristokratisch, nämlich dieses ganze Pack zu bemerken, das heißt, es zu betrachten, es etwa durch die Lorgnette in Augenschein zu nehmen, aber nur in der Weise, daß man diesen ganzen Schwarm und diesen ganzen Schmutz als eine Art von Zerstreuung auffaßt, gleichsam als eine zur Unterhaltung der Gentlemen arrangierte Vorstellung. Man kann sich selbst in dieser Menge mit herumdrängen, muß dabei aber mit der festen Überzeugung um sich blicken, daß man eigentlich nur ein Beobachter ist und in keiner Weise zu dieser Gattung gehört. Übrigens würde es auch wieder ungehörig sein, wenn man all dies sehr aufmerksam betrachten wollte; das wäre wieder nicht gentlemanhaft, weil dieses Schauspiel jedenfalls eine längere und besonders aufmerksame Betrachtung nicht verdient. Überhaupt gibt es wenige Schauspiele, die einer besonders aufmerksamen Betrachtung von seiten eines Gentleman würdig wären. Persönlich war ich trotzdem der Meinung, daß all dies recht wohl einer sehr aufmerksamen Betrachtung wert sei, namentlich für denjenigen, der nicht allein um der Betrachtung willen gekommen ist, sondern sich selbst offen und ehrlich zu diesem ganzen Pack zählt. Was aber meine innersten moralischen Überzeugungen anlangt, so ist für die natürlich in meinen jetzigen Überlegungen kein Platz vorhanden. Mag es meinetwegen so sein; ich rede, um mein Gewissen zu erleichtern. Aber eines möchte ich hervorheben: in der ganzen letzten Zeit ist es mir sehr zuwider gewesen, meine Handlungen und Gedanken an irgendwelchen moralischen Maßstab zu halten. Etwas ganz anderes hat die Herrschaft über meine Seele übernommen…

Die Art, in der der Pöbel spielt, ist tatsächlich sehr unsauber. Ich kann mich sogar des Gedankens nicht erwehren, daß dort am Tisch manchmal ganz gewöhnlicher Diebstahl vorkommt. Die Croupiers, die an den Enden der Tische sitzen, nach den Einsätzen sehen und die Zahlungen berechnen, haben eine gewaltige Arbeit. Die gehören auch mit zum Pöbel. Es sind größtenteils Franzosen. Übrigens verfolge ich hier bei meinen Beobachtungen und Bemerkungen ganz und gar nicht den Zweck, das Roulett zu beschreiben; ich stelle diese Beobachtungen vielmehr im Hinblick auf mich selbst an, um zu wissen, wie ich mich künftig zu verhalten habe. Ich bemerkte zum Beispiel als einen sehr gewöhnlichen Hergang folgendes: wenn ein am Tisch Sitzender gewonnen hat, so streckt sich auf einmal von hinten her der Arm eines anderen vor und nimmt sich den Gewinn. Dann beginnt Streit und nicht selten lautes Geschrei; und nun soll einmal der erste beweisen und Zeugen dafür suchen, daß der Einsatz der seinige war! Anfangs war das ganze Spiel mir so unverständlich wie Chinesisch; was ich erriet und merkte, war nur, daß auf die Zahlen, auf Paar und Unpaar und auf die Farben gesetzt wurde. Von Polina Alexandrownas Geld beschloß ich es an diesem Abend mit hundert Gulden zu versuchen. Der Gedanke, daß ich mich auf das Spiel nicht für mich, sondern für einen andern einließ, verwirrte mich einigermaßen; diese Empfindung war sehr unangenehm, und ich wünschte, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Es kam mir vor, als unter- grübe ich mein eigenes Glück dadurch, daß ich damit anfinge, für Polina zu spielen. Kann man denn mit dem Spieltisch nicht in Berührung kommen, ohne sogleich vom Aberglauben angesteckt zu werden? Ich begann damit, daß ich fünf Friedrichsdor herausnahm, das sind fünfzig Gulden, und sie auf Paar setzte. Das Rad drehte sich, und es kam Dreizehn; ich hatte verloren. Mit einer peinlichen Empfindung, lediglich um irgendwie loszukommen und wegzugehen, setzte ich noch fünf Friedrichsdor auf Rot. Es kam Rot. Ich setzte alle zehn Friedrichsdor; es kam wieder Rot. Ich setzte wieder das Ganze auf einmal; es kam wieder Rot. Nachdem ich so vierzig Friedrichsdor erhalten hatte, setzte ich zwanzig auf die zwölf mittleren Zahlen, ohne zu wissen, was dabei herauskommen kann. Es wurde mir das Dreifache ausgezahlt. Auf diese Art hatte ich statt zehn Friedrichsdor auf einmal achtzig. Eine mir bisher fremde, sonderbare Empfindung bedrückte mich dermaßen, daß ich beschloß wegzugehen. Es schien mir, daß ich in ganz anderer Weise spielen würde, wenn ich für mich selbst spielte. Jedoch setzte ich alle achtzig Friedrichsdor noch einmal auf Paar. Diesmal kam Vier; es wurden mir noch achtzig Friedrichsdor hingeschüttet; ich ergriff den ganzen Haufen von hundertsechzig Friedrichsdor und ging, um Polina Alexandrowna zu suchen.

Sie promenierten alle im Park, und ich fand erst nach dem Abendessen die Möglichkeit, mit ihr allein zu sprechen. Beim Abendessen war diesmal der Franzose nicht anwesend, und der General ging infolgedessen mehr aus sich heraus: unter anderem hielt er für nötig noch einmal zu bemerken, er wünsche nicht, mich am Spieltisch zu sehen. Nach seiner Meinung würde es ihn sehr kompromittieren, wenn ich große Spielverluste haben sollte. »Aber selbst wenn Sie sehr viel gewönnen, so würde auch das für mich kompromittierend sein«, fügte er ernst und bedeutsam hinzu. »Gewiß, ich habe kein Recht, Ihnen über Ihre Handlungen Vorschriften zu machen; aber Sie werden selbst zugeben…« Hier brach er nach seiner Gewohnheit mitten im Satz ab.

Ich erwiderte ihm trocken, ich hätte nur sehr wenig Geld und könne folglich keine erheblichen Summen verspielen, selbst wenn ich zu spielen anfinge. Als ich nach meinem Zimmer hinaufging, hatte ich die Möglichkeit, Polina ihren Gewinn einzuhändigen; ich erklärte ihr, ein zweites Mal würde ich nicht mehr für sie spielen.

»Warum denn nicht?« fragte sie aufgeregt.

»Weil ich für mich selbst spielen will«, antwortete ich, indem ich sie erstaunt ansah, »und das stört mich.«

»Also verbleiben Sie fest bei Ihrer Ansicht, daß das Roulett Ihr einziger Rettungsanker ist?« fragte sie spöttisch.

Ich bejahte diese Frage ernst und fügte hinzu, was meine Überzeugung betreffe, daß ich bestimmt gewinnen werde, so möge diese ja lächerlich sein, das wolle ich zugeben; aber man möge mich darin nicht zu beirren suchen.

Polina Alexandrowna bestand darauf, ich solle unter allen Umständen von dem heutigen Gewinn die Hälfte für mich nehmen, und wollte mir achtzig Friedrichsdor abgeben; sie machte mir den Vorschlag, ich möchte auch in Zukunft das Spiel unter dieser Festsetzung fortsetzen. Ich weigerte mich entschieden, die Hälfte anzunehmen, und erklärte auf das bestimmteste, ich könne für andere nicht spielen, nicht etwa, weil ich keine Lust dazu hätte, sondern weil ich aller Wahrscheinlichkeit nach verlieren würde.

»Und doch«, sagte sie nachdenklich, »mag es auch eine Dummheit sein, setze auch ich selbst meine Hoffnung fast nur auf das Roulett. Und darum müssen Sie unbedingt weiterspielen, halbpart mit mir; und das werden Sie selbstverständlich auch tun.«

Nach diesen Worten ging sie von mir weg, ohne auf meine weiteren Erwiderungen hinzuhören.

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Zehntes Kapitel

Zehntes Kapitel

In den Badeorten (und, wie es scheint, auch im ganzen übrigen westlichen Europa) lassen sich die Hoteliers und Oberkellner, wenn sie den Gästen ihr Logis anweisen, nicht sowohl von deren Forderungen und Wünschen leiten, als vielmehr von ihrem eigenen persönlichen Urteil über sie, und man muß zugeben, daß sie dabei nur selten Irrtümer begehen. Aber der Tante war (warum eigentlich?) ein so großartiges Quartier angewiesen, daß sie denn doch überschätzt war: vier prachtvoll möblierte Zimmer, nebst einem Badezimmer, den erforderlichen Räumlichkeiten für die Dienerschaft, einem besonderen Zimmerchen für die Zofe usw. usw. In diesen Zimmern hatte tatsächlich eine Woche vorher eine Großherzogin logiert, was denn auch natürlich den neuen Bewohnern sofort mitgeteilt wurde, um damit eine weitere Erhöhung des an sich schon hohen Wohnungspreises zu rechtfertigen. Die Tante wurde in allen Zimmern umhergetragen oder, richtiger gesagt, in ihrem Rollstuhl umhergefahren und unterzog sie einer aufmerksamen, strengen Musterung. Der Oberkellner, ein schon bejahrter Mann mit kahlem Kopf, begleitete sie respektvoll bei dieser ersten Besichtigung.

Wofür eigentlich alle die Tante hielten, weiß ich nicht genau; aber anscheinend taxierte man sie für eine sehr vornehme Persönlichkeit und, was die Hauptsache war, für außerordentlich reich. In das Fremdenbuch wurde sogleich eingetragen: Madame la générale princesse de Tarassevitcheva, obwohl die Tante ganz und gar keine Fürstin war.

Die eigene Dienerschaft, das besondere Abteil auf der Eisenbahn, die Unmenge unnötiger Koffer, Schachteln und Kisten, die sie mit sich führte, hatten für diese Wertschätzung wahrscheinlich den Grund gelegt; und der Lehnstuhl, der entschiedene Ton, die scharfe Stimme der alten Dame und die absonderlichen Fragen, die sie in der ungeniertesten, keinen Widerspruch duldenden Weise stellte, kurz, ihr ganzes Wesen, rücksichtslos, scharf, gebieterisch, steigerte die allgemeine Hochachtung vor ihr noch um ein Beträchtliches.

Bei der Besichtigung ließ die Tante ein paarmal den Rollstuhl plötzlich anhalten, zeigte auf ein oder das andere Stück des Meublements und wandte sich mit unerwarteten Fragen an den respektvoll lächelnden, aber bereits etwas ängstlich werdenden Oberkellner. Sie stellte ihre Fragen auf französisch, das sie aber ziemlich schlecht sprach, so daß ich es meistens erst noch übersetzen mußte. Die Antworten des Oberkellners mißfielen ihr größtenteils und schienen ihr unbefriedigend. Aber sie fragte auch fortwährend nach Gott weiß was für Dingen. So machte sie zum Beispiel auf einmal vor einem Gemälde halt, einer ziemlich schwachen Kopie irgendeines bekannten Originals, das ein Wesen der Mythologie darstellte.

»Wessen Porträt ist das?«

Der Oberkellner erwiderte, es werde wohl eine Gräfin sein.

»Wie kommt es, daß du das nicht weißt? Wohnst hier und weißt das nicht! Wozu ist das Bild überhaupt hier? Und warum schielen auf ihm die Augen so?«

Auf all diese Fragen war der Oberkellner nicht imstande, befriedigend zu antworten und wurde ganz verlegen.

»So ein Tölpel!« rief die alte Tante auf russisch.

Sie wurde weitergefahren. Dieselbe Geschichte wiederholte sich bei einer kleinen Meißner Porzellanfigur, die die Alte lange betrachtete und dann (niemand wußte, warum) fortzuschaffen befahl. Endlich brachte sie den Oberkellner mit der Frage in Bedrängnis, was die Teppiche im Schlafzimmer gekostet hätten, und wo sie gewebt seien. Der Oberkellner versprach, sich danach zu erkundigen.

»Was sind das hier für Esel!« brummte die Tante und richtete nun ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Bett.

»So ein luxuriöser Baldachin! Schlagt mal den Vorhang zurück!« Der Bettvorhang wurde zurückgeschlagen.

»Noch weiter, noch weiter, schlagt ihn ganz zurück! Nehmt die Kissen weg, das Laken; hebt das Federbett in die Höhe!« Alles wurde umgewälzt. Die Tante schaute aufmerksam hin.

»Gut, daß keine Wanzen da sind. Weg mit der ganzen Bettwäsche! Das Bett soll mit meinen eigenen Kissen und mit meiner eigenen Bettwäsche zurechtgemacht werden. Aber all das ist viel zu luxuriös; wozu brauche ich alte Frau eine solche Wohnung? Da langweile ich mich nur darin, wenn ich allein bin. Alexej Iwanowitsch, komm recht oft zu mir, wenn du mit dem Unterricht der Kinder fertig bist!«

»Ich bin seit gestern nicht mehr in Stellung beim General«, antwortete ich. »Ich wohne im Hotel als ganz selbständiger Gast.«

»Woher ist denn das gekommen?«

»Es ist hier neulich ein vornehmer deutscher Baron mit seiner Gemahlin, der Baronin, aus Berlin angekommen. Ich redete die beiden gestern auf der Promenade deutsch an, ohne mich an die Berliner Aussprache zu halten.«

»Nun, und was weiter?«

»Er hielt das für eine Frechheit und beschwerte sich beim General, und der General entließ mich gestern aus meiner Stellung.«

»Du hast ihn wohl beschimpft, den Baron, nicht wahr? Aber wenn du das auch getan hättest, so schadete es nichts!«

»O nein, das habe ich nicht getan. Im Gegenteil, der Baron hat den Stock gegen mich erhoben.«

»Und du, schlapper Kerl, hast es geduldet, daß jemand deinen Hauslehrer so behandelt?« wandte sie sich brüsk an den General, »und hast ihn obendrein aus dem Dienst gejagt? Schlafmützen seid ihr hier, lauter Schlafmützen, das sehe ich schon.«

»Regen Sie sich nicht auf, liebe Tante«, erwiderte der General mit einer halb hochmütigen, halb familiären Tonfärbung; »ich weiß schon allein in meinen Angelegenheiten das Richtige zu treffen. Außerdem hat Alexej Iwanowitsch Ihnen die Sache nicht ganz zutreffend dargestellt.«

»Und du hast dir das gefallen lassen?« wandte sie sich zu mir.

»Ich wollte den Baron zum Duell fordern«, erwiderte ich möglichst bescheiden und ruhig. »Aber der General widersetzte sich meinem Vorhaben.«

»Warum hast du dich denn dem widersetzt?« wandte sich die Alte wieder zum General. »Du, mein Freundchen«, redete sie, zum Oberkellner gewendet, weiter, »kannst jetzt weggehen und brauchst erst wiederzukommen, wenn du gerufen wirst. Es hat keinen Zweck, daß du hier stehst und den Mund aufsperrst. Ich kann diese Puppenfratze nicht ausstehen!« Der Oberkellner verbeugte sich und ging, natürlich ohne das Kompliment, das ihm die Alte gemacht hatte, verstanden zu haben.

»Aber ich bitte Sie, liebe Tante, sind denn Duelle zulässig?« erwiderte der General lächelnd.

»Warum sollen sie nicht zulässig sein? Alle Männer sind Kampfhähne; da mögen sie miteinander kämpfen. Aber ihr seid hier alle Schlafmützen, wie ich sehe, und versteht nicht für die Ehre eures Vaterlandes einzutreten. Na, nun hebt mich auf! Potapytsch, sorge dafür, daß immer zwei Dienstmänner bereit sind; engagiere sie und mache mit ihnen alles ab! Mehr als zwei sind nicht nötig. Zu tragen brauchen sie mich nur auf den Treppen; wo es eben ist, auf der Straße, müssen sie mich schieben; das setze ihnen auseinander! Und bezahle ihnen ihr Geld im voraus; dann sind solche Leute respektvoller. Du selbst bleibe immer um mich, und du, Alexej Iwanowitsch, zeige mir doch diesen Baron auf der Promenade; ich möchte mir diesen ›Herrn Baron von‹ doch wenigstens einmal ansehen. Nun also, wo ist denn dieses Roulett?«

Ich berichtete ihr, das Roulett sei im Kurhaus untergebracht, in den dortigen Sälen. Nun folgten weitere Fragen: ob viele Roulettspiele da seien, ob viele Leute spielten, ob den ganzen Tag über gespielt werde, wie das Spiel eingerichtet sei. Ich antwortete schließlich, das beste wäre, es mit eigenen Augen anzusehen; denn es bloß so zu beschreiben sei eine recht schwere Aufgabe.

»Na gut, dann schafft mich geradewegs dorthin! Geh voran, Alexej Iwanowitsch!«

»Wie, liebe Tante! Wollen Sie sich denn wirklich nicht einmal erst von der Reise erholen?« fragte der General sorglich. Er war in eine gewisse Unruhe geraten, und auch die andern waren alle einigermaßen verlegen geworden und wechselten Blicke miteinander. Wahrscheinlich genierten sie sich ein bißchen oder schämten sich sogar, die alte Tante geradeswegs nach dem Kurhaus zu begleiten, wo sie selbstverständlich irgendwelche Wunderlichkeiten begehen konnte, und zwar, was das Schlimmste war, in aller Öffentlichkeit. Indes erboten sich trotzdem alle, sie dorthin zu begleiten.

»Wozu brauche ich mich erst noch zu erholen? Ich bin nicht müde; ich habe ohnehin fünf Tage lang gesessen. Und dann wollen wir uns ansehen, was es hier für Brunnen und Heilquellen gibt, und wo sie sind. Und dann … dann wollen wir nach dem Aussichtspunkt, von dem du sagtest, Praskowja, Und was gibt es hier sonst noch zu sehen?«

»Da ist noch vielerlei, Großmütterchen«, erwiderte Polina, die sich nicht gleich zu helfen wußte.

»Na, du weißt es wohl selbst nicht. Maria, du kommst auch mit mir mit«, sagte sie zu ihrer Zofe.

»Aber wozu soll denn die mitkommen, liebe Tante?« wandte der General beunruhigt ein. »Es wird auch gar nicht gehen; auch Potapytsch wird schwerlich in das Kurhaus hereingelassen werden.«

»Ach, dummes Zeug! Bloß weil sie eine Dienerin ist, sollte ich mich nicht um sie kümmern? Sie ist ja doch auch ein lebendiger Mensch; nun haben wir schon eine Woche auf der Bahn gesessen, da wird sie auch Lust haben, etwas zu sehen. Und mit wem soll sie ausgehen als mit mir? Allein würde sie ja nicht wagen, auch nur die Nase auf die Straße zu stecken.«

»Aber, Großmütterchen …«

»Schämst du dich etwa, mit mir zu gehen? Dann bleib doch zu Hause; es bittet dich ja niemand mitzukommen. Nun seh einer so einen vornehmen General! Aber ich bin ja auch selbst eine Frau Generalin. Und was hat das überhaupt für einen Zweck, wenn ihr alle hinter mir herzieht? Das ist ja eine ordentliche Schleppe! Ich kann mir auch mit Alexej Iwanowitsch allein alles besehen …«

Aber de Grieux bestand energisch darauf, daß alle sie begleiten müßten, und erging sich in den liebenswürdigsten Redewendungen über das Vergnügen, mit ihr gehen zu dürfen usw. So setzten sich denn alle in Bewegung.

»Elle est tombée en enfance«, sagte de Grieux noch einmal, wie vorher zu mir, so jetzt leise zum General; »seule, elle fera des bêtises …« Was er weiter sagte, konnte ich nicht verstehen; aber offenbar hatte er irgendwelche Absichten, und vielleicht waren bei ihm auch schon wieder Hoffnungen rege geworden.

Bis zum Kurhaus waren etwa neunhundert Schritt. Unser Weg ging durch die Kastanienallee zu einem viereckigen Platz mit Anlagen; um diesen mußte man herumgehen und trat dann unmittelbar ins Kurhaus. Der General hatte sich etwas beruhigt, weil unser Aufzug, wiewohl er ziemlich auffällig war, doch in Ordnung und mit Anstand vonstatten ging. Und es war ja auch nichts Verwunderliches an dem Umstand, daß eine kranke, schwache Person, die nicht gehen konnte, sich in diesem Kurort eingefunden hatte. Aber augenscheinlich fürchtete der General den Eindruck, den unser Erscheinen in den Spielsälen machen mußte. Was hat ein kranker Mensch, der nicht gehen kann, und noch dazu eine alte Dame, beim Roulett zu suchen? Polina und Mademoiselle Blanche gingen jede an einer Seite des Rollstuhls. Mademoiselle Blanche lachte, zeigte eine bescheidene Heiterkeit und scherzte sogar mitunter in liebenswürdigster Weise mit der Tante, so daß diese sie schließlich lobte. Polina, die auf der andern Seite ging, mußte auf die zahllosen Fragen antworten, die die Tante alle Augenblicke an sie richtete, Fragen von dieser Art: »Wer war das, der da eben vorbeiging? Was fuhr da für eine Dame? Ist die Stadt groß? Ist der Park groß? Was sind das für Bäume? Was sind das für Berge? Fliegen da Adler? Was ist das für ein komisches Dach?« Mister Astley ging neben mir und flüsterte mir zu, er erwarte von diesem Vormittag vieles. Potapytsch und Marfa gingen unmittelbar hinter dem Rollstuhl, Potapytsch in seinem Frack und mit seiner weißen Krawatte, aber jetzt mit einer Schirmmütze, Marfa, ein etwa vierzigjähriges Mädchen mit frischem Teint, aber bereits ergrauendem Haar, in einem Kattunkleid, mit einem Häubchen und mit derbledernen, knarrenden Schuhen. Die Tante drehte sich sehr häufig zu ihnen um und sprach mit ihnen. De Grieux, der mit dem General redete, zeigte eine energische Miene; vielleicht sprach er ihm Mut zu, und augenscheinlich erteilte er ihm Ratschläge. Aber die Tante hatte vorhin bereits das fatale Wort gesprochen: »Geld werde ich dir nicht geben.« Möglicherweise meinte de Grieux, diese Ankündigung sei wohl nicht so ernst gemeint; aber der General kannte sein liebes Tantchen. Ich beobachtete, daß de Grieux und Mademoiselle Blanche fortfuhren, miteinander verstohlene Blicke zu wechseln. Den Fürsten und den deutschen Reisenden bemerkte ich ganz hinten am Ende der Allee; sie waren zurückgeblieben und bogen nun, um sich von uns zu trennen, seitwärts ab.

Das Kurhaus betraten wir wie ein Triumphzug. Der Portier und die Diener legten dieselbe respektvolle Ehrerbietung an den Tag wie die Hoteldienerschaft, betrachteten uns aber dabei doch mit einer gewissen Neugier. Die Tante ließ sich zunächst durch alle Säle fahren; manches lobte sie, gegen andres blieb sie völlig gleichgültig; nach allem fragte sie. Endlich gelangten wir auch zu den Spielsälen. Der Diener, der als Schildwache an der geschlossenen Tür stand, schlug, höchlichst überrascht, schnell beide Türflügel weit zurück.

Das Erscheinen der Tante beim Roulett machte einen starken Eindruck auf das Publikum. Um die Roulettische und den Tisch mit Trente-et-quarante, der am anderen Ende des Saales aufgestellt war, drängten sich vielleicht hundertfünfzig bis zweihundert Spieler in mehreren Reihen hintereinander. Diejenigen, denen es gelungen war, sich bis unmittelbar an einen Tisch durchzudrängen, behaupteten ihre Plätze wie gewöhnlich mit zäher Energie und gaben sie nicht früher auf, als bis sie alles verspielt hatten; denn nur so als bloße Zuschauer dazustehen und nutzlos einen Platz innezuhaben, an dem gespielt werden konnte, war nicht gestattet. Wiewohl um den Tisch herum Stühle aufgestellt sind, setzen sich doch nur wenige Spieler hin, besonders bei starkem Andrang des Publikums. Denn im Stehen nimmt man weniger Raum ein und kann darum leichter einen Platz ergattern; auch seine Einsätze macht man mit mehr Bequemlichkeit, wenn man steht. Gegen die erste Reihe drückte von hinten eine zweite und dritte, in der die Menschen darauf lauerten, wann sie selbst darankommen würden; aber mitunter schob sich aus der zweiten Reihe ungeduldig eine Hand durch die erste hindurch, um einen Einsatz zu machen. Sogar aus der dritten Reihe praktizierte ein oder der andere auf diese Weise mit besonderer Geschicklichkeit seinen Einsatz auf den Tisch; die Folge davon war, daß keine zehn oder auch nur fünf Minuten vergingen, ohne daß es an einem der Tische zu Skandalszenen wegen strittiger Einsätze gekommen wäre. Übrigens ist die Polizei des Kurhauses recht gut. Gegen das Gedränge läßt sich natürlich nichts tun; im Gegenteil freut man sich über den Andrang des Publikums wegen des damit verbundenen Vorteils; aber die acht Croupiers, die an den Tischen sitzen, passen mit angestrengter Aufmerksamkeit auf die Einsätze auf; sie sind es auch, die die Gewinne auszahlen und, falls Streitigkeiten entstehen, diese entscheiden. Schlimmstenfalls rufen sie die Polizei herbei, und dann wird die Sache im Umsehen erledigt. Die Polizisten sind dauernd im Saal stationiert und befinden sich in Zivilkleidung unter den Zuschauern, so daß man sie nicht erkennen kann. Sie passen besonders auf Diebe und Gauner auf, deren es wegen der außerordentlich bequemen Ausübung dieses Gewerbes beim Roulett sehr viele gibt. Und in der Tat, überall sonst muß man aus Taschen und verschlossenen Behältnissen stehlen, und das endet im Falle des Mißlingens sehr unangenehm. Hier aber braucht man es nur ganz einfach folgendermaßen zu machen: man geht zum Roulett, fängt an zu spielen, nimmt sich auf einmal offen und vor aller Augen einen fremden Gewinn und steckt ihn in seine Tasche; entsteht ein Streit, so behauptet der Gauner laut und mit aller Bestimmtheit, der Einsatz sei der seinige. Wenn das geschickt gemacht wird und die Zeugen sich ihrer Sache nicht ganz sicher sind, so gelingt es dem Dieb oft, sich das Geld anzueignen, selbstverständlich nur dann, wenn die Summe nicht sehr beträchtlich ist. Im letzteren Fall pflegt sie schon vorher die Aufmerksamkeit des Croupiers oder eines der Mitspieler erregt zu haben. Ist aber die Summe nicht so bedeutend, so verzichtet der wirkliche Eigentümer mitunter sogar aus Scheu vor einem Skandal auf eine Fortsetzung des Streites und geht davon. Gelingt es dagegen, einen Dieb zu überführen, so wird er sogleich unter großem Aufsehen abgeführt.

Alles das sah sich die Tante von weitem und mit scheuer Neugier an. Es gefiel ihr sehr, daß ein paar Diebe hinaustransportiert wurden. Das Trente-et-quarante erweckte ihr Interesse nur in geringem Grade; besser gefiel ihr das Roulett mit dem herumlaufenden Kügelchen. Endlich bekam sie Lust, das Spiel aus größerer Nähe mit anzusehen. Ich begreife nicht, wie es möglich war, aber die Saaldiener und einige eifrige Kommissionäre (es sind dies vorzugsweise Polen, die ihr ganzes Geld verspielt haben und nun glücklicheren Spielern sowie allen Ausländern ihre Dienste aufdrängen) fanden trotz des argen Gedränges einen Platz, den sie für die Tante frei machten, gerade in der Mitte des Tisches neben dem Obercroupier, und rollten ihren Stuhl dorthin. Eine Menge von Besuchern, die nicht selbst spielten, sondern nur aus einiger Entfernung dem Spiel zuschauten (in der Hauptsache Engländer mit ihren Familien), drängte sich sogleich zu diesem Tisch, um hinter den Spielern stehend die alte Dame zu beobachten. Viele Lorgnetten richteten sich auf sie. Die Croupiers gaben sich besonderen Hoffnungen hin: von einem so originellen Spieler konnte man allerdings etwas Ungewöhnliches erwarten. Eine fünfundsiebzigjährige Dame, die nicht gehen konnte und spielen wollte, das war freilich ein Fall, wie er nicht alle Tage vorkam. Ich drängte mich gleichfalls zum Tisch durch und stellte mich neben die Tante. Potapytsch und Marfa hatten in weiter Entfernung zurückbleiben müssen und standen dort irgendwo mitten im Menschenschwarm. Der General, Polina, de Grieux und Mademoiselle Blanche standen gleichfalls ziemlich weit entfernt von uns unter den Zuschauern.

Die Tante betrachtete zunächst die Spieler und flüsterte mir in ihrem scharfen Ton kurze Fragen zu: »Was ist das für einer? Wer ist diese Dame?« Besonders gefiel ihr an einem Ende des Tisches ein noch sehr junger Mensch, der hoch spielte, Tausende mit einem Male setzte und, wie unter den Umstehenden geflüstert wurde, bereits gegen vierzigtausend Franc gewonnen hatte, die in einem Häufchen vor ihm lagen, Gold und Banknoten. Er sah blaß aus; seine Augen glänzten, die Hände zitterten ihm; er setzte bereits, ohne überhaupt zu zählen, soviel er mit der Hand gerade erfaßte, und dabei gewann er fortwährend und häufte immer mehr Geld zusammen. Die Saaldiener waren eifrig um ihn beschäftigt; sie rückten ihm von hinten einen Sessel heran und hielten um ihn herum etwas Raum frei, damit er sich besser bewegen könne und von den andern nicht so gedrängt werde – alles in Erwartung eines reichen Trinkgeldes. Denn manche Spieler geben von ihrem Gewinn den Dienern, ohne zu zählen, in der Freude ihres Herzens, soviel sie mit der Hand in der Tasche zu fassen bekommen. Neben dem jungen Mann hatte bereits ein Pole Aufstellung genommen, der sich aus allen Kräften um ihn bemühte und ihm respektvoll, aber ohne Unterlaß etwas zuflüsterte, Anweisungen, wie er setzen solle, Ratschläge und Belehrungen das Spiel betreffend – natürlich erwartete er ebenfalls nachher ein Geldgeschenk! Aber der Spieler sah fast gar nicht nach ihm hin, setzte, wie es sich gerade traf, und strich immer neue Gewinne ein. Er wußte offenbar gar nicht mehr, was er tat.

Die Alte beobachtete ihn ein paar Minuten lang.

»Sage ihm doch«, wandte sie sich plötzlich voller Eifer an mich, indem sie mich anstieß, »sage ihm doch, er möchte aufhören, er möchte schleunigst sein Geld nehmen und davongehen. Er wird verlieren, im nächsten Augenblick wird er alles verlieren!« Sie konnte vor Aufregung kaum atmen. »Wo ist Potapytsch? Schicke doch Potapytsch zu ihm hin! Sage es ihm doch, sage es ihm doch!« wiederholte sie, mich wieder anstoßend. »Aber wo in aller Welt ist denn Potapytsch? Sortez, sortez!« begann sie selbst dem jungen Mann zuzurufen. Ich beugte mich zu ihr herunter und flüsterte ihr nachdrücklich zu, so zu rufen sei hier nicht gestattet, nicht einmal laut zu reden, da das die Berechnungen störe; es sei zu befürchten, daß wir sofort hinausgewiesen würden.

»So ein Ärger! Der Mensch ist verloren! Na, es ist sein eigener Wille … ich mag gar nicht nach ihm hinsehen; mir wird ganz übel davon. So ein Dummkopf!« Bei diesen Worten drehte sich die Tante schnell nach der anderen Seite.

Dort, zur Linken, an der andern Hälfte des Tisches, zog unter den Spielern eine junge Dame, neben der ein Zwerg stand, die Aufmerksamkeit auf sich. Wer dieser Zwerg war, weiß ich nicht; ob es ein Verwandter von ihr war, oder ob sie ihn nur so um Aufsehen zu erregen, mitnahm. Diese Dame hatte ich schon früher bemerkt; sie erschien am Spieltisch täglich um ein Uhr mittags und ging pünktlich um zwei. Sie war schon allgemein bekannt, und es wurde ihr bei ihrem Erscheinen sofort ein Sessel hingestellt. Sie zog ein paar Goldstücke oder ein paar Tausendfrancscheine aus der Tasche und begann zu setzen, ruhig, kaltblütig, mit Überlegung; auf einem Blatt Papier notierte sie mit Bleistift die Zahlen, die herausgekommen waren, und suchte die systematische Ordnung zu erkennen, in der sich diese gruppierten. Ihre Einsätze waren von ansehnlicher Höhe. Sie gewann täglich ein-, zwei-, höchstens dreitausend Franc, nicht mehr, und ging, sobald sie die gewonnen hatte, sofort weg. Die Tante beobachtete sie längere Zeit.

»Na, die da wird nicht verlieren! Die wird nicht verlieren! Was ist das für eine? Kennst du sie nicht? Wer ist sie?«

»Es ist eine Französin, wahrscheinlich so eine«, flüsterte ich.

»Ah, man erkennt den Vogel am Fluge. Die hat offenbar scharfe Krallen. Jetzt erkläre mir, was jeder Umlauf der Kugel bedeutet, und wie man setzen muß!«

Ich setzte der Tante nach Möglichkeit auseinander, was es mit den zahlreichen Arten des Setzens für eine Bewandtnis hat: mit rouge et noir, pair et impair, manque et passe, sowie endlich mit den verschiedenen Variationen beim Setzen auf Zahlen. Die Tante hörte aufmerksam zu, merkte sich, was ich sagte, fragte, wo sie etwas nicht verstand, und gewann so einen guten Einblick. Für jede Gattung von Einsätzen konnte ich ihr sofort Beispiele vor Augen führen, so daß sie vieles sehr leicht und schnell begriff und sich einprägte. Die Tante war sehr befriedigt.

»Aber was bedeutet zéro? Dieser Croupier da, der krausköpfige, der oberste von ihnen, hat eben gerufen: >zéro

»Zéro, Großmütterchen, das ist der Vorteil für die Bank. Wenn die Kugel auf zéro fällt, so gehören alle Einsätze auf dem Tisch der Bank, ohne weitere Berechnung. Allerdings hat man noch die Möglichkeit des Quittspiels; aber dann zahlt im Falle des Gewinnes die Bank nichts.«

»Na, so etwas! Und ich bekomme gar nichts?«

»Nicht doch, Großmütterchen; wenn Sie vorher auf zéro gesetzt haben und zéro dann herauskommt, so wird Ihnen das Fünfunddreißigfache bezahlt.«

»Was? Das Fünfunddreißigfache? Und kommt das oft heraus? Warum setzen sie denn nicht darauf, die Dummköpfe?«

»Es sind sechsunddreißig Chancen dagegen, Großmütterchen.«

»Ach was, Unsinn! Potapytsch, Potapytsch! Warte mal, ich habe selbst Geld bei mir – da!« Sie zog eine wohlgespickte Geldbörse aus der Tasche und entnahm ihr einen Friedrichsdor. »Da! Setz das gleich mal auf zéro!«

»Großmütterchen, zéro ist eben herausgekommen«, sagte ich, »also wird es jetzt lange Zeit nicht herauskommen. Sie werden viel verlieren, wenn Sie bis dahin immer auf zéro setzen wollen. Warten Sie lieber noch ein Weilchen!«

»Rede nicht dummes Zeug! Setze nur!«

»Wie Sie wünschen; aber es kommt vielleicht bis zum Abend nicht wieder heraus; Sie können Tausende von Francs verlieren; das ist alles schon vorgekommen.«

»Ach, Unsinn, Unsinn! Wer sich vor dem Wolf fürchtet, der muß nicht in den Wald gehen. Was? Ich habe verloren? Setz noch einmal!«

Auch der zweite Friedrichsdor ging verloren: wir setzten den dritten. Die Tante konnte kaum stillsitzen; mit heißen Augen folgte sie der Kugel, die an den Zacken des sich drehenden Rades hinsprang. Auch der dritte ging verloren. Die Tante war außer sich; sie rückte auf ihrem Sitz fortwährend hin und her und schlug sogar mit der Faust auf den Tisch, als der Croupier »trente-six« rief, statt des erwarteten zéro.

»Na so ein Kerl!« ereiferte sich die Tante. »Wird denn dieses verdammte zéro nicht bald herauskommen? Ich will des Todes sein, wenn ich nicht sitzenbleibe, bis es herauskommt! Das macht alles dieser verdammte krausköpfige Croupier da; bei dem kommt es nie heraus! Alexej Iwanowitsch, setze zwei Goldstücke mit einemmal! Du setzt ja so wenig, daß, auch wenn zéro wirklich kommt, wir nichts Ordentliches einnehmen.«

»Großmütterchen!«

»Setze, setze! Es ist nicht dein Geld!«

Ich setzte zwei Friedrichsdor. Die Kugel flog lange im Rad herum; endlich begann sie an den Zacken zu springen. Die alte Dame war ganz starr und preßte meine Hand zusammen. Und auf einmal kam’s:

»Zéro!« rief der Croupier.

»Siehst du, siehst du?« wandte sich die Tante schnell zu mir; sie strahlte über das ganze Gesicht und war selig. »Ich habe es dir ja gesagt! Das hat mir Gott selbst eingegeben, gleich zwei Goldstücke zu setzen! Na, wieviel bekomme ich nun? Warum zahlen sie mir denn das Geld nicht aus? Potapytsch. Marfa! Wo sind sie denn? Wo sind die Unsrigen alle geblieben? Potapytsch, Potapytsch!«

»Großmütterchen, alles nachher, nachher!« flüsterte ich ihr zu. »Potapytsch steht an der Tür, man läßt ihn nicht bis hierher. Sehen Sie, Großmütterchen, da zahlen sie Ihnen das Geld aus; nehmen Sie es in Empfang!« Man warf ihr eine schwere, versiegelte Rolle in blauem Papier, die fünfzig Friedrichsdor enthielt, hin und zählte ihr noch zwanzig lose Friedrichsdor auf. Dieses ganze Geld zog ich mit einer Krücke zu der Tante heran.

»Faites le jeu, messieurs! Faites le jeu, messieurs! Rien ne va plus?« rief der Croupier, zum Setzen auffordernd, und schickte sich an, das Roulett zu drehen.

»Mein Gott! Wir kommen zu spät! Er dreht gleich los! Setze, setze!« rief die Tante eifrig. »So trödle doch nicht, schnell!« Sie geriet ganz außer sich und stieß mich aus Leibeskräften an.

»Worauf soll ich denn setzen, Großmütterchen?«

»Auf zéro, auf zéro! Wieder auf zéro! Setz soviel wie möglich! Wieviel haben wir im ganzen? Siebzig Friedrichsdor? Mit denen wollen wir nicht knausern; setze immer zwanzig Friedrichsdor auf einmal!«

»Aber überlegen Sie doch, Großmütterchen! Zéro kommt mitunter bei zweihundert Malen kein einziges Mal heraus! Ich versichere Sie, Sie werden die ganze Summe wieder verlieren.«

»Törichtes Geschwätz! So setze doch! Papperlapapp! Ich weiß, was ich tue«, sagte die Tante, die vor Aufregung bebte.

»Nach dem Reglement ist es nicht gestattet, auf einmal mehr als zwölf Friedrichsdor auf zéro zu setzen, Großmütterchen. Nun, die habe ich jetzt gesetzt.«

»Wieso ist das nicht erlaubt? Redest du mir auch nichts vor? Monsieur, monsieur!« Sie stieß den Croupier an, der unmittelbar an ihrer linken Seite saß und sich bereit machte, das Rad zu drehen. »Combien zéro? Douze? Douze?«

Mit möglichster Eile verdeutlichte ich ihm auf französisch den Sinn der Frage.

»Oui, madame«, bestätigte der Croupier höflich und fügte zur Erklärung hinzu: »So wie auch jeder andere einzelne Einsatz die Summe von viertausend Gulden nicht übersteigen darf, nach dem Reglement.«

»Na, dann ist nichts zu machen. Setze zwölf!«

»Le jeu est fait!« rief der Croupier. Das Rad drehte sich, und es kam die Dreißig heraus. Wir hatten verloren!

»Noch mal, noch mal, noch mal! Setz noch mal!« rief die Alte. Ich versuchte keine Widerrede mehr und setzte achselzuckend noch zwölf Friedrichsdor. Das Rad drehte sich lange. Die Tante, die das Rad gespannt beobachtete, zitterte am ganzen Leib. »Kann sie wirklich glauben, daß zéro wieder gewinnen wird?« dachte ich, während ich sie erstaunt anblickte. Auf ihrem strahlenden Gesicht lag der Ausdruck der festen Überzeugung, daß sie gewinnen werde, der bestimmten Erwartung, es werde im nächsten Augenblick gerufen werden: »Zéro!« Die Kugel sprang in ein Fach.

»Zéro!« rief der Croupier.

»Na also!« wandte sich die Tante mit einer Miene wilden Triumphes zu mir.

Ich war selbst Spieler; dessen wurde ich mir in eben diesem Augenblick bewußt. Hände und Füße zitterten mir; in meinem Kopf hämmerte es. Allerdings, das war ein seltener Zufall, daß unter etwa zehn Malen dreimal zéro herausgekommen war; aber etwas besonders Erstaunliches war nicht dabei. Ich war selbst Zeuge gewesen, wie zwei Tage vorher zéro dreimal nacheinander herauskam, und dabei hatte ein Spieler, der sich auf einem Blatt Papier eifrig die einzelnen Resultate notierte, laut geäußert, daß erst am vorhergehenden Tag zéro den ganzen Tag über nur ein einziges Mal gekommen sei.

Da die Tante den größten Gewinn gemacht hatte, der möglich war, so vollzog sich die Auszahlung in besonders höflicher, respektvoller Manier. Sie hatte gerade vierhundertundzwanzig Friedrichsdor zu bekommen, oder viertausend Gulden und zwanzig Friedrichsdor. Die zwanzig Friedrichsdor gab man ihr in Gold, die viertausend Gulden in Banknoten.

Diesmal rief die Tante nicht mehr nach Potapytsch; sie war mit anderem beschäftigt. Auch stieß sie mich nicht an und zitterte äußerlich nicht; aber innerlich, wenn man sich so ausdrücken kann, innerlich zitterte sie. Sie hatte alle ihre Gedanken auf einen Punkt konzentriert, sie auf ein ganz bestimmtes Ziel gerichtet.

»Alexej Iwanowitsch! Er hat gesagt, auf einmal könne man nur viertausend Gulden setzen? Na, dann nimm hier diese ganzen viertausend und setze sie auf Rot!« befahl sie.

Es wäre nutzlos gewesen, ihr davon abzureden. Das Rad begann sich zu drehen.

»Rouge!« verkündete der Croupier.

Wieder ein Gewinn von viertausend Gulden, also im ganzen achttausend.

»Viertausend gib mir her, und die anderen viertausend setze wieder auf Rot!« kommandierte die Tante.

Ich setzte wieder viertausend.

»Rouge!« rief der Croupier von neuem.

»In summa zwölftausend! Gib sie alle her! Das Gold schütte hier hinein, in die Börse, und die Banknoten verwahre für mich in deiner Tasche! Nun genug! Nach Hause! Rollt meinen Stuhl von hier weg!«

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Erstes Kapitel

Erstes Kapitel

Endlich bin ich nach vierzehntägiger Abwesenheit zurückgekehrt. Die Unsrigen befinden sich schon seit drei Tagen in Roulettenburg. Ich hatte geglaubt, sie warteten bereits auf mich mit der größten Ungeduld; indes ist dies meinerseits ein Irrtum gewesen. Der General zeigte eine sehr stolze, selbstbewußte Miene, sprach mit mir ein paar Worte sehr von oben herab und schickte mich dann zu seiner Schwester. Offenbar waren sie auf irgendwelche Weise zu Geld gekommen. Es kam mir sogar so vor, als sei es dem General einigermaßen peinlich, mich anzusehen. Marja Filippowna hatte außerordentlich viel zu tun und redete nur flüchtig mit mir; das Geld nahm sie aber in Empfang, rechnete es nach und hörte meinen ganzen Bericht an. Zum Mittagessen erwarteten sie Herrn Mesenzow, außerdem noch einen kleinen Franzosen und einen Engländer. Das ist bei ihnen einmal so Brauch: sobald Geld da ist, werden auch gleich Gäste zum Diner eingeladen, ganz nach Moskauer Art. Als Polina Alexandrowna mich erblickte, fragte sie mich, was ich denn solange gemacht hätte; aber sie entfernte sich dann, ohne meine Antwort abzuwarten. Selbstverständlich tat sie das mit Absicht. Indessen müssen wir uns notwendigerweise miteinander aussprechen. Es hat sich viel Stoff angesammelt.

Es wurde mir ein kleines Zimmer im vierten Stock des Hotels angewiesen. Hier ist bekannt, daß ich »zur Begleitung des Generals« gehöre. Aus allem war zu entnehmen, daß sie es bereits verstanden hatten, sich ein Ansehen zu geben. Den General hält hier jedermann für einen steinreichen russischen Großen. Noch vor dem Diner gab er mir, außer anderen Kommissionen, auch den Auftrag, zwei Tausendfrancscheine, die er mir einhändigte, zu wechseln. Ich bewerkstelligte das im Büro des Hotels. Nun werden wir, wenigstens eine ganze Woche lang, für Millionäre gehalten werden. Ich wollte mit Mischa und Nadja spazierengehen, wurde aber, als ich schon auf der Treppe war, zum General zurückgerufen; er hielt es für nötig, mich zu fragen, wohin ich mit den Kindern gehen wolle. Dieser Mann ist schlechterdings nicht imstande, mir gerade in die Augen zu sehen; in dem Wunsch, es doch fertigzubringen, versucht er es öfters; aber ich antworte ihm jedesmal mit einem so unverwandten, respektlosen Blick, daß er ordentlich verlegen wird. In sehr schwülstiger Redeweise, wobei er eine hohle Phrase an die andere reihte und schließlich völlig in Verwirrung geriet, gab er mir zu verstehen, ich möchte mit den Kindern irgendwo im Park spazierengehen, in möglichst weiter Entfernung vom Kurhaus. Zum Schluß wurde er ganz ärgerlich und fügte in scharfem Ton hinzu: »Also bitte, führen Sie sie nicht ins Kurhaus zum Roulett. Nehmen Sie es mir nicht übel; aber ich weiß, Sie sind noch ziemlich leichtsinnig und wären vielleicht imstande, sich am Spiel zu beteiligen. Ich bin zwar nicht Ihr Mentor und hege auch gar nicht den Wunsch, eine solche Rolle zu übernehmen; aber jedenfalls habe ich wenigstens ein Recht darauf, mich von Ihnen nicht kompromittiert zu sehen, um mich so auszudrücken.«

»Ich habe ja gar kein Geld«, antwortete ich ruhig. »Um Geld verspielen zu können, muß man doch welches besitzen.«

»Geld sollen Sie sofort erhalten«, erwiderte der General, wühlte in seinem Schreibtisch umher, nahm ein kleines Buch heraus und sah darin nach; es ergab sich, daß er mir ungefähr hundertzwanzig Rubel schuldig war.

»Wie wollen wir also unsere Rechnung erledigen?« sagte er; »wir müssen es in Taler umrechnen. Nehmen Sie da zunächst hundert Taler; das ist eine runde Summe; das übrige bleibt Ihnen natürlich sicher.«

Ich nahm das Geld schweigend hin.

»Sie müssen sich durch meine Worte nicht gekränkt fühlen; Sie sind so empfindlich… Ich wollte Sie durch meine Bemerkung nur sozusagen warnen, und das zu tun habe ich doch natürlich ein gewisses Recht…«

Als ich vor dem Mittagessen mit den Kindern nach Hause zurückkehrte, fand ich eine ganze Kavalkade vor. Die Unsrigen machten einen Ausflug, um eine Ruine zu besuchen. Eine schöne Equipage, mit prächtigen Pferden bespannt, hielt vor dem Hotel; darin saßen Mademoiselle Blanche, Marja Filippowna und Polina; der kleine Franzose, der Engländer und unser General waren zu Pferde. Die Passanten blieben stehen und schauten; der Effekt war großartig, kam aber dem General verhältnismäßig teuer zu stehen. Ich rechnete mir aus: wenn man die viertausend Franc, die ich mitgebracht hatte, und das Geld, das sie inzwischen augenscheinlich erlangt hatten, zusammennahm, so mochten sie jetzt sieben- oder achttausend Franc haben. Das war für Mademoiselle Blanche eine gar zu geringe Summe.

Mademoiselle Blanche wohnt gleichfalls in unserem Hotel, und zwar mit ihrer Mutter; desgleichen auch unser kleiner Franzose. Die Hoteldienerschaft nennt ihn »Monsieur le comte«, und Mademoiselle Blanches Mutter wird »Madame la comtesse« betitelt; nun, vielleicht sind sie auch wirklich ein Graf und eine Gräfin.

Ich wußte vorher, daß Monsieur le comte mich nicht erkennen werde, als wir uns nach dem Mittagessen zusammenfanden. Dem General kam es natürlich nicht in den Sinn, uns miteinander bekannt zu machen oder auch nur mich ihm vorzustellen; Monsieur le comte aber hat sich selbst in Rußland aufgehalten und weiß, was für eine unbedeutende Person ein Hauslehrer in Rußland ist. Er kennt mich übrigens recht gut. Aber, die Wahrheit zu gestehen, ich erschien beim Mittagessen, ohne überhaupt dazu aufgefordert zu sein; der General hatte wohl vergessen, eine Anordnung darüber zu treffen; sonst hätte er mich wahrscheinlich geheißen, an der Table d’hôte zu essen. Ich stellte mich von selbst ein, so daß der General mir einen unzufriedenen Blick zuwarf. Die gute Marja Filippowna wies mir sogleich einen Platz an; aber mein früheres Zusammentreffen mit Mister Astley half mir aus der Verlegenheit, und so wurde ich, wie wenn das selbstverständlich wäre, als berechtigtes Mitglied dieser Gesellschaft angesehen.

Mit diesem sonderbaren Engländer war ich zum erstenmal in Preußen zusammengetroffen, im Eisenbahnwagen, wo wir uns gegenübersaßen, als ich in Eile den Unsrigen nachreiste. Dann war ich jetzt auf ihn gestoßen, als ich nach Frankreich hineinfuhr, und endlich in der Schweiz, also während dieser zwei Wochen zweimal. Und nun kam ich mit ihm plötzlich hier in Roulettenburg zusammen. Nie in meinem Leben habe ich einen Menschen gefunden, der schüchterner gewesen wäre; seine Schüchternheit streift schon an Dummheit, und er selbst weiß das natürlich, da er ganz und gar nicht dumm ist. Im übrigen ist er ein sehr lieber, stiller Mensch. Gleich bei der ersten Begegnung in Preußen faßte er ein solches Zutrauen zu mir, daß er ganz gesprächig wurde. Er teilte mir mit, er sei in diesem Sommer am Nordkap gewesen und habe große Lust, sich die Messe in Nischni-Nowgorod anzusehen. Ich weiß nicht, wie er mit dem General bekannt wurde; mir scheint, daß er bis über die Ohren in Polina verliebt ist. Als sie eintrat, wurde sein Gesicht rot wie der Himmel beim Aufgang der Sonne. Er freute sich sehr darüber, daß ich bei Tisch neben ihm saß, und scheint mich schon als seinen Busenfreund zu betrachten.

Bei Tisch spielte sich der kleine Franzose stark auf und benahm sich gegen alle geringschätzig und hochmütig. Und dabei weiß ich noch recht gut, wie knabenhaft er in Moskau zu reden pflegte. Er sprach jetzt furchtbar viel über Finanzwesen und über die russische Politik. Der General raffte sich mitunter dazu auf, ihm zu widersprechen, aber nur in bescheidener Weise und lediglich in der Absicht, auf seine Würde nicht völlig Verzicht zu leisten.

Ich befand mich in einer eigentümlichen Stimmung. Selbstverständlich legte ich mir, schon ehe noch die Mahlzeit halb zu Ende war, meine gewöhnliche, stete Frage vor: »Warum gebe ich mich mit diesem General ab und bin nicht schon längst von all diesen Menschen weggegangen?« Mitunter blickte ich zu Polina Alexandrowna hin; sie schenkte mir gar keine Beachtung. Schließlich wurde ich ärgerlich und bekam Lust, grob zu werden.

Ich machte den Anfang damit, daß ich mich auf einmal ohne jede Veranlassung laut und ungefragt in ein fremdes Gespräch einmischte. Namentlich hatte ich den Wunsch, mich mit dem kleinen Franzosen zu zanken. Ich wandte mich an den General und bemerkte, indem ich ihn unterbrach, auf einmal sehr laut und in sehr bestimmtem Ton, es sei in diesem Sommer für Russen so gut wie unmöglich, in den Hotels an der Table d’hôte zu speisen. Der General warf mir einen verwunderten Blick zu.

»Wenn man einige Selbstachtung besitzt«, fuhr ich fort, »so gerät man unfehlbar in Streit und setzt sich argen Beleidigungen aus. In Paris und am Rhein, sogar in der Schweiz sitzen an der Table d’hôte so viel Polen und so viel Franzosen, die mit ihnen sympathisieren, daß es unmöglich ist, ein Wort zu reden, wenn man bloß Russe ist.«

Ich hatte das auf französisch gesagt. Der General sah mich ganz verblüfft an und wußte nicht, sollte er sich darüber ärgern oder sich nur darüber wundern, daß ich mich so vergessen hatte.

»Es hat Ihnen gewiß irgendwo jemand eine Lektion erteilt«, sagte der kleine Franzose in nachlässigem, geringschätzigem Ton.

»In Paris stritt ich mich einmal zuerst mit einem Polen herum«, antwortete ich, »und dann mit einem französischen Offizier, der die Partei des Polen nahm. Darauf aber ging ein Teil der Franzosen auf meine Seite über, als ich ihnen erzählte, daß ich einmal einem Monsignore hätte in den Kaffee spucken wollen.«

»Spucken?« fragte der General mit würdevollem Erstaunen und blickte rings um sich. Der kleine Franzose sah mich ungläubig an.

»Allerdings«, erwiderte ich. »Da ich ganze zwei Tage lang glaubte, daß ich in unserer geschäftlichen Angelegenheit möglicherweise würde für ein Weilchen nach Rom reisen müssen, so ging ich in die Kanzlei der Gesandtschaft des Heiligen Vaters in Paris, um meinen Paß visieren zu lassen. Dort fand ich so einen kleinen Abbé, etwa fünfzig Jahre alt, ein dürres Männchen mit kalter Miene; der hörte mich zwar höflich, aber sehr gleichgültig an und ersuchte mich zu warten. Obwohl ich es eilig hatte, setzte ich mich natürlich doch hin, um zu warten, zog die Opinion nationale aus der Tasche und begann eine furchtbare Schimpferei auf Rußland zu lesen. Währenddessen hörte ich, wie jemand durch das anstoßende Zimmer zu dem Monsignore ging, und sah, wie mein Abbé ihn durch eine Verbeugung grüßte. Ich wandte mich noch einmal an ihn mit meiner früheren Bitte; aber in noch trocknerem Ton ersuchte er mich wieder zu warten. Bald darauf trat noch jemand ein, kein Bekannter, sondern einer, der ein geschäftliches Anliegen hatte, ein Österreicher; er wurde angehört und sogleich nach oben geleitet. Da wurde ich nun aber sehr ärgerlich; ich stand auf, trat an den Abbé heran und sagte zu ihm in entschiedenem Ton, da der Monsignore empfange, so könne er auch mich abfertigen. Mit einer Miene des äußersten Erstaunens wankte der Abbé vor mir zurück. Es war ihm geradezu unfaßbar, wie so ein wertloser Russe es wagen könne, sich mit den andern Besuchern des Monsignore auf eine Stufe zu stellen. Im unverschämtesten Ton, wie wenn er sich darüber freute, mich beleidigen zu können, rief er, indem er mich vom Kopf bis zu den Füßen mit seinen Blicken maß: ›Meinen Sie wirklich, daß Monsignore um Ihretwillen seinen Kaffee stehenlassen wird?‹ Nun fing ich gleichfalls an zu schreien, aber noch stärker als er: ›Spucken werde ich Ihrem Monsignore in seinen Kaffee; das mögen Sie nur wissen! Wenn Sie meinen Paß nicht augenblicklich fertigmachen, so gehe ich zu ihm selbst hin.‹

›Wie? Während der Kardinal bei ihm ist?‹ rief der kleine Abbé, indem er erschrocken von mir wegtrat, zur Tür eilte, die Arme kreuzweis übereinanderlegte und dadurch zu verstehen gab, daß er eher sterben als mich durchlassen wolle. Da antwortete ich ihm, ich sei ein Ketzer und ein Barbar, que je suis hérétique et barbare, und all diese Erzbischöfe, Kardinäle, Monsignori usw. seien mir absolut gleichgültig. Kurz, ich machte Miene, meinen Willen durchzusetzen. Der Abbé blickte mich mit grenzenlosem Ingrimm an; dann riß er mir meinen Paß aus der Hand und ging mit ihm nach oben. Eine Minute darauf war er schon visiert. »Da ist er; wollen Sie ihn sich ansehen?« Ich zog den Paß heraus und zeigte das römische Visum.

»Aber da haben Sie denn doch …«, begann der General.

»Das hat Sie gerettet, daß Sie sich als einen Barbaren und Ketzer bezeichneten«, bemerkte der kleine Franzose lachend. »Cela n’était pas si bête.«

»Sollen wir Russen uns so behandeln lassen? Aber unsere Landsleute sitzen hier, wagen nicht, sich zu mucken, und verleugnen wohl gar ihre russische Nationalität. Aber wenigstens in Paris, in meinem Hotel, gingen die Leute mit mir weit respektvoller um, nachdem ich allen mein Renkontre mit dem Abbé erzählt hatte. Ein dicker polnischer Pan, der an der Table d’hôte am feindseligsten gegen mich aufgetreten war, sah sich völlig in den Hintergrund gedrängt. Die Franzosen nahmen es sogar geduldig hin, als ich erzählte, daß ich vor zwei Jahren einen Menschen gesehen hätte, auf den im Jahre 1812 ein französischer Chasseur geschossen habe, einzig und allein, um sein Gewehr zu entladen. Dieser Mensch war damals noch ein zehnjähriger Knabe gewesen, und seine Familie hatte nicht Zeit gefunden, aus Moskau zu flüchten.«

»Das ist unmöglich!« fuhr der kleine Franzose auf. »Ein französischer Soldat wird nie auf ein Kind schießen!«

»Und es ist trotzdem wahr«, erwiderte ich. »Der Betreffende, nun ein achtungswerter Hauptmann a. D., hat es mir selbst erzählt, und ich habe auf seiner Backe die Schramme von der Kugel selbst gesehen.«

Der Franzose opponierte mit großem Wortschwall und in schnellem Tempo. Der General wollte ihm dabei behilflich sein; aber ich empfahl ihm, beispielsweise einzelne Abschnitte aus den Memoiren des Generals Perowski zu lesen, der sich im Jahre 1812 in französischer Gefangenschaft befunden hatte. Endlich begann Marja Filippowna, um dieses Gespräch abzubrechen, von etwas anderem zu reden. Der General war sehr unzufrieden mit mir, weil ich und der Franzose schon beinahe ins Schreien hineingeraten waren. Aber Mister Astley hatte, wie es schien, an meinem Streit mit dem Franzosen großes Gefallen gefunden; als wir vom Tisch aufstanden, lud er mich ein, mit ihm ein Glas Wein zu trinken.

Am Abend gelang es mir, wie das ja auch dringend erforderlich war, eine Viertelstunde lang mit Polina Alexandrowna zu sprechen. Unser Gespräch kam auf dem Spaziergang zustande. Alle waren in den Park zum Kurhaus gegangen. Polina setzte sich auf eine Bank, der Fontäne gegenüber, und gestattete der kleinen Nadja in ihrer Nähe mit anderen Kindern zu spielen. Ich ließ Mischa gleichfalls zur Fontäne gehen, und so blieben wir beide endlich allein.

Zuerst begannen wir natürlich von den geschäftlichen Angelegenheiten zu reden. Polina wurde geradezu böse, als ich ihr insgesamt nur siebenhundert Gulden einhändigte. Sie hatte mit Bestimmtheit geglaubt, ich würde ihr aus Paris als Erlös von der Verpfändung ihrer Brillanten mindestens zweitausend Gulden oder sogar noch mehr mitbringen.

»Ich brauche unter allen Umständen Geld«, sagte sie. »Beschafft muß es werden; sonst bin ich einfach verloren.«

Ich fragte, was sich an Ereignissen während meiner Abwesenheit zugetragen habe.

»Weiter nichts, als daß wir aus Petersburg zwei Nachrichten erhielten: zuerst die, daß es der alten Tante sehr schlecht gehe, und zwei Tage darauf eine andere, daß sie, wie es verlaute, schon gestorben sei. Diese letztere Nachricht stammt von Timofej Petrowitsch«, fügte Polina hinzu, »und das ist ein verläßlicher Mensch. Wir warten nun auf die letzte, endg ültige Nachricht.«

»Also befinden sich hier alle in gespannter Erwartung?« fragte ich.

»Gewiß, allesamt; seit einem halben Jahr leben sie nur von dieser Hoffnung.«

»Und auch Sie hoffen darauf?«

»Verwandt bin ich ja mit ihr eigentlich überhaupt nicht; ich bin nur eine Stieftochter des Generals. Aber ich glaube bestimmt, daß sie in ihrem Testament meiner gedacht haben wird.«

»Ich meine, es wird Ihnen eine bedeutende Summe zufallen«, erwiderte ich zustimmend.

»Ja, sie hatte mich gern; aber wie kommen gerade Sie zu dieser Meinung?«

»Sagen Sie«, antwortete ich mit einer Frage, »unser Marquis ist wohl gleichfalls in alle Familiengeheimnisse eingeweiht?«

»Warum interessiert Sie denn das?« fragte Polina, indem sie mich kühl und unfreundlich anblickte.

»Nun, das ist doch sehr natürlich. Wenn ich nicht irre, hat der General schon Geld von ihm geborgt.«

»Ihre Vermutung trifft durchaus zu.«

»Nun also; hätte der denn etwa das Geld hergegeben, wenn er nicht über die alte Tante orientiert wäre? Haben Sie nicht bei Tisch bemerkt: als er irgend etwas von ihr sagte, nannte er sie etwa dreimal ›Großmamachen‹. Was für ein vertrauliches, freundschaftliches Verhältnis!«

»Ja, Sie haben recht. Und sobald er erfahren wird, daß auch mir etwas durch das Testament zufällt, wird er sofort zu mir kommen und um mich werben. Das wollten Sie doch wohl gern wissen.«

»Er wird erst noch werben? Ich dachte, er täte das schon längst.«

»Sie wissen recht gut, daß das nicht der Fall ist«, sagte Polina ärgerlich. »Wo sind Sie denn mit diesem Engländer früher schon zusammengetroffen?« fügte sie nach kurzem Stillschweigen hinzu.

»Das habe ich doch gewußt, daß Sie nach dem sofort fragen würden.« Ich erzählte ihr von meinen früheren Begegnungen mit Mister Astley auf Reisen.

»Er ist schüchtern und liebebedürftig, und natürlich ist er schon in Sie verliebt?«

»Ja, er ist in mich verliebt«, antwortete Polina.

»Und er ist selbstverständlich zehnmal so reich wie der Franzose. Besitzt denn der Franzose wirklich etwas? Ist das nicht sehr zweifelhaft?«

»Nein, zweifelhaft ist das nicht. Er besitzt ein Château. Noch gestern hat der General zu mir mit aller Bestimmtheit davon gesprochen. Genügt Ihnen das?«

»Ich würde an Ihrer Stelle unbedingt den Engländer heiraten.«

»Warum?« fragte Polina.

»Der Franzose ist schöner, aber er hat einen schlechten Charakter; der Engländer dagegen ist nicht nur ein ehrenhafter Mann, sondern auch zehnmal so reich wie der andere«, erklärte ich in entschiedenem Ton.

»Ja, aber dafür ist der Franzose ein Marquis und klüger«, entgegnete sie mit größter Seelenruhe.

»Aber ist das auch sicher?« fragte ich wie vorher.

»Vollständig sicher.«

Polina war über meine Fragen sehr ungehalten, und ich sah, daß sie mich durch den scharfen Ton ihrer Antwort ärgern wollte. Das hielt ich ihr denn auch sofort vor.

»Nun ja, es amüsiert mich wirklich, wie grimmig Sie werden«, entgegnete sie darauf. »Schon allein dafür, daß ich Ihnen erlaube, solche Fragen zu stellen und solche Mutmaßungen zu äußern, müssen Sie einen Preis bezahlen.«

»Ich halte mich in der Tat für berechtigt, Ihnen solche Fragen zu stellen«, antwortete ich ganz ruhig, »namentlich deswegen, weil ich bereit bin, dafür jeden Preis zu zahlen, den Sie verlangen, und mein Leben jetzt für nichts achte.«

Polina lachte.

»Sie haben das letztemal auf dem Schlangenberg zu mir gesagt, Sie seien bereit, sich auf das erste Wort von mir kopf- über hinabzustürzen, und es geht dort, glaube ich, tausend Fuß tief hinunter. Ich werde später einmal dieses Wort aussprechen, lediglich um zu sehen, wie Sie Ihrer Verpflichtung nachkommen, und seien Sie überzeugt, daß ich nicht aus der Rolle fallen werde. Sie sind mir verhaßt, besonders weil ich Ihnen soviel erlaubt habe, und in noch höherem Grade deshalb, weil ich Sie so nötig habe. Aber solange Sie mir nötig sind, darf ich Sie nicht zu Schaden kommen lassen.«

Sie stand auf. Sie hatte in gereiztem Ton gesprochen. In der letzten Zeit schloß sie jedes Gespräch, das sie mit mir führte, mit Ingrimm, Gereiztheit und ernstlichem Zorn.

»Gestatten Sie mir die Frage: was für eine Person ist eigentlich diese Mademoiselle Blanche?« fragte ich. Ich wollte sie nicht fortlassen, ohne einige Auskunft von ihr erhalten zu haben.

»Was für eine Person Mademoiselle Blanche ist, das wissen Sie selbst. Neues hat sich seit Ihrer Abreise weiter nicht begeben. Mademoiselle Blanche wird wahrscheinlich Frau Generalin werden, selbstverständlich nur, wenn sich das Gerücht von dem Tod der Tante bestätigt; denn Mademoiselle Blanche und ihre Mutter und ihr entfernter Vetter, der Marquis, wissen alle sehr genau, daß wir ruiniert sind.«

»Ist denn der General ernstlich in sie verliebt?«

»Das geht uns jetzt nichts an. Hören Sie einmal zu, was ich sagen will, und merken Sie es sich genau: nehmen Sie diese siebenhundert Gulden und spielen Sie damit! Gewinnen Sie mir damit am Roulett, soviel Sie nur können: ich brauche jetzt um jeden Preis Geld!«

Hierauf rief sie die kleine Nadja heran und ging nach dem Kurhaus, wo sie sich an die ganze Gesellschaft der Unsrigen anschloß. Ich meinerseits schlug, nachdenklich und verwundert, den erstbesten Steig nach links ein. Von ihrem Auftrag, zum Roulett zu gehen, fühlte ich mich wie vor den Kopf geschlagen. Es ging mir seltsam: ich hatte doch so vieles, worüber ich hätte nachdenken können und sollen; aber dennoch vertiefte ich mich vollständig in eine kritische Prüfung meiner Empfindungen gegenüber Polina. Wahrlich, während meiner vierzehntägigen Abwesenheit war mir leichter ums Herz gewesen als jetzt am Tag meiner Rückkehr, obgleich ich auf der Reise mich wie ein Unsinniger nach ihr gesehnt hatte, wie ein Verrückter umhergerannt war und sogar im Schlaf sie alle Augenblicke vor mir gesehen hatte. Als ich einmal im Waggon eingeschlafen war (es war in der Schweiz), fing ich laut mit Polina zu sprechen an, zur großen Erheiterung aller Mitreisenden. Und jetzt legte ich mir noch einmal die Frage vor: »Liebe ich sie?« Und auch diesmal wieder verstand ich nicht auf diese Frage zu antworten, das heißt, richtiger gesagt, ich antwortete mir zum hundertsten Male wieder, daß ich von Haß gegen sie erfüllt sei. Ja, ich haßte sie. Es gab Augenblicke (namentlich jedesmal am Schluß unserer Gespräche), wo ich mein halbes Leben dafür gegeben hätte, sie zu erwürgen. Ich schwöre es: wenn ich ihr hätte ein spitzes Messer langsam in die Brust bohren können, so hätte ich, wie ich glaube, nach diesem Messer mit Wonne gegriffen. Und trotzdem schwöre ich bei allem, was heilig ist: hätte sie auf dem Schlangenberg, auf jenem Aussichtspunkt, wirklich zu mir gesagt: »Stürzen Sie sich hinab!«, so würde ich mich sogleich hinabgestürzt haben, und sogar mit Wonne; das weiß ich sicher. Aber nun mußte, so oder so, die Entscheidung kommen. Polina hat für all dies ein überaus feines Verständnis, und der Gedanke, daß ich mit vollkommener Klarheit und Richtigkeit ihre ganze Unerreichbarkeit für mich, die ganze Unmöglichkeit der Erfüllung meiner Träumereien einsehe, dieser Gedanke gewährt ihr (davon bin ich überzeugt) einen außerordentlichen Genuß; könnte sie, eine so vorsichtige, kluge Person, denn sonst mit mir in so familiärer, offenherziger Art verkehren? Mir scheint, als habe sie von mir bis jetzt eine ähnliche Anschauung gehabt wie jene Kaiserin des Altertums von ihrem Sklaven, in dessen Gegenwart sie sich entkleidete, weil sie ihn nicht für einen Menschen hielt. Ja, sie hat mich viele, viele Male nicht als einen Menschen angesehen.

Aber nun hatte sie mir einen Auftrag erteilt: am Roulett zu gewinnen, zu gewinnen um jeden Preis. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, zu welchem Zweck und wie schnell dieser Geldgewinn nötig sei, und was für neue Pläne in diesem fortwährend spekulierenden Kopf entstanden sein mochten. Außerdem hatte sich in diesen vierzehn Tagen offenbar eine Unmenge neuer Ereignisse zugetragen, von denen ich noch keine Ahnung hatte. All dies mußte ich enträtseln, in all dies klaren Einblick gewinnen, und zwar so schnell wie möglich. Aber vorläufig, im Augenblick hatte ich dazu keine Zeit: ich mußte zum Roulett.

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