Fünftes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sie war ungewöhnlich nachdenklich; aber unmittelbar nachdem wir vom Tisch aufgestanden waren, forderte sie mich auf, sie auf einem Spaziergang zu begleiten. Wir nahmen die Kinder mit und begaben uns in den Park zur Fontäne.

Da ich mich in besonders erregter Stimmung befand, so platzte ich dumm und plump mit der Frage heraus, warum denn unser Marquis des Grieux, der kleine Franzose, sie jetzt auf ihren Ausgängen gar nicht mehr begleite, ja ganze Tage lang nicht mir ihr spreche.

»Weil er ein Lump ist«, war ihre sonderbare Antwort.

Ich hätte noch nie von ihr eine solche Äußerung über de Grieux gehört und schwieg dazu, weil ich mich davor fürchtete, den Grund dieser Gereiztheit zu erfahren.

»Haben Sie wohl bemerkt«, fragte ich, »daß er sich heute mit dem General nicht in gutem Einvernehmen befand?«

»Sie möchten gern wissen, was vorliegt«, erwiderte sie in trockenem, gereiztem Ton. »Sie wissen, daß der General bei ihm tief in Schulden steckt; das ganze Gut ist ihm verpfändet, und wenn die alte Tante nicht stirbt, so gelangt der Franzose in kürzester Zeit in den Besitz alles dessen, was ihm verpfändet ist.«

»Also ist das wirklich wahr, daß alles verpfändet ist? Ich hatte so etwas gehört, wußte aber nicht, daß es sich dabei um das ganze Besitztum handelt.«

»Allerdings.«

»Unter diesen Umständen ist es dann wohl mit Mademoiselle Blanche nichts«, bemerkte ich. »Dann wird sie nicht Generalin werden. Wissen Sie, ich glaube, der General ist so verliebt, daß er sich am Ende gar erschießt, wenn Mademoiselle Blanche ihm den Laufpaß gibt. In seinen Jahren ist es gefährlich, sich so zu verlieben.«

»Ich fürchte selbst, daß mit ihm noch etwas passiert«, erwiderte Polina Alexandrowna nachdenklich.

»Und eigentlich«, rief ich, »ist es doch prachtvoll: einen handgreiflicheren Beweis dafür kann es ja gar nicht geben, daß sie nur das Geld heiraten wollte! Nicht einmal der Anstand ist hier gewahrt worden; alles ist ganz ungeniert vorgegangen. Erstaunlich! Aber was die Tante betrifft, was kann komischer und gemeiner sein als ein Telegramm nach dem anderen abzusenden und sich zu erkundigen: ›Ist sie gestorben, ist sie gestorben?‹ Wie gelallt Ihnen das, Polina Alexandrowna?«

»Das ist ja alles dummes Zeug«, unterbrach sie mich verdrossen. »Ich wundere mich im Gegenteil darüber, daß Sie in so heiterer Stimmung sind. Worüber freuen Sie sich denn so? Etwa darüber, daß Sie mein Geld verspielt haben?«

»Warum haben Sie es mir zum Verspielen gegeben? Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich für andere nicht spielen kann, und am allerwenigsten für Sie. Ich gehorche jedem Befehl, den Sie mir erteilen; aber das Resultat hängt nicht von mir ab. Ich habe Sie ja gewarnt und darauf hingewiesen, daß dabei nichts Gutes herauskommen werde. Sagen Sie, sind Sie sehr niedergeschlagen, weil Sie soviel Geld verloren haben? Wozu brauchen Sie denn so viel?«

»Wozu diese Fragen?«

»Aber Sie haben mir doch selbst versprochen, mir Aufklärung zu geben… Wissen Sie was: ich bin fest überzeugt, wenn ich für mich selbst zu spielen anfange (und ich habe zwölf Friedrichsdor), so werde ich gewinnen. Dann, bitte, nehmen Sie von mir an, soviel Sie brauchen!«

Sie machte eine verächtliche Miene.

»Nehmen Sie mir diesen Vorschlag nicht übel!« fuhr ich fort. »Ich bin völlig durchdrungen von dem Bewußtsein, daß ich in Ihren Augen eine Null bin; daher können Sie ruhig von mir Geld annehmen. Ein Geschenk von mir kann Sie nicht beleidigen. Überdies habe ich Ihnen ja Ihr Geld ver- spielt.«

Sie richtete einen schnellen Blick auf mich, und da sie meinen gereizten, sarkastischen Gesichtsausdruck bemerkte, brach sie das Gespräch über diesen Punkt wieder ab.

»An meinen Umständen kann Sie nichts interessieren. Wenn Sie es wissen wollen: ich habe einfach Schulden. Ich habe mir Geld geliehen und möchte es gern zurückgeben. Da kam ich auf den seltsamen, sinnlosen Gedanken, ich würde hier am Spieltisch sicher gewinnen. Woher ich das dachte, das begreife ich selbst nicht; aber ich glaubte es fest. Wer weiß, vielleicht glaubte ich es deshalb, weil mir keine andere Chance blieb.«

»Oder weil bei Ihnen das Bedürfnis zu gewinnen schon zu groß war. Es ist dieselbe Geschichte wie mit dem Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift. Sie werden zugeben: wenn er nicht nahe am Ertrinken wäre, würde er den Strohhalm nicht für einen Baumast halten.«

Polina war erstaunt.

»Aber sie selbst setzen doch auch Ihre Hoffnung darauf?« fragte sie. »Vor vierzehn Tagen haben Sie mir doch selbst lang und breit auseinandergesetzt, Sie seien vollständig davon überzeugt, hier am Roulett zu gewinnen, und haben mich inständig gebeten, ich möchte Sie nicht für einen Irrsinnigen ansehen. Oder haben Sie damals nur gescherzt? Aber ich erinnere mich, Sie sprachen so ernsthaft, daß es ganz unmöglich war, es für Scherz zu halten.«

»Das ist wahr«, antwortete ich nachdenklich. »Ich bin bis auf diesen Augenblick völlig davon überzeugt, daß ich gewinnen werde. Ich will Ihnen sogar gestehen, Sie haben mich soeben veranlaßt, mir die Frage vorzulegen: wie geht es zu, daß mein heutiger sinnloser, häßlicher Verlust in mir keinen Zweifel hat rege werden lassen? Denn trotz alledem bin ich vollständig überzeugt, daß, sowie ich anfange für mich selbst zu spielen, ich unfehlbar gewinnen werde.«

»Warum sind Sie denn davon so fest überzeugt?«

»Die Wahrheit zu sagen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich gewinnen muß, daß dies auch für mich die einzige Rettung ist. Vielleicht ist das für mich der Grund zu glauben, daß mir ein guter Erfolg sicher ist.«

»Also ist auch bei Ihnen die Notlage sehr arg, wenn Sie eine so fanatische Überzeugung hegen?«

»Ich möchte wetten, Sie zweifeln daran, daß ich für eine ernstliche Notlage ein Empfindungsvermögen habe?«

»Das ist mir ganz gleich«, antwortete Polina ruhig und in gleichgültigem Ton. »Wenn Sie es hören wollen: ja, ich zweifle, daß sie jemals eine ernsthafte Not gequält hat. Auch Sie mögen dies und das haben, was Sie quält, aber nicht ernsthaft. Sie sind ein unordentlicher, haltloser Mensch. Wozu haben Sie Geld nötig? Unter all den Gründen, die Sie mir damals anführten, habe ich keinen einzigen ernsthaften gefunden.«

»Apropos«, unterbrach ich sie, »Sie sagten, Sie müßten eine Schuld zurückzahlen. Nun gut, also eine Schuld. Wem sind Sie denn schuldig? Dem Franzosen?«

»Was sind das für Fragen? Sie sind heute besonders dreist. Sie sind doch wohl nicht betrunken?«

»Sie wissen, daß ich mir erlaube, alles zu sagen, was mir in den Sinn kommt, und mitunter sehr offenherzig frage. Ich wiederhole es Ihnen, ich bin Ihr Sklave, und vor einem Sklaven schämt man sich nicht, und ein Sklave kann einen nicht beleidigen.«

»Das ist lauter dummes Zeug! Ihr Gerede vom Sklaven ist mir zuwider.«

»Beachten Sie, daß ich von meiner Sklaverei nicht deshalb spreche, weil ich den Wunsch hätte, Ihr Sklave zu sein; sondern ich spreche ganz einfach von einer Tatsache, die gar nicht von meinem Willen abhängt.«

»Sagen Sie doch geradezu: wozu brauchen Sie Geld?«

»Wozu möchten Sie das wissen?« fragte ich zurück.

»Wie Sie wollen«, antwortete sie mit einer stolzen Kopfbewegung.

»Das Gerede vom Sklaven ist Ihnen zuwider; aber die Sklaverei verlangen Sie: ›Antworten, ohne zu räsonieren!‹ Nun gut, meinetwegen! Wozu ich Geld brauche, fragen Sie? Wozu? Nun, für Geld ist doch alles zu haben.«

»Das weiß ich recht wohl; aber wenn jemand es sich nur so ganz im allgemeinen wünscht, so wird er nicht in solchen Wahnsinn hineingeraten! Sie sind ja ebenfalls schon bis zur Raserei gekommen, bis zum Fatalismus. Da steckt etwas dahinter, irgendein besonderer Zweck. Sprechen Sie ohne Ausflüchte; ich verlange das von Ihnen!«

Sie schien zornig zu werden, und ich war sehr zufrieden damit, daß sie mich in so erregter Art ausfragte.

»Natürlich habe ich dabei einen Zweck«, sagte ich, »aber ich weiß nicht näher zu erklären, worin er besteht. Ich kann weiter nichts sagen, als daß ich mit Geld auch in Ihren Augen ein anderer Mensch werde und kein Sklave mehr bleibe.«

»Wie können Sie das erreichen?«

»Wie ich das erreichen kann? Sie können sich nicht einmal vorstellen, daß ich das erreichen kann, von Ihnen für etwas anderes als für einen Sklaven angesehen zu werden? Sehen Sie, eben das kann ich nicht leiden, diese Verwunderung und Verständnislosigkeit!«

»Sie sagten, diese Sklaverei sei für Sie ein Genuß. Und das habe ich auch selbst geglaubt.«

»Sie haben das geglaubt!« rief ich mit einem eigenartigen Wonnegefühl. »Ach, wie hübsch ist diese Naivität von Ihrer Seite! Ja, ja, Ihr Sklave zu sein, das ist mir ein Genuß. Es liegt wirklich ein Genuß darin, auf der untersten Stufe der Erniedrigung und Herabwürdigung zu stehen!« fuhr ich in meiner aufgeregten Rederei fort. »Wer weiß, vielleicht gewährt auch die Knute einen Genuß, wenn sie auf den Rücken niedersaust und das Fleisch in Fetzen reißt … Aber möglicherweise beabsichtige ich auch andere Genüsse kennenzulernen. Eben erst hat mir der General für die siebenhundert Rubel jährlich, die ich vielleicht gar nicht von ihm bekommen werde, in Ihrer Gegenwart bei Tisch Vorhaltungen gemacht. Der Marquis de Grieux starrt mich mit emporgezogenen Augenbrauen an und bemerkt mich gleichzeitig nicht einmal. Vielleicht hege ich meinerseits den leidenschaftlichen Wunsch, den Marquis de Grieux in Ihrer Gegenwart bei der Nase zu nehmen!«

»Das sind Reden eines unreifen jungen Menschen. In jeder Lebenslage kann man sich eine würdige Stellung schaffen. Wenn das einen Kampf kostet, so erniedrigt ein solcher Kampf den Menschen nicht, sondern er dient sogar dazu, ihn zu erhöhen.«

»Ganz wie die Vorschriften im Schreibheft! Sie nehmen an. ich verstände vielleicht nur nicht, mir eine würdige Stellung zu schaffen, das heißt, es möge ja immerhin sein, daß ich ein Mensch sei, der eine gewisse Würde besitze; aber mir eine würdige Stellung zu schaffen, das verstände ich nicht. Sie sehen ein, daß es so sein kann? Aber alle Russen sind von dieser Art, und wissen Sie, warum? Weil die Russen zu reich und vielseitig begabt sind, um für ihr Benehmen schnell die anständige Form zu finden. Hier kommt alles auf die Form an. Wir Russen sind größtenteils so reich begabt, daß wir, um die anständige Form zu treffen, Genialität nötig hätten. Aber an Genialität fehlt es bei uns freilich sehr oft, weil die überhaupt nur selten vorkommt. Nur bei den Franzosen und vielleicht auch bei einigen anderen europäischen Völkern hat sich die Form so bestimmt herausgebildet, daß man höchst würdig aussehen und dabei der unwürdigste Mensch sein kann. Deshalb wird bei ihnen auf die Form auch so viel Wert gelegt. Der Franzose erträgt eine Beleidigung, eine wirkliche, ernste Beleidigung, ohne die Stirn kraus zu ziehen; aber einen Nasenstüber läßt er sich um keinen Preis gefallen, weil das eine Verletzung der konventionellen, für alle Zeit festgesetzten Form des Auslands ist. Daher sind auch unsere Damen in die Franzosen so vernarrt, weil diese so gute Formen haben. Oder richtiger: zu haben scheinen; denn meiner Ansicht nach besitzt der Franzose eigentlich gar keine Form, sondern ist lediglich ein Hahn, le coq gaulois. Indessen verstehe ich davon nichts; ich bin kein Frauenzimmer. Vielleicht sind die Hähne wirklich schön. Aber ich bin da in ein törichtes Schwatzen hineingeraten, und Sie unterbrechen mich auch nicht. Unterbrechen Sie mich nur öfter, wenn ich mit Ihnen rede; denn ich neige dazu, alles herauszusagen, alles, alles. Es kommt mir dabei all und jede Form abhanden. Ich gebe sogar zu, daß ich nicht nur keine Form besitze, sondern auch keinerlei wertvolle Eigenschaften. Das spreche ich Ihnen gegenüber offen aus. Es ist mir an derartigen Eigenschaften auch gar nichts gelegen. Jetzt ist in meinem Innern alles ins Stocken geraten. Sie wissen selbst, woher. Ich habe keinen einzigen verständigen Gedanken im Kopf. Ich weiß schon seit langer Zeit nicht mehr, was in der Welt passiert, in Rußland oder hier. Ich bin durch Dresden hindurchgefahren und kann mich nicht erinnern, wie diese Stadt aussieht. Sie wissen selbst, was mich so vollständig absorbiert hat. Da ich gar keine Hoffnung habe und in Ihren Augen eine Null bin, so rede ich offen: ich sehe überall nur Sie, und alles übrige ist mir gleichgültig. Warum ich Sie liebe, und wie das so gekommen ist – ich weiß es nicht. Wissen Sie wohl, daß Sie vielleicht überhaupt nicht gut sind? Denken Sie nur an: ich weiß gar nicht, so Sie gut sind oder nicht, nicht einmal, ob Sie schön von Gesicht sind. Ihr Herz ist wahrscheinlich nicht gut und Ihre Denkweise nicht edel; das ist gut möglich.«

»Vielleicht spekulieren Sie eben deswegen darauf, mich mit Geld zu erkaufen«, sagte sie, »weil Sie bei mir keine edle Gesinnung voraussetzen.«

»Wann habe ich darauf spekuliert, Sie mit Geld zu erkaufen?« rief ich.

»Sie sind aus dem Konzept gefallen und haben mehr gesagt, als Sie eigentlich sagen wollten. Wenn Sie nicht mich selbst zu erkaufen hofften, so dachten Sie doch, meine Achtung sich durch Geld zu erwerben.«

»Nicht doch, es ist ganz und gar nicht so. Ich habe Ihnen gesagt, daß es mir schwerfällt, mich klar auszudrücken. Ihre Anwesenheit nimmt mir die Denkkraft. Seien Sie über mein Geschwätz nicht böse! Sie sehen ja wohl, warum man mir nicht zürnen kann: ich bin eben ein Wahnsinniger. Übrigens ist mir alles gleich; meinetwegen mögen Sie mir auch zürnen. Wenn ich bei mir oben m meinem Zimmerchen bin und mich nur an das Rascheln Ihres Kleides erinnere und mir das vorstelle, dann möchte ich mir die Hände zerbeißen. Und warum wollen Sie mir böse sein? Weil ich mich als Ihren Sklaven bezeichne? Nutzen Sie meine Dienste aus; ja, tun Sie das! Wissen Sie auch, daß ich Sie später einmal töten werde? Ich werde Sie töten, nicht etwa weil meine Liebe zu Ihnen ein Ende genommen hätte oder ich eifersüchtig wäre, sondern ohne solchen Grund, einfach weil ich manchmal einen Drang verspüre, Sie aufzufressen. Sie lachen …«

»Ich lache durchaus nicht«, sagte sie zornig. »Ich befehle Ihnen zu schweigen.«

Sie hielt inne, da sie vor Zorn kaum Atem holen konnte. Wahrhaftig, ich weiß nicht, ob sie schön von Gestalt war; aber ich sah sie zu gern, wenn sie so vor mir stand und ihr die Sprache versagte, und darum machte ich mir auch oft die Freude, sie zum Zorn zu reizen. Vielleicht hatte sie das bemerkt und stellte sich absichtlich zornig. Ich sprach ihr diese Vermutung aus.

»Was für ein garstiges Gerede!« rief sie mit dem Ausdruck des Widerwillens.

»Mir ist alles gleich«, fuhr ich fort. »Aber noch eins: wissen Sie, daß es gefährlich ist, wenn wir beide allein zusammen gehen? Es ist in mir oft ein unwiderstehliches Verlangen aufgestiegen, Sie zu prügeln, zu verstümmeln, zu erwürgen.

Und was glauben Sie, wird es nicht dahin kommen? Sie versetzen mich in eine fieberhafte Raserei. Meinen Sie, daß ich mich vor einem öffentlichen Skandal fürchte? Oder vor Ihrem Zorn? Was kümmert mich Ihr Zorn? Ich liebe Sie ohne Hoffnung und weiß, daß ich Sie nach einer solchen Tat noch tausendmal mehr lieben werde. Wenn ich Sie einmal töte, so werde ich ja auch mich selbst töten müssen; aber ich werde den Selbstmord möglichst lange hinausschieben, um den unerträglichen Schmerz, daß Sie nicht mehr da sind, auszukosten. Ich will Ihnen etwas sagen, was kaum zu glauben ist: ich liebe Sie mit jedem Tag mehr, und doch ist das beinah unmöglich. Und bei alledem soll ich nicht Fatalist sein? Erinnern Sie sich doch, vorgestern auf dem Schlangenberg flüsterte ich, von Ihnen herausgefordert, Ihnen zu: >Sagen Sie ein Wort, und ich springe in diesen Abgrund!< Hätten Sie dieses Wort gesprochen, so wäre ich damals hinuntergesprungen. Glauben Sie etwa nicht, daß ich hinuntergesprungen wäre?«

»Was für ein törichtes Geschwätz!« rief sie.

»Ob es töricht oder klug ist, das ist mir ganz gleich!« rief ich.

»Ich weiß, daß ich in Ihrer Gegenwart reden muß, immer reden und reden, und so rede ich denn. In Ihrer Gegenwart verliere ich allen Ehrgeiz, und alles wird mir gleichgültig.«

»Weshalb hätte ich Sie veranlassen sollen, vom Schlangenberg hinunterzuspringen?« fragte sie in einem trockenen Ton, der besonders beleidigend klang. »Davon hätte ich doch nicht den geringsten Nutzen gehabt.«

»Vorzüglich!« rief ich. »Sie bedienen sich absichtlich dieses vorzüglichen Ausdrucks ›nicht den geringsten Nutzen‹, um mich zu demütigen. Ich durchschaue Sie vollständig. ›Nicht den geringsten Nutzen‹, sagen Sie? Aber ein Vergnügen hat immer einen Nutzen, und die Ausübung einer wilden, unbegrenzten Gewalt (und wär’s auch nur über eine Fliege), das ist in seiner Art doch auch ein Genuß. Der Mensch ist von Natur ein Despot und liebt es, andere Wesen zu quälen. Sie lieben es im höchsten Grade.«

Ich erinnere mich, sie sah mich lange und unverwandt an. Wahrscheinlich drückte mein Gesicht in diesem Augenblick alle meine törichten, unsinnigen Gedanken aus. Mein Gedächtnis sagt mir jetzt, daß unser Gespräch damals tatsächlich fast Wort für Wort so stattfand, wie ich es hier aufgezeichnet habe. Meine Augen waren mit Blut unterlaufen. An den Rändern meiner Lippen hatte sich Schaum gebildet. Was den Schlangenberg betrifft, so schwöre ich auf meine Ehre, auch jetzt noch: wenn sie mir damals befohlen hätte, mich hinabzustürzen, so hätte ich es getan! Auch wenn sie es nur im Scherz gesagt hätte oder aus Geringschätzung und Verachtung, auch dann wäre ich hinuntergesprungen!

»Nein, was hätte es für Zweck gehabt? Daß Sie es getan hätten, glaube ich Ihnen«, sagte sie, aber in einer Art, wie nur sie manchmal zu sprechen versteht, mit solcher Verachtung und Bosheit und mit solchem Hochmut, daß ich, bei Gott, sie in diesem Augenblick hätte totschlagen können.

Sie schwebte in Gefahr. Auch hierin hatte ich sie nicht belogen, als ich es ihr sagte.

»Sie sind kein Feigling?« fragte sie mich plötzlich.

»Ich weiß es nicht, vielleicht bin ich einer. Ich weiß es nicht … ich habe lange nicht darüber nachgedacht.«

»Wenn ich zu Ihnen sagte: ›Töten Sie diesen Menschen!‹ – würden Sie ihn töten?«

»Wen?«

»Denjenigen, den ich getötet sehen möchte.«

»Den Franzosen?«

»Fragen Sie nicht, sondern antworten Sie! Denjenigen, den ich Ihnen bezeichnen werde. Ich will wissen, ob Sie soeben im Ernst gesprochen haben.«

Sie wartete mit solchem Ernst und mit solcher Ungeduld auf meine Antwort, daß mir ganz sonderbar zumute wurde.

»Aber werden Sie mir nun endlich sagen, was hier eigentlich vorgeht?« rief ich. »Fürchten Sie sich etwa vor mir? Daß hier ganz tolle Zustände sind, sehe ich schon allein. Sie sind die Stieftochter eines ruinierten, verrückten Menschen, der von einer Leidenschaft für diese Teufelin, diese Mademoiselle Blanche, befallen ist; dann ist da noch dieser Franzose mit seiner geheimnisvollen Macht über Sie; und nun legen Sie mir mit solchem Ernst eine solche Frage vor! Ich muß doch wenigstens wissen, wie das zusammenhängt; sonst werde ich hier verrückt und richte irgend etwas an. Schämen Sie sich etwa, mich Ihres Vertrauens zu würdigen? Können Sie sich denn vor mir schämen?«

»Ich rede mit Ihnen von etwas ganz anderem. Ich habe Sie etwas gefragt und warte auf die Antwort.«

»Natürlich werde ich ihn töten!« rief ich. »Jeden, den Sie mich töten heißen! Aber können Sie denn … werden Sie mir denn das befehlen?«

»Denken Sie etwa, Sie werden mir leid tun? Ich werde es befehlen und selbst im Hintergrund bleiben. Werden Sie das ertragen? Nein, wie sollten Sie! Sie werden vielleicht auf meinen Befehl den Menschen töten; aber dann werden Sie darangehen, auch mich zu töten, dafür, daß ich gewagt habe, Ihnen einen solchen Auftrag zu geben.«

Bei diesen Worten hatte ich eine Empfindung, als erhielte ich einen heftigen Schlag gegen den Kopf. Allerdings hielt ich auch damals ihre Frage halb und halb für einen Scherz, für ein Auf-die-Probe-Stellen; aber sie hatte doch gar zu ernsthaft gesprochen. Es frappierte mich doch, daß sie sich in dieser Weise aussprach, daß sie ein solches Recht über mich in Anspruch nahm, daß sie sieh eine solche Gewalt über mich anmaßte und so geradezu sagte: »Geh ins Verderben, und ich bleibe im Hintergrund!« In diesen Worten lag eine zynische Offenheit, die nach meiner Empfindung denn doch zu weit ging. Wofür mußte sie mich ansehen, wenn sie so zu mir redete? Das war ja schlimmer als die unwürdigste Sklaverei. Und wie sinnlos und absurd auch unser ganzes Gespräch war, so zitterte mir doch das Herz im Leibe.

Auf einmal ling sie an zu lachen. Wir satten in diesem Augenblick auf einer Bank dicht bei dem Platz, wo die Equipagen hielten und die Leute ausstiegen, um die Allee vor dem Kurhaus entlang zu gehen; die Kinder spielten vor unseren Augen.

»Sehen Sie diese dicke Baronin?« rief sie. »Das ist die Baronin Wurmerhelm. Sie ist erst seit drei Tagen hier. Und sehen Sie da ihren Mann? Der lange, hagere Preuße mit dem Stock in der Hand. Erinnern Sie sich noch, wie er uns vorgestern von unten bis oben musterte? Gehen Sie sogleich hin, treten Sie zu der Baronin heran, nehmen Sie den Hut ab, und sagen Sie zu ihr etwas auf französisch!«

»Wozu?«

»Sie haben neulich geschworen, vom Schlangenberg hinunterzuspringen, und jetzt haben Sie geschworen, Sie seien bereit, einen Menschen zu töten, wenn ich es befehle. Statt all solcher Mordtaten und Trauerspiele will ich nur ein Amüsement haben. Machen Sie keine Ausflüchte, und gehen Sie hin! Ich möchte gern sehen, wie der Baron Sie mit seinem Stock durchprügelt.«

»Sie wollen mich auf die Probe stellen; Sie meinen, ich werde es nicht tun?«

»Ja, ich will Sie auf die Probe stellen. Gehen Sie hin; ich will es so!«

»Wenn Sie es wollen, werde ich hingehen, wiewohl es eine tolle Kaprice ist. Nur eins: wird nicht der General Unannehmlichkeiten davon haben, und durch ihn auch Sie? Weiß Gott, ich denke dabei nicht an mich, sondern nur an Sie, nun und auch an den General. Und was ist das für ein Einfall, daß ich hingehen soll und eine Dame beleidigen!«

»Nein, Sie sind nur ein Schwätzer, wie ich sehe«, erwiderte sie verächtlich. »Ihre Augen sehen ja seit einer Weile so blutunterlaufen aus; aber das kommt vielleicht nur daher, daß Sie bei Tisch viel Wein getrunken haben. Als ob ich nicht selbst wüßte, daß eine solche Handlung dumm und gemein ist, und daß der General sich ärgern wird. Aber ich will einfach etwas zum Lachen haben. Ich will, und damit basta! Und wozu brauchen Sie die Dame erst noch zu beleidigen? Sie werden schon vorher Ihre Prügel bekommen.«

Ich drehte mich um und ging schweigend hin, um ihren Auftrag zu erfüllen. Allerdings tat ich es aus Dummheit und weil ich mir nicht herauszuhelfen wußte; aber (das ist mir noch deutlich in der Erinnerung) als ich mich der Baronin näherte, da fühlte ich, wie mich etwas aufstachelte, eine Art von schülerhaftem Mutwillen. Auch war ich in sehr gereizter Stimmung, wie betrunken.

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Sechstes Kapitel

Sechstes Kapitel

Nun sind schon zwei Tage nach jenem dummen Streich vergangen. Und wieviel Geschrei und Lärm und Gerede und Skandal ist die Folge davon gewesen! Und wie häßlich war auch die ganze Geschichte, wie konfus, wie dumm und wie gemein; und ich bin an allem schuld. Manchmal kommt einem übrigens die Sache lächerlich vor, mir wenigstens. Ich weiß mir nicht Rechenschaft darüber zu geben, was mit mir eigentlich vorgegangen ist: ob ich mich wirklich in einem Zustand der Raserei befinde, oder ob ich nur aus dem Geleise geraten bin und Tollheiten treibe, bis man mir das Handwerk legt und mich bindet. Manchmal scheint es mir, daß ich irrsinnig bin; zu andern Zeiten habe ich die Vorstellung, ich sei dem Kindesalter und der Schulbank noch nicht lange entwachsen und beginge nur Schülerungezogenheiten.

Und das bewirkt alles Polina, alles sie! Wenn sie nicht wäre, würde ich mich wohl nicht so schülerhaft benehmen. Wer weiß, vielleicht habe ich das alles aus Verzweiflung getan (mag auch diese Anschauung noch so dumm sein). Und ich begreife nicht, begreife schlechterdings nicht, was an ihr Gutes ist! Schön ist sie übrigens, schön ist sie; schön muß sie wohl sein. Sie bringt ja auch andere Leute als mich um den Verstand. Sie ist hochgewachsen und wohlgebaut. Nur sehr schlank. Es kommt mir vor, als könnte man ihre ganze Gestalt zusammcnknoten oder doppelt zusammenlegen. Ihre Fußspur ist schmal und lang und hat für mich etwas Peinigendes. Ihr Haar hat einen rötlichen Schimmer. Ihre Augen sind richtige Katzenaugen; aber wie stolz und hochmütig versteht sie mit ihnen zu blicken! Vor vier Monaten, als ich eben meine Stelle angetreten hatte, führte sie einmal abends im Saal mit de Grieux ein langes, hitzig werdendes Gespräch. Und dabei sah sie ihn mit einem solchen Blick an, mit einem solchen Blick, daß ich nachher, als ich auf mein Zimmer gegangen war, um mich schlafen zu legen, mir einbildete, sie hätte ihm eine Ohrfeige gegeben und stände nun vor ihm und sähe ihn an. Von diesem Abend an bin ich in sie verliebt gewesen.

Aber zur Sache!

Ich ging auf einem schmalen Sieig nach der Allee, stellte mich mitten in der Allee hin und erwartete die Baronin und den Baron. Als sie noch fünf Schritte von mir entfernt waren, nahm ich den Hut ab und verbeugte mich.

Die Baronin trug, wie ich mich erinnere, ein seidenes Kleid von gewaltigem Umfang und hellgrauer Farbe, mit Falbeln, Krinoline und Schleppe. Sie war klein von Gestalt, aber außerordentlich dick und hatte ein furchtbar dickes, herabhängendes Kinn, so daß der Hals gar nicht zu sehen war. Ihr Gesicht war dunkelrot, die Augen klein, mit einem boshaften, impertinenten Ausdruck. Sie ging einher, als ob sie allen damit eine Ehre antäte. Der Baron war ein hagerer, hochgewachsener Mensch. Sein Gesicht war schief, wie das bei den Deutschen oft der Fall ist, und mit tausend kleinen Runzeln bedeckt; er trug eine Brille und mochte fünfundvierzig Jahre alt sein. Die Beine fingen bei ihm fast unmittelbar an der Brust an; das liegt in der Rasse. Er ging stolz wie ein Pfau, aber etwas schwerfällig. Der hammelartige Ausdruck seines Gesichtes vertrat in seiner Weise den Ausdruck ernster Denkarbeit.

All diese Wahrnehmungen drängten sich für mich in einen Zeitraum von drei Sekunden zusammen.

Meine Verbeugung und der Hut, den ich in der Hand hielt, zogen anfangs kaum ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nur zog der Baron die Augenbrauen ein wenig zusammen. Die Baronin segelte gerade auf mich zu.

»Madame la baronne«, sagte ich absichtlich sehr laut, indem ich jedes Wort besonders deutlich aussprach, »j’ai l’honneur d’être votre esclave.«

Darauf verbeugte ich mich, setzte den Hut wieder auf und ging an dem Baron vorüber, wobei ich höflich das Gesicht zu ihm hinwandte und lächelte.

Den Hut abzunehmen hatte sie mir befohlen; aber mich zu verbeugen und mich schülermäßig zu benehmen, das war mein eigener Einfall. Weiß der Himmel, was mich dazu trieb. Mir war, als flöge ich von einem Berg hinab.

»Nanu!« rief oder, richtiger gesagt, krächzte der Baron, indem er sich mit zorniger Verwunderung nach mir umdrehte.

Ich wandte mich ebenfalls um und blieb in respektvoll wartender Haltung stehen, indem ich ihn fortwährend anblickte und lächelte. Er war offenbar völlig perplex und zog die Augenbrauen so hoch hinauf, wie es nur irgend ging. Sein Gesicht wurde immer grimmiger. Auch die Baronin drehte sich nach mir um und musterte mich ebenfalls mit zornigem Erstaunen. Manche Passanten blickten nach uns hin; einige blieben sogar stehen.

»Nanu!« krächzte der Baron noch einmal mit verdoppelter Energie und verdoppeltem Zorn.

»Jawohl!« sagte ich auf deutsch. Ich sprach die beiden Silben sehr gedehnt und blickte ihm dabei gerade in die Augen.

»Sind Sie rasend?« rief er. Er schwang seinen Stock, schien jedoch gleichzeitig ein wenig den Mut zu verlieren. Vielleicht verwirrte ihn mein Kostüm. Ich war sehr anständig, sogar elegant gekleidet, wie jemand, der durchaus zur besten Gesellschaft gehört.

»Jawo-o-ohl!« schrie ich plötzlich aus voller Kehle, indem ich das o langzog, wie es die Berliner tun, die im Gespräch alle Augenblicke den Ausdruck »jawohl« gebrauchen und dabei den Vokal o zum Ausdruck verschiedener Nuancen der Gedanken und Empfindungen mehr oder weniger in die Länge, ziehen.

Der Baron und die Baronin wandten sich schnell um und entfernten sich, vor Schreck beinahe laufend, von mir. Einige aus dem Publikum sprachen miteinander über den Vorfall; andere sahen mich erstaunt an. Aber ich erinnere mich nicht genau daran.

Ich machte kehrt und ging in meinem gewöhnlichen Schritt auf Polina Alexandrowna zu. Aber als ich noch ungefähr hundert Schritte von ihrer Bank entfernt war, sah ich, daß sie aufstand und mit den Kindern die Richtung nach dem Hotel einschlug.

Ich holte sie an den Stufen beim Portal ein. »Ich habe es getan… ich habe die Dummheit begangen«, sagte ich, sobald ich mich neben ihr befand.

»Nun schön! Sehen Sie jetzt zu, wie Sie aus der Geschichte herauskommen!« antwortete sie, ohne mich auch nur anzusehen, ging hinein und die Treppe hinauf.

Diesen ganzen Abend wanderte ich im Park umher. Den Park und dann einen Wald durchschreitend, gelangte ich sogar in ein anderes Fürstentum. In einem Bauernhaus aß ich einen Eierkuchen und trank Wein dazu; für dieses idyllische Mahl nahm man mir ganze anderthalb Taler ab.

Erst um elf Uhr kehrte ich nach Hause zurück. Ich wurde sogleich zum General gerufen.

Die Unsrigen haben im Hotel vier Zimmer belegt. Das erste, große, dient als Salon, und es steht ein Flügel darin. Daneben liegt ein gleichfalls großes Zimmer, das Wohnzimmer des Generals. Hier erwartete er mich; er stand in sehr großartiger Pose mitten im Zimmer. De Grieux saß, halb liegend, auf dem Sofa.

»Mein Herr, gestatten Sie die Frage, was Sie da angerichtet haben«, begann der General, zu mir gewendet.

»Es wäre mir lieb, General, wenn Sie gleich zur Sache kämen«, antwortete ich. »Sie wollen wahrscheinlich von meinem heutigen Renkontre mit einem Deutsehen sprechen?«

»Mit einem Deutschen?! Dieser Deutsche ist der Baron Wurmerhelm und eine hochangesehene Persönlichkeit! Sie haben sich gegen ihn und die Baronin ungezogen benommen.«

»Ganz und gar nicht.«

»Sie haben die Herrschaften brüskiert, mein Herr!« rief der General.

»Keineswegs. Schon in Berlin ärgerte mich der Ausdruck ›Jawohl‹, den die Leute dort unaufhörlich einem jeden gegenüber wiederholen und in einer widerwärtigen Weise in die Länge ziehen. Als ich dem Baron und der Baronin in der Allee begegnete, kam mir (ich weiß nicht, woher) auf einmal dieses ›Jawohl‹ ins Gedächtnis und wirkte auf mich aufreizend … Und außerdem hat die Baronin (das ist schon dreimal vorgekommen), wenn sie mir begegnet, die Gewohnheit, gerade auf mich lozugehen, als wäre ich ein Wurm, den sie mit dem Fuß zertreten könnte. Auch ich darf mein Selbstgefühl haben, das werden Sie selbst zugeben müssen. Ich nahm den Hut ab und sagte höflich (ich versichere Sie, daß ich es ganz höflich sagte): ›Madame, j’ai l’honneur d’être votre esclave‹. Als der Baron sich umwandte und ›Nanu!‹ sagte, spürte ich einen unwiderstehlichen Drang, ihm ›Jawohl‹ zu erwidern. Und so sagte ich das zweimal, das erstemal in gewöhnlicher Weise, das zweitemal sehr laut und langgezogen. Das ist die ganze Geschichte.«

Ich muß gestehen, daß mir diese meine knabenhafte Darstellung das größte Vergnügen bereitete. Es reizte mich außerordentlich, den ganzen Hergang in möglichst absurder Weise auszumalen.

Und je länger ich sprach, um so mehr kam ich auf den Geschmack.

»Sie wollen sich wohl über mich lustig machen?« rief der General. Er wandte sich zu dem Franzosen und teilte ihm auf französisch mit, ich hätte es entschieden auf einen Skandal angelegt gehabt. De Grieux lächelte geringschätzig und zuckte die Achseln.

»Denken Sie das nicht; das ist durchaus nicht richtig!« rief ich dem General zu. »Mein Benehmen war allerdings nicht schön; das gebe ich Ihnen mit größter Offenherzigkeit zu. Man kann das, was ich getan habe, sogar einen dummen, unpassenden Schülerstreich nennen, mehr aber auch nicht. Und wissen Sie, General, ich bereue das Getane tief. Aber es ist da noch ein Umstand, der mich in meinen Augen beinah sogar der Verpflichtung zu bereuen enthebt. In der letzten Zeit, in den letzten zwei, drei Wochen, fühle ich mich nicht wohl: ich bin krank, nervös, reizbar, phantastisch und verliere manchmal vollständig die Gewalt über mich. Wirklich, es überkam mich mehrmals plötzlich ein heftiges Verlangen, mich zu dem Marquis de Grieux zu wenden und … Aber ich will den Satz nicht zu Ende sprechen; es könnte für ihn beleidigend sein. Mit einem Wort, das sind Krankheitssymptome. Ich weiß nicht, ob die Baronin Wurmerhelm diesen Umstand mit in Betracht ziehen wird, wenn ich sie um Entschuldigung bitte; denn das beabsichtige ich zu tun. Ich fürchte, daß sie es nicht tun wird, namentlich auch da, soweit mir bekannt, man in letzter Zeit in juristischen Kreisen angefangen hat, mit der Verwertung dieses Umstandes Mißbrauch zu treiben: die Advokaten verteidigen jetzt in Kriminalprozessen sehr oft ihre Klienten, die Verbrecher, mit der Behauptung, diese hätten im Augenblick des Verbrechens keine Besinnung gehabt, und das sei gewissermaßen eine Krankheit. ›Er hat zugeschlagen‹ sagen sie, ›und hat keine Erinnerung dafür.‹ Und denken Sie sich, General: die medizinische Wissenschaft stimmt ihnen bei, sie behauptet tatsächlich, es gebe eine solche Krankheit, eine solche zeitweilige Geistesstörung, wo der Mensch beinah keine Erinnerung hat oder nur eine halbe oder viertel Erinnerung. Aber der Baron und die Baronin sind Leute alten Schlages und gehören überdies noch zum preußischen Junker- und Gutsbesitzerstande. Ihnen ist dieser Fortschritt in der gerichtlichen Medizin wahrscheinlich noch unbekannt, und daher werden sie meine entschuldigende Erklärung nicht annehmen. Was meinen Sie darüber, General?«

»Genug, mein Herr!« sagte der General in scharfem Ton, mühsam seinen Grimm unterdrückend, »genug! Ich werde bemüht sein, mich ein für allemal von jeder Beziehung zu Ihren törichten Streichen freizumachen. Bei der Baronin und dem Baron werden Sie sich nicht entschuldigen. Jeder Verkehr mit Ihnen, auch wenn dieser nur in Ihrer Bitte um Verzeihung bestände, würde unter ihrer Würde sein. Der Baron, der erfahren hatte, daß Sie zu meinem Haus gehören, hat sich bereits mit mir im Kurhaus ausgesprochen, und ich muß Ihnen bekennen, es fehlte nicht viel daran, daß er von mir Genugtuung verlangt hätte. Begreifen Sie wohl, mein Herr, in was für eine unangenehme Situation Sie mich gebracht haben? Ich, ich sah mich genötigt, den Baron um Entschuldigung zu bitten, und gab ihm mein Wort, daß Sie unverzüglich, noch heute, aus meinem Haus ausscheiden würden.«

»Erlauben Sie, erlauben Sie, General, er hat also selbst entschieden verlangt, daß ich, wie Sie sich auszudrücken belieben, aus Ihrem Haus ausscheiden solle?«

»Nein, aber ich erachtete mich selbst für verpflichtet, ihm diese Genugtuung zu geben, und der Baron erklärte sich natürlich dadurch für befriedigt. Wir scheiden also hiermit voneinander, mein Herr. Sie haben von mir diese vier Friedrichsdor hier und drei Gulden nach hiesigem Geld zu erhalten. Hier ist das Geld, und hier ist auch ein Zettel mit der Berechnung; Sie können sie nachprüfen. Leben Sie wohl! Von jetzt an kennen wir einander nicht mehr. Ich habe von Ihnen nichts gehabt als Mühe und Unannehmlichkeiten. Ich werde sogleich den Kellner rufen und ihm mitteilen, daß ich vom morgigen Tage an für Ihre Ausgaben im Hotel nicht mehr aufkomme. Ergebenster Diener!«

Ich nahm das Geld und den Zettel, auf dem mit Bleistift eine Berechnung geschrieben stand, machte dem General eine Verbeugung und sagte zu ihm in durchaus ernstem Ton: »General, die Sache kann damit nicht erledigt sein. Es tut mir sehr leid, daß Sie von seiten des Barons Unannehmlichkeiten gehabt haben; aber (nehmen Sie es mir nicht übel!) daran sind Sie selbst schuld. Warum übernahmen Sie es, dem Baron gegenüber für meine Handlungsweise einzustehen? Was bedeutet der Ausdruck, daß ich zu Ihrem Haus gehöre? Ich bin einfach bei Ihnen Hauslehrer, nichts weiter. Ich bin nicht Ihr leiblicher Sohn, stehe auch nicht unter Ihrer Vormundschaft; für das, was ich tue, tragen Sie keine Verantwortung. Ich bin im juristischen Sinne eine selbständige Persönlichkeit. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, habe die Universität besucht und als Kandidat verlassen, gehöre zum Adelsstande und stehe Ihnen ganz fremd gegenüber. Nur meine unbegrenzte Hochachtung vor Ihren vortrefflichen Eigenschaften hält mich davon ab, von Ihnen jetzt Genugtuung zu verlangen, sowie auch weitere Rechenschaft darüber, daß Sie sich das Recht beigelegt haben, an meiner Statt zu antworten.«

Der General war dermaßen erstaunt, daß er die Arme auseinanderbreitete; dann wandte er sich plötzlich zu dem Franzosen und erzählte ihm eilig, ich hätte ihn soeben beinahe zum Duell gefordert. Der Franzose schlug ein lautes Gelächter auf.

»Aber den Baron beabsichtige ich das nicht so leicht hingehen zu lassen«, fuhr ich höchst kaltblütig fort, ohne mich im geringsten durch das Lachen dieses Monsieur de Grieux beirren zu lassen, »und da Sie, General, sich heute dazu verstanden haben, die Beschwerde des Barons anzuhören, auf seine Seite getreten sind und sich dadurch gewissermaßen zum Mitgenossen bei dieser ganzen Angelegenheit gemacht haben, so habe ich die Ehre, Ihnen zu vermelden, daß ich gleich morgen früh in meinem eigenen Namen von dem Baron eine förmliche Angabe der Gründe verlangen werde, aus denen er, obwohl er es mit mir zu tun hatte, sich über meinen Kopf hinweg an eine andere Person gewandt hat, als ob ich nicht imstande oder nicht würdig wäre, mich ihm gegen- über selbst zu verantworten.«

Was ich vorhergesehen hatte, trat ein. Als der General diese neue Dummheit hörte, bekam er es heftig mit der Angst. »Was? Haben Sie wirklich vor, diese verfluchte Geschichte noch weiter fortzusetzen?« schrie er. »Was schüren Sie mir da an, gerechter Gott! Wagen Sie es nicht, wagen Sie es nicht, mein Herr, oder ich schwöre Ihnen … Auch hier gibt es eine Obrigkeit, und ich … ich … mit einem Wort, bei meinem Rang … und der Baron gleichfalls … mit einem Wort, Sie werden arretiert und unter polizeilicher Bewachung von hier entfernt werden, damit Sie hier keine Gewalttätigkeiten verüben. Das lassen Sie sich gesagt sein!« Er war so zornig, daß er kaum Luft bekam; aber trotzdem hatte er schreckliche Angst.

»General«, erwiderte ich mit einer Ruhe, die er gar nicht ertragen konnte, »für Gewalttätigkeiten kann man nicht eher arretiert werden, ehe man sie nicht verübt hat. Ich habe meine Aussprache mit dem Baron noch nicht begonnen, und es ist Ihnen noch vollständig unbekannt, in welchem Sinne und mit welcher Begründung ich in dieser Angelegenheit vorzugehen beabsichtige. Ich wünsche nur die für mich beleidigende Annahme richtigzustellen, daß ich mich unter der Vormundschaft einer andern Person befände, die gewissermaßen Gewalt über meinen freien Willen hätte. Sie erregen und beunruhigen sich ohne jeden Grund.«

»Um Gottes willen, um Gottes willen, Alexej Iwanowitsch, stehen Sie von diesem unsinnigen Vorhaben ab!« murmelte der General, indem er seinen zornigen Ton plötzlich mit einem flehenden vertauschte und mich sogar bei den Händen ergriff. »Überlegen Sie doch nur, was die Folge davon sein wird! Eine neue Unannehmlichkeit! Sie müssen doch selbst einsehen, daß ich hier ganz besonders darauf bedacht sein muß, meine Stellung zu wahren, namentlich jetzt! Namentlich jetzt! … Ach, Sie kennen meine ganze Lage nicht; Sie kennen sie nicht! … Wenn wir von hier wegreisen, bin ich gern bereit, Ihnen Ihre bisherige Stellung wieder zu übertragen. Ich muß nur jetzt so … nun, mit einem Wort, Sie verstehen ja doch meine Gründe!« rief er ganz verzweifelt. »Alexej Iwanowitsch, Alexej Iwanowitsch!«

Mich zur Tür zurückziehend, bat ich ihn nochmals dringend, sich nicht zu beunruhigen; ich versprach, es solle alles einen guten, anständigen Verlauf nehmen, und beeilte mich hinauszukommen.

Mitunter sind die Russen im Ausland gar zu feige und haben eine schreckliche Angst davor, was die Leute von ihnen sagen könnten, und wofür man sie ansehen werde, und ob auch dies und das anständig sei. Mit einem Wort, sie benehmen sich, als ob sie ein Korsett trügen, namentlich diejenigen, die den Anspruch erheben, etwas vorzustellen. Am liebsten befolgen sie sklavisch irgendein vorgeschriebenes, ein für allemal festgesetztes Schema: in den Hotels, auf den Spaziergängen, in den Gesellschaften, auf der Reise … Aber der General hatte sich verplappert, wenn er sagte, es lägen für ihn noch außerdem besondere Umstände vor, und er habe besondern Anlaß, seine Stellung zu wahren. Das also war der Grund gewesen, weshalb er auf einmal so kleinmütig und ängstlich geworden war und mir gegenüber den Ton gewechselt hatte. Ich nahm das zur Kenntnis und merkte es mir. Denn da es nicht ausgeschlossen war, daß er sich morgen aus Dummheit an irgendeine Behörde wandte, so hatte ich wirklich allen Grund, vorsichtig zu sein.

Übrigens war mir gar nichts daran gelegen, gerade den General zornig zu machen; wohl aber hatte ich jetzt die größte Lust, Polina zu ärgern. Polina hatte mich äußerst grausam behandelt und mich absichtlich auf diesen dummen Weg gedrängt; daher wünschte ich lebhaft, sie so weit zu bringen, daß sie mich selbst bäte einzuhalten. Wenn ich knabenhafte Streiche beging, so konnte das schließlich auch sie kompromittieren. Außerdem wurden in mir auch noch andere Gefühle und Wünsche rege; wenn ich auch vor ihr freiwillig zu einem Nichts werde, so bedeutet das noch keineswegs, daß ich auch vor den Leuten als begossener Pudel dazustehen Lust hätte; und jedenfalls stand es dem Baron nicht zu, mich mit dem Stock zu schlagen. Ich wünschte, sie alle auszulachen und selbst als ein forscher junger Mann zu erscheinen. Da mochten sie mich dann anstaunen. Sie hat gewiß Angst vor einem Skandal und wird mich wieder zu sich rufen. Und auch wenn sie das nicht tut, soll sie doch sehen, daß ich kein begossener Pudel bin.

Eine wunderbare Nachricht: soeben höre ich von unserer Kinderfrau, die ich auf der Treppe traf, daß Marja Filippowna heute ganz allein mit dem Abendzug nach Karlsbad zu ihrer Cousine gefahren ist. Was steckt dahinter? Die Kinderfrau sagt, sie habe das schon längst vorgehabt; aber wie geht es dann zu, daß niemand etwas davon gewußt hat? Möglicherweise bin ich übrigens der einzige, der es nicht wußte. Die Kinderfrau teilte mir mit, Marja Filippowna habe noch vorgestern mit dem General einen heftigen Wortwechsel gehabt. Ich merke: es handelt sich wahrscheinlich um Mademoiselle Blanche. Ja, bei uns steht ein entscheidendes Ereignis bevor.

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Siebentes Kapitel

Siebentes Kapitel

Am Morgen rief ich den Kellner und teilte ihm mit, meine Rechnung solle von nun an gesondert geschrieben werden. Mein Zimmer war nicht so teuer, daß der Preis mich erschreckt und veranlaßt hätte, ganz aus dem Hotel auszuziehen. Ich besaß sechzehn Friedrichsdor, und dort … dort fielen mir vielleicht Reichtümer zu! Sonderbar: ich habe noch nicht gewonnen; aber ich benehme mich in meinen Gefühlen und Gedanken wie ein reicher Mann und kann mir gar nicht vorstellen, daß ich das nicht wäre.

Ich gedachte, trotz der frühen Stunde mich sogleich zu Mister Astley in das Hotel d’Angleterre zu begeben, das ganz in der Nähe des unsrigen liegt, als plötzlich de Grieux bei mir eintrat. Das war noch nie vorgekommen, und überdies hatte ich mit diesem Herrn in der ganzen letzten Zeit in einem sehr kühlen und gespannten Verhältnis gestanden. Er hatte aus seiner Geringschätzung gegen mich in keiner Weise ein Hehl gemacht, sondern im Gegenteil sie offen an den Tag zu legen gesucht; und ich meinerseits hatte meine besonderen Gründe, weshalb ich ihm nicht gewogen war. Kurz, ich haßte diesen Menschen. Sein Kommen setzte mich in großes Erstaunen. Ich sagte mir sofort, da müsse etwas Besonderes im Gange sein.

Er benahm sich bei seinem Eintritt sehr liebenswürdig und sagte mir ein Kompliment über mein Zimmer. Da er sah, daß ich den Hut in der Hand hatte, so erkundigte er sich, ob ich denn schon so früh spazierengehen wolle. Als er hörte, ich wolle zu Mister Astley gehen, um mit ihm zu reden, dachte er einen Augenblick nach und legte sich das zurecht; dabei nahm sein Gesicht einen sehr ernsten Ausdruck an.

De Grieux war wie alle Franzosen, das heißt heiter und liebenswürdig, wenn dies nötig und vorteilhaft war, aber unerträglich langweilig, wenn die Nötigung, heiter und liebenswürdig zu sein, wegfiel. Der Franzose ist selten aus eigener Natur liebenswürdig, sondern immer wie auf Befehl, aus Berechnung. Erkennt er es etwa als notwendig, sich phantasievoll und originell zu zeigen, so sind die Produkte seiner Phantasie von der dümmsten und unnatürlichsten Art und setzen sich aus altkonventionellen, längst schon vulgär gewordenen Formen zusammen. Der Franzose, wie er wirklich von Natur ist, besteht aus durchaus kleinbürgerlichem, geringwertigem, gewöhnlichem Stoff; kurz gesagt, er ist das langweiligste Wesen von der Welt. Nach meiner Meinung können nur Neulinge und namentlich junge russische Damen sich von den Franzosen blenden lassen. Jeder vernünftige Mensch wird diese ein für allemal festgesetzten Formen der salonmäßigen Liebenswürdigkeit, Gewandtheit und Heiterkeit, eine Art von Nationaleigentum, sofort erkennen und unerträglich finden.

»Ich komme aus besonderem Anlaß zu Ihnen«, begann er sehr ungezwungen, wiewohl durchaus höflich, »und ich verberge Ihnen nicht, daß ich in der Eigenschaft eines Abgesandten oder, richtiger ausgedrückt, eines Vermittlers vom General zu Ihnen komme. Da ich nur sehr schlecht Russisch kann, so habe ich gestern so gut wie nichts verstanden; aber der General hat mir nachher eingehende Mitteilungen gemacht, und ich muß gestehen …«

»Aber hören Sie einmal, Monsieur de Grieux«, unterbrach ich ihn, »Sie haben also auch in dieser Angelegenheit die Rolle eines Vermittlers übernommen. Ich bin ja allerdings nur ein Hauslehrer und habe auf die Ehre, ein naher Freund dieses Hauses zu sein, und auf irgendwelche intimeren Beziehungen zu demselben niemals Anspruch erhoben und bin daher auch nicht mit allen Verhältnissen vertraut; aber erklären Sie mir doch eines: Gehören Sie denn jetzt vollständig zu den Mitgliedern dieser Familie? Weil Sie doch an allem solchen Anteil nehmen und bei allem sofort unfehlbar als Vermittler auftreten …«

Meine Frage gefiel ihm nicht. Sie war ihm zu unverfroren, und er hatte keine Lust, mir zuviel mitzuteilen.

»Es verbinden mich mit dem General sowohl geschäftliche Beziehungen als auch gewisse besondere Umstände«, erwiderte er trocken. »Der General hat mich hergeschickt, um Sie zu bitten, Sie möchten die gestern von Ihnen ausgesprochene Absicht unausgeführt lassen. Alles, was Sie vortrugen, ist ohne Zweifel sehr scharfsinnig; aber er ersuchte mich namentlich, Ihnen vorzustellen, daß Ihnen die Ausführung Ihrer Absicht schlechterdings nicht gelingen wird; ja, der Baron wird Sie gar nicht empfangen, und schließlich stehen ihm ja jedenfalls alle erforderlichen Mittel zur Verfügung, um weiterer Unannehmlichkeiten von Ihrer Seite überhoben zu sein. Das müssen Sie doch selbst einsehen. Ich bitte Sie, was für einen Zweck hat es, der Sache noch eine Fortsetzung zu geben? Der General gibt Ihnen das bestimmte Versprechen, Sie wieder in sein Haus zu nehmen, sobald die Verhältnisse es nur irgend gestatten, und Ihr Gehalt, vos appointements, bis dahin weiterlaufen zu lassen. Das ist doch für Sie ein recht vorteilhaftes Anerbieten, nicht wahr?«

Ich erwiderte ihm sehr ruhig, daß er sich da doch einigermaßen irre und der Baron mich vielleicht doch nicht werde fortjagen lassen, sondern mich anhören werde, und bat ihn einzugestehen, daß er (was ich für wahrscheinlich hielte) gekommen sei, um in Erfahrung zu bringen, wie ich eigentlich in der ganzen Sache zu verfahren vorhätte.

»Aber, mein Gott, da der General bei der Angelegenheit so interessiert ist, so wird es ihm selbstverständlich angenehm sein zu erfahren, was Sie tun wollen, und wie. Das ist ja so natürlich!«

Ich begann meine Auseinandersetzung, und er hörte zu; er hatte sich sehr bequem hingesetzt und beugte den Kopf ein wenig zur Seite nach mir hin; auf seinem Gesicht lag offen und unverhohlen ein leiser Ausdruck von Ironie. Überhaupt benahm er sich sehr von oben herab. Ich suchte mir aus allen Kräften den Anschein zu geben, als sähe ich die Sache im allerernstesten Licht. Ich erklärte ihm, indem der Baron sich mit einer Beschwerde über mich an den General gewandt habe, als ob ich ein Diener des Generals wäre, habe er mich erstens um meine Stelle gebracht und mich zweitens wie jemanden behandelt, der nicht imstande sei, für sich selbst einzustehen, und mit dem zu reden nicht der Mühe verlohne. Insofern hätte ich allerdings ein Recht, mich für beleidigt zu erachten; indes in Anbetracht des Unterschiedes der Jahre und der gesellschaftlichen Stellung usw. usw. (an dieser Stelle konnte ich kaum das Lachen zurückhalten) wolle ich nicht noch eine neue Unbesonnenheit begehen, das heißt vom Baron geradezu Genugtuung verlangen oder ihm diesen Weg auch nur vorschlagen. Nichtsdestoweniger hielte ich mich für völlig berechtigt, ihm und besonders der Baronin meine Bitte um Entschuldigung anzubieten, um so mehr, da ich mich tatsächlich in der letzten Zeit unwohl gefühlt und Spuren geistiger Zerrüttung sowie eine Neigung zu Exzentrizitäten an mir wahrgenommen hätte usw. usw. Jedoch habe der Baron selbst durch seine gestrige für mich beleidigende Beschwerde beim General und durch die Forderung, daß der General mich aus meiner Stelle wegschicken solle, mich in eine solche Lage gebracht, daß ich jetzt ihm und der Baronin meine Bitte um Entschuldigung nicht mehr aussprechen könne, da er und die Baronin und alle Leute dann sicher denken würden, es bewege mich zu der Abbitte nur der Wunsch, meine Stelle wiederzubekommen. Das Resultat all dieser Erwägungen sei dieses: ich hielte mich jetzt für genötigt, den Baron zu bitten, er möge sich vor allen Dingen selbst bei mir entschuldigen; dabei würden mir die maßvollsten Ausdrücke genügen; er brauche zum Beispiel nur zu sagen, daß er keineswegs die Absicht gehabt habe, mich zu beleidigen. Wenn der Baron das ausspreche, dann würden mir dadurch die Hände frei gemacht sein, und ich würde offen und ehrlich ihm auch meinerseits meine Bitte um Entschuldigung vorlegen. »Kurz«, schloß ich, »um was ich bitte, ist nur dies, daß der Baron mir die Hände frei macht.«

»Ach, was für Pedanterie und was für Spitzfindigkeiten! Und wozu brauchen Sie sich zu entschuldigen? Nun, geben Sie es nur zu, Monsieur … Monsieur …, daß Sie diese ganze Geschichte absichtlich ins Werk gesetzt haben, um den General zu ärgern … aber vielleicht hatten Sie noch irgendwelche besonderen Absichten … mon cher monsieur … pardon, j’ai oublié votre nom, monsieur Alexis?… N’est-ce pas?«

»Aber erlauben Sie, mon cher marquis, was geht Sie das an?«

»Mais le général…«

»Und was geht es den General an? Er redete gestern so etwas, er müsse seine Stellung wahren … und dabei war er so ängstlich … aber ich habe nichts davon begriffen.«

»Es ist da … es liegt da gerade ein besonderer Umstand vor«, fiel de Grieux in bittendem Ton ein, dem aber immer mehr der Ärger anzuhören war. »Sie kennen Mademoiselle de Cominges?…«

»Sie meinen Mademoiselle Blanche?«

»Nun ja, Mademoiselle Blanche de Cominges … et madame sa mère … Sie müssen selbst zugeben, der General … mit einem Wort, der General ist verliebt, und es wird hier vielleicht sogar … sogar zur Eheschließung kommen. Und nun stellen Sie sich vor, wenn dabei allerlei Skandalgeschichten und häßliche Vorfälle …«

»Ich weiß von keinen Skandalgeschichten und häßlichen Vorfällen, die mit dieser Eheschließung etwas zu tun hätten«

»Aber le baron est si irascible, un caractère prussien, vous savez, enfin il fera une querelle d’Allemand.«

»Das wird sich dann doch gegen mich richten und nicht gegen Sie, da ich nicht mehr zum Hause gehöre …« (Ich bemühte mich absichtlich, möglichst sinnlos zu reden.) »Aber erlauben Sie, ist denn das schon entschieden, daß Mademoiselle Blanche den General heiraten wird? Warum warten sie denn noch damit? Ich meine, warum halten Sie die Sache geheim und machen nicht wenigstens uns, den Angehörigen des Hauses, Mitteilung davon?«

»Ich kann Ihnen nicht … übrigens ist das noch nicht ganz … indessen … Sie wissen wohl, der General erwartet Nachrichten aus Rußland; er muß seine Angelegenheiten ordnen …«

»Ach so, die liebe, alte Tante!«

De Grieux warf mir einen haßerfüllten Blick zu.

»Kurz«, unterbrach er mich, »ich verlasse mich vollständig auf Ihre angeborene Liebenswürdigkeit, auf Ihre Klugheit, auf Ihr Taktgefühl … Sie werden das gewiß für eine Familie tun, in der Sie wie ein Sohn aufgenommen und geliebt und geehrt wurden …«

»Aber ich bitte Sie! Weggejagt hat man mich! Sie versichern jetzt freilich, das sei nur so zum Schein geschehen; aber sagen Sie selbst, wenn einer zu Ihnen sagt: ›Ich will dich nicht an den Ohren ziehen; aber erlaube, daß ich es zum Schein tue‹, so kommt das beinah auf dasselbe heraus!«

»Wenn es so steht und Bitten auf Sie nichts vermögen«, begann er in strengem, hochmütigem Ton, »so gestatten Sie mir, Sie zu benachrichtigen, daß die erforderlichen Maßregeln gegen Sie werden ergriffen werden. Es gibt hier eine Obrigkeit; Sie werden noch heute von hier weggeschafft werden, que diable! Un blanc bec comme vous will eine solche Persönlichkeit wie den Baron zum Duell herausfordern! Glauben Sie etwa, daß man Sie unbehelligt lassen wird? Verlassen Sie sich darauf: Furcht hat hier vor Ihnen niemand! Wenn ich Sie bat, so tat ich das mehr von mir aus, weil Sie den General beunruhigt hatten. Können Sie wirklich etwas anderes erwarten, als daß der Baron Sie einfach durch einen Diener wegjagen läßt?«

»Ich werde ja doch nicht selbst hingehen«, antwortete ich mit großer Ruhe. »Sie irren sich, Monsieur de Grieux; es wird sich alles in weit anständigeren Formen abspielen, als Sie glauben. Ich werde mich jetzt sofort zu Mister Astley begeben und ihn bitten, mein Mittelsmann, kurz gesagt, mein Sekundant zu sein. Dieser Mann ist mir freundlich gesinnt und wird es mir aller Wahrscheinlichkeit nach nicht abschlagen. Er wird zum Baron gehen, und der Baron wird ihn empfangen. Wenn auch ich selbst nur ein Hauslehrer bin und als ein Mensch in subalterner Stellung angesehen werde und hier schutzlos dastehe, so ist doch Mister Astley der Neffe eines Lords, eines wirklichen Lords, das ist allgemein bekannt, des Lord Peabroke, und dieser Lord ist hier anwesend. Sie können sich darauf verlassen, daß der Baron gegen Mister Astley höflich sein und ihn anhören wird. Und wenn er ihn nicht anhört, so wird Mister Astley das als eine persönliche Beleidigung auffassen (Sie wissen, wie energisch die Engländer sind) und dem Baron von sich aus einen Freund zuschicken, und er hat angesehene Freunde. Nun können Sie sich sagen, daß es vielleicht ganz anders kommt, als Sie annehmen.«

Der Franzose bekam es entschieden mit der Angst; in der Tat, all dies klang sehr wahrscheinlich, und es ergab sich also daraus, daß ich wirklich imstande war, einen Skandal hervorzurufen.

»Aber ich bitte Sie«, begann er in geradezu flehendem Ton, »unterlassen Sie doch all so etwas! Ihnen macht es ordentlich Freude, wenn es zu einem Skandal kommt! Es liegt Ihnen nicht daran, Genugtuung zu erhalten, sondern ein häßliches Aufsehen zu erregen! Ich sagte schon, daß das alles interessant und sogar geistreich klingt, worauf Sie es auch vielleicht angelegt haben; aber mit einem Wort«, schloß er, da er sah, daß ich aufstand und nach meinem Hut griff, »ich kam, um Ihnen diese Zeilen von einer gewissen Person zu übergeben. Lesen sie es durch; ich bin beauftragt, auf Antwort zu warten.« Bei diesen Worten zog er ein kleines, zusammengefaltetes, mit einer Oblate zugeklebtes Papier aus der Tasche und reichte es mir.

Darin stand, von Polinas Hand geschrieben:

»Ich hatte den Eindruck, als beabsichtigten Sie, dieser häßlichen Geschichte noch eine Fortsetzung zu geben. Sie sind in Erregung geraten und beginnen nun, schlechte Streiche zu machen. Aber es liegen hier besondere Umstände vor, und ich werde sie Ihnen vielleicht später erklären; darum seien Sie so gut aufzuhören und sich zu beruhigen! Was sind das alles für Dummheiten! Ich bedarf Ihrer, und Sie selbst haben versprochen, mir zu gehorchen. Denken Sie an den Schlangenberg! Ich bitte Sie, gehorsam zu sein, und wenn es nötig ist, befehle ich es Ihnen. Ihre P.

P.S. Wenn Sie mir wegen des gestrigen Vorfalls böse sind, so verzeihen Sie mir!«

Als ich diese Zeilen gelesen hatte, drehte sich mir alles vor den Augen herum. Die Lippen waren mir blaß geworden, und ein Zittern befiel mich.

Der verdammte Franzose verlieh seiner Miene einen besonderen Ausdruck von Diskretion und wandte die Augen von mir weg, als wolle er meine Verwirrung nicht sehen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn er über mich laut aufgelacht hätte.

»Gut«, erwiderte ich. »Bestellen Sie, Mademoiselle möge beruhigt sein! Erlauben Sie mir aber die Frage«, fügte ich in scharfem Ton hinzu, »warum Sie so lange damit gewartet haben, mir dieses Schreiben zu übergeben. Statt leeres Geschwätz zu machen, mußten Sie, wie mir scheint, gerade damit anfangen, wenn Sie wirklich mit diesem Auftrag kamen.«

»Oh, ich wollte … Diese ganze Sache ist überhaupt so seltsam, daß Sie meine natürliche Ungeduld entschuldigen werden. Es lag mir daran, möglichst schnell persönlich von Ihnen selbst Auskunft über Ihre Absichten zu erhalten. Übrigens weiß ich gar nicht, was in diesem Schreiben steht, und meinte, es sei immer noch Zeit, es zu übergeben.«

»Ich verstehe; es ist Ihnen einfach befohlen worden, dieses Blatt nur im äußersten Notfall zu übergeben und, wenn es Ihnen gelänge, die Sache auf mündlichem Wege in Ordnung zu bringen, seine Überreichung ganz zu unterlassen. Ist es nicht so? Sprechen Sie offen, Monsieur de Grieux!«

»Peut-être«, sagte er, indem er eine Miene besonderer Zurückhaltung annahm und mich mit einem eigentümlichen Blick ansah.

Ich nahm den Hut; er nickte mit dem Kopf und ging hinaus. Es kam mir vor, als ob um seine Lippen ein spöttisches Lächeln spielte. Und wie war es auch anders möglich?

»Ich werde schon noch mit dir abrechnen, elender Franzose; wir messen uns noch miteinander!« murmelte ich, als ich die Treppe hinunterstieg. Ich konnte noch zu keinem klaren Gedanken kommen; es war mir, als hätte ich einen heftigen Schlag auf den Kopf erhalten. Die Luft erfrischte mich ein wenig.

Nach einigen Minuten, sobald ich wieder ordentlich denken konnte, traten mir zwei Gedanken mit aller Deutlichkeit vor die Seele: erstens das Erstaunen darüber, daß aus solchen Kleinigkeiten, aus ein paar knabenhaften, unwahrscheinlichen Drohungen eines jungen Menschen, die gestern so obenhin ausgesprochen waren, sich eine so allgemeine Beunruhigung entwickelt hatte! Und zweitens die Frage: Welchen Einfluß hat dieser Franzose auf Polina? Es genügt ein Wort von ihm, und sie tut alles, was er verlangt, schreibt einen Brief und bittet mich sogar. Gewiß, das Verhältnis der beiden war immer für mich ein Rätsel gewesen, von Anfang an, gleich von der Zeit an, wo ich sie kennenlernte; aber in diesen Tagen hatte ich doch an Polina eine entschiedene Abneigung, ja sogar Verachtung gegen ihn wahrgenommen, und er seinerseits hatte sie gar nicht einmal angesehen, ja war sogar geradezu unhöflich gegen sie gewesen. Das hatte ich wohl bemerkt. Und Polina selbst hatte zu mir von ihrer Abneigung gesprochen; es waren bei ihr schon sehr bedeutsame Geständnisse zum Vorschein gekommen … Also er hatte sie völlig in seiner Gewalt; sie befand sich sozusagen in seinen Fesseln …

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Achtes Kapitel

Achtes Kapitel

Auf der »Promenade«, wie man das hier nennt, das heißt in der Kastanienallee, traf ich meinen Engländer.

»Oh, oh!« begann er, als er mich erblickte, »ich wollte zu Ihnen, und Sie zu mir. Also Sie haben sich von den Ihrigen schon getrennt?«

»Sagen Sie mir zuerst, woher Sie das alles wissen«, fragte ich erstaunt. »Ist das denn schon so allgemein bekannt?«

»O nein, allgemein bekannt ist es nicht. Es hat ja auch keiner ein Interesse daran, daß es bekannt würde; und daher redet niemand davon.«

»Also woher wissen Sie es denn?«

»Ich habe es so zufällig erfahren. Wo werden Sie denn nun von hier hinfahren? Ich meine es gut mit Ihnen und wollte deshalb zu Ihnen gehen.«

»Sie sind ein prächtiger Mensch, Mister Astlcy«, sagte ich (ich war übrigens ganz verblüfft: woher wußte er es?), »und da ich noch nicht Kaffee getrunken habe und Sie wahrscheinlich nur schlechten, so kommen Sie mit in das Café im Kurhaus; da wollen wir uns hinsetzen und rauchen, und ich werde Ihnen alles erzählen … und Sie mir auch …«

Das Café war nur hundert Schritt entfernt. Wir setzten uns; es wurde uns Kaffee gebracht, und ich zündete mir eine Zigarette an. Mister Astley rauchte nicht; mich unverwandt ansehend, machte er sich bereit zuzuhören.

»Ich fahre nirgend hin; ich bleibe hier«, begann ich.

»Ich war davon überzeugt, daß Sie hierbleiben würden«, äußerte Mister Astley beifällig.

Als ich mich auf den Weg zu Mister Astley machte, hatte ich nicht die Absicht gehabt, ihm etwas von meiner Liebe zu Polina zu sagen; ja, ich wollte es sogar absichtlich vermeiden. All diese Tage her hatte ich mit ihm kein Wort darüber gesprochen. Überdies war er sehr zartfühlend; ich hatte gleich von Anfang an bemerkt, daß Polina auf ihn außerordentlichen Eindruck gemacht hatte; aber er hatte nie ihren Namen ausgesprochen. Jedoch es ging mir seltsam: jetzt, sowie er sich nur hingesetzt und seine starren, zinnernen Augen auf mich gerichtet hatte, jetzt bekam ich (ich weiß nicht warum) plötzlich die größte Lust, ihm alles zu erzählen, die ganze Geschichte meiner Liebe mit all ihren Einzelheiten und Schattierungen. Ich erzählte eine ganze halbe Stunde lang und hatte dabei eine höchst angenehme Empfindung; es war das erstemal, daß ich jemandem davon erzählte! Da ich bemerkte, daß er bei einigen besonders feurigen Stellen unruhig wurde, steigerte ich die Glut meiner Erzählung noch geflissentlich. Nur eines bereue ich: daß ich über den Franzosen vielleicht etwas mehr gesagt habe, als gut war …

Während Mister Astley zuhörte, saß er mir gegenüber, ohne sich zu regen und ohne ein Wort zu sprechen oder einen Laut von sich zu geben, und blickte mir in die Augen; aber als ich von dem Franzosen zu sprechen anfing, fiel er mir plötzlich ins Wort und fragte in strengem Ton, ob ich ein Recht hätte, diesen nicht zur Sache gehörigen Umstand zu erwähnen. Mister Astley stellte seine Fragen immer in so sonderbarer Weise.

»Sie haben recht; ich fürchte, nein«, antwortete ich.

»Sie können über diesen Marquis und über Miß Polina nur bloße Vermutungen vorbringen, nichts Zuverlässiges?«

Wieder wunderte ich mich über eine so energische Frage von seiten eines so schüchternen Menschen wie Mister Astley.

»Nein, Zuverlässiges nicht«, erwiderte ich, »das freilich nicht.«

»Wenn dem so ist, so haben Sie schlecht gehandelt, nicht nur insofern, als Sie mit mir davon zu sprechen anfingen, sondern sogar schon insofern, als Sie bei sich dergleichen gedacht haben.«

»Nun ja, nun ja, ich will es zugeben; aber darum handelt es sich jetzt nicht«, unterbrach ich ihn, im stillen sehr verwundert. Hierauf erzählte ich ihm den ganzen gestrigen Vorfall mit allen Einzelheiten: Polinas tollen Einfall, meine Affäre mit dem Baron, meine Entlassung, die auffallende Ängstlichkeit des Generals, und endlich berichtete ich ihm eingehend von de Grieux‘ heutigem Besuch in allen seinen Phasen; zum Schluß zeigte ich ihm das Briefchen.

»Was schließen Sie nun daraus?« fragte ich. »Ich ging eben deswegen zu Ihnen, um Ihre Meinung zu hören. Was mich betrifft, so möchte ich diesen nichtswürdigen Franzosen am liebsten totschlagen, und vielleicht tue ich es auch noch.«

»Ich auch«, erwiderte Mister Astley. »Was Miß Polina betrifft, so … Sie wissen, wir treten mitunter auch zu Leuten, die uns verhaßt sind, in Beziehung, wenn uns die Notwendigkeit dazu zwingt. Hier können Beziehungen vorliegen, die Ihnen unbekannt sind, Beziehungen, die von andersartigen Umständen abhängen. Ich glaube, daß Sie sich beruhigen dürfen, wenigstens zum Teil, selbstverständlich. Was ihr gestriges Benehmen anlangt, so ist es allerdings sonderbar, nicht deswegen, weil sie Sie lozuwerden wünschte und Sie der Gefahr aussetzte, mit dem Stock des Barons Bekanntschaft zu machen (ich begreife übrigens nicht, warum er von seinem Stock keinen Gebrauch machte, da er ihn doch in der Hand hatte), sondern weil ein derartiger toller Streich für eine so … für eine so vortreffliche junge Dame sich nicht schickt. Natürlich konnte sie nicht voraussehen, daß Sie ihren komischen Wunsch buchstäblich ausführen würden …«

»Wissen Sie was?« rief ich plötzlich und sah dabei Mister Astley unverwandt an. »Mir scheint, Sie haben das alles bereits gehört, wissen Sie von wem? Von Miß Polina selbst!«

Mister Astley blickte mich verwundert an.

»Ihre Augen funkeln ja nur so, und ich lese in ihnen einen Argwohn«, sagte er, seine Ruhe sofort wiedergewinnend. »Aber Sie haben nicht das geringste Recht, Ihren Argwohn zu äußern. Ich kann ein solches Recht nicht anerkennen und lehne es durchaus ab, Ihre Frage zu beantworten.«

»Nun, lassen Sie es gut sein! Es ist ja auch nicht nötig!« rief ich in starker Aufregung; ich begriff nicht, woher mir das hatte in den Sinn kommen können! Wann, wo und auf welche Weise hätte Mister Astley von Polina zum Vertrauten erwählt sein können? In der letzten Zeit hatte ich allerdings Mister Astley zum Teil aus den Augen verloren gehabt, und Polina war immer für mich ein Rätsel gewesen, dergestalt ein Rätsel, daß ich zum Beispiel jetzt, wo ich es unternommen hatte, Mister Astley die ganze Geschichte meiner Liebe zu erzählen, während des Erzählens davon überrascht war, daß ich über meine Beziehungen zu ihr fast nichts Bestimmtes und Positives sagen konnte. Im Gegenteil, alles war phantastisch, sonderbar, haltlos und geradezu unerhört.

»Nun gut, gut«, antwortete ich; ich konnte vor Erregung kaum Luft bekommen. »Ich bin ganz in Verwirrung geraten und kann mir jetzt vieles noch nicht zurechtlegen. Aber Sie sind ein guter Mensch. Jetzt handelt es sich um etwas andres, und ich bitte Sie nicht um Ihren Rat, sondern um Ihre Ansicht.«

Ich schwieg einen Augenblick und begann dann:

»Wie denken Sie darüber: warum wurde der General so ängstlich? Warum haben sie aus meinem törichten Narrenstreich alle eine so große Geschichte gemacht? Eine so große Geschichte, daß sogar de Grieux selbst für nötig fand sich einzumischen (und er mischt sich nur bei den wichtigsten Angelegenheiten ein), mich besuchte (was noch nie dagewesen ist!), mich bat, anflehte, er, de Grieux, mich! Beachten Sie endlich auch dies: er kam, ehe es noch neun Uhr war, und doch befand sich Miß Polinas Brief bereits in seinen Händen. Wann, frage ich, war er denn geschrieben worden? Vielleicht ist Miß Polina dazu erst aufgeweckt worden? Ich ersehe daraus, daß Miß Polina seine Sklavin ist, da sie sogar mich um Verzeihung bittet; aber außerdem: was geht diese ganze Sache denn sie, sie persönlich an? Warum interessiert sie sich so dafür? Weshalb haben sie vor so einem beliebigen Baron Angst bekommen? Und was ist das für eine Geschichte, daß der General Mademoiselle Blanche de Cominges heiraten wird? Sie sagen, infolge dieses Umstandes müßten sie ganz besonders darauf achten, ihre Stellung zu wahren; aber das ist doch gar zu eigentümlich, sagen Sie selbst! Wie denken Sie darüber? Ich sehe es Ihnen an den Augen an, daß Sie auch hiervon mehr wissen als ich!« Mister Astley lächelte und nickte mit dem Kopf.

»In der Tat weiß ich, wie es scheint, auch hiervon wesentlich mehr als Sie«, erwiderte er. »Bei dieser ganzen Geschichte handelt es sich einzig und allein um Mademoiselle Blanche; daß das die volle Wahrheit ist, davon bin ich überzeugt.«

»Nun, was ist denn mit Mademoiselle Blanche?« rief ich ungeduldig; es erwachte auf einmal in meinem Herzen die Hoffnung, ich würde jetzt eine Enthüllung über Mademoiselle Polina zu hören bekommen.

»Es scheint mir, daß Mademoiselle Blanche im gegenwärtigen Augenblick ein besonderes Interesse daran hat, unter allen Umständen eine Begegnung mit dem Baron und der Baronin zu vermeiden, und namentlich eine unangenehme Begegnung und nun gar eine, die mit häßlichem Aufsehen verbunden wäre.«

»So, so!«

»Mademoiselle Blanche war schon einmal, vor zwei Jahren während der Saison, hier in Roulettenburg. Ich befand mich zu jener Zeit gleichfalls hier. Mademoiselle Blanche nannte sich damals nicht Mademoiselle de Cominges; auch existierte ihre Mutter, Madame veuve Cominges, damals nicht; wenigstens wurde nie von ihr gesprochen. Einen de Grieux, de Grieux gab es hier gleichfalls nicht. Ich hege die feste Überzeugung, daß die beiden miteinander gar nicht verwandt sind, ja sich sogar erst seit kurzer Zeit kennen. Marquis ist dieser de Grieux auch erst ganz kürzlich geworden; davon bin ich überzeugt, aus einem triftigen Grunde. Man kann sogar vermuten, daß er erst neuerdings angefangen hat, sich de Grieux zu nennen. Ich kenne hier jemand, der ihm früher unter einem andern Namen begegnet ist.«

»Aber er besitzt doch tatsächlich einen soliden Bekanntenkreis.«

»Oh, das kann schon sein. Selbst Mademoiselle Blanche besitzt möglicherweise einen solchen. Aber vor zwei Jahren erhielt Mademoiselle Blanche infolge einer Beschwerde eben dieser Baronin von der hiesigen Polizei die Aufforderung, die Stadt zu verlassen, und verließ sie denn auch.«

»Wie kam das?«

»Sie erschien damals hier zuerst mit einem Italiener, irgendeinem Fürsten mit einem historischen Namen, so etwas wie Barberini oder so ähnlich. Dieser Mensch trug eine Unmenge von Ringen und Brillanten an seinem Leibe, und sie waren nicht einmal falsch. Sie fuhren immer in einer wundervollen Equipage. Mademoiselle Blanche spielte beim Trente-et-quarante anfangs mit gutem Erfolg; dann aber trat bei ihr ein starker Glückswechsel ein; ich erinnere mich dessen recht wohl. Ich weiß noch, eines Abends verspielte sie eine außerordentlich hohe Summe. Aber noch schlimmer war es, daß un beau matin ihr Fürst verschwunden war, ohne daß man gewußt hätte, wo er geblieben war, und auch die Pferde waren verschwunden und die Equipage, mit einem Wort, alles. Die Schuld im Hotel war erschreckend hoch. Mademoiselle Selma (aus einer Barberini hatte sie sich plötzlich in eine Mademoiselle Selma verwandelt) befand sich in größter Verzweiflung. Sie heulte und kreischte, daß man es durch das ganze Hotel hörte, und zerriß in einem Anfall von Raserei ihr Kleid. In demselben Hotel logierte ein polnischer Graf (alle reisenden Polen sind Grafen), und Mademoiselle Selma, die sich ihre Kleider zerrissen und sich ihr Gesicht mit ihren schönen, in Parfüm gewaschenen Händen wie eine Katze zerkratzt hatte, machte auf ihn einen starken Eindruck. Sie verhandelten miteinander, und beim Diner hatte sie sich bereits getröstet. Am Abend erschien er mit ihr Arm in Arm im Kurhaus. Mademoiselle Selma lachte nach ihrer Gewohnheit sehr laut und benahm sich noch ungenierter als sonst. Sie trat nun geradezu in die Klasse jener roulettspielenden Damen ein, die, wenn sie an den Spieltisch treten, durch einen kräftigen Stoß mit der Schulter einen Spieler beiseite drängen, um sich einen Platz frei zu machen. Das ist bei ihnen ein besonderer Kunstgriff. Sie haben diese Damen gewiß auch schon bemerkt?«

»O ja.«

»Sie sind nicht wert, daß man sie beachtet. Zum Ärger des anständigen Publikums lassen sie sich hier nicht vertreiben, wenigstens nicht diejenigen von ihnen, die täglich am Spieltisch Tausendfrancnoten wechseln. Allerdings, sobald sie aufhören, solche Banknoten zu wechseln, ersucht man sie sogleich, sich zu entfernen. Mademoiselle Selma wechselte noch immer Banknoten; aber sie hatte im Spiel immer mehr Unglück. Sie können die Beobachtung machen, daß diese Damen sehr oft mit Glück spielen; denn sie besitzen eine erstaunliche Selbstbeherrschung. Übrigens nähert sich meine Geschichte damit dem Ende. Ebenso, wie vorher der Fürst, verschwand nun auch der Graf. Mademoiselle Selma erschien an diesem Abend bereits ohne Begleitung beim Spiel; diesmal war niemand da, der ihr den Arm geboten hätte. In zwei Tagen hatte sie alles verloren, was sie besaß. Nachdem sie den letzten Louisdor gesetzt und verloren hatte, sah sie sich rings um und erblickte neben sich den Baron Wurmerhelm, der sie sehr aufmerksam und mit starkem Mißfallen betrachtete. Aber Mademoiselle Selma bemerkte dieses Mißfallen nicht, wandte sich mit ihrem bekannten Lächeln an den Baron und bat ihn, für sie auf Rot zehn Louisdor zu setzen. Infolgedessen erhielt sie auf eine Beschwerde der Baronin hin am Abend die Weisung, nicht mehr im Kurhaus zu erscheinen. Wenn Sie sich darüber wundern, daß mir all diese kleinen, wenig anständigen Einzelheiten bekannt sind, so erklärt sich das daher, daß ich sie als sicher von Mister Feader, einem Verwandten von mir, gehört habe, der an demselben Abend Mademoiselle Selma in seinem Wagen von Roulettenburg nach Spaa mitnahm. Nun werden Sie verstehen: Mademoiselle Blanche möchte Frau Generalin werden, wahrscheinlich um in Zukunft nicht wieder von der Polizei eines Kurortes solche Weisungen zu erhalten wie vor zwei Jahren. Jetzt beteiligt sie sich nicht mehr am Spiel; aber das hat seinen Grund darin, daß sie jetzt, nach allen Anzeichen zu urteilen, ein Kapital besitzt, das sie hiesigen Spielern gegen Prozente vorstreckt. Das ist ein weit vorsichtigeres finanzielles Verfahren. Ich vermute sogar, daß sich auch der unglückliche General unter ihren Schuldnern befindet. Vielleicht ist auch de Grieux ihr Schuldner. Es kann aber auch sein, daß de Grieux mit ihr ein Kompaniegeschäft hat. Da werden Sie sich selbst sagen können, daß sie wenigstens bis zur Hochzeit nicht wünschen kann, die Aufmerksamkeit der Baronin und des Barons auf irgendwelche Weise auf sich zu lenken. Kurz, in ihrer Lage müßte ihr ein öffentlicher Skandal äußerst nachteilig sein. Sie aber stehen in enger Beziehung zu der Familie des Generals, und Ihre Handlungen können einen solchen Skandal für sie hervorrufen, um so mehr, da sie täglich Arm in Arm mit dem General oder mit Miß Polina in der Öffentlichkeit erscheint. Verstehen Sie jetzt?«

»Nein, ich verstehe es nicht!« rief ich und schlug dabei mit aller Kraft auf den Tisch, so daß der Kellner erschrocken herbeigelaufen kam.

»Sagen Sie, Mister Astley«, fuhr ich wütend fort, »wenn Ihnen diese ganze Geschichte schon bekannt war und Sie somit genau wußten, wes Geistes Kind diese Mademoiselle Blanche de Cominges ist, warum haben Sie dann nicht wenigstens mir davon Mitteilung gemacht, oder dem General selbst, oder endlich, was das Wichtigste, das Allerwichtigste gewesen wäre, Miß Polina, die sich hier im Kurhaus in aller Öffentlichkeit Arm in Arm mit Mademoiselle Blanche zeigt? Wie konnten Sie denn da schweigen?«

»Ihnen etwas davon mitzuteilen hatte keinen Zweck, weil Sie doch nichts bei der Sache tun konnten«, antwortete Mister Astley ruhig. »Und dann: wovon hätte ich denn Mitteilung machen sollen? Der General weiß über Mademoiselle Blanche vielleicht noch mehr als ich und geht trotzdem mit ihr und mit Miß Polina spazieren. Der General ist ein unglücklicher Mensch. Ich sah gestern, wie Mademoiselle Blanche auf einem schönen Pferd mit Monsieur de Grieux und diesem kleinen russischen Fürsten dahingaloppierte, und hinter ihnen her jagte auf einem Fuchs der General. Er hatte am Morgen gesagt, er habe Schmerzen in den Beinen; aber sein Sitz war gut. Und sehen Sie, in diesem Augenblick schoß mir auf einmal der Gedanke durch den Kopf, daß er ein vollständig verlorener Mensch ist. Außerdem geht mich das alles eigentlich nichts an, und daß ich die Ehre hatte, Miß Polina kennenzulernen, ist noch nicht lange her. Übrigens«, unterbrach sich Mister Astley plötzlich, »habe ich Ihnen bereits gesagt, daß ich Ihnen keine Berechtigung zuerkennen kann, mir irgendwelche Fragen zu stellen, obwohl ich Sie von Herzen gern habe …«

»Genug«, sagte ich, indem ich aufstand. »Jetzt ist es mir sonnenklar, daß auch Miß Polina über Mademoiselle Blanche vollkommen Bescheid weiß, sich aber von ihrem Franzosen nicht trennen kann und sich deshalb dazu versteht, mit Mademoiselle Blanche spazierenzugehen. Sie können sicher sein, daß sie sich durch keinen andern Einfluß dazu bringen lassen würde, dies zu tun und noch außerdem mich in ihrem Schreiben flehentlich zu bitten, ich möchte dem Baron nur ja nichts zuleide tun. Hier muß entschieden jene Einwirkung vorliegen, der sich hier alles fügt! Und dennoch ist sie es ja gerade gewesen, die mich auf den Baron gehetzt hat! Hol’s der Teufel, klug wird man aus der Sache nicht!«

»Sie vergessen erstens, daß diese Mademoiselle de Cominges die Braut des Generals ist, und zweitens, daß Miß Polina, die Stieftochter des Generals, noch einen kleinen Bruder und eine kleine Schwester hat, die leiblichen Kinder des Generals, um die dieser Wahnsinnige sich schon gar nicht mehr kümmert, und an deren Eigentum er, wie es scheint, sich bereits vergriffen hat.«

»Ja, ja! So ist es! Wenn sie wegginge, so hieße das, die Kinder völlig dem Verderben preisgeben; wenn sie dagegen hierbleibt, kann sie sich ihrer annehmen und vielleicht noch Reste des Vermögens für sie retten. Ja, ja, das ist alles richtig. Aber trotzdem, trotzdem! Oh, ich verstehe, warum sie sich jetzt alle so für die alte Tante interessieren!«

»Für wen?« fragte Mister Astley.

»Für jene alte Hexe in Moskau, die nicht sterben will, und über deren Tod sie ein Telegramm erwarten.«

»Nun ja, natürlich konzentriert sich jetzt auf die das allgemeine Interesse. Alles kommt jetzt auf die Erbschaft an! Sobald der General die Erbschaft hat, heiratet er; Miß Polina wird dann gleichfalls Herrin ihrer selbst, und de Grieux …«

»Nun, und de Grieux?«

»De Grieux bekommt sein Geld zurückbezahlt; darauf wartet er hier doch nur.«

»Nur darauf? Meinen Sie wirklich, daß er nur darauf wartet?«

»Weiter weiß ich nichts«, erwiderte Mister Astley; er schien entschlossen, hartnäckig zu schweigen.

»Aber ich weiß mehr, ich weiß mehr!« rief ich wütend. »Er wartet ebenfalls auf die Erbschaft, weil Polina dann eine Mitgift erhält und, sobald sie Geld hat, sich ihm sofort an den Hals werfen wird. Alle Weiber sind von der Art! Und gerade die stolzesten unter ihnen, das werden die niedrigsten Sklavinnen! Polina ist keiner andern als einer leidenschaftlichen Liebe fähig! Das ist mein Urteil über sie! Betrachten Sie sie nur einmal aufmerksam, namentlich wenn sie allein sitzt und ihren Gedanken nachhängt: es ist, als ob sie zu einem bestimmten Schicksal prädestiniert, verurteilt, verdammt wäre! Sie ist fähig, alle Glut der Leidenschaft zu empfinden und allen Schrecken des Lebens zu trotzen, … sie … sie … Aber wer ruft mich da?« unterbrach ich mich plötzlich. »Wer mag das sein? Ich hörte jemanden auf russisch rufen: ›Alexej Iwanowitsch!‹ Es war eine weibliche Stimme. Hören Sie nur, hören Sie nur!«

Wir näherten uns in diesem Augenblick schon unserm Hotel. Wir hatten schon längst, fast ohne uns selbst dessen bewußt zu werden, das Café verlassen.

»Ich hörte, daß eine Frauenstimme rief; aber ich weiß nicht, wer gerufen wurde; russisch war es. Jetzt sehe ich, von wo gerufen wird«, sagte Mister Astley und wies mit der Hand hin; »die Dame dort ruft, die auf einem großen Lehnstuhl sitzt und gerade von vielen Dienern die Stufen vor dem Portal hinangetragen wird. Hinter ihr werden Koffer gebracht; es ist offenbar soeben ein Zug angekommen.«

»Aber warum ruft sie mich? Sie ruft wieder; sehen Sie, sie winkt uns.«

»Ja, ich sehe, daß sie winkt«, erwiderte Mister Astley. »Alexej Iwanowitsch! Alexej Iwanowitsch! Nein, was ist das hier doch für ein Tölpel!« hörte ich vom Hoteleingang her heftig rufen.

Wir eilten im schnellsten Schritt zum Portal. Ich stieg vor demselben die Stufen zur Plattform hinan, und … die Arme sanken mir vor Erstaunen am Leib hinunter, und meine Füße schienen am Boden festgewachsen zu sein.

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Neuntes Kapitel

Neuntes Kapitel

Oben auf der breiten Plattform vor dem Portal des Hotels saß in einem Lehnstuhl, auf dem sie die Stufen hinangetragen war, umgeben von ihrer Dienerschaft und dem zahlreichen, diensteifrigen Hotelpersonal mit Einschluß des Oberkellners selbst, der herausgekommen war, um die hohe Besucherin zu begrüßen, die mit so viel Lärm und Geräusch, mit eigener Dienerschaft und mit einer solchen Unmenge von Koffern und Schachteln angereist kam – ja, wer saß da? Die alte Tante!

Ja, sie war es selbst, die gebieterische, reiche, fünfundsiebzigjährige Antonida Wassiljewna Tarassewitschewa, Gutsbesitzerin und Moskauer Hausbesitzerin, die Tante, um derentwillen so viele Telegramme abgeschickt und eingelaufen waren, die Tante, die immer im Sterben gelegen hatte und doch nicht gestorben war, und die nun auf einmal selbst in höchsteigener Person wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei uns erschien. Sie war erschienen, obgleich sie nicht gehen konnte; sie ließ sich eben, wie stets während der letzten fünf Jahre, im Sessel tragen; aber sie war wie immer: energisch, kampflustig, selbstzufrieden, saß gerade, redete laut und herrisch, schimpfte auf alle Menschen, kurz, sie war genau ebenso, wie ich sie bei zwei, drei Gelegenheiten zu sehen die Ehre gehabt hatte, seit ich in das Haus des Generals als Hauslehrer eingetreten war. Sehr natürlich, daß ich vor ihr ganz starr vor Verwunderung dastand. Sie hatte mich mit ihren Luchsaugen schon auf hundert Schritt Entfernung erblickt, als sie auf ihrem Stuhl ins Hotel getragen wurde, hatte mich erkannt und bei meinem Vornamen und Vatersnamen gerufen, wie sie denn solche Namen, wenn sie sie einmal gehört hatte, für immer im Gedächtnis zu behalten pflegte. »Und von einer solchen Frau haben sie gehofft, sie würden sie im Sarg und beerdigt sehen und ihre Erbschaft antreten!« Das war der Gedanke, der mir durch den Kopf schoß. »Die wird uns alle und die ganze Bewohnerschaft des Hotels überleben! Aber, um Gottes willen, was wird nun aus den Unsrigen, was wird aus dem General! Sie wird nun das ganze Hotel auf den Kopf stellen!«

»Nun, lieber Freund, warum stehst du denn so vor mir da und reißt die Augen auf?« schrie mich die alte Dame an. »Eine Verbeugung zu machen und guten Tag zu sagen, das verstehst du wohl nicht, he? Oder bist du stolz geworden und willst es nicht tun? Oder hast du mich vielleicht nicht wiedererkannt? Hörst du wohl, Potapytsch«, wandte sie sich an einen grauhaarigen Alten in Frack und weißer Krawatte und mit einer rosenfarbenen Glatze, ihren Haushofmeister, der sie auf der Reise begleitete, »hörst du wohl, er erkennt mich nicht wieder! Sie haben mich schon begraben! Ein Telegramm schickten sie über das andere: ›Ist sie gestorben oder nicht?‹ Ja, ja, ich weiß alles! Aber siehst du wohl, ich bin noch fuchsmunter.«

»Aber ich bitte Sie, Antonida Wassiljewna, wie sollte es mir in den Sinn kommen, Ihnen Übles zu wünschen?« erwiderte ich in heiterem Ton, sobald ich meine Gedanken wieder gesammelt hatte. »Ich war nur zu erstaunt … Und wie sollte man sich auch da nicht wundern, wenn Sie so unerwartet …«

»Was ist dir dabei verwunderlich? Ich habe mich auf die Bahn gesetzt und bin hergefahren. Im Waggon fährt es sich ruhig; der stößt nicht wie ein Wagen. Du bist wohl spazierengegangen, wie?«

»Ja, ich war nach dem Kurhaus gegangen.«

»Hier ist es hübsch«, sagte die Tante, sich umschauend. »Es ist warm, und da sind herrliche Bäume. Das habe ich gern! Sind unsere Leute zu Hause? Auch der General?«

»Oh, gewiß werden sie zu Hause sein; zu dieser Stunde sind sie sicher alle zu Hause.«

»Haben sie etwa auch hier Empfangsstunden eingeführt und alle möglichen andern Zeremonien? Sie geben ja wohl den Ton in der Gesellschaft an. Ich habe gehört, sie halten sich Equipage, les seigneurs russes! Wenn sie sich in Rußland durch ihre Verschwendung ruiniert haben, dann heißt’s: nun ins Ausland! Ist auch Praskowja[R1] bei ihnen?«

»Ja, Polina Alexandrowna ist auch hier.«

»Auch der kleine Franzose? Na, ich werde sie ja bald alle selbst sehen. Alexej Iwanowitsch, zeige mir den Weg direkt zu ihm. Geht es dir hier gut?«

»Es macht sich ja, Antonida Wassiljewna.«

»Und du, Potapytsch, sage diesem Tölpel von Kellner, er solle mir ein bequemes Logis anweisen, ein hübsches Logis, nicht zu hoch gelegen; und dahin laß auch gleich die Sachen bringen! Aber warum drängen sich denn alle dazu, mich zu tragen? Warum sind sie so aufdringlich? So ein Sklavenpack! Wen hast du da bei dir?« wandte sie sich wieder zu mir.

»Das ist Mister Astley«, erwiderte ich.

[F1: Ein vulgärer Name, wohl Polinas Taufname, der in der Familie des Generals durch den ausländischen Polina ersetzt worden war. (A. d. Ü.)] »Was für ein Mister Astley?«

»Ein vielgereister Marnn und ein guter Bekannter von mir; er ist auch mit dem General bekannt.«

»Ein Engländer. Na ja, darum glotzt er mich auch so an und bringt die Zähne nicht auseinander. Übrigens mag ich die Engländer gern. Na also, dann tragt mich nach oben, geradeswegs zu ihnen in ihre Wohnung; wo wohnen sie denn hier?«

Die Tante wurde weitergetragen; ich ging auf der breiten Hoteltreppe voran. Unser Zug machte einen großartigen Effekt. Alle, auf die wir trafen, blieben stehen und betrachteten uns mit weit geöffneten Augen. Unser Hotel gilt als das beste, teuerste und aristokratischste dieses Badeortes. Auf der Treppe und den Korridoren begegnet man stets sehr elegant gekleideten Damen und vornehmen Engländern. Viele erkundigten sich unten beim Oberkellner, der seinerseits einen außerordentlichen tiefen Eindruck empfangen hatte. Er antwortete selbstverständlich allen Fragern, es sei eine sehr vornehme Ausländerin, une russe, une comtesse, grande dame, und sie nehme dasselbe Quartier, das eine Woche vorher la grande-duchessc de N. innegehabt habe. Den Haupteffekt machte das herrische und gebieterische äußere Wesen, das die Tante zeigte, während sie auf ihrem Stuhl nach oben getragen wurde. Bei der Begegnung mit jeder neuen Person maß sie diese sofort mit einem neugierigen Blick und befragte mich laut nach allen. Die Tante war aus einer Familie von stämmigem Körperbau, und obgleich sie von ihrem Stuhl nicht aufstand, so merkte man doch, wenn man sie ansah, daß sie sehr hochgewachsen war. Den Rücken hielt sie gerade wie ein Brett und lehnte sich nicht im Stuhl hinten an. Den grauhaarigen, großen Kopf mit den derben, scharfen Gesichtszügen trug sie hoch aufgerichtet; ihre Miene hatte dabei sogar etwas Hochmütiges und Herausforderndes. Es war deutlich, daß ihr Blick und ihre Bewegungen vollkommen natürlich waren. Trotz ihrer fünfundsiebzig Jahre sah ihr Gesicht noch ziemlich frisch aus, und selbst die Zähne hatten nicht allzuviel gelitten. Ihr Anzug bestand aus einem schwarzen Seidenkleid und einer weißen Haube.

»Sie interessiert mich außerordentlich«, flüsterte mir Mister Astley zu, der neben mir die Treppe hinaufstieg.

»Von den Telegrammen weiß sie«, dachte ich bei mir; »de Grieux ist ihr ebenfalls bekannt; aber von Mademoiselle Blanche weiß sie anscheinend noch wenig.« Ich teilte dies sogleich Mister Astley mit.

Ich bin doch ein recht schändlicher Mensch! Kaum hatte sich mein erstes Erstaunen gelegt, da freute ich mich furchtbar über den Donnerschlag, der unser Erscheinen im nächsten Augenblick für den General sein mußte. Ich hatte ein Gefühl, als ob mich innerlich etwas aufstachelte, und ging in sehr heiterer Stimmung voran.

Die Unsrigen wohnten in der dritten Etage; ich ließ uns nicht anmelden und klopfte nicht einmal an der Tür an, sondern schlug einfach die Flügel weit zurück, und die Tante wurde im Triumph hereingetragen. Alle befanden sich, wie durch eine besondere Fügung, im Zimmer des Generals beisammen. Es war zwölf Uhr, und sie besprachen, wie es schien, gerade einen geplanten Ausflug teils zu Wagen, teils zu Pferde; es sollte daran die ganze Gesellschaft teilnehmen, und es waren außerdem noch einige Bekannte aufgefordert. Außer dem General, Polina, den Kindern und ihrer Kinderfrau waren im Zimmer anwesend: de Grieux, Mademoiselle Blanche, wieder im Reitkleid, ihre Mutter, Madame veuve Cominges, der kleine Fürst und endlich ein gelehrter Reisender, ein Deutscher, den ich bei ihnen zum erstenmal sah.

Die Träger setzten den Stuhl mit der Tante gerade in der Mitte des Zimmers, drei Schritte vom General entfernt, nieder. Gott im Himmel, nie werde ich den Eindruck vergessen, den das hervorbrachte! Vor unserm Eintritt hatte der General etwas erzählt und de Grieux es berichtigt. Es muß bemerkt werden, daß Mademoiselle Blanche und de Grieux schon seit zwei, drei Tagen aus irgendwelchem Grunde dem kleinen Fürsten stark den Hof machten, worüber sich der arme General ärgerte. Die ganze Gesellschaft befand sich, wenn das auch vielleicht nur gekünstelt war, in der heitersten Stimmung, und das Gespräch wurde in munterem, familiärem Ton geführt. Beim Anblick der Tante wurde der General plötzlich starr, riß den Mund auf und verstummte mitten in einem Wort. Die Augen traten ihm ordentlich aus dem Kopf, und er schaute sie an, als wäre er durch den Blick eines Basilisken bezaubert. Die Tante schaute ihn ebenfalls schweigend und ohne sich zu rühren an; aber was war das für ein triumphierender, herausfordernder, spöttischer Blick! So sahen sie einander wohl zehn volle Sekunden lang an, unter tiefem Schweigen aller Anwesenden. De Grieux war zunächst wie versteinert gewesen; aber sehr bald kam auf seinem Gesicht eine heftige Unruhe zum Ausbruch. Mademoiselle Blanche zog die Augenbrauen in die Höhe, machte den Mund auf und richtete ihre verstörten Blicke auf die Tante. Der Fürst und der Gelehrte betrachteten mit verständnislosem Staunen dieses ganze Bild, das sich ihnen darbot. In Polinas Blick drückte sich eine grenzenlose Verwunderung aus; aber auf einmal wurde sie bleich wie Leinwand; einen Augenblick darauf schlug ihr das Blut schnell ins Gesicht zurück, so daß ihre Wangen dunkelrot wurden. Ja, das war für sie alle eine Katastrophe! Ich ließ meine Augen fortwährend zwischen der Tante und der ganzen Gesellschaft hin und her wandern. Mister Astley stand etwas beiseite, wie gewöhnlich in ruhiger, wohlanständiger Haltung.

»Na, da bin ich also: Persönlich, statt eines Telegramms!« Mit diesen Worten unterbrach die Tante endlich das Schweigen. »Nicht wahr, das hattet ihr wohl nicht erwartet?«

»Antonida Wassiljewna … Liebe Tante … Aber wie geht es nur zu …«, murmelte der unglückliche General.

Hätte die Tante noch ein paar Sekunden länger geschwiegen, so würde ihn vielleicht der Schlag gerührt haben.

»Wie es zugeht? Ich habe mich auf die Eisenbahn gesetzt und bin hergefahren. Wozu wäre denn die Eisenbahn sonst da? Und ihr habt alle gedacht, ich hätte schon die Augen für immer zugemacht und euch meine Erbschaft hinterlassen? Siehst du, ich weiß, daß du von hier eine Menge Telegramme abgeschickt hast. Du wirst einen tüchtigen Batzen Geld dafür bezahlt haben, denke ich mir. Von so weit her ist das nicht billig. Aber ich habe mich aufgemacht und bin hierhergefahren. Ist das der Franzose von früher? Monsieur de Grieux, wenn mir recht ist?«

»Oui, madame«, erwiderte de Grieux, »et croyez, je suis si enchanté … votre santé … c’est un miracle … vous voir ici … une surprise charmante …«

»So, so, charmante; ich kenne dich, du Heuchler; ich glaube dir auch nicht so viel!« Dabei zeigte sie es ihm an ihrem kleinen Finger. »Was ist denn das für eine?« fragte sie, indem sie sich umwandte und auf Mademoiselle Blanche wies. Die hübsche Französin, im Reitkleid, die Reitpeitsche in der Hand, erregte offenbar ihr lebhaftes Interesse. »Wohl eine von hier, wie?«

»Das ist Mademoiselle Blanche de Cominges, und dort ist auch ihre Mutter, Madame de Cominges; sie wohnen ebenfalls hier im Hotel«, berichtete ich.

»Ist die Tochter verheiratet?« erkundigte sich die Tante ganz ungeniert.

»Mademoiselle de Cominges ist ledig«, antwortete ich möglichst respektvoll und absichtlich nur halblaut.

»Ist sie eine lustige Person?«

Der Sinn dieser Frage war mir nicht sofort klar.

»Ist sie im Umgang amüsant? Kann sie Russisch? Dieser de Grieux hat ja bei uns in Moskau auch ein paar Brocken Russisch aufgeschnappt.«

Ich bemerkte ihr, Mademoiselle de Cominges sei nie in Rußland gewesen.

»Bonjour«, sagte die Tante, sich plötzlich mit scharfer Drehung des Körpers zu Mademoiselle Blanche hinwendend.

»Bonjour, madame«, erwiderte Mademoiselle Blanche mit einem zeremoniellen, eleganten Knicks; sie bemühte sich, unter dem Schleier besonderer Bescheidenheit und Höflichkeit durch den gesamten Ausdruck ihres Gesichts und ihrer Gestalt ihr großes Befremden über die seltsamen Fragen und die eigentümliche Anrede zum Ausdruck zu bringen.

»Oh, sie hat die Augen niedergeschlagen, benimmt sich förmlich und ziert sich; da sieht man gleich, was das für ein Vogel ist; gewiß eine Schauspielerin? Ich habe hier im Hotel weiter unten Wohnung genommen«, wandte sie sich auf einmal wieder an den General. »Ich werde also deine Hausgenossin sein; freust du dich darüber oder nicht?«

»Oh, liebe Tante, Sie können überzeugt sein, daß ich mich aufrichtig … aufrichtig darüber freue«, erwiderte der General eilig. Es war ihm bereits gelungen, seine Gedanken einigermaßen zu sammeln, und da er es verstand, bei gegebener Gelegenheit gewandt, würdig und bis zu einem gewissen Grade effektvoll zu reden, so schickte er sich auch jetzt an, sich etwas ausführlicher zu äußern. »Wir waren infolge der Nachrichten über Ihre Krankheit in solcher Unruhe und Aufregung … Die Telegramme, die wir erhielten, klangen so hoffnungslos, und nun auf einmal …«

»Du schwindelst, du schwindelst«, unterbrach ihn die Tante sofort.

»Aber wie in aller Welt«, unterbrach sie nun seinerseits der General möglichst schnell und sprach dabei absichtlich lauter, um den Schein zu erwecken, als habe er ihre Zwischenbemerkung ›du schwindelst‹ überhört, »wie in aller Welt haben Sie sich nur zu einer solchen Reise entschließen können? Sie werden zugeben, bei Ihren Jahren und bei Ihrem Gesundheitszustand ist dies alles mindestens so unerwartet, daß unser Erstaunen begreiflich ist. Aber ich freue mich so sehr … und wir alle« (hier wurde auf seinem Gesicht ein Lächeln der Rührung und des Entzückens sichtbar) »werden uns aus allen Kräften bemühen, Ihnen Ihren hiesigen Aufenthalt zu einer Zeit schönsten, angenehmsten Genusses zu machen …«

»Na, hör nur auf; es ist ja doch alles nur leeres Geschwätz; du plapperst nach deiner Gewohnheit allerlei Unsinn zusammen; ich weiß schon allein, wie ich mein Leben einzurichten habe. Übrigens habe ich auch nichts dagegen, mit euch zu verkehren; ich trage euch nichts nach. Wie ich mich dazu habe entschließen können, fragst du? Aber was ist da zu verwundern? Das ist auf die allereinfachste Weise zugegangen. Warum sind nur alle Leute darüber so erstaunt? Guten Tag, Praskowja. Was machst du denn hier?«

»Guten Tag, liebes Großmütterchen«, begrüßte Polina sie freundlich und trat zu ihr hin. »Sind Sie lange unterwegs gewesen?«

»Na, seht mal, diese Frage von ihr war gescheiter als euer maßloses Erstaunen: ›Oh!‹ und ›Ach!‹ Also, siehst du wohl: ich lag immerzu zu Bette, und die Ärzte kurierten an mir herum; da jagte ich sie davon und ließ mir einen Kirchendiener von der Nikolauskirche kommen. Der hatte schon früher einmal eine alte Frau von derselben Krankheit mit Tee von Heustaub geheilt. Na also, der hat auch mir geholfen; am dritten Tag fing ich am ganzen Leibe stark zu schwitzen an, und dann stand ich auf. Nun traten meine deutschen Ärzte wieder zur Beratung zusammen, setzten sich ihre Brillen auf und kamen zu dem Resultat: ›Wenn Sie jetzt im Ausland eine Badekur durchmachen könnten, dann würden die Blutstockungen ganz behoben werden.‹ ›Na, warum nicht?‹ dachte ich. Da schlugen die Hansnarren die Hände über dem Kopf zusammen: ›Wie können Sie nur daran denken, eine so große Reise zu unternehmend!‹ Aber hast du gesehen: an einem Tag packte ich, und am Freitag der vorigen Woche nahm ich mein Mädchen und Potapytsch und den Diener Fjodor mit; diesen Fjodor habe ich aber von Berlin aus wieder zurückgeschickt, weil ich sah, daß ich ihn gar nicht nötig hatte; ich hätte sogar vollständig allein reisen können. Auf der Bahn nehme ich mir ein besonderes Abteil; und Gepäckträger sind auf allen Stationen vorhanden; die tragen einen für ein Zwanzigkopekenstück, wohin man will … Nun seht mal an, was ihr hier für ein schönes Logis habt!« schloß sie, indem sie sich rings umsah. »Aus was für Mitteln leistest du dir denn das, Freundchen? Dein ganzer Grundbesitz ist doch verpfändet. Und was bist du schon allein diesem Franzosen hier für eine Summe schuldig! Ja, ja, ich weiß alles, weiß alles!«

»Liebe Tante …«, begann der General äußerst verlegen, »ich wundere mich, liebe Tante … ich kann doch, möchte ich meinen, auch ohne Kontrolle von seiten eines andern … Überdies übersteigen meine Ausgaben durchaus nicht meine Mittel, und wir leben hier …«

»Übersteigen nicht? Übersteigen nicht? Was du sagst! Und deinen Kindern wirst du wohl schon das letzte, was sie hatten, geraubt haben. Ein netter Vormund!«

»Wenn Sie so denken und mir dergleichen sagen …«, fing der General unwillig an, »so weiß ich wirklich nicht …«

»Ja, ja, du weißt nicht, du weißt nicht! Vom Roulett kommst du hier wohl gar nicht mehr weg? Bist wohl ganz ausgebeutelt?«

Der General war so perplex, daß er vor Aufregung beinah erstickte.

»Vom Roulett! Ich? Bei meinem Stande … Ich? Kommen Sie zur Besinnung, liebe Tante; Sie sind gewiß noch krank …«

»Na, du schwindelst, du schwindelst; bist gewiß vom Spieltisch gar nicht wegzukriegen; immer schwindelst du! Aber ich werde mir einmal ansehen, was es mit diesem Roulett für eine Bewandtnis hat, heute noch. Du, Praskowja, erzähle mir mal, was hier alles zu sehen ist, und auch Alexej Iwanowitsch da kann mich instruieren; und du, Potapytsch, notiere alle Orte, wo wir hinfahren sollen. Was ist hier zu sehen?« wandte sie sich plötzlich wieder an Polina.

»Hier in der Nähe ist eine Burgruine, und dann der Schlangenberg.«

»Was ist das, der Schlangenberg? Wohl ein Park, nicht wahr?«

»Nein, es ist nicht ein Park, sondern ein Berg. Da ist ein Aussichtspunkt, der höchste Punkt auf dem Berge, ein mit einem Geländer umgebener Platz. Von da hat man eine herrliche Aussicht.«

»Also soll ich meinen Stuhl auf den Berg tragen lassen? Werden sie ihn hinaufkriegen oder nicht?«

»Oh, Träger werden sich schon finden lassen«, erwiderte ich.

In diesem Augenblick näherte sich der alten Dame die Kinderfrau Fedosja, um sie zu begrüßen, und führte ihr auch die Kinder des Generals zu.

»Na, das Küssen laßt nur beiseite! Ich mag Kinder nicht küssen; alle Kinder haben Schmutznasen. Nun, wie geht es dir hier, Fedosja?«

»Hier ist es sehr, sehr schön, Mütterchen Antonida Wassiljewna«, antwortete Fedosja. »Wie ist es Ihnen denn gegangen, Mütterchen? Wir haben Sie so bedauert.«

»Ich weiß, du bist eine gute Seele. Was sind denn das hier für Leute bei euch, wohl alles Besuch, nicht wahr?« wandte sie sich wieder an Polina. »Wer ist denn der widerliche Mensch da mit der Brille?«

»Fürst Nilski, Großmütterchen«, flüsterte ihr Polina zu.

»Ach so, es ist ein Russe? Ich hatte gedacht, er verstände nicht, was ich sagte! Na, vielleicht hat er es nicht gehört. Mister Astley habe ich schon gesehen. Da ist er ja wieder«, fuhr sie fort, da sie seiner in diesem Augenblick ansichtig wurde. »Guten Tag!« wandte sie sich an ihn.

Mister Astley machte ihr schweigend eine Verbeugung.

»Nun, was werden Sie mir Gutes sagen? Sagen Sie doch etwas! Übersetze es ihm, Praskowja.«

Polina übersetzte es.

»Ich möchte also sagen: es ist mir ein großes Vergnügen, Sie kennenzulernen, und ich freue mich, daß Sie sich in guter Gesundheit befinden«, antwortete Mister Astley ernsthaft und mit größter Bereitwilligkeit. Seine Worte wurden der Alten übersetzt und gefielen ihr offenbar sehr.

»Was doch die Engländer immer für nette Antworten geben«, bemerkte sie. »Ich habe die Engländer immer sehr gern gehabt; gar kein Vergleich mit dem Franzosenvolk! Besuchen Sie mich!« wandte sie sich wieder an Mister Astley. »Ich werde mich bemühen, Ihnen nicht allzu lästig zu fallen. Übersetze ihm das und sage ihm, daß ich hier unten wohne, hier unten, hören Sie wohl, unten, unten«, wiederholte sie für Mister Astley und zeigte dabei mit dem Finger nach unten.

Mister Astley war über die Einladung sehr erfreut.

Nun betrachtete die Tante mit einem aufmerksamen, zufriedenen Blick Polina vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ich würde dich sehr lieb haben«, sagte sie dann ohne weiteres, »du bist ein prächtiges Mädchen, besser als sie alle; aber einen eigentümlichen Charakter hast du, o weh, o weh! Na, ich habe ja auch meinen besonderen Charakter. Dreh dich mal um; hast du da auch nicht eine falsche Einlage im Haar?«

»Nein, Großmütterchen, es ist alles mein eigenes.«

»Na ja, die jetzige dumme Mode kann ich nicht leiden. Hübsch bist du. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich in dich verlieben. Warum verheiratest du dich nicht? Na, aber nun habe ich keine Zeit mehr. Ich möchte eine Spaziertetour machen; dieses ewige Im-Waggon-Sitzen! … Nun, und du? Bist du immer noch böse?« wandte sie sich an den General.

»Aber ich bitte Sie, liebe Tante, sprechen wir nicht davon!« fiel der erfreute General schnell ein. »Ich verstehe vollkommen, daß, wer in Ihren Jahren steht …«

»Cette vieille est tombée en enfance«, flüsterte nur de Grieux zu.

»Ich will mir hier alles ansehen«, erklärte die Tante. Und zu dem General gewendet fügte sie hinzu: »Willst du mir Alexej Iwanowitsch abtreten?«

»Oh, so lange Sie wünschen. Aber ich könnte ja auch selbst … und Polina und Monsieur de Grieux … uns allen wird es ein Vergnügen sein, Sie zu begleiten.«

»Mais, madame, cela sera un plaisir…«, beeilte sich de Grieux mit einem bezaubernden Lächeln hinzuzufügen.

»So, so, plaisir. Du kommst mir sehr komisch vor, Freundchen. Geld werde ich dir übrigens nicht geben«, fuhr sie, sich an den General wendend, unvermittelt fort. »Na, jetzt also nach meinem Logis; ich muß es doch in Augenschein nehmen; und dann wollen wir überallhin, wo es etwas zu sehen gibt. Na, nun hebt mich auf!«

Die Träger hoben sie wieder in die Höhe, und fast alle Anwesenden zogen in dichtem Haufen hinter dem Stuhl her die Treppe hinunter. Der General ging, als wäre er von einem Knittelschlag über den Kopf betäubt. De Grieux schien etwas zu überlegen. Mademoiselle Blanche hatte eigentlich zurückbleiben wollen, änderte dann aber ihre Absicht und schloß sich den andern an. Sofort folgte ihr auch der Fürst, und oben, in der Wohnung des Generals, blieben nur der Deutsche und Madame veuve Cominges zurück.

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Drittes Kapitel

Drittes Kapitel

Gestern aber sprach sie den ganzen Tag über mit mir nicht ein einziges Wort vom Spiel. Und überhaupt vermied sie es gestern, mit mir zu reden. Ihr früheres Benehmen gegen mich hatte keine Veränderung erfahren. Dieselbe völlige Gleichgültigkeit im Verkehr und bei Begegnungen und sogar eine gewisse Geringschätzung und eine Art von Haß. Überhaupt gibt sie sich keine Mühe, ihre Abneigung gegen mich zu verbergen; das sehe ich deutlich. Trotzdem verbirgt sie mir andrerseits auch nicht, daß sie mich zu irgendwelchem Zweck nötig hat und mich dazu aufspart. Es hat sich zwischen uns ein sonderbares Verhältnis herausgebildet, das mir in vieler Hinsicht unverständlich ist, wenn ich ihren Stolz und Hochmut allen gegenüber in Betracht ziehe. Sie weiß zum Beispiel, daß ich sie bis zur Raserei liebe, gestattet mir sogar, von meiner Leidenschaft zu sprechen, und sicherlich könnte sie mir ihre Geringschätzung durch nichts deutlicher ausdrücken, als eben durch diese Erlaubnis, frei und unbehindert zu ihr von meiner Liebe zu reden. Sie sagt damit gewissermaßen zu mir: »Ich schätze deine Gefühle so gering, daß es mir völlig gleichgültig ist, worüber du mit mir redest, und was du für mich empfindest.« Von ihren eigenen Angelegenheiten hat sie auch früher viel mit mir gesprochen, ist aber nie ganz offenherzig gewesen. Und nicht genug damit, in ihrer Geringschätzung gegen mich liegen auch noch gewisse Feinheiten: weiß sie zum Beispiel, daß mir irgendein Umstand ihres Lebens oder etwas von ihren Gemütsbewegungen bekannt ist, so erzählt sie mir unaufgefordert etwas von sich, wenn sie meiner irgendwie für ihre Zwecke zu Sklaven- oder Laufburschendiensten bedarf; aber sie erzählt mir immer nur gerade so viel, als jemand zu wissen nötig hat, der zu solchen Diensten benutzt wird, so daß mir der ganze Zusammenhang der Dinge noch unbekannt bleibt. Aber obgleich sie dann selbst sieht, welche Pein und Aufregung ich meinerseits über ihre Pein und Aufregung empfinde, so läßt sie sich doch nie dazu herab, mich durch freundschaftliche Offenherzigkeit zu beruhigen. Und doch wäre sie meiner Ansicht nach dazu verpflichtet, offenherzig gegen mich zu sein, da sie mich nicht selten zu recht mühevollen, ja gefährlichen Aufträgen benutzt. Ist es denn der Mühe wert, sich um meine Gefühle zu kümmern, sich darum zu kümmern, daß ich mich gleichfalls aufrege und mich vielleicht über ihre Sorgen und Nöte dreimal so sehr ängstige und quäle als sie selbst?

Ich wußte schon seit ungefähr drei Wochen von ihrer Absicht, am Roulett zu spielen. Sie hatte mir sogar angekündigt, ich müsse mit ihr zusammen spielen, weil es für sie selbst nicht schicklich sei zu spielen. An dem Ton, in dem sie sprach, hatte ich schon damals gemerkt, daß sie irgendeine ernste Sorge hatte und nicht etwa nur so einfach den Wunsch hegte, Geld zu gewinnen. Was liegt ihr denn an dem Geld an und für sich! Da muß eine bestimmte Absicht dahinterstecken, irgendwelche Umstände, die ich vielleicht erraten kann, bis jetzt aber nicht kenne. Natürlich könnte der Zustand der Erniedrigung und Sklaverei, in dem sie mich hält, mir die Möglichkeit geben (und er gibt sie mir wirklich sehr oft), sie dreist und geradezu selbst zu fragen. Da ich für sie ein Sklave bin und in ihren Augen nicht die geringste Bedeutung habe, so hat sie keinen Anlaß, sich durch meine dreiste Neugier beleidigt zu fühlen. Aber die Sache ist die, daß sie mir zwar erlaubt, Fragen zu stellen, sie aber nicht beantwortet. Manchmal beachtet sie sie überhaupt nicht. So stehen wir zueinander.

Gestern wurde bei uns viel von einem Telegramm gesprochen, das schon vor vier Tagen nach Petersburg abgeschickt, auf das aber noch keine Antwort eingegangen war. Der General ist sichtlich aufgeregt und mit seinen Gedanken beschäftigt. Es handelt sich natürlich um die alte Tante. Auch der Franzose ist in Aufregung. So sprachen sie gestern nach dem Mittagessen lange und ernst miteinander. Der Ton des Franzosen ist uns allen gegenüber sehr hochmütig und geringschätzig. Es geht hier genau nach dem Sprichwort: »Wenn man ihn an den Tisch nimmt, so legt er gleich die Füße darauf.« Sogar gegen Polina benimmt er sich geringschätzig bis zur Ungezogenheit; jedoch nimmt er mit Vergnügen an den gemeinsamen Spaziergängen im Kurpark und an den Ausflügen zu Pferde und zu Wagen in die Umgegend teil. Mir ist schon längst etwas von den Beziehungen bekannt, die zwischen dem Franzosen und dem General bestehen: in Rußland wollten sie zusammen eine Fabrik errichten; ich weiß nicht, ob das Projekt aufgegeben ist, oder ob sie noch immer davon sprechen. Außerdem ist mir zufällig ein Teil eines Familiengeheimnisses bekanntgeworden: der Franzose hat im vorigen Jahr dem General wirklich aus einer bösen Klemme geholfen, indem er ihm dreißigtausend Rubel gab zur Deckung eines Defizits bei den Staatsgeldern, das sich herausstellte, als der General sein Amt abgab. Und nun hat er natürlich den General im Schraubstock; jetzt aber, gerade jetzt spielt in allen diesen Dingen doch Mademoiselle Blanche die Hauptrolle, und ich bin überzeugt, daß ich auch hierin mich nicht irre.

Was ist diese Mademoiselle Blanche für eine Person? Hier bei uns wird gesagt, sie sei eine vornehme Französin, die mit ihrer Mutter zusammen lebe und ein kolossales Vermögen besitze. Es ist auch bekannt, daß sie eine Verwandte unseres Marquis ist, aber eine sehr entfernte Verwandte, eine weitläufige Cousine. Man sagt, vor meiner Abreise nach Paris hätten der Franzose und Mademoiselle Blanche sich gegeneinander weit förmlicher benommen und ihr Verkehr hätte sich in viel feinerer, gewählterer Form vollzogen; jetzt sähen ihre Bekanntschaft, Freundschaft und Verwandtschaft ungenierter und intimer aus. Vielleicht erscheint ihnen unsere Lage schon als dermaßen schlecht, daß sie es nicht für nötig erachten, vor uns erst noch viele Umstände zu machen und sich zu verstellen. Ich bemerkte schon vorgestern, daß Mister Astley Mademoiselle Blanche und ihre Mutter aufmerksam betrachtete. Es machte mir den Eindruck, als kenne er sie beide schon. Es schien mir auch, daß unser Franzose bereits früher mit Mister Astley zusammengetroffen sei. Indes ist Mister Astley so schüchtern, schwach und schweigsam, daß man sicher sein kann, er wird keine Indiskretion begehen. Wenigstens grüßt ihn der Franzose kaum und sieht ihn beinah nicht an, wonach anzunehmen ist, daß er sich nicht vor ihm fürchtet. Das kann man noch verstehen; aber warum sieht Mademoiselle Blanche ihn gleichfalls nicht an? Sie tat es nicht einmal, als der Marquis sich gestern verplapperte: bei einem Gespräch, an dem sich alle beteiligten, sagte er auf einmal, ich weiß nicht mehr aus welchem Anlaß, Mister Astley sei kolossal reich, das wisse er; da jedenfalls hätte doch Mademoiselle Blanche Mister Astley ansehen müssen! Der General befindet sich fast immer in Unruhe. Es ist begreiflich, welche Bedeutung jetzt für ihn ein Telegramm über den Tod der Tante haben würde!

Es schien mir zwar, als ob Polina ein Gespräch mit mir absichtlich vermied; aber nun nahm auch ich meinerseits eine kühle, gleichgültige Miene an; ich meinte, sie werde sich mir allmählich doch wieder nähern. Dafür wandte ich gestern und heute meine Aufmerksamkeit vorzugsweise Mademoiselle Blanche zu. Der arme General, er ist ganz hin! Mit fünfundfünfzig Jahren sich so leidenschaftlich zu verlieben, das ist gewiß ein Unglück. Wenn man dazu noch seinen Witwerstand bedenkt und seine Kinder und seine total ruinierten Vermögensverhältnisse und seine Schulden und schließlich die Frauensperson, in die er sich verliebt hat! Mademoiselle Blanche ist eine schöne Erscheinung. Aber ich weiß nicht, ob man mich versteht, wenn ich sage: sie hat eines von den Gesichtern, vor denen man erschrecken kann. Ich wenigstens habe mich vor solchen Weibern immer gefürchtet. Sie ist wahrscheinlich ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Sie ist hochgewachsen und breitschultrig; ihre Schultern zeigen eine schöne Rundung, Hals und Brust sind prachtvoll, die Hautfarbe zwischen gelblich und bräunlich, das Haar dunkelschwarz und so reich und üppig, daß es für zwei Köpfe ausreichen würde. Die Augen sind schwarz, das Weiße darin gelblich, der Blick dreist, die Zähne sehr weiß, die Lippen immer pomadisiert; sie riecht nach Moschus. Sie kleidet sich auffallend, reich, eigenartig, aber mit viel Geschmack. Ihre Füße und Hände sind wundervoll. Ihre Stimme ist ein heiserer Alt. Mitunter lacht sie laut auf und zeigt dabei all ihre Zähne; aber gewöhnlich verhält sie sich schweigsam und blickt nur dreist um sich, wenigstens in Polinas und Marja Filippownas Gegenwart. (Ein sonderbares Gerücht: es heißt, Marja Filippowna werde wieder nach Rußland zurückfahren.) Wie mir scheint, ist Mademoiselle Blanche ohne alle Bildung, vielleicht sogar nicht einmal klug, aber dafür mißtrauisch und schlau. Ich vermute, daß ihr Leben nicht ohne Abenteuer gewesen ist. Wenn ich alles sagen soll, so muß ich meine Meinung dahin aussprechen, daß der Marquis vielleicht überhaupt nicht ihr Verwandter und ihre Mutter gar nicht ihre Mutter ist. Aber man glaubt zu wissen, daß sie und ihre Mutter in Berlin, wo wir mit ihnen zusammentrafen, einige anständige Bekanntschaften hatten. Was den Marquis selbst betrifft, so zweifle ich bis auf diesen Augenblick, daß er ein Marquis ist; aber daß er zur anständigen Gesellschaft gerechnet wird, sowohl bei uns, zum Beispiel in Moskau, als auch an manchen Orten Deutschlands, unterliegt, wie es scheint, keinem Zweifel. Ich weiß nicht, was er eigentlich in Frankreich vorstellt; es heißt, er besitze dort ein Château. Ich hatte vor meiner Abreise geglaubt, es werde in diesen vierzehn Tagen sich mancherlei zutragen, weiß aber immer noch nicht sicher, ob zwischen Mademoiselle Blanche und dem General ein entscheidendes Wort gesprochen ist. Alles hängt jetzt von unserer Lage ab, das heißt davon, ob der General ihnen viel Geld zeigen kann. Wenn zum Beispiel die Nachricht käme, daß die alte Tante nicht gestorben sei, so würde (davon bin ich überzeugt) Mademoiselle Blanche sofort verschwinden. Es ist mir selbst erstaunlich und lächerlich, was ich für eine Klatschschwester geworden bin. Oh, wie ekelhaft mir das alles ist! Mit welchem Vergnügen würde ich mich von all diesen Menschen und von all diesen Verhältnissen losmachen! Aber kann ich denn von Polina weggehen? Kann ich es denn unterlassen, um sie herum zu spionieren? Gewiß, das Spionieren ist etwas Gemeines; aber was kümmert mich das?

Interessant war mir gestern und heute auch Mister Astley. Ja, ich bin überzeugt, daß er in Polina verliebt ist! Es ist merkwürdig und lächerlich, wieviel manchmal der Blick eines schüchternen, reinen und keuschen Menschen, den die Liebe ergriffen hat, ausdrücken kann, namentlich in Augenblicken, wo der Betreffende lieber in die Erde versinken als durch ein Wort oder einen Blick etwas verraten möchte. Mister Astley begegnet uns sehr oft bei Spaziergängen. Er nimmt den Hut ab und geht vorbei, obgleich er natürlich von dem sehnsüchtigen Wunsch, sich uns anzuschließen, gequält wird. Wenn er dazu aufgefordert wird, lehnt er sofort ab. An Erholungsorten, im Kurhaus, bei der Musik oder bei der Fontäne, steht er mit Sicherheit irgendwo in der Nähe unserer Bank, und wo wir auch immer sind, im Park oder im Wald oder auf dem Schlangenberg, brauchen wir nur die Augen aufzumachen und uns umzuschauen, um unfehlbar irgendwo, entweder auf dem nächsten Steig oder hinter einem Gebüsch, ein Stückchen von Mister Astley zu erblicken. Es kommt mir vor, als suche er eine Gelegenheit, mit mir allein zu reden. Heute früh begegneten wir einander und wechselten einige Worte. Er spricht mitunter ganz ohne Zusammenhang. Kaum hatte er guten Tag gesagt, da fuhr er fort:

»Ah, Mademoiselle Blanche!… Ich habe schon viele solche Damen kennengelernt wie Mademoiselle Blanche!« Dann schwieg er und sah mich bedeutsam an. Was er damit sagen wollte, weiß ich nicht; denn auf meine Frage, was das heißen solle, nickte er nur schlau lächelnd mit dem Kopf und fügte hinzu: »Ja, ja, so ist das… Hat Mademoiselle Polina Freude an Blumen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Ich kann es schlechterdings nicht sagen.«

»Wie? Das wissen Sie nicht einmal?« rief er mit dem größten Erstaunen.

»Ich weiß es nicht, ich habe gar nicht darauf geachtet«, wiederholte ich lachend.

»Hm, das bringt mich auf einen besonderen Gedanken.«

Nach diesen Worten nickte er mit dem Kopf und ging weiter. Übrigens machte er ein zufriedenes Gesicht. Unser Gespräch war in einem schrecklichen Französisch geführt worden.

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Viertes Kapitel

Viertes Kapitel

Heute war ein komischer, sinnloser, verrückter Tag. Jetzt ist es elf Uhr nachts. Ich sitze in meinem Zimmerchen und überdenke das Geschehene. Es fing damit an, daß ich mich am Morgen genötigt sah, zum Roulett zu gehen, um für Polina Alexandrowna zu spielen. Ich nahm zu diesem Zwecke ihre ganzen hundertsechzig Friedrichsdor von ihr in Empfang, aber unter zwei Bedingungen: erstens, ich wolle mit ihr nicht auf Halbpart spielen, das heißt, im Falle des Gewinnens wolle ich nichts für mich nehmen, und zweitens, Polina solle mir am Abend Aufklärung darüber geben, wozu sie es eigentlich so nötig habe, Geld zu gewinnen, und wieviel Geld sie haben müsse. Ich konnte mir doch gar nicht vorstellen, daß dabei das Geld ihr letzter Zweck sein sollte. Offenbar war da irgendein besonderer Zweck, zudem sie das Geld nötig hatte, und zwar mit solcher Eile. Sie versprach, mir die verlangte Aufklärung zu geben, und ich ging hin.

In den Spielsälen herrschte ein furchtbares Gedränge. Wie unverschämt und gierig all diese Leute aussahen! Ich drängte mich nach der Mitte hindurch und kam dicht neben einen Croupier zu stehen. Dann probierte ich das Spielen schüchtern, indem ich jedesmal zwei oder drei Goldstücke setzte. Währenddessen stellte ich meine Beobachtungen an und bemerkte dies und das; es schien mir, daß die Berechnungen eigentlich herzlich wenig zu bedeuten haben und ganz und gar nicht die Wichtigkeit besitzen, die ihnen viele Spieler beimessen. Sie sitzen mit liniierten Papierblättern da, notieren die einzelnen Resultate, zählen, folgern daraus Chancen, rechnen, setzen endlich und – verlieren gerade ebenso wie wir gewöhnlichen Sterblichen, die wir ohne Berechnung spielen.

Dafür aber abstrahierte ich mir eine Regel, die ich für richtig halte: im Laufe der zufälligen Einzelresullate ergibt sich tatsächlich wenn auch nicht ein bestimmtes System, so doch eine gewisse Ordnung – was doch gewiß sehr seltsam ist. Es kommt zum Beispiel vor, daß nach den zwölf mittleren Zahlen die zwölf letzten herankommen; es trifft, sagen wir, zweimal diese letzten zwölf und geht dann auf die zwölf ersten über. Nachdem die zwölf ersten daran gewesen sind, geht es wieder auf die zwölf mittleren über, trifft drei-, viermal hintereinander auf die mittleren und geht wieder auf die zwölf letzten über, von wo es, wieder nach zwei Malen, zu den ersten übergeht; es trifft wieder einmal auf die ersten und geht wieder für drei Treffer zu den mittleren über, und so setzt sich das anderthalb oder zwei Stunden lang fort. Eins, drei, zwei; eins, drei, zwei. Das ist sehr interessant. An manchem Tag oder an manchem Morgen geht es so, daß Rot und Schwarz fast ohne jede Ordnung alle Augenblicke miteinander abwechseln, so daß nie mehr als zwei oder drei Treffer hintereinander auf Rot oder auf Schwarz fallen. An einem andern Tag oder an einem andern Abend kommt oftmals hintereinander, vielleicht bis zu zweiundzwanzig Malen, nur eine der beiden Farben, und dann erst wieder die andere, und so geht das unweigerlich längere Zeit hindurch, etwa einen ganzen Tag über. Vieles auf diesem Gebiet erklärte mir Mister Astley, der den ganzen Vormittag über bei den Spieltischen stand, aber selbst nicht ein einziges Mal setzte. Was mich betrifft, so verlor ich alles, alles, und zwar sehr schnell. Ich setzte ohne weiteres mit einemmal zwanzig Friedrichsdor auf Paar und gewann; ich setzte wieder und gewann wieder, und so noch zwei- oder dreimal. Ich glaube, es hatten sich in etwa fünf Minuten gegen vierhundert Friedrichsdor in meinen Händen angesammelt. Nun hätte ich weggehen sollen; aber es war in mir eine seltsame Empfindung rege geworden, der Wunsch, gewissermaßen das Schicksal herauszufordern, ein Verlangen, ihm sozusagen einen Nasenstüber zu geben und die Zunge herauszustrecken. Ich setzte den höchsten erlaubten Satz von viertausend Gulden und verlor. Hitzig geworden, zog ich alles heraus, was mir geblieben war, setzte es auf dieselbe Stelle und verlor wieder, worauf ich wie betäubt vom Tisch zurücktrat. Ich konnte gar nicht fassen, was mir widerfahren war, und machte Polina Alexandrowna von meinem Verlust erst kurz vor dem Mittagessen Mitteilung. Bis dahin war ich im Park umhergeirrt. Bei Tisch befand ich mich wieder in erregter Stimmung, ebenso wie zwei Tage vorher. Der Franzose und Mademoiselle Blanche speisten wieder mit uns. Es kam zur Sprache, daß Mademoiselle Blanche am Vormittag in den Spielsälen gewesen war und mein kühnes Spiel mitangesehen hatte. Sie erwies mir diesmal im Gespräch etwas mehr Aufmerksamkeit. Der Franzose schlug ein kürzeres Verfahren ein und fragte mich geradezu, ob das mein eigenes Geld gewesen sei, das ich verloren hätte. Mir scheint, er hat Polina im Verdacht. Kurz, da steckt etwas dahinter. Ich log ohne Zaudern und sagte, es sei das meinige gewesen. Der General wunderte sich sehr, woher ich so viel Geld gehabt hätte. Ich sagte zur Erklärung, ich hätte mit zehn Friedrichsdor angefangen; sechs oder sieben glückliche Treffer nacheinander, bei jedesmaliger Verdoppelung des Einsatzes, hätten mich bis auf fünf- oder sechstausend Gulden gebracht, und dann hätte ich alles auf zwei Einsätze wieder eingebüßt. All dies klang ja wahrscheinlich. Während ich diese Erklärung vortrug, warf ich einen Blick nach Polina, konnte aber aus ihrem Gesicht keinen besonderen Ausdruck erkennen. Aber sie ließ mich doch lügen, ohne mich zu korrigieren; daraus schloß ich, daß ich in ihrem Sinne gehandelt hatte, wenn ich log und es verheimlichte, daß ich für sie gespielt hatte. In jedem Fall, dachte ich bei mir, ist sie verpflichtet, mir Aufklärung zu geben; sie hat mir ja vor kurzem versprochen, mir einiges zu enthüllen.

Ich dachte, der General würde mir irgendeine Bemerkung machen; indes er sehwieg. Wohl aber bemerkte ich auf seinem Gesicht eine gewisse Erregung und Unruhe. Vielleicht war es ihm in seinen bedrängten Verhältnissen lediglich eine schmerzliche Empfindung, zu hören, daß ein so erklecklicher Haufe Gold innerhalb einer Viertelstunde einem so unpraktischen Dummkopf wie mir zugefallen und dann wieder entglitten war.

Ich vermute, daß er gestern abend mit dem Franzosen ein scharfes Renkontre gehabt hat. Sie sprachen hinter verschlossenen Türen lange und hitzig miteinander über irgend etwas. Der Franzose ging anscheinend in gereizter Stimmung weg, kam aber heute frühmorgens wieder zum General, wahrscheinlich um das gestrige Gespräch fortzusetzen.

Als der Franzose von meinem Spielverlust hörte, bemerkte er, zu mir gewendet, in scharfem und geradezu boshaftem Ton, ich hätte verständiger sein sollen. Ich weiß nicht, weshalb er noch hinzufügte, es spielten zwar viele Russen, nach seiner Meinung verständen die Russen aber gar nicht zu spielen.

»Aber nach meiner Meinung«, sagte ich, »ist das Roulett geradezu für die Russen erfunden.«

Und als der Franzose über meine Antwort geringschätzig lächelte, bemerkte ich ihm, die Wahrheit sei entschieden auf meiner Seite; denn wenn ich von der Neigung der Russen zum Spiel spräche, so sei das weit mehr ein Tadel als ein Lob, und deshalb könne man es mir glauben.

»Worauf gründen Sie denn Ihre Meinung?« fragte der Franzose.

»Meine Begründung ist folgende. In den Katechismus der Tugenden und Vorzüge, der im zivilisierten westlichen Europa gilt, hat infolge der historischen Entwicklung auch die Fähigkeit, Kapitalien zu erwerben, Aufnahme gefunden, ja sie bildet darin beinahe das wichtigste Hauptstück. Aber der Russe ist nicht nur unfähig, Kapitalien zu erwerben, sondern er vergeudet sie auch, wenn er sie besitzt, in ganz sinnloser und unverständiger Weise. Dennoch«, fuhr ich fort, »brauchen auch wir Russen Geld, und infolgedessen greifen wir mit freudiger Gier nach solchen Mitteln wie das Roulett, wo man in der Zeit von zwei Stunden, ohne sich anzustrengen, reich werden kann. Das hat für uns einen großen Reiz; und da wir nun unbedachtsam und ohne rechte Bemühung spielen, so ruinieren wir uns durch das Spiel völlig.«

»Daran ist etwas Wahres«, bemerkte der Franzose selbstzufrieden.

»Nein, das ist nicht wahr, und Sie sollten sich schämen, so über Ihr Vaterland zu reden«, sagte der General in strengem, nachdrücklichem Ton.

»Aber ich bitte Sie«, antwortete ich ihm, »es ist ja noch nicht ausgemacht, was garstiger ist: das russische wüste Wesen oder die deutsche Art, durch ehrliche Arbeit Geld zusammenzu- bringen.«

»Was für ein sinnloser Gedanke!« rief der General.

»Ein echt russischer Gedanke!« rief der Franzose.

Ich lachte; ich hatte die größte Lust, sie beide ein bißchen zu reizen.

»Ich meinerseits«, sagte ich, »möchte lieber mein ganzes Leben lang mit den Kirgisen als Nomade umherziehen und mein Zelt mit mir führen, als das deutsche Idol anbeten.«

»Was für ein Idol?« fragte der General, der schon anfing, ernstlich böse zu werden.

»Die deutsche Art, Reichtümer zusammenzuscharren. Ich bin noch nicht lange hier; aber was ich bemerkt und beobachtet habe, erregt mein tatarisches Blut. Bei Gott, solche Tugenden wünsche ich mir nicht! Ich bin hier gestern zehn Werst weil umhergegangen: es ist ganz ebenso wie in den moralischen deutschen Bilderbüchern. Überall, in jedem Hause, gibt es hier einen Hausvater, der furchtbar tugendhaft und außerordentlich redlich ist, schon so redlich, daß man sich fürchten muß, ihm näherzutreten. Ich kann solche redlichen Leute nicht ausstehen, denen näherzutreten man sich fürchten muß. Jeder derartige Hausvater hat eine Familie, und abends lesen alle einander laut belehrende Bücher vor. Über dem Häuschen rauschen Ulmen und Kastanien. Sonnenuntergang, auf dem Dach ein Storch, alles höchst rührend und poetisch… Werden Sie nur nicht böse, General; lassen Sie mich nur von solchen rührsamen Dingen reden! Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit, wie mein seliger Vater ebenfalls unter den Lindenbäumen im Vorgärtchen abends mir und meiner Mutter solche Büchelchen vorlas; ich habe daher über dergleichen selbst ein richtiges Urteil. Nun also, so lebt hier jede solche Familie beim Hausvater in vollständiger Knechtschaft und Untertänigkeit. Alle arbeiten wie die Ochsen, und alle scharren Geld zusammen wie die Juden. Gesetzt, ein Vater hat schon eine bestimmte Menge Gulden zusammengebracht und beabsichtigt, dem ältesten Sohn sein Geschäft oder sein Stückchen Land zu übergeben; dann erhält aus diesem Grunde die Tochter keine Mitgift und muß eine alte Jungfer werden, und den jüngeren Sohn verkaufen sie als Knecht oder als Soldaten und schlagen den Erlös zum Familienkapital. Wirklich, so geht das hier zu; ich habe mich erkundigt. All das geschieht nur aus Redlichkeit, aus übertriebener Redlichkeit, dergestalt, daß auch der jüngere, verkaufte Sohn glaubt, man habe ihn nur aus Redlichkeit verkauft; und das ist doch ein idealer Zustand, wenn das Opfer selbst sich darüber freut, daß es zum Schlachten geführt wird. Und nun weiter. Auch der ältere Sohn hat es nicht leicht: da hat er so eine Amalia, mit der er herzenseins ist; aber heiraten kann er sie nicht, weil noch nicht genug Gulden zusammengescharrt sind. Nun warten sie gleichfalls treu und sittsam und gehen mit einem Lächeln zur Schlachtbank. Amalias Wangen fallen schon ein, und sie trocknet zusammen. Endlich, nach etwa zwanzig Jahren, hat das Vermögen die gewünschte Höhe erreicht; die richtige Anzahl von Gulden ist auf redliche, tugendhafte Weise erworben. Der Vater segnet seinen vierzigjährigen ältesten Sohn und die fünfunddreißigjährige Amalia mit der eingetrockneten Brust und der roten Nase. Dabei weint er, hält eine moralische Ansprache und stirbt. Der Älteste verwandelt sich nun selbst in einen tugendhaften Vater, und es beginnt wieder dieselbe Geschichte von vorn. Nach etwa fünfzig oder siebzig Jahren besitzt der Enkel des ersten Vaters wirklich schon ein ansehnliches Kapital und übergibt es seinem Sohn, dieser dem seinigen, der wieder dem seinigen, und nach fünf oder sechs Generationen ist das Resultat so ein Baron Rothschild oder Hoppe & Co. oder etwas Ähnliches. Nun, ist das nicht ein erhebendes Schauspiel: hundert- oder zweihundertjährige sich vererbende Arbeit, Geduld, Klugheit, Redlichkeit, Charakterfestigkeit, Ausdauer, Sparsamkeit, der Storch auf dem Dach! Was wollen Sie noch weiter? Etwas Höheres als dies gibt es ja nicht, und in dieser Überzeugung sitzen die Deutschen selbst über die ganze Welt zu Gericht, und wer da schuldig befunden wird, das heißt ihnen irgendwie unähnlich ist, über den fällen sie sofort ein Verdammungsurteil. Also, wovon wir sprachen: ich ziehe es vor, auf russische Manier ein ausschweifendes Leben zu führen oder meine Vermögensverhältnisse beim Roulett aufzubessern; ich will nicht nach fünf Generationen Hoppe & Co. sein. Geld brauche ich für mich selbst; ich bin mir Selbstzweck und nicht nur ein zur Kapitalbeschaffung notwendiger Apparat. Ich weiß, daß ich viel törichtes Zeug zusammengeredet habe; aber wenn auch, das ist nun einmal meine Überzeugung.«

»Ich weiß nicht, ob von dem, was Sie gesagt haben, viel richtig ist«, bemerkte der General nachdenklich. »Aber das weiß ich sicher, daß Sie sich sofort in einer unerträglichen Weise aufspielen, wenn man Ihnen auch nur im geringsten …«

Nach seiner Gewohnheit brachte er den Satz nicht zu Ende. Wenn unser General von etwas zu sprechen anfängt, das einen auch nur ein klein wenig tieferen Inhalt hat als die gewöhnlichen, alltäglichen Gespräche, so redet er nie zu Ende. Der Franzose hatte, die Augen etwas aufreißend, nachlässig zugehört und von dem, was ich gesagt hatte, fast nichts verstanden. Polina blickte mit einer Art von hochmütiger Gleichgültigkeit vor sich hin. Es schien, als seien nicht nur meine Auseinandersetzungen, sondern überhaupt alles, was diesmal bei Tisch gesprochen war, ungehört an ihrem Ohr vorbeigegangen.

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Zehntes Kapitel

Zehntes Kapitel

In den Badeorten (und, wie es scheint, auch im ganzen übrigen westlichen Europa) lassen sich die Hoteliers und Oberkellner, wenn sie den Gästen ihr Logis anweisen, nicht sowohl von deren Forderungen und Wünschen leiten, als vielmehr von ihrem eigenen persönlichen Urteil über sie, und man muß zugeben, daß sie dabei nur selten Irrtümer begehen. Aber der Tante war (warum eigentlich?) ein so großartiges Quartier angewiesen, daß sie denn doch überschätzt war: vier prachtvoll möblierte Zimmer, nebst einem Badezimmer, den erforderlichen Räumlichkeiten für die Dienerschaft, einem besonderen Zimmerchen für die Zofe usw. usw. In diesen Zimmern hatte tatsächlich eine Woche vorher eine Großherzogin logiert, was denn auch natürlich den neuen Bewohnern sofort mitgeteilt wurde, um damit eine weitere Erhöhung des an sich schon hohen Wohnungspreises zu rechtfertigen. Die Tante wurde in allen Zimmern umhergetragen oder, richtiger gesagt, in ihrem Rollstuhl umhergefahren und unterzog sie einer aufmerksamen, strengen Musterung. Der Oberkellner, ein schon bejahrter Mann mit kahlem Kopf, begleitete sie respektvoll bei dieser ersten Besichtigung.

Wofür eigentlich alle die Tante hielten, weiß ich nicht genau; aber anscheinend taxierte man sie für eine sehr vornehme Persönlichkeit und, was die Hauptsache war, für außerordentlich reich. In das Fremdenbuch wurde sogleich eingetragen: Madame la générale princesse de Tarassevitcheva, obwohl die Tante ganz und gar keine Fürstin war.

Die eigene Dienerschaft, das besondere Abteil auf der Eisenbahn, die Unmenge unnötiger Koffer, Schachteln und Kisten, die sie mit sich führte, hatten für diese Wertschätzung wahrscheinlich den Grund gelegt; und der Lehnstuhl, der entschiedene Ton, die scharfe Stimme der alten Dame und die absonderlichen Fragen, die sie in der ungeniertesten, keinen Widerspruch duldenden Weise stellte, kurz, ihr ganzes Wesen, rücksichtslos, scharf, gebieterisch, steigerte die allgemeine Hochachtung vor ihr noch um ein Beträchtliches.

Bei der Besichtigung ließ die Tante ein paarmal den Rollstuhl plötzlich anhalten, zeigte auf ein oder das andere Stück des Meublements und wandte sich mit unerwarteten Fragen an den respektvoll lächelnden, aber bereits etwas ängstlich werdenden Oberkellner. Sie stellte ihre Fragen auf französisch, das sie aber ziemlich schlecht sprach, so daß ich es meistens erst noch übersetzen mußte. Die Antworten des Oberkellners mißfielen ihr größtenteils und schienen ihr unbefriedigend. Aber sie fragte auch fortwährend nach Gott weiß was für Dingen. So machte sie zum Beispiel auf einmal vor einem Gemälde halt, einer ziemlich schwachen Kopie irgendeines bekannten Originals, das ein Wesen der Mythologie darstellte.

»Wessen Porträt ist das?«

Der Oberkellner erwiderte, es werde wohl eine Gräfin sein.

»Wie kommt es, daß du das nicht weißt? Wohnst hier und weißt das nicht! Wozu ist das Bild überhaupt hier? Und warum schielen auf ihm die Augen so?«

Auf all diese Fragen war der Oberkellner nicht imstande, befriedigend zu antworten und wurde ganz verlegen.

»So ein Tölpel!« rief die alte Tante auf russisch.

Sie wurde weitergefahren. Dieselbe Geschichte wiederholte sich bei einer kleinen Meißner Porzellanfigur, die die Alte lange betrachtete und dann (niemand wußte, warum) fortzuschaffen befahl. Endlich brachte sie den Oberkellner mit der Frage in Bedrängnis, was die Teppiche im Schlafzimmer gekostet hätten, und wo sie gewebt seien. Der Oberkellner versprach, sich danach zu erkundigen.

»Was sind das hier für Esel!« brummte die Tante und richtete nun ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Bett.

»So ein luxuriöser Baldachin! Schlagt mal den Vorhang zurück!« Der Bettvorhang wurde zurückgeschlagen.

»Noch weiter, noch weiter, schlagt ihn ganz zurück! Nehmt die Kissen weg, das Laken; hebt das Federbett in die Höhe!« Alles wurde umgewälzt. Die Tante schaute aufmerksam hin.

»Gut, daß keine Wanzen da sind. Weg mit der ganzen Bettwäsche! Das Bett soll mit meinen eigenen Kissen und mit meiner eigenen Bettwäsche zurechtgemacht werden. Aber all das ist viel zu luxuriös; wozu brauche ich alte Frau eine solche Wohnung? Da langweile ich mich nur darin, wenn ich allein bin. Alexej Iwanowitsch, komm recht oft zu mir, wenn du mit dem Unterricht der Kinder fertig bist!«

»Ich bin seit gestern nicht mehr in Stellung beim General«, antwortete ich. »Ich wohne im Hotel als ganz selbständiger Gast.«

»Woher ist denn das gekommen?«

»Es ist hier neulich ein vornehmer deutscher Baron mit seiner Gemahlin, der Baronin, aus Berlin angekommen. Ich redete die beiden gestern auf der Promenade deutsch an, ohne mich an die Berliner Aussprache zu halten.«

»Nun, und was weiter?«

»Er hielt das für eine Frechheit und beschwerte sich beim General, und der General entließ mich gestern aus meiner Stellung.«

»Du hast ihn wohl beschimpft, den Baron, nicht wahr? Aber wenn du das auch getan hättest, so schadete es nichts!«

»O nein, das habe ich nicht getan. Im Gegenteil, der Baron hat den Stock gegen mich erhoben.«

»Und du, schlapper Kerl, hast es geduldet, daß jemand deinen Hauslehrer so behandelt?« wandte sie sich brüsk an den General, »und hast ihn obendrein aus dem Dienst gejagt? Schlafmützen seid ihr hier, lauter Schlafmützen, das sehe ich schon.«

»Regen Sie sich nicht auf, liebe Tante«, erwiderte der General mit einer halb hochmütigen, halb familiären Tonfärbung; »ich weiß schon allein in meinen Angelegenheiten das Richtige zu treffen. Außerdem hat Alexej Iwanowitsch Ihnen die Sache nicht ganz zutreffend dargestellt.«

»Und du hast dir das gefallen lassen?« wandte sie sich zu mir.

»Ich wollte den Baron zum Duell fordern«, erwiderte ich möglichst bescheiden und ruhig. »Aber der General widersetzte sich meinem Vorhaben.«

»Warum hast du dich denn dem widersetzt?« wandte sich die Alte wieder zum General. »Du, mein Freundchen«, redete sie, zum Oberkellner gewendet, weiter, »kannst jetzt weggehen und brauchst erst wiederzukommen, wenn du gerufen wirst. Es hat keinen Zweck, daß du hier stehst und den Mund aufsperrst. Ich kann diese Puppenfratze nicht ausstehen!« Der Oberkellner verbeugte sich und ging, natürlich ohne das Kompliment, das ihm die Alte gemacht hatte, verstanden zu haben.

»Aber ich bitte Sie, liebe Tante, sind denn Duelle zulässig?« erwiderte der General lächelnd.

»Warum sollen sie nicht zulässig sein? Alle Männer sind Kampfhähne; da mögen sie miteinander kämpfen. Aber ihr seid hier alle Schlafmützen, wie ich sehe, und versteht nicht für die Ehre eures Vaterlandes einzutreten. Na, nun hebt mich auf! Potapytsch, sorge dafür, daß immer zwei Dienstmänner bereit sind; engagiere sie und mache mit ihnen alles ab! Mehr als zwei sind nicht nötig. Zu tragen brauchen sie mich nur auf den Treppen; wo es eben ist, auf der Straße, müssen sie mich schieben; das setze ihnen auseinander! Und bezahle ihnen ihr Geld im voraus; dann sind solche Leute respektvoller. Du selbst bleibe immer um mich, und du, Alexej Iwanowitsch, zeige mir doch diesen Baron auf der Promenade; ich möchte mir diesen ›Herrn Baron von‹ doch wenigstens einmal ansehen. Nun also, wo ist denn dieses Roulett?«

Ich berichtete ihr, das Roulett sei im Kurhaus untergebracht, in den dortigen Sälen. Nun folgten weitere Fragen: ob viele Roulettspiele da seien, ob viele Leute spielten, ob den ganzen Tag über gespielt werde, wie das Spiel eingerichtet sei. Ich antwortete schließlich, das beste wäre, es mit eigenen Augen anzusehen; denn es bloß so zu beschreiben sei eine recht schwere Aufgabe.

»Na gut, dann schafft mich geradewegs dorthin! Geh voran, Alexej Iwanowitsch!«

»Wie, liebe Tante! Wollen Sie sich denn wirklich nicht einmal erst von der Reise erholen?« fragte der General sorglich. Er war in eine gewisse Unruhe geraten, und auch die andern waren alle einigermaßen verlegen geworden und wechselten Blicke miteinander. Wahrscheinlich genierten sie sich ein bißchen oder schämten sich sogar, die alte Tante geradeswegs nach dem Kurhaus zu begleiten, wo sie selbstverständlich irgendwelche Wunderlichkeiten begehen konnte, und zwar, was das Schlimmste war, in aller Öffentlichkeit. Indes erboten sich trotzdem alle, sie dorthin zu begleiten.

»Wozu brauche ich mich erst noch zu erholen? Ich bin nicht müde; ich habe ohnehin fünf Tage lang gesessen. Und dann wollen wir uns ansehen, was es hier für Brunnen und Heilquellen gibt, und wo sie sind. Und dann … dann wollen wir nach dem Aussichtspunkt, von dem du sagtest, Praskowja, Und was gibt es hier sonst noch zu sehen?«

»Da ist noch vielerlei, Großmütterchen«, erwiderte Polina, die sich nicht gleich zu helfen wußte.

»Na, du weißt es wohl selbst nicht. Maria, du kommst auch mit mir mit«, sagte sie zu ihrer Zofe.

»Aber wozu soll denn die mitkommen, liebe Tante?« wandte der General beunruhigt ein. »Es wird auch gar nicht gehen; auch Potapytsch wird schwerlich in das Kurhaus hereingelassen werden.«

»Ach, dummes Zeug! Bloß weil sie eine Dienerin ist, sollte ich mich nicht um sie kümmern? Sie ist ja doch auch ein lebendiger Mensch; nun haben wir schon eine Woche auf der Bahn gesessen, da wird sie auch Lust haben, etwas zu sehen. Und mit wem soll sie ausgehen als mit mir? Allein würde sie ja nicht wagen, auch nur die Nase auf die Straße zu stecken.«

»Aber, Großmütterchen …«

»Schämst du dich etwa, mit mir zu gehen? Dann bleib doch zu Hause; es bittet dich ja niemand mitzukommen. Nun seh einer so einen vornehmen General! Aber ich bin ja auch selbst eine Frau Generalin. Und was hat das überhaupt für einen Zweck, wenn ihr alle hinter mir herzieht? Das ist ja eine ordentliche Schleppe! Ich kann mir auch mit Alexej Iwanowitsch allein alles besehen …«

Aber de Grieux bestand energisch darauf, daß alle sie begleiten müßten, und erging sich in den liebenswürdigsten Redewendungen über das Vergnügen, mit ihr gehen zu dürfen usw. So setzten sich denn alle in Bewegung.

»Elle est tombée en enfance«, sagte de Grieux noch einmal, wie vorher zu mir, so jetzt leise zum General; »seule, elle fera des bêtises …« Was er weiter sagte, konnte ich nicht verstehen; aber offenbar hatte er irgendwelche Absichten, und vielleicht waren bei ihm auch schon wieder Hoffnungen rege geworden.

Bis zum Kurhaus waren etwa neunhundert Schritt. Unser Weg ging durch die Kastanienallee zu einem viereckigen Platz mit Anlagen; um diesen mußte man herumgehen und trat dann unmittelbar ins Kurhaus. Der General hatte sich etwas beruhigt, weil unser Aufzug, wiewohl er ziemlich auffällig war, doch in Ordnung und mit Anstand vonstatten ging. Und es war ja auch nichts Verwunderliches an dem Umstand, daß eine kranke, schwache Person, die nicht gehen konnte, sich in diesem Kurort eingefunden hatte. Aber augenscheinlich fürchtete der General den Eindruck, den unser Erscheinen in den Spielsälen machen mußte. Was hat ein kranker Mensch, der nicht gehen kann, und noch dazu eine alte Dame, beim Roulett zu suchen? Polina und Mademoiselle Blanche gingen jede an einer Seite des Rollstuhls. Mademoiselle Blanche lachte, zeigte eine bescheidene Heiterkeit und scherzte sogar mitunter in liebenswürdigster Weise mit der Tante, so daß diese sie schließlich lobte. Polina, die auf der andern Seite ging, mußte auf die zahllosen Fragen antworten, die die Tante alle Augenblicke an sie richtete, Fragen von dieser Art: »Wer war das, der da eben vorbeiging? Was fuhr da für eine Dame? Ist die Stadt groß? Ist der Park groß? Was sind das für Bäume? Was sind das für Berge? Fliegen da Adler? Was ist das für ein komisches Dach?« Mister Astley ging neben mir und flüsterte mir zu, er erwarte von diesem Vormittag vieles. Potapytsch und Marfa gingen unmittelbar hinter dem Rollstuhl, Potapytsch in seinem Frack und mit seiner weißen Krawatte, aber jetzt mit einer Schirmmütze, Marfa, ein etwa vierzigjähriges Mädchen mit frischem Teint, aber bereits ergrauendem Haar, in einem Kattunkleid, mit einem Häubchen und mit derbledernen, knarrenden Schuhen. Die Tante drehte sich sehr häufig zu ihnen um und sprach mit ihnen. De Grieux, der mit dem General redete, zeigte eine energische Miene; vielleicht sprach er ihm Mut zu, und augenscheinlich erteilte er ihm Ratschläge. Aber die Tante hatte vorhin bereits das fatale Wort gesprochen: »Geld werde ich dir nicht geben.« Möglicherweise meinte de Grieux, diese Ankündigung sei wohl nicht so ernst gemeint; aber der General kannte sein liebes Tantchen. Ich beobachtete, daß de Grieux und Mademoiselle Blanche fortfuhren, miteinander verstohlene Blicke zu wechseln. Den Fürsten und den deutschen Reisenden bemerkte ich ganz hinten am Ende der Allee; sie waren zurückgeblieben und bogen nun, um sich von uns zu trennen, seitwärts ab.

Das Kurhaus betraten wir wie ein Triumphzug. Der Portier und die Diener legten dieselbe respektvolle Ehrerbietung an den Tag wie die Hoteldienerschaft, betrachteten uns aber dabei doch mit einer gewissen Neugier. Die Tante ließ sich zunächst durch alle Säle fahren; manches lobte sie, gegen andres blieb sie völlig gleichgültig; nach allem fragte sie. Endlich gelangten wir auch zu den Spielsälen. Der Diener, der als Schildwache an der geschlossenen Tür stand, schlug, höchlichst überrascht, schnell beide Türflügel weit zurück.

Das Erscheinen der Tante beim Roulett machte einen starken Eindruck auf das Publikum. Um die Roulettische und den Tisch mit Trente-et-quarante, der am anderen Ende des Saales aufgestellt war, drängten sich vielleicht hundertfünfzig bis zweihundert Spieler in mehreren Reihen hintereinander. Diejenigen, denen es gelungen war, sich bis unmittelbar an einen Tisch durchzudrängen, behaupteten ihre Plätze wie gewöhnlich mit zäher Energie und gaben sie nicht früher auf, als bis sie alles verspielt hatten; denn nur so als bloße Zuschauer dazustehen und nutzlos einen Platz innezuhaben, an dem gespielt werden konnte, war nicht gestattet. Wiewohl um den Tisch herum Stühle aufgestellt sind, setzen sich doch nur wenige Spieler hin, besonders bei starkem Andrang des Publikums. Denn im Stehen nimmt man weniger Raum ein und kann darum leichter einen Platz ergattern; auch seine Einsätze macht man mit mehr Bequemlichkeit, wenn man steht. Gegen die erste Reihe drückte von hinten eine zweite und dritte, in der die Menschen darauf lauerten, wann sie selbst darankommen würden; aber mitunter schob sich aus der zweiten Reihe ungeduldig eine Hand durch die erste hindurch, um einen Einsatz zu machen. Sogar aus der dritten Reihe praktizierte ein oder der andere auf diese Weise mit besonderer Geschicklichkeit seinen Einsatz auf den Tisch; die Folge davon war, daß keine zehn oder auch nur fünf Minuten vergingen, ohne daß es an einem der Tische zu Skandalszenen wegen strittiger Einsätze gekommen wäre. Übrigens ist die Polizei des Kurhauses recht gut. Gegen das Gedränge läßt sich natürlich nichts tun; im Gegenteil freut man sich über den Andrang des Publikums wegen des damit verbundenen Vorteils; aber die acht Croupiers, die an den Tischen sitzen, passen mit angestrengter Aufmerksamkeit auf die Einsätze auf; sie sind es auch, die die Gewinne auszahlen und, falls Streitigkeiten entstehen, diese entscheiden. Schlimmstenfalls rufen sie die Polizei herbei, und dann wird die Sache im Umsehen erledigt. Die Polizisten sind dauernd im Saal stationiert und befinden sich in Zivilkleidung unter den Zuschauern, so daß man sie nicht erkennen kann. Sie passen besonders auf Diebe und Gauner auf, deren es wegen der außerordentlich bequemen Ausübung dieses Gewerbes beim Roulett sehr viele gibt. Und in der Tat, überall sonst muß man aus Taschen und verschlossenen Behältnissen stehlen, und das endet im Falle des Mißlingens sehr unangenehm. Hier aber braucht man es nur ganz einfach folgendermaßen zu machen: man geht zum Roulett, fängt an zu spielen, nimmt sich auf einmal offen und vor aller Augen einen fremden Gewinn und steckt ihn in seine Tasche; entsteht ein Streit, so behauptet der Gauner laut und mit aller Bestimmtheit, der Einsatz sei der seinige. Wenn das geschickt gemacht wird und die Zeugen sich ihrer Sache nicht ganz sicher sind, so gelingt es dem Dieb oft, sich das Geld anzueignen, selbstverständlich nur dann, wenn die Summe nicht sehr beträchtlich ist. Im letzteren Fall pflegt sie schon vorher die Aufmerksamkeit des Croupiers oder eines der Mitspieler erregt zu haben. Ist aber die Summe nicht so bedeutend, so verzichtet der wirkliche Eigentümer mitunter sogar aus Scheu vor einem Skandal auf eine Fortsetzung des Streites und geht davon. Gelingt es dagegen, einen Dieb zu überführen, so wird er sogleich unter großem Aufsehen abgeführt.

Alles das sah sich die Tante von weitem und mit scheuer Neugier an. Es gefiel ihr sehr, daß ein paar Diebe hinaustransportiert wurden. Das Trente-et-quarante erweckte ihr Interesse nur in geringem Grade; besser gefiel ihr das Roulett mit dem herumlaufenden Kügelchen. Endlich bekam sie Lust, das Spiel aus größerer Nähe mit anzusehen. Ich begreife nicht, wie es möglich war, aber die Saaldiener und einige eifrige Kommissionäre (es sind dies vorzugsweise Polen, die ihr ganzes Geld verspielt haben und nun glücklicheren Spielern sowie allen Ausländern ihre Dienste aufdrängen) fanden trotz des argen Gedränges einen Platz, den sie für die Tante frei machten, gerade in der Mitte des Tisches neben dem Obercroupier, und rollten ihren Stuhl dorthin. Eine Menge von Besuchern, die nicht selbst spielten, sondern nur aus einiger Entfernung dem Spiel zuschauten (in der Hauptsache Engländer mit ihren Familien), drängte sich sogleich zu diesem Tisch, um hinter den Spielern stehend die alte Dame zu beobachten. Viele Lorgnetten richteten sich auf sie. Die Croupiers gaben sich besonderen Hoffnungen hin: von einem so originellen Spieler konnte man allerdings etwas Ungewöhnliches erwarten. Eine fünfundsiebzigjährige Dame, die nicht gehen konnte und spielen wollte, das war freilich ein Fall, wie er nicht alle Tage vorkam. Ich drängte mich gleichfalls zum Tisch durch und stellte mich neben die Tante. Potapytsch und Marfa hatten in weiter Entfernung zurückbleiben müssen und standen dort irgendwo mitten im Menschenschwarm. Der General, Polina, de Grieux und Mademoiselle Blanche standen gleichfalls ziemlich weit entfernt von uns unter den Zuschauern.

Die Tante betrachtete zunächst die Spieler und flüsterte mir in ihrem scharfen Ton kurze Fragen zu: »Was ist das für einer? Wer ist diese Dame?« Besonders gefiel ihr an einem Ende des Tisches ein noch sehr junger Mensch, der hoch spielte, Tausende mit einem Male setzte und, wie unter den Umstehenden geflüstert wurde, bereits gegen vierzigtausend Franc gewonnen hatte, die in einem Häufchen vor ihm lagen, Gold und Banknoten. Er sah blaß aus; seine Augen glänzten, die Hände zitterten ihm; er setzte bereits, ohne überhaupt zu zählen, soviel er mit der Hand gerade erfaßte, und dabei gewann er fortwährend und häufte immer mehr Geld zusammen. Die Saaldiener waren eifrig um ihn beschäftigt; sie rückten ihm von hinten einen Sessel heran und hielten um ihn herum etwas Raum frei, damit er sich besser bewegen könne und von den andern nicht so gedrängt werde – alles in Erwartung eines reichen Trinkgeldes. Denn manche Spieler geben von ihrem Gewinn den Dienern, ohne zu zählen, in der Freude ihres Herzens, soviel sie mit der Hand in der Tasche zu fassen bekommen. Neben dem jungen Mann hatte bereits ein Pole Aufstellung genommen, der sich aus allen Kräften um ihn bemühte und ihm respektvoll, aber ohne Unterlaß etwas zuflüsterte, Anweisungen, wie er setzen solle, Ratschläge und Belehrungen das Spiel betreffend – natürlich erwartete er ebenfalls nachher ein Geldgeschenk! Aber der Spieler sah fast gar nicht nach ihm hin, setzte, wie es sich gerade traf, und strich immer neue Gewinne ein. Er wußte offenbar gar nicht mehr, was er tat.

Die Alte beobachtete ihn ein paar Minuten lang.

»Sage ihm doch«, wandte sie sich plötzlich voller Eifer an mich, indem sie mich anstieß, »sage ihm doch, er möchte aufhören, er möchte schleunigst sein Geld nehmen und davongehen. Er wird verlieren, im nächsten Augenblick wird er alles verlieren!« Sie konnte vor Aufregung kaum atmen. »Wo ist Potapytsch? Schicke doch Potapytsch zu ihm hin! Sage es ihm doch, sage es ihm doch!« wiederholte sie, mich wieder anstoßend. »Aber wo in aller Welt ist denn Potapytsch? Sortez, sortez!« begann sie selbst dem jungen Mann zuzurufen. Ich beugte mich zu ihr herunter und flüsterte ihr nachdrücklich zu, so zu rufen sei hier nicht gestattet, nicht einmal laut zu reden, da das die Berechnungen störe; es sei zu befürchten, daß wir sofort hinausgewiesen würden.

»So ein Ärger! Der Mensch ist verloren! Na, es ist sein eigener Wille … ich mag gar nicht nach ihm hinsehen; mir wird ganz übel davon. So ein Dummkopf!« Bei diesen Worten drehte sich die Tante schnell nach der anderen Seite.

Dort, zur Linken, an der andern Hälfte des Tisches, zog unter den Spielern eine junge Dame, neben der ein Zwerg stand, die Aufmerksamkeit auf sich. Wer dieser Zwerg war, weiß ich nicht; ob es ein Verwandter von ihr war, oder ob sie ihn nur so um Aufsehen zu erregen, mitnahm. Diese Dame hatte ich schon früher bemerkt; sie erschien am Spieltisch täglich um ein Uhr mittags und ging pünktlich um zwei. Sie war schon allgemein bekannt, und es wurde ihr bei ihrem Erscheinen sofort ein Sessel hingestellt. Sie zog ein paar Goldstücke oder ein paar Tausendfrancscheine aus der Tasche und begann zu setzen, ruhig, kaltblütig, mit Überlegung; auf einem Blatt Papier notierte sie mit Bleistift die Zahlen, die herausgekommen waren, und suchte die systematische Ordnung zu erkennen, in der sich diese gruppierten. Ihre Einsätze waren von ansehnlicher Höhe. Sie gewann täglich ein-, zwei-, höchstens dreitausend Franc, nicht mehr, und ging, sobald sie die gewonnen hatte, sofort weg. Die Tante beobachtete sie längere Zeit.

»Na, die da wird nicht verlieren! Die wird nicht verlieren! Was ist das für eine? Kennst du sie nicht? Wer ist sie?«

»Es ist eine Französin, wahrscheinlich so eine«, flüsterte ich.

»Ah, man erkennt den Vogel am Fluge. Die hat offenbar scharfe Krallen. Jetzt erkläre mir, was jeder Umlauf der Kugel bedeutet, und wie man setzen muß!«

Ich setzte der Tante nach Möglichkeit auseinander, was es mit den zahlreichen Arten des Setzens für eine Bewandtnis hat: mit rouge et noir, pair et impair, manque et passe, sowie endlich mit den verschiedenen Variationen beim Setzen auf Zahlen. Die Tante hörte aufmerksam zu, merkte sich, was ich sagte, fragte, wo sie etwas nicht verstand, und gewann so einen guten Einblick. Für jede Gattung von Einsätzen konnte ich ihr sofort Beispiele vor Augen führen, so daß sie vieles sehr leicht und schnell begriff und sich einprägte. Die Tante war sehr befriedigt.

»Aber was bedeutet zéro? Dieser Croupier da, der krausköpfige, der oberste von ihnen, hat eben gerufen: >zéro

»Zéro, Großmütterchen, das ist der Vorteil für die Bank. Wenn die Kugel auf zéro fällt, so gehören alle Einsätze auf dem Tisch der Bank, ohne weitere Berechnung. Allerdings hat man noch die Möglichkeit des Quittspiels; aber dann zahlt im Falle des Gewinnes die Bank nichts.«

»Na, so etwas! Und ich bekomme gar nichts?«

»Nicht doch, Großmütterchen; wenn Sie vorher auf zéro gesetzt haben und zéro dann herauskommt, so wird Ihnen das Fünfunddreißigfache bezahlt.«

»Was? Das Fünfunddreißigfache? Und kommt das oft heraus? Warum setzen sie denn nicht darauf, die Dummköpfe?«

»Es sind sechsunddreißig Chancen dagegen, Großmütterchen.«

»Ach was, Unsinn! Potapytsch, Potapytsch! Warte mal, ich habe selbst Geld bei mir – da!« Sie zog eine wohlgespickte Geldbörse aus der Tasche und entnahm ihr einen Friedrichsdor. »Da! Setz das gleich mal auf zéro!«

»Großmütterchen, zéro ist eben herausgekommen«, sagte ich, »also wird es jetzt lange Zeit nicht herauskommen. Sie werden viel verlieren, wenn Sie bis dahin immer auf zéro setzen wollen. Warten Sie lieber noch ein Weilchen!«

»Rede nicht dummes Zeug! Setze nur!«

»Wie Sie wünschen; aber es kommt vielleicht bis zum Abend nicht wieder heraus; Sie können Tausende von Francs verlieren; das ist alles schon vorgekommen.«

»Ach, Unsinn, Unsinn! Wer sich vor dem Wolf fürchtet, der muß nicht in den Wald gehen. Was? Ich habe verloren? Setz noch einmal!«

Auch der zweite Friedrichsdor ging verloren: wir setzten den dritten. Die Tante konnte kaum stillsitzen; mit heißen Augen folgte sie der Kugel, die an den Zacken des sich drehenden Rades hinsprang. Auch der dritte ging verloren. Die Tante war außer sich; sie rückte auf ihrem Sitz fortwährend hin und her und schlug sogar mit der Faust auf den Tisch, als der Croupier »trente-six« rief, statt des erwarteten zéro.

»Na so ein Kerl!« ereiferte sich die Tante. »Wird denn dieses verdammte zéro nicht bald herauskommen? Ich will des Todes sein, wenn ich nicht sitzenbleibe, bis es herauskommt! Das macht alles dieser verdammte krausköpfige Croupier da; bei dem kommt es nie heraus! Alexej Iwanowitsch, setze zwei Goldstücke mit einemmal! Du setzt ja so wenig, daß, auch wenn zéro wirklich kommt, wir nichts Ordentliches einnehmen.«

»Großmütterchen!«

»Setze, setze! Es ist nicht dein Geld!«

Ich setzte zwei Friedrichsdor. Die Kugel flog lange im Rad herum; endlich begann sie an den Zacken zu springen. Die alte Dame war ganz starr und preßte meine Hand zusammen. Und auf einmal kam’s:

»Zéro!« rief der Croupier.

»Siehst du, siehst du?« wandte sich die Tante schnell zu mir; sie strahlte über das ganze Gesicht und war selig. »Ich habe es dir ja gesagt! Das hat mir Gott selbst eingegeben, gleich zwei Goldstücke zu setzen! Na, wieviel bekomme ich nun? Warum zahlen sie mir denn das Geld nicht aus? Potapytsch. Marfa! Wo sind sie denn? Wo sind die Unsrigen alle geblieben? Potapytsch, Potapytsch!«

»Großmütterchen, alles nachher, nachher!« flüsterte ich ihr zu. »Potapytsch steht an der Tür, man läßt ihn nicht bis hierher. Sehen Sie, Großmütterchen, da zahlen sie Ihnen das Geld aus; nehmen Sie es in Empfang!« Man warf ihr eine schwere, versiegelte Rolle in blauem Papier, die fünfzig Friedrichsdor enthielt, hin und zählte ihr noch zwanzig lose Friedrichsdor auf. Dieses ganze Geld zog ich mit einer Krücke zu der Tante heran.

»Faites le jeu, messieurs! Faites le jeu, messieurs! Rien ne va plus?« rief der Croupier, zum Setzen auffordernd, und schickte sich an, das Roulett zu drehen.

»Mein Gott! Wir kommen zu spät! Er dreht gleich los! Setze, setze!« rief die Tante eifrig. »So trödle doch nicht, schnell!« Sie geriet ganz außer sich und stieß mich aus Leibeskräften an.

»Worauf soll ich denn setzen, Großmütterchen?«

»Auf zéro, auf zéro! Wieder auf zéro! Setz soviel wie möglich! Wieviel haben wir im ganzen? Siebzig Friedrichsdor? Mit denen wollen wir nicht knausern; setze immer zwanzig Friedrichsdor auf einmal!«

»Aber überlegen Sie doch, Großmütterchen! Zéro kommt mitunter bei zweihundert Malen kein einziges Mal heraus! Ich versichere Sie, Sie werden die ganze Summe wieder verlieren.«

»Törichtes Geschwätz! So setze doch! Papperlapapp! Ich weiß, was ich tue«, sagte die Tante, die vor Aufregung bebte.

»Nach dem Reglement ist es nicht gestattet, auf einmal mehr als zwölf Friedrichsdor auf zéro zu setzen, Großmütterchen. Nun, die habe ich jetzt gesetzt.«

»Wieso ist das nicht erlaubt? Redest du mir auch nichts vor? Monsieur, monsieur!« Sie stieß den Croupier an, der unmittelbar an ihrer linken Seite saß und sich bereit machte, das Rad zu drehen. »Combien zéro? Douze? Douze?«

Mit möglichster Eile verdeutlichte ich ihm auf französisch den Sinn der Frage.

»Oui, madame«, bestätigte der Croupier höflich und fügte zur Erklärung hinzu: »So wie auch jeder andere einzelne Einsatz die Summe von viertausend Gulden nicht übersteigen darf, nach dem Reglement.«

»Na, dann ist nichts zu machen. Setze zwölf!«

»Le jeu est fait!« rief der Croupier. Das Rad drehte sich, und es kam die Dreißig heraus. Wir hatten verloren!

»Noch mal, noch mal, noch mal! Setz noch mal!« rief die Alte. Ich versuchte keine Widerrede mehr und setzte achselzuckend noch zwölf Friedrichsdor. Das Rad drehte sich lange. Die Tante, die das Rad gespannt beobachtete, zitterte am ganzen Leib. »Kann sie wirklich glauben, daß zéro wieder gewinnen wird?« dachte ich, während ich sie erstaunt anblickte. Auf ihrem strahlenden Gesicht lag der Ausdruck der festen Überzeugung, daß sie gewinnen werde, der bestimmten Erwartung, es werde im nächsten Augenblick gerufen werden: »Zéro!« Die Kugel sprang in ein Fach.

»Zéro!« rief der Croupier.

»Na also!« wandte sich die Tante mit einer Miene wilden Triumphes zu mir.

Ich war selbst Spieler; dessen wurde ich mir in eben diesem Augenblick bewußt. Hände und Füße zitterten mir; in meinem Kopf hämmerte es. Allerdings, das war ein seltener Zufall, daß unter etwa zehn Malen dreimal zéro herausgekommen war; aber etwas besonders Erstaunliches war nicht dabei. Ich war selbst Zeuge gewesen, wie zwei Tage vorher zéro dreimal nacheinander herauskam, und dabei hatte ein Spieler, der sich auf einem Blatt Papier eifrig die einzelnen Resultate notierte, laut geäußert, daß erst am vorhergehenden Tag zéro den ganzen Tag über nur ein einziges Mal gekommen sei.

Da die Tante den größten Gewinn gemacht hatte, der möglich war, so vollzog sich die Auszahlung in besonders höflicher, respektvoller Manier. Sie hatte gerade vierhundertundzwanzig Friedrichsdor zu bekommen, oder viertausend Gulden und zwanzig Friedrichsdor. Die zwanzig Friedrichsdor gab man ihr in Gold, die viertausend Gulden in Banknoten.

Diesmal rief die Tante nicht mehr nach Potapytsch; sie war mit anderem beschäftigt. Auch stieß sie mich nicht an und zitterte äußerlich nicht; aber innerlich, wenn man sich so ausdrücken kann, innerlich zitterte sie. Sie hatte alle ihre Gedanken auf einen Punkt konzentriert, sie auf ein ganz bestimmtes Ziel gerichtet.

»Alexej Iwanowitsch! Er hat gesagt, auf einmal könne man nur viertausend Gulden setzen? Na, dann nimm hier diese ganzen viertausend und setze sie auf Rot!« befahl sie.

Es wäre nutzlos gewesen, ihr davon abzureden. Das Rad begann sich zu drehen.

»Rouge!« verkündete der Croupier.

Wieder ein Gewinn von viertausend Gulden, also im ganzen achttausend.

»Viertausend gib mir her, und die anderen viertausend setze wieder auf Rot!« kommandierte die Tante.

Ich setzte wieder viertausend.

»Rouge!« rief der Croupier von neuem.

»In summa zwölftausend! Gib sie alle her! Das Gold schütte hier hinein, in die Börse, und die Banknoten verwahre für mich in deiner Tasche! Nun genug! Nach Hause! Rollt meinen Stuhl von hier weg!«

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Elftes Kapitel

Elftes Kapitel

Der Stuhl wurde zur Tür nach dem andern Ende des Saales hingerollt. Die Tante strahlte. Die Unsrigen umdrängten sie sogleich alle mit Glückwünschen. Mochte auch das Benehmen der Tante sehr exzentrisch sein, ihr Triumph deckte vieles zu, und der General fürchtete jetzt nicht mehr, sich in der Öffentlichkeit durch seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu einer so sonderbaren Dame zu kompromittieren. Mit einem leutseligen, vertraulichheiteren Lächeln, wie wenn er mit einem Kind Scherz triebe, beglückwünschte er seine Tante. Übrigens war er augenscheinlich im höchsten Grade überrascht, wie auch alle andern Zuschauer. Ringsherum sprach man von der Tante und wies auf sie hin. Viele gingen absichtlich an ihr vorbei, um sie aus der Nähe anzusehen. Mister Astley redete in einiger Entfernung mit zwei seiner englischen Bekannten über sie. Einige stolze Damen betrachteten sie mit hochmütiger Verwunderung, wie wenn sie eine Art Wundertier wäre … De Grieux leistete Unglaubliches in Komplimenten und stetem Lächeln.

»Quelle victoire!« sagte er.

»Mais, madame, c’etait du feu!« fügte Mademoiselle Blanche mit einem scherzhaften Lächeln hinzu.

»Na ja, ich bin einfach hierhergekommen und habe zwölftausend Gulden gewonnen! Was sage ich, zwölftausend; da ist ja noch das Gold! Mit dem Gold kommen beinah dreizehntausend heraus. Wieviel ist das nach unserem Geld? Es werden etwa sechstausend Rubel sein, nicht wahr?«

Ich bemerkte, daß es sogar siebentausend Rubel übersteige und nach dem jetzigen Kurs vielleicht an achttausend herankommen möge.

»Ein schöner Spaß, achttausend Rubel! Und ihr sitzt hier still, ihr Schlafmützen, und tut nichts! Potapytsch, Marfa, habt ihr es gesehen?«

»Mütterchen, wie haben Sie das nur angefangen? Achttausend Rubel!« rief Marfa und krümmte sich dabei ganz zusammen.

»Da! Hier hat jeder von euch fünf Goldstücke! Da, nehmt!« Potapytsch und Marfa griffen nach den Händen der Tante, um sie stürmisch zu küssen.

»Auch die Dienstmänner sollen jeder einen Friedrichsdor haben. Gib jedem von ihnen ein Goldstück, Alexej Iwanowitsch! Warum verbeugt sich dieser Saaldiener, und der andre auch? Sie gratulieren? Gib ihnen auch jedem einen Friedrichsdor!«

»Madame la princesse… un pauvre expatrié… malheur continuel… les princes russes sont si généreux…« Mit diesen Worten scharwenzelte um den Rollstuhl herum ein schnurrbärtiges Subjekt in abgetragenem Oberrock und bunter Weste, die Mütze in der Hand, das Gesicht zu einem kriecherischen Lächeln verziehend.

»Gib ihm auch einen Friedrichsdor!… Nein, gib ihm zwei! Nun aber soll’s genug sein; sonst nimmt das mit diesen Menschen kein Ende. Hebt an und tragt mich weiter! Praskowja«, wandte sie sich an Polina Alexandrowna, »ich werde dir morgen Stoff zu einem Kleid kaufen, und der hier auch, dieser Mademoisdelle, wie heißt sie doch? Mademoiselle Blanche, gut, der werde ich auch Stoff zu einem Kleid kaufen. Übersetze es ihr, Praskowja!«

»Merci, madame«, erwiderte Mademoiselle Blanche mit einem graziösen Knicks und tauschte dann spöttisch lächelnd mit de Grieux und dem General einen Blick aus. Der General wurde einigermaßen verlegen und war sehr froh, als wir endlich die Allee erreicht hatten.

»Da fällt mir Fedosja ein, wie die sich jetzt wundern wird«, sagte die Tante, die gerade an die ihr wohlbekannte Kinderfrau im Haushalt des Generals dachte. »Der muß ich auch Zeug zu einem Kleid schenken. Höre, Alexej Iwanowitsch, Alexej Iwanowitsch, gib diesem Bettler etwas!«

Ein zerlumpter Mensch mit gekrümmtem Rücken ging auf dem Weg an uns vorbei und sah uns an.

»Aber das ist vielleicht gar kein Bettler, Großmütterchen, sondern irgendein Vagabund.«

»Gib nur, gib! Gib ihm einen Gulden!«

Ich trat an ihn heran und gab ihm das Geld. Er sah mich mit scheuer Verwunderung an, nahm aber schweigend den Gulden hin. Er roch stark nach Branntwein.

»Hast du denn noch nicht dein Glück probiert, Alexej Iwanowitsch?«

»Nein, Großmütterchen.«

»Aber die Augen brannten dir am Spieltisch nur so; ich habe es wohl gesehen.«

»Ich werde schon noch mein Glück versuchen, Großmütterchen, ganz bestimmt, ein andermal.«

»Und setze nur geradezu auf zéro! Dann wirst du schon sehen! Wieviel Geld hast du denn?«

»Ich habe im ganzen nur zwanzig Friedrichsdor, Großmütterchen.«

»Das ist wenig. Ich will dir fünfzig Friedrichsdor borgen, wenn du willst. Hier, du kannst gleich diese Rolle nehmen. – Aber du, lieber Freund«, wandte sie sich auf einmal an den General, »mach dir keine Hoffnungen; dir gebe ich nichts!«

Der General zuckte zusammen; aber er schwieg. De Grieux machte ein finsteres Gesicht.

»Que diable, c’est une terrible vieille!« flüsterte er durch die Zähne dem General zu.

»Ein Bettler, ein Bettler, wieder ein Bettler!« rief die Tante. »Alexej Iwanowitsch, gib dem auch einen Gulden!«

Diesmal war derjenige, der uns begegnete, ein grauköpfiger alter Mann mit einem Stelzfuß; er trug einen blauen Rock mit langen Schößen und hatte einen langen Rohrstock in der Hand. Er sah aus wie ein alter Soldat. Aber als ich ihm den Gulden hinhielt, trat er einen Schritt zurück und blickte mich grimmig an.

»Zum Teufel, was soll das vorstellen?« schrie er und fügte dem noch eine Reihe von Schimpfworten hinzu.

»Na, so ein Dummkopf!« rief die Tante. »Dann läßt er’s bleiben! Fahrt mich weiter! Ich bin ganz hungrig geworden! Nun wollen wir gleich zu Mittag essen; dann will ich mich ein Weilchen hinlegen und mich dann wieder dorthin begeben.«

»Sie wollen wieder spielen, Großmütterchen?« rief ich. »Was hast du dir denn gedacht? Weil ihr alle hier still sitzt und die Hände in den Schoß legt, soll ich es euch wohl nachmachen!«

»Mais, madame«, bemerkte nähertretend de Grieux, »les chances peuvent tourner, une seule mauvaise chance et vous perdrez tout… surtout avec votre jeu… c’était horrible!« »Vous perdrez absolument«, zwitscherte Mademoiselle Blanche.

»Was geht denn das euch alle an? Wenn ich verliere, verliere ich ja nicht euer Geld, sondern meins! Aber wo ist denn dieser Mister Astley?« fragte sie mich.

»Er ist im Kurhaus geblieben, Großmütterchen.«

»Schade; das ist ein sehr netter Mensch.«

Als wir nach Hause gekommen waren, begegneten wir auf der Treppe dem Oberkellner, und die Tante rief ihn sogleich heran und rühmte sich ihres Spielgewinns; darauf ließ sie Fedosja rufen, schenkte ihr drei Friedrichsdor und befahl, das Mittagessen aufzutragen. Fedosja und Marfa zerrissen sich bei Tisch fast vor Dienstfertigkeit gegen sie.

»Ich sah so nach Ihnen hin, Mütterchen«, schwatzte Marfa, »und da sagte ich zu Potapytsch: ›Was will unser Mütterchen nur da machen?‹ Und auf dem Tisch lag Geld, eine Unmenge Geld, o Gott, o Gott! In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so viel Geld gesehen. Und darum herum saßen Herrschaften, lauter vornehme Herrschaften. Und ich sagte: ›Wo mögen bloß all diese vielen Herrschaften hier herkommen, Potapytsch?‹ Ich dachte bei mir: ›Möge ihr die Mutter Gottes selbst beistehen!‹ Und ich betete für Sie, Mütterchen; aber mein Herz war mir so beklommen, ganz beklommen war es mir, und ich zitterte nur so, am ganzen Leibe zitterte ich. ›Gott gebe ihr alles Gute!‹ dachte ich; na, und sehen Sie, da hat Gott Ihnen denn auch seinen Segen geschickt. Bis diesen Augenblick zittere ich noch, Mütterchen; sehen Sie nur, wie ich am ganzen Leibe zittre!«

»Alexej Iwanowitsch, nach Tisch, so um vier Uhr, dann mach dich fertig; dann wollen wir wieder hin. Jetzt aber, für die Zwischenzeit, adieu! Und vergiß auch nicht, mir so einen Doktor herzuschicken; ich muß doch auch Brunnen trinken. Tu’s nur bald, sonst vergißt du es am Ende noch!«

Als ich von der Tante herauskam, war ich wie betäubt. Ich suchte mir eine Vorstellung davon zu machen: was wird jetzt aus den Unsrigen allen werden, und welche Wendung werden die Dinge nehmen? Ich sah klar, daß die Unsrigen, und ganz besonders der General, noch nicht einmal von der ersten Überraschung wieder recht zur Besinnung gekommen waren. Die Tatsache, daß die alte Tante in Person eingetroffen war, statt der von Stunde zu Stunde erwarteten Nachricht von ihrem Tod und damit auch der Nachricht von der Erbschaft, diese Tatsache hatte den ganzen Aufbau ihrer Absichten und Pläne so gründlich zerstört, daß sie nun den Großtaten der Tante am Roulettisch völlig verblüfft, ja gewissermaßen wie von einem Starrkrampf befallen gegenüberstanden. Und doch fiel diese zweite Tatsache, das Glücksspiel der Tante, fast noch schwerer in die Waagschale als die erste. Denn wenn auch die Alte zweimal erklärt hatte, sie werde dem General kein Geld geben – nun, wer weiß, man brauchte darum doch nicht alle Hoffnungen aufzugeben. So gab denn auch de Grieux, der an allen Angelegenheiten des Generals stark beteiligt war, die Hoffnung nicht auf. Und ich war überzeugt, daß auch Mademoiselle Blanche, die gleichfalls bei der Sache höchst interessiert war (na, und ob! wo sie Frau Generalin zu werden und in den Besitz einer bedeutenden Erbschaft zu gelangen hoffte!), daß auch sie die Hoffnung nicht verlieren, sondern der Tante gegenüber alle Künste der Koketterie zur Anwendung bringen würde – ganz im Gegensatz zu der stolzen Polina, die zu ungelehrig war und nicht verstand, sich einzuschmeicheln. Aber jetzt, jetzt, wo die Tante so großartige Erfolge beim Roulett aufzuweisen hatte, jetzt, wo sich deren ganzes Wesen ihnen allen in voller Klarheit und Deutlichkeit als der Typus eines eigensinnigen, herrschsüchtigen, kindisch gewordenen alten Weibes enthüllt hatte, jetzt war vielleicht alles verloren. Sie freute sich ja über ihren Gewinn wie ein kleines Kind, und so war zu erwarten, daß sie, wie das so zu gehen pflegt, alles verspielen werde. »Mein Gott«, dachte ich, und Gott verzeihe mir, daß ich dabei recht schadenfroh lachte, »mein Gott, jeder Friedrichsdor, den die Alte vorhin setzte, hat gewiß dem General einen Stich ins Herz gegeben und diesen Monsieur de Grieux schwer geärgert und Mademoiselle de Cominges in Wut versetzt; dieser letzteren mag zumute gewesen sein, als ob man den vollen Löffel ihr erst gezeigt und dann an dem begehrlich geöffneten Mund vorbeigeführt hätte. Und dann war da noch eine bedenkliche Tatsache: sogar als die Tante den großen Spielgewinn gemacht hatte und voll Freude darüber war und an alle möglichen Leute Geld verteilte und jeden Passanten für einen unterstützungswürdigen Armen ansah, selbst da hatte sie zu dem General schroff gesagt: ›Dir werde ich trotzdem nichts geben!‹ Das hieß doch: ›Ich habe mich auf diesen Gedanken versteift, es mir fest vorgenommen, mir selbst das Wort darauf gegeben.‹ Eine böse, böse Sache!«

Alle diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich von dem Logis der Tante die breite Treppe nach der obersten Etage hinanstieg, in der mein Zimmerchen lag. All diese Vorgänge erregten mein lebhaftes Interesse. Zwar hatte ich schon früher die wichtigsten, stärksten Fäden erraten können, durch die die Akteure des vor meinen Augen sich abspielenden Dramas miteinander verknüpft waren; aber alle Hilfsmittel und Geheimnisses dieses Spieles kannte ich trotzdem noch nicht. Polina war gegen mich nie ganz offenherzig gewesen. Mitunter war es ja allerdings vorgekommen, daß sie mich anscheinend unwillkürlich einen Blick in ihr Herz tun ließ; aber ich hatte bemerkt, daß sie oft, ja fast immer nach solchen Fällen von Offenherzigkeit entweder alles, was sie gesagt hatte, auf das Gebiet des Scherzes hinüberspielte oder es nachträglich wieder verwirrte und allein absichtlich einen falschen Sinn beilegte. Oh, sie verheimlichte mir vieles! Jedenfalls hatte ich das Vorgefühl, daß die letzte Phase dieses ganzen Zustandes geheimnisvoller Spannung herannahte. Noch ein Schlag, und alles war beendet und aufgedeckt. Um mein eigenes Schicksal machte ich mir, obwohl ich an der Entwicklung dieser Dinge ein hohes Interesse hatte, fast keine Sorgen. Ich befand mich in einer sonderbaren Gemütsverfassung: in der Tasche hatte ich nur zwanzig Friedrichsdor; ich befand mich fern von der Heimat in fremdem Lande, ohne Stellung und ohne Existenzmittel, ohne Hoffnung und ohne Pläne – und machte mir darüber keine Sorgen! Wäre nicht der Gedanke an Polina gewesen, so hätte ich einfach mein ganzes Interesse auf die Komik der bevorstehenden Lösung gerichtet und aus vollem Halse gelacht. Aber der Gedanke an sie regte mich auf; ihr Schicksal mußte sich jetzt entscheiden, das ahnte ich; aber, ich bekenne es, ihr Schicksal beunruhigte mich gar nicht. Ich wünschte, in ihre Geheimnisse einzudringen; ich hätte gewünscht, daß sie zu mir gekommen wäre und gesagt hätte: »Ich liebe dich ja«, und wenn das nicht geschah, wenn das eine undenkbare Verrücktheit war, dann… ja, was hätte ich dann gewünscht? Wußte ich denn etwa, was ich wünschte? Ich war selbst ganz wirr im Kopf: nur bei ihr sein, in ihrem Strahlenkreis, in dem Glanzschimmer, der sie umgibt, immer, unaufhörlich, das ganze Leben lang! Von weiteren Wünschen wußte ich nichts! War ich denn überhaupt imstande, von ihr fortzugehen?

Als ich in der dritten Etage auf dem Korridor war, an dem die Zimmer der Unsrigen liegen, hatte ich eine Empfindung, als ob mich jemand anstieße. Ich drehte mich um und erblickte in einer Entfernung von zwanzig oder noch mehr Schritten Polina, die aus einer Tür herauskam. Sie schien auf mich gewartet und nach mir Ausschau gehalten zu haben und winkte mich sogleich zu sich heran.

»Polina Alexandrowna…«

»Leiser, leiser«, sagte sie in gedämpftem Ton.

»Können Sie sich das vorstellen«, flüsterte ich, »es war mir soeben, als stieße mich jemand von der Seite an; ich drehte mich um – und da stehen Sie! Gerade als wenn eine Art Elektrizität von Ihnen ausginge!«

»Nehmen Sie diesen Brief«, sagte Polina, die eine sorgenvolle düstere Miene zeigte; das, was ich gesagt hatte, hatte sie wahrscheinlich gar nicht ordentlich gehört, »und übergeben Sie ihn persönlich Mister Astley, aber sogleich! So schnell wie irgend möglich; ich bitte Sie darum. Eine Antwort ist nicht nötig. Er wird schon selbst…«

Sie sprach den begonnenen Satz nicht zu Ende.

»Mister Astley?« fragte ich erstaunt.

Aber Polina war schon hinter der Tür verschwunden.

»Aha! Also sie haben eine Korrespondenz miteinander!«

Selbstverständlich machte ich mich eiligst auf, um Mister Astley aufzusuchen, zuerst in seinem Hotel, wo ich ihn nicht antraf, dann im Kurhaus, wo ich durch alle Säle lief; als ich endlich ärgerlich und beinahe in Verzweiflung nach Hause zurückging, begegnete ich ihm zufällig: er ritt mit einer Kavalkade von Engländern und Engländerinnen spazieren. Durch Winken mit der Hand veranlagte ich ihn anzuhalten und übergab ihm den Brief. Wir hatten kaum Zeit, einander ordentlich anzusehen; aber ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, daß Mister Astley mit Absicht sein Pferd schnell wieder in Bewegung setzte.

Quälte mich Eifersucht? Ich weiß nicht, ob das der Fall war, aber jedenfalls befand ich mich in sehr gedrückter Stimmung. Es lag mir nicht einmal daran, zu erfahren, worüber sie eigentlich korrespondierten. Also das war ihr Vertrauensmann. »Er ist ihr Freund, ihr Freund«, dachte ich; »das ist klar (nur: wann hat er Zeit gefunden, ihr Freund zu werden?); aber liegt hier auch Liebe vor?« »Nein, gewiß nicht«, flüsterte mir die Vernunft zu. Aber die Vernunft allein vermag in solchen Fällen wenig. Jedenfalls mußte ich auch diesen Punkt klarstellen. Die Angelegenheit komplizierte sich in einer unangenehmen Weise.

Kaum hatte ich das Hotel wieder betreten, als mir der Portier sowie der Oberkellner, der aus seinem Büro herauskam, mitteilten, die Herrschaften wünschten mich zu sprechen, ließen mich suchen und hätten sich schon dreimal erkundigen lassen, wo ich sei; ich würde gebeten, so schnell wie möglich in das Logis des Generals zu kommen. Ich war in der garstigsten Gemütsverfassung. Im Zimmer des Generals fand ich außer dem General selbst Monsieur de Grieux und Madernoiselle Blanche, letztere allein, ohne ihre Mutter. Die Mutter war zweifellos eine erkaufte Person, die nur zu Paradezwecken diente; sobald ernste Angelegenheiten materieller Art vorlagen, handelte Mademoiselle Blanche allein. Und jene hatte von solchen Angelegenheiten ihrer angenommenen Tochter auch kaum irgendwelche Kenntnis.

Sie waren in hitziger Beratung über irgend etwas begriffen und hatten sogar die Zimmertür zugeschlossen, was sonst noch nie geschehen war. Als ich mich der Tür näherte, hörte ich laute Stimmen und unterschied de Grieux‘ dreiste, boshafte Redeweise, Mademoiselle Blanches zorniges Kreischen und freches Schimpfen und die klägliche Stimme des Generals, der sich offenbar über etwas, was ihm zum Vorwurf gemacht wurde, rechtfertigte. Bei meinem Eintritt suchten alle zu einem maßvollen Benehmen zurückzukehren und ihre Mienen und ihre äußere Erscheinung wieder in Ordnung zu bringen. De Grieux strich sich die Haare zurecht und verwandelte sein Gesicht aus einem zornigen in ein lächelndes; es war jenes widerwärtige, konventionellhöfliche französische Lächeln, das mir so verhaßt ist. Der General, der den Eindruck starker Bedrücktheit und Niedergeschlagenheit gemacht hatte, bemühte sich, sein würdevolles Aussehen wiederzugewinnen, wiewohl nur in mechanischer Weise, als ob er mit seinen Gedanken nicht dabei wäre. Nur Mademoiselle Blanche änderte ihren wütenden Gesichtsausdruck mit den zornig funkelnden Augen fast gar nicht und beschränkte sich darauf, zu verstummen, wobei sie auf mich einen Blick ungeduldiger Erwartung richtete. Beiläufig bemerkt: sie hatte mich bisher mit einer unglaublichen Geringschätzung behandelt, nicht einmal meine Verbeugungen erwidert und mich überhaupt völlig ignoriert.

»Alexej Iwanowitsch«, begann der General im Ton milden Vorwurfs, »gestatten Sie mir die Bemerkung, daß ich Ihr Verhalten gegen mich und meine Familie … mit einem Wort, ich finde es sonderbar, im höchsten Grade sonderbar, daß Sie … mit einem Wort …«

»Eh! ce n’est pas ça«, unterbrach ihn de Grieux ärgerlich und geringschätzig; es war klar, daß er hier das Kommando führte. »Mon cher monsieur, notre cher général« (aber ich will seine Worte auf russisch wiedergeben) »hat sich im Ton vergriffen; aber er wollte Ihnen sagen … daß heißt Sie davor warnen oder, richtiger gesagt, Sie inständig bitten, ihn nicht zugrunde zu richten – nun ja, ihn nicht zugrunde zu richten! Ich bediene mich absichtlich dieses Ausdrucks …«

»Aber wodurch tue ich denn das? Wodurch?« unterbrach ich ihn.

»Ich bitte Sie, Sie haben das Amt eines Mentors (oder wie soll ich mich ausdrücken?) bei dieser alten Dame, cette pauvre terrible vieille, übernommen« (hier geriet de Grieux selbst in Verwirrung); »aber sie wird ja alles verspielen; sie wird alles verspielen bis auf den letzten Groschen! Sie haben selbst gesehen. Sie waren selbst Zeuge, in welcher Art sie spielte! Wenn sie erst einmal ins Verlieren kommt, wird sie aus Hartnäckigkeit und Ingrimm nicht mehr vom Spieltisch weggehen, und wird immerzu spielen und spielen; aber auf die Art bringt man Spielverluste nie wieder ein, und dann … dann …«

»Und dann«, fiel der General ein, »dann richten Sie die ganze Familie zugrunde! Ich und meine Familie, wir sind ihre Erben; nähere Verwandte als uns hat sie nicht. Ich will Ihnen offen sagen: meine Vermögensverhältnisse sind zerrüttet, völlig zerrüttet. Zum Teil werden Sie das selbst schon gewußt haben … Wenn sie nun eine bedeutende Summe verspielt oder vielleicht am Ende gar ihr ganzes Vermögen (mein Gott, mein Gott!), was soll dann aus … aus meinen Kindern werden?« (Der General wendete sich nach de Grieux um.) »Und aus mir selbst?« (Er blickte zu Mademoiselle Blanche, die sich aber mit verächtlicher Miene von ihm abwandte.) »Alexej Iwanowitsch, retten Sie uns, retten Sie uns!«

»Aber wodurch denn? Sagen Sie selbst, General, wodurch kann ich denn … Was habe ich denn dabei zu sagen?«

»Weigern Sie sich, ihr weiter beim Spiel behilflich zu sein; machen Sie sich von ihr los …!«

»Dann wird sich ein anderer finden!« rief ich.

»Ce n’est pas ça, ce n’est pas ça«, mischte sich wieder de Grieux hinein, »que diable! Nein, machen Sie sich nicht von ihr los; aber versuchen sie wenigstens, ihr Rat zu geben, sie zu überreden, sie zurückzuhalten … Kurz gesagt, lassen Sie sie nicht allzuviel verspielen; halten Sie sie auf irgendeine Weise zurück!«

»Aber wie soll ich das anfangen? Vielleicht wäre es das beste, wenn Sie es selbst übernähmen, Monsieur de Grieux«, fügte ich hinzu, mich möglichst naiv stellend.

In diesem Augenblick bemerkte ich, daß Mademoiselle Blanche dem Franzosen einen raschen, funkelnden, fragenden Blick zuwarf. Über dessen eigenes Gesicht huschte ein eigentümlicher Ausdruck, als ob unwillkürlich seine wahre Gesinnung zum Vorschein käme.

»Das ist es ja eben, daß sie mich jetzt nicht an sich herankommen läßt!« rief er, mißmutig den Arm schwenkend. »Ja, wenn … dann …«

Er blickte Mademoiselle Blanche schnell und bedeutsam an.

»Oh, mon cher monsieur Alexis, soyez si bon!« sagte nun Mademoiselle Blanche selbst, mit einem bezaubernden Lächeln auf mich zutretend, ergriff meine beiden Hände und drückte sie kräftig. Hol’s der Teufel! Dieses diabolische Gesicht verstand es, sich in einem Augenblick vollständig zu verändern. Jetzt hatte ich auf einmal ein so inständig bittendes, ein so liebenswürdiges, kindlich lächelndes und sogar schelmisches Gesicht vor mir; und am Ende dieses Satzes zwinkerte sie mir, geheim vor den anderen, in einer ganz spitzbübischen Weise zu: sie legte es darauf an, mich mit einem Schlag zu gewinnen! Und es kam nicht übel heraus, nur allerdings zu derb, gar zu derb.

Nach ihr eilte der General auf mich zu:

»Alexej Iwanowitsch, verzeihen Sie, daß ich zu Ihnen vorhin zuerst nicht in der richtigen Art redete; ich meinte es aber ganz und gar nicht schlimm … Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, ich verbeuge mich vor Ihnen bis zum Gürtel, wie wir Russen sagen – Sie sind der einzige, der uns retten kann, Sie allein! Ich und Mademoiselle de Cominges bitten Sie inständig – Sie verstehen, Sie verstehen ja wohl?«

So redete er in flehendem Ton und deutete mit den Augen auf Mademoiselle Blanche. Er bot einen überaus kläglichen Anblick.

In diesem Augenblick wurde dreimal leise und respektvoll an die Tür geklopft, und als geöffnet wurde, stand ein Kellner da und einige Schritte hinter ihm Potapytsch. Sie waren von der Tante geschickt und hatten den Auftrag, mich zu suchen und unverzüglich zu ihr zu bringen. »Die gnädige Frau sind schon ärgerlich«, berichtete Potapytsch.

»Aber es ist ja erst halb vier«, sagte ich.

»Die gnädige Frau konnten gar nicht einschlafen, sondern wälzten sich immer umher, standen dann auf einmal auf, verlangten den Rollstuhl und schickten nach Ihnen. Die gnädige Frau sind jetzt schon vor dem Portal …«

»Quelle mégère!« rief de Grieux.

In der Tat fand ich die Tante bereits vor dem Portal, außer sich vor Ungeduld darüber, daß ich nicht da war. Sie hatte es nicht bis vier Uhr aushalten können.

»Na, dann schafft mich hin!« rief sie, und wir begaben uns wieder zum Roulett.

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Zwölftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Die Tante befand sich in sehr ungeduldiger, reizbarer Stimmung; es war deutlich, daß sie an weiter nichts dachte als an das Roulett. Für alles andere hatte sie keine Aufmerksamkeit übrig und war überhaupt im höchsten Grade zerstreut. So zum Beispiel fragte sie unterwegs nach nichts mit dem Interesse wie am Vormittag. Als sie eine prächtige Equipage sah, die an uns vorbeisauste, hob sie wohl die Hand ein wenig auf und sagte: »Was war das? Wem gehörte die?« schien aber dann meine Antwort gar nicht zu verstehen. Sie saß in Gedanken versunken da, unterbrach aber diese Versunkenheit fortwährend durch heftige, ungeduldige Körperbewegungen und scharfe Worte. Als ich ihr (wir waren nicht mehr weit vom Kurhaus) in einiger Entfernung den Baron und die Baronin Wurmerhelm zeigte, sagte sie zerstreut und in ganz gleichgültigem Ton: »Ah!«, drehte sich dann hastig zu Potapytsch und Marfa um, die hinter ihr gingen, und herrschte sie an:

»Na, wozu kommt ihr denn wieder mitgelaufen? Jedesmal kann ich euch nicht mitnehmen! Macht, daß ihr nach Hause kommt! Ich habe an dir genug«, fügte sie, zu mir gewendet, hinzu, während jene beiden sich eilig verbeugten und nach Hause umkehrten.

Im Spielsaal erwartete man die Tante bereits. Es wurde ihr sofort wieder derselbe Platz neben dem Croupier freigemacht. Es will mir scheinen, daß diese Croupiers, die sich immer so wohlanständig benehmen und sich als gewöhnliche Beamte geben, denen es so gut wie gleichgültig sei, ob die Bank gewinne oder verliere, es will mir scheinen, daß diese Leute gegen Verluste der Bank durchaus nicht gleichgültig sind, sondern ihre besonderen Instruktionen zur Anlockung von Spielern und zur Erhöhung der Einnahmen der Bank haben und als Lohn für besondere Erfolge besondere Prämien erhalten. Wenigstens betrachteten sie die Tante bereits als ihr Schlachtopfer.

Nunmehr geschah, was die Unsrigen vorausgesagt hatten. Die Sache trug sich folgendermaßen zu.

Die Tante stürzte sich ohne weiteres wieder auf Zéro und befahl mir sogleich, jedesmal zwölf Friedrichsdor darauf zu setzen. Wir setzten einmal, ein zweites Mal, ein drittes Mal – Zéro kam nicht.

»Setze nur, setze!« sagte die Tante und stieß mich ungeduldig an.

Ich gehorchte. »Wieviel haben wir schon gesetzt?« fragte sie endlich, mit den Zähnen vor Ungeduld knirschend.

»Ich habe schon zwölfmal gesetzt, Großmütterchen. Hundertvierundvierzig Friedrichsdor haben wir verloren. Ich sage Ihnen, Großmütterchen, es dauert vielleicht bis zum Abend…«

»Schweig!« unterbrach mich die Tante. »Setze auf Zéro, und setze gleich auch auf Rot tausend Gulden! Hier ist eine Banknote.«

Rot kam, aber Zéro wieder nicht. Wir erhielten tausend Gulden ausgezahlt.

»Siehst du, siehst du?« flüsterte die Tante. »Wir haben beinahe alles, was wir verloren hatten, wieder eingebracht. Setze wieder auf Zéro; noch ein dutzendmal wollen wir darauf setzen, dann wollen wir es aufgeben.«

Aber beim fünften Mal hatte sie es bereits ganz und gar satt bekommen.

»Hol dieses nichtswürdige Zéro der Teufel; ich will nichts mehr davon wissen. Da, setze diese ganzen viertausend Gulden auf Rot!« befahl sie.

»Aber Großmütterchen, das ist doch eine gar zu große Summe; wenn nun Rot nicht kommt?« sagte ich im Ton dringender Bitte; aber die Tante hätte mich beinahe durchgeprügelt. (Beiläufig: sie versetzte mir immer solche Stöße, daß man sie fast schon als Schläge bewerten konnte.) Es war nichts zu machen; ich setzte die ganzen viertausend Gulden auf Rot. Das Rad drehte sich. Die Tante saß gerade aufgerichtet mit ruhiger, stolzer Miene da, ohne im geringsten an dem bevorstehenden Gewinn zu zweifeln.

»Zéro!« rief der Croupier.

Zuerst begriff sie nicht, was es damit auf sich hatte; aber als sie sah, daß der Croupier, zusammen mit allem, was sonst noch auf dem Tisch lag, auch ihre viertausend Gulden zu sich heranharkte, und als sie zu der Erkenntnis gelangte, daß dieses Zéro, das so lange nicht gekommen war, und auf das wir über zweihundert Friedrichsdor verloren hatten, wie mit Absicht nun gerade in dem Augenblick erschienen war, wo sie eben darauf geschimpft und es nicht mehr besetzt hatte, da stöhnte sie laut auf und schlug die Hände zusammen, so daß man es durch den ganzen Saal hörte. Die Leute um sie herum lachten. »Ach herrje, ach herrje, gerade jetzt ist nun dieses nichtswürdige Ding gekommen!« jammerte sie. »So ein verfluchtes Ding! Daran bist du schuld! Nur du bist daran schuld!« fuhr sie grimmig auf mich los und versetzte mir Stöße in die Seite. »Du hast mir abgeredet.« »Großmütterchen, was ich gesagt habe, war ganz vernünftig; aber wie kann ich für alle Chancen einstehen?« »Ich werde dich lehren, Chancen!« flüsterte sie wütend. »Scher dich weg von mir!« »Adieu, Großmütterchen!« Ich drehte mich um und wollte weggehen. »Alexej Iwanowitsch, Alexej Iwanowitsch, bleib doch hier! Wo willst du hin? Na, was ist denn? Was ist denn? Ist der Mensch gleich ärgerlich geworden! Du Dummkopf! Na, bleib nur hier, bleib nur noch, ärgere dich nicht, ich bin selbst ein Dummkopf! Na, nun sage, was ich jetzt tun soll!« »Nein, Großmütterchen, ich lasse mich nicht mehr darauf ein, Ihnen Rat zu geben; denn Sie würden mir nachher doch wieder die Schuld beimessen. Spielen Sie selbst! Geben Sie mir Ihre Anweisungen, und ich werde setzen.« »Nun gut, gut! Na, dann setze noch viertausend Gulden auf Rot! Hier ist meine Brieftasche, nimm!« Sie zog sie aus der Tasche und reichte sie mir. »Na, nimm nur schnell hin; es sind Zwölftausend Gulden Bargeld darin.« »Großmütterchen«, wandte ich stockend ein, »so große Einsätze…« »Ich will nicht am Leben bleiben, wenn ich es nicht wiedergewinne … Setze!« Wir setzten und verloren. »Setze, setze; setze gleich alle achttausend Gulden!« »Das geht nicht, Großmütterchen; der höchste Einsatz ist viertausend!« »Na, dann setz viertausend!« Dieses Mal gewannen wir. Die Alte faßte wieder Mut. »Siehst du wohl, siehst du wohl«, sagte sie wieder mit einem Puff in meine Seite. »Setze wieder viertausend!« Wir setzten und verloren; darauf verloren wir noch einmal und noch einmal. »Großmütterchen, die ganzen zwölftausend Gulden sind hin«, meldete ich ihr. »Das sehe ich, daß sie alle hin sind«, erwiderte sie mit einer Art von ruhiger Wut, wenn man sich so ausdrücken kann. »Das sehe ich, mein Lieber, das sehe ich«, murmelte sie vor sich hin, ohne sich zu rühren und wie in Gedanken versunken. »Ach was, ich will nicht am Leben bleiben… setze noch einmal viertausend Gulden!« »Aber ist es kein Geld mehr da, Großmütterchen. Hier in der Brieftasche sind nur noch russische fünfprozentige Staatsschuldscheine und außerdem einige Dokumente; Geld ist nicht mehr da.« »Und in der Börse?« »Es ist nur noch Kleingeld darin übrig, Großmütterchen.« »Gibt es hier ein Wechselgeschäft? Ich habe mir sagen lassen, hier könne ich alle unsere Papiere umwechseln«, fragte die Tante in entschlossenem Ton. »Oh, Papiere können Sie hier umwechseln, so viele Sie nur wollen! Aber was Sie beim Umwechseln verlieren werden… da würde selbst ein Jude einen Schreck bekommen.« »Unsinn! Das gewinne ich alles wieder! Bring mich hin! Rufe diese Tölpel, die Dienstmänner, her!« Ich rollte ihren Stuhl vom Tisch weg; die Dienstmänner erschienen, und wir verließen das Kurhaus. »Schneller, schneller, schneller!« befahl die Alte. »Zeige den Weg, Alexej Iwanowitsch, aber nimm den nächsten Weg… ist es weit?« »Nur ein paar Schritte, Großmütterchen.« Aber in dem Augenblick, als wir von dem Schmuckplatz in die Allee einbogen, begegnete uns unsere ganze Gesellschaft: der General, de Grieux und Mademoiselle Blanche mit ihrer Mama. Polina Alexandrowna war nicht bei ihnen, auch Mister Astley nicht.

»Zu, zu! Nicht stehenbleiben!« rief die Tante. »Was wollt ihr denn? Ich habe jetzt für euch keine Zeit!«

Ich ging hinter dem Rollstuhl; de Grieux trat hastig auf mich zu.

»Den ganzen vorigen Gewinn hat sie verspielt und dazu noch zwölftausend Gulden eigenes Geld. Jetzt gehen wir, Staatsschuldscheine umwechseln«, flüsterte ich ihm schnell zu. De Grieux stampfte mit dem Fuß und beeilte sich, es dem General mitzuteilen. Wir setzten unsern Weg mit der Tante fort.

»Halten Sie sie zurück, halten Sie sie zurück!« flüsterte mir der General ganz außer sich zu.

»Versuchen Sie es einmal, sie zurückzuhalten«, erwiderte ich gleichfalls leise.

»Liebe Tante«, sagte der General, zu ihr herantretend, »liebe Tante … wir sind gerade im Begriff … wir sind gerade im Begriff …« Die Stimme fing ihm an zu zittern und versagte … »Wir wollen uns einen Wagen nehmen und eine Spazierfahrt in der Umgegend des Ortes machen … Ein entzückender Blick … ein Aussichtspunkt … wir kamen, um Sie dazu aufzufordern.«

»Ach, laß mich in Ruhe mit deinem Aussichtspunkt!« antwortete die Alte gereizt mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Es ist dort ein Dorf … da wollen wir Tee trinken…« fuhr der General in heller Verzweiflung fort.

»Nous boirons du lait, sur l’herbe fraîche«, fügte de Grieux mit schändlicher Bosheit hinzu.

Du lait, de l’herbe fraîche, aus diesen beiden Stücken setzt sich für den Pariser Bourgeois das Ideal einer Idylle zusammen; daraus besteht bekanntlich seine ganze Vorstellung von dem, was er la nature et la vérité nennt!

»Du mit deiner Milch! Labbere du sie allein; ich bekomme davon Bauchschmerzen. Aber warum belästigt ihr mich denn?« schrie die Tante. »Ich habe doch schon gesagt, daß ich keine Zeit habe!«

»Wir sind schon da, Großmütterchen!« sagte ich. »Hier ist es!«

Wir waren bei einem Haus angelangt, in dem sich ein Bankgeschäft befand. Ich ging hinein, um das Umwechseln zu erledigen; die Tante blieb draußen auf der Straße und wartete; der General, de Grieux und Blanche standen in einiger Entfernung von ihr und wußten nicht, was sie tun sollten. Die Alte warf ihnen zornige Blicke zu; so gingen sie denn fort und schlugen den Weg nach dem Kurhaus ein.

Was man mir in dem Bankgeschäft für die Wertpapiere bot, war so erschreckend wenig, daß ich nicht glaubte, auf eigene Hand den Verkauf abschließen zu sollen, sondern zur Tante zurückkehrte, um mir von ihr Instruktion zu erbitten.

»Ach, diese Räuber!« rief sie und schlug die Hände zusammen. »Na, aber es hilft nichts! Verkaufe sie!« fuhr sie kurz entschlossen fort. »Warte mal, rufe doch mal den Bankier zu mir her!«

»Wohl einen von den Kontoristen, Großmütterchen?«

»Na, also einen Kontoristen, ganz gleich! Ach, diese Räuber!«

Der Kontorist fand sich bereit mit hinauszukommen, als er hörte, es lasse ihn eine alte Gräfin bitten, die körperlich leidend sei und nicht gehen könne. Lange Zeit machte ihm die Tante mit lauter Stimme zornige Vorwürfe wegen solcher Gaunerei und suchte mit ihm zu handeln; sie redete dabei einen Mischmasch von Russisch, Französisch und Deutsch, bei dem ich als Dolmetscher half. Der ernste Kontorist sah uns beide an und schüttelte schweigend den Kopf. Die Tante betrachtete er sogar mit einer so beharrlichen Neugier, daß es ordentlich unhöflich herauskam; schließlich fing er an zu lächeln.

»Na, nun pack dich!« schrie die Alte. »Mögest du an meinem Gelde ersticken! Wechsle es bei ihm um, Alexej Iwanowitsch! Wir haben keine Zeit; sonst könnten wir zu einem andern fahren …«

»Der Kontorist sagt, bei andern würden wir noch weniger bekommen.«

Genau besinne ich mich nicht mehr auf die Rechnung, die uns damals gemacht wurde; aber sie war schauderhaft. Ich erhielt etwa zwölftausend Gulden in Gold und Banknoten, nahm die Rechnung und trug alles der Tante hinaus.

»Schon gut, schon gut! Du brauchst es mir nicht erst vorzuzählen!« winkte sie ab. »Nur schnell, schnell, schnell!«

»Nie mehr werde ich auf dieses verwünschte Zéro setzen, und auf Rot auch nicht«, sagte sie vor sich hin, als wir uns dem Kurhaus näherten.

Diesmal bemühte ich mich aus allen Kräften, sie dazu zu bewegen, nur möglichst kleine Einsätze zu machen, indem ich ihr vorstellte, daß sie bei einer günstigen Wendung der Chancen immer noch Zeit habe, größere Summen zu setzen. Aber sie war für ein solches Verfahren zu ungeduldig; obwohl sie sich anfänglich damit einverstanden erklärt hatte, war es doch ein Ding der Unmöglichkeit, sie im Laufe des Spiels zurückzuhalten. Kaum fing sie an, auf Einsätze von zehn, zwanzig Friedrichsdor zu gewinnen, so hieß es unter Puffen in meine Seite:

»Na, siehst du wohl, siehst du wohl? Gewonnen haben wir; wir hätten viertausend Gulden setzen sollen statt der zehn Friedrichsdor; dann hätten wir viertausend Gulden gewonnen; aber was haben wir jetzt? Das ist nur deine Schuld, nur deine Schuld!«

Und wie sehr ich mich auch ärgerte, wenn ich ihre Art zu spielen ansah, so entschied ich mich schließlich doch dafür zu schweigen und ihr keine weiteren Ratschläge mehr zu geben.

Auf einmal trat de Grieux eilig zu ihr heran. Auch unsere übrige Gesellschaft war in der Nähe; ich bemerkte, daß Mademoiselle Blanche mit ihrer Mama etwas abseits stand und mit dem kleinen Fürsten kokettierte. Der General war in offenbarer Ungnade und so gut wie abgesetzt. Blanche wollte ihn nicht einmal ansehen, obwohl er sich aus allen Kräften mit Liebenswürdigkeiten um sie zu schaffen machte. Der arme General! Er wurde abwechselnd blaß und rot, zitterte und verfolgte nicht einmal mehr das Spiel der Tante. Schließlich gingen Blanche und der kleine Fürst hinaus; der General lief ihnen nach.

»Madame, madame«, flüsterte de Grieux der Tante zu, indem er sich ganz dicht an ihr Ohr hinabbeugte, »madame, so geht das nicht mit dem Setzen … nein, nein, das ist nicht möglich …« radebrechte er auf russisch, »… nein!« »Aber wie denn? Na, dann belehre mich mal!« antwortete ihm die Tante.

Nun begann de Grieux sehr schnell Französisch zu plappern und eifrig Ratschläge zu geben; er sagte, man müsse eine Chance abwarten, und führte irgendwelche Zahlen an – die Alte begriff nichts von alledem. Fortwährend wandte er sich dabei an mich, mit der Bitte, seine Worte zu übersetzen; er tippte mit dem Finger auf den Tisch und demonstrierte dies und das; zuletzt ergriff er einen Bleistift und begann auf einem Blatt Papier zu rechnen. Schließlich verlor die Alte die Geduld.

»Na, nun scher dich weg! Du schwatzt ja doch nur dummes Zeuge! ›Madame, madame!‹ aber er selbst versteht von der Sache nichts. Scher dich weg!«

»Mais, madame«, schnatterte de Grieux wieder los und fing von neuem an zu schwadronieren und zu zeigen.

Er war in einen unhemmbaren Eifer hineingeraten.

»Na, dann setze einmal so, wie er sagt!« befahl mir die Tante. »Wir wollen mal sehen; vielleicht glückt es wirklich.«

De Grieux wollte sie nur von großen Einsätzen abbringen; er schlug ihr vor, auf Zahlen zu setzen, auf einzelne Zahlen und auf Zahlengruppen. Ich setzte nach seiner Anweisung je einen Friedrichsdor auf die ungeraden Zahlen von eins bis zwölf und je fünf Friedrichsdor auf die Zahlengruppe von zwölf bis achtzehn und auf die Zahlengruppe von achtzehn bis vierundzwanzig; im ganzen hatten wir sechzehn Friedrichsdor gesetzt.

Das Rad drehte sich.

»Zéro!« rief der Croupier.

Wir hatten alles verloren.

»So ein Esel!« rief die Alte, indem sie sich zu de Grieux umdrehte. »So ein Jammerkerl von Franzose! Der gibt noch Ratschläge, der Taugenichts! Scher dich weg, scher dich weg! Versteht nichts und tut hier wichtig!«

Tief gekränkt zuckte de Grieux mit den Achseln, warf der Tante einen Blick voller Verachtung zu und entfernte sich. Er schämte sich jetzt selbst, daß er sich mit ihr eingelassen hatte; länger hielt er es jedenfalls nicht aus.

Nach einer Stunde hatten wir, trotz allen Kämpfens und Ringens, alles verloren.

»Nach Hause!« schrie die Tante. Ehe wir die Allee erreicht hatten, sprach sie kein Wort.

Als wir in der Allee waren und uns schon dem Hotel näherten, da kamen bei ihr stoßweise die ersten Ausrufe:

»So ein dummes Weib! So ein verrücktes Weib! Du altes, altes, verrücktes Weib du!«

Sobald wir wieder in ihrem Logis waren, schrie sie:

»Bringt mir Tee! Und packt sofort ein! Wir reisen ab!«

»Wohin belieben Sie zu reisen, Mütterchen?« fragte Marfa schüchtern.

»Was geht dich das an? Kümmere dich um deine eigene Nase! Potapytsch, pack alles zusammen, mach alles fertig! Wir fahren zurück, nach Moskau. Ich habe fünfzehntausend Rubel verspielt!«

»Fünfzehntausend Rubel, Mütterchen! Mein Gott, mein Gott!« fing Potapytsch an und schlug, wie tief ergriffen, die Hände zusammen, wahrscheinlich in der Meinung, es damit der Alten recht zu machen.

»Na, na, du Schafskopf! Fang womöglich noch an zu heulen! Schweig still! Pack die Sachen! Und schnell die Rechnung, schnell.«

»Der nächste Zug geht um halb zehn, Großmütterchcn«, bemerkte ich in der Absicht, ihr Toben zu hemmen.

»Und wieviel ist es jetzt?«

»Halb acht.«

»Das ist ärgerlich! Na, ganz egal! Alexej Iwanowitsch, Geld habe ich auch nicht eine Kopeke mehr. Da hast du noch zwei Staatsschuldscheine; lauf und wechsle mir die auch noch um. Sonst habe ich kein Geld zum Fahren.«

Ich ging hin. Als ich nach einer halben Stunde ins Hotel zurückkam, fand ich bei der Tante die sämtlichen Unsrigen vor. Anscheinend waren sie über die Mitteilung, daß die Tante nach Moskau zurückzufahren beabsichtige, noch mehr bestürzt als über deren Spielverlust. Allerdings wurde durch diese Abreise das übrige Vermögen der alten Dame gerettet; aber auf der anderen Seite: was sollte jetzt aus dem General werden? Wer würde de Grieux‘ Forderungen begleichen? Mademoiselle Blanche würde selbstverständlich nicht warten mögen, bis die Alte stürbe, sondern wahrscheinlich gleich jetzt mit dem kleinen Fürsten oder sonst jemandem davongehen. Sie standen alle vor der Tante, trösteten sie und redeten ihr freundlich zu. Polina war wieder nicht dabei. Die Tante schrie ihnen grimmig zu:

»Macht, daß ihr fortkommt, ihr Kanaillen! Was geht euch die ganze Geschichte an? Wozu drängt sich dieser Ziegen- bart« (das war Monsieur de Grieux) »mir immer auf? Und du, kokette Person« (hier wandte sie sich an Mademoiselle Blanche), »was willst du von mir? Warum scharwenzelst du um mich herum?«

»Diantre!« murmelte Mademoiselle Blanche, in deren Augen die Wut funkelte; aber plötzlich lachte sie auf und ging hinaus.

»Elle vivra cent ans!« rief sie in der Tür dem General zu. »So, so! Also du rechnest auf meinen Tod?« kreischte die Alte den General an. »Mach, daß du fortkommst! Jage sie alle hinaus, Alexej Iwanowitsch! Was geht es euch an? Ich habe mein eigenes Geld verspielt und nicht eures!«

Der General zuckte mit den Achseln und ging in gekrümmter Haltung hinaus. De Grieux folgte ihm.

»Rufe Praskowja her!« befahl die Tante ihrer Zofe Marfa. Nach fünf Minuten kehrte Marfa mit Polina zurück. Polina hatte diese ganze Zeit über mit den Kindern in ihrem Zimmer gesessen und sich anscheinend vorgenommen, den ganzen Tag nicht auszugehen. Ihr Gesicht war ernst, traurig und sorgenvoll.

»Praskowja«, begann die Tante, »ist das wahr, was ich vor kurzem auf einem Umweg gehört habe, daß dieser Dummkopf, dein Stiefvater, diese dumme, flatterhafte Französin heiraten will? Sie ist ja wohl eine Schauspielerin, wenn nicht etwas noch Schlimmeres? Sag, ist das wahr?«

»Sicheres weiß ich darüber nicht, Großmütterchen«, antwortete Polina; »aber aus den eigenen Worten der Mademoiselle Blanche, die es nicht für nötig hält, ein Geheimnis daraus zu machen, schließe ich …«

»Genug«, unterbrach die Alte sie energisch. »Ich verstehe alles! Ich habe mir gleich gesagt, daß ihm das ganz ähnlich sehe, und habe ihn von jeher für einen ganz hohlen, leichtsinnigen Menschen gehalten. Er hat sich so einen Dünkel zugelegt, weil er General geworden ist (eigentlich war er nur Oberst und hat den Generalsrang erst beim Abschied bekommen); darauf ist er nun stolz. Ich weiß alles, mein Kind, wie ihr ein Telegramm nach dem andern nach Moskau geschickt habt: ›Wird denn die Alte noch nicht bald die Augen zumachen?‹ Ihr wartetet auf die Erbschaft; wenn der General kein Geld hat, nimmt ihn diese gemeine Dirne (wie heißt sie doch? de Cominges, nicht wahr?) nicht einmal als Lakaien zu sich, noch dazu mit seinen falschen Zähnen. Sie hat, wie es heißt, selbst eine tüchtige Menge Geld und verleiht es auf Zinsen, ein netter Erwerbszweig! Dir, Praskowja, mache ich keine Vorwürfe; du hast keine Telegramme abgeschickt, und an alte Geschichten will ich auch nicht weiter denken. Ich weiß, daß du einen garstigen Charakter hast; du bist die reine Wespe! Wo du hinstichst, da gibt es eine Geschwulst. Aber du tust mir leid; denn ich habe deine Mutter, die verstorbene Katerina, sehr gern gehabt. Na, willst du? Laß hier alles stehn und liegen und fahr mit mir mit! Du weißt ja doch eigentlich nicht, wo du bleiben sollst, und hier bei denen zu sein paßt sich gar nicht einmal für dich. Warte« (Polina hatte schon zu einer Antwort angesetzt; aber die Alte ließ sie nicht zu Wort kommen), »ich bin noch nicht fertig. Mein Haus in Moskau ist, wie du weißt, so groß wie ein Schloß. Meinetwegen kannst du darin eine ganze Etage bewohnen und brauchst wochenlang nicht zu mir zu kommen, wenn mein Wesen dir nicht zusagt. Nun, willst du oder willst du nicht?«

»Gestatten Sie mir zunächst die Frage: wollen Sie wirklich jetzt gleich fahren?«

»Du denkst wohl, ich mache nur Scherz, mein Kind? Ich habe gesagt, daß ich fahre, und werde es auch tun. Ich habe heute fünfzehntausend Rubel bei eurem dreimal verfluchten Roulett verloren. Auf meinem Gut bei Moskau habe ich vor fünf Jahren gelobt, eine hölzerne Kirche zu einer steinernen umzubauen, und statt dessen habe ich nun hier mein Geld vergeudet. Jetzt fahre ich hin, mein Kind, um die Kirche zu bauen.«

»Aber die Brunnenkur, Großmütterchen? Sie sind doch hergekommen, um Brunnen zu trinken?«

»Ach, geh mir mit deinem Brunnen! Mach mich nicht ärgerlich, Praskowja; oder war das gerade deine Absicht? Sag, fährst du mit oder nicht?«

»Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar, Großmütterchen«, erwiderte Polina mit warmer Empfindung, »für das Asyl, das Sie mit anbieten. Zum Teil haben Sie meine Lage richtig erraten. Ich erkenne Ihr Güte aus vollem Herzen an und werde (seien Sie dessen versichert!) zu Ihnen kommen, vielleicht sogar schon sehr bald; aber jetzt habe ich Gründe … wichtige Gründe … und ich kann mich so plötzlich, in diesem Augenblick, nicht dazu entschließen. Wenn Sie wenigstens noch ein paar Wochen hierblieben …«

»Also du willst nicht?«

»Ich kann es nicht. Außerdem kann ich jedenfalls meinen Bruder und meine Schwester nicht verlassen; denn … denn … denn es könnte sonst wirklich so kommen, daß sie niemand auf der Welt haben, der sich ihrer annimmt. Wenn Sie also mich mitsamt den Kleinen aufnehmen wollen, Großmütterchen, dann werde ich bestimmt zu Ihnen ziehen, und glauben Sie mir: ich werde Ihnen Ihre Güte lohnen!« fügte sie warm und herzlich hinzu. »Aber ohne die Kinder kann ich es nicht, Großmütterchen.«

»Na, heule nur nicht!« (Polina war vom Heulen weit entfernt, wie sie denn überhaupt niemals weinte.) »Es wird sich auch für deine Küchlein schon noch ein Plätzchen finden; mein Hühnerstall ist ja geräumig. Überdies ist’s für sie bald Zeit, daß sie in die Schule kommen. Na, also du fährst jetzt nicht mit! Nun, Praskowja, sei auf deiner Hut! Ich meine es gut mit dir; aber ich weiß ja, warum du nicht mitfährst. Ich weiß alles. Praskowja. Dieser Franzose wird dir keinen Segen bringen.«

Polina wurde dunkelrot. Ich fuhr ordentlich zusammen. (Alle wissen Bescheid! Nur ich weiß von nichts!)

»Nun, nun, du brauchst kein finsteres Gesicht zu machen. Ich will nicht weiter darüber reden. Sei nur auf deiner Hut, daß nichts Schlimmes passiert, verstehst du? Du bist ein verständiges Mädchen; es würde mir um dich leid tun. Na, nun genug! Hätte ich euch alle nur gar nicht wiedergesehen! Geh! Lebewohl!«

»Ich begleite Sie noch auf den Bahnhof, Großmütterchen«, sagte Polina.

»Nicht nötig; sei mir nicht im Wege: ich habe euch sowieso schon alle satt.«

Polina wollte der Alten die Hand küssen; aber diese zog die Hand weg und küßte selbst Polina auf die Wange.

Als Polina an mir vorbeiging, sah sie mich mit einem schnellen Blick an und wendete sogleich die Augen wieder weg.

»Na, dann leb auch du wohl, Alexej Iwanowitsch; es ist nur noch eine Stunde bis zur Abfahrt des Zuges. Und du wirst auch von dem Zusammensein mit mir müde geworden sein, denke ich mir. Da, nimm für dich diese fünfzig Goldstücke!«

»Ich danken Ihnen herzlich, Großmütterchen; aber es ist mir peinlich …«

»Ach was!« schrie die Tante in so energischem, grimmigem Ton, daß ich mich nicht zu weigern wagte und das Geld annahm.

»Wenn du in Moskau bist und da ohne Stellung herumläufst, dann komm zu mir; ich werde dich irgendwohin empfehlen. Na, nun mach, daß du wegkommst!«

Ich ging auf mein Zimmer und legte mich auf das Bett. Ich glaube, etwa eine halbe Stunde lang lag ich da, auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf. Die Katastrophe brach bereits herein; da gab es vieles, worüber ich nachdenken mußte. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag mit Polina ein ernstes Wort zu reden. Ah, dieser kleine Franzose! Also war es wirklich wahr! Aber dennoch: von welcher Art konnte denn dieses Verhältnis sein? Polina und de Grieux! O Gott, was für eine Zusammenstellung!

Das alles war doch geradezu unglaublich. Ich sprang plötzlich, ganz außer mir, vom Bett auf, um sofort wegzugehen und Mister Astley aufzusuchen und ihn um jeden Preis zum Reden zu bringen. Er wußte sicherlich auch hiervon mehr als ich. Mister Astley? Der war mir auch für seine eigene Person noch ein Rätsel!

Da hörte ich jemand an meine Tür köpfen. Ich sah nach – es war Potapytsch.

»Alexej Iwanowitsch, die gnädige Frau lassen Sie zu sich bitten!«

»Was gibt es denn? Sie will wohl abfahren, nicht wahr? Es sind noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt des Zuges.« »Die gnädige Frau sind so unruhig und können kaum stillsitzen. ›Schnell, schnell!‹ sagen die gnädige Frau, nämlich, daß ich Sie schnell holen soll. Um Christi willen, kommen Sie schnell!«

Ich lief sogleich hinunter. Die Tante hatte sich schon auf den Korridor hinaustragen lassen. In der Hand hielt sie ihre Brieftasche.

»Alexej Iwanowitsch, geh voran; wir wollen hin!«

»Wohin, Großmütterchcn?«

»Ich will nicht am Leben bleiben, wenn ich es nicht wiedergewinne! Na, marsch, ohne weiter zu fragen! Das Spiel dauert dort ja wohl bis Mitternacht?«

Ich war starr, überlegte einen Augenblick, hatte dann aber sofort meinen Entschluß gefaßt.

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Antonida Wassiljewna, ich komme nicht mit.«

»Warum nicht? Was soll das wieder heißen? Ihr seid hier wohl alle nicht recht bei Trost?«

»Nehmen Sie es mir nicht übel; aber ich würde mir nachher selbst Vorwürfe deswegen machen; ich will nicht. Ich will weder Zeuge noch Teilnehmer sein; dispensieren Sie mich davon, Antonida Wassiljewna! Da haben Sie ihre fünfzig Friedrichsdor zurück; leben Sie wohl!« Ich legte die Rolle mit den Friedrichsdor dort auf ein Tischchen, neben dem der Stuhl der Tante gerade vorbeikam, verbeugte mich und ging weg.

»So ein Unsinn!« rief sie mir nach. »Dann laß es bleiben, meinetwegen; ich werde den Weg auch allein finden! Potapytsch, komm du mit! Na, hebt mich auf und tragt mich!« Mister Astley fand ich nicht und kehrte nach Hause zurück. Erst spät, nach Mitternacht, erfuhr ich von Potapytsch, wie dieser Tag für die Alte geendet hatte. Sie hatte alles verspielt, was ich ihr kurz vorher eingewechselt hatte, das heißt nach unserem Geld nochmal zehntausend Rubel. Jener selbe Pole, dem sie unlängst zwei Friedrichsdor geschenkt hatte, hatte sich an sie herangemacht und während der ganzen Zeit ihr Spiel dirigiert. Zuerst, ehe sich der Pole einfand, hatte sie den Versuch gemacht, ihre Einsätze durch Potapytsch bewerkstelligen zu lassen; aber den hatte sie bald weggejagt, und dann war der Pole eingetreten. Das Unglück wollte, daß er Russisch verstand und sogar einigermaßen sprach, in einem Gemisch von drei Sprachen, so daß sie sich leidlich untereinander verständlich machen konnten. Die Tante hatte ihm die ganze Zeit über die derbsten Schimpfworte an den Kopf geworfen, und »obgleich er«, erzählte Potapytsch, »sich fortwährend ›der gnädigen Frau zu Füßen legte‹, wurde er von ihr doch ganz anders behandelt wie Sie, Alexej Iwanowitsch; gar kein Vergleich. Mit Ihnen verkehrte sie wie mit einem wirklichen Herrn; aber der … das war der Richtige! Ich habe es selbst mit meinen eigenen Augen gesehen (ich will auf der Stelle des Todes sein!), einfach vom Tisch weg hat er ihr das Geld gestohlen. Sie hat ihn selbst ein paarmal auf dem Tisch dabei ertappt und ihn ausgescholten, mit allerlei bösen Worten hat sie ihn ausgescholten; sogar an den Haaren hat sie ihn einmal gezogen, wahrhaftig, ich lüge nicht, so daß die Leute, die drum herumstanden, anfingen zu lachen. Alles hat sie verspielt, aber auch geradezu alles, alles, was Sie ihr eingewechselt hatten. Wir haben sie dann wieder hierher gebracht; nur ein bißchen Wasser ließ sie sich zum Trinken geben; dann bekreuzigte sie sich, und zu Bett! Ganz erschöpft war sie, und sie ist sofort eingeschlafen. Gott möge ihr freundliche Träume senden! Nein, ich sage nur: dieses Ausland!« schloß Potapytsch. »Ich habe es gleich gesagt, daß dabei nichts Gutes herauskommt. Wir sollten so schnell wie möglich nach unserem lieben Moskau zurückfahren! Was haben wir nicht für schöne Dinge bei uns zu Hause, in Moskau! Der Garten, und Blumen, wie sie hier gar nicht wachsen, und der Duft, und die Äpfel werden reif, und was haben wir da für Raum! Aber nein, wir mußten ins Ausland! O weh, o weh! …«

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