Kapitel 7

 

7

 

Daß Mr. Maber grausam und hinterlistig ermordet worden war, stand bei beiden zweifellos fest. Die blutigen Kleidungsstücke waren der untrüglichste Beweis dafür. Selbst Mr. Atterman schauderte, als er die verdächtigen Flecken wieder betrachtete.

 

»Ich weiß nicht, das sieht aber doch eigentlich mehr wie ein Weinfleck aus«, meinte Julius und zeigte auf den Einsatz des Oberhemdes.

 

Atterman nickte traurig.

 

»Wahrscheinlich hat sie ihn betrunken gemacht und dann in einen Hinterhalt gelockt. Und das alles nur um des schnöden Mammons willen! So jung, und schon so entsetzlich verdorben! Oh, das Geld ist doch ein furchtbarer Fluch für die Menschheit!«

 

Julius pflichtete ihm bei.

 

»Und ich hatte ihn doch so gern«, fuhr Atterman salbungsvoll fort. »Er mußte einem ja auch sympathisch sein bei seinem freundlichen Wesen. Er war wirklich ein charmanter Mensch.«

 

»Ja, das dachte ich auch immer.«

 

»Ein vornehmer Charakter.« Atterman seufzte.

 

»Wahrscheinlich hat ihn der Tod ereilt, bevor er ein Testament machen konnte«, meinte Julius. »Diese sorglosen älteren Herren kümmern sich leider meist wenig um die Zukunft. Aber er hatte wirklich viele angenehme Seiten, vor allem zeigte er sich immer sehr dankbar. Ich weiß noch, wie es eines Tages regnete, und ich ihm mein Taxi überließ –«

 

»Schrecklich, daß die Öffentlichkeit davon erfahren muß«, unterbrach ihn Mr. Atterman. »Auf der anderen Seite hebt es natürlich das Geschäft, wenn die Öffentlichkeit interessiert ist. Diese Miß Storr –« Er zuckte die Schultern.

 

»Es ist eigentlich schade um sie«, erwiderte Julius, »aber Gesetz bleibt Gesetz.«

 

So saßen sie in düsterer Stimmung zusammen und sprachen nur Gutes von dem allzu früh Verschiedenen. Unter welch seltsamen Umständen mochte er wohl den Tod gefunden haben? Sie stellten allerhand Theorien auf, bis sie durch Mr. Peekers Erscheinen in dieser Beschäftigung gestört wurden.

 

»Soviel ich verstanden habe, handelt es sich um einen Mord?« begann der Detektiv ruhig und geschäftsmäßig.

 

Mr. Atterman erzählte ihm umständlich die ganze Geschichte.

 

Peeker hörte schweigend zu und betrachtete dann das Oberhemd und die anderen Kleidungsstücke.

 

»Zweifellos Blut. Und das hier ist Straßenschmutz«, erklärte er und nahm geistesabwesend eine der kostbaren Zigarren vom Schreibtisch. Julius reichte ihm fast ehrfurchtsvoll sein Taschenfeuerzeug.

 

»Der Rock ist im Streit zerrissen worden«, fuhr Mr. Peeker fort. »Wenn man das Verbrechen rekonstruiert, ergibt sich, daß der Mörder sein Opfer am Kragen packte. Sehen Sie, so.« Er würgte den armen Julius an der Kehle, so daß dessen Gesicht dunkelrot wurde. Dann schlug er ihm auf den Kopf. »Nein, so ist es unmöglich. Ich will es einmal mit der rechten Hand versuchen.«

 

»Es genügt, wenn Sie uns erzählen, was geschehen ist«, sagte Julius ängstlich. »Es ist wirklich nicht nötig, daß Sie es uns obendrein noch praktisch vorführen.«

 

»Also, hören Sie zu. Der Verbrecher packte ihn mit der Rechten und schlug mit der Linken zu. Deshalb sehen Sie auch die rostroten Blutflecken auf der rechten Seite des Hemdes. Mit einer schweren Champagnerflasche zertrümmerte er ihm den Schädel. Diese Weinflecken beweisen das!«

 

»Aber Champagner ist doch gelb und nicht rot«, wandte Mr. Atterman ein.

 

»Manche Champagnersorten werden rot, wenn man sie der Luft aussetzt«, entgegnete Mr. Peeker unbeirrt. »Man darf wohl annehmen, daß er auf die Straße geschleppt wurde — die Frau hatte einen Komplicen — einen großen, dunklen Mann.«

 

»Woher wissen Sie denn das?« fragte sein Chef verblüfft.

 

Peeker gab darüber aber keine weitere Auskunft. Der Mörder mußte eben ein großer, dunkler Mann sein. Ein kleiner Mensch mit blonden Haaren war doch als Täter undenkbar!

 

»Die Leiche wurde eine ganze Strecke über den Boden geschleift — wahrscheinlich in ein leeres Haus!«

 

Mr. Peeker nahm die schwarzen Lackschuhe aus dem Koffer, die die anderen übersehen hatten.

 

»Betrachten Sie einmal die Risse hier«, sagte er und zeigte die Stelle. »Jemand muß ihm mit aller Gewalt auf den Fuß getreten haben, das können Sie deutlich an der Oberfläche des Leders bemerken.«

 

Dann untersuchte der Detektiv den Inhalt der inneren Brusttasche des Rocks und brachte zwei grüne Theaterkarten zum Vorschein.

 

»Er ist mit ihr zuerst im Empire-Theater gewesen«, stellte er lakonisch fest.

 

Bei der Prüfung der zweiten Tasche machte er eine sehr wichtige Entdeckung. Er fand ein Stück zusammengeknittertes, dickes Papier, das offensichtlich von einer Weinliste abgerissen war. Auf der Rückseite standen einige Worte, die mit Bleistift hingekritzelt waren:

 

»Liebe Barbara — um Himmels willen, sage keiner Menschenseele …«

 

»Allem Anschein nach wußte sie etwas von ihm«, meinte Peeker, der die einzelnen Tatsachen jetzt aneinanderreihte. »Sie drohte, diese Dinge bekanntzumachen und ihn in der Öffentlichkeit bloßzustellen, verlangte eine hohe Summe, und als er sich weigerte …«

 

Er zuckte vielsagend die Schultern.

 

»Das ist eine Sache für die Polizei«, begann Atterman.

 

Peeker hob warnend die Hand.

 

»Lassen Sie bloß diese unfähigen Leute aus dem Spiel. Es ist doch möglich, daß Mr. Maber noch lebt!«

 

Atterman atmete schwer. »Sie meinen –?«

 

»Es gibt eine Menge Spelunken und Schlupfwinkel, von denen Sie sich keine Vorstellung machen. Dort können sie ihn versteckt haben. Ich sage Ihnen, ich kenne Plätze, die der wildesten Phantasie spotten. Wenn wir diesen Fall Scotland Yard melden, führen die Beamten durch ihre Ungeschicklichkeit eine Katastrophe herbei, die womöglich Mr. Mabers Tod zur Folge hat! Und Tote können nicht mehr sprechen«, fügte er mit hohler Stimme hinzu.

 

»Ja, was wollen wir denn dann unternehmen?« fragte Julius, aufgelöst vor Schrecken.

 

»Überlassen Sie alles nur mir«, erwiderte der Detektiv und zog ein Notizbuch heraus. »Geben Sie mir bitte die Privatadresse von Miß Storr. Wo kann ich sie finden? Und wie ist Mr. Mabers Privatadresse?«

 

Als er alles notiert hatte, klappte er das Buch energisch zu.

 

»Die Sache ist ganz klar«, faßte er dann sein Urteil noch einmal zusammen. »Das Mädchen ist in Schwierigkeiten — wahrscheinlich in den Händen von Wucherern. In ihrer Verzweiflung überredet sie den alten Maber, mit ihr zu Abend zu speisen. Später gehen sie zum Empire-Theater, wo sie ihren Komplicen trifft. Unter irgendeinem Vorwand — zum Beispiel, um den Dritten nach Hause zu bringen — fährt sie Maber in eine einsame Gegend. Er steigt aus, wird nach einem kurzen, verzweifelten Kampf niedergeschlagen und in einen Keller geschleppt. Das Mädchen möchte ihn aufs Land schaffen, wo er nicht so leicht gefunden werden kann. Sie besorgt sich deshalb einen gewöhnlichen Anzug von Mr. Maber. Ein Mann im Frack würde ja sofort auffallen und Verdacht erregen. Sie betäubt ihn — und was dann noch geschehen ist, können Sie sich ja selbst denken.«

 

»Was ist denn geschehen?« erkundigte sich Julius, der sich das durchaus nicht selbst denken konnte.

 

»Überlassen Sie es nur mir, den Fall aufzuklären«, wiederholte Mr. Peeker, ohne auf diese Frage einzugehen. »In vierundzwanzig Stunden mögen Sie die Polizei benachrichtigen. In achtundvierzig Stunden werden die beiden Verbrecher, die den Mord auf dem Gewissen haben, hinter Schloß und Riegel sitzen. Sonst noch etwas, Mr. Atterman?«

 

Er benahm sich, als ob es kaum der Mühe wert gewesen wäre, ihn wegen eines so einfachen Mordfalles nach dem Regent’s Park zu rufen.

 

Kapitel 8

 

8

 

Noch zwei andere Leute waren sehr wenig mit Barbara Storrs Verhalten einverstanden. Mr. Hammett und seine Frau gingen weder nach Kanada, noch fuhren sie nach dem Kontinent. Sie befriedigten nur ihre dringendsten Gläubiger und ließen alles andere vorläufig auf sich beruhen. Aus einem bestimmten Grund hatten sie ihre Pläne geändert.

 

Mr. Hammett hatte einen Eilbrief von Captain Griffin erhalten, der ein alter Klient von ihm war und den Dampfer »Silina« führte. Mr. Hammett hatte diesem Mann schon bei mehreren Gelegenheiten geholfen. Einmal hatte sich Griffin wegen Schmuggels vor Gericht zu verantworten, ein andermal wegen versuchten Mordes, und in beiden Fällen war es Mr. Hammett gelungen, ihn freizubekommen.

 

Die »Silina« war ein Küstendampfer, der zwischen Leith und Newcastle verkehrte, und Captain Griffin kam gewöhnlich zu dem Rechtsanwalt, wenn er London besuchte, um in irgendeiner schwierigen Sache seinen Rat zu hören. Er bezahlte manchmal in bar, manchmal in Naturalien. Auf diese Weise hatte Mr. Hammett manche Kiste Whisky erhalten.

 

Und gerade jetzt hätte er gerne selbst einmal seinen Klienten ausgeforscht, um sich über das Klima und die Lebensbedingungen in fernen Ländern zu orientieren. Er wußte nicht, ob er in Kanada alle die Bequemlichkeiten finden würde, die er erwartete und brauchte.

 

Außerdem eilte es im Augenblick gar nicht mit der Abreise. An diesem Nachmittag hatte das Schifffahrtsbüro die Summe zurückerstattet, die er als Anzahlung für die Schiffskarten geleistet hatte, und er war in guter Stimmung.

 

»Es wird noch etwa drei Wochen dauern, bis Maber aus dem Gefängnis kommt«, erklärte er seiner Frau und machte ein pfiffiges Gesicht. »Diese günstige Gelegenheit darf nicht ungenützt vorübergehen. Wir müssen es fertigbringen, noch eine weitere Zahlung von tausend Pfund aus Mabers Geschäft zu ziehen. Dann ist es immer noch Zeit genug, zu verschwinden.«

 

»Aber wie willst du denn das anfangen?« fragte Mrs. Hammett erstaunt.

 

»Es gibt verschiedene Wege«, sagte er und streifte nachlässig die Asche seiner Zigarre ab.

 

»Du weißt ja in solchen Dingen gut genug Bescheid«, erwiderte sie befriedigt. Sie gehörte zu den wenigen Leuten auf der Welt, die ihn bewunderten.

 

Mr. Hammett wußte allerdings gut genug Bescheid. Seine lange Praxis hatte ihn mit den gemeinsten Verbrechern in Berührung gebracht, und er kannte viele Methoden, sich auf unrechtmäßige Weise Geld zu verschaffen. Sie führten alle zum Ziel und waren alle mehr oder weniger einfach, aber sehr gefährlich.

 

Auf seinem Schreibtisch lag der Brief des Ehrengerichts der Rechtsanwaltskammer, in dem er aufgefordert wurde, eine Reihe von Handlungen zu erklären, für die es keine Rechtfertigung gab, und die deshalb eben unerklärlich waren. Man würde ihn also von der Liste der Anwälte streichen. Schon mehr als einmal hatte er diese Katastrophe mit knapper Not verhindert, aber diesmal gab es keinen Ausweg mehr.

 

Mr. Hammett tat das nicht einmal mehr leid. Er machte sich jetzt nur noch darüber Gedanken, ob er genügend Mittel besäße, um England zu verlassen und sich in irgendeiner Kolonie eine neue Existenz zu gründen.

 

Er überlegte mit seiner Frau, auf welche Weise sie am besten fortkommen könnten.

 

»Wie steht es denn mit Griffin? Könnte uns der nicht helfen?«

 

Hammett sah sie verächtlich an.

 

»Sei doch nicht albern. Er könnte mich wohl von London und von Leith wegbringen, aber was hätte das denn für einen Zweck?«

 

»Da kommt er gerade«, entgegnete sie und eilte hinaus, um den Besucher einzulassen.

 

Captain Griffin war ein kleiner, unansehnlicher Mann mit abstoßenden Zügen. Außerdem schielte er auf einem Auge.

 

»Wie geht es Ihnen, Mr. Hammett?« begrüßte er seinen Freund herzlich. »Wir müssen wieder einmal eine juristische Sache miteinander besprechen, wenn Sie nichts dagegen haben«, wandte er sich an die Frau.

 

Mrs. Hammett wollte das Zimmer verlassen, aber Griffin duldete es nicht.

 

»Wir kennen uns doch, und ich weiß genau, daß Sie für sich behalten, was ich Ihrem Mann sage.«

 

Er zog den Stuhl näher an den Tisch. Mrs. Hammett holte die Whiskyflasche und Sodawasser, erlaubte dem Kapitän zu rauchen und ließ sich dann auch nieder.

 

»Also, ich möchte gern wissen, wie ich daran bin«, begann Griffin. »Ich werde allerdings nicht schlecht bezahlt. Dreißig Pfund monatlich und ein Prozent Tantiemen. Morgen will ich in See gehen. Muß nur noch auf einen jungen Herrn warten, der mit mir ausfährt. Nun ist die Frage: Was riskiere ich bei der Geschichte? Sie kennen doch die Gesetze in Amerika? Wieviel bekomme ich dafür?«

 

»Wofür?« fragte Hammett interessiert.

 

»Für Alkoholschmuggel. Welche Strafe steht darauf? Manche sagen zehn Jahre, manche sagen, es gibt nur eine Geldstrafe.«

 

Der Rechtsanwalt antwortete nicht gleich. Er überlegte, und seine Gedanken arbeiteten blitzschnell.

 

»Wann fahren Sie ab?« fragte er dann.

 

»Morgen abend um elf. Mein Schiff liegt in der unteren Themse. Bei Flutzeit wollen wir ausfahren.«

 

Mr. Hammetts Gesicht zeigte eine leichte Röte. Jetzt sah er deutlich einen Ausweg vor sich.

 

»Sie brauchen sich wegen der Bestrafung keine Sorgen zu machen«, sagte er schnell. »Es besteht wenig Gefahr, daß Sie abgefaßt werden. Griffin, wäre es Ihnen recht, mich als Passagier mitzunehmen?«

 

Der Kapitän starrte ihn an.

 

»Wollen Sie denn eine Reise machen?«

 

Hammett nickte.

 

»Selbstverständlich — mit Vergnügen nehme ich Sie mit. Ich würde sogar noch Geld zulegen, um einen Rechtsanwalt bei mir zu haben. Da können Sie sich mal nette Ferien machen. Ich denke, wir sind im November wieder zurück.«

 

»Ferien brauche ich nicht«, erklärte der Rechtsanwalt mit Nachdruck. »Ich möchte nur in Amerika unbemerkt an Land gehen.«

 

Griffin schaute ihn argwöhnisch an.

 

Hammett bemerkte es und lehnte sich vertraulich über den Tisch.

 

»Es ist eine geheime Mission — im Auftrag der Regierung«, sagte er leise.

 

Der Kapitän runzelte die Stirne.

 

»Hat es etwas mit Alkoholschmuggel zu tun?« fragte er plötzlich ängstlich.

 

»Nein, aber mit Gold und gewissen anderen Dingen, über die ich nicht sprechen darf.«

 

Griffin rieb sein Kinn.

 

»Und was macht Ihre Frau?«

 

»Sie benutzt den Postdampfer, wenn ich sie überhaupt nachkommen lasse«, erwiderte Hammett gelassen und warf einen verächtlichen Blick auf sie.

 

»Na, dann ist es gut. Wir haben nämlich keine Annehmlichkeiten für Damen an Bord des alten Kastens. Aber Sie sollen mir herzlich willkommen sein, Mr. Hammett. Wir fahren also um elf. Gehen Sie erst um zehn Uhr dreißig an Bord, sonst erregen Sie zuviel Aufmerksamkeit. Ich lasse ein Ruderboot am Landungssteg von China Stairs auf Sie warten. Das ist in der Nähe von Wapping. Niemand braucht zu sehen, daß Sie an Bord kommen, und ebenso leicht kann ich Sie dann in Amerika absetzen. Ich schicke Sie mit einem der Motorboote an Land, die außerhalb der Fünfmeilengrenze zu mir hinausfahren.«

 

Sie schüttelten sich die Hände.

 

Eine halbe Stunde später ging der Kapitän, und Mr. Hammett überlegte sich einen neuen Plan, der unter keinen Umständen fehlschlagen sollte.

 

*

 

Der dritte Tag des großen Verkaufs begann hoffnungsvoll, nachdem der Erfolg der beiden ersten über Erwarten groß gewesen war. Und dennoch fühlte sich Barbara nicht mehr so siegesgewiß, denn nach den aufregenden und spannenden Tagen war die unausbleibliche Reaktion gekommen. Sie hatte etwas von ihrer Unabhängigkeit und Selbstsicherheit verloren und sehnte sich nach einem Menschen, auf den sie sich stützen konnte. Heute war sie sogar dankbar dafür, daß Alan Stewart wie sonst geduldig an der Straßenecke auf sie wartete.

 

»Ich habe eine gute Nachricht für Sie«, erklärte er ihr, als er neben ihr herging. »Sie haben das Geschäft wirklich fabelhaft in die Höhe gebracht, Miß Storr. Was hat denn Atterman eigentlich für die Firma geboten?«

 

Sie nannte ihm die Summe, und er lächelte.

 

»Der alte Geizkragen! Sehen Sie, Tennyson & Burns haben sich gestern abend mit mir in Verbindung gesetzt, und zwar hat mich der alte Tennyson persönlich angerufen. Er wußte, daß ich Sie kenne, und fragte mich, ob Maber die Firma wohl für dreihunderttausend Pfund verkaufen wollte. Die Hälfte in bar, die Hälfte in Anteilscheinen.«

 

»Das Angebot lehne ich ab«, erwiderte sie prompt.

 

»An Ihrer Stelle würde ich mir das aber doch noch überlegen. Sie sagten mir, daß Maber Sie bevollmächtigt hat, den Verkauf abzuschließen, und wenn er bereit war, das Geschäft für hundertzwanzigtausend abzugeben –«

 

»Er hätte es sogar für hunderttausend verschenkt!«

 

»Nun gut, das wären also zweihunderttausend Pfund mehr, und Mr. Maber würde sich sicher freuen, eine so große Summe für die Firma zu bekommen. Ich hatte sogar selbst schon die kühne Idee, das Geld aufzubringen und Sie mit großem Gehalt als selbständige Leiterin der Firma anzustellen, natürlich mit namhafter Beteiligung. Und wenn wir dann heiraten würden –«

 

»Das könnte Ihnen so passen, daß ich noch Geld dazu verdiente! Nein, danke schön!« Sie warf den Kopf zurück. »Diese Art Partnerschaft hat nicht soviel Anziehungskraft für mich, wie Sie denken. Warum machen Sie denn nicht Maudie einen Antrag, wenn Sie absolut heiraten müssen?«

 

»Maudie?« Er runzelte die Stirne. »Ach, Sie meinen Ihre Solotrompeterin?«

 

»Sie ist nicht mehr bei mir«, entgegnete Barbara grimmig. »Man soll einer Frau in geschäftlichen Dingen niemals trauen, Alan — Mr. Stewart.«

 

»Nennen Sie mich doch lieber Alan. Das klingt so schön«, bat er. »Aber was ist denn mit Maudie passiert?«

 

»Sie hat mich verlassen und ist zum Feinde übergegangen. Mr. Lark sah sie, wie sie gestern kurz vor Ladenschluß durch die Seitentür zu Attermans ging. Und als ich nach Hause kam, fand ich diese merkwürdige Nachricht von ihr.«

 

Barbara öffnete ihre Tasche, nahm den Brief heraus und gab ihn Alan.

 

»Lesen Sie.«

 

»Meine liebe Miß Storr, ich muß in gewisser Beziehung sehr vorsichtig sein, da ich dem Verband angehöre. Außerdem habe ich auf meinen Vater Rücksicht zu nehmen, der in nächster Zeit pensioniert wird. Man soll ihm nichts vorwerfen können. Da Sie so liebenswürdig zu mir waren und um der alten Zeiten willen werde ich natürlich nichts ausplaudern.

 

Mit bestem Gruß Ihre Maud Alice Deane.«

 

»Was soll denn dieses Schreiben bedeuten?« fragte er erstaunt.

 

»Möchte ich auch gern wissen«, erwiderte sie und steckte den Brief wieder in die Handtasche. »Auf jeden Fall ist sie in ihre alte Stellung zurückgekehrt. Atterman scheint sie noch ebenso zu verehren wie früher. Ich hätte allerdings nie geglaubt, daß er so sentimental sein könnte. Und der Himmel mag wissen, was mit ihrem Vater los ist.«

 

Während sie zusammen weitergingen, sah sich Alan mehrmals um.

 

»Ich möchte nur wissen, wer dieser Kerl ist«, sagte er dann plötzlich.

 

Ein korpulenter Herr ging hinter ihnen her und schwang vergnügt seinen Schirm beim Gehen. Den Hut hatte er ein wenig in den Nacken geschoben, und seinem wohlgenährten Gesicht war anzusehen, daß er mit sich und der Welt zufrieden war.

 

Barbara wandte sich nun auch um und betrachtete ihn.

 

»Kennen Sie den Mann?« fragte Alan.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich sah ihn schon in der Nähe des Hauses. Er machte mir gleich den Eindruck, als ob er auf jemand wartete. Ob er uns wohl beobachtet?«

 

»Leicht möglich«, meinte Barbara. »Vielleicht hat Ihre Frau ihn engagiert, um Ihnen nachzuspüren.«

 

»Sie wissen doch sehr gut, daß ich nicht verheiratet bin«, entgegnete er etwas hitzig. »Ich gehe vollständig in meinem Beruf auf.«

 

*

 

Barbara hatte eigentlich gedacht, daß das Interesse des Publikums nachlassen würde. Ein großer Teil der Bestände war nach dem zweiten Tag ausverkauft; von den Pariser Modellen war kein Stück mehr vorhanden. Aber Mr. Lark, der plötzlich unerwartete organisatorische Fähigkeiten entwickelte, hatte sofort telegrafisch in Paris neue Bestände eingekauft, die am vergangenen Abend bereits in London eingetroffen waren. Unter seiner persönlichen Leitung wurden sie über Nacht ausgepackt und ausgezeichnet. Barbara hatte nur ungern diese neuen Attraktionen annonciert, denn als sie die Druckfahnen las, befand sich die Ware noch in Paris. Aber es hatte alles tadellos geklappt. Das Schaufenster mit dem Wilden Mann war ausgeräumt worden, und dort hatte man die neuen Wunder an Seidenstoffen und Modellen ausgestellt.

 

Barbara beunruhigte sich nicht mehr über den verschwundenen Koffer. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß er im Besitz von Julius Colesberg und seinem Verbündeten war. Welche Folgerung würden die beiden wohl aus ihrer Entdeckung ziehen? Aber mochten sie denken, was sie wollten, wenn nur der wahre Grund von Mr. Mabers Verschwinden unbekannt blieb. Vielleicht waren doch noch andere Leute im Polizeigericht gewesen, als gegen ihn verhandelt und er verurteilt wurde? Es war immerhin möglich, daß ihn einer von diesen erkannt und die Geschichte weitererzählt hatte. Bis jetzt war allerdings alles ruhig geblieben, und Hammett, der tatsächlich eine ernste Gefahr bedeutete, war ja aus dem Lande geflohen. Die zweihundert Pfund Schweigegeld reuten sie nicht. Die waren sicher gut angelegt. Und bevor der Monat zu Ende ging, konnte sich viel geändert haben. Sie war nicht abgeneigt, dem neuen Angebot von Tennyson näherzutreten, da sie wußte, wie wenig Mr. Maber seinen Beruf als Kaufmann schätzte. Aber auf der anderen Seite hätte sie ihm zu gern bei seiner Rückkehr eine vollständig reorganisierte Firma Maber & Maber übergeben. Er konnte dann ja noch nach Belieben über sein neues Eigentum verfügen.

 

Sie wußte sehr wohl, daß sie eigentlich weniger den Wert der Firma gehoben als vielmehr den Leuten die Augen geöffnet hatte, die das Geschäft für altmodisch und erledigt hielten. Es war stets die Summe wert gewesen, die Tennyson jetzt dafür bot, vielleicht sogar noch etwas mehr.

 

Barbara war eifrig mit der Kontrolle verschiedener Listen beschäftigt, als Albuera den Kopf zur Tür hereinsteckte.

 

»Mr. Hammett wünscht Sie zu sprechen, Miß«, sagte er leise.

 

Sie schaute ihn an, als ob er einen albernen Scherz machte.

 

»Mr. Hammett — meinen Sie etwa den Rechtsanwalt?«

 

»Ja, den Linksanwalt«, verbesserte er sie. Sie hatte geglaubt, daß dieser Mann längst nach Amerika unterwegs wäre.

 

»Lassen Sie ihn hereinkommen.«

 

Sie staunte, als sie ihn sah. Das war nicht mehr der kleine, schlechtgekleidete Winkeladvokat. Er trat jetzt in einem tadellosen Cut auf und trug einen vollkommen neuen Zylinder. Auch das Monokel fehlte nicht, obwohl er noch nicht gewandt damit umgehen konnte.

 

»Guten Morgen, Miß Storr«, sagte er leichthin, legte eine große Mappe auf den Tisch und zog einen Stuhl näher. Als er Platz genommen hatte, öffnete er die Aktentasche.

 

Sie sah ihn scharf an.

 

»Ich bin sehr erstaunt, Sie hier in meinem Büro zu sehen, Mr. Hammett!«

 

»Das kann ich mir denken«, erwiderte er mit sonderbarem Lächeln. »Ich hatte ursprünglich die Absicht, Scotland Yard einen Besuch abzustatten, aber dann habe ich mir überlegt, daß es vielleicht besser wäre, erst mit Ihnen zu sprechen. Soviel ich weiß, gehört das Ihnen?«

 

Bei diesen Worten zog er den Scheck aus der Mappe, den sie Mrs. Hammett zuerst gegeben und nachher gesperrt hatte.

 

»Ja«, entgegnete sie verwundert. »Ich gab ihn Ihrer Frau –«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich bin niemals verheiratet gewesen. Es tut mir leid, daß Sie das Opfer einer skrupellosen Abenteurerin geworden sind. Sie können von Glück sagen, daß ich durch meine Verbindungen instand gesetzt war, diesen gemeinen Plan gegen Sie in seinen Anfängen zunichte zu machen.«

 

Barbara schaute ihn betroffen an.

 

»Was, sie ist nicht Ihre Frau?«

 

»Ich bin niemals verheiratet gewesen, wie ich schon sagte«, erklärte er, »obwohl mir die Liebe nicht fremd blieb.« Er seufzte schwer. »Die Frau, die ich eigentlich hätte heiraten sollen –« Er zuckte die Schultern und schüttelte traurig den Kopf, was bedeuten mochte, daß diese Frau entweder gestorben war oder einem anderen angehörte. »Die Person, die zu Ihnen kam, und der Sie den Scheck gaben, war auf dem Polizeigericht, als Mr. Maber verurteilt wurde.« (Barbara dachte an ihre eigenen Befürchtungen.) »Sie ist eine bekannte Erpresserin. Als sie sah, wie ich mit Ihnen sprach, faßte sie ihren Plan.«

 

Barbara nahm den Scheck und betrachtete ihn genau. Ihre Unterschrift war mit roter Tinte durchstrichen.

 

»Das habe ich getan«, erklärte er, »und zwar, als ich der niederträchtigen Frau den Scheck abnahm. Es ist nur eine Vorsichtsmaßregel, damit er unter keinen Umständen kassiert werden kann.«

 

»Und was haben Sie denn mit den zweihundert Pfund gemacht, die ich ihr in bar zahlte?« fragte Barbara ruhig.

 

Mr. Hammett warf ihr einen entsetzten Blick zu.

 

»Was, Sie haben ihr zweihundert Pfund in bar gezahlt?« rief er und preßte die Hand gegen die Stirne. »Aber Miß Storr, wie konnten Sie so unvorsichtig sein! Und ich dachte, ich könnte Sie gerade noch davor bewahren, das Opfer einer Betrügerin zu werden. Jetzt bleibt mir allerdings nichts anderes übrig, als sofort nach Scotland Yard zu gehen.«

 

Er erhob sich halb, als er aber sah, daß sie keine Miene machte, ihn zurückzuhalten, überlegte er es sich wieder anders.

 

»Zum Glück weiß ich, wo ich sie verhaften lassen kann.« Er unterbrach sich einen Augenblick und sah auf die Uhr. »Noch vor zwölf wird sie in sicherem Gewahrsam sein.«

 

Er nahm ein längliches, schmales Heft aus seiner Aktentasche und blätterte darin. Barbara vermutete, daß es sich um ein Quittungsbuch handelte.

 

»Inzwischen habe ich noch eine Bitte an Sie, Miß Storr. Bescheinigen Sie mir bitte, daß ich Ihnen diesen Scheck zurückgebracht habe. Spätestens um zwei heute nachmittag werde ich Ihnen Ihr Geld zurückerstattet haben, soweit es diese unglaubliche Person noch besitzt.«

 

Er legte ihr die Erklärung vor, und Barbara las sie mechanisch.

 

»Ich bestätige hiermit, von Rechtsanwalt Hammett einen Scheck zurückerhalten zu haben, den ich Jane Smith alias Margaret Hammett irrtümlicherweise aushändigte. Der obenerwähnte Scheck trägt die Nummer DH 187475.«

 

»Das will ich gern tun«, erwiderte sie, griff zu ihrem Füllfederhalter und leistete die gewöhnliche Unterschrift für die Firma.

 

Er dankte und legte das Buch in seine Mappe zurück.

 

»Was nun die zweihundert Pfund betrifft, so halte ich es unter den gegebenen Umständen nicht für günstig, die Sache der Staatsanwaltschaft anzuzeigen.«

 

Sie stimmte ihm entschieden zu.

 

»Wir wollen nur das Geld wiederhaben, und das werde ich Ihnen beschaffen. Ich kann natürlich nicht dafür garantieren, daß ich es bis auf den letzten Schilling zurückbringe. Selbstverständlich werde ich Ihnen dafür keine Kosten berechnen.«

 

»Ist es wirklich wahr, daß Sie mit dieser Jane Smith nicht unter einer Decke stecken und nicht an dem Schwindel beteiligt sind?« fragte Barbara mit verblüffender Offenheit.

 

Mr. Hammett sah sie traurig an.

 

»Es tut mir leid, daß Sie auch nur einen Augenblick lang einen derartigen Gedanken fassen konnten«, erwiderte er ernst.

 

Er schien tief gekränkt zu sein, und sie hatte den Eindruck, daß er nur mit Mühe seine Erregung niederkämpfte. Rasch erhob er sich, drückte ihr die Hand und nickte Albuera zu, als er hinausging.

 

Barbara sah den Scheck noch einmal an, riß ihn dann in kleine Stücke und warf sie in den Papierkorb. Das war also das Ende eines unangenehmen Abenteuers. Sie hatte dem armen Mann unrecht getan und war herzlich froh, daß die Sache nicht noch ein gerichtliches Nachspiel haben sollte.

 

Mr. Hammett fuhr währenddessen in einem Taxi zu seinem kleinen Büro zurück, in dem er ganz allein hauste. Schon seit Jahren hatte er keinen Bürovorsteher und keine Stenotypistin mehr. Nachdem er die Tür fest geschlossen hatte, trennte er die Quittung aus dem Heft, feuchtete die eine Seite der Oberfläche an und entfernte die oberste Schicht, die nur ganz dünn, aber undurchsichtig war. Darunter erschien ein besonders präpariertes Kohlepapier, das einen Blankoscheck der Southern Bank in der Marlborough Avenue überdeckte. Die Unterschrift Barbara Storrs war so klar und deutlich, daß man diese Kopie kaum von dem Original unterscheiden konnte. Er nahm ein Vergrößerungsglas und trat ans Licht, um sie noch einmal zu prüfen. Befriedigt ging er an den Schreibtisch zurück, legte ein Löschblatt auf die Unterschrift und trug eine große Summe in den Scheck ein. Dann steckte er ihn in seine Brieftasche und verließ das Haus wieder, um sich mit seiner Frau zu treffen.

 

*

 

Mr. Peeker hatte beobachtet, daß Hammett die Firma Maber betrat. Er kannte ihn als einen Anwalt von recht zweifelhaftem Charakter und war höchst erstaunt, daß ein solcher Mann bei Maber verkehrte.

 

Von seinem Zimmer aus konnte er Barbaras Büro überschauen und hatte sie schon den ganzen Morgen mit einem Feldstecher beobachtet. Er war auch unsichtbarer Zeuge der Szene mit Hammett gewesen, denn Barbara hatte die Gardinen vor den Fenstern halb zurückgezogen. Das Büro war nicht sehr hell, und sie hatte ja auch keine Ahnung, daß sie beobachtet wurde.

 

Als Mr. Hammett wieder auf die Straße trat, heftete sich Mr. Peeker an seine Fersen. Er verfolgte ihn zu seinem Büro und nachher zu dem Restaurant, in dem sich der Rechtsanwalt mit seiner Frau verabredet hatte. Dort setzte er sich an den Nachbartisch, um möglichst viel von ihrer Unterhaltung zu hören.

 

»Alles in bester Ordnung«, sagte Hammett leise zu ihr.

 

»Kann die Sache nicht noch schief gehen?« fragte sie bedrückt.

 

»Ausgeschlossen. Ich habe einmal ernsthaft mit ihr gesprochen und ihr den Standpunkt klargemacht.« Argwöhnisch sah Mr. Hammett zu dem Detektiv hinüber, aber der Mann war so vollkommen in die Lektüre seiner Zeitung vertieft, daß der Kellner, der ihn bedienen wollte, ihn bereits zum zweitenmal laut anrief. »Du glaubst nicht, wie ängstlich sie darauf bedacht ist, daß kein Mensch den Aufenthalt von Maber erfährt. Es würde ja auch den Ruin bedeuten, wenn die Sache herauskäme. Denke doch, ein Mann wie Maber! Dann könnte er sich gleich begraben lassen!«

 

Peeker spitzte die Ohren. Barbara Storr würde ruiniert sein … Maber könnte sich begraben lassen, wenn jemand seinen Aufenthalt erführe! Er empfand Genugtuung und Freude wie alle großen Detektive, die eine schwere Aufgabe durch die Schärfe ihres Verstandes gelöst haben.

 

Später sprach Hammett in leiserem Ton, und Peeker hörte nichts mehr, was ihm weiterhalf, obwohl der Rechtsanwalt seiner Frau Instruktionen gab, die sehr wertvoll für den Detektiv gewesen wären.

 

Zehn Minuten vor Bankschluß sollte sie sich telefonisch mit Barbara in Verbindung setzen und sich als Vertreterin einer großen deutschen Firma für Kunstseidenartikel vorstellen. Hammett hatte sich am Morgen überall erkundigt und sich mit großer Mühe Preise derartiger Artikel verschafft. Er hatte eine Liste von Artikeln zusammengestellt, die um dreißig Prozent billiger waren als in London.

 

»Vor allem mußt du sehen, daß du sie zehn Minuten lang am Apparat festhältst, damit die Bank ihr Büro nicht erreichen kann. Und gib dir Mühe, daß sie deine Stimme nicht wiedererkennt. Die ist gerissener, als du ahnst.«

 

»Du willst ihr doch nicht im Ernst diese Dinge verkaufen?« fragte sie ängstlich.

 

Er holte tief Atem und unterdrückte einen Fluch.

 

»Wir haben jetzt keine Zeit, uns lange darüber zu unterhalten. Ich wiederhole, daß du sie zehn Minuten lang am Telefon beschäftigen sollst, damit die Bank ihr Büro nicht anrufen kann.«

 

Zehn Minuten vor Schalterschluß ging Mr. Hammett zur Bank und überreichte dem Kassierer den Scheck mit gleichgültiger Miene.

 

»Sind Sie selbst Mr. Hammett?«

 

»Ja«, entgegnete der Rechtsanwalt mit einem verbindlichen Lächeln.

 

Obwohl er in größter Erregung war, beherrschte er sich nach außen hin. Es gelang ihm auch, die Ruhe zu bewahren, als der Kassierer den Scheck längere Zeit schweigend prüfte.

 

»Wie soll ich Ihnen die Summe auszahlen?« fragte der Beamte schließlich.

 

Mr. Hammett hätte am liebsten vor Freude laut aufgejubelt.

 

»In Hundertpfundnoten, wenn ich bitten darf«, erklärte er gelassen.

 

Der Kassierer zählte mehrmals hintereinander zwanzig Scheine ab, schrieb dann mit Bleistift eine Bemerkung unter die Unterschrift des Schecks und reichte Hammett das Päckchen.

 

Der Rechtsanwalt verließ den Schalterraum ohne die geringste Hast. Aber draußen wartete noch sein Taxi, und drei Minuten vor Bankschluß betrat er die prachtvolle Halle der Eighth National Bank von New York und wechselte die englischen Banknoten in Dollarscheine um.

 

*

 

In Mr. Attermans Büro schrillte das Telefon, und Mr. Peeker meldete sich.

 

»Ich habe den anderen gefunden«, sagte er aufgeregt.

 

»Den Komplicen?« fragte Mr. Atterman schnell.

 

»Es ist ein gewisser Hammett. Er erpreßt Miß Storr. Maber lebt. Aber sie halten ihn irgendwo gefangen.«

 

»Einen Augenblick!« rief Atterman atemlos und teilte Julius rasch mit, was er gehört hatte.

 

»So, er lebt noch?« fragte Mr. Colesberg nicht gerade sehr begeistert.

 

»Ich wußte ja, daß Peeker ihn finden würde«, erwiderte Mr. Atterman selbstbewußt. »Jetzt haben wir gewonnen, Julius. Wenn wir Mr. Mabers Leben retten, muß er sich dankbar erweisen, und dann wird er auch wegen des Verkaufs keine Schwierigkeiten mehr machen. Auf diese Miß Storr muß er ja geladen sein! ›Atterman‹, wird er zu mir sagen, ›das haben Sie einfach großartig gemacht. Wenn Sie nicht gewesen wären, würde ich längst unter dem Rasen liegen.‹«

 

»Sie meinen, wenn wir beide nicht gewesen wären«, warf Julius ein.

 

»Möglich, daß er Sie auch erwähnt«, gab Mr. Atterman großmütig zu.

 

Inzwischen wurde Peeker am Telefon ungeduldig.

 

»Ich kann nicht länger warten, sonst entwischen mir die beiden noch«, drängte er.

 

»Lassen Sie sich bloß nicht stören, und verfolgen Sie die Halunken. Sparen Sie kein Geld. Und halten Sie mich auf dem laufenden! Nach Büroschluß bin ich in meiner Wohnung. Ich werde nicht ausgehen, damit ich jederzeit sofort Ihre Nachrichten entgegennehmen kann.«

 

Aber erst um halb zehn hörte er wieder etwas von dem Detektiv.

 

»Ich spreche von Wapping aus«, sagte Mr. Peeker geheimnisvoll. »Er ist hier in einem kleinen Restaurant, und zwar verkleidet.«

 

»Meinen Sie Mr. Maber?«

 

»Nein, nicht Maber — Hammett. Ich habe ihn den ganzen Tag verfolgt. Er ist jetzt als Matrose maskiert und trägt einen falschen Schnurrbart.«

 

Mr. Attermans Augen leuchteten wild vor Erregung.

 

»Fabelhaft!« rief er außer sich. »Bleiben Sie um jeden Preis mit mir in Verbindung, koste es, was es wolle.«

 

Die Uhr zeigte zehn — elf —

 

Schließlich wurde es Mitternacht. Dann endlich klingelte das Telefon wieder, aber es meldete sich nicht Mr. Peeker, sondern die tiefe Stimme eines Beamten.

 

»Hier Sergeant Johnson von der Themsepolizei. Ist bei Ihnen ein gewisser Mr. Peeker angestellt?«

 

Atterman wurde bleich.

 

»Ja«, antwortete er mit unsicherer Stimme. »Ist etwa ein Unglück passiert?«

 

»Wir haben seinen Mantel am Themseufer gefunden. Ein Polizist hörte, daß ein schwerer Gegenstand ins Wasser fiel, eilte zum Fluß hinunter und fand den Mantel, der halb im Wasser lag.«

 

Zitternd legte Mr. Atterman den Hörer zurück. In welch eine Tragödie war er plötzlich verwickelt!

 

Kapitel 9

 

9

 

Julius wohnte bei Mr. Atterman und hatte sich um elf Uhr zur Ruhe gelegt.

 

Mr. Atterman eilte die Treppe hinauf, nahm zwei und drei Stufen mit einem Schritt und stürzte atemlos in das Zimmer seines Gastes.

 

»Peeker ist ihr zum Opfer gefallen!« weckte er ihn keuchend. »Sie sind der nächste!«

 

»Was wollen Sie?« fragte Julius schlaftrunken.

 

»Sie sind ihr nächstes Opfer«, wiederholte Mr. Atterman und zeigte mit zitterndem Finger auf ihn.

 

»Um Himmels willen, was reden Sie da?« rief Julius entsetzt. »Meinen Sie Barbara Storr? Was hat Sie mit Peeker gemacht?«

 

»Sie hat ihn umgebracht, sie hat ihn ermordet!«

 

Julius stand auf, wankte ins Badezimmer und goß zwei Gläser eiskaltes Wasser hinunter. Atterman folgte ihm und erzählte ihm die grausige Geschichte mit allen Einzelheiten.

 

»Peeker ist dem Rechtsanwalt den ganzen Tag gefolgt. Von Wapping aus hat mich der arme Kerl das letzte Mal angerufen… Seine Witwe wird untröstlich sein… wir müssen sofort ausfindig machen, wo sie wohnt. Was schreibt eigentlich das Gesetz vor, Julius? Muß ich der Frau eine Entschädigungssumme zahlen, wenn sie zum Beispiel getrennt von ihrem Mann wohnte?«

 

Mr. Colesberg hatte keine Zeit, auf eine derartig profane Frage einzugehen.

 

»Ist die Leiche gefunden?« erkundigte er sich mit heiserer Stimme.

 

»Nein, aber der ganze Fluß wird bereits danach abgesucht, und ein Inspektor von Scotland Yard ist mit der Aufklärung des Verbrechens beauftragt. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir die Polizei gleich benachrichtigt und dann nicht unseren besten Detektiv verloren, einen so vorzüglichen Menschen!«

 

»Ich habe Ihnen ja auch nicht geraten, Mr. Peeker zu holen.«

 

Mr. Atterman sah ihn vorwurfsvoll durch seine dicken Brillengläser an.

 

»Mein Junge, wir sind alle daran beteiligt«, sagte er gebrochen. »Es hat keinen Zweck, daß Sie mir jetzt Vorwürfe machen.«

 

Um ein Uhr nachts klingelte Inspektor Finney von Scotland Yard an Mr. Attermans Haustür. Die Flußpolizei hatte den Vorfall tatsächlich bei Scotland Yard gemeldet, und Mr. Finney war gekommen, um persönlich Nachforschungen anzustellen.

 

Er machte nicht den Eindruck eines Detektivs, denn er hatte weder hagere, asketische Züge, noch tiefliegende Augen und einen faszinierenden Blick. Im Gegenteil, er sah reichlich prosaisch aus mit seinen kurzgeschnittenen Haaren, der gedrungenen, plumpen Gestalt und dem beträchtlichen Leibesumfang.

 

Ruhig hörte er zu, als Mr. Atterman die Persönlichkeit des unglücklichen Mannes schilderte, der ein so trauriges Ende gefunden hatte.

 

Julius versuchte mehrfach, sich ins Gespräch zu mischen, aber Mr. Atterman ließ ihn nicht zu Wort kommen.

 

»Peeker?« sagte Mr. Finney schließlich. »Ach so, jetzt besinne ich mich auf ihn. Das ist ja der Mann, der uns immer Briefe schreibt, wenn er glaubt, daß wir uns geirrt haben.«

 

Das vorzeitige tragische Ende seines Kollegen schien keinen großen Eindruck auf ihn zu machen.

 

»Ich glaube gar nicht, daß er tot ist«, fuhr er fort. »Solche Leute ertrinken nicht so leicht. Und was ist denn nun eigentlich mit diesem Maber? Warum soll dem denn ein Unglück zugestoßen sein?«

 

Mr. Atterman holte den Koffer herbei und zeigte den beschmutzten Frackanzug. Aber nicht einmal diese Beweisstücke brachten den Beamten aus seiner Ruhe. Er betrachtete sie nur kühl und gelassen.

 

»Das ist allerdings Blut. Wann ist denn Mr. Maber verschwunden?«

 

»Er wurde zuletzt am Samstag abend gesehen. Ich hörte das von einem Bekannten, der an seiner Gesellschaft im Trocadero teilnahm, aber schon frühzeitig ging.«

 

»Und wo ist diese Miß Storr tätig?«

 

Julius und Atterman klärten den Inspektor zu gleicher Zeit darüber auf.

 

»Ach, ist das die Firma, die augenblicklich die ›Billige Woche‹ veranstaltet?«

 

Die beiden nickten.

 

»Meine Frau erzählte mir, daß in ganz London seit Menschengedenken kein so großer Andrang in einem Geschäft war. Sie hat unglaublich preiswert eingekauft und meinte, daß man dort viel billiger wegkäme als zum Beispiel bei Atterman oder sonst einem Warenhaus.«

 

»Sie sehen hier den Inhaber der Firma Atterman vor sich«, erklärte Julius mit Würde.

 

»Na, dann kann er mir ja gleich bestätigen, daß meine Frau recht hat.«

 

»Das ist eine vollkommen aus der Luft gegriffene Annahme«, entgegnete Atterman erregt. »Die Firma verkauft nur ihre alten Ladenhüter zu Schleuderpreisen, neue Waren kann sie auch nicht billiger abgeben als ich. Maber ist seit den letzten Tagen eine ganz unfaire Konkurrenz!«

 

»Das ist der Mann, der ermordet worden sein soll?« fragte der Detektiv jetzt interessiert.

 

»Ja, aber ich sprach im Moment von Miß Storr, von der wir Ihnen schon die ganze Zeit erzählen. Die hat auch Peeker in der Themse ertränkt. Am Montagmorgen tauchte sie plötzlich mit einer Generalvollmacht auf. Offenbar hat sie ihr Opfer durch Drohungen zur Unterschrift gezwungen. Maber wurde am Samstagabend umgebracht, nachdem er das Schriftstück unterzeichnet hatte.«

 

»Wurde denn der Notar, der die Vollmacht ausstellte, auch ermordet?« fragte Inspektor Finney. »Derartige Dokumente werden doch von einem Notar unterzeichnet!«

 

Atterman sah ihn betroffen an.

 

»Die Einzelheiten des Verbrechens kenne ich natürlich nicht genau, aber wenn Sie Miß Storr verhören, werden Sie wahrscheinlich alles erfahren.«

 

»Nun, da werden wir ja sehen.« Der Detektiv betrachtete den Koffer noch einmal. »Wer hat ihn denn aufgeschnitten?«

 

»Das habe ich im Interesse der Aufklärung des Mordes getan«, erwiderte Mr. Atterman selbstbewußt.

 

»Woher haben Sie denn den Koffer?«

 

Mr. Atterman unterdrückte nur mit Mühe einen Fluch. Dieser Mann konnte einen verrückt machen mit seinen Fragen! Und dabei sollte er doch den Mord an Peeker aufklären. Was ging ihn dieser Koffer an?

 

»Mr. Colesberg nahm ihn aus dem Safe von Maber. Hier ist der Herr.« Atterman stellte Julius mit einer Geste vor. »Er ist der Juniorpartner der Firma Maber & Maber.«

 

»Das werde ich mir am besten einmal aufnotieren.«

 

»Schreiben Sie ›der frühere Juniorpartner‹«, sagte Julius nervös. »Ich möchte vor der Polizei keine falschen Angaben machen.«

 

»Aber Sie waren doch noch Teilhaber der Firma, als Sie diesen Koffer aus dem Safe nahmen?«

 

Mr. Finney dachte äußerst realistisch und praktisch. Ihm war ein bewiesener Betrug und Vertrauensbruch lieber als hundert angebliche Morde.

 

»Nein, eigentlich nicht mehr — es war nämlich so — also hören Sie zu –« Julius sprach immer verworrener und zusammenhangloser. »Ich nahm ihn, weil ich meinem Freund Maber versprochen hatte, daß — ich ihn nehmen wollte. Das verstehen Sie doch?«

 

»Nein, das verstehe ich nicht«, erwiderte Inspektor Finney offen. »Hat Ihnen Mr. Maber gesagt, daß sich dieses blutbefleckte Hemd in dem Koffer befindet?«

 

»Nein«, gab Julius kleinlaut zu.

 

»Wurde der Koffer immer in dem Safe aufbewahrt?«

 

»Nein, das ist es ja gerade«, mischte sich jetzt Mr. Atterman eifrig ein. »Diese Storr hat doch den Koffer in dem Safe versteckt!«

 

Er trat einen Schritt zurück, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten.

 

Sie war nicht sehr groß.

 

»Aha!« sagte der Detektiv nur und fuhr dann in seiner systematischen, gründlichen Art fort, der Sache auf den Grund zu gehen. »Hat Mr. Maber persönlich Sie beauftragt, den Koffer aus dem Safe zu nehmen?«

 

»Ja und nein«, entgegnete Julius und glaubte, eine geniale Antwort gegeben zu haben.

 

»Wußten Sie, daß der Koffer im Safe stand?«

 

»Ja.«

 

»Wußten Sie auch, daß Miß Storr ihn hineingestellt hatte?«

 

»Auch das wußte ich.«

 

»Und haben Sie ihn aus dem Safe genommen, nachdem Sie wußten, daß Miß Storr ihn hineingestellt hatte?«

 

»Ja, so ist es.« Julius atmete erleichtert auf, denn er dachte, der Inspektor wäre endlich vernünftig geworden und würde die Sache vom rein menschlichen Standpunkt aus betrachten.

 

»Schön. Jetzt möchte ich noch wissen, wann Sie den Koffer herausgenommen haben.«

 

Julius sah Atterman an, und Atterman sah auf die Uhr.

 

»Es war gestern morgen, ungefähr um zwei.«

 

»Also in der Nacht?«

 

»Am Morgen«, wiederholte Julius, da das besser klang.

 

»Wie sind Sie denn ins Haus gekommen?«

 

»Durch den hinteren Eingang, den das Personal benützt.«

 

Finney notierte alles eifrig.

 

»Vermutlich haben Sie die Tür mit einem Paßschlüssel geöffnet?«

 

Julius nickte.

 

»Den Sie als Teilhaber der Firma erhalten hatten?«

 

»Ganz richtig.«

 

»Waren Sie in dem Augenblick noch Partner der Firma, als Sie den Paßschlüssel benützten, den Safe öffneten und den Koffer herausnahmen?«

 

»Nein«, gestand Julius. »Aber um Himmelswillen, das hat doch mit dem Mord nichts zu tun. Kommen Sie doch zur Sache zurück!«

 

»Das werde ich sofort tun. Es handelt sich im Moment um Folgendes, meine Herren. Ein Polizist meldete, daß er gestern morgen um zwei einen Mann verfolgte, der aus einem Fenster der Firma Maber sprang. Leider hat er ihn aus den Augen verloren. Ich habe also eben von Ihnen gehört, wie Sie in das Haus gekommen sind. Nun möchte ich noch wissen, wie Sie wieder herausgekommen sind.«

 

»Durch ein Fenster«, rief Julius verzweifelt. Im Hintergrund sah er schon das Gefängnistor, das sich langsam für ihn öffnete. »Sie müssen noch verschiedenes über Mr. Maber erfahren«, sagte er hastig, um das Gespräch endlich auf ein anderes Thema zu bringen. »Er war ein sehr freundlicher, gutherziger Mann, aber er stand vollkommen unter dem Einfluß von Frauen. Dieses Mädchen –«

 

»Das gehört im Augenblick nicht hierher«, entgegnete der Inspektor scharf. »Sind Sie aus dem Fenster gesprungen oder nicht?«

 

»Ich habe ja schon gesagt, daß ich aus dem Fenster gesprungen bin!«

 

»Wurden Sie von der Polizei verfolgt?«

 

»Ja.«

 

»Dann kommen Sie jetzt bitte mit mir zur Polizeistation«, forderte Mr. Finney Julius unerwartet auf.

 

Wie im Traum ging Mr. Colesberg an der Seite des Beamten eine dunkle, enge Straße entlang, bis sie zu einem düsteren Gebäude kamen, vor dessen Eingang eine große, blaue Lampe hing. Dort wurde er verhört und unter dem Verdacht festgenommen, in der Zeit zwischen zwei und vier Uhr morgens am vergangenen Tage in das Geschäftshaus der Firma Maber & Maber eingebrochen zu sein. Ferner wurde ihm zur Last gelegt, daß er den Polizisten Thomas Wellbeloved in Ausübung seiner Pflicht angegriffen habe.

 

Mr. Atterman war Julius atemlos zur Polizeistation gefolgt, und nachdem er dies alles gehört hatte, nahm er den letzten Mut zusammen und sagte seine Meinung.

 

»Sie haben sich ja noch gar nicht um die beiden Morde gekümmert«, erklärte er mit tiefer, vorwurfsvoller Stimme, die ihm selbst ganz fremd klang.

 

»Darauf wollen wir jetzt gleich näher eingehen«, erwiderte der Inspektor. »Vielleicht begleiten Sie uns ein wenig?«

 

»Nein, herzlichen Dank«, entgegnete Mr. Atterman hastig. »Sie wissen ja, wo Sie mich finden können — ich bin Mr. Atterman, Chef der Firma Atterman Brothers.«

 

»Ich weiß ganz genau, wer Sie sind.«

 

Die Stimme des Inspektors klang drohend, und Mr. Atterman fuhr schaudernd zusammen.

 

Kapitel 12

 

12

 

Lange nach Geschäftsschluß saß Barbara noch in ihrem Büro und suchte sich vergeblich über den plötzlichen Besuch Mr. Elburys klarzuwerden. Schließlich ging sie hinunter in die Verkaufsräume, wo die Verkäuferinnen gerade die ausgestellten Modepuppen mit langen, weißen Tüchern umhüllten. Putzfrauen fegten den Fußboden, und die jungen Mädchen, die mit ihrer Arbeit fertig waren, kleideten sich um.

 

Auch der Tagportier war gerade im Begriff, nach Hause zu gehen. Er diente schon lange bei der Firma und war ein ernster, schweigsamer Mann.

 

Barbara trat zu ihm und sprach ihn an.

 

»Diese Woche ist es leider immer sehr spät geworden, Mr. Beale.«

 

»Jawohl, Miß.«

 

»Haben Sie Ihre Überstunden aufnotiert? Ich glaube, einmal sind Sie erst um Mitternacht nach Hause gekommen. War es nicht am Montag?«

 

»Jawohl, Miß. Auch am Dienstag. Und am Mittwochmorgen war ich so müde, daß ich kaum die Augen aufhalten konnte. Ich sagte Mr. Maber –«

 

»Sie meinen Mr. Lark«, verbesserte sie ihn liebenswürdig. Der Mann mußte tatsächlich übermüdet sein.

 

»Nein, Mr. Maber«, wiederholte der Portier. »Ich habe ihn doch ganz deutlich gesehen. Er kam etwa um zwölf Uhr hierher, kurz vor Mittagszeit. Da sagte ich zu ihm –«

 

»Aber Sie irren sich doch, Beale. Mr. Maber ist die ganze Woche noch nicht im Geschäft gewesen.« Er runzelte die Stirne, denn er liebte es nicht, wenn ihm ein junges Mädchen widersprach.

 

»Mr. Maber war bestimmt am Mittwoch da«; erklärte er mit Nachdruck. »Er kam mit dem anderen Herrn zusammen. Und da sagte ich zu ihm –«

 

»Also, es ist ganz sicher ein Irrtum!«

 

Mr. Beale hatte es nun satt, die Wahrheit dauernd zu beteuern. Er drehte sich um, schloß das Pult auf und nahm das Buch heraus, in das sich die Besucher eintragen mußten.

 

»Sehen Sie her. Hier habe ich es sogar in mein Buch eingetragen: Elf Uhr fünfundfünfzig Mr. Maber mit einem anderen Herrn.«

 

Sie starrte ihn verblüfft an.

 

»Ist er denn hier im Hause gewesen?«

 

»Nein, er kam nur vorbei und sagte ›Guten Morgen, Beale‹. Und ich sagte ihm, daß Mrs. Maber soeben nach oben gegangen sei –«

 

Barbara sank in den nächsten Stuhl.

 

»Und was war dann?«

 

»Dann gingen die beiden Herren sofort wieder weg. Ich sagte noch, daß es jetzt soviel zu tun gäbe, und daß wir immer erst spät nach Hause kämen. Aber er hat nicht mehr zugehört.«

 

Auch Barbara hörte jetzt nicht mehr, was Mr. Beale sagte.

 

Mr. Maber war ins Geschäft gekommen, hatte aber sofort wieder kehrtgemacht, als Beale von Mrs. Maber sprach. Und dabei war Mr. Maber doch im Gefängnis und konnte unmöglich am Mittwoch zum Geschäft gekommen sein!

 

»Wie war er denn angezogen?« fragte sie schließlich.

 

»Er trug einen braunen Anzug, Miß Storr, und er hatte eine schwarze Krawatte mit weißen Tupfen. Ich dachte noch gerade, daß die eigentlich etwas zu lebhaft für einen älteren Herrn sei.«

 

Es war der Anzug, den sie ihm geschickt hatte. Sie konnte sich auch auf das Muster der Krawatte genau besinnen. Wo mochte Mr. Maber jetzt stecken? Wie war er aus dem Gefängnis entkommen? Hatte ihn Mr. Elbury entführt?

 

»Woher wußten Sie denn, daß Mrs. Maber gekommen war?«

 

»Sie nannte mir ihren Namen. Er hat sie genau beschrieben. Eine starke Dame.«

 

»Das war Mrs. Maber, oder vielmehr die Frau, die sich so nannte.«

 

»Ich frage die Leute nicht nach ihren Privatangelegenheiten. Wenn eine Person sagt, daß sie Mrs. Maber sei, dann ist sie für mich eben Mrs. Maber.«

 

Barbara ging wieder in ihr Büro. Sie überlegte schon, ob es nicht das beste wäre, einfach zum Gefängnis von Pentonville zu gehen und sich dort nach Mr. Maber zu erkundigen. Es war allerdings fraglich, ob man ihr eine Auskunft geben würde. Aber sie mußte jetzt unter allen Umständen die Wahrheit herausbringen.

 

Plötzlich lachte sie herzhaft, denn sie ertappte sich bei dem heftigen Wunsch, daß Alan kommen möchte. Und als ob ihre Gedanken magische Kräfte besäßen, meldete im nächsten Moment auch der Nachtwachmann, daß ein junger Herr an der Türe warte. Nach der Beschreibung mußte es Mr. Stewart sein. Schnell nahm sie Hut und Mantel und eilte die Treppe hinunter.

 

Als sie aus der Nebenstraße in die Marlborough Avenue einbogen, fuhr ein Wagen an ihnen vorbei und hielt vor dem Haupteingang des Maberschen Geschäftshauses. Die Tür wurde aufgerissen, und Mr. Atterman sprang heraus. Als er Barbara sah, eilte er sofort auf sie zu.

 

»Miß Storr, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«

 

»Ins Büro möchte ich nicht zurückgehen. Können Sie hier mit mir verhandeln?«

 

Er warf einen Blick auf Alan, und der junge Mann trat diskret zur Seite.

 

»Sie wollten doch einen Scheck über zehntausend Pfund von mir«, sagte Atterman schnell. »Ich habe mir die Sache überlegt. Ich bin bereit, Ihnen den Scheck zu geben.«

 

»Ich brauche das Geld nicht mehr«, erwiderte sie, erstaunt über diese plötzliche Meinungsänderung ihres großen Gegners. »Ich habe die Summe schon von Mr. Maber erhalten.«

 

»Sie sind aber doch nicht böse auf mich? Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung für alles, was ich gegen Sie gesagt und getan habe. Sie sind eine außergewöhnliche junge Dame, und Mr. Maber kann sehr stolz sein, daß Sie seine Firma leiten. Und die Sache mit dem Gefängnis — na, das kann doch schließlich jedem passieren!«

 

»Er ist gar nicht im Gefängnis — es war ein Justizirrtum, ein Mißverständnis, das sich aufgeklärt hat. Der Minister des Innern hat schon vor mehreren Tagen seine Entlassung verfügt.«

 

»Das freut mich. Es war doch eine Schande, daß ein so vornehmer Mann wie er überhaupt verhaftet werden konnte. Sehen Sie, Miß Storr, Mr. Maber ist ein alter Freund unserer Familie –«

 

Barbara war allmählich daran gewöhnt, merkwürdige Nachrichten zu hören, aber diese Mitteilung setzte sie doch in größtes Erstaunen.

 

»Ja, er kannte meine Schwester«, fuhr er fort. Er sprach sehr schnell, als ob er rasch über eine peinliche Situation hinwegkommen wollte. »Sie lebt jetzt in Amerika, ist dort verheiratet, und es geht ihr sehr gut. Ich habe früher von der Sache nichts gewußt. Erst heute abend hat meine Mutter mir alles erzählt. Rachel und Mr. Maber waren früher sehr befreundet — und er hat sie einmal aus einer schwierigen Situation befreit. Es war damals im Empire, und er hat sogar einen falschen Eid auf sich genommen, um sie zu retten.«

 

Barbara starrte ihn verblüfft an. Sie wußte wirklich nicht mehr, was sie zu diesen Enthüllungen sagen sollte. Sie kniff sich in die Hand — sie war vollkommen wach.

 

»Meine Schwester hat damals ganz unentschuldbar gehandelt. Aber sie war immer ein sehr impulsives Mädchen … ja, wenn das Herz jung ist …«

 

Barbara lauschte und hörte nun die Geschichte von Mr. Mabers Abenteuer. Es hatte sich vor vielen Jahren im Empire-Theater zugetragen, nach einem Festessen, das er der Rudermannschaft von Cambridge gab, und es endete mit einer Katastrophe. Eine junge Dame hatte versucht, Mr. Maber aus den Händen der Polizei zu befreien, und war bei diesem Versuch auch verhaftet worden. Die Sache hätte noch weitere Folgen nach sich gezogen, aber Mr. Maber hatte in ritterlicher Weise der Dame versprochen, sie zu heiraten, als er sah, wie hoffnungslos er sie kompromittiert hatte. Und sie hatte sein Anerbieten tatsächlich angenommen …

 

»Rachel hätte ihn nicht heiraten sollen, aber sie war eben immer so impulsiv. Das hätte sie Freddie niemals antun dürfen — er ist nämlich ihr Mann.«

 

»Sie war also schon vorher verheiratet?« fragte Barbara atemlos.

 

»Ja, das ist doch das Entsetzliche. Sie hat Mr. Maber früher nie etwas davon gesagt, daß sie schon mit Freddie verheiratet war, aber mit dem nächsten Dampfer folgte sie ihrem Mann nach Amerika. Er hat ihr versprochen, die Geschichte nie zu erwähnen. Nur meine Mutter wußte davon. Es war sehr leichtsinnig von Rachel, aber wenn das Herz jung ist…«

 

*

 

Alan Stewart war wirklich ein Muster von Geduld und Ausdauer. Er ging vor den dunklen Schaufenstern der Firma auf und ab, selbst als Atterman und Barbara nach einer halben Stunde immer noch miteinander sprachen.

 

»Aber sehen Sie«, schloß Atterman gerade seine Ausführungen, »die Sache hat auch ihr Gutes gehabt. Unter diesen Umständen hat meine Mutter kein Recht, eine Ehe zwischen Maudie und mir zu verhindern. Das habe ich ihr erklärt, und nun heiraten wir nächste Woche. Und dann noch eins, Miß Storr. Wenn dieser verrückte Colesberg nicht gewesen wäre, hätte ich Maber tatsächlich eine anständige Kaufsumme geboten. Also, überlegen Sie es sich noch einmal.«

 

Barbara versprach es, eilte zu Alan und legte ihren Arm in den seinen.

 

»Ich fahre heute nicht nach Hause. Wir gehen jetzt ins Ritz-Carlton. Dieser Abend muß gefeiert werden. Wir wollen Sekt trinken und vergnügt sein. Aber vorher muß ich noch ein Telegramm fortschicken.«

 

Ihr Taxi hielt vor dem Postamt in der Regent Street, und Barbara setzte das Telegramm auf.

 

»Marcus Elbury, Hotel Majestic, Paris.

 

Maber mitteilen, daß Rachel bereits seit langem verheiratet. Barbara.«

 

*

 

Am nächsten Morgen kam Inspektor Finney mit neuen Nachrichten. Rechtsanwalt Hammett hatte man in Gravesend verhaftet und bei der Gelegenheit an Bord der »Silina« auch Mr. Peeker gefunden, der bei der Verfolgung Hammetts seinen Mantel abgeworfen hatte. In Hammetts Besitz wurde noch das ganze Geld gefunden.

 

»Wissen Sie schon, daß Mr. Maber aus dem Gefängnis entlassen ist?« fragte Finney.

 

»Ich dachte es mir schon …«

 

»Bereits am zweiten Tag wurde er entlassen. Die Polizei hat einen Irrtum begangen. Er erhielt nut eine kleine Geldstrafe wegen Trunkenheit. Ich bin sehr erstaunt, daß er nicht gleich zu Ihnen ins Geschäft gekommen ist. Zeigen Sie jetzt doch vor allem diesen Colesberg an. Er hat ja alles eingestanden.«

 

*

 

Am Nachmittag kehrte Mr. Maber von Paris zurück. Er war braungebrannt und in bester Stimmung. Barbaras Telegramm erwähnte er ebensowenig wie den Brief, den sie ihm nach Dover entgegengeschickt hatte, als sie von seiner Absicht erfuhr, nach London zurückzukehren.

 

Er sah um zehn Jahre jünger aus und rauchte vergnügt eine Zigarette.

 

»Du hast eine fabelhafte Idee gehabt, Barbara!« rief er. »Unsere ›Billige Woche‹ war ja die Sensation Londons! Und die vielen Leute im Geschäft! Ich habe so etwas noch nie erlebt. Eigentlich wollte ich mit Marcus nach Amerika fahren, um dort das moderne Geschäftsleben kennenzulernen. Er hätte mir viel beibringen können. Aber das ist ja nun alles nicht mehr nötig. Übrigens habe ich in Paris verschiedene neue Kollektionen von Herrenwäsche gesehen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Ich habe natürlich sofort eine unserem Betrieb entsprechende große Order gegeben.«

 

»Aber jetzt verkaufen Sie doch hoffentlich Ihre Firma nicht«, sagte sie bittend.

 

»Ich denke nicht daran! Außerdem gehört mir das Geschäft nicht mehr allein, in Zukunft hat noch jemand mitzureden. Ich habe dich bei Gericht schon als Mitinhaberin eintragen lassen!«

 

*

 

Ende

 

Kapitel 2

 

2

 

Barbara trat auf den Korridor hinaus. Ihre Hand umklammerte krampfhaft die Vollmacht, und die letzten Worte Mr. Mabers klangen ihr noch in den Ohren.

 

»Gib ihm zehn Pfund — ich habe kein Geld bei mir.«

 

Dunkel kam ihr zum Bewußtsein, daß damit der kleine Rechtsanwalt an ihrer Seite gemeint war, ein schmächtiger, halbverhungerter Mann in einem abgetragenen, unsauberen Anzug. Auch sein Kragen hätte längst gewaschen werden müssen. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und als er Barbara anlächelte, sah sein hageres Gesicht noch abstoßender aus.

 

»Schicken Sie mir doch bitte keinen Scheck zu, Miß Storr. Am besten ist in diesem Fall eine Barzahlung, dann brauche ich es nicht erst durch die Bücher gehen zu lassen. — Wirklich ein reizender Mann, dieser Mr. Maber«, sagte er begeistert, als sie ihre Handtasche öffnete. »Wenn das Herz jung bleibt, wird man nicht alt. Verheiratet, Miß?«

 

»Ich? Nein.«

 

»Sie meinte ich nicht. Ich sprach von dem netten, alten Herrn.«

 

»Mr. Maber ist Junggeselle, soviel ich weiß.«

 

Barbara wurde gut bezahlt und hatte am Wochenbeginn stets eine größere Summe bei sich.

 

»Zehn Pfund?« fragte sie.

 

»Guineen«, erwiderte er in bescheidenem Ton.

 

Sie gab ihm den Betrag, und er steckte das Geld in die Hosentasche, nachdem er noch einen Blick auf die Zellentür geworfen hatte.

 

»Wenn ich Ihnen einmal irgendwie behilflich sein kann, Miß Storr, darf ich doch darauf rechnen, daß Sie sich mit mir in Verbindung setzen?«

 

Er drückte ihr eine nicht sehr saubere Karte in die Hand, und zu ihrem Erstaunen sah sie, daß er in Lambeth wohnte. Die Telefonnummer war ausgestrichen.

 

»Die Leitung ist zur Zeit nicht in Ordnung«, warf er hin. »Mit diesen verdammten Apparaten stimmt immer irgend etwas nicht.«

 

Barbara, die ganz genau wußte, daß Telefone meistens dann in Unordnung geraten, wenn die Rechnungen nicht bezahlt werden, reichte ihm lächelnd die Hand.

 

Er zog den Hut und wandte sich dann zum Gehen. Aber ein junger Mann, der offenbar auf ihn gewartet hatte, trat ihm in den Weg.

 

»Verzeihen Sie, sind Sie Mr. Hammett?«

 

»Ja, das bin ich«, erwiderte der Rechtsanwalt etwas herablassend.

 

Der junge Mann übergab ihm ein zusammengefaltetes, blaues Blatt.

 

Mr. Hammett zog die Augenbrauen zusammen, warf einen Blick auf die Adresse und steckte die unangenehme Nachricht dann in die Tasche.

 

»Sie können Ihrem Chef sagen, daß die Angelegenheit heute noch geregelt wird«, erklärte er ernst und entfernte sich.

 

Der Polizeiinspektor hatte die kleine Szene von der Tür seines Zimmers aus beobachtet.

 

»Wollen Sie nicht einen Augenblick hereinkommen?« sagte er freundlich zu Barbara. »Es tut mir leid, daß Ihr Chef an Hammett geraten ist. Hoffentlich hat der Mann alles wunschgemäß erledigt?«

 

»Wer ist er denn?« fragte Barbara, die immer noch nicht ganz an die Wirklichkeit ihres Erlebnisses glauben konnte.

 

»Ein Rechtsanwalt. Ich weiß nicht viel über ihn. Jedenfalls ist er noch nicht aus der Matrikel gestrichen. Er treibt sich auf den Polizeigerichten von Südlondon herum und taucht meistens in der Nacht nach dem Bootsrennen hier auf. Gewöhnlich hat er dann auch einen oder zwei Klienten aufgelesen. Um Mr. Maber tut es mir wirklich leid«, fuhr er ernster fort. »Ich kenne ihn gut, weil er früher meine alte Mutter in Ilchester unterstützt hat. Sie sind doch auch dort zu Hause? Ich habe Sie manchmal dort gesehen.«

 

»Das stimmt«, erwiderte sie überrascht. »Aber sagen Sie mir doch, hat er tatsächlich jemand gebissen?«

 

»Ich weiß es nicht. Die Leute sagen so. Aber was ist schließlich ein Biß? Es ist ja möglich, daß er es im Scherz getan hat.«

 

Im Zimmer stand der große, ernst dreinschauende Polizist, der Barbara geholt hatte. Anscheinend stand er dem Inspektor zu Botengängen zur Verfügung.

 

»Ich wundere mich eigentlich, daß Sie keine Polizisten in Ihrem Geschäft haben«, meinte der Inspektor. »Bei Atterman sind drei oder vier beschäftigt.«

 

»Ja, können Sie denn Polizisten verleihen?« fragte sie verwundert.

 

»Selbstverständlich, wenn die Polizeidirektion die Genehmigung dazu gibt«, entgegnete er lächelnd. »Natürlich müssen Sie dafür zahlen. Aber die großen Warenhäuser können gewöhnlich soviel Leute bekommen, wie sie nur haben wollen, besonders während der Ausverkäufe.«

 

Barbara faßte einen schnellen Entschluß.

 

»Gut, ich werde einen kaufen. Was kostet er?«

 

»Kaufen können Sie ihn nun allerdings gerade nicht, Miß Storr«, entgegnete der Beamte belustigt, »aber Sie können ihn für einige Zeit engagieren. Ich werde die Angelegenheit für Sie regeln. Wünschen Sie einen bestimmten Polizisten?«

 

Sie zeigte auf den großen Mann, der sie gerufen hatte.

 

»Ja, ich möchte diesen haben.«

 

Der Inspektor rieb sein Kinn.

 

»Ich glaube, das läßt sich machen. Brauchen Sie ihn für den Innen- oder für den Außendienst?«

 

»Für den Innendienst«, entgegnete sie prompt.

 

Das war eine ausgezeichnete Idee!

 

Sie winkte ein Taxi heran und fuhr zur Bank, legte dort dem erstaunten Direktor ihre Vollmacht vor und leistete die Unterschrift. Als sie gerade wieder in den Wagen steigen wollte, hörte sie ihren Namen. Rasch wandte sie sich um und sah sich einer blonden jungen Dame mit ausdrucksvollen, blauen Augen und frischen, roten Lippen gegenüber.

 

»Famos, daß ich Sie treffe, Miß Storr«, rief Maudie Deane und drückte Barbara herzlich die Hand. »Ich habe gerade versucht, Atterman zu sprechen. Man sollte doch eigentlich von einem Gentleman erwarten –«

 

»Kommen Sie schnell herein — ich habe es sehr eilig!«

 

Die hübsche Solotrompeterin des Lusiana-Damenorchesters folgte der Aufforderung sofort.

 

»Nun erzählen Sie mir bitte Ihre ganze Geschichte noch einmal, Maudie«, bat Barbara. »Aus einem besonderen Grunde liegt mir jetzt daran, möglichst viel Auskünfte über Mr. Atterman zu sammeln. Er hat sich also in Sie verliebt und Ihnen versprochen, Sie zu heiraten?«

 

Maudie nickte, und ihre veilchenblauen Augen füllten sich mit Tränen.

 

»Ich habe die Damenkapelle für Atterman zusammengestellt. Es war meine Idee. Schon seit meinem sechsten Lebensjahr spiele ich Trompete, und mein Vater war der große Solobläser, den die Welt gekannt hat. Natürlich hat Mr. Atterman an mir Gefallen gefunden, und als wir im Erfrischungsraum spielten, kam er jeden Mittag und setzte sich so, daß er mich sehen konnte. Er hat mich mit den Blicken geradezu verschlungen, wenn ich diesen bildhaften Ausdruck gebrauchen darf. Es hat mich so mitgenommen, daß ich tatsächlich manchmal einen halben Ton zu tief gespielt habe. Und er wollte mich ja auch heiraten, aber seine Mutter –«

 

»Was, seine Mutter? Hat ein solches Scheusal auch eine Mutter?«

 

»Sogar zwei«, lautete die überraschende Antwort. »Eine Stiefmutter und eine wirkliche. Sein Vater hat sich unter traurigen Umständen scheiden lassen. Das war nämlich so –«

 

»Auf die traurigen Umstände wollen wir lieber jetzt nicht näher eingehen«, sagte Barbara hastig. »Aber ich bin sehr gespannt, über Ihre Liebesgeschichte noch mehr zu hören.«

 

Maudie warf ihr einen kummervollen Blick zu.

 

»Es begann damit, daß er mich nach Hause begleitete und meine Hand stärker drückte, als es im allgemeinen üblich ist. Er selbst ist ein anständiger Mann, das muß ich schon zu seinen Gunsten sagen. Aber seine Mutter konnte mich nicht leiden. Ich hätte ihn auch niemals bei Gericht verklagt, aber mein Vater meinte, wenn die Geschichte in die Zeitungen käme, könnte mir das ein gutes Engagement bei einem Varieté einbringen. Der Skandal in den Zeitungen war dann ja auch enorm — aber das Engagement ist leider ausgeblieben. Und doch, Miß Storr –« Maudie kämpfte mit den Tränen — »ich liebe ihn!«

 

Barbara schaute sie betroffen an.

 

»Ach, Sie werden ihn jetzt so oft sehen dürfen! Wie ich Sie deshalb beneide!« schluchzte Maudie und drückte das Taschentuch an die Augen.

 

»Ich kann nicht behaupten, daß mich dieser Gedanke so sehr entzückt. Aber warum soll ich ihn denn eigentlich jetzt so oft sehen?«

 

Maudie faßte sich wieder und trocknete ihre Tränen.

 

»Atterman kauft doch Ihre Firma! Ich traf neulich Mr. Minkey auf der Straße, und der erzählte mir, daß die Lebensmittelabteilung in Ihr Haus verlegt wird. Ach, Percy Atterman ist wirklich ein smarter Geschäftsmann, ein wundervoller Mensch!«

 

Vor dem Eingang zu Maber & Maber trennte sich Barbara von Maudie und eilte in ihr Büro.

 

Mr. Lark rief sie an, als sie an seinem Zimmer vorüberkam.

 

»Storr!«

 

Sie wandte sich um.

 

»Wann kommt Mr. Maber?«

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Lark.«

 

»Für Sie bin ich immer noch Mr. Lark«, wies er sie mit erhobener Stimme zurecht, da er wußte, daß das Büropersonal zuhörte.

 

Barbara betrachtete ihn nachdenklich.

 

»Ich möchte Sie nicht gern auf die Straße setzen, weil ich weiß, daß Sie ein verheirateter Mann sind, und daß Ihre Frau schon genug Sorgen hat. Aber Sie sind heute zum letztenmal Chef der Einkaufsabteilung in der Firma Maber & Maber gewesen. Ich werde Ihnen das noch schriftlich bestätigen.«

 

Mr. Lark war so verblüfft, daß er kein Wort hervorbrachte. Erst als sie gegangen war, fand er die Sprache wieder.

 

Barbara warf in ihrem Büro Mantel und Hut auf einen Stuhl, ging in Mr. Mabers Privatbüro, setzte sich an den Schreibtisch und sah die Post durch. Schließlich schob sie die Briefe beiseite und telefonierte mit Mr. Stewart. Dann klingelte sie.

 

Mr. Lark, der irrtümlicherweise glaubte, Mr. Maber sei gekommen, stürzte zur Tür herein, um seine Beschwerde vorzubringen. Er brannte darauf, dem Chef sein Herz auszuschütten.

 

Als er Barbara in Mr. Mabers Sessel sah, wäre er beinahe ohnmächtig umgesunken.

 

»Treten Sie näher, Lark, und setzen Sie sich.« Sie zeigte auf einen Stuhl.

 

»Sehen Sie, Miß Storr –« begann er.

 

Sie hob abwehrend die Hand.

 

»Für wann ist die Konferenz angesetzt?«

 

»Die Herren warten schon seit einiger Zeit drüben«, sagte er laut.

 

»Sehr gut.«

 

Sie nahm einen Bleistift, steckte ihn hinters Ohr und verließ das Büro. Mr. Lark folgte ihr in respektvollem Abstand. Er war fest davon überzeugt, daß ihr Eitelkeit, Selbstüberhebung und andere Charaktereigenschaften, die er ihr zuschrieb, vollständig den Kopf verdreht hatten.

 

Im Konferenzzimmer unterhielt sich Julius sehr angelegentlich mit Mr. Atterman und Mr. Minkey, und die drei schienen sehr befriedigt zu sein. Zwei Herren, von denen einer Barbara unbekannt war, verglichen den Text eines aufgesetzten Vertrages. Der grauhaarige Advokat Mr. Mabers nickte Barbara freundlich lächelnd zu, machte aber ein verdutztes Gesicht, als sie sich in dem Sessel am Ende des langen Verhandlungstisches niederließ.

 

Mr. Lark war ihr auf Zehenspitzen gefolgt.

 

»Wo ist Mr. Maber?« ertönte plötzlich eine scharfe Stimme.

 

»Er ist verhindert, zu kommen.«

 

Auf dem Tisch lag ein kleines Buch, in das die Direktoren ihre Namen eintrugen. Barbara tauchte die Feder ein und schrieb in energischen Zügen ihren Namen ein.

 

»Dann werde ich den Vorsitz übernehmen«, erklärte Julius sofort.

 

Er ging auf den geheiligten Sitz des Chefs zu und wartete.

 

Barbara sah nicht einmal auf.

 

»Machen Sie schnell, Miß Storr«, sagte Mr. Atterman ärgerlich. »Wir können nicht den ganzen Tag hier stehen, bis es Ihnen beliebt, sich zu erheben. Außerdem zweifle ich überhaupt daran, daß Ihre Anwesenheit hier erwünscht ist.«

 

»Und ich weiß nicht, ob ich Ihre Anwesenheit hier gutheißen kann, Mr. Atterman.«

 

Sie lehnte sich in dem Sessel zurück und legte die Fingerspitzen zusammen, wie es der berühmte Sherlock Holmes getan haben soll.

 

Mr. Lark blickte ratlos von einem zum andern und schüttelte den Kopf, als ob er die Verantwortung für das eigenartige Benehmen dieses jungen Mädchens nicht übernehmen wollte.

 

Der Rechtsanwalt Mr. Mabers versuchte, Öl auf die hochgehenden Wogen zu gießen.

 

»Meine liebe Miß Storr«, wandte er sich freundlich an sie, »ich glaube, Sie müssen den Platz verlassen. Haben Sie uns denn irgendeine Botschaft von Mr. Maber auszurichten?«

 

»Ja.« Barbara nahm die Vollmacht aus der Tasche und reichte sie ihm. »Das ist seine Botschaft.«

 

Er rückte seine Brille zurecht und las das Schriftstück von Anfang bis zu Ende durch. Den alten, erfahrenen Juristen konnte nichts mehr überraschen, und nachdem er die Urkunde durchgesehen hatte, faltete er sie gelassen wieder zusammen.

 

»Soll ich dieses Dokument aufbewahren?« fragte er.

 

»Ich bitte Sie darum, Mr. Steele.«

 

»Was soll denn das eigentlich alles bedeuten?« rief Julius wütend, der immer noch neben Barbara stand.

 

»Wollen Sie den Vorsitz bei der Verhandlung führen?« wandte sich Mr. Steele wieder an sie. Barbara nickte.

 

»Sie will die Verhandlungen führen? Was fällt Ihnen denn ein?« schrie Julius wild. »Sie ist eine Angestellte, eine Stenotypistin, eine –«

 

Der Rechtsanwalt setzte sich bequem in seinen Stuhl und putzte seine Brille lächelnd. Julius war ihm von jeher unsympathisch gewesen.

 

»Miß Storr ist vollkommen berechtigt, den Vorsitz hier zu führen«, erwiderte er verbindlich. »Nach allem, was ich höre, mögen Sie mit der Tatsache wenig einverstanden sein, aber Miß Barbara Storr hat die Leitung des Geschäftes augenblicklich in der Hand.«

 

Julius sank in den nächsten Sessel.

 

»Sind Sic verrückt?« fragte er heiser. »Die Leitung des Geschäftes? … Was bin ich dann denn eigentlich hier?«

 

»Sie sind der Juniorpartner, Mr. Colesberg«, entgegnete Mr. Steele, »und wenn ich mich nicht sehr irre, steht in Ihrem Vertrag, daß Sie sich nicht in die Angelegenheiten des Seniorchefs oder seines Stellvertreters einzumischen haben. Und Miß Storr ist jetzt die Stellvertreterin Mr. Mabers. Sie zeigte mir eben ihre Generalvollmacht, die Mr. Maber persönlich unterschrieben hat.«

 

Tödliches Schweigen herrschte im Zimmer.

 

Mr. Lark starrte mit offenem Mund auf Barbara. Dann war es also wahr! »Junges Mädchen hat alten Millionär in der Gewalt!«

 

Mr. Atterman faßte sich zuerst wieder, denn es gehörte zu seinen Erfolgsprinzipien, jeder Situation die beste Seite abzugewinnen.

 

»Nun, das ist allerdings eine merkwürdige Sache«, meinte er, »aber ich erkläre Ihnen, meine Damen und Herren, daß ich ebenso bereit bin, mit Miß Storr zu verhandeln wie mit Mr. Maber. Vielleicht ist mir diese Lösung sogar noch lieber, denn die junge Dame besitzt eine Art intuitive Geschäftstüchtigkeit und ist außergewöhnlich intelligent, wenn sie auch vielleicht noch nicht unsere Erfahrung in Organisation und Finanzierung hat. Ich persönlich werde mich jedenfalls freuen, wenn sie ihre Unterschrift unter dieses historische Dokument setzt.«

 

Julius hatte sich noch nicht mit der Lage abgefunden. Er faltete die Hände über der Tischplatte und sah Barbara fassungslos an.

 

»Ich kann doch nicht einfach übergangen werden«, beschwerte er sich, aber Mr. Atterman brachte ihn durch einen scharfen Blick zum Schweigen.

 

Mr. Minkey ergriff nun das Wort.

 

»Der Vorschlag, den wir machen, Miß Storr, ist folgender …« begann er.

 

»Wo ist Mr. Maber denn eigentlich?« fragte Julius wieder aufgeregt dazwischen.

 

»Im Ausland«, erklärte Barbara. »Er mußte unvermutet nach Deutschland fahren.«

 

»Wo hält er sich denn dort auf? Ich schweige nicht, Atterman, das muß ich wissen.«

 

Barbara hatte inzwischen Köln vergessen und suchte rasch in ihrem Gedächtnis nach einer anderen Stadt mit einem Dom.

 

»In Worms«, sagte sie schnell.

 

Mr. Lark fuhr zusammen.

 

»Ist er etwa tot?« fragte er mit hohler Stimme.

 

»Soviel ich weiß, ist er noch sehr lebendig. Also, was wollten Sie sagen, Mr. Minkey?«

 

»Unser Vorschlag geht also dahin«, begann der Direktor aufs neue.

 

»Warten Sie, Minkey«, unterbrach ihn Atterman. »Ich werde der jungen Dame die Lage in ein paar Worten klarmachen. Wir brauchen ja heute keine Verhandlungen mehr zu führen, da die Verkaufsbedingungen längst festgesetzt sind. Es handelt sich nur noch um die formelle Angelegenheit, den Vertrag zu unterzeichnen.«

 

»Das dürfte wohl nicht ganz stimmen«, meinte Mr. Steele.

 

»Natürlich stimmt das nicht«, sagte Barbara verächtlich. »Hören Sie einmal zu, Mr. Atterman. Wenn überhaupt ein Vertrag Zustandekommen sollte, dann nur nach allen Vorschriften des Rechtes. Auf Ihre Machenschaften lasse ich mich nicht ein!«

 

Atterman sah sie bestürzt an.

 

»Nennen Sie das anständig?«

 

»Das nenne ich sowohl anständig wie intelligent!«

 

Mr. Atterman bemühte sich, seine Entrüstung zu verbergen, aber Julius sprang erregt auf.

 

»Ich lasse mir von Ihnen nichts vorschreiben! Was habe ich denn noch hier zu sagen? Soll ich vielleicht ruhig zusehen, wie Sie sich in meine Geschäfte einmischen? Ich habe siebentausend Pfund eingezahlt und dafür ein fünfundzwanzigstel Anteil des Geschäfts gekauft — siebentausend Pfund!« Bei diesen Worten schlug er siebenmal mit der Faust auf den Tisch. »Und wenn dieser Vertrag heute nicht unterschrieben wird, trete ich aus der Firma aus und verlange mein Geld zurück! Das ganze Ding hier geht allmählich in die Binsen. Noch keinen Cent Dividende habe ich bezogen, seit ich hier bin! Wenn Sie tatsächlich eine Generalvollmacht haben, dann lösen Sie gefälligst die Partnerschaft mit mir und schreiben Sie mir einen Scheck aus! Ich will mit einer solchen Firma nichts mehr zu tun haben!«

 

Zu seinem größten Erstaunen wandte sich Barbara an den Rechtsanwalt.

 

»Setzen Sie bitte eine Urkunde darüber auf, Mr. Steele. Ich glaube ja allerdings noch nicht, daß Mr. Colesberg das im Ernst meint –«

 

»Ich meine jedes Wort so, wie ich gesagt habe«, rief Julius außer sich. »Lassen Sie eine Erklärung ausfertigen, daß meine Teilhaberschaft aufgelöst ist, und ich unterzeichne sie sofort!«

 

Barbara nickte dem Rechtsanwalt zu, der mit überraschender Geschwindigkeit einige Zeilen auf das Papier warf und sie Julius hinüberreichte.

 

»Das Scheckbuch, Mr. Lark!« befahl Barbara.

 

Der Mann versuchte schwach, zu protestieren.

 

»Das Scheckbuch!« wiederholte sie energisch.

 

Er erhob sich, verließ widerwillig das Zimmer und kehrte mit dem verlangten zurück, das er vor sie hinlegte. Hoffentlich würde er bald aufwachen und die Ursache für diesen schrecklichen Traum entdecken.

 

Fasziniert beobachtete er, wie Barbara den Scheck über siebentausend Pfund zu Gunsten von Mr. Julius Colesberg oder Überbringer ausschrieb.

 

Der Rechtsanwalt trat zu ihr, prüfte das Formular sorgfältig und übergab es dann Julius. Mit zitternder Hand unterzeichnete Mr. Colesberg das Schriftstück, das die Erklärung seines Austritts aus der Firma enthielt.

 

Kaum eine Stunde nach Ausstellung der Generalvollmacht hatte Mr. Maber schon seinen Teilhaber verloren.

 

Kapitel 3

 

3

 

Barbara verließ allem Anschein nach das Geschäft, um zu Tisch zu gehen. In Wirklichkeit aber wollte sie einen geheimen Auftrag ausführen.

 

Mr. Maber besaß eine kleine, sehr elegante Junggesellenwohnung in der St. James’s Street, die manche Annehmlichkeiten hatte. Zum Beispiel brauchte er keine Dienstboten dort zu unterhalten. Wenn man einmal klingelte, kam der Hauskellner, und man konnte das Essen bestellen, das man wünschte. Drückte man den Knopf zweimal, so erschien der Hausdiener, der Anzüge und Wäsche in Ordnung hielt. Und da Mr. Maber Komfort über alles liebte, hatte er überall in seinen Räumen leicht erreichbare Klingeln anbringen lassen.

 

Barbara öffnete mit dem Schlüssel, den ihr Mr. Maber gegeben hatte, und klingelte nach dem Diener. Der Mann kannte sie, weil sie früher öfter Post für Mr. Maber in die Wohnung gebracht hatte.

 

»Mr. Maber mußte plötzlich nach Deutschland reisen und hat mich gebeten, ihm einige Kleider nachzusenden. Packen Sie also bitte einen Anzug ein, und ein Oberhemd und ein …«

 

»Nur einen Anzug?« Der Diener machte ein bedenkliches Gesicht. »Das ist doch nicht genug!«

 

»Er kann doch nur einen Anzug zu gleicher Zeit tragen!« erwiderte Barbara geduldig.

 

»Aber er kann doch nicht alle Tage den gleichen Anzug tragen! Und Wäsche muß er doch auch zum Wechseln haben –«

 

»Nein, er braucht nur ein Stück von jeder Sorte«, erklärte Barbara verzweifelt, die von Herrenkleidung keine Ahnung hatte. »Er hat gewettet, daß er mit einem Anzug eine Reise um die Welt machen wird.«

 

Dem Diener erschien das äußerst merkwürdig, und er sah sie argwöhnisch an.

 

»Von der Seite habe ich Mr. Maber noch gar nicht kennengelernt«, meinte er zweifelnd.

 

»Bilden Sie sich denn ein, daß Sie ihn von allen Seiten kennen?« fragte Barbara gereizt. »Muß ich Mr. Maber vielleicht nach Deutschland telegraphieren und ihm mitteilen, daß –«

 

»Beruhigen Sie sich nur, ich werde alles wunschgemäß besorgen«, erwiderte er hastig, als Barbara auf die Schlafzimmertür zuging.

 

Endlich war der Koffer fertig gepackt. Sie verließ damit die Wohnung und fuhr zu der Marlborough-Polizeistation.

 

»Ja, er ist noch hier«, sagte der Inspektor, »und entwickelt gerade einen gewaltigen Appetit.« Er nahm ihr den Koffer ab. »Wollen Sie warten, oder soll ich Ihnen die anderen Sachen nachher zuschicken?«

 

»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie sie später ins Geschäft senden würden.«

 

Nachdem sie Mr. Maber nun mit einem Anzug versorgt hatte, in dem er sich in einem Monat wieder unter seinen Mitmenschen sehen lassen konnte, aß sie unterwegs in einem Restaurant und kehrte dann in die Firma zurück.

 

Mr. Julius Colesberg ging nicht zu Tisch. Geistesabwesend und verstört saß er in seinem Büro. Der Scheck über siebentausend Pfund lag vor ihm. Immer noch mußte Julius an den entsetzlichen Augenblick denken, als sich Barbara erhoben und die Sitzung geschlossen hatte. Er besann sich auch noch deutlich darauf, daß sie beim Verlassen des Konferenzzimmers ein Stück Papier vom Boden aufgenommen hatte. Barbara liebte Ordnung über alles.

 

Ebenso erinnerte er sich noch an Mr. Larks verzerrtes Lächeln und an die drohenden Worte, mit denen Mr. Atterman und sein Direktor gegangen waren.

 

Er schrak zusammen, als seine Sekretärin klopfte und gleich darauf eintrat.

 

»Was wollen Sie denn?« fuhr er sie an.

 

»Sie sagten mir doch heute morgen, daß Sie mir später Briefe diktieren wollten.«

 

»Ich diktiere keine Briefe mehr«, erwiderte Mr. Colesberg wütend. »Meinetwegen mag das Geschäft gehen, wie es will, ich kümmere mich nicht mehr darum. Es hat ja doch alles keinen Zweck. Ich gehöre nicht mehr zur Firma — Sie übrigens auch nicht. Sie sind entlassen!«

 

»Weshalb denn?« fragte sie entrüstet. »Sie können mich doch nicht einfach entlassen, ohne mir vorher zu kündigen!«

 

»Gehen Sie nur hinüber und lassen Sie sich von ihr kündigen, wenn Sie so großen Wert darauf legen«, sagte Julius höhnisch und zeigte mit dem Kopf zum Büro seines Seniorpartners.

 

»Zu Miß Storr?«

 

Unkontrollierbare Gerüchte zirkulierten im Hause der Firma Maber & Maber. Der Chef sollte Barbara heimlich geheiratet und ihr das Geschäft als Hochzeitsgeschenk übergeben haben. Einige Verkäuferinnen in der Wäscheabteilung wollten sogar den Hochzeitskuchen gesehen haben. Andere erzählten sich, Mr. Maber schäme sich so sehr über diese gesellschaftliche Entgleisung, daß er sich nicht wieder im Büro zeigen wolle. Wieder andere glaubten der Version, daß sich die Jungvermählten an der Kirchentür wieder getrennt hätten, da Mr. Maber seine voreilige Handlungsweise bereut habe. Mit einer schwarzen Hornbrille, wie sie Mr. Atterman trug, sollte er nach Deutschland entflohen sein.

 

Julius stützte den Kopf in die Hand und dachte verzweifelt und angestrengt darüber nach, was nun werden sollte. Vorschnell und unüberlegt hatte er eine gute Stellung aufgegeben. Wenn er auch noch keine Dividende erhalten hatte, bezog er doch ein glänzendes Gehalt. Er bekam viermal mehr, als wenn er das Geld auf Zinsen angelegt hätte.

 

*

 

Alan Stewart ging mit schnellen Schritten durch die Verkaufsräume, eilte die Treppe hinauf und trat ohne große Anmeldezeremonie bei Barbara ein.

 

»Sie sind doch wirklich ein Prachtmädel!« begrüßte er sie. »Ist es denn tatsächlich wahr, daß Sie die Leitung des Geschäfts haben?«

 

»Ich habe Sie herbestellt, um mit Ihnen die nötige Reklame zu besprechen.«

 

»Ja. Ich empfehle Ihnen, sofort eine ganzseitige Anzeige im ›Daily Megaphone‹ aufzugeben. Die erste Seite ist zufällig gerade frei. Haben Sie schon einen Text aufgesetzt?«

 

»Ja, hier.«

 

Mehrere Konzepte lagen auf dem Schreibtisch herum.

 

»Was, Sie wollen eine ›Billige Woche‹ veranstalten? Das ist ja bis jetzt in der Geschichte der Firma Maber & Maber überhaupt noch nicht vorgekommen!«

 

»Nun, dann machen wir eben jetzt den Anfang damit«, erklärte sie kurz. »Ich habe mir die Lagerbücher aller Abteilungen kommen lassen. Mit den alten Ladenhütern und dem unnötigen Ballast muß endlich einmal aufgeräumt werden. Würden Sie wohl den Text einmal für mich durchsehen? Ich habe darin noch zu wenig Übung. Vor allem fehlen noch ein paar zugkräftige Worte.«

 

Er las eins der Manuskripte durch und machte einige Korrekturen.

 

»Das ist ja alles ganz gut und schön«, meinte er dann. »Aber Sie können doch einen solchen Plan nicht innerhalb vierundzwanzig Stunden durchführen, mein liebes Kind!«

 

»Ich bin kein Kind. Nehmen Sie sich mit Ihren Ausdrücken ein wenig in acht, sonst muß ich mir einen anderen Berater für Reklameangelegenheiten kommen lassen. Und ich möchte Ihnen auch den Rat geben, sich lieber kein Urteil über meine Fähigkeiten anzumaßen. Noch vor Ablauf einer Woche werden Sie nichts mehr von den alten Beständen in diesem Hause finden.«

 

Alan Stewart sah auf die Annonce, dann auf Barbara, legte die Stirne in Falten und äußerte dann neue Zweifel und Einwände.

 

»Die Zeit für Ausverkäufe ist doch schon zu Ende — haben Sie daran auch gedacht?«

 

»Unsere Besprechung ist jetzt auch zu Ende«, sagte sie und zeigte mit der Hand zur Tür.

 

Als er durch die Geschäftsräume dem Ausgang zuschritt, kam ihm erst zum Bewußtsein, daß er Barbara doch vor allem nach einer Erklärung für diese revolutionierende Umstellung des ganzen Betriebes hatte fragen wollen.

 

Kaum war Alan Stewart gegangen, so erschien Mr. Lark im Büro des Chefs. Er wandelte noch immer wie im Traum umher und konnte die Wirklichkeit nicht fassen.

 

»Ich gebe Ihnen Ihren Posten als Einkäufer vorläufig wieder zurück«, erklärte Barbara ruhig, »weil ich zur Zeit keinen anderen Herrn zur Verfügung habe. Beschaffen Sie sich sofort einen Katalog von Atterman und bringen Sie heraus, was von den Artikeln am besten geht. Und dann setzen Sie sich mit den Grossisten in Verbindung und bestellen Sie von diesen Waren, soviel die Leute davon auf Lager haben. Alles wird nachher zu dem billigsten Einkaufspreis ausgezeichnet. Beeilen Sie sich doch, wir haben keine Sekunde Zeit zu verlieren!«

 

Wenige Minuten später erschienen sämtliche Abteilungsleiter bei ihr, und sie hielt ihnen eine kurze, aber sehr energische Ansprache.

 

»Die Firma ist jetzt aus einem mehr als hundertjährigen Schlaf erwacht. Morgen vormittag um elf Uhr beginnt unsere ›Billige Woche‹. Engagieren Sie genügend Personal, um dem Andrang des Publikums gewachsen zu sein.«

 

Sie wandte sich an den Lagerverwalter.

 

»Bei dem neuen Kurs werden Sie wahrscheinlich kein Nachmittagsschläfchen mehr halten können. Alle Lagerbestände müssen in die Verkaufsräume gebracht und auf den Tischen verteilt werden. Die Preisgestaltung werde ich nachher noch im Einzelnen mit Ihnen besprechen.«

 

Jemand wagte die schüchterne Bemerkung, daß Überstunden eingelegt werden müßten, wenn diese Aufträge erledigt werden sollten.

 

»Dann arbeiten wir eben einmal die ganze Nacht durch! Ich werde selbst alles leiten«, erwiderte Barbara und schickte einen Boten zu Myrtle, der eine Schlafdecke holen sollte.

 

Sie war gerade mit einem Lagerbuch beschäftigt, als Julius hereinkam. Er sah blaß aus, schien jetzt aber wieder vollkommen von dem Wert seiner Persönlichkeit überzeugt zu sein.

 

Barbara schaute auf.

 

»Ich muß doch tatsächlich einen Klopfer an der Tür anbringen lassen«, sagte sie scharf. »Was suchen Sie eigentlich noch hier in unserer modernen Firma?«

 

»Ich habe mich entschlossen, nicht aus dem Geschäft auszutreten.«

 

Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und lachte höflich.

 

»Ich gehe jedenfalls nicht«, fuhr Julius verbissen fort, »bevor ich weiß, was mit Mr. Maber passiert ist. Und wenn Sie darauf bestehen, werde ich einem befreundeten Zeitungsmann die ganze Geschichte mitteilen.«

 

»Vielleicht sehen Sie sich das einmal an.«

 

Sie öffnete eine Schublade, nahm ein Stück Papier heraus und hielt es so, daß er darauf schauen konnte. Auf dem Blatt standen drei Zeilen, die zweifellos von Mr. Colesberg geschrieben waren.

 

»Gehen Sie höchstens bis zu hundertzehntausend Pfund. Der Bestand hat einen Wert von dreißigtausend. Bieten Sie keinen Cent mehr!«

 

»Dies dürfte doch wohl ein Vertrauensbruch sein, Mr. Julius Colesberg!«

 

»Das war eine rein persönliche Notiz«, protestierte er lebhaft.

 

Sie legte den Zettel in die Schublade zurück und schloß sie ostentativ ab.

 

»Wenn Sie schon einen Reporter in Bewegung setzen, schicken Sie ihn doch bitte auch zu mir. Ich kann ihm noch ein paar interessante Einzelheiten zu Ihrer Geschichte erzählen. Er wird sicher staunen, und die Wirkung auf das Publikum ist wahrscheinlich auch ausgezeichnet, wenn unsere großen Annoncen noch durch sensationelle Enthüllungen unterstützt werden.«

 

»Sie wollen doch nicht annoncieren?« rief Julius.

 

»Ich lehne es ab, geschäftliche Details mit einem Angehörigen der Gegenpartei zu besprechen.«

 

»Schön — aber auf keinen Fall gehe ich!« schrie er empört. »Ich bleibe hier, bis Mr. Maber zurückkommt, und ich gestatte Ihnen nicht, mich aus der Firma zu entfernen. Wo ist Mr. Maber?«

 

»In Köln.«

 

»Vorhin sagten Sie Worms. Jetzt ist es auf einmal Köln. Wissen Sie, diese Sache kommt mir mehr als verdächtig vor. Aber ich werde die Wahrheit schon herausbringen, verlassen Sie sich darauf. Sie sollen –«

 

Ein Klopfen unterbrach ihn.

 

Der kleine Page steckte den Kopf zur Tür herein und machte Barbara geheimnisvolle Zeichen.

 

Sie erhob sich erstaunt, und als sie hinaustrat, stand sie dem großen, hageren Polizisten gegenüber. Er brachte den Koffer, in dem Mr. Mabers Frack und andere Kleidungsstücke ruhten.

 

»Der Inspektor hat alles in Ordnung gebracht. Ich melde mich zur Stelle.«

 

Sie atmete erleichtert auf.

 

»Treten Sie schon jetzt Ihren Dienst an?«

 

Er nickte.

 

»Dann lassen Sie den Koffer einmal hier stehen und kommen Sie mit mir.«

 

Julius starrte den großen Mann bestürzt an und sah dann etwas ängstlich zu Barbara hinüber.

 

»Was — was — was –?« stotterte er.

 

»Bitte, führen Sie diesen Herrn auf die Straße«, wandte sie sich an den Beamten.

 

Der Polizist schaute sie eine Sekunde lang verblüfft an, öffnete dann aber die Tür und zeigte mit dem Daumen auf den Gang hinaus.

 

»Er kann sich seinen Hut aus dem Büro holen, sonst erkältet er sich am Ende noch«, sagte Barbara gnädig.

 

Julius wankte als gebrochener Mann hinaus …

 

*

 

Der Polizist führte den Namen A. Sturman. Barbara dachte unwillkürlich an »Arthur«, aber er klärte sie darüber auf, daß er »Albuera« hieß. Er erzählte ihr auch, daß er noch ledig sei und bei einer verheirateten Kusine wohne; daß er jeden Tag seine Beförderung erwarte und schon einmal mit dem Prinzen von Wales gesprochen habe; daß er vielseitige Interessen habe, und daß alle Mitglieder seiner Familie ein hohes Alter erreicht hätten.

 

Nach der ersten längeren Unterhaltung mit ihm hätte Barbara seine Lebensgeschichte schreiben können.

 

Bei der Firma Maber & Maber herrschte inzwischen fieberhafte Tätigkeit. Alles drehte sich, alles bewegte sich. Geschäftig eilten die Angestellten hin und her. Obwohl Barbara nicht aktiv an diesen Vorbereitungen teilnahm, sondern in ihrem Büro die Organisation ausarbeitete, fühlte sie doch die nervöse Spannung.

 

Mr. Lark war plötzlich äußerst lebendig und tatkräftig geworden, und seine Stenotypistin wußte nicht, wo ihr der Kopf stand. Sie war bereits am Ende ihrer Kraft angekommen und den Tränen nahe, denn sie mußte Briefe an die unglaublichsten Leute schreiben. Alle Orders sollten sofort ausgeführt und die Waren auf dem schnellsten Wege geliefert werden.

 

Die schönen Verkäuferinnen hatten nun keine Zeit mehr, sich in den Spiegeln zu betrachten und die Augenbrauen nachzuziehen. Auch sie waren in den Strudel allgemeinen Geschehens gerissen worden und mußten helfen, wo es notwendig war.

 

Als Barbara die Nachmittagspost sortierte, fand sie darunter auch einen Brief an Mr. Maber mit der Aufschrift »Sehr dringend. Privat.« Er war außerdem durch einen besonderen Boten gebracht worden. Sie zögerte ein wenig, den Umschlag zu öffnen, denn die Adresse war von einer Frauenhand geschrieben. Dann lächelte sie leicht. Armer Mr. Maber!

 

Leute wie er waren die geborenen Junggesellen, die nur die Annehmlichkeiten des Lebens kennenlernten, in prachtvoll ausgestatteten Wohnungen lebten und es sich gut gehen ließen. Sie hatten nichts zu bedauern und zu bereuen, betrachteten sich das sogenannte »Familienglück« aus der Ferne und erfreuten sich ihrer sorgenlosen Einsamkeit.

 

Sie sah den Brief verschmitzt an. Wahrscheinlich kam er von einer Dame, die eine Rente von Mr. Maber bezog. Es mußte eine ganze Anzahl solcher Frauen geben — sie selbst hatte schon mehrere entdeckt. Mr. Maber war gewöhnlich sehr schweigsam und unnahbar, wenn er Briefe erhielt, die den Vermerk »Persönlich« oder »Privat« trugen. Ein einziges Mal war er bis jetzt wirklich ärgerlich über sie geworden, und zwar weil sie einen solchen Privatbrief einmal geöffnet und daraus erfahren hatte, daß er die Familie eines Gärtners unterstützte.

 

Aber dieses Schreiben konnte doch nicht unbeantwortet bleiben. Sie brach mit einer langen Gewohnheit, schnitt den Umschlag auf und nahm den Bogen heraus. Ein intensiver Duft von Chypre schlug ihr entgegen, als sie das Blatt entfaltete.

 

Schon als sie die erste Zeile gelesen hatte, tanzten die Buchstaben vor ihren Augen.

 

»Mein teurer, einzig geliebter Gatte –«

 

Der Raum drehte sich plötzlich um Barbara, und sie mußte sich am Tisch festhalten. Als sie sich wieder etwas gefaßt hatte, betrachtete sie die Adresse noch einmal genau:

 

»W. E. Maber, Esq., Maber & Maber.«

 

Ein Irrtum war vollkommen ausgeschlossen.

 

»Mein teurer, einzig geliebter Gatte«, las Barbara langsam, »warum hast du mich am Sonntag nicht angerufen? Wir hatten einen so herrlichen Braten zum Abendessen. Wann kann ich dich denn wiedersehen, Liebling? Ich zähle die Stunden, die ich von dir getrennt zubringe! Und ich bin auch so knapp an Geld, Schatz. Du wolltest mir doch bestimmt am Sonnabend fünfhundert Pfund schicken. Behandelt man so seine Frau? Ach, als ich in diese heimliche Heirat einwilligte und versprach, daß ich nicht einmal meinen nächsten Freunden etwas davon sagen wollte, ahnte ich nicht, daß du mich so viel allein lassen würdest. Ich beschwöre dich: Verlaß mich nicht!

 

Immer Deine Margaret Maber.«

 

»Um Himmels willen!« stöhnte Barbara und legte das Blatt atemlos auf den Schreibtisch.

 

Kapitel 4

 

4

 

Mr. Maber war also verheiratet! Der Mann führte ein Doppelleben, während ihn ganz Ilchester, ja die ganze Welt für einen Junggesellen hielt!

 

Barbara las die Zeilen noch einmal durch. Die Handschrift war gerade nicht erstklassig, noch weniger der Stil. Die Frau brachte es fertig, nach der Versicherung ihrer heißesten Liebe von den Trivialitäten des Lebens und von Geld zu sprechen.

 

Der Brief war auf gewöhnliches Papier geschrieben. Oben stand die Adresse »Hollyoak, Mantilla Road, Streatham«. Barbara erinnerte sich an die Straße, die in der Nähe der Landesirrenanstalt lag.

 

Sie überlegte, woher sie diese Gegend überhaupt kannte, und nach einer Weile fiel ihr ein, daß Mr. Maber früher einmal ein ihrer Meinung nach kindliches Vergnügen daran gefunden hatte, die Ankunft und den Aufstieg der London-Pariser Flugzeuge zu beobachten. Zu diesen Exkursionen hatte er sie häufig in seinem Wagen mitgenommen, und damals war ihr auch immer das Straßenschild »Mantilla Road« aufgefallen. Es war so ungewöhnlich groß, daß man es nicht übersehen konnte.

 

»Ich glaube, ich werde noch verrückt!«

 

Barbara stand auf und schüttelte sich. Aber der Brief löste sich nicht etwa in Dunst und Nebel auf er lag immer noch auf dem Schreibtisch. Mit dieser Tatsache mußte sie sich also auf irgendeine Weise abfinden. Mr. Maber war verheiratet … hatte eine Frau … wahrscheinlich auch Kinder … sonst hätte es doch sicher am Sonntagabend eine andere Delikatesse gegeben …

 

Es klopfte leise an der Tür. Polizist Albuera brachte den Koffer mit den Kleidern Mr. Mabers herein.

 

»Wohin soll ich ihn stellen, Miß?«

 

Sie sah ihn hilflos an. Sollte sie den Koffer nicht am besten nach der Mantilla Road schicken? Mit einem kurzen Begleitschreiben: »Sehr geehrte gnädige Frau, beifolgend übersende ich Ihnen Beinkleider, Frack und Oberhemd Ihres Herrn Gemahls. Bitte bestätigen Sie den Empfang.«

 

»Stellen Sie ihn — stellen Sie ihn in den Safe!«

 

»Glauben Sie, daß er durch das Schlüsselloch geht?« fragte Albuera, der Sinn für Humor besaß.

 

Sie schloß den großen Geldschrank auf, schob den Koffer weit nach hinten und schlug die Tür ärgerlich zu.

 

»Ich habe den Burschen an die frische Luft gesetzt«, sagte er. »Ich glaube, der war nicht mehr ganz richtig im Kopf. Er hat dauernd verrücktes Zeug geschwätzt. Haben Sie sonst noch einen Auftrag für mich, Miß?«

 

»Rufen Sie Mr. Gringer, den Chef der Seidenabteilung«, erwiderte sie rasch. Sie dachte im Augenblick nicht daran, welch einen Aufruhr das Erscheinen eines Polizeibeamten in den Geschäftsräumen hervorrufen mußte.

 

Nach einigen Minuten kehrte Albuera dann auch mit einem älteren Herrn zurück, der bleich war wie der Tod. Dreiundvierzig Jahre lang stand Mr. Gringer in den Diensten der Firma Maber & Maber, aber noch niemals war er von einem Polizisten zum Chef gebracht worden. Mit wankenden Schritten trat er ein und konnte sich nur noch mühsam aufrechthalten.

 

»Es ist doch seit jeher Gewohnheitsrecht in der Firma«, begann er mit hoher, zitternder Stimme, »daß der Chef einer Abteilung für seinen eigenen Gebrauch Waren zum Einkaufspreis beziehen kann. Die drei Seidenkleider, die ich am vergangenen Sonnabend für meine Schwiegertochter erstanden habe, sind auf mein Konto eingetragen. Ich habe das Buch hier –«

 

»Es ist gut, Mr. Sturman«, sagte Barbara zu dem Beamten.

 

Albuera verließ das Zimmer leise, faßte aber vor der Tür Posten, um für alle Fälle bereit zu sein.

 

»Nehmen Sie bitte Platz, Mr. Gringer! Sie kennen Mr. Maber doch seit vielen Jahren?«

 

»Jawohl, und er hat niemals den geringsten Einwand erhoben, wenn ich für meinen eigenen Bedarf Waren zum Einkaufspreis bezogen habe. Und die weiße Seidenweste, die ich vor vierzehn Tagen entnahm, hatte in der Auslage etwas gelitten. Ich habe sie deshalb meiner Direktrice gezeigt, und wir haben dann gemeinsam den Preis auf acht Schilling heruntergesetzt –«

 

»Darum handelt es sich ja gar nicht«, beruhigte ihn Barbara, »das ist alles in Ordnung.«

 

Es dauerte einige Zeit, bis sich Mr. Gringer darüber klar wurde, daß keine Anklage gegen ihn schwebte, und daß man ihn nicht für den Rest seines Lebens in eine dumpfe, unterirdische Zelle in Dartmoor einsperren wollte.

 

»Ja, Miß Storr, ich kenne ihn seit dreiunddreißig Jahren«, sagte er, als er sich wieder von seinem Schrecken erholt hatte.

 

»Auf die Anzahl der Jahre kommt es nicht so genau an«, unterbrach sie ihn. »Waren Sie einmal in seinem Haus in Ilchester?«

 

»Ja, vier Tage lang war ich einmal sein Gast in dieser schönen Stadt.«

 

»Na, Sie scheinen ja nicht viel von den ›Schönheiten‹ gesehen zu haben«, meinte Barbara ironisch. »Wie lange ist Mr. Maber eigentlich schon Junggeselle — ich meine, Mr. Maber war doch Zeit seines Lebens Junggeselle?«

 

»Ja«, entgegnete Mr. Gringer erstaunt, fügte dann aber vorsichtig hinzu: »Wenigstens, soweit mir bekannt ist. Mr. Maber hat mich niemals in seine Geheimnisse eingeweiht oder mir seine Privatangelegenheiten anvertraut. Aber ich könnte mir nicht denken, daß er vorher schon verheiratet gewesen wäre.«

 

»Was heißt das — vorher?«

 

Barbara sah ihn verwirrt an.

 

Mr. Gringer wurde rot und räusperte sich.

 

»Man spricht über eine Geschichte — und ich hoffe, daß sie wahr ist –« begann er.

 

Barbara warf ihm aber einen so scharfen Blick zu, daß er verstummte. Auch zu ihr war dieses Gerücht gedrungen, und taktvoll verfolgte sie das Thema nicht weiter, das den armen Mann vor ihr in solche Verlegenheit brachte.

 

Mr. Gringer wußte nur wenig von dem Privatleben seines Chefs, das war ihr jetzt klar. Sie kam deshalb auf den bevorstehenden Ausverkauf während der »Billigen Woche« zu sprechen, und sobald es anging, schickte sie ihn wieder fort.

 

Alle waren erstaunt, daß er als freier Mann zurückkehrte. Die Verkäuferinnen waren bei dem Erscheinen des Polizisten bleich geworden, und wie ein Lauffeuer ging die Nachricht durch alle Abteilungen, daß der arme Mr. Gringer in Barbaras Büro durchsucht worden wäre, und daß man in seinen Taschen fehlende Kassenbestände gefunden hätte.

 

Barbara überlegte angestrengt, wer ihr wohl Aufklärung geben könnte.

 

Vielleicht Julius? Es tat ihr nun fast leid, daß sie ihn auf die Straße hatte werfen lassen. Ihre Gedanken hatten anscheinend telepathische Wirkung, denn das Telefon läutete gerade, als sie darüber nachdachte, wie sie sich wohl am besten mit Colesberg in Verbindung setzen könnte. Als sie den Hörer abhob, meldete er sich überraschenderweise mit höflicher Stimme und entschuldigte sich.

 

»Ich muß gestehen, daß ich mich sehr albern benommen habe«; begann er. »Können Sie mir verzeihen? Ich gäbe viel darum, wenn wir wieder Freunde wären wie früher. Sie wollen dem Alten doch auch nicht schaden?«

 

»Warum nennen Sie ihn denn den Alten?« fragte sie schnell, denn es kam ihr plötzlich ein schrecklicher, wahnwitziger Gedanke.

 

»Nun, ich betrachte ihn mehr oder weniger als Vater oder als väterlichen Freund. Ich wollte durchaus nicht respektlos von ihm sprechen, wenn Sie das vielleicht meinen sollten.«

 

Barbara wurde jetzt mit einem Schlage alles klar.

 

»Ist Colesberg Ihr wirklicher Name?«

 

Es kam keine Antwort, und sie mußte ihre Frage wiederholen.

 

»Wer hat denn über mich gesprochen?« erkundigte er sich schließlich argwöhnisch. »Ich wünschte, Sie würden sich nicht immer um Dinge kümmern, die Sie nichts angehen!«

 

Er hatte nämlich den Namen Colesberg erst während des Krieges angenommen. Aber es wußten nur wenig Leute, daß er früher Königsberger hieß. Und Mr. Maber gehörte sicher nicht zu ihnen, da der Namenswechsel schon vollzogen war, bevor Julius in dessen Firma eintrat.

 

»Jedenfalls heiße ich jetzt so«, erklärte er barsch.

 

Barbara glaubte bestimmt, noch eine andere leise und warnende Stimme durch das Telefon zu hören, und Mr. Colesberg wurde auch gleich darauf wieder sehr liebenswürdig.

 

»Sie brauchen doch bei Ihrer ›Billigen Woche‹ sicher Hilfe. Vielleicht wäre es im Augenblick besser, wenn wir die Frage, ob ich Partner des Geschäftes bleibe oder nicht, vorläufig unerörtert lassen. Ich würde dann, wenn Sie es mir gestatten, wieder zu Ihnen hinüberkommen und Sie in diesen aufregenden Tagen unterstützen.«

 

»Was meinen Sie denn mit ›hinüberkommen‹? Sprechen Sie etwa von Atterman aus?«

 

»Nein — wie können Sie denn glauben!« entgegnete er übermäßig laut.

 

Sie überlegte eine Sekunde.

 

»Gut, kommen Sie«, beendete sie dann das Gespräch.

 

Das war also die schreckliche Wahrheit! Er hieß in Wirklichkeit gar nicht Colesberg! Damit war die Anwesenheit dieses unmöglichen jungen Mannes in der Firma allerdings vollkommen aufgeklärt. Julius Colesberg war Mr. Mabers Sohn!

 

Diese plötzliche Entdeckung lähmte Barbara beinahe. Mit gefalteten Händen saß sie am Schreibtisch und dachte über die Doppelrolle nach, die der alte Maber gespielt hatte. Sie hatte ja auch schon manchen Roman gelesen, in dem sich ein freundlicher, älterer Herr, den kein Mensch in Verdacht hatte, schließlich als der Schuft und heimtückische Mörder entpuppte.

 

Barbara seufzte schwer. Sie hatte fast das Gefühl, daß sie etwas verloren hätte, seitdem sie von diesem sonderbaren Doppelleben Mr. Mabers wußte. Und doch konnte er nicht glücklich verheiratet sein. Er hatte niemals gut von Julius gesprochen, und als er in Schwierigkeiten geriet, hatte er sich nicht seiner Frau anvertraut, sondern sich an sie gewandt.

 

Ab und zu ertönten seltsame Geräusche vom Gang her, aber sie achtete nicht darauf, bis plötzlich Polizist Albuera mit hochrotem Gesicht vor ihr stand.

 

»Ich habe den verrückten Kerl von vorhin schon dreimal die Treppe hinuntergeworfen, aber er behauptet immer noch, Sie wollten ihn sprechen«, erklärte er.

 

»Wen haben Sie die Treppe hinuntergeworfen?« fragte sie verstört.

 

»Den Kerl mit dem gelben Gesicht, den ich vorhin auf die Straße gesetzt habe.«

 

»Großer Gott!« Barbara erinnerte sich plötzlich wieder an Mr. Colesberg. »Lassen Sie ihn bitte sofort hereinkommen.«

 

Mr. Julius, durch den Kampf mit dem Polizisten traurig zugerichtet, trat ein und ließ seiner Empörung über eine derartige Behandlung freien Lauf.

 

»Ich will die Nummer dieses Mannes wissen«, rief er erregt. »Ich schreibe sofort an den Polizeipräsidenten — er ist ein persönlicher Freund von mir –«

 

»Nehmen Sie doch bitte Platz, Mr. Colesberg. Es war ein unglückliches Mißverständnis, an dem ich allein schuld bin. Ich vergaß, den Polizisten von der veränderten Lage zu verständigen.«

 

Als Mr. Julius sich gesetzt hatte, sah sie ihn durchdringend und forschend an, aber sie konnte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Mr. Maber entdecken. Wahrscheinlich glich er mehr seiner Mutter.

 

»Sie können jetzt wieder in Ihr Büro gehen«, sagte sie freundlich.

 

Sie glaubte, daß die Generalvollmacht ihr auch die Pflicht aufgebürdet hätte, Vaterstelle an ihm zu vertreten.

 

»Sie werden wieder mit Ihrem alten Gehalt eingestellt, aber die Frage Ihrer Teilhaberschaft kann erst erörtert werden, wenn Mr. Maber aus Rom zurückgekehrt ist.«

 

»Ach, ist er jetzt nach Rom gefahren?« fragte er verwirrt.

 

»Alle Wege führen nach Rom«, erwiderte Barbara nachsichtig.

 

*

 

Zu der Zeit, in der gewöhnlich das Geschäft geschlossen wurde, kam Mr. Lark von einer wilden Fahrt zurück. Die Revolution in der Leitung der Firma hatte auch seinen Charakter und sein Verhalten vollkommen verändert. Früher hatte er eingehend und in aller Ruhe kalkuliert und hatte sich dabei mit den Reisenden nach Herzenslust unterhalten, aber unter dem Druck der Verhältnisse hatte er sich in eine Persönlichkeit voll Energie und Tatkraft verwandelt. Ob das Vorbild Mr. Minkeys solche Wunder wirkte, den er wegen seiner Tüchtigkeit heimlich beneidete, oder ob dieser plötzliche Willensausbruch auf Barbara Storrs Einfluß zurückzuführen war, ist schwer zu entscheiden. Jedenfalls kam Mr. Lark, der am Morgen etwas ängstlich und zaghaft ausgezogen war, am Abend selbstbewußt und siegessicher zurück. Und wenn man ihn auch noch nicht gerade als General bezeichnen konnte, so hatte er es doch wenigstens zum Feldwebelleutnant in seiner Branche gebracht.

 

Als er bei Barbara erschien, funkelte er förmlich vor Unternehmungslust.

 

»Ich war bei Green & Sterling und habe ihre ganzen Bestände an Damenwäsche aufgekauft«, begann er strahlend und zählte dann eifrig die einzelnen Kategorien auf. »Außerdem war ich bei Marks & Pearce und hatte gerade das Lager zu festem Preis übernommen, als Mr. Minkey erschien. Der Chef dort sagte zu mir — entschuldigen Sie, daß ich darüber spreche, aber es interessiert Sie vielleicht auch — ›Mr. Lark, ich habe schon viele tüchtige Geschäftsleute gesehen, aber Sie sind der tüchtigste!‹«

 

Barbara hatte befriedigt zugehört.

 

»Möglich, daß er recht hat«, meinte sie. »Bis dahin haben Sie Ihre Sache ja ganz gut gemacht — aber wann kommen denn nun die Waren an? Am nächsten Freitag etwa?«

 

»Sie sind –« er zog die Uhr — »um sieben hier.« Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Eifer. »Ich habe besondere Lastautos zur Beförderung gemietet und keine Kosten gespart. Und dann war ich auch noch beim alten Gordon Coke. Das ist eine ganz wichtige Sache, Miß Storr. Er hat nämlich eine große Sendung Pariser Modelle für Atterman erhalten. Da es aber nicht ganz die gewünschten Farben waren, hat Atterman sie ihm zurückgeschickt, um den Preis zu drücken. Diese Modelle habe ich natürlich sofort für Maber gesichert.«

 

Mr. Lark lehnte sich mit geschlossenen Augen in seinem Sessel zurück, und Barbara sah sich unwillkürlich nach einem Heiligenschein für ihn um.

 

»Ich muß Sie loben. Sie haben Ihre Sache gut gemacht.«

 

»Ja, ich glaube es auch beinahe. Unterwegs habe ich übrigens noch bei einem Dekorationsmaler vorgesprochen. Er hat mir zugesagt, daß er heute nacht noch die nötigen Schilder liefern will. Und bei einem Drucker habe ich Plakate bestellt. Wie wäre es denn eigentlich mit einer Kapelle für morgen, Miß Storr?«

 

Sie sahen sich beide begeistert an, aber zu gleicher Zeit hatten sie auch dieselbe Befürchtung.

 

»Denken Sie nicht, daß das etwas gewagt wäre?« fragte sie. »Wir sind doch immerhin in der Marlborough Avenue …«

 

»Atterman drüben hat doch auch eine Kapelle, sogar eine Jazzband, wenn Sie wollen.«

 

»Maudie«, sagte Barbara in Gedanken vor sich hin.

 

Mr. Lark begriff nicht, was das bedeuten sollte, und lächelte deshalb verbindlich.

 

»Schon gut, ich werde alles Nötige veranlassen«, erklärte Barbara plötzlich und langte nach dem Telefonhörer. »Gehen Sie jetzt hinunter, trommeln Sie die Abteilungsleiter zusammen und essen Sie mit ihnen in einem guten Lokal zu Abend.«

 

Mr. Larks Ehrgeiz stieg mehr und mehr, und der Mann wurde kühn.

 

»Sie könnten mich eigentlich zum Direktor machen«, schlug er vor, und seine Stimme klang sehr sicher.

 

»Schön, ich will es mit Ihnen probieren«, erwiderte sie sofort. »Übrigens habe ich Mr. Colesberg zurückgeholt — er ist wieder in seinem Büro. Es geschah aus gewissen — Familienrücksichten.«

 

Sie senkte den Blick.

 

Mr. Lark nickte ernst.

 

»Verstehe vollkommen«, entgegnete er, obgleich er in Wirklichkeit keine Ahnung hatte, was sie damit ausdrücken wollte.

 

*

 

Mr. Attermans Privatbüro lag im fünften Stockwerk seines palastähnlichen Gebäudes. Von dort aus konnte er nicht nur die Straße, sondern auch Barbaras Zimmer übersehen, dessen Fenster durch grüne Seidengardinen halb verdeckt waren. Schweigend stand er neben seinem Direktor und starrte auf die Straße hinunter, wo gerade große Plakate an den Schaufenstern der Firma Maber & Maber angebracht wurden.

 

»Wirklich ein witziger Einfall«, meinte er schließlich. »Na, sie wird die Karre ja ordentlich in den Dreck fahren, und wenn der Alte zurückkommt, ist die Firma pleite. Kann uns ja eigentlich nichts angenehmer sein.«

 

Aber trotz dieser zuversichtlich klingenden Äußerung fühlte sich Mr. Atterman nicht besonders wohl. Die Nachrichten, die er von Minkey erhalten hatte, beunruhigten ihn doch mehr, als er sich eingestehen wollte.

 

»Wenn Sie auch nur den Verstand einer Gans besäßen«, wandte er sich plötzlich ärgerlich an Minkey, »so hätten Sie sich nicht überall die Bestände vor der Nase wegkaufen lassen! Die Sache da drüben muß jetzt aufhören, koste es, was es wolle. Kaufen Sie alle Bestände auf, so daß Mabers für einen Monat keine Ware mehr auftreiben können. Und holen Sie vor allem die Pariser Modelle von Gordon Coke zurück!«

 

»Das geht leider nicht mehr«, erwiderte Mr. Minkey niedergedrückt, »die hat sie auch schon alle gekauft.«

 

Er bekam daraufhin Worte und Dinge von seinem Chef zu hören, die er bis dahin noch nicht vernommen hatte. Mr. Atterman nahm in solchen Fällen kein Blatt vor den Mund, und es hagelte Rügen und Vorwürfe.

 

»Machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen«, schloß er seine Rede atemlos, »und retten Sie wenigstens, was noch zu retten ist. Wenn die Geschäfte schon geschlossen sind, suchen Sie die Grossisten in ihren Privatwohnungen auf. Schließen Sie Optionsverträge mit ihnen, und sehen Sie zu, was sonst möglich ist. Aber vor allem sorgen Sie dafür, daß Mabers keine Ware mehr einkaufen können!«

 

»Was macht denn eigentlich Colesberg?« fragte der Direktor vorwurfsvoll.

 

»Das geht Sie nichts an«, sagte Mr. Atterman scharf. »Jedenfalls fühle ich mich wohler, seitdem ich weiß, daß er wieder drüben ist.«

 

Seine Sekretärin erschien und flüsterte ihm etwas zu. Nach kurzer Verhandlung mit ihr verließ er den unglücklichen Minkey und ging zu seinem Schreibtisch.

 

Sein Privatbüro war etwas überladen in Gold und rotem Plüsch ausgestattet. Über dem schönen Marmorkamin hing eine große Photographie der Freiheitsstatue von New York, die Mr. Atterman oft mit glücklichem Lächeln betrachtete. Dies war das einzige Merkmal Amerikas, das er deutlich gesehen hatte. Dort in der Nähe lag Ellis Island, wo er drei mehr oder weniger unglückliche Wochen zugebracht hatte, bis man ihn wieder nach Europa zurücktransportierte. Aber das alles hatte sich in einer längstvergangenen Zeit abgespielt, bevor er den kleinen Laden in Islington eröffnete und damit den Grundstock zu dem Vermögen legte, mit dem er später den großen Marmorpalast in der Marlborough Avenue erbaut hatte.

 

Ein Mann in mittleren Jahren, Angestellter einer bekannten Auskunftei, hatte im Vorzimmer gewartet und trat nun ein.

 

Mr. Atterman bot ihm eine Zigarre an und setzte sich dann.

 

»Hat Ihre Firma auch Agenten in Deutschland?« erkundigte er sich.

 

Der Detektiv nickte.

 

Mr. Atterman neigte sich etwas vor.

 

»Sie müssen herausbringen, wo sich Mr. Maber zur Zeit aufhält. Er ist ins Ausland gegangen — wahrscheinlich nach Deutschland — und hält sich vermutlich entweder in Worms oder in Köln auf. Sparen Sie keine Telegrammkosten, und schicken Sie auch einen Agenten nach seiner Besitzung in Ilchester und in seine Wohnung in der St. James’s Street. Es ist möglich, daß der alte Fuchs wieder zurückgekommen ist, nachdem er seiner Sekretärin Vollmacht gegeben hat.«

 

»Und wenn wir ihn gefunden haben?«

 

»Teilen Sie mir umgehend seine Adresse mit. Das Weitere werde ich dann schon besorgen.«

 

Der Agent erhob sich.

 

»Wer ist eigentlich die junge Dame? Was hat sie denn mit der ganzen Sache zu tun?«

 

Mr. Atterman erklärte ihm kurz die Lage.

 

»Sie mag im Bilde sein, wo er sich aufhält, aber ebenso gut ist es auch möglich, daß sie nichts weiß. Die Hauptsache ist jedenfalls, Maber zu finden!«

 

Nachdem diese Angelegenheit geregelt, und der Besucher wieder gegangen war, nahm Atterman den Hörer vom Apparat und ließ sich mit der Firma Maber verbinden. Bei der Zentrale verlangte er Mr. Colesberg.

 

»Nun, alles wieder im Lot?«

 

»Ja«, brummte Julius. »Es ist allerdings ein gräßlicher Gedanke, daß ich mit diesem entsetzlichen Mädel hier Zusammensein muß.«

 

»Was machen Sie denn?«

 

»Nichts. Ich sitze hier in meinem Büro wie ein Affe in seinem Käfig.«

 

»Na schön, ich weiß genug.«

 

Die nächste halbe Stunde ging Mr. Atterman unruhig durch das große Geschäftshaus und wurde schließlich, wie eine Stahlnadel vom Magneten, von der Damenkapelle angezogen, die oben in einer Ecke des Dachgartens in feuerroten Uniformen die Menge ergötzte. Er lehnte sich an einen Pfeiler und beobachtete mit wehmütigen Blicken die Solotrompeterin, die jetzt den Platz des geliebten Mädchens einnahm. Ja, er liebte Maudie wirklich, obwohl sie ihm viel Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten bereitet hatte. Nicht nur den Prozeß, der eine Unmenge Geld kostete, hatte er verloren, auch die häuslichen Auseinandersetzungen mit seiner Mutter blieben ihm nicht erspart, die ihn mit einem anderen Mädchen verheiraten wollte. Natürlich hatte sich auch seine Stiefmutter eingemischt und ihm erklärt, daß er nur mit Nitiska Koska glücklich werden könnte.

 

Im Grunde seines Herzens war er trotz seiner amerikanischen Geschäftsallüren sentimentalen Regungen nicht unzugänglich. Er dachte an Maudie, an ihr goldblondes Haar, ihre veilchenblauen Augen, die Grübchen in ihren Wangen, die sich immer zeigten, wenn das Publikum ihr jubelnden Applaus darbrachte. Längst hatte er ihr vergeben, daß sie ihn vor Gericht um fünftausend Pfund ärmer gemacht hatte. Er erinnerte sich wieder an die schönen Autofahrten, die er mit ihr gemacht hatte; er sah ihre schwellenden roten Lippen vor sich, die er so oft geküßt hatte.

 

Traurig seufzte er. Ja, sie hatte ihn geliebt, sie liebte ihn wahrscheinlich noch, und auch er konnte sie nicht vergessen … Aber seine Mutter lag ihm stets in den Ohren, daß große Kaufherren nur Damen allererster Kreise heiraten durften. Sie verlangte von ihm, daß er eine Aristokratin zur Frau nahm, und lachte nur verächtlich, wenn er von Maudies Kunst sprach.

 

Hätte er, anstatt die Solotrompeterin zu betrachten, auf die Straße hinuntergesehen, so hätte er Maudie entdeckt, die gerade das Konkurrenzgeschäft betrat.

 

Die junge Dame eilte die Treppe hinauf, betrachtete verwirrt den Polizisten, der Mr. Mabers Privatbüro bewachte, und wurde gleich darauf herzlich von dem neuen Chef begrüßt.

 

»Maudie, was war Attermans Lieblingsstück?« fragte Barbara schnell.

 

»Sein Lieblingsstück?« wiederholte Miß Deane etwas bestürzt. »Warten Sie einmal. Er hörte sehr gern ›Blutrote Rosen‹, aber am besten gefiel ihm immer ›Du bist das süßeste Mädel der Welt.‹«

 

Barbara ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Myrtle, die in einer Ecke auf der Kante eines Stuhls saß, folgte mit traurigen Blicken jeder Bewegung ihrer Herrin.

 

»Zeigen Sie mir doch bitte einmal das Büro von Mr. Atterman«, bat Barbara.

 

Maudie trat ans Fenster und wies auf einen hellerleuchteten Raum. Mr. Atterman selbst war allerdings nicht zu sehen. Er schmachtete oben bei der Damenkapelle.

 

»Ich glaube, es wird gehen«, meinte Barbara nachdenklich. »Haben Sie Lust, morgen auf dem Dachgarten Mr. Attermans Lieblingsstücke zu spielen?«

 

»Aber um Himmels willen — warum denn?« fragte Maudie betroffen.

 

»Vielleicht machen wir es auch nicht. Es kommt ganz darauf an. Ich möchte nur gern herausbringen, ob dieser Mann ein menschlich fühlendes Herz hat und noch an schöne Stunden der Vergangenheit denkt. Also, wollen Sie?«

 

Maudies Augen leuchteten. Sie war im Innersten fest davon überzeugt, daß der Trompetenton Männerherzen erweichen und zum Schmelzen bringen konnte. Ihr selbst war schon der Gedanke gekommen, unten auf der Straße vor seinem Büro eine Serenade zu spielen, ja, sie hatte sich schon erkundigt, ob sie nachher eventuell wegen groben Unfugs bestraft werden könnte.

 

»Wann soll ich kommen?«

 

»Um neun. Wir führen den Plan doch wohl unter allen Umständen durch. Wenn es regnen sollte, lasse ich oben auf dem Dach ein Zelt für Sie aufschlagen.«

 

Sie notierte sich sofort das Wort »Zelt«.

 

Es ging schon auf Mitternacht, aber Barbara war immer noch im Geschäft. Sie beaufsichtigte das Personal, das alle Schaufenster neu dekorierte; sie verhandelte mit dem neuen Direktor Lark, der sich erstaunlich intelligent und geschickt anstellte und sich an diesem Abend in ihren Augen mehr Achtung erwarb, als er in den letzten vier Jahren verloren hatte.

 

Julius kam müde und gelangweilt aus seinem Büro und beobachtete das Hasten und Jagen, bis er es nicht länger aushalten konnte und sich in seinen Klub verzog. Albuera dagegen bot noch bereitwillig seine Dienste an, als seine offiziellen Pflichten für den Tag schon längst beendet waren. Ohne den Uniformrock und mit aufgekrempelten Hemdsärmeln sah er nicht so imposant aus, aber dafür war seine Hilfe um so wertvoller.

 

Myrtle konnte man zu nichts gebrauchen. Was sie anpackte, machte sie verkehrt, und schließlich wurde sie in die Kantinenküche geschickt, um dort zu helfen.

 

Gegen zwölf Uhr kam Mr. Stewart mit den Bürstenabzügen der großen Annoncen, die in den Tageszeitungen erscheinen sollten.

 

Das kostete allerdings Geld. Er nannte Summen, die Barbaras Gleichgewicht doch etwas erschütterten. Sie verstand nun Mr. Mabers Antipathie gegen Inserate bedeutend besser.

 

»Die Anzeigen bringen Ihnen aber auch zehnmal soviel ein, wie Sie ausgeben. Es wird sicher ein Bombenerfolg«, sagte Mr. Stewart begeistert. »Maber & Maber haben noch niemals einen Ausverkauf oder eine Billige Woche gehabt. Möglicherweise kann ich Ihnen morgen wieder einige Ganzseiten für Annoncen zur Verfügung stellen. Sie haben ein fabelhaftes Glück, daß gerade jetzt solche Reklameseiten frei sind. Wie lange soll übrigens die ›Billige Woche‹ dauern?«

 

»Bis wir alle alten Bestände und eine Menge neuer Waren verkauft haben. Mr. Lark macht sich großartig. Hören Sie nur einmal zu. Ich wollte, ich könnte auch reden wie er.«

 

Der neue Direktor kanzelte gerade einige Angestellte heftig ab.

 

Alan Stewart warf einen Blick zu ihm hinüber, wandte sich dann aber wieder interessiert an Barbara.

 

»Wo ist denn eigentlich Mr. Maber?«

 

Schon lange hatte er diese Frage an sie richten wollen, aber jetzt erst fand sich eine Gelegenheit dazu.

 

»Er ist nach Amerika gefahren«, erwiderte sie zerstreut. »Ich überlegte eben, ob ich wirklich diese ganzseitige Reklame fortsetzen soll — doch, ich werde es tun. Ich habe achthundert himmlisch schöne Pariser Modelle gekauft — das müssen die Leute doch erfahren! Dafür ist eine Seite eigentlich noch viel zu wenig.«

 

»Aber weiß Mr. Maber denn von all diesen Unternehmungen? Ich fühle mich direkt schuldig, denn ich habe Ihnen doch erst die Idee, zu annoncieren, in den Kopf gesetzt –«

 

»Ich bin davon überzeugt, daß ich richtig handle«, erwiderte sie lächelnd. »Sie können noch einen Augenblick warten und mich dann nach Hause bringen. Myrtle ist auch da und will mich vor weiterem Schaden bewahren. Sie denkt nämlich, ich trinke!«

 

Es war ein Uhr, als Barbara todmüde in ihrer Wohnung ankam. Sie hatte kaum mehr die Kraft, sich auszukleiden, und sank sofort in tiefen Schlaf.

 

*

 

»Hier ist der Tee«, weckte Myrtle ihre Herrin am nächsten Morgen, als schon heller Sonnenschein ins Zimmer flutete.

 

»Wir müssen unbedingt eine ganz fabelhafte Schaufensterdekoration schaffen, irgend etwas Lebendiges, das sich bewegt — etwas, was überhaupt noch nie dagewesen ist!« erklärte Barbara und richtete sich langsam auf. Sie starrte Myrtle an, als ob diese eine Fremde wäre, und lachte dann plötzlich. »Ach, Myrtle, ich habe einen verrückten Traum gehabt. Ich träumte, daß Mr. Maber eingesperrt wurde –« Sie rieb sich die Augen, und ihr Blick fiel auf den Stapel von Papieren, der auf dem Tische lag. Sie hatte alle Lieferscheine nach Hause mitgenommen, um sie noch einmal durchzusehen, bevor sie zu Bett ging. Also war es doch keine phantastische Einbildung, sondern klare, nüchterne Wirklichkeit! Tolle Vorstellung, daß Mr. Maber jetzt im Gefängnis zu Pentonville beim Federreißen saß! Sie mußte wieder lachen.

 

Die Uhr zeigte sieben, und Barbara schwang sich kurz entschlossen aus dem Bett.

 

Noch im Pyjama stürzte sie eine Tasse heißen Tees hinunter und las dabei voll Stolz die Zeitung, die Myrtle eben gebracht hatte.

 

In Riesenlettern prangte die von ihr verfaßte Annonce auf der ersten Seite! Wie herrlich! Eine Million, zwei Millionen Menschen lasen diese Seite heute morgen. Alle lasen, was sie, Barbara Storr, geschrieben hatte. Jeden einzelnen Abschnitt des Inserats betrachtete sie mit der Wonne und dem Hochgefühl, die jeder Autor bei der Lektüre seines ersten Werkes empfindet.

 

»Blendend! Und unsere Preise sind viel niedriger als die von Atterman!«

 

Barbara badete dann, duschte sich eiskalt ab und nahm hastig das Frühstück, während Myrtle nach einem Taxi Ausschau hielt.

 

Aber auf der Fahrt zum Geschäft kam die Reaktion auf den Siegesjubel. Würden die Leute auch die großen, kostspieligen Annoncen lesen? Würden sie überhaupt darauf achten?

 

Als sie eine halbe Stunde später ihr Ziel erreichte, atmete sie erleichtert auf. Trotz der frühen Stunde hatten sich schon Leute vor dem Eingang angesammelt, und zwei Polizisten waren damit beschäftigt, Ruhe und Ordnung zu halten.

 

Es war acht Uhr, und die Firma öffnete erst um neun. Auch Mr. Lark war schon auf dem Posten, und wenn er auch etwas blaß aussah, arbeitete er doch mit der gleichen Begeisterung und Intensität wie am Tage vorher.

 

»Ich habe für die Verkäuferinnen Zimmer in den benachbarten Hotels genommen, denn es war zu spät. Sie konnten nicht mehr nach Hause kommen. Meine Stenotypistin ist eben fortgegangen, um dafür zu sorgen, daß die Damen zur rechten Zeit erscheinen. Atterman war auch schon hier — vor zehn Minuten«, erzählte er Barbara eifrig und freute sich über die Sensation, die seine Worte hervorriefen. »Er kam zum Personaleingang herein und ließ mich rufen. Dann bot er mir zwanzig Pfund wöchentlich und einen zweijährigen Vertrag, wenn ich zu ihm käme.«

 

»Und was haben Sie ihm geantwortet?« fragte sie gespannt.

 

»Ich sagte ihm, er solle sich zum Teufel scheren!«

 

»Wirklich? Reichen Sie mir Ihre Rechte, Mr. Lark.«

 

Feierlich drückten sie sich die Hände.

 

»Sie bekommen von jetzt ab bei mir auch zwanzig Pfund die Woche, und ich erlaube Ihnen, während der Geschäftszeit einen Zylinder zu tragen, wenn es Ihnen Spaß macht.«

 

Als sie in ihrem Büro die Schublade des Schreibtisches aufzog, erschrak sie. Dort lag noch immer Mrs. Mabers Brief. Auf irgendeine Weise mußte er erledigt werden. Es half alles nichts, es war notwendig, daß sie sich mit Mr. Mabers Rechtsanwalt darüber verständigte.

 

Seufzend schrieb sie »Rechtsanwalt« unter die Notiz »Zelt«.

 

Julius kam um neun Uhr dreißig ins Geschäft und mußte sich mühsam seinen Weg durch eine Menge kauf begieriger Frauen bahnen. Endlich erreichte er die Treppe, die zum Büro hinaufführte. Oben auf dem Podest stand Barbara und schaute mit triumphierenden Blicken nach unten. Hinter ihr war ihr getreuer Gefolgsmann, der Polizist Albuera Sturman, zu sehen.

 

»Ich habe noch mehr Polizei kommen lassen«, erklärte sie, äußerlich vollkommen ruhig und gelassen. »Alle Neuheiten in Marocain sind schon weg. Von den preiswerten Strümpfen ist nur noch sehr wenig da, und in den einzelnen Abteilungen sind manche Artikel schon ganz ausverkauft. Die Pariser Modelle haben wir noch gar nicht ausgestellt — wenn die Leute die erst sehen!«

 

Julius blies große Rauchwolken von sich und sah ihnen düster nach.

 

»Das kann doch nicht so weitergehen. Es hat ja gar keinen Zweck, sich derartig abzumühen. Wir verkaufen mit Schaden, und in ein paar Tagen sind wir restlos ruiniert.«

 

Er schüttelte mißbilligend den Kopf.

 

»Wenn Sie kommen, geht wirklich die Sonne auf«, erwiderte Barbara ironisch. »Unser Warenlager ist dreißigtausend Pfund wert, das haben Sie selbst bestätigt. Mr. Maber war bereit, es für zwölftausend zu verkaufen. Und wenn ich nun mehr als dreißigtausend erziele –«

 

Wieder schüttelte er den Kopf.

 

»Das ist doch unmöglich. Sie machen sich blauen Dunst vor. Auf dem Papier und in der Theorie sieht das ja alles ganz gut aus, aber glauben Sie denn, Mr. Maber hätte das nicht längst gemacht, wenn man auf so leichte Weise Geld verdienen könnte? Lassen Sie sich raten und ziehen Sie Mr. Atterman zu, bevor Sie weitere Schritte unternehmen. Sie haben den Ruf der Firma schon schwer genug geschädigt. Sie haben uns sozusagen von dem Niveau einer Bond Street auf das Niveau einer High Street in Pimlico herabgedrückt. Durch Ihre ›Billige Woche‹ haben Sie unser gutes, altes Geschäft so verflucht in Mißkredit gebracht, daß –«

 

»Sie haben nicht die geringste Veranlassung, eine derartige Sprache gegen diese Dame zu führen«, sagte Albuera in strengem, offiziellem Ton.

 

Barbara nickte beifällig.

 

»Gehen Sie in Ihr Büro, Julius«, schlug sie vor, und mütterliche Milde klang aus ihrer Stimme. »Wenn Sie sich nett und anständig benehmen, dürfen Sie heute abend das Geld zählen.«

 

Im Lauf des Tages nahm der Andrang dauernd zu. An allen Türen standen Polizisten, die nur soviel Leute einließen, als die Geschäftsräume fassen konnten. Von jeder Kasse wurden laufend große Summen in das Zentralbüro Mr. Larks geschafft. Seine Stenotypistin konnte die Menge der Arbeit nicht mehr bewältigen und mußte Unterstützung erhalten.

 

Mr. Lark selbst entfaltete eine rege Tätigkeit. Zweimal traf er bei Grossisten Mr. Minkey, der ihn feindselig angrinste. Aber der Direktor der Firma Maber & Maber hatte seinen großen Tag, denn es gelang ihm, die Wühlarbeit Minkeys zu durchkreuzen.

 

Die »Billige Woche« bei Maber & Maber bildete ein großes Ereignis in der Geschichte der Warenhäuser von London. Die Eigentümer ähnlicher Firmen kamen entweder persönlich oder schickten ihre Vertreter, um diesen phänomenalen, denkwürdigen Vorfall aus nächster Nähe zu studieren. Manche besuchten auch Mr. Atterman und besprachen die Lage mit ihm, denn von seinem hochgelegenen Büro aus konnte man den Schauplatz am besten übersehen. Dabei fielen allerlei bissige Bemerkungen über den kühnen Eindringling in den Londoner Warenhaushandel.

 

»Die ganze Geschichte ist ja nur ein großer Humbug«, erklärte Mr. Atterman mit erzwungener Ruhe. »Einen Nutzen kann Maber doch davon überhaupt nicht haben. Die eine Hälfte der sogenannten Käufer besteht aus Taschendieben, die andere aus Schaulustigen.«

 

»Ich hätte nie gedacht, daß sich Maber einmal nach dieser Richtung hin entwickeln würde«, entgegnete der Inhaber einer großen Firma in der Regent Street.

 

»Es ist ja auch gar nicht Mr. Maber, dem wir das alles zu verdanken haben, sondern seine Privatsekretärin. Und dahinter steckt noch etwas anderes, verlassen Sie sich darauf.«

 

Von Zeit zu Zeit erhielt Mr. Atterman vertrauliche Nachrichten von seinem Agenten und Bundesgenossen. Julius war vollkommen verstört; aber nicht der gewaltige Umfang des Geschäftes hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, sondern Barbaras merkwürdiges Verhalten ihm gegenüber.

 

»Ich kann nicht verstehen, warum sie mich eigentlich hat zurückkommen lassen«, telefonierte er an Atterman. »Es ließe sich nur so erklären, daß sie sich jetzt vor dem Skandal fürchtet, wenn der Alte wieder erscheint. Jede halbe Stunde kommt sie in mein Büro gelaufen und berichtet mir die Höhe der Einnahmen. Niemals ist sie früher so höflich und freundlich zu mir gewesen!«

 

»Lassen Sie sich nur nicht von der Person einwickeln, die will sich jetzt nur gut mit Ihnen stellen. Sie müssen unbedingt zusehen, Colesberg, daß Sie das Heft wieder in die Hand bekommen. Sagen Sie, mein Lieber, wie hoch belaufen sich denn die Einnahmen bis jetzt?«

 

Julius nannte eine Zahl, bei deren Höhe Mr. Atterman einen kräftigen Fluch nicht unterdrücken konnte.

 

»Hören Sie, Julius«, sagte er dann nach kurzer Überlegung, »setzen Sie sich sofort hin und schreiben Sie an alle Grossisten, daß Sie nicht für Warensendungen haften, die Miß Barbara Storr bestellt hat. Unterzeichnen Sie als Juniorpartner und lassen Sie die Briefe sofort durch besondere Boten austragen. Schicken Sie Papier mit dem Firmenkopf zu mir herüber, ich lasse die Briefe schreiben. Das ist besser. Sie unterzeichnen sie dann, und ich sorge für schnellste Beförderung in ganz London. Setzen Sie rasch den Text auf und schicken Sie ihn mit dem Papier herüber.«

 

»Meinen Sie, daß wir dadurch etwas erreichen?« fragte Julius skeptisch.

 

»Sehen Sie denn nicht, Sie armer –« beinahe hätte er »Idiot« gesagt, aber er besann sich noch rechtzeitig — »Mann, daß dann die Lieferungen gestoppt werden und Mabers ihre Vorräte nicht mehr ergänzen können? Diese Grossisten sind argwöhnisch und ängstlich. Übrigens ist Maber weder in Ilchester noch in seiner Wohnung. Soviel habe ich bis jetzt erfahren. Ich lasse ganz Deutschland nach ihm absuchen. Also, nun machen Sie sich schnell an die Arbeit.«

 

Bevor Julius dieser Aufforderung nachkommen konnte, mußte er erst feststellen, wo sich Barbara aufhielt. Unter keinen Umständen durfte er sich von ihr dabei ertappen lassen, wie er ihre Pläne durchkreuzte und gleichsam ihre Aufträge widerrief. Sie paßte auf wie ein Schießhund und hatte Augen wie eine Katze.

 

Er traf sie in ihrem Büro und fand sie eifrig damit beschäftigt, die Annoncen für den nächsten Tag aufzusetzen.

 

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte sie, ohne aufzusehen.

 

Während Julius wartete, ließ er den Blick gelangweilt durch das Zimmer schweifen und schaute auch zum Geldschrank hinüber, dessen Tür weit offenstand. Und plötzlich entdeckte er darin den braunen Lederkoffer Mr. Mabers, den er schon früher öfter bemerkt hatte. Was hat denn dieser Koffer im Safe zu tun? fragte er sich verblüfft.

 

Barbara sah gerade auf, folgte der Richtung seines Blicks und vermutete, was in ihm vorging. Hastig erhob sie sich, schloß die Safetür und drehte den Schlüssel um.

 

»Nun, Mr. Colesberg, was wünschen Sie?« erkundigte sie sich dann in dem wohlwollend herablassenden Ton, den sie sich seit kurzem ihm gegenüber angewöhnt hatte.

 

»Ich möchte Ihnen einmal erklären«, erwiderte er und räusperte sich laut, »daß Sie all Ihre Bestellungen auf eigene Verantwortung hin machen. Ich lehne es absolut ab, sie zu bestätigen oder anzuerkennen.«

 

»Mein lieber Mr. Colesberg«, entgegnete sie sanft und liebenswürdig, »Sie haben ja immer noch keine Ahnung, was eigentlich gespielt wird. Man fragt Sie ja gar nicht nach Ihrer Bestätigung oder Anerkennung. Und für meine Handlungen sind Sie selbstverständlich nicht verantwortlich. Dafür stehe ich schon allein ein.«

 

»Ich wollte nur feststellen –«

 

»Würden Sie mir nicht einen Brief darüber schreiben? Ich bin nämlich im Augenblick sehr stark beschäftigt und kann mich Ihnen nicht widmen.«

 

Zufrieden ging er aus dem Büro, nachdem er sich durch diese Vorsichtsmaßregel Absolution für die Gemeinheit verschafft hatte, die er begehen wollte.

 

Er wußte sehr genau, daß die Briefe, die Atterman in ganz London verschicken wollte, den Nachschub von Waren plötzlich unterbinden würden. Man kannte seinen Namen in Verbindung mit der Firma Maber, außerdem war er den Chefs der führenden Geschäfte persönlich vorgestellt worden.

 

Er nahm ein Blatt Papier, zögerte noch einen Moment und begann dann zu schreiben …

 

Die literarische Tätigkeit seines »Seniorpartners« ruhte dagegen im Augenblick. Julius hatte den Koffer gesehen! Würde er Verdacht schöpfen? Barbara zergrübelte sich den Kopf darüber. Aber noch bevor sie zu einem klaren Gedanken kam, steckte Albuera den Kopf durch die Tür. Er hatte längere Zeit vergeblich geklopft.

 

»Eine Dame möchte Sie sprechen, Miß.«

 

»Eine Dame?« Barbara runzelte die Stirne. »Wer ist es denn?«

 

»Sie will Sie dringend sprechen«, erwiderte er und zwinkerte ihr mit den Augen zu. »Ich glaube, die müssen Sie schon empfangen.«

 

Sie nickte, und er öffnete die Tür weiter.

 

Eine Dame von etwa dreißig Jahren trat ein. Sie war stark geschminkt und gepudert, hatte gefärbte Haare und trug auffallende, geschmacklose Kleidung. An dem Ausschnitt ihrer Bluse blitzten die Steine einer großen, plumpen Brosche, und sie sahen keineswegs echt aus.

 

»Ich habe wohl das Vergnügen mit Miß Storr?« fragte sie und zog dabei die Augenbrauen hoch.

 

»Ja, das bin ich. Was wünschen Sie von mir?«

 

Die Dame prüfte noch einmal, ob die Türklinke geschlossen war, schob dann einen Stuhl an den Schreibtisch und ließ sich umständlich nieder.

 

»Darf ich erfahren, wie Sie dazu kommen, in dem Sessel meines Mannes zu sitzen, sich hier breitzumachen und seine Briefe zu lesen?«

 

Barbara starrte sie bestürzt an.

 

»Sie sind Mrs. Maber?« fragte sie verstört.

 

»Allerdings, ich werde Ihnen meine Karte geben.«

 

Sie öffnete ihre große Handtasche und reichte Barbara die Karte hinüber.

 

Mrs. Maber, 304, Mantilla Road.

 

»Ich bin hergekommen, um von Ihnen Aufklärung zu verlangen über das Geld, das mein Mann für mich angewiesen hat.«

 

»Ich will es Ihnen erklären –« begann Barbara.

 

Mrs. Maber warf unwillig den Kopf zurück.

 

»Ich wünsche keine Erklärungen«, rief sie unlogischerweise. »Was haben Sie mit dem Geld meines Mannes gemacht?« fragte sie scharf.

 

Barbara zögerte keinen Augenblick. Sie klingelte und befahl dem Pagen, der sich meldete, Mr. Colesberg in Mr. Mabers Privatbüro zu bitten.

 

Offenbar bedeutete das Wort »Colesberg« nichts für die korpulente Dame, denn sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sie den Namen hörte.

 

Einige Minuten später trat Julius ein.

 

»Sie wünschen mich zu sprechen?«

 

Barbara zeigte auf die Fremde.

 

»Ihre Mutter«, sagte sie schlicht.

 

Julius sah verblüfft auf die Besucherin.

 

»Was soll diese Dame sein?« Seine Stimme schnappte über vor Erregung.

 

»Erklären Sie ihr die Lage«, forderte Barbara ihn freundlich auf.

 

Die Dame erhob sich. Sie war dunkelrot im Gesicht und konnte vor Empörung kaum ein Wort hervorbringen.

 

»Was bilden Sie sich denn eigentlich ein?« rief sie im höchsten Diskant. »Ich habe überhaupt keine Kinder! Was wollten Sie mit dieser Bemerkung sagen? Wenn Sie hier vielleicht noch unverschämt werden wollen, können Sie etwas erleben!«

 

Barbara schaute in ratloser Verwirrung von einem zum anderen.

 

»Ist dieser Herr denn nicht Ihr Sohn?«

 

»Nein!« entgegneten Mrs. Maber und Julius wie aus einem Munde.

 

»Sie sind nicht Mr. Mabers Sohn?«

 

»Mr. Mabers Sohn!« wiederholte er wütend. »Zum Teufel, sind Sie denn jetzt vollständig verrückt geworden? Ich glaube, wir müssen Sie tatsächlich in eine Irrenanstalt stecken!«

 

»Sind Sie es, oder sind Sie es nicht?« fragte Barbara drohend.

 

»Nein, ich bin es nicht!« schrie Julius außer sich.

 

»Das vereinfacht die Lage allerdings bedeutend.« Barbara atmete erleichtert auf. »Dann haben Sie hier auch nicht mehr die geringste Existenzberechtigung.«

 

Sie winkte Albuera, der schon seit Mr. Colesbergs Eintritt in Bereitschaft stand, und zeigte auf Julius.

 

»Werfen Sie ihn sofort wieder auf die Straße!« befahl sie mit gebieterischer Stimme.

 

Kapitel 5

 

5

 

Die sonderbaren, aufregenden Geräusche, die diese Exmission mit sich brachte, verstummten allmählich.

 

Bald darauf kehrte Albuera zurück, und sein behäbiges Lächeln zeigte, wie sehr er mit dem Erfolg seiner Tätigkeit zufrieden war.

 

»Es ist alles in Ordnung« — meldete er und legte die Hand an den Helm.

 

»Ich danke Ihnen, Albuera«, erwiderte Barbara ernst.

 

Mrs. Maber hatte den Vorgang interessiert, aber auch etwas bestürzt beobachtet, und die Anwesenheit dieses beängstigend großen und stattlichen Polizisten beunruhigte sie stark. Sie stand wieder auf und schloß die Tür hinter dem Beamten.

 

»Meine Liebe«, sagte sie dann in vollkommen verändertem Ton, »ich möchte keinen Streit, und ich bin sicher, daß auch Sie in Güte und Freundschaft mit mir verhandeln wollen. Mein Mann, William Maber, versprach mir die fünfhundert Pfund, damit ich mir den neuen Rolls Royce-Wagen kaufen könnte.«

 

»Ich dachte immer, ein solches Auto wäre viel teurer«, entgegnete Barbara argwöhnisch.

 

»Ich will es auf Abzahlung nehmen«, erklärte Mrs. Maber schnell. »Meine liebe Miß Storr, wir wollen uns nicht zanken. Ich weiß sehr wohl, daß mein Mann furchtbar böse wird, wenn er erfährt, daß ich hierher gekommen bin. Aber was bleibt mir anderes übrig? Mr. Rolls wartet unten vor der Tür — ich brauche das Geld.«

 

Barbara sah sie nachdenklich an.

 

»Wäre es nicht besser, wenn Sie sich wegen dieser Angelegenheit mit Mr. Steele in Verbindung setzten?«

 

»Wer ist denn Mr. Steele?« fragte die Frau scharf.

 

»Mr. Mabers Rechtsanwalt. Das ist Ihnen doch sicher bekannt?«

 

Mrs. Maber schwieg einen Augenblick.

 

»Ich weiß, wen Sie meinen«, erwiderte sie dann. »Mr. Steele kennt mich aber nicht. Wegen eines Todesfalls in der Familie wurde unsere Heirat nämlich geheimgehalten.« Plötzlich wandte sie sich vertrauensselig an Barbara. »Ich will Ihnen alles erzählen, mein Liebling. Willie und ich –«

 

»Wer ist Willie? Ach so, Mr. Maber –«

 

»Also, Willie und ich sind nicht sehr glücklich verheiratet, und als ich ihn um das Geld für das Auto bat, war das eigentlich nur ein — wie sagt man doch gleich?«

 

»Nur ein Vorwand?« fragte Barbara rasch.

 

»Ja, das ist das richtige Wort. Ich möchte nämlich ins Ausland gehen und reisen. Willie will ich überhaupt nicht wiedersehen, wenn ich die Wahrheit sagen soll. So, nun wissen Sie es, und ich bin froh, daß es heraus ist.«

 

Sie lehnte sich zurück und fühlte sich offenbar erleichtert.

 

Barbara befand sich in einer schwierigen Lage. Sie konnte den Gedanken, daß Mr. Maber diese gewöhnliche Frau geheiratet hatte, kaum ertragen. Aber derartige Fälle waren ja schon häufig vorgekommen. Schließlich hatte Lord Olby Wustart seine Köchin geheiratet, und ein berühmter Rechtsanwalt sogar eine Kokotte. Mr. Maber war eben im gefährlichen Alter, in dem die Herren manchmal unberechenbare Handlungen begingen.

 

Mrs. Maber fächelte sich nervös mit ihrer Tasche, während ihre dunklen, blitzenden Augen Barbara fixierten.

 

»Ich will ja gar nichts darüber sagen, daß Willie ein Doppelleben geführt hat. Ich bin großzügig und schweige auch dazu, daß Sie jetzt dieses Geschäft führen –«

 

»Hoffentlich tun Sie das. Sonst wäre ich zu meinem größten Bedauern gezwungen, polizeilich gegen Sie einzuschreiten. Es stehen mir genug Beamte zur Verfügung«, erklärte Barbara gelassen. »Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag. Ich gebe Ihnen einhundert Pfund. Damit müssen Sie zufrieden sein, bis ich wieder mit Mr. Maber in Verbindung komme.«

 

»Hundert sind nicht viel«, sagte die Dame, aber das freudige Aufleuchten ihrer Augen verriet, daß sie anders darüber dachte. »Ich will sie einstweilen als Anzahlung nehmen, aber ich muß mehr haben, meine liebe Miß Storr –«

 

»Wie ist Ihr Vorname, Mrs. Maber?«

 

»Kann ich das Geld denn nicht in bar haben?« fragte die Frau hastig und schaute mit gerunzelter Stirne auf das Scheckbuch.

 

»Ich werde Ihnen einen offenen Scheck geben. Ihr Vorname ist doch Margaret?«

 

Barbara schrieb das Formular aus, unterzeichnete es und reichte es Mrs. Maber über den Tisch.

 

»Könnten Sie den Scheck nicht vielleicht für mich auf der Bank kassieren lassen? Sie verstehen doch — ich möchte nicht gern meinen Namen auf einen Scheck schreiben.«

 

»Es weiß doch niemand, daß Sie seine Frau sind. Sie können ja seine Schwester sein oder seine — seine Tochter«, sagte Barbara liebenswürdig.

 

Aber Mrs. Maber freute sich über diese Schmeichelei nicht im mindesten. Sie nahm den Scheck und betrachtete ihn argwöhnisch.

 

»Wenn Sie im Augenblick nicht mehr für mich tun können«, erwiderte sie schließlich, »muß ich mich ja wohl damit begnügen.«

 

Sie rauschte hinaus und ließ den Raum in einer Wolke von Chypreduft zurück.

 

Erleichtert öffnete Barbara die Fenster. Sie haßte dieses aufdringliche Parfüm.

 

Gott sei Dank, diese heikle Affäre wäre geregelt. Sie freute sich auch, daß sie nun keine Verantwortung mehr für Julius hatte. Rasch ging sie in sein Büro, um sich zu vergewissern, ob er sich nicht etwa wieder dorthin zurückgeschlichen hatte. Aber das Zimmer war leer. Auf dem Tisch lag noch das Konzept des Briefes, den Julius für Atterman aufgesetzt hatte, denn er war mitten in der Arbeit gestört worden.

 

Barbara las, begriff den Inhalt und stürzte in ihr Büro zurück. Glücklicherweise kam im selben Augenblick Mr. Lark zu ihr.

 

»Schicken Sie sofort ein Telegramm an sämtliche Grossisten in London«, sagte sie atemlos zu ihm. »Wir dürfen keine Sekunde verlieren.«

 

Eilig schrieb sie den Text auf den Bogen:

 

»Mr. Julius Colesberg steht nicht mehr in Verbindung mit der Firma Maber & Maber und ist als Teilhaber ausgeschieden.«

 

Gleich darauf klingelte sie Rechtsanwalt Steele an. Die Ereignisse überstürzten sich derartig, daß sie im Moment keine Zeit hatte, mit ihm über Mrs. Maber zu sprechen. Dazu brauchte sie mehr Ruhe und Fassung, als sie jetzt aufbringen konnte.

 

»Schreiben Sie sofort einen Brief an Julius Colesberg — Sie können ihn getrost an die Firma Atterman schicken. Teilen Sie ihm darin ganz energisch mit, daß Sie gerichtlich mit den schärfsten Mitteln gegen ihn vorgehen werden, wenn er sich unterstehen sollte, sich noch irgendwie als Mitglied der Firma Maber & Maber auszugeben. Mit den schärfsten Mitteln vorgehen — das ist doch der richtige juristische Ausdruck?«

 

»Ja, so ähnlich heißt es — aber was ist denn eigentlich geschehen?« fragte Mr. Steele gespannt.

 

Sie erzählte ihm kurz, was vorgefallen war.

 

»Es war nicht klug, daß Sie ihn noch einmal zurückkommen ließen«, lautete seine wenig tröstliche Antwort. »Na, ich werde den Brief auf alle Fälle hinschicken. — Wie geht es denn mit Mr. Maber — haben Sie inzwischen eine Nachricht von ihm erhalten?«

 

»Nein! Er ist noch — nun ja, er ist eben noch fort!« Erschöpft lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und schloß sekundenlang die Augen.

 

Ein Geschäft zu führen, war doch nicht so leicht und so spaßhaft, wie sie es sich vorgestellt hatte.

 

*

 

»Glücklicherweise habe ich genug Briefpapier mit dem Firmenkopf zu Hause«, sagte Julius zu dem düster dreinschauenden Mr. Atterman. »Ich habe schon einen Boten hingeschickt, der es holen soll. Dieser unverschämte Polizist, den sie sich da hat kommen lassen, hat mich entsetzlich roh behandelt.

 

Sehen Sie nur her, mein Kragen ist völlig zerrissen! Aber der Kerl fliegt, darauf kann er Gift nehmen!«

 

»Es war ein entzückender Anblick, wie Sie auf die Straße gesetzt wurden«, erwiderte Mr. Atterman ironisch. »Übrigens, Maber ist weder in Worms noch in Köln. Und was noch viel merkwürdiger ist –« er klopfte Julius auf die Schulter — »er ist überhaupt nicht im Ausland!«

 

»Was Sie nicht sagen!« rief Julius aufs höchste überrascht.

 

»Ja, er ist nicht im Ausland«, wiederholte Atterman. »Mein Detektiv hat sich an seinen Diener herangemacht und herausgebracht, daß Mabers Reisepaß noch in seiner Wohnung liegt. Und ohne Paß kann der Mann doch weder aus England heraus noch nach Deutschland hinein.«

 

Julius Colesberg starrte ihn ungläubig an.

 

»Wo ist er denn dann?«

 

»Das wird sich noch zeigen«, entgegnete Atterman geheimnisvoll. »Wir haben von dem Diener eine ganze Anzahl Informationen erhalten. Zum Beispiel kam gestern nachmittag Barbara Storr zu der Wohnung und ließ einen Koffer mit Kleidern und Wäsche für den Alten packen. — Merkwürdigerweise verlangte sie aber nur einen Anzug und nur ein Stück Wäsche von jeder Sorte! Was soll man davon denken?«

 

»Und hat er den Koffer gepackt?« Atterman nickte.

 

»Er ist gepackt worden und sie hat ihn mitgenommen.«

 

»Ich hab’s!« Julius schlug sich plötzlich mit der Hand auf den Oberschenkel. »Diesen Koffer habe ich doch mit meinen eigenen Augen in ihrem Safe gesehen — in dem Safe, der in ihrem Büro steht.«

 

»Dann hat sie ihn also nicht fortgeschickt?« fragte Atterman verwundert. »Das wirft allerdings meine Theorie über den Haufen.«

 

»Der Koffer steht im Safe, aber es ist mir jetzt ganz klar, daß dabei etwas nicht stimmt«, rief Julius laut. »Hören Sie zu. Sobald sie heute bemerkte, daß ich den Koffer gesehen hatte, sprang sie auf wie eine Wilde und donnerte die Tür zu. So etwas von Nervosität, Angst und Entsetzen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.«

 

Die Beiden sahen sich betroffen an.

 

»Das läßt tief blicken«, meinte Atterman. »Meine Theorie war eigentlich — aber darauf kommt es im Augenblick ja nicht an. Im Geldschrank sagen Sie? Warum denn gerade dort? Warum versteckt sie ihn?«

 

Julius zerwühlte aufgeregt sein Haar.

 

»Wie dumm! Ich habe ja einen Duplikatschlüssel von Mr. Maber erhalten. Hätte ich doch nur gewartet, bis sie draußen war, und dann nachgesehen! Bestimmt würden wir in dem Koffer Dinge finden, die uns einen Anhaltspunkt geben.«

 

Er zog den Schlüssel aus der Tasche, und Mr. Atterman betrachtete ihn nachdenklich.

 

»Haben Sie auch einen Paßschlüssel, der alle Türen im Geschäftshaus öffnet?«

 

Julius nickte.

 

»Beschäftigt die Firma einen Nachtwächter?«

 

Mr. Colesberg begriff allmählich, worauf Atterman hinauswollte.

 

»Ja, aber der Mann kennt mich sehr gut. Wenn Miß Storr nicht gerade den ganzen Stab der Angestellten zusammentrommelt und ihnen sagt, daß man mich nicht mehr ins Geschäft lassen soll, ist es eine Kleinigkeit für mich, hineinzukommen. Und selbst wenn sie es täte, könnte ich ihn sicher überreden.«

 

»Gehen Sie noch heute nacht hin«, rief Atterman eifrig. »Nehmen Sie Minkey mit, der kann aufpassen. Wenn es schief gehen sollte, haben Sie ja eine sehr plausible Ausrede — Sie sagen einfach, daß Sie Ihre Sachen holen wollen. Das kann Ihnen niemand verwehren. Aber es wird schon alles klappen.«

 

Julius war jedoch nicht so leicht zu überreden.

 

»Gibt es denn nicht einen anderen Weg?« begann er ausweichend.

 

Aber Mr. Atterman bestand hartnäckig auf seinem Plan.

 

Kurz darauf kam der Bote zurück, den Julius ausgeschickt hatte, um das Briefpapier von Maber & Maber aus seiner Wohnung zu holen. Mr. Colesberg hatte nun für die nächste Stunde genug zu tun. Er diktierte die Briefe an die Grossisten der Hauptstadt und unterzeichnete sie in fliegender Hast, denn ein Heer von Messengerboys wartete bereits draußen auf dem Gang.

 

Als er seinen Namen unter den letzten Brief geschrieben hatte, wurde ein ernster junger Mann in sein Büro gebracht. Es war derselbe, den Barbara nach ihrem Besuch bei Mr. Maber im Polizeigericht gesehen hatte.

 

»Mr. Colesberg?« fragte er.

 

Als Julius aufschaute, erkannte er den Clerk des Rechtsanwalts Steele, und eine böse Ahnung stieg in ihm auf.

 

Schnell öffnete er den Brief, der ihm übergeben wurde, und las ihn durch. Mr. Atterman sah an seinem Gesichtsausdruck, daß es sich um eine katastrophale Nachricht handeln mußte.

 

»Es ist gut«, sagte Julius heftig und wandte sich an Atterman, nachdem der junge Mann gegangen war. »Was sagen Sie dazu?« Er reichte den Brief über den Tisch.

 

»Im Auftrag unserer Klientin, der Firma Maber & Maber, teilen wir Ihnen mit, daß Sie nicht länger berechtigt sind, für diese Firma zu zeichnen oder irgendwie tätig zu sein. Da Sie freiwillig als Teilhaber bei Maber & Maber ausgeschieden sind, ist jede Verbindung Ihrerseits mit dieser Firma automatisch gelöst.

 

Wir sind von unserer obengenannten Klientin ermächtigt, sofort die schärfsten gerichtlichen Maßnahmen gegen Sie zu ergreifen, falls Sie Aufträge im Namen der Firma erteilen, Orders der Firma widerrufen oder sich noch als Teilhaber von Maber & Maber ausgeben sollten.

 

Hochachtungsvoll

 

Steele & Steele.«

 

»Das läßt ja an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig«, bemerkte Atterman. »Natürlich müssen wir darauf Rücksicht nehmen, sonst kommen wir in Teufels Küche. Es ist gerade so, als ob diese unausstehliche Miß Storr alles voraussehen könnte! Es fragt sich jetzt nur noch, wer den Vorsprung hat.«

 

Er nahm den Hörer vom Apparat und verlangte die Nummer eines bekannten Grossisten. Als die Verbindung hergestellt war, winkte er Julius an das Telefon.

 

»Nennen Sie Ihren Namen«, flüsterte er ihm zu, »und sagen Sie den Leuten, daß Sie die letzte Order Ihrer Firma widerrufen wollen.«

 

Julius kam der Aufforderung nach.

 

»Es tut mir leid, Mr. Colesberg«, erwiderte der andere Teilnehmer, »aber ich kann Ihrem Wunsch nicht entsprechen. Wir erhielten telegrafische Nachricht von der Firma Maber, daß Sie nicht mehr mit dem Hause in Verbindung stehen, und wir können deshalb keine Aufträge mehr von Ihnen entgegennehmen. Vorhin versuchten wir schon, Sie in Ihrem Büro zu erreichen, bekamen aber keine Antwort. Beruht diese Mitteilung tatsächlich auf Wahrheit?«

 

Julius war in größter Versuchung, ein offizielles Dementi zu geben, aber im letzten Moment fehlte ihm doch der Mut dazu.

 

»Ja, es stimmt«, brummte er ärgerlich und warf den Hörer auf den Apparat.

 

»Nun, dann müssen wir eben warten, bis es dunkel wird«, meinte Mr. Atterman, der die Hoffnung noch nicht aufgab.

 

Aber Julius hatte jetzt noch weniger als vorher Lust, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.

 

*

 

Als Mrs. Maber das Geschäftshaus ihres Mannes verließ, nahm sie ein Taxi und fuhr zum Marble Arch, stieg jedoch nicht aus, als sie ihr Ziel erreicht hatte, sondern winkte einem ärmlich gekleideten, unansehnlichen Mann. Er war schon die letzte halbe Stunde hier auf und ab gegangen, und der dort stationierte Verkehrspolizist beobachtete ihn auch bereits argwöhnisch. Schnell öffnete sie die Tür, und er stieg ein.

 

»Nun, hast du das Geld bekommen?« fragte er hastig.

 

»Nur hundert.«

 

Mr. Hammett machte ein langes Gesicht.

 

»Hundert Pfund sind hundert Pfund«, meinte sie. »Ich habe nicht einmal das erwartet.«

 

»Hast du ihr denn nicht gesagt, daß du ein Auto kaufen willst?«

 

Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Scheck.

 

»Doch. Ich erzählte ihr zuerst von dem Wagen und nachher, daß ich ins Ausland gehen wollte. Es wäre aber viel besser gewesen, ich hätte ihr gleich zu Anfang die Wahrheit gesagt. Hast du die Fahrkarten besorgt?«

 

Er nickte düster.

 

»Hundert Pfund nützen mir soviel wie gar nichts. Es schweben mehr als zwanzig Anzeigen gegen mich, und diesmal werde ich sicher aus der Matrikel gestrichen. Sie hätte dir bestimmt die fünfhundert gegeben, wenn du nur energisch auf deiner Forderung bestanden hättest. Aber mit dir war ja noch nie etwas anzufangen. Immer großes Getue und nichts dahinter!«

 

»Ich hatte solche Angst«, gestand sie. »Diese Miß Storr hat Augen wie ein Habicht. Ich weiß gar nicht, wie du auf die Idee kommst, daß die hübsch sein soll.«

 

»Was ist denn das?« fragte Mr. Hammett und riß ihr das Formular aus der Hand, das sie ihm reichte.

 

»Ein offener Scheck, zahlbar an den Überbringer.«

 

»Hier steht ›Zahlbar an Margaret Maber!‹ Du alberne Gans!« fuhr er sie an. »Den kannst du doch nicht kassieren!«

 

»Warum denn nicht?« fragte sie entsetzt.

 

»Wenn du das versuchst, wirst du wegen Betrugs bestraft«, brauste er auf. »Einen größeren Dummkopf als dich gibt’s wirklich nicht mehr. Warum hast du denn kein bares Geld genommen?«

 

Mrs. Hammett, seit fünfzehn Jahren Bardame im »Goldnen Anker« und rechtmäßig mit Mr. Hammett verheiratet, begann leise zu weinen.

 

»Mein bester Plan in all den letzten Jahren!« fuhr er bitter fort. »Fünfhundert, ja tausend hätte man aus ihr herausholen können, wenn du nur für einen Cent Vernunft besäßest! Du wirst noch einmal hingehen und einen anderen Scheck holen, dann kassieren wir beide zusammen ein. Wenn es schon zu Ende geht, kommt es auf diese Kleinigkeit auch nicht mehr an, und wahrscheinlich wird der alte Maber sich nicht um die Sache kümmern. Er kann ja gar keine Anzeige erstatten, sonst kommt es heraus, daß er eingesperrt ist.«

 

»Warum wollen wir denn diesen Scheck nicht heute einkassieren?« fragte sie unsicher.

 

»Hast du es noch nicht begriffen?« tobte er. »Dann sei wenigstens jetzt still und höre zu. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die tausend Pfund wert — und obendrein wahr ist!«

 

Und Mr. Hammett, der durch zu reichlichen Alkoholgenuß tief gesunken war und sich schon viele Erpressungen hatte zuschulden kommen lassen, entwickelte seinen Plan.

 

*

 

Das war ein großer Tag für Barbara Storr. Von Zeit zu Zeit unterbrach sie ihre Arbeit, trat an das Fenster ihres Büros und beobachtete die Menge, die sich auf der Straße drängte.

 

Aus allen Stadtteilen waren die Leute herbeigeeilt, denn die Londoner haben eine feine Nase für billigen Einkauf. Und da Barbara im Durchschnitt nur fünf Prozent Aufschlag nahm, konnte sie die Preise der Konkurrenz in jedem Fall unterbieten.

 

Alan Stewart hatte inzwischen achtzig Autobus-Reklameflächen freibekommen, und bereits am Nachmittag trugen die Wagen in riesigen Lettern die kurze, aber inhaltschwere Botschaft durch London:

 

»Aufsehenerregender Preissturz bei Maber & Maber.«

 

In den verkehrsreichsten Straßen bewegten sich seit dem Mittag Umzüge mit großen Schildern und machten den Beginn der »Billigen Woche« bekannt.

 

Als Alan ins Geschäft kam, sollte er sofort einen guten Rat für die Schaufensterdekoration geben. Barbara hatte das Eckfenster ausräumen lassen und beabsichtigte, dort eine noch nie dagewesene Attraktion unterzubringen.

 

»Bis jetzt weiß ich nur, daß es lebendig sein und sich bewegen muß«, erklärte sie. »Meinen Sie, wir könnten aus dem Zirkus einen Löwenbändiger mit seinen Tieren engagieren?«

 

Er starrte sie entgeistert an.

 

»Einen Löwenbändiger?!«

 

»Ja, das ist doch weiter nicht gefährlich. Warum sehen Sie mich denn an, als ob die Welt unterginge? Solche Leute kann man sich mieten genau wie Polizisten. Und die Tiere sind natürlich zahm. Maudie Deane hat im Varieté einmal einen solchen Mann kennengelernt und war sofort mit ihm im Käfig. Sie sagt, es sei gar nicht schlimm.«

 

Er schüttelte entschieden den Kopf.

 

»Nein, damit erschrecken Sie höchstens das Publikum. Und außerdem würde es viel zu lange dauern, bis Sie einen anständigen Käfig bekämen, der ins Schaufenster paßt.«

 

Mr. Alan machte sich aber trotz seiner Einwände sofort auf den Weg, um Nachforschungen anzustellen, und er fand auch einen Agenten, der ihm nach kurzer Überlegung einen Vorschlag unterbreitete.

 

»Das muß das Richtige für Sie sein — ein Wilder Mann aus Borneo. Ich suche sogar Beschäftigung für zwei solche Leute.«

 

»Ach, das ist doch vollkommen veraltet.«

 

»Manchmal greift man gern aufs Alte zurück«, meinte der Agent. »Übrigens haben die Beiden seit Jahren kein Engagement in London gehabt und wirken sicher wie eine Neuheit, wenn sie wieder auftreten.«

 

Zufällig harte der eine der Wilden Männer, der kleinere und unansehnlichere, an demselben Morgen schon ein Engagement gefunden, und es dauerte eine halbe Stunde, bevor der Bote des Agenten den anderen in einer Kneipe aufgetrieben hatte.

 

Okko schwankte etwas betrunken in das Büro. Wüste Haare und ein zerraufter Vollbart gaben ihm ein wirklich schreckenerregendes Aussehen. Unter seiner niedrigen Stirne saßen stechende, schwarze Augen. Als der Agent ihm mitteilte, daß er engagiert werden sollte, protestierte er und fuchtelte mit den braunen, haarigen Armen in der Luft herum.

 

»Fällt mir gar nicht ein, in einem Schaufenster aufzutreten!« Seine Stimme verriet sofort, daß er ein Londoner Stadtkind war. »Ich dachte, Sie wollten mich in einem Variete unterbringen. Bilden Sie sich vielleicht ein, daß ich mich wie ein wilder Waldaffe in so einen Guckkasten setze?«

 

»Hören Sie mal zu, Okko«, erwiderte der Agent beruhigend. »Erstens ist das eine ganz besondere Sache, zweitens bekommen Sie eine Menge Geld, und drittens würde sich ein halbes Dutzend anderer Wilder Männer freuen –«

 

»Es gibt nur zwei«, entgegnete Okko drohend. »Lassen Sie bloß Ihre Mätzchen, die verfangen bei mir nicht. Übrigens bin ich augenblicklich der einzige, denn Bill Miles ist vom Wildwest-Zirkus genommen worden. Der geht jetzt als Indianer. So, nun wissen Sie, wie Sie dran sind.«

 

»Okko ist wirklich eine Berühmtheit«, wandte sich der Agent an Mr. Stewart. »Er ist der Sohn des Original-Wilden Mannes aus Borneo –«

 

»Der Enkel«, brummte Okko. »Mein Großvater hat die Sache erfunden. Der Unterschied ist nur, daß er aus Java kam und ich aus Rikitiki. Dort lebte ich auf den Ästen der Bäume und nährte mich von Nüssen«, leierte er mit monotoner Stimme die gewohnte Lektion herunter. »Die Eingeborenen verehrten mich als heiliges Wesen. In meiner Jugend wurde ich von Dikiditschi, dem berühmten russischen Reisenden und Entdecker, gefangen, der drei Jahre in dem undurchdringlichen Dschungel der Malariasümpfe zubrachte, um das Bindeglied zwischen Affen und Menschen zu finden!«

 

»Hören Sie nur«, rief der Agent begeistert. »Der Mann versteht seine Sache tatsächlich! Also, Okko, nun tun Sie mir den einen Gefallen und nehmen Sie dieses Engagement an. Es ist nur für eine Woche, und Sie bekommen fünfundzwanzig Pfund –«

 

»Fünfundzwanzig Pfund!« schrie Okko wild. »Unter vierzig trete ich überhaupt nicht auf, das wissen Sie!«

 

»Abgemacht«, sagte Mr. Stewart, und Okko unterzeichnete den Vertrag, durch den er sich verpflichtete, bei zweistündiger Mittagspause und dreimaliger warmer Mahlzeit mit Bier im Schaufenster der Firma Maber & Maber aufzutreten, und zwar für vierzig Pfund wöchentlich, zuzüglich des Erlöses aus dem Verkauf der Postkarten mit seinem Bild.

 

Triumphierend kehrte Alan zu Barbara zurück, um ihr von seinem Erfolg zu berichten.

 

Sie hörte gespannt zu, machte aber ein ernstes Gesicht.

 

»Erklären Sie den jungen Mädchen unten aber vorher«, ermahnte sie ihn, »daß dieser Wilde Mann in Wirklichkeit ein vollkommen harmloses Wesen mit Weib und Kind ist, und daß er in seiner freien Zeit Wolljumper strickt. Wir könnten sonst einen bedenklichen Aufruhr erleben.«

 

Er folgte ihrem Rat auch sofort, während sie selbst ihre volle Aufmerksamkeit wieder dem fraglichen Schaufenster zuwandte.

 

Dekorations- und Kulissenmaler waren bereits an der Arbeit und bannten mit glühenden Farben die Zauber des Dschungels und des Urwalds auf die Leinwand. In Riesenlettern verkündete ein Plakat der erstaunten Mitwelt, daß morgen in diesem Schaufenster Okko, der Original-Wilde Mann aus Borneo zu sehen sein würde, den der berühmte russische Gelehrte, Professor Dikiditschi, nach dreijähriger ununterbrochener Jagd endlich gefangen hatte.

 

Mr. Atterman ging persönlich auf die andere Seite der Straße, um das ungeheuerliche Plakat zu lesen, und kehrte kopfschüttelnd in sein Büro zurück.

 

»So etwas Vulgäres und Gewöhnliches ist mir denn doch noch nicht vorgekommen«, sagte er. »Die da drüben sind ja fürs Irrenhaus reif. Wo ist Minkey?«

 

Der Direktor erhob sich müde und zerschlagen aus seinem Sessel, als er gerufen wurde. Er hatte sich die ganze vorige Nacht um die Ohren geschlagen und sehnte sich nach der Annehmlichkeit eines weichen Kissens und nach Ruhe.

 

»Welche Schaufensterattraktion haben wir diese Woche?« fragte Atterman.

 

»Ein hübsches junges Mädchen, das die Handwebekunst vorführt.«

 

»Mädchen und Handwebekunst!« rief Atterman wütend. »Wirklich eine fabelhafte Attraktion! Sie haben sich tatsächlich von einer so einfachen Person, wie es diese Storr ist, überflügeln lassen! Die hat sich etwas ausgedacht, daß morgen der Verkehr in der Straße stocken wird!«

 

»Na, was wird sie schon haben«, brummte Minkey, der sich mehr tot als lebendig fühlte.

 

»Was sie haben wird? Den Original-Wilden-Mann aus Borneo hat sie! Warum fällt Ihnen denn nicht so etwas Gescheites ein? Sehen Sie bloß zu, daß Sie für morgen eine anständige Sache ins Schaufenster schaffen. Zum Teufel mit Ihrer verdammten Handwebekunst! Die lockt doch keinen Hund hinterm Ofen vor!«

 

*

 

Am Nachmittag stieg ein stattlicher Polizist zu Barbaras Büro hinauf, unterhielt sich einen Augenblick mit Albuera, trat dann ein und überreichte Barbara ein Schriftstück.

 

»Es ist eine Vorladung wegen Behinderung des Verkehrs«, erklärte er und lachte sie vergnügt an.

 

Auf dem Rückweg machte er wieder einen Scherz mit Albuera, denn sie waren gute Freunde.

 

Das Personal hatte Unerhörtes geleistet, aber jetzt waren die Leute todmüde und konnten sich kaum noch aufrecht halten. Barbara ließ deshalb überall Plakate anschlagen, daß das Geschäft heute ausnahmsweise um sechs statt um sieben geschlossen würde. Sie mußte Polizeiverstärkung vom Revier erbitten, um das Publikum zu dieser Zeit mit sanfter Gewalt aus den Verkaufsräumen zu entfernen.

 

»Morgen wird es noch ganz anders zugehen, wenn die Pariser Modelle an die Reihe kommen«, sagte sie zu Mr. Lark. »Heute müssen wir alle einmal ordentlich ausschlafen, damit wir morgen frisch und lebendig sind, wenn die Leute unser Lokal stürmen.«

 

Die Bareinnahmen zeigten Rekordziffern. Es wurde acht Uhr, bis das Geld gezählt und im Safe untergebracht war.

 

Barbara zeigte eine unglaubliche Energie. Trotzdem sie schon dreizehn Stunden ununterbrochen gearbeitet hatte, las sie noch die Korrekturen für die Annoncen, die am selben Abend in die Zeitungen gehen sollten. Und sie fühlte sich immer noch frisch und munter, als sie schließlich mit Alan Stewart nach Hause ging.

 

»Wenn Ihnen der alte Maber nach diesem Bravourstück nicht eine Partnerschaft anbietet, ist er ein undankbarer Kerl«, sagte er lächelnd, als sie sich trennten. »Sie haben den Wert des Geschäfts um fünfzig Prozent erhöht, und Sie sollen sehen, am Ende der Woche bieten Ihnen die Leute eine Viertelmillion. Wissen Sie, Miß Storr,« erklärte er begeistert, »am liebsten würde ich den ganzen Reklameschwindel an den Nagel hängen und mit Ihnen zusammen ein Warenhaus aufmachen. Dann sollten die Londoner erst mal was erleben. Wir zwei würden ein Tempo in die Bude bringen, daß ihnen Hören und Sehen verginge!«

 

»Wenn das ein Heiratsantrag sein soll, muß ich mich nach einem anderen Reklamechef umtun«, erwiderte sie und ging schnell weg.

 

Sie legte sich frühzeitig zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Zwei Dinge machten ihr Kopfschmerzen: Mr. Mabers Koffer und das aufgehäufte Geld im Safe. Welch eine leichte Beute für einen Geldschrankknacker! Sie faßte den Entschluß, morgen sofort mehr Wachleute einzustellen. Der alte Mann, der schon seit dreiundvierzig Jahren das Haus bewachte und sozusagen ein Erbstück der Firma Maber & Maber war, bot ihrer Meinung nach keinerlei Garantie für Sicherheit.

 

Sie lag wach und starrte in die Dunkelheit. Schließlich quälte die innere Unruhe sie so stark, daß sie wieder aufstand und Licht anmachte. Rasch kleidete sie sich an, verließ das Haus, ohne ihr Mädchen zu stören, und winkte ein Taxi heran.

 

*

 

Mr. Colesberg und Mr. Minkey machten sich bereit, an die Durchführung ihrer Aufgabe zu gehen, aber sie waren beide nicht sehr begeistert von ihrem Vorhaben und machten als Einbrecher entschieden schlechte Figuren.

 

»Es ist eine sehr unangenehme Sache, Atterman«, beschwerte sich Julius. »Ich komme dadurch in eine ganz schiefe Lage. Nehmen Sie nur einmal an, daß der Nachtwachmann –«

 

»Ich nehme gar nichts an«, erwiderte Mr. Atterman ärgerlich. »Bringen Sie den Koffer her, dann wollen wir weitersehen.«

 

Niedergeschlagen machten sich die Beiden auf den Weg.

 

Ein Mietauto brachte sie in die Nähe der Firma Maber & Maber. Mr. Minkey schlief während der Fahrt fest ein, und es gelang Julius mit Hilfe des Chauffeurs erst nach einer geraumen Zeit, ihn wachzurütteln und ins selbstbewußte Sein zurückzubringen.

 

Schließlich waren sie nur noch wenige Schritte von dem Hintereingang entfernt, der in der Lawton Street lag. Zu dieser Zeit herrschte in der Marlborough Avenue Stille, und die Lawton Street machte einen vollkommen toten Eindruck.

 

Eine Kirchenuhr schlug mit hohlem Klang zwei, als Julius mit zitternder Hand den Paßschlüssel in die Tür steckte. Er brachte es fertig, geräuschlos aufzuschließen. Im Gang und in der engen Stube des Nachtwächters brannte Licht.

 

Julius wurde bleich, und sein Herz schlug zum Zerspringen, als er den Wachtmann sah. Der Alte saß an seinem kleinen Tisch. Er hatte den Kopf auf die Arme gelegt und schnarchte regelmäßig.

 

»Er schläft — Gott sei Dank!« flüsterte Julius heiser.

 

»Beste Lösung«, murmelte Minkey, der schlaftrunken hinter ihm herwankte.

 

Julius packte ihn am Arm. Auf Zehenspitzen schlichen sie an dem Schlafenden vorbei, kamen unbehelligt zu der nächsten Treppe und erreichten auch ohne weiteren Zwischenfall die Büroräume, obwohl Mr. Minkey mehrmals stolperte.

 

»Bleiben Sie hier«, sagte Julius kaum hörbar, als er die Tür zu Mr. Larks Zimmer öffnete. »Sobald Sie das leiseste Geräusch hören, warnen Sie mich.«

 

»Schon gut.« Minkey gähnte und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung in einem Armsessel nieder, den Mr. Lark für bevorzugte Besucher reserviert hatte.

 

»Haben Sie auch begriffen, was Sie tun sollen, Minkey? Passen Sie ja gut auf!«

 

»Gut auf«, wiederholte der Direktor schon halb im Schlaf und setzte sich noch bequemer zurecht.

 

Julius schlich den Gang entlang und leuchtete dabei mit einer elektrischen Taschenlampe vor sich her. Bei jedem Laut, den er zu hören glaubte, schrak er zusammen, und wenn eine Fußbodendiele knarrte, sprang er entsetzt hoch. Angstschweiß stand auf seiner Stirne, aber er biß die Zähne zusammen und gelangte auch glücklich zu dem Safe. Behutsam öffnete er ihn.

 

Als er hineinleuchtete und die vielen Banknoten sah, packte ihn wilder Schrecken. Wenn ihn jemand in dieser Situation überraschte! Man mußte ihn ja tatsächlich für einen Einbrecher halten, es gab keine andere Erklärung für seine Anwesenheit. Was sollte er sagen, wenn man ihn vor dem offenen Geldschrank abfaßte?

 

Zitternd und bebend holte er den Koffer aus seinem Versteck hervor, schloß den Safe und schlich wieder auf den Gang hinaus. Aber kaum hatte er den Fuß auf den weichen Läufer gesetzt, als er Barbaras Stimme hörte! Einer Ohnmacht nahe, lehnte er sich gegen die Wandtäfelung.

 

Sie weckte den Wachtmann!

 

Fieberhaft arbeiteten seine Gedanken, um einen Ausweg zu finden. Im Augenblick dachte er nur an seine persönliche Sicherheit und vergaß den armen Mr. Minkey, der inzwischen in Mr. Larks Büro sanft und friedlich eingeschlafen war. Als er jetzt Schritte auf der Steintreppe hörte, eilte er verzweifelt zu seinem alten Zimmer.

 

Die Tür stand offen, und er trat leise ein. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß er immer noch den Koffer Mr. Mabers trug.

 

Barbara kam die Treppe herauf. Mit schwerem Schritt folgte ihr der Nachtwächter. Und dann hörte Julius zu seinem Entsetzen Larks Stimme.

 

»Wirklich komisch, daß wir zur gleichen Zeit denselben Gedanken hatten, Miß Storr. Ich hatte keine Ruhe, immer wieder mußte ich an das Geld denken.– Und ich muß schon sagen, daß ich aufs höchste über Sie verwundert bin, Simmonds. Wenn ich das noch einmal erlebe, sind Sie am längsten hier Nachtwächter gewesen!«

 

»Es ist das erstemal seit dreiundvierzig Jahren, daß ich während der Dienstzeit schlafe«, protestierte der Alte lebhaft.

 

»Sie wollen wohl sagen, daß Sie heute zum erstenmal während der Dienstzeit wachen!« fuhr ihn Lark an.

 

Julius sträubten sich die Haare. Wenn Lark nun in sein eigenes Büro ginge, mußte er doch mit Minkey zusammenstoßen! Und wie sollte er selbst mit diesem Ungetüm von Koffer entkommen?

 

Das Fenster!

 

Vorsichtig schlich er hin und öffnete es. Auf dem Gehsteig stand ein Mann, der sich schnell in den Schatten zurückzog. Julius erkannte Mr. Atterman, als er einen leisen Pfiff hörte.

 

»Sind Sie es, Julius?« klang es gedämpft von unten herauf.

 

Mr. Colesberg gestikulierte wild mit den Armen.

 

»Helfen Sie mir, daß ich herauskomme!« flüsterte er. »Storr und Lark sind hier –«

 

»Werfen Sie vor allem den Koffer herunter«, drängte Atterman.

 

Julius holte den Koffer ans Fenster, zögerte einen Augenblick und ließ ihn dann fallen. Von unten tönte ein unterdrückter Wehlaut und ein Fluch herauf, aber Julius kümmerte sich nicht darum. Er stand schon wieder an der Tür und lauschte atemlos.

 

Barbara und ihr Begleiter kamen aus Mr. Mabers Privatbüro zurück und sprachen aufgeregt miteinander. Julius hörte das Wort »Safe« und schauderte. Eine Gänsehaut überlief ihn, als die Stimmen näher und näher kamen.

 

In seiner Verzweiflung schloß er die Tür mit dem Paßschlüssel ab, aber diesmal gelang es ihm nicht geräuschlos.

 

»Wer ist da drinnen?« rief Barbara und rüttelte an der Klinke.

 

Mr. Colesberg verhielt sich natürlich mäuschenstill und suchte den Weg zum Fenster. Im nächsten Augenblick saß er auf dem Fensterbrett.

 

Ein Sprung — und er landete unsanft unten auf den Steinen des Trottoirs. Drei Sekunden später stand er schon wieder auf den Beinen und atmete erleichtert auf, aber neues Unheil wartete auf ihn.

 

Mit festem Griff packte ihn jemand am Arm.

 

»Na, den hätten wir ja glücklich erwischt!« sagte ein stattlicher Polizist und nickte befriedigt, während er sein Opfer mit Genugtuung betrachtete.

 

Kapitel 6

 

6

 

Im ersten Moment war Julius halb gelähmt vor Furcht, aber dann riß er sich mit dem Mut der Verzweiflung los und stürzte aufs Geratewohl die Straße entlang. Der Beamte sofort hinter ihm her. Ein Alarmpfiff gellte durch die Nacht, und von der anderen Seite der Straße eilte ein Mann herüber, um den Flüchtling zu fassen.

 

Julius bog in eine Nebenstraße ein und sah sich plötzlich vor dem Eisenzaun des Hyde-Parks. Er zögerte keine Sekunde, sprang und packte den oberen Rand. Mit übermenschlicher Anstrengung zog er sich hoch und fiel auf der anderen Seite auf dem Rasen nieder. Wie ein Federball sprang er wieder auf und raste weiter durch die Dunkelheit.

 

Um vier Uhr morgens schlich er sich mit vollständig beschmutzten und zerrissenen Kleidern die Treppe zu Mr. Attermans Haus im Regent’s Park hinauf. Er hatte auf der Flucht seinen Hut verloren, und das sonst so gut gepflegte Haar hing ihm wirr in die Stirne.

 

Mr. Atterman öffnete ihm auf sein leises Klopfen und ließ ihn ein.

 

»Was ist denn mit Ihnen los, Julius?« Entsetzt starrte er auf seinen Bundesgenossen.

 

»Geben Sie mir etwas zu trinken«, stöhnte Mr. Colesberg und wankte zum nächsten Sessel.

 

»Ja — aber was ist denn los?«

 

»Haben Sie den Koffer?«

 

»Selbstverständlich«, entgegnete Atterman ungeduldig. Er hatte ihn unter die Couch in seinem Arbeitszimmer gestellt. »Es war nur ein Glück«, sagte er dann herzlos, »daß ich den Polizisten beizeiten sah und mich aus dem Staube machen konnte. Sie sind wohl erwischt worden?«

 

Julius nickte und trank gierig den Whisky-Soda, den Atterman inzwischen eingegossen hatte.

 

»Wo ist denn eigentlich Minkey?«

 

»Minkey?« Julius sah ihn entgeistert an. Mit keinem Gedanken hatte er sich bis jetzt an seinen Begleiter erinnert.

 

»Na, wo ist er?« wiederholte Atterman drängend.

 

»Das weiß ich nicht.« Julius strich sich das Haar aus der Stirne. »Ich habe ihn in Larks Büro zurückgelassen. Wahrscheinlich hat er sie auch kommen hören und ist entwischt. Ich hoffe es wenigstens. Er war allerdings sehr schläfrig.«

 

»Der Idiot wird doch nicht am Ende in Larks Büro eingeschlafen sein?« erwiderte Atterman ängstlich. »Glauben Sie, daß sie ihn geschnappt haben könnten?«

 

»Leicht möglich, wenn ich mir’s jetzt überlege«, entgegnete Julius brutal. »Vielleicht haben sie ihn schon auf die Polizeistation gebracht und verhören ihn gerade. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, wird er ihnen alles verraten.«

 

»Verdammt!« fluchte Atterman, schwieg eine Weile und dachte nach. »Ich glaube aber nicht, daß der viel erzählt«, meinte er dann. »Außerdem weiß er ja auch gar nichts. Es war Wahnsinn, daß ich ihn mitschickte. Der Trottel schlief ja schon, bevor er hier aus dem Haus ging.«

 

Er erhob sich und fischte den Koffer unter der Couch hervor.

 

»Haben Sie den Schlüssel?«

 

Julius schüttelte den Kopf.

 

»Das ist doch ein ganz gewöhnliches Schloß. Mit jedem Schlüssel können Sie das aufmachen.«

 

»Nein, es ist ein Patentschloß. Ich habe es schon untersucht. Sehen Sie doch her.«

 

»Dann müssen sie den Koffer eben an der Seite aufschneiden«, schlug Julius vor.

 

Aber das erschien Mr. Atterman doch zu gefährlich. Und je länger er überlegte, desto weniger erschien es ihm ratsam, gewaltsam vorzugehen. Der Koffer enthielt ja vermutlich doch nur Kleidungsstücke.

 

»Ich werde Sie jetzt mit meinem Wagen nach Hause bringen, Colesberg. In Ihrer Wohnung müssen Sie sofort Ihre Kleider verbrennen, damit die Polizei nicht noch mehr Anhaltspunkte bekommt, als sie schon ohnehin hat.«

 

Julius schauderte.

 

»Und werfen Sie vor allem auch den Schlüssel zum Safe weg …«

 

Den Schlüssel zum Safe! Julius suchte wild in allen Taschen.

 

»Um Himmels willen, den habe ich ja stecken lassen!« stammelte er entsetzt. »Und mein Name ist darauf eingraviert!«

 

*

 

Mr. Lark untersuchte die Banknotenbündel.

 

»Nein, Miß Storr, soweit ich sehen kann, fehlt nichts von dem Geld.«

 

»Nur der Koffer ist fort«, erwiderte sie nachdenklich. »Er gehört Mr. Maber«, fügte sie zögernd hinzu.

 

»War Geld darin?«

 

»Nein — nur zum Wechseln — ich meine von Kleidern.«

 

»Der Einbrecher ist durch das Fenster in Mr. Colesbergs Büro entwischt. Ich habe mir schon immer gedacht, daß auf diesem Weg einmal Diebe ins Haus kommen. Die Fenster hätten längst durch Gitter gesichert werden müssen.«

 

»Hat die Polizei ihn nicht gefaßt?«

 

»Nein, aber die werden ihn schon noch kriegen!« entgegnete er zuversichtlich.

 

Im Osten graute der Horizont, die Morgendämmerung brach herein. Das Vernünftigste wäre jetzt gewesen, nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen, aber Barbara hatte kein Bedürfnis nach Schlaf.

 

Sie ging mit Mr. Lark zum Erfrischungsraum hinauf. Er wußte dort Bescheid, kochte eine Tasse Kaffee und servierte sie ihr mit einem Päckchen Keks. So frühstückten die beiden nach den Strapazen der Nacht friedlich im frühen Morgenlicht.

 

»Schlafen Sie überhaupt jemals?« fragte sie neugierig.

 

»Nur drei oder vier Stunden pro Tag«, erwiderte er gleichgültig. »Napoleon war auch so veranlagt, wenn man den Berichten über ihn glauben kann.«

 

»Ja, und von Wellington und Washington habe ich das gleiche gelesen. Da befinden Sie sich ja in einer Gesellschaft berühmter Männer.«

 

Sie sprachen noch über dies und jenes, und nach einer Weile erhob sich Mr. Lark, um in sein Büro zu gehen. Barbara blieb noch oben.

 

Plötzlich ertönte ein unterdrückter Schrei. Gleich darauf war wieder alles ruhig.

 

Barbara eilte nach unten.

 

»Was ist denn los?« fragte sie außer Atem.

 

Lark stand mit bleichem Gesicht vor der Tür zu seinem Büro.

 

»Ich habe eben allerdings einen ziemlichen Schrecken bekommen«, entschuldigte er sich. »Raten Sie mal, wen ich in meinem Zimmer gefunden habe?«

 

»Den Einbrecher?«

 

»Mr. Minkey!«

 

Barbara traute ihren Ohren nicht.

 

»Mr. Minkey schläft in meinem Sessel und ist anscheinend total betrunken.«

 

Sie gingen hinein, und Lark schaltete das Licht ein.

 

Wirklich, es stimmte. Mr. Minkey kauerte wie ein zusammengerollter Igel in dem bequemen Klubsessel und schnarchte laut.

 

Lark ging auf ihn zu, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn.

 

Barbara mußte ein Lachen unterdrücken, als Minkey schläfrig die Augen öffnete. Er schien gar nicht zu wissen, wo er sich befand, und drehte sich knurrend auf die andere Seite um.

 

»Wachen Sie auf, Sie Faulpelz!« rief Mr. Lark energisch. »Sie sind in der falschen Firma! — Miß Storr, da haben wir ja den Einbrecher!« wandte er sich plötzlich an Barbara.

 

Aber sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, er war es nicht. Aber ich kenne den richtigen Dieb«, erklärte sie mit Nachdruck. »Wecken Sie den Mann doch auf.«

 

»Aufwachen, Minkey!« Lark stieß den unglücklichen Gefangenen in die Rippen, aber seine Bemühungen blieben erfolglos.

 

»Na, dann müssen wir ihn eben schlafen lassen«, meinte Barbara nach einer Weile.

 

Lark drehte das Licht wieder aus und folgte Barbara in ihr Büro.

 

»Wie ist der Mensch bloß dahin gekommen?« Er runzelte verwundert die Stirne.

 

Der Mann würde nun der Polizei übergeben werden. Das behagte Lark nicht sonderlich, denn schließlich war Minkey doch ein Kollege von ihm. Er dachte an die Freimaurer, die sich gegenseitig unterstützten. Bestand nicht eine ähnliche Bruderschaft auch zwischen ihnen, da sie doch Vertreter desselben Standes waren? Wenn er nur ein wenig mehr von diesen Dingen gewußt hätte!

 

»Wahrscheinlich hat er den Eingang verwechselt und ist hier hereingekommen. Simmonds hat natürlich geschlafen und nichts gehört«, sagte Barbara, die die wahren Zusammenhänge ahnte. »Lassen Sie ihn ruhig schlafen. Vermutlich wacht er nicht vor vier Uhr nachmittags auf.«

 

Lark suchte von seiner Nachtruhe zu retten, was sich noch retten Heß, ging in die Teppichabteilung, ließ sich dort auf einem weichen Stapel nieder und breitete eine Daunendecke über sich, die er unterwegs mitgenommen hatte. Als die Putzfrauen um sieben Uhr kamen, fanden sie ihn dort und weckten ihn.

 

Barbara hatte ebenfalls in ihrem Büro ein wenig geschlafen. Als sie später die Post durchsah, fand sie darunter ein Schreiben von Okko. Alan Stewart hatte sie schon darauf vorbereitet, daß wahrscheinlich eine Nachricht von dem Mann eintreffen würde. Rasch öffnete sie den Umschlag und las:

 

»Sehr geehrter Herr, nachdem ich die Angelegenheit noch einmal überlegt und mit verschiedenen Kollegen besprochen habe, muß ich die angebotene Beschäftigung ablehnen, da sie sich nicht mit meiner Berufsehre und der Würde meines Standes verträgt.

 

Hochachtungsvoll

 

Okko.«

 

Barbara wurde aufs unangenehmste überrascht. Alan hatte schon kurze Artikel über den Wilden Mann an alle Zeitungen geschickt, die an diesem Morgen bestimmt erschienen waren.

 

Sie ließ Mr. Lark kommen und zeigte ihm den Brief.

 

»Das ist allerdings äußerst fatal«, meinte auch er. »Von dieser Attraktion hatte ich mir sehr viel versprochen.«

 

»Vielleicht wäre es möglich, einen Ersatz zu finden«, erwiderte Barbara mit etwas heiserer Stimme. Es war auch sonderbar, daß sie ihn nicht wie sonst anschaute, während sie sprach.

 

Lark schüttelte den Kopf.

 

»Für einen Verkäufer oder für eine Verkäuferin finden Sie leicht Ersatz, aber für den Original-Wilden Mann aus Borneo? Ausgeschlossen!«

 

»Wir müssen aber unter allen Umständen Ersatz schaffen«, sagte sie und sah immer noch an ihm vorbei. »Und Minkey hatte doch wirklich kein Recht, hierher zu kommen. Wir könnten ihn glatt wegen Einbruchs anzeigen.«

 

»Sie wollen doch nicht etwa …« begann er entsetzt.

 

Sie nickte langsam.

 

»Es wäre doch auch viel bequemer für ihn als in Ihrem Stuhl. Wir könnten ihm eine weiche Matte auf den Boden legen und ihm ein paar Decken geben.«

 

Mr. Lark öffnete die Tür zu seinem Büro und schaute hinein. Minkey schlief noch und rührte sich auch nicht, als Lark geräuschvoll einen Sessel an den Tisch schob.

 

»Kümmern Sie sich nicht darum, Miß Storr«, wandte sich der Direktor an Barbara. »Wenn alles geregelt ist, sage ich Ihnen Bescheid.«

 

*

 

Die Erstausgaben der Zeitungen brachten kein Wort über den Einbruch bei der Firma Maber & Maber. Mr. Atterman hatte einen besonderen Boten in die City geschickt, um die wichtigsten Morgenblätter zu kaufen. Als er sie durchgesehen hatte, atmete er erleichtert auf.

 

Aber der Gedanke an Minkey beunruhigte ihn immer noch sehr. Was war denn nur aus dem Mann geworden? Hoffentlich hatte er sich aus dem Staube gemacht.

 

Später beobachtete Mr. Atterman von seinem Büro aus die Menschenmenge, die sich vor den Schaufenstern von Maber & Maber drängte. Der Wilde Mann aus Borneo schien ein großer Erfolg zu werden. Immer mehr Leute stauten sich vor dem Konkurrenzgeschäft, und berittene Schutzleute mußten dafür sorgen, daß der Fahrdamm freigehalten wurde.

 

Mr. Atterman nahm einen Feldstecher zur Hand, um das Schaufenster mit der Dschungeldekoration näher in Augenschein zu nehmen, aber er konnte nichts erkennen, da die Massen in ständiger Bewegung waren. Schließlich hielt er es vor Neugierde nicht länger aus, ging auf die Straße hinunter und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Mit Geduld und Hartnäckigkeit gelangte er endlich in die vorderste Reihe und sah den Original-Wilden Mann aus Borneo. Aber er mußte sich zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien.

 

Mitten im Schaufenster lag auf zartgrünem Rasenteppich, mit offenem Munde und laut schnarchend, Minkey!

 

Bebend vor Wut drängte sich Atterman durch die Menschen und stürzte zu dem Haupteingang der Firma Maber & Maber. Aber ein Polizist packte ihn am Ärmel und hielt ihn fest.

 

»Immer hübsch in der Reihe bleiben! Jeder kommt dran! Sie können noch genug kaufen.«

 

»Ich muß aber dringend Miß Storr sprechen«, schrie Atterman.

 

»Das tut mir leid, ich kann mit Ihnen auch keine Ausnahme machen. Sie müssen sich hinten anstellen.«

 

In maßloser Empörung eilte Atterman zur Lawton Street und betrat durch den Hintereingang Mabers Geschäftshaus. Der Portier, der dort Wache hielt, kannte ihn und wagte nicht, ihn aufzuhalten.

 

Einige Minuten später hatte sich Atterman bis in die Nähe des Schaufensters vorgearbeitet, in dem er Minkey entdeckt hatte.

 

»Entschuldigen Sie, den Wilden Mann darf man nicht stören«, wehrte ihn einer der Aufsichtsbeamten ab. »Der Kerl ist gefährlich. Der kriegt es fertig und beißt Sie in die Hand.«

 

»Lassen Sie mich in Ruhe«, knurrte Mr. Atterman. »Ich muß zu ihm, er ist mein Angestellter.«

 

»Es tut mir leid«, erwiderte der Mann und zog Mr. Atterman mit festem Griff zurück, als sich dieser mit Gewalt Zugang zu dem Schaufenster verschaffen wollte.

 

Schäumend vor Wut eilte Atterman zu Barbaras Büro hinauf, aber auch vor ihrer Tür wurde er angehalten.

 

»Sind Sie bestellt?« fragte Albuera und musterte ihn argwöhnisch und kritisch.

 

»Ich muß Miß Storr sprechen«, stieß Atterman wild hervor, »und zwar sofort!«

 

Im selben Augenblick tat sich die Tür auf, und Barbara trat heraus.

 

»Ach, wollen Sie mich sprechen, Mr. Atterman?« begrüßte sie ihn harmlos.

 

Seine Erregung war so groß, daß er kein Wort mehr herausbrachte. Er zeigte nur stumm mit der Hand nach unten.

 

»Ja, der Besuch ist heute morgen ausgezeichnet. Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit, mir zu gratulieren.«

 

»Mein — Direktor — Mr. Minkey«, stotterte er außer sich.

 

»Wie bitte? Mr. Minkey? — Ach, jetzt erinnere ich mich. Was ist denn mit ihm?«

 

»Er liegt in Ihrem Schaufenster — es ist eine Schande … ich werde Sie dafür verhaften lassen!«

 

»Drohen Sie hier nicht!« warnte Albuera und legte die Stirne in gefährliche Falten.

 

»Das kann nicht Ihr Mr. Minkey sein«, sagte Barbara mit sanfter Stimme. »Das ist doch der Wilde Mann, den wir engagiert haben. Ich weiß allerdings nicht, wie er hereingekommen ist. Wir fanden ihn heute morgen schlafend in Mr. Larks Büro und hielten ihn natürlich für den Wilden Mann aus Borneo. Wer sollte es denn auch sonst sein? Wenn es nicht der Wilde Mann ist, sondern zum Beispiel ein Mensch, der heimtückisch in der Nacht in das Geschäft eingebrochen ist, müßten wir ihn ja verhaften lassen! Nicht wahr?« wandte sie sich an Albuera.

 

»Selbstverständlich«, pflichtete der Polizist bereitwillig bei. »Man bricht nicht ungestraft nachts in Geschäfte ein. In diesem Lande herrscht Ordnung!«

 

Die letzte Bemerkung ernüchterte Mr. Atterman.

 

»Es muß ein gräßliches Mißverständnis vorliegen«, sagte er plötzlich freundlich. »Entweder ist der Mann aus Versehen ins falsche Geschäft gegangen, oder man hat einem Hauptangestellten der Firma Atterman einen bösen Streich gespielt.«

 

»Das glaube ich nicht!« entgegnete Barbara energisch. »Nur mit einem Paßschlüssel oder in Begleitung eines entlassenen Angestellten der Firma Maber & Maber, der einen solchen Schlüssel besitzt, hätte er hereinkommen können. Allem Anschein nach hat er irgendeine gesetzwidrige Handlung begangen. Ich möchte Ihnen übrigens noch mitteilen, daß mein Safe gestern nacht geöffnet wurde. Er enthielt eine große Summe …«

 

Mr. Atterman wurde bleich.

 

»Aber es ist doch nichts gestohlen worden«, sagte er unnötig laut.

 

»Es ist schon etwas gestohlen worden, wenn auch das Geld, soweit bis jetzt bekannt, noch vollständig vorhanden ist. Der Einbrecher und der Hehler –« ein durchbohrender Blick traf Mr. Atterman — »können sich auf lange Freiheitsstrafen gefaßt machen. Ich habe eine bestimmte Theorie über den Einbruch, und ich hoffe, Sie werden sich nicht unnötig einmischen, Mr. Atterman! Wenn es sich allerdings herausstellen sollte, daß unser Wilder Mann tatsächlich Ihr Mr. Minkey wäre –«

 

Sie zuckte die Schultern und sah Albuera mit einem vielsagenden Lächeln an, worauf sich der Beamte stolz in die Brust warf.

 

»Vielleicht irre ich mich auch«, fiel ihr Mr. Atterman ins Wort und räusperte sich dann. »Ich muß allerdings sagen, daß die Ähnlichkeit direkt verblüffend ist. Damit will ich nun aber nicht etwa behaupten, daß Mr. Minkey dem Wilden Mann aus Borneo auch nur im geringsten ähnlich sieht. Aber es wäre doch immerhin möglich –« er schwieg, da ihm im Augenblick weiter nichts einfiel.

 

»Es wäre immerhin möglich«, meinte Barbara freundlich, »daß der Wilde Mann aus Borneo eine frappante Ähnlichkeit mit Mr. Minkey hat.«

 

»Ja, ganz meine Ansicht«, stammelte Atterman verwirrt.

 

»Ach, Albuera, haben Sie doch die Güte und bringen Sie den Herrn zum Ausgang. Oder wollen Sie vielleicht vorher noch etwas einkaufen, Mr. Atterman?«

 

Der geschlagene Mann wagte nicht, noch ein Wort zu sagen.

 

*

 

Maudie Deane, die Trompetenbläserin, war verabredungsgemäß schon am vergangenen Morgen erschienen. Barbara hatte sie jedoch wieder fortgeschickt, allerdings unter der Bedingung, sich stets bereit zu halten. An diesem Tag kam sie nun mit ihrem Instrument wieder kurz nach neun.

 

»Ich glaube, heute morgen ist es an der Zeit, das aufgeregte Gemüt Mr. Attermans durch Musik ein wenig zu besänftigen«, begrüßte Barbara die junge Dame.

 

»Was für ein Schreckgespenst haben Sie denn da im Schaufenster?« fragte Maudie etwas bestürzt. »So einen wüsten Kerl habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Großer Gott, da kann man ja das Gruseln lernen!« Sie schauderte. »Hoffentlich halten Sie den hinter Schloß und Riegel? Als ich vorbeikam, schlief er.«

 

»Diese wilden Leute aus Borneo schlafen den ganzen Sommer«, erklärte Barbara. »Gehen Sie jetzt bitte aufs Dach und machen Sie es sich dort bequem. Mr. Lark soll Sie hinbringen. Er hat mir versprochen, einen großen Sonnenschirm für Sie aufzustellen.«

 

»Soll man mich denn auch von der Straße aus sehen?«

 

»Nein, im Gegenteil. Es wäre besser, daß Sie sich möglichst weit entfernt vom Geländer niederlassen.« »Und was soll ich spielen?« fragte Maudie eifrig. Barbara überlegte.

 

»Beginnen Sie mit ›Bubi, wo warst du die letzte Nacht?‹ Das geht doch, nicht wahr?«

 

Maudie nickte und notierte sich das Stück.

 

»Dann spielen Sie das ›Lied vom Wilden Mann aus Borneo‹. Es ist eine alte Melodie, aber Sie kennen sie vielleicht?«

 

Maudie nickte wieder und machte eine neue Notiz.

 

»Und dann –« Barbara sah nachdenklich zur Decke empor — ›Schlaf ein, mein kleines Sonnenkind‹ — das reizende Lied ist Ihnen doch bekannt?«

 

Maudie war nahezu gekränkt, weil Barbara sich dauernd erkundigte, ob sie die Schlager kenne.

 

Nachdem Miß Deane gegangen war, erhielt Barbara einen unwillkommenen Besuch.

 

»Ich weiß schon, daß Sie mich nicht zu sehen wünschen«, begrüßte ›Mrs. Maber‹ das junge Mädchen und lächelte süß. »Aber trotzdem möchte ich Sie um eine längere und ernste Aussprache bitten.«

 

»Daraus kann wohl nichts werden. Je kürzer, desto besser.«

 

»Ich habe eben erfahren, daß mein armer Mann im Kittchen sitzt.«

 

Barbara sah die Frau entsetzt an.

 

»Wer hat Ihnen denn diese unglaublich alberne Geschichte erzählt?«

 

»Das möchte ich im Augenblick nicht sagen. Ich wollte es Ihnen nur mitteilen«, erklärte die Frau selbstbewußt. »Sie sind es nämlich, die meinen Mann in all diese Schwierigkeiten gebracht hat. Ich lasse mir das nicht bieten, ich gehe zur Polizei! Sie wußten, daß er im Gefängnis saß und haben mich, seine rechtmäßige Frau, nicht einmal davon benachrichtigt! Und mein Geld haben Sie mir vorenthalten! Weil mein Mann nicht hier im Geschäft ist, bekomme ich nicht die mir zustehende Rente!«

 

Ihre Aufregung war diesmal durchaus echt, denn Rechtsanwalt Hammett hatte gedroht, ihr das Genick umzudrehen, wenn sie wieder ohne Erfolg zurückkäme.

 

»Sie sitzen hier, lassen es sich gut gehen und behandeln die Frau Ihres Chefs in der infamsten Weise. Das lasse ich mir nicht gefallen! Meinen Sie vielleicht, ich würde Sie hier auf Knien um das Geld bitten, das mir rechtmäßig zusteht? Nur, weil mein Mann im Gefängnis sitzt? Ich gehe direkt zu den Zeitungen. Ich wende mich an das Ministerium des Innern –«

 

Sie machte eine Atempause. Mr. Hammett hatte ihr noch viel mehr eingetrichtert, aber sie konnte sich im Moment nicht mehr darauf besinnen.

 

Barbara benutzte die Unterbrechung, um auch ein paar Worte zu sagen.

 

»Sie brauchen sich durchaus nicht derartig aufzuregen, Mrs. Maber. Ich will ja alles für Sie tun, was nur in meiner Macht steht. Es ist ja leider wahr, daß Ihr Mann im Gefängnis sitzt, aber dafür kann ich nichts.«

 

Die Frau rümpfte die Nase.

 

»Bedenken Sie, daß fünfhundert Pfund eine ungeheure Summe sind«, fuhr Barbara ernst fort. »Ihnen mag sie ja nicht groß erscheinen, aber für mich bedeutet sie sehr viel. Und ich bin nicht darauf vorbereitet–«

 

»Was, Sie sind nicht darauf vorbereitet?« rief Mrs. Hammett mit schriller Stimme. »Nun gut, dann werden Sie schon sehen, wie ich mir mein Recht verschaffe. Ich gehe jetzt sofort zu meinem Anwalt, dem berühmten Mr. Hammett –«

 

»Ach, der!«

 

Mrs. Maber hatte einen schweren Fehler gemacht. Ihr Mann hatte ihr nicht gesagt, daß sie seinen Namen erwähnen solle, aber er hatte es ihr auch nicht verboten. Und sie glaubte natürlich, daß Miß Storr nichts von der Existenz eines Mr. Hammett wüßte.

 

Barbara lachte vergnügt vor sich hin.

 

»Das war aber wirklich sehr dumm von Ihnen! Hätten Sie das nicht gesagt, so hätte ich Ihnen tatsächlich die fünfhundert Pfund gezahlt.«

 

»Wie meinen Sie denn das?« fragte Mrs. Hammett ängstlich.

 

»Jetzt durchschaue ich den ganzen Schwindel. Ihre geheime Ehe mit Mr. Maber und alles andere! Warten Sie einen Augenblick.«

 

Sie nahm den Telefonhörer und nannte eine Nummer, während sie mit der rechten Hand das Scheckbuch aus dem Schreibtischfach nahm und in den Abschnitten blätterte.

 

»Ist dort die Southern Bank? Miß Storr ist am Apparat. Bitte sperren Sie Scheck DH 187475 … danke. Er ist doch noch nicht vorgelegt worden? … Danke vielmals.«

 

Mrs. Hammett wurde aschgrau im Gesicht.

 

»Was soll denn das alles bedeuten?« fragte sie entsetzt.

 

Barbara zeigte auf die Tür.

 

»Machen Sie schnell, daß Sie verduften!«

 

Barbara konnte sich bei solchen Gelegenheiten sehr vulgär ausdrücken.

 

Mrs. Hammett machte einen letzten Versuch und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.

 

»Wenn Sie mich hinauswerfen, gibt es einen kolossalen Krach, das kann ich Ihnen nur sagen. Der Alte sitzt im Loch, und Sie wollen es vertuschen! Was meinen Sie wohl, was andere Leute mir dafür geben würden, wenn sie die Neuigkeit erfahren? Ich brauche bloß zu Atterman hinüberzugehen!«

 

Der Name war ihr nur zufällig eingefallen, aber sie sah, daß ihre letzten Worte großen Eindruck auf Barbara gemacht hatten.

 

»Ich will Ihnen etwas sagen«, fuhr sie sicherer fort. »Mein Mann muß das Land verlassen, und zwar sehr schnell. Wir stecken bis über die Ohren in Schulden; und man verhaftet ihn nächste Woche, wenn wir uns nicht rechtzeitig aus dem Staube machen können. Unsere Pässe sind in Ordnung — wir wollen nach Kanada gehen. Also, wenn Sie mir jetzt nicht eine anständige Summe zahlen, gehe ich zu Atterman und erzähle ihm, daß Maber im Gefängnis sitzt.«

 

Barbara überlegte scharf und betrachtete Mrs. Hammett dabei. Zweifellos sprach die Frau vollkommen im Ernst. Ihr mit dem Gericht zu drohen, hatte gar keinen Zweck. Und wenn sie sie durch Albuera verhaften ließ, kam die Sache erst recht in die Öffentlichkeit. Außerdem konnte ja eigentlich nichts Besseres passieren, als daß Hammett das Land für immer verließ. Er war außer ihr und den Gerichtsbeamten der einzige, der von dieser unglücklichen Affäre Mr. Mabers wußte und ihn daher erpressen konnte.

 

Kurz entschlossen erhob sie sich, nahm zwei Päckchen Banknoten zu je hundert Pfund aus dem Safe und legte sie auf den Schreibtisch.

 

»Hier haben Sie Ihr Geld. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Wenn Sie in einer Woche noch in England sind, sorge ich dafür, daß Sie selbst ins Kittchen kommen!«

 

Sie öffnete die Tür, und Mrs. Hammett ging hinaus, wenn auch nicht gerade triumphierend, so doch befriedigt.

 

*

 

Zur selben Zeit hielt Atterman einen Kriegsrat mit Julius ab. Die Menschenmenge drängte sich noch in der Straße, um den schlafenden Mann aus Borneo zu sehen. So oft Mr. Atterman am Fenster vorüberkam und hinunterschaute, wurde er wild und konnte nicht mehr zusammenhängend sprechen.

 

»Sie weiß, daß Sie der andere waren«, sagte er ärgerlich. »Natürlich weiß sie das. Sie haben mich in eine nette Lage gebracht!«

 

»Ich?« erwiderte Julius entrüstet. »Das fehlt gerade noch, daß Sie mir jetzt Vorwürfe machen wollen! Wenn Sie nicht wie ein Verrückter darauf bestanden hätten, wäre ich niemals hingegangen! Warum haben Sie mir überhaupt diesen blödsinnigen Minkey mitgegeben?«

 

Mr. Atterman wanderte mit gesenktem Kopf in seinem Zimmer umher.

 

»Wenn ich nur wüßte, wie ich diese niederträchtige Person in meine Gewalt bekommen könnte!«

 

Plötzlich begann sein Herz heftig zu schlagen, als er wundervoll klare und reine Trompetentöne hörte. Nur Maudie Deane konnte so herrlich spielen! Er sah sich um, ob er sie nicht entdecken könnte. Aber nirgends glitzerte eine Trompete im Sonnenlicht. Es schien fast, als ob die Töne aus den Wolken niederströmten, und Mr. Atterman glaubte einen Augenblick, Sphärenmusik zu hören. Erst als er die Melodie erkannte, kam er zur Wirklichkeit zurück und knirschte mit den Zähnen.

 

»Sie weiß nicht, was sie tut!« rief er empört. »Dieses unverschämte Frauenzimmer hat sie zu dieser Schandtat angestiftet, um mich zu ärgern!«

 

Er suchte die Straße, die Mabersche Fassade und den Himmel mit den Blicken ab, und schließlich merkte er, woher die Töne kamen.

 

»Auf dem Dach ist sie!« sagte er atemlos, stürzte zum Fahrstuhl und ließ sich zum Dachgarten hinauffahren.

 

Ja, sie war’s! Er winkte ihr mit der Hand, aber sie hatte die Augen geschlossen, weil sie dann besser blasen konnte. Sie war gerade bei dem »Wilden Mann von Borneo«. Wie konnte eine Künstlerin wie Maudie ein derartig vulgäres Lied spielen!

 

Verzweifelt begab er sich wieder in sein Büro. Die Liebe zu Maudie schlug nun in wilden Haß um, weil sie ihn so schamlos verhöhnte.

 

»Jetzt werde ich doch nachsehen, was in dem Koffer ist«, sagte er entschlossen zu Julius. »Es ist mir ganz egal, was daraus wird. Wir fahren in meine Wohnung, und wir schneiden das Leder auf.«

 

»Das können Sie meinetwegen tun, wenn es Ihnen Spaß macht. Aber ich habe meine Haut schon genügend zu Markt getragen. Mein Bedarf an solchen Abenteuern ist bis an mein Lebensende gedeckt!«

 

»Kommt es denn überhaupt darauf an, wer das Leder aufschneidet? Ich werde Peeker einmal rufen.« »Wer ist denn das?« brummte Julius.

 

Mr. Atterman drückte auf eine Klingel.

 

Peeker war einer der tüchtigsten Warenhausdetektive, denn er besaß ein sehr feines Einfühlungsvermögen und faßte sowohl die vornehmen Damen mit kleptomanischer Veranlagung als auch die gewöhnlichen Taschendiebe. Er war der Schrecken all dieser Leute. Seine Blicke drangen gleich Bohrern durch Stadtköfferchen und Aktentaschen und legten die Spitzen, Strümpfe und Krawatten bloß, die kein Geld gekostet hatten.

 

Aber manchmal wuchs er noch über sich selbst hinaus. Man sah es dem kleinen, unscheinbaren Mann mit den rosig angehauchten Bäckchen nicht an, nach welchen großen Taten seine Seele lechzte.

 

Seine Tätigkeit im Warenhaus erschien ihm kleinlich und entwürdigend, und mit Bitterkeit dachte er daran, daß er wegen der paar Zentimeter, die an seiner Größe fehlten, nicht als regulärer Beamter in die Polizeitruppe eintreten konnte. Wie glühend beneidete er seine glücklicheren Kollegen in Scotland Yard!

 

In dem kleinen Schuppen auf der Rückseite seines Hauses in Camden Town hatte er ein Laboratorium eingerichtet. Mikroskope und viele Flaschen mit Giften und sonderbaren Flüssigkeiten waren in diesem Raum zu finden, und Peeker beschäftigte sich dort mit merkwürdigen Experimenten. Er hatte auch alle Bücher über Verbrechen und Verbrecher gelesen, die in seine Reichweite kamen, konnte Tier- von Menschenblut unterscheiden und besaß eine sehr genaue Kenntnis der Gifte. Auf einen solchen Mann mußte die alltägliche Tätigkeit als Ladendetektiv natürlich ermüdend und deprimierend wirken.

 

Als er hereintrat, begrüßte er Atterman mit einem ernsten Nicken.

 

»Hören Sie einmal zu«, wandte sich der Chef an ihn. »Angenommen, ich habe einen Koffer in meinem Besitz, der das Eigentum eines anderen ist. Wenn ich ihn öffne, erfahre ich wahrscheinlich sehr wichtige Informationen, die ich unbedingt brauche –«

 

»Und die Ihnen widerrechtlich vorenthalten werden?« ergänzte Peeker.

 

»Ja, ganz recht.« Atterman ging sofort auf diese Auslegung ein.

 

»Handelt es sich um gestohlenes Gut?«

 

»Hm — das wäre möglich.«

 

»Dann öffnen Sie den Koffer doch«, erklärte Peeker und wartete. »Sonst noch etwas?«

 

»Nein, das ist alles.«

 

Der Detektiv entfernte sich wieder.

 

»Haben Sie es gehört?« sagte Atterman befriedigt zu Julius. »Der Mann muß es doch schließlich wissen!«

 

Er hatte den Sinn für das Erlaubte verloren. In seiner augenblicklichen Stimmung kam es ihm gar nicht darauf an, den fremden Koffer aufzuschneiden oder ein noch viel schlimmeres Verbrechen zu begehen, wenn er in diesem Kampf mit Barbara Storr nur die Oberhand gewann.

 

Zuerst wollte er bis zur Mittagszeit warten. Aber Maudie spielte unentwegt weiter, und zwar alle seine Lieblingsschlager. An eine Arbeit im Büro war unter diesen Umständen nicht zu denken. Er holte deshalb Julius aus dem kleinen Zimmer ab, das er ihm zugewiesen hatte, und fuhr zu seiner Villa.

 

Sobald sie angekommen waren, holte er den Koffer aus dem Schrank, in den er ihn eingeschlossen hatte, und legte ihn auf den Tisch in der Bibliothek.

 

»Schließen Sie die Tür ab«, sagte er leise zu Julius.

 

Dann nahm er ein Universalmesser aus der Tasche, das aus seinem eigenen Warenhaus stammte, und stieß es rücksichtslos in das Leder.

 

Die Klinge brach ab — das war der erste Erfolg.

 

»Es hat ja noch eine Schneide«, bemerkte Julius trocken.

 

Atterman öffnete sie und machte einen neuen Versuch. Dasselbe Ergebnis.

 

»Haben Sie denn kein Rasiermesser?« fragte Julius, nachdem er seine eigenen Taschen vergeblich nach einer Waffe durchsucht hatte.

 

»Doch, eine ganze Menge«, erwiderte Mr. Atterman kühl.

 

»Dann nehmen Sie aber eins, das nicht aus Ihrer Firma stammt«, sagte Julius rücksichtslos.

 

Mr. Atterman begab sich nach oben und kam gleich darauf mit einem großen, schönen Messer zurück. Diesmal ging er vorsichtiger zu Werke und hatte auch mehr Erfolg. Als der Koffer geöffnet war, zeigte sich ihren erstaunten Blicken ein zerdrückter Frackanzug.

 

»Was soll denn das bedeuten?« Mit spitzen Fingern hielt Julius ein Paar schwarze, zerrissene und beschmutzte Beinkleider in die Höhe. »Entweder hat er sich auf die Straße gesetzt, oder er ist hingefallen«, sagte er. »Jedenfalls ist es merkwürdig.«

 

Atterman förderte noch ein Oberhemd mit vollständig zerfetztem Kragen zutage. Maber mußte unbedingt in einen Kampf verwickelt gewesen sein, als er es zum letztenmal trug. Die Ellbogen waren zerrissen, und auf den Manschetten waren dunkelrote Flecken zu sehen.

 

Julius stand mit offenem Mund daneben und konnte kein Wort hervorbringen, als Atterman das Hemd auf dem Tisch ausbreitete. Große Blutflecken liefen von der Schulter bis zum zweiten Knopfloch. »Großer Gott!« stieß Atterman bleich hervor.

 

Seine Hände zitterten, und er atmete schwer, als er zu dem Telephonhörer griff und sich mit seinem Büro verbinden ließ.

 

»Hier Mr. Atterman — rufen Sie Mr. Peeker.« Während er wartete, sprach er über die Schulter zu Julius. »Wir müssen in dieser Angelegenheit sehr sorgfältig und behutsam vorgehen«, flüsterte er. »Ich möchte der Polizei noch nichts melden, bis ich nicht mit Peeker — hallo, Peeker? Kommen Sie doch sofort in meine Wohnung — es ist ein Mord begangen worden!«

 

Nach dieser sensationellen Mitteilung legte er den Hörer wieder hin und sah Julius düster an.

 

»Es fragt sich jetzt nur noch, wo sie die Leiche versteckt hat«, sagte er mit Grabesstimme.

 

Kapitel 1

 

1

 

An diesem Schicksalstage schien es für die alte, vornehme Firma Maber & Maber keinen Ausweg mehr zu geben. Die blendendweiße Marmorfassade des Hauses Atterman Brothers schaute schon triumphierend auf das gegenüberliegende Konkurrenzgeschäft, als ob sie in prahlenden Goldbuchstaben die Aufschrift trüge: »Dich stecke ich jetzt in die Tasche!«

 

Leider hatte Mr. Maber an diesem verhängnisvollen Tage keine Zeit, sich um sein Geschäft zu kümmern, denn er wollte der Bootsmannschaft von Cambridge ein Essen geben.

 

Und um das Unglück vollzumachen, stieg Barbara Storr an demselben Morgen mit dem falschen Fuß aus dem Bett. Ihr Mädchen sah beim Frühstück die gerunzelte Stirne der Herrin und dachte schon, der gebratene Schinken sei zu salzig gewesen.

 

»Myrtle, ich bin unbeliebt!« erklärte Barbara plötzlich mit düsterer Stimme.

 

»Aber Miß Storr!« rief Myrtle erschrocken.

 

»Ganz verdammt unbeliebt!« sagte Barbara finster, als sie sich bückte, um ihre Schuhe zuzumachen. »Wenn mich Mr. Maber nicht hielte, könnten wir heute abend im Armenhaus schlafen — hoffentlich schnarchen Sie nicht –«

 

»Ich dachte, Sie hätten selbst Geld! Sonst wäre ich doch nicht nach London mitgekommen. Ich war auch ganz erstaunt, daß Sie in diese entsetzlich große Stadt gezogen sind. In Ilchester sieht man doch auch allerhand vom Leben! Denken Sie bloß an die Markttage! Und hier kenne ich außer dem Polizisten in unserer Straße keinen einzigen Menschen.«

 

»Als anständiges Mädchen dürften Sie nicht einmal den kennen!«

 

Myrtle wurde rot bis über die Ohren. Sie war noch nicht neunzehn Jahre alt, und sie hielt Londoner Polizisten für Götter.

 

»Schauen Sie einmal hinaus, ob der junge Mann da unten schon fort ist«, sagte Barbara etwas sprunghaft.

 

Myrtle lugte durch die Vorhänge auf die düstere Doughty Street hinaus.

 

»Er ist noch da.«

 

»Sehen Sie genau hin!«

 

»Er ist wirklich noch da. Dort an der Ecke steht er. Er hat elegante, graue Hosen an –«

 

»Das interessiert mich nicht. Er ist also noch da?«

 

»Ja.«

 

»Dann jagen Sie ihn zum Teufel!«

 

Myrtle wußte nicht, wie sie diesen Auftrag ausführen sollte, und sah ihre Herrin verstört an. Sie hatte sie schon immer schön gefunden, wenn ihr auch nicht klar zum Bewußtsein kam, worin diese Schönheit eigentlich lag. Vielleicht in der zarten Haut und dem wundervollen Haar, vielleicht aber auch in den großen, grauen Augen oder in dem feingeschnittenen Profil.

 

Myrtle wußte aus Zeitungsannoncen, die Seifen, Cremes und andere Schönheitsmittel anpriesen, daß reiner Teint und gepflegtes Haar zu einer schönen Frau gehörten und die jungen Herren am meisten fesselten.

 

»Wartet der Herr draußen auf Sie, Miß Storr?« fragte sie ein wenig boshaft.

 

»Natürlich wartet er auf mich. Tun Sie doch nicht so«, erwiderte Barbara etwas von oben herab. »Sie wissen ganz genau, daß es Mr. Stewart ist, der Reklamefachmann.«

 

»Ich weiß nicht, was ein Reklamefachmann ist«, entgegnete Myrtle, die Unschuld vom Lande. »Aber warum wartet er denn an der Straßenecke — kennt er unsere Hausnummer nicht?« fragte sie verschmitzt.

 

Barbara sah sie aber so vernichtend an, daß sie entsetzt schwieg.

 

Miß Storr schlüpfte in den Mantel, nahm Handtasche und Schirm und verließ das Haus. Es schlug gerade neun.

 

Als der junge Mann ihre Schritte hörte, drehte er sich schnell um und zog den Hut.

 

»Ich dachte schon, Sie wären –«

 

Barbaras unwillige Handbewegung ließ ihn sofort wieder verstummen.

 

»Wissen Sie auch, daß Sie mich bei Myrtle in ein ganz falsches Licht gebracht haben?« sagte sie ungnädig, als er sich entschuldigen wollte. »Myrtle hat eine Tante in meiner Heimatstadt Ilchester, und die ist die größte Klatschbase im ganzen Nest. Wenn die etwas weiß, ist es gerade so gut, als ob es durch Radio verbreitet würde! Ich selbst kümmere mich um die Ansichten der Leute in Ilchester nicht im mindesten, aber bedenken Sie, daß Mr. Maber dort Kirchenältester ist. Er hat mich nach London gebracht, und ich darf seinem Namen keine Schande machen.«

 

»Es tut mir wirklich aufrichtig leid«, erwiderte Alan Stewart geknickt, »aber wir sind doch Nachbarn, und es kommt mir tatsächlich komisch vor, daß jeder von uns allein zum Büro gehen soll.«

 

»Können Sie denn nicht mit dem Autobus in die Stadt fahren?« fragte sie ungerührt. »Ich muß ja zugeben, Mr. Stewart, daß Ihnen das Wohl meines Chefs sehr am Herzen liegt, aber es wäre mir viel lieber, wenn Sie dann mit ihm in die Stadt gingen und ihm alles direkt sagten. Wenn Sie übrigens darauf angewiesen sind, daß Mr. Maber in Ihren Zeitungen Annoncen aufgibt, können Sie getrost mit Ihren Hoffnungen einpacken und sich begraben lassen.«

 

Mr. Stewart wollte gerade antworten, daß ihn die Annoncenaufträge Mr. Mabers herzlich wenig interessierten, aber er besann sich eines Besseren.

 

»Ich fürchte, daß ich Ihnen sehr auf die Nerven gefallen bin. Aber wer ist denn eigentlich Myrtle — Ihre Schwester?«

 

»Nein.«

 

Barbara schaute ihn kühl an.

 

»Ach so, Ihr Mädchen?« verbesserte er sich schnell. »Entschuldigen Sie bitte vielmals!«

 

Sie rümpfte die Nase.

 

Er entschloß sich, nun doch zu sprechen.

 

»Ich habe es übrigens jetzt aufgegeben, mich um Mr. Maber zu kümmern«, begann er etwas anmaßend und hochmütig, denn schließlich war er der Vertreter dreier großer Zeitungen. »Wenn jemand sein Firmenschild an das Dach der Arche Noah aufpinseln läßt und glaubt, damit für alle Zeiten genügend Reklame gemacht zu haben, zählt er für mich eben nicht länger zu den Lebenden. Wenn ich an dem Geschäftshaus Ihres Mr. Maber vorbeikomme, ziehe ich ehrfürchtig den Hut und zerdrücke eine Träne im Auge für den Frühverstorbenen.«

 

»Hat der Firmenname tatsächlich auf dem Dach der Arche Noah gestanden?« fragte sie interessiert.

 

»Aber nein, das habe ich doch bildlich gemeint, um Ihnen zu zeigen, wie vorsintflutlich und altertümlich Ihre Firma ist. Mr. Maber annonciert ja auch, das stimmt. Ab und zu eine halbe Seite in den vornehmen Zeitschriften. Aber reklametechnisch kommt das doch gar nicht in Frage. Ich nenne das eher Mitteilungen ans Publikum, daß er noch nicht ganz verschieden ist. Und während die Firma Maber & Maber auf der einen Seite der Straße immer mehr zurückgeht, wächst, blüht und gedeiht auf der anderen Seite Atterman, obwohl das Geschäft erst vor acht Jahren gegründet worden ist. Das Haus Maber & Maber kann allerdings auf das beträchtliche Alter von hundertfünfzig Jahren zurückschauen, aber es ist augenblicklich das größte Verkehrshindernis auf dem Weg moderner Geschäftsentwicklung. Mehr möchte ich über diese Angelegenheit nicht mehr sagen.«

 

»Ach, bitte sprechen Sie doch weiter«, bat sie. »Sie gefallen mir, wenn Sie sich so bilderreich ausdrücken. Wenn ich sage, Sie gefallen mir«, fügte sie schnell hinzu, »dann soll das heißen, daß ich Sie nicht ganz so unausstehlich finde wie sonst. Wir haben es nicht nötig, zu annoncieren. Der Name Maber allein garantiert eben schon für beste Qualität bei unseren Waren.«

 

»Das wäre ja ganz gut und schön, wenn die Leute nur Ihre Waren kauften!«

 

»Wir sind ebenso groß wie Atterman.« Sie blieb herausfordernd stehen, runzelte die Stirne und sah ihn kampflustig an.

 

»Oberflächlich gesehen, haben Sie recht. Ihr Haus ist ebenso groß wie das andere, aber Atterman ist eben ein viel tüchtigerer Geschäftsmann. Die Leute setzen zehnmal soviel um wie Ihre Firma. Als Mensch mag ich Mr. Maber ja sehr gern. Er stammt aus einer guten, alten Familie, und zu Atterman verhält er sich ungefähr wie eine Orchidee zu Blumenkohl.«

 

Barbara nickte. Sie hielt es nicht für unbedingt notwendig, ihm mitzuteilen, daß Mr. Maber ihr Pate war. Ebensowenig brauchte er zu wissen, wie sehr sie den armen Mann gequält hatte, ihr eine Stellung in London zu besorgen. Nur widerstrebend hatte ihr Mr. Maber den Posten einer Privatsekretärin in seiner eigenen Firma gegeben, aber sie hatte sich schon nach kurzer Zeit durch ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten unentbehrlich gemacht.

 

»Mr. Julius Colesberg, der Juniorpartner, ist für Ihre Firma genau so nutzlos wie ein elektrischer Glühofen für die Sahara.«

 

Barbara mußte ihm darin recht geben. Sie sah ihn jetzt etwas freundlicher von der Seite an. Er war gut gewachsen und hatte auch eine tadellose Haltung.

 

»Warum sind Sie eigentlich ein Reklamefachmann? Sie sehen viel mehr wie ein Offizier aus.«

 

»Ich habe diesen Beruf nun einmal gewählt. Im Krieg war ich ja auch Soldat«, fügte er diplomatisch hinzu. »Schließlich muß man doch seinen Lebensunterhalt auf die eine oder andere Weise verdienen.«

 

»Aber ist Ihnen denn noch nie der Gedanke gekommen, in die weite Welt hinauszugehen, in Länder, wo ein Mann noch seine vollen Kräfte entfalten kann, wo sich der Energie und Tatkraft noch weite Betätigungsfelder bieten?«

 

Er nickte.

 

»Ja. Erst gestern habe ich mit der Siedlungsgesellschaft ›Goldner Westen‹ in Kanada drei ganzseitige Annoncen abgeschlossen. Und dann habe ich mir natürlich ebenso viele Filme angesehen wie Sie. Daraus lernt man die Welt ja auch einigermaßen kennen. Was ich Ihnen noch sagen wollte«, fuhr er plötzlich in ernstem Ton fort, »Atterman hat heute morgen eine Besprechung mit Mr. Maber.«

 

»Woher wissen Sie denn das?« fragte sie erstaunt.

 

»Ich weiß alles. Mir bleibt nichts verborgen«, erwiderte er und lächelte geheimnisvoll.

 

An der Ecke der Marlborough Avenue trennte er sich von ihr. Sie ging an den großen, vornehmen Schaufenstern der Firma Maber & Maber vorüber. Die prachtvollen Auslagen waren so herrlich anzusehen, aber so schwer zu verkaufen. An dem großen Haupteingang mit den Schwingtüren blieb sie stehen und sah nach der strahlendweißen Fassade von Atterman hinüber. Auf dem fünf Stockwerke hohen Gebäude wehten die verschiedensten Flaggen, um anzudeuten, daß es nicht darauf ankam, welcher Nationalität der Käufer angehörte. Mr. Atterman hatte einen gut trainierten Stab von Leuten, die fremde Sprachen beherrschten, und das Geld der Ausländer wurde ebenso gerne genommen wie das der Einheimischen.

 

Drüben wurden gerade einige Schaufenster neu dekoriert. Die Firma Atterman hatte sich schon mehrfach vor dem Gericht verantworten müssen, weil ihre Ausstellungen Verkehrsstockungen hervorriefen. Und beinahe jeder Autobus, der vorüberfuhr, trug in großen Buchstaben die Reklameaufschrift: »Wer bei Atterman kauft, ist stets vergnügt.«

 

»Verdammte Konkurrenz!« sagte Barbara wütend, trat durch die Schwingtür und ging zum Büro hinauf.

 

Mr. Lark, der Chef der Einkaufsabteilung und der Kasse, beobachtete sie, machte eine Pause in der Arbeit und sah ihr mit bissigen, feindseligen Blicken nach.

 

»Sie kommt schon wieder zehn Minuten zu spät«, sagte er gehässig. »Wenn’s nach mir ginge, würde ich diese Person glatt auf die Straße setzen! ›Miß Storr‹, würde ich sagen, ›hier ist Ihr Geld, und nun. machen Sie, daß Sie fortkommen. Ich kann nicht dulden, daß Sie hier herumlaufen und alle Leute mit gnädiger Herablassung behandeln! Suchen Sie sich gefälligst eine andere Stellung.‹«

 

Seine Stenotypistin, die ihm aufmerksam zugehört hatte, nickte beifällig, um ihre Anerkennung für seinen Mut und seine Energie auszudrücken.

 

»Ich würde ihr ganz einfach erklären: ›Sie sind entlassen!‹ Was ist denn schon eine Privatsekretärin? Doch weiter nichts als ein Dienstmädchen, das für alle Leute zu laufen und zu springen hat!«

 

»Ja, es ist wirklich entsetzlich mit ihr«, pflichtete seine Stenotypistin bei.

 

»Entsetzlich? Das ist noch gar kein Ausdruck für ihr Benehmen. Denken Sie doch nur einmal daran, wie sie mit Mr. Colesberg umgeht. Wie einen Hund behandelt sie den armen Mann! Den Teilhaber der Firma! Aber ich sage es ja immer, die Sozialdemokraten haben überhaupt keine Achtung vor anderen Leuten.«

 

»Ist sie denn eine Sozialdemokratin?« fragte Miß Leverby interessiert.

 

»Ich weiß nichts von ihren Privatverhältnissen«, erwiderte er abweisend. »Mit derartigen Menschen komme ich gesellschaftlich nicht zusammen. Wenn ich ihr auf der Straße begegnete, würde ich sie überhaupt nicht grüßen. In der Beziehung ist mit mir nicht zu spaßen. Ich behandle die Leute genau so, wie sie es verdienen.«

 

Miß Leverbys Hochachtung für diesen tüchtigen Mann stieg mehr und mehr.

 

»Immer liegt sie dem Chef in den Ohren, daß er mehr annoncieren soll. Sie läßt ihm keine Ruhe. Ich habe selbst gehört, wie sie ihm zugesetzt hat. Glauben Sie vielleicht, der bekommt überhaupt noch ein Bein auf die Erde? Alles weiß sie besser. Und ständig fragt sie, warum wir diesen und jenen Artikel nicht führen. ›Miß Storr‹, habe ich neulich noch zu ihr gesagt, ›wenn die Leute eben nicht kaufen wollen, was wir haben, dann können sie ja in ein anderes Geschäft gehen. ‹Das tun sie auch‹, gibt mir die unverschämte Person zur Antwort. ›Sie gehen zum Beispiel zu Atterman, da bekommen sie alles — von einer Stecknadel bis zu einer komplett ausgestatteten Villa.‹ ›Aber Miß Storr, wir sind eine gediegene Firma‹, erkläre ich ihr. ›Unser Haus besteht seit hundertfünfzig Jahren, und alle Leute kennen uns! Wir haben es weder nötig, zu vulgären Geschäftspraktiken zu greifen, noch irgendwelchen billigen Plunder zu verkaufen!‹ ›Nötig haben Sie es schon‹, sagte sie darauf ganz frech, ›Sie wissen nur nicht, wie Sie es anfangen sollen!‹ Mein Gott, dieses Frauenzimmer tut wirklich, als ob ihr die ganze Firma gehörte, und als ob sie allein alles zu sagen hätte!«

 

»Ja, das stimmt tatsächlich«, bestätigte die Stenotypistin eifrig.

 

»Sie muß den Chef irgendwie in der Tasche haben, passen Sie nur auf. Sie werden noch an meine Worte denken. Neulich stand ein ähnlicher Fall in der Sonntagszeitung. Vielleicht haben Sie die Überschrift gelesen: ›Junges Mädchen hat alten Millionär in der Gewalt.‹ Genau so eine ist die auch!«

 

*

 

Eine Verkettung von merkwürdigen Umständen brachte an diesem Morgen Barbaras Abneigung gegen den Juniorpartner zum Siedepunkt.

 

Mr. Colesbergs Sekretärin hatte sich erkältet und war nicht im Geschäft erschienen. Barbara mußte deshalb zu Mr. Julius gehen, um sein Diktat aufzunehmen.

 

Vom ersten Augenblick an hatte sie einen instinktiven Widerwillen gegen diesen Menschen gefühlt. Besonders mißfiel ihr sein aalglattes Wesen. Er stand in den Dreißigern, sah aber noch jugendlich aus, ging stets elegant gekleidet und parfümierte sich. Barbara haßte Männer, die Parfüm gebrauchten und Diamantringe trugen, aber es war zwischen ihr und Mr. Julius Colesberg bisher noch nicht zu einem offenen Zusammenstoß gekommen.

 

»Guten Morgen.«

 

»Guten Morgen, Miß Storr«, sagte er nachlässig, als sie eintrat. Er saß an seinem luxuriösen Empireschreibtisch und sah mit müdem Ausdruck zu ihr auf. »Ist der Alte schon im Geschäft?«

 

»Mr. Maber ist noch nicht da.«

 

Er fuhr mit einem kostbaren Spitzentaschentuch nachdenklich über die Lippen.

 

»Die entscheidende Konferenz findet heute vormittag statt. Die Firma Atterman macht uns ein sehr — sehr günstiges Angebot. Mr. Maber wird alt — es wäre eine Torheit von ihm, wenn er nicht darauf einginge.«

 

Julius hatte kurze Zeit vorher in Mr. Attermans Villa in Regent’s Park gefrühstückt und verschiedene Vereinbarungen mit ihm getroffen. Zwar hatte Mr. Colesberg nur ein fünfundzwanzigstel Anteil an der Firma und mit der Geschäftsleitung direkt nichts zu tun, aber Mr. Atterman hatte ihm einen größeren Anteil und einen Sitz in der Direktion versprochen, falls der Verkauf zu seinen Bedingungen zustande käme.

 

Barbara schlug ihren Stenogrammblock auf und zückte den Bleistift, um Mr. Julius an den Zweck ihres Kommens zu erinnern.

 

»Also, hören Sie, mein liebes Kind.« Der väterliche Ton, in dem er sprach, machte sie ganz krank. »Sie nehmen heute auch an der Konferenz teil, und Sie erweisen sich und allen anderen einen guten Dienst, wenn Sie Ihren zweifellos großen Einfluß auf Mr. Maber in der richtigen Weise geltend machen.«

 

»Wozu soll ich ihn denn beeinflussen?«

 

»Er muß das Geschäft verkaufen. Die Firma kommt immer mehr und mehr herunter. Wir brauchen einen viel tätigeren Chef. Vor allem muß ordentlich Reklame gemacht werden. In den Zeitungen müssen große Annoncen erscheinen — aber ein so altmodischer Mann wie Mr. Maber versteht das eben nicht!«

 

Sie kräuselte verächtlich die Lippen.

 

»Und dabei haben Sie dem Chef immer erklärt, daß eine Firma wie Maber & Maber unmöglich vulgäre Reklamemethoden anwenden könnte!«

 

»Unter den damaligen Umständen hatte ich auch vollkommen recht«, erwiderte er hastig. »Maber konnte das nicht tun, wohl aber Atterman. Begreifen Sie denn den Unterschied nicht, meine liebe Kleine?«

 

»Ich bin nicht Ihre liebe Kleine. Aber sagen Sie mir eins: Wenn Atterman die Firma übernimmt, engagiert er wohl eine Damenkapelle, die hier im Kaufhaus konzertieren soll?«

 

Das war eine anscheinend harmlose Bemerkung, aber sie hatte eine ganz bedenkliche Spitze gegen Mr. Atterman, und zwar wegen der Affäre mit der schönen, blonden Solotrompeterin.

 

Mr. Julius war sehr ärgerlich, daß Barbara Mr. Atterman durch eine solche Anspielung anzugreifen wagte.

 

»Die Geschworenen haben Mr. Atterman freigesprochen, und das Mädchen hätte sich überhaupt schämen sollen, einen so großen Geschäftsmann wegen Bruchs des Heiratsversprechens zu verklagen!«

 

»Aber Maudie hat ihn doch so geliebt«, entgegnete sie heftig. »Sie wohnt in meiner Nähe — ich gehe oft mit ihr zusammen nach Hause. Die Geschichte hat sie derartig mitgenommen, daß sie nur noch Choräle spielen kann!«

 

»Ich finde es etwas eigenartig, daß sie überhaupt Trompete spielt. Das ist kein Instrument für eine anständige junge Dame.«

 

»Sie wird noch Harfe spielen und Klagelieder dazu singen, wenn nicht bald etwas geschieht«, prophezeite Barbara düster. »Aber wollten Sie mir nicht Briefe diktieren?«

 

Als sie zwei Stenogramme aufgenommen hatte und auf ein neues Diktat wartete, legte er plötzlich wie geistesabwesend seine lange, knochige Hand auf die ihre.

 

Barbara erhob sich langsam.

 

»Ist das alles, Mr. Colesberg?«

 

»Das ist alles.«

 

Er ging zur Tür, und als er zur Seite trat, um ihr Platz zu machen, murmelte er etwas von »zum Diner einladen und ins Theater gehen«.

 

»Ach, eine Einladung von Mrs. Colesberg?« fragte sie interessiert.

 

»Ich bin nicht verheiratet«, erwiderte Julius ein wenig verlegen. »Eine Ehe könnte ich nicht ertragen. Sie verstehen doch … immer an dieselbe Frau gebunden … einfach schrecklich! Also, ich erwarte Sie heute abend an der Ecke von Haymarket. Sagen wir um acht — ich liebe die Hetze beim Ankleiden nicht. Und tragen Sie ein gediegenes, einfaches Kleid. Am besten sieht eine junge Dame immer in Schwarz aus. In einem farbigen Kleid fällt sie auf und kompromittiert ihren Begleiter …«

 

»An welchem Ende von Haymarket?«

 

»An der Ecke der Jermyn Street. Sie werden mich doch hoffentlich erkennen?«

 

»Vielleicht könnte ich Sie mit einem Regenwurm verwechseln«, entgegnete sie verbindlich. »Ich mache Ihnen deshalb den Vorschlag, sich Ihren Namen in elektrischen Leuchtbuchstaben um Ihren Zylinder montieren zu lassen. Oder noch besser, kommen Sie mit einer großen Fahne — blau ist meine Lieblingsfarbe. Oder Sie könnten einen rosa Golfanzug tragen. Ich wäre untröstlich, wenn ich Sie verfehlte.«

 

Colesberg wurde dunkelrot vor Wut.

 

»Unerhört, sich mir gegenüber eine derartige Sprache zu erlauben«, brauste er auf. »Sie — Sie — aber warten Sie nur, ich werde schon dafür sorgen, daß Sie noch heute fliegen! Ich habe dieses gnädige Benehmen und dieses Getue satt! Tut immer, als ob sie eine Herzogin wäre! Das ist doch die Höhe! Ich werde mit Mr. Maber sprechen, sobald er kommt …«

 

»Ich werde Sie telefonisch von seinem Eintreffen benachrichtigen«, sagte sie mit vollendeter Höflichkeit.

 

Kaum war sie in ihrem Zimmer angekommen, als Mr. Maber schon nach ihr klingelte. Schnell griff sie wieder zu Stenogrammblock und Bleistift und ging in sein Büro.

 

Wer Mr. Maber in seiner vollen, stattlichen Breite und Größe sah, konnte kaum glauben, daß dieser Mann einmal in seiner Jugend dem Cambridger Achter mit zum Siege über Oxford verholfen hatte.

 

Er selbst hielt sich für altmodisch, aber in Wirklichkeit war er nur bequem und schrak deshalb vor modernen Geschäftsmethoden zurück. Als Privatmann beschäftigte er sich gern mit Kirchenmusik, saß im Kirchenvorstand von Ilchester und nahm es mit seinen Pflichten durchaus ernst.

 

Sein Leben war wie ein offenes Buch, und er hatte nichts zu verheimlichen. Das erklärte er manchmal halb stolz, manchmal auch mit leiser Wehmut. Ein paar Seiten mußte man allerdings rasch überblättern, wenn man nicht doch eine Schattenseite entdecken wollte. Einmal hatte er nämlich am Abend des berühmten Bootsrennens den Rudermannschaften ein Essen gegeben. Es war an dem Sonnabend, bevor Markus Elbury, sein alter Schulfreund, nach den Vereinigten Staaten reiste. Nach dem Essen waren die beiden noch ins Empire-Theater gegangen, das damals noch ein Variété war. Um neun Uhr fünfundvierzig waren sie in heiterster Stimmung, laut und fröhlich singend, in das Lokal hineinmarschiert, aber um neun Uhr fünfzig kamen sie schon wieder heraus, und zwar unter Bedeckung von vier Logenschließern, drei Polizisten und einem Garderobier. Auch eine Frau spielte eine Rolle dabei, aber was dann folgte, wollen wir lieber mit dem Mantel der christlichen Nächstenliebe zudecken.

 

Mr. Maber war in jenen Tagen ein vermögender junger Mann gewesen, und es war ihm nicht schwer gefallen, zehn Pfund Strafe zu zahlen, weil er die Uniform der Polizisten etwas zerrissen und ihnen auch sonst übel mitgespielt hatte. Aber er dachte nur mit größtem Unbehagen an die andere Seite der Geschichte.

 

Und nun war Markus von Amerika zurückgekommen, und Mr. Maber hatte wieder einmal die Cambridger Rudermannschaft eingeladen. Er war gespannt, ob der Wein von 1911 heute abend gut schmecken würde.

 

Auf dem Weg zur Marlborough Avenue wurde er in seinen angenehmen Gedanken häufig durch die Erinnerung an das Geschäft gestört. Am liebsten hätte er mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun gehabt. Die Nachbarschaft dieses vulgären Atterman genügte schon, um ihn krank und elend zu machen. Im Innersten hatte er allerdings doch den geheimen Wunsch, mit der Zeit zu gehen, und die Firma Maber & Maber, die seit fünf Generationen bestand, auf der Höhe zu halten. Er seufzte. Obwohl er ein reicher Mann war, konnte er es doch nicht über sich gewinnen, seine guten Papiere an der Börse zu verkaufen und das Kapital in die Firma zu stecken.

 

In düsterer Stimmung betrat er sein Büro, hing Hut und Schirm auf und ließ sich von Barbara aus dem Mantel helfen. Dabei schüttelte er traurig den Kopf.

 

»Lange sind wir nun nicht mehr hier, Barbara«, sagte er melancholisch. »Dann geht’s wieder zurück nach Ilchester. Ist ja auch wirklich ein nettes, altes Städtchen, nicht wahr?«

 

Sein Gesichtsausdruck verriet allerdings, daß ihn der Gedanke an diese Rückkehr wenig zu beglücken schien.

 

»Du bleibst natürlich auch nicht hier, wenn das Geschäft verkauft wird. Ich werde dir dann dort eine andere Stellung verschaffen.«

 

»Lieber tot, als nach Ilchester zurück!« erklärte sie ruhig.

 

Er sah sie bestürzt an.

 

»Aber liebes Kind, Ilchester ist eine große, alte Stadt«, sagte er leise, »eine große, alte Stadt. Denke doch nur an das herrliche Glockenspiel vom Dom.«

 

»Ja, und an die entsetzlichen Moskitos hinten in der Pferdeschwemme, und an die vielen alten Klatschbasen, die nichts anderes zu tun haben als andere Leute durch die Zähne zu ziehen und sich zu erkundigen, warum sie manchmal eilig heiraten müssen…«

 

»Aber Barbara!« erwiderte er vorwurfsvoll.

 

Sie faßte sich und reichte ihm die Post.

 

»Wann ist die Konferenz angesetzt?« fragte er.

 

»In zwanzig Minuten.«

 

Er biß sich auf die Unterlippe.

 

»Ich halte es für richtig, Mr. Lark zu der Besprechung zuzuziehen. Er kennt das Geschäft genau, denn er ist darin groß geworden. Und natürlich müssen wir auch Mr. Colesberg bitten. Atterman bringt seinen Direktor mit.«

 

»Diesen Monkey?«

 

»Minkey.«

 

»Mr. Maber, warum wollen Sie denn eigentlich die Firma verkaufen?« fragte sie ihn geradeheraus. »Ich bin davon überzeugt, daß man viel Geld mit diesem Geschäft verdienen könnte, wenn die Sache nur richtig angepackt würde. Was können denn Leute wie Mr. Lark dem Hause nützen? Er soll ja seinen Lebensunterhalt nicht verlieren, aber ich würde ihm an Ihrer Stelle eine Gehaltserhöhung von zehn Prozent geben unter der Bedingung, daß er sich nicht wieder hier blicken läßt! Der Mann ist als Einkäufer einfach unmöglich! Den halte ich nicht für fähig, auch nur eine Mausefalle einzukaufen, geschweige denn etwas anderes!«

 

»Wir verkaufen keine Mausefallen«, entgegnete Mr. Maber verstimmt.

 

»Warum verkaufen Sie denn nicht, was verlangt wird, wenn die Leute die Artikel nicht kaufen, die Sie führen?« Ihre lebhaften Augen blitzten ihn unternehmungslustig an. »Ich würde Mr. Lark durch irgendeinen fähigen Menschen ersetzen, der das Geschäft wieder einmal richtig in Schwung bringt, der ordentlich Reklame macht! Das zahlt sich auf alle Fälle …«

 

Sie machte eine Pause, weil sie Atem holen mußte.

 

Mr. Maber betrachtete sie halb bewundernd, halb mitleidig.

 

»Ich bin zu alt, um mich noch einmal auf moderne Methoden umzustellen«, meinte er traurig, aber eine Sekunde später leuchteten seine Augen wieder auf. »Ach, läute doch einmal das Trocadero an und sage den Leuten, es soll Knallbonbons und andere Scherzartikel zum Nachtisch geben. Heute wollen wir lustig sein … und dann, damit die jungen Leute sich nach dem harten Training einmal gründlich erholen können, soll nur Sekt getrunken werden, den ganzen Abend hindurch …«

 

Er dachte an seinen Freund Markus, der aus Amerika zurückgekommen war, und lächelte vergnügt. Vor dreißig Jahren schon hatten sie sich gestritten, wer von ihnen damals zuerst auf der Straße lag, und der Streitfall war bis zum heutigen Tage noch nicht endgültig geklärt, obgleich sie einen lebhaften Briefwechsel darüber geführt hatten.

 

»Bitte, sieh doch einmal nach«, wandte er sich wieder an Barbara, »ob die Leute schon im Konferenzzimmer sind. Mr. Atterman muß einen schönen, weichen Sessel bekommen, hörst du?«

 

Die letzten Worte sagte er in so elegischem Ton, wie ein zum Tode Verurteilter sich erkundigen würde, ob der Henker gut geschlafen habe.

 

*

 

Mr. Atterman war eine etwas hagere Erscheinung und ging leicht nach vornüber gebeugt. Er war gut gekleidet und trug eine Hornbrille. Sein höchster Stolz bestand darin, für einen Amerikaner gehalten zu werden. Innerlich und äußerlich war er das Gegenteil von Mr. Maber.

 

»Ich freue mich außerordentlich, Sie wiederzusehen, Mr. Maber«, sagte er verbindlich. »Darf ich Ihnen meinen Direktor, Mr. Hercules Minkey, vorstellen?«

 

Der Name Hercules paßte ganz und gar nicht zu dem schmächtigen Herrn mit den runden Schultern und dem gewöhnlichen Gesicht. Er hatte eine kurze, breite Nase, und seine kleinen, dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Aber auf jeden Fall war dies ein Mann nach dem Herzen Mr. Attermans, lebendig wie Quecksilber, dabei großzügig und geschäftstüchtig.

 

»Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Miß Storr. Wirklich, ich beneide Sie um Ihre Privatsekretärin, Mr. Maber. Ich möchte direkt die Bedingung stellen, daß die junge Dame in der Firma bleibt, wenn ich Ihr Geschäft übernehme. Hoffentlich gelingt es mir, sie dazu zu überreden.«

 

Auch Mr. Julius war bereits zugegen und kaute nachlässig an seinem Bleistift. Gleich darauf erschien Mr. Lark, der sich sehr wichtig vorkam. Er lächelte Mr. Atterman an, verneigte sich korrekt vor Mr. Maber, nickte Mr. Minkey vertraulich zu und warf Mr. Julius einen respektvollen Blick zu. Nur von Barbara nahm er nicht die geringste Notiz.

 

»Nun wären wir ja alle versammelt«, sagte Mr. Atterman. »Ich möchte also meinen Vorschlag in aller Kürze wiederholen. Nein, schreiben Sie noch nicht mit, Miß Storr, ich werde Sie aufmerksam machen, wenn die eigentlichen Verhandlungen beginnen.«

 

Er sprach sachlich und geschäftsmäßig. Als er die Kaufsumme nannte, begann Barbara zu protokollieren. Aber schon im nächsten Augenblick legte sie den Bleistift wieder hin und sah Mr. Maber entsetzt an. Er saß aber ruhig mit gefalteten Händen und gerunzelter Stirne da und rührte sich nicht.

 

»Hunderttausend Pfund!« rief sie erregt. »Diese Summe sind ja allein schon das Grundstück und das Gebäude wert!«

 

Mr. Atterman sah scharf zu ihr hinüber. In diesem Moment war er höchst unzufrieden mit ihr und dachte nicht mehr daran, sie zu übernehmen.

 

Mr. Julius machte ein düsteres Gesicht, und Mr. Lark zeigte seine ungeheure Entrüstung durch eine entsprechende Haltung.

 

»Gestatten Sie, Miß Storr, daß ich erst einmal zu Ende spreche«, erwiderte Mr. Atterman schließlich nach der kleinen, peinlichen Pause.

 

Dann sprach er weiter. Mr. Maber hörte ihm mit geschlossenen Augen zu, und Mr. Lark folgte seinem Beispiel. Wahrscheinlich war das die letzte loyale Handlung seinem alten Chef gegenüber.

 

»Das Angebot ist allerdings sehr niedrig — wirklich äußerst bescheiden«, meinte Mr. Maber leise, als Atterman seine Rede beendet hatte.

 

Mr. Atterman holte tief Atem, neigte den Kopf auf eine Seite, schaute auf die Tischplatte vor sich hin und legte die Stirne in Falten. Durch diese Mienen und Gebärden wollte er ausdrücken, daß es ihm sehr leid täte.

 

»Persönlich dachte ich an eine Summe von –« begann Mr. Maber und sah zu Barbara hinüber.

 

»Einer halben Million«, warf sie sofort dazwischen.

 

»Aber Mr. Maber — das ist denn doch ein zu starkes Stück«, sagte Mr. Julius heftig und warf den Bleistift wild auf den Tisch.

 

Mr. Lark drehte die Augen himmelwärts. Er hätte im Moment kein Wort finden können, das seine Empörung richtig wiedergegeben hätte, und beschränkte sich daher auf diesen Ausdruck stummer Verzweiflung.

 

»Vielleicht wäre es doch besser, wenn du dich damit begnügtest, die Verhandlung zu protokollieren«, wandte sich Mr. Maber an Barbara, fügte aber sofort energischer hinzu: »Miß Storr ist meine Privatsekretärin und nimmt als solche eine Vertrauensstellung ein. Bitte, beachten Sie das, meine Herren.«

 

Er schaute sich ein wenig ängstlich um, als erwarte er, daß ihn jemand wegen dieser kühnen Äußerung angreifen wolle. Aber mit Ausnahme von Barbara und Mr. Lark zuckten die Anwesenden nur leicht die Schultern. Der Chef der Einkaufsabteilung hätte seine Meinung wahrscheinlich auch auf diese Weise kundgetan, wenn er rechtzeitig bemerkt hätte, daß es die anderen taten. Aber als er endlich damit anfing, lächelten diese schon wieder verbindlich. Es war wirklich schwer, mit solchen Leuten Schritt zu halten.

 

»Darf ich einmal etwas sagen«, begann Direktor Hercules Minkey. »Sie gestatten ja hoffentlich, daß ich hier ein offenes Wort rede. Ihr Geschäft ist eben absoluter Humbug.«

 

»Bitte, wie schreiben Sie dieses Wort?« erkundigte sich Barbara höflich.

 

Der Quecksilbermann warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

 

»Also, Ihr Geschäft ist einfach wertlos, und ich werde Ihnen auch sagen, warum. Um diesen Betrieb rentabel zu gestalten –«

 

»Rentabel zu gestalten«, wiederholte Barbara.

 

»Müßten Sie mindestens hunderttausend Pfund hineinstecken. Nehmen Sie doch zum Beispiel nur einmal unsere eigene Firma …«

 

Und nun folgte ein langer Vortrag darüber, wie man ein Geschäft führen sollte.

 

Barbara schloß die Augen, denn die monotone Stimme dieses Mannes wirkte einschläfernd auf sie und hatte ungefähr die gleiche Wirkung wie Veronal. Sie hörte nur dann und wann eine der Phrasen und kam erst wieder zu vollem Bewußtsein zurück, als Mr. Maber sie anrief.

 

Mr. Atterman war gerade dabei, sich von ihm zu verabschieden.

 

»Nun, die Sache ist noch nicht gerade so weit gediehen, daß wir schon zum Notar gehen könnten«, meinte er. »Aber immerhin haben wir doch entschieden Fortschritte gemacht. Mir soll es schließlich bei der Kaufsumme auf zwanzigtausend Pfund mehr oder weniger nicht ankommen.«

 

Beim Verlassen des Sitzungszimmers warf er Mr. Colesberg einen vielsagenden Blick zu, und Julius folgte ihm in den Gang hinaus.

 

»Sie können Ihrem Seniorpartner sagen«, erklärte Mr. Atterman ärgerlich, »daß ich mir unter keinen Umständen von einem so frechen Geschöpf wie dieser kessen Stenotypistin ins Geschäft pfuschen lasse!«

 

»Ich bin auch noch ganz außer mir«, erwiderte Julius niedergeschlagen. »Aber das werde ich schon in Ordnung bringen, verlassen Sie sich darauf.«

 

»Ich bin bereit, den Kaufpreis für das Geschäftshaus auf hundertzwanzigtausend Pfund zu erhöhen und die Bestände zum Tagespreis zu übernehmen. Die Firma selbst ist keinen Cent wert. Für Montag lasse ich den Vertrag fertigstellen. Setzen Sie die Konferenz fest und bringen Sie Ihren Rechtsanwalt mit.«

 

Er bot Julius eine Zigarre an. Mr. Colesberg rauchte zwar niemals, aber er machte trotzdem ein vergnügtes Gesicht und bedankte sich.

 

»Ah, eine Henry Clay«, sagte er strahlend. »Meine Lieblingsmarke!«

 

Gleich nach der Sitzung ging Mr. Maber zu Tisch. Er hatte ein schlechtes Gewissen und konnte Barbara kaum ansehen. Sie war sehr traurig, daß der Verkauf nun doch Zustandekommen sollte.

 

Später erschien Mr. Maber mit dem umfangreichen Katalog einer bekannten Gartenbaufirma und unterhielt sich mit Barbara über den neuen Rosengarten, den er bei seiner Villa anlegen wollte.

 

Sie seufzte.

 

»Barbara, ich brauche wirklich Ruhe und Frieden«, erklärte er. »Warum soll ich mich denn mit diesem Geschäft abplagen? Ich habe ja schon ein großes Vermögen, und ich möchte deshalb auch die Hälfte des Kaufpreises unter die Angestellten der Firma verteilen. Soll ich mich vielleicht als Sklave in einem Beruf abarbeiten, der mir gar nicht liegt? Was verstehe ich denn von Damenkleidern? Was interessieren mich Wollstoffe oder all die anderen Dinge, die wir verkaufen? Warum soll ich mich über Preisschwankungen auf dem Seidenmarkt aufregen? Dauernd kommen neue Gewebe auf den Markt, die den Damen viel Freude machen, aber ich kann die Namen kaum behalten, und mich langweilt dieser ganze Kram entsetzlich. Nein, das ist nichts für mich. Du mußt doch wirklich einsehen, daß das keine Beschäftigung für einen Mann ist, der in Cambridge studiert hat. Wenn ich meinen eigenen Wünschen hätte folgen können, wäre ich ein Jurist geworden. Klingle doch übrigens noch einmal das Trocadero an, Barbara, und sage, daß ich nur hellblaue Blumen als Tafeldekoration wünsche. Willst du dir das Bootsrennen nicht auch ansehen? Die beste Gelegenheit dazu hast du an Bord meiner Jacht Leander. Dann könntest du auch gleich meinen Freund Markus kennenlernen. Achtundneunzig-neunundneunzig waren wir zusammen auf der Universität. Ja, das ist nun schon eine ganze Weile her!«

 

»Kann Sie denn nichts dazu bewegen, das Geschäft zu behalten?« fragte sie verzweifelt.

 

Mr. Maber machte ein skeptisches Gesicht.

 

»Wir arbeiten dauernd mit steigenden Verlusten. Gewiß, Julius Colesberg ist ein tüchtiger junger Mann, energisch und tatkräftig, aber er allein kann schließlich auch nichts tun. Es muß einmal frisches Blut herein — das ist die Sache.«

 

Er seufzte schwer.

 

»Julius Colesberg!« rief sie verächtlich.

 

Mr. Maber sah sie unruhig an. Er konnte seinen Partner auch nicht leiden, aber er hatte ihn unter sehr günstigen Bedingungen ins Geschäft aufgenommen. Im stillen hatte er gehofft, daß dieser junge Mann die Stoßkraft und den Unternehmungsgeist besäße, die ihm als älterem Manne fehlten. Außerdem wirkte Julius bis zu einem gewissen Grade dekorativ. Seine Maniküre zum Beispiel erklärte ihm, daß er die schönsten Hände hätte, die ihr jemals vor Augen gekommen wären. Ihre anderen Kunden, denen sie dasselbe sagte, waren angenehm berührt, aber Julius war seitdem noch mehr von sich selbst begeistert als früher und kam sich noch viel wichtiger vor.

 

»Glaube mir doch, Barbara. Es ist besser, daß ich mich vom Geschäft zurückziehe. Ich hasse dieses ewige Hetzen und Jagen und diesen dauernden Kampf ums Geld!«

 

Er ging früh nach Hause, und Barbara blieb äußerst deprimiert zurück. Um sich abzulenken, machte sie einen Rundgang durch die einzelnen Abteilungen. Die Nachricht von dem bevorstehenden Verkauf hatte sich schon wie ein Lauffeuer von den Spitzen zu der Seide, von den Bändern zu den Strümpfen verbreitet. Junge Verkäuferinnen, die in ihren schwarzen Kleidern schön wie Göttinnen aussahen, beobachteten Barbara, die in düsterer Stimmung durch die Geschäftsräume schritt. Dann öffneten sie ihre kleinen Handtaschen und zogen die Augenbrauen nach. Die Abteilungschefs und die Aufsichtsherren in ihren tadellosen, dunklen Anzügen begegneten ihr mit gemessener Höflichkeit. Alle wußten ja von dem geheimen Kampf, der von Colesberg-Lark gegen Barbara Storr geführt wurde. Diese junge Dame war für sie eine interessante Persönlichkeit, weil sie einen entscheidenden Einfluß auf den Chef hatte. Aber da sie nicht ahnten, wie die Sache ausgehen, und ob es überhaupt zu einem Verkauf kommen würde, verhielten sie sich möglichst neutral, um es mit keiner Seite zu verderben.

 

Mr. Lark gab währenddessen in seinem Büro Miß Leverby eine eindrucksvolle Schilderung der Rolle, die er bei der wichtigen Konferenz gespielt hatte.

 

»So etwas ist mir doch noch nie vorgekommen! Wie die sich wieder aufgeführt hat! Was ist sie denn schon Besonderes? Doch nur eine gewöhnliche Stenotypistin, die mechanisch nachzuschreiben hat, was ihr diktiert wird!«

 

»Und sie hat tatsächlich gewagt, einfach mitzureden?« fragte Miß Leverby vor Entsetzen ganz leise.

 

Mr. Lark schloß die Augen und nickte.

 

»Aber ich habe sie schon zurechtgewiesen. Ich drehte mich nach ihr um und sah sie so scharf an, daß sie eigentlich in Grund und Boden hätte versinken müssen. ›Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten, Storr!‹ sagte ich dann ruhig und höflich. Vielleicht habe ich auch ›Miß Storr‹ gesagt, das weiß ich nicht mehr genau. Na, auf jeden Fall werden wir diese Person ja nicht mehr lange hier in der Firma sehen.«

 

Er lehnte sich befriedigt in seinen Sessel zurück und rieb sich die Hände.

 

»Wann geht sie denn, Mr. Lark?« erkundigte sich die Stenotypistin eifrig, denn sie hoffte, an Barbaras Stelle aufzurücken.

 

»Am Dienstag. Montag wird die Firma verkauft.«

 

Mr. Lark hatte sich unter der Hand schon mit Julius verständigt, daß er Chef der Kassenverwaltung bleiben und ein höheres Gehalt bekommen sollte.

 

»Wenn sie dann am Dienstag noch den Mut besitzt, wieder ins Geschäft zu kommen, werde ich sie unten an der Haustüre erwarten. ›Entschuldigen Sie, Miß Storr‹, sage ich sehr höflich, ›wohin wollen Sie denn gehen?‹ Und wenn sie antwortet ›In mein Büro‹, dann soll sie aber etwas zu hören bekommen. ›O nein‹, werde ich sagen, ›das gibt es nicht mehr, und wenn Sie nicht sofort verschwinden, schicke ich zur Polizei!‹«

 

»Glänzend!« erwiderte Miß Leverby, denn der Feldzugsplan ihres Chefs hatte großen Eindruck auf sie gemacht.

 

*

 

Schon an gewöhnlichen Sonnabenden kam Mr. Maber nur sehr selten ins Büro, und an dem Tag aller Tage, an dem das klassische Rennen zwischen Oxford und Cambridge ausgetragen wurde, war natürlich an ein Erscheinen im Geschäft überhaupt nicht zu denken. Er saß vielmehr neben seinem Freund Markus am Steuer eines eleganten Motorbootes. Beide trugen die charakteristische Rudertracht. Während der fünfzehn fieberhaft aufregenden Minuten des Rennens gab er das Steuer ab, stand aufrecht mit hochrotem Gesicht im Boot und feuerte die Cambridge-Mannschaft durch Zurufe an. Fünfzig- bis sechzigtausend Menschen, die dichtgedrängt an den Flußufern standen, gaben den Ruderern mehr oder weniger ähnliche Ratschläge, schrien und brüllten. Viele Boote begleiteten die beiden Achter, und beim Finish erzitterte die Luft von den donnernden Zurufen der Menge.

 

Cambridge gewann das Rennen mit einer halben Bootslänge.

 

Am Abend dieses denkwürdigen Tages lehnte sich Mr. Maber über den festlich geschmückten Tisch. »Markus, besinnst du dich noch darauf, wie wir damals zusammen aus dem Empire hinausbefördert wurden?«

 

»Glaubst du, das könnte ich jemals vergessen?« entgegnete Markus mit leuchtenden Augen und tat seinem Freunde kräftig Bescheid.

 

»Erinnerst du dich auch noch an den Geschäftsführer, der mich die Treppe vom ersten Stock hinunterwarf?«

 

»Meinst du den Mann, mit dem du damals durchaus boxen wolltest? Ich habe nur noch eine ganz unklare Vorstellung von der Sache, aber ich glaube, er hat dich vom zweiten Stock heruntergeworfen.«

 

»Nein, vom ersten«, erklärte Mr. Maber entschieden. »Ich kann mich noch genau darauf besinnen, daß eine Matte vor der untersten Stufe lag.«

 

Mr. Maber lehnte sich in seinen Stuhl zurück, hielt das Sektglas in die Höhe und trank es dann langsam und bedächtig aus.

 

»Ob der Mann wohl noch lebt?« meinte er dann nachdenklich. »Damals war er verhältnismäßig jung. Ich weiß noch, daß er eine Narbe auf der rechten Oberlippe hatte.«

 

»Gehen wir doch einmal hin und sehen nach, ob er noch da ist!« schlug Markus vor und erhob sich etwas mühsam vom Tisch.

 

Das Essen war vorüber, und die Leute waren schon fast alle gegangen.

 

»Ja, du hast recht, wir müssen unbedingt wieder ins Empire.« Mr. Maber stand ebenfalls auf. »Ich möchte den Mann zu gern noch einmal sprechen — den mit der Narbe auf der Oberlippe. Ich werde ihm sagen, daß das damals — recht unverschämt von ihm war, uns so — hinauszuwerfen. Es ist doch merkwürdig«, sagte er kopfschüttelnd, »daß ich all die langen Jahre nicht einmal daran gedacht habe, ihn aufzusuchen und ihm beizubringen, was ich von ihm halte.«

 

»Hör mal, was ist denn eigentlich aus der Dame geworden?« erkundigte sich Markus plötzlich. Als er aber sah, wie sehr er seinen Freund durch diese Frage in Verlegenheit brachte, entschuldigte er sich sofort. »Nichts für ungut. Na, dann los, auf ins Empire!«

 

*

 

Man hatte die Konferenz auf Montag zwölf Uhr mittags angesetzt. Barbara erfuhr jedoch erst davon, als sie ins Büro kam und auf Mr. Mabers Schreibtisch einen Zettel mit einer entsprechenden Notiz fand, das erste Zeichen, daß in Zukunft andere Leute hier bestimmen würden.

 

Um zehn Uhr war Mr. Maber noch nicht im Geschäft, und es wurde auch elf, ohne daß er sich zeigte. Das war aber keineswegs etwas Ungewöhnliches.

 

Um elf Uhr fünfzehn stürzte ein Page aufgeregt in Barbaras Büro und meldete, daß ein Polizist sie zu sprechen wünsche.

 

»Was — ein Polizist? Bring ihn herein!«

 

Der Beamte, ein großer Mann mit ernstem Gesicht, trat ein. Vorsichtig machte er die Tür wieder zu.

 

»Sie sind Miß Storr?«

 

Sie nickte, aber sie fühlte sich sehr unbehaglich.

 

»Miß Barbara Storr?«

 

»Ja, das bin ich.«

 

»Bitte kommen Sie mit mir zur Polizeistation in der Marlborough Street«, sagte er leise. »Niemand außer mir und dem Inspektor weiß etwas davon.«

 

Sie sah ihn bestürzt an.

 

»Zur Polizeistation?«

 

»Zum Polizeigericht!« verbesserte er sich. »Sie müssen deshalb nichts Schlechtes von ihm denken. Er ist ein so netter Herr, und die Reporter haben auch versprochen, seinen Namen nicht in die Zeitungen zu bringen. Sie wissen allerdings gar nicht, wer er ist. Der Inspektor hat alles getan, was in seiner Macht stand. Aber wenn jemand einen Polizisten ins Ohr beißt, kann man das natürlich nicht so ohne weiteres hingehen lassen, auch nicht, wenn es der Abend nach dem Bootsrennen war. Na, ich denke, mit einem Monat Gefängnis wird er wohl davonkommen.«

 

»Einem Monat?« fragte sie atemlos. »Wer soll denn einen Monat Gefängnis bekommen?«

 

Er schaute sich vorsichtig um.

 

»Mr. Maber«, flüsterte er dann.

 

Barbara mußte sich an der Tischkante festhalten, um nicht umzusinken.

 

»Aber — aber –« sagte sie endlich mit stockender Stimme, »läßt sich das denn nicht — in eine Geldstrafe umwandeln?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Da täuschen Sie sich. Aber kommen Sie nur mit. Er möchte Sie sprechen, bevor er ins Pentonville-Gefängnis gebracht wird. Ich gehe am besten voraus, damit niemand etwas merkt, und nach einer Weile kommen Sie nach.«

 

Eine Viertelstunde später betrat Barbara verwirrt und in heller Aufregung das Büro des Polizeiinspektors, der sie freundlich und zuvorkommend empfing.

 

»Ein Rechtsanwalt ist gerade bei ihm in der Zelle, aber ich glaube, Sie können gleich hineingehen.«

 

Der Beamte führte sie durch die weite Halle. Viele Leute warteten hier, deren Bekannte sich vor dem Polizeigericht zu verantworten hatten. Als die beiden dann auf den Gang hinaustraten, bat er sie, zu warten und ging allein weiter. Nach einigen Minuten kam er aber wieder zurück und winkte ihr.

 

An der einen Seite des Korridors lagen die kleinen Türen der Zellen, und bald darauf stand Barbara Mr. Maber gegenüber.

 

Er trug einen ziemlich beschmutzten Abendanzug ohne Kragen und Krawatte. Außerdem war er unrasiert. Sie starrte entgeistert auf den großen, blauen Fleck an seinem rechten Auge und auf seine dick geschwollene Oberlippe.

 

»Barbara, ich möchte dich bitten, mir einen Gefallen zu tun.« Seine Stimme klang heiser. »Zunächst stelle ich dir hier Rechtsanwalt Mr. Hammett vor.«

 

Dieser Mann war nicht Mr. Mabers Rechtsanwalt, soviel wußte sie. Wahrscheinlich war er aus der Nachbarschaft zu Hilfe gerufen worden.

 

»Es ist eine schauderhafte Geschichte! Und alles nur, weil der Kerl nicht herauskommen und mit mir boxen wollte! Es stimmt nicht, daß ich ihn gebissen habe … das muß ein Hund gewesen sein … ich habe einen gesehen, nein, sogar mehrere.«

 

Er sprach hastig und ein wenig zusammenhanglos.

 

Barbara verstand seine Aufregung nur allzugut und bedauerte ihn aufrichtig.

 

»Ich werde einen Monat fort sein. Glücklicherweise waren bei der Verhandlung keine Zeitungsmenschen zugegen. Außerdem habe ich auch nicht meine richtige Adresse angegeben. Den Leuten im Büro sagst du einfach, daß ich plötzlich ins Ausland reisen mußte — geben Sie doch einmal das Schriftstück her«, wandte er sich an den Rechtsanwalt.

 

Mr. Hammett reichte ihm einen Aktenbogen mit zwei roten Siegeln.

 

Gleich darauf öffnete sich die Tür, und der Notar, ein Mann mit dunklem Haar und Schnurrbart, trat herein. Nach der Verhandlung unterzeichnete Mr. Maber die Urkunde.

 

»Barbara, du mußt dich jetzt um das Geschäft kümmern«, erklärte er dann. »Du bist die einzige, auf die ich mich verlassen kann. Was den Verkauf betrifft … hole bestmögliche Bedingungen heraus…«

 

»Was ist denn das?« fragte sie betroffen.

 

»Eine Generalvollmacht«, sagte Mr. Maber dringlich. »Während meiner Abwesenheit muß sich doch jemand des Geschäftes annehmen, Dispositionen treffen, Schecks unterzeichnen, und was sonst notwendig ist. Und um keinen Preis der Welt darf ein Mensch etwas von meinem Mißgeschick erfahren!«

 

Er dachte an die Klatschbasen in Ilchester und stöhnte verzweifelt.

 

Barbara nahm fast mechanisch die Vollmacht aus seiner Hand. Träumte sie?

 

»Was hat denn das alles zu bedeuten?«

 

»Das heißt, daß du jetzt meine Stellvertreterin bist und für mich handeln sollst. Ich weiß, daß ich dir in jeder Beziehung trauen kann.«

 

»Ich soll — Schecks unterzeichnen?«

 

»Ja, und auch alle anderen Schriftstücke«, erwiderte Mr. Maber nun etwas ungeduldig. »Keinem anderen Menschen würde ich eine derartige Vollmacht geben. Aber es ist unbedingt notwendig, Barbara, daß du die Geschäftsleitung übernimmst. Sage den anderen, daß ich nach Cannes oder nach Monte Carlo gefahren bin.«

 

»Ich werde erzählen, daß Sie nach Köln reisen mußten«, meinte Barbara freundlich. »Es ist sicher richtiger, wir nehmen eine Stadt mit einem Dom. Die paßt besser zu Ihnen.«