Kapitel 33

 

33

 

Berrys Absicht war, von Louba die Zusage zu erhalten, daß er die Rente weiterzahlen würde, oder aber eine größere Pauschalsumme von ihm zu bekommen. Louba erklärte ihm geradeheraus, daß er kein Geld mehr für ihn habe und wahrscheinlich selbst bald aus England flüchten werde – mit allem Geld, das er nur zusammenraffen könne.

 

Berry glaubte dies zuerst nicht, aber Loubas Diener Miller bestätigte ihm dann die Sache. Die beiden unterhielten sich miteinander mit dem Erfolg, der Ihnen ja bekannt ist.

 

Hurley Brown war inzwischen längst wieder nach England zurückgekehrt und hatte einen Posten in Scotland Yard angenommen. Ich erzählte ihm, was ich von der ganzen Sache wußte, aber er äußerte seine Meinung dazu nicht. Er erwähnte nur, Emil Louba wisse vielleicht Näheres über das Verschwinden der beiden – ein Verdacht, den ich sofort mit aller Entschiedenheit zurückwies. Wie schon gesagt, ich hatte Louba trotz seiner vielen Schwächen und trotz seiner schlechten Kinderstube eigentlich immer ganz gern gehabt.

 

Jimmy und ich sprachen nur selten von Kate – ja, wir schienen uns immer fremder zu werden. Jeder war so mit seinen eigenen Interessen beschäftigt, daß wir bald nur noch ›Hurley Brown‹ und ›Warden‹ füreinander waren. Trotzdem hatten wir unsere gegenseitige Zuneigung nie verloren.

 

Wie seltsam sind doch die Zufälle, die manchmal die ganze Zukunft eines Menschen bestimmen … Eine gleichgültige Redewendung Hurley Browns im Club erinnerte Louba daran, daß er sich nicht ganz wohl fühlte und daß er mich eigentlich konsultieren könne. Wir verabredeten einen Zeitpunkt … Doch ich greife vor.

 

Die ganzen Jahre über war mir Kate nie aus dem Sinn gekommen. Kein Tag verging, an dem ich nicht morgens, mittags und abends an sie dachte. Immerhin tröstete ich mich damit, daß ihr langes Schweigen wohl nur bedeutete, daß sie glücklich sei. Tatsächlich war die Wunde fast vernarbt.

 

Ich entsinne mich, daß ich an Kate dachte, als ich damals zu Louba fuhr. Ebenso überlegte ich mir den Grund des seltsamen gegenseitigen Hasses, den Hurley Brown und Louba sich entgegenbrachten. Ich wußte, daß Jimmy es fertiggebracht hatte, Louba aus Malta zu verjagen. Es war Tatsache, daß Loubas Haus in Brand gesteckt worden war, kurz nachdem ihm Hurley Brown gedroht hatte. Man nimmt an, daß der Brand durch die wütenden Soldaten einer Kompanie gelegt wurde, deren junger Offizier durch seine Spielschulden an Louba in den Tod getrieben worden war. Miller ließ mich ein, und ich sah sofort an seinem Gesichtsausdruck, daß etwas nicht in Ordnung war. Später gab er auch zu, daß er einen Diebstahl geplant hatte und nun der Meinung war, Charles Berry käme ihm zuvor. Als er mir sagte, er wolle sich schnell mit seiner Braut treffen und würde in einer Viertelstunde wieder zurück sein, war ich einverstanden und blieb auf dem Vorplatz.

 

Der Lärm im Wohnzimmer wurde immer größer. Ohne eigentlich lauschen zu wollen, war ich gezwungen, fast jedes Wort mit anzuhören. Plötzlich hörte ich, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte, die Tür wurde aufgerissen, und Louba schrie in heller Wut:

 

›Hinaus mit Ihnen, und unterstehen Sie sich nicht, wieder herzukommen! Wenn ich Sie noch einmal sehe, dann verabreiche ich Ihnen einen Denkzettel, den Sie nicht vergessen werden – Mr. Charles Berry!‹

 

Charles Berry!

 

Ich sprang sofort auf.

 

›Was würden Sie für ein Gesicht machen, wenn ich zu dem alten Doktor ginge und ihm alles erzählte – was halten Sie davon?‹ hörte ich Berry sagen. Ich erkannte seine Stimme gleich wieder.

 

›Gehen Sie doch hin und sagen Sie es ihm! Aber sagen Sie ihm dann auch, was Sie gemacht haben! Erzählen Sie ihm nur, daß ich schon seit zehn Jahren den Unterhalt für Sie und Ihre Frau bezahle! Und jetzt marsch hinaus … Ihrer Frau können Sie noch sagen, daß Sie mir keine Briefe mehr schreiben soll. Wenn ich noch einmal dieses Gewinsel lesen muß, besuche ich sie – und dann kann sie was erleben!‹

 

Ich stand immer noch wie zu Stein erstarrt da und zitterte an allen Gliedern. Dann hörte ich Berry auf einem andern Weg das Zimmer verlassen. Mit Mühe bekam ich mich wieder in die Gewalt, ging durch die halboffene Wohnzimmertür und stand vor Louba.

 

Er blickte erschrocken auf, als ich eintrat, und wurde so weiß wie eine Kalkwand.

 

›Wann – wann kamen Sie herein, Doktor?‹

 

›Eben im Moment‹, erwiderte ich.

 

›Haben Sie etwas gehört? Haben Sie jemand fortgehen sehen?‹ fragte er weiter.

 

›Nein‹, entgegnete ich fest.

 

Ich hatte mich wieder völlig gefaßt, nur die Hände konnte ich nicht stillhalten.

 

›Gut!‹ meinte Louba mit einem Seufzer der Erleichterung. ›Ich hatte ganz vergessen, daß Sie kommen wollten, Doktor. Wollen Sie mich gleich untersuchen?‹

 

›Ziehen Sie das Hemd aus‹, erwiderte ich mechanisch und setzte mich an den kleinen Schreibsekretär, während er Kragen und Krawatte ablegte.

 

Ich kannte das Rezept auswendig, das ich ihm hatte geben wollen. Ganz automatisch nahm ich ein Blatt Papier und fing an zu schreiben – ohne richtig hinzusehen und zu wissen, was ich schrieb. Ich hatte schon einen Teil des Rezeptes fertig, als ich merkte, daß die Feder ja trocken war. Ich legte sie hin und nahm das Stethoskop aus der Tasche. Meine Hände zitterten immer noch, und ich versuchte mit aller Kraft, sie ruhig zu halten.

 

Dann sah ich plötzlich den Brief. Er lag auf dem Boden zu meinen Füßen, und ich bückte mich danach und hob ihn auf. Louba hatte mir den Rücken zugedreht und konnte mich nicht sehen. Der Brief war von Kate – ich erkannte sofort ihre Handschrift. Und in dem Dutzend Zeilen, die sich mir unauslöschlich eingeprägt haben, las ich die volle Wahrheit über die bodenlose Schlechtigkeit dieses Menschen. Ich las sie so genau heraus, als sei mir alles von einem Schwurgericht unter Eid erklärt worden. Ich erfuhr die Kniffe, die er angewandt hatte, um sie fortzulocken; ich erfuhr die Rolle, die er Charles Berry zugeteilt hatte. Und ich erfuhr auch, in was für einer Hölle sie an der Seite dieses Verbrechers lebte.

 

Louba hatte sich die ganze Zeit über mit seiner Krawatte abgemüht, warf sie jetzt auf den Boden und wandte sich mir zu. Als ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, zögerte ich keine Sekunde – ich nahm den erstbesten Gegenstand, der mir in die Hand kam. Es war ein schwerer silberner Leuchter, und damit schlug ich ihn nieder. Ich war so schnell, daß ich schon zum zweitenmal zuschlug, bevor er noch auf den Boden fiel. Schon der erste Schlag muß aber tödlich gewesen sein.

 

Ich betrachtete den Leuchter. Er war mit Blut besudelt, und ich trug ihn hinaus ins Speisezimmer. Gott sei Dank hatte ich die Handschuhe anbehalten, brauchte also keine Angst wegen Fingerabdrücken zu haben. Dann ging ich zu Emil Louba zurück. Er war tot. Ich brauchte ihn gar nicht zu untersuchen, um das festzustellen. Im Bruchteil einer Sekunde war ich mir über die nächsten Schritte, die ich unternehmen mußte, klargeworden und ging in das Schlafzimmer hinüber. Dort machte ich das Fenster auf, das zur Feuerleiter führte, nahm seinen seidenen Morgenrock, zog ihn an und knöpfte ihn bis zum Hals hinauf zu.

 

Beim Öffnen des Fensters hatte ich eine der beiden Schrauben, die zur Befestigung der Riegel dienten, heruntergeworfen. Ich hob sie auf und warf sie zusammen mit der andern auf Loubas Bett – aus keinem anderen Grund, als um die Polizei irrezuführen. Als nächstes nahm ich Kates Brief, riß die Adresse ab und hielt an den Rest ein Streichholz. Dann warf ich das Blatt in den Kamin und wartete, bis es verbrannt war. Mühsam hob ich danach den Körper vom Boden auf, trug ihn in das Schlafzimmer und legte ihn aufs Bett. Als ich draußen im Korridor ein Geräusch zu hören glaubte, schlich ich in den Vorplatz hinaus und lauschte an der Tür. Dabei kamen Blutflecken von dem Morgenrock an die Türfüllung.

 

Nur vier Minuten von den fünfzehn, die Miller fortbleiben wollte, waren bis jetzt verstrichen. Ich zog den Morgenrock aus, ging ins Badezimmer, steckte dort meine Handschuhe in die Tasche, wusch meine Hände und trocknete sie an einem frischen Handtuch ab. Das Handtuch legte ich dann wieder zu den anderen in den Kasten. Dann betrachtete ich mich sorgfältig in einem großen Spiegel und untersuchte sogar meine Schuhe nach Blutflecken. Als ich mich überzeugt hatte, daß alles völlig in Ordnung war, ging ich wieder auf den Vorplatz und setzte mich dort hin. Ich zog ein Buch aus der Tasche und brachte es tatsächlich fertig zu lesen. Ich las auch, als Miller wieder nach Hause kam, und nachdem ich noch die Komödie gespielt hatte, an der Tür nach Louba zu rufen, machte ich mich auf den Weg zurück in meinen Club.

 

Sie werden fragen, was es für einen Sinn hatte, daß ich zum Beispiel das Fenster aufmachte. Nun, das ist doch klar. Ich wollte ganz einfach das Verbrechen Berry in die Schuhe schieben – nicht etwa weil ich mich fürchtete, die Konsequenzen selbst zu tragen, sondern weil ich seinen Tod wünschte. Als ich das Haus verließ, sah ich Sie, Frank Leamington, und ich hatte das scheußliche Gefühl, daß Sie irgendwie in dieses Verbrechen mit hineinstolpern würden. Eigentlich wollte ich deshalb umkehren und Sie warnen; aber das hätte gefährlich werden können, gefährlich für uns beide, und aus diesem Grund entschloß ich mich, sofort in den Club zu gehen. Mein Freund Clark hatte Gott sei Dank keine Zeit, und so verbrachte ich den größten Teil des Abends in Hurley Browns Gesellschaft.

 

Als ich Sie in das Rauchzimmer kommen und in dem Fahrplan blättern sah, erschrak ich noch einmal sehr. Ich wurde dadurch so aufgeregt, daß ich beschloß, wieder in Loubas Wohnung zurückzukehren. Miller war ja nicht zu Hause, und ich hatte eine gute Ausrede, wenn ich hineinging. Es war mir besonders darum zu tun, Spuren, die ich eventuell doch hinterlassen hatte, zu verwischen. Kennzeichnend für meine damalige Gemütsverfassung ist, daß ich aber das unvollendete Rezept nachher nicht bemerkte.

 

Über die Feuerleiter gelangte ich sehr leicht in die Wohnung. Miller war nicht da, und ich durchsuchte das Zimmer in Ruhe. Kates Briefe, die ich entdeckte, steckte ich ein. Und dann fiel mein Blick auf das Telefon, und ich hatte eine Idee. Ich rief mich selbst im Club an – Loubas Stimme war ja so leicht nachzuahmen. Das tat ich aus demselben Grund, aus dem ich betreffs der Zeit, zu der Louba starb, gelogen habe um das Verbrechen auf einen andern abzuwälzen.

 

Den Rest der Geschichte kennen Sie ja bis zu einem gewissen Punkt. Berrys Aufenthalt wurde ausfindig gemacht, aber die Polizei kam zu spät, um ihn noch in dem Hotel, in dem er gewohnt hatte, verhaften zu können. Das einzige Beweisstück, das ihr in die Hände fiel, war ein Brief Millers, in dem er Berry mitteilte, daß Louba eine größere Summe im Haus habe.

 

Ich war inzwischen schon auf der Deptforder Spur. Nachdem die Polizei mich nicht mehr brauchte, war ich dort hingefahren und hatte vorsichtig Nachforschungen angestellt. Das fiel mir in der damals besonders nebligen Nacht sehr leicht.

 

Als ich am folgenden Tag erfuhr, daß Berry und Kate aus dem Hotel ausgezogen waren, wußte ich sofort, wohin sie sich gewandt hatten. Danach beobachtete ich Nacht für Nacht das Haus in der Little Kirk Street in Deptford.

 

Am Montagmorgen, als ich in aller Frühe zur Stadt zurückkehrte und mein Arbeitszimmer betrat, fand ich dort zu meiner Überraschung Jim vor, der auf mich wartete.

 

›Wo waren Sie, Doktor?‹ fragte er mich in seiner bedächtigen Art.

 

›Ich war unterwegs – hatte einen Patienten zu besuchen‹, versetzte ich so gleichgültig wie möglich. Ohne Umschweife antwortete er mir darauf:

 

›Papa, du hast Emil Louba ermordet.‹

 

Kapitel 34

 

34

 

Als ich das alte vertrauliche ›Papa‹ und das ›Du‹ wieder von ihm hörte – so hatte er mich in längst vergangener Zeit zusammen mit Kate manchmal genannt – wäre ich beinahe zusammengebrochen.

 

›Warum sagst du das, Jimmy?‹ fragte ich.

 

›Kein anderer Mensch kann ihn getötet haben‹, versetzte er. ›Kein Mensch war allein in der Wohnung außer Miller und dir. Kein Mensch hatte eine wirklich ernsthafte Veranlassung dazu, ihn zu ermorden, außer dir – denn Louba nahm dir Kate fort.‹

 

›Woher weißt du das?‹ fragte ich.

 

›Die Erkenntnis kam mir wie eine Erleuchtung. Du hast durch einen Zufall alles erfahren und schlugst Louba im Affekt sofort nieder. – Wo ist Kate jetzt?‹

 

Bevor ich antwortete, setzte ich mich in einen Sessel und stopfte mir meine Pfeife. Dies war eine Krise – und ein guter Arzt wird dadurch nicht schlechter, daß er sich einen schwierigen Fall erst einmal gründlich überlegt.

 

›Das kann ich dir nicht sagen‹, erklärte ich dann so ruhig wie möglich. ›Sie ist mit Berry in London, soviel weiß ich.‹

 

›Berry heißt der Mann, der früher dein Assistent war. Ich erkannte den Namen sofort. Das stimmt doch?‹

 

Ich nickte.

 

›Und sie lief natürlich nicht mit ihm davon, sondern Louba nahm sie mit. Berry war nur das Aushängeschild.‹

 

Eine lange, lange Zeit paffte ich stumm vor mich hin. Dann faßte ich einen Entschluß und erzählte ihm alles – alles, was ich wußte, alles, was ich getan hatte – alles, was passiert war.

 

›Verdammt, ich wünschte nur, ich wäre es gewesen‹, knirschte er. ›Ich wünschte, ich hätte ihn einmal in den Händen gehabt, bevor er starb.‹

 

›Ein Glück, daß du es nicht warst‹, sagte ich. ›Um mich ist es nicht allzu schade. Ich bin schon ein alter Mann und habe mit dem Leben mehr oder weniger abgeschlossen. Mit dem Bewußtsein, daß ich die Welt von einem großen Schurken befreit habe, werde ich ruhig sterben.‹

 

›Niemand wird sterben‹, sagte er energisch. ›Wir müssen Kate finden und sie fortschaffen. Was diesen Kerl, ihren – Gatten betrifft …‹

 

Ich hatte inzwischen alle Briefe, die Kate an Louba gerichtet hatte, längst gelesen und konnte ihm deshalb genaue Auskunft über ihre traurigen Lebensumstände geben.

 

›Wir müssen versuchen, sie wegzubekommen‹, sagte er wiederum, diesmal mit äußerster Entschlossenheit. ›Ich weiß nur noch nicht, was wir mit ihrem Mann machen sollen. Wenn er verhaftet wird, kommt die ganze Sache heraus.‹

 

›Gar nicht nötig, daß er verhaftet wird‹, sagte ich und fühlte mich so freudig entschlossen wie noch niemals in meinem Leben. ›Ich werde ihn töten.‹

 

Er starrte mich erschrocken an.

 

›Du bist ja verrückt‹, murmelte er.

 

›Ich werde ihn töten!‹ beharrte ich. ›Für all das, was er Kate angetan hat, werde ich ihn töten – und du darfst dich in keiner Weise hineinmischen. Das einzige, was ich möchte, Jim, ist ein Ort, wohin ich sie bringen kann – und eine bessere Zukunft für sie.‹

 

Er holte tief Luft.

 

›Was die Zukunft betrifft, so brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich werde meinen Abschied nehmen.‹

 

›Jim‹, sagte ich, ›verschaffe dir Pässe für dich und Kate. Übermorgen fährt ein Schiff aus Cherbourg nach Südamerika ab. Mach so viel Geld flüssig, wie du nur kannst, und nimm Kate mit dir. Ich komme nach, wenn ich am Leben bleibe.‹

 

Wir besprachen alles ganz genau. Ich nehme an, er glaube damals immer noch nicht so recht, daß ich wirklich die Absicht hatte, den Mann zu töten, denn beim Abschied sagte er:

 

›Es ist gar nicht notwendig, daß du das Risiko übernimmst. Wir holen Kate einfach weg und schlagen ihm so ein Schnippchen.‹

 

›Damit er plaudert?‹ fragte ich ihn. ›Damit er alles, was er über die hübsche Nichte Dr. Wardens weiß, erzählt und von dem Mord seine eigene Darstellung geben kann? Damit er sagt, er wisse, daß Captain Brown … Nein, tu du deine Sache – ich übernehme die meine.‹

 

*

 

An jenem Tag konnte man nicht nur sagen, daß es in London neblig war. Zutreffender ist, daß man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Gegen abend bezog ich meinen Posten vor dem Haus in der Little Kirk Street. In der Tasche hatte ich eine Browning-Pistole mit einem Schalldämpfer. Mein Plan war, Berry zu verfolgen, wenn er aus dem Haus kam, ihm eine Strecke weit nachzugehen und ihn im Nebel niederzuschießen. Dann wollte ich zu dem Haus zurückkehren und Kate holen. Aber er hatte seine eigenen Absichten. Mittlerweile hatte er beschlossen, das Mädchen umzubringen, hatte sie sogar veranlaßt, ein Geständnis zu schreiben, das sie nachher in die Tasche stecken mußte und von dem ich damals natürlich nichts ahnte. Das Original, nach dem sie es abschreiben mußte und das er fortzuwerfen vergessen hatte, fand sich bekanntlich in seiner eigenen Tasche. Ich sah die beiden herauskommen und folgte ihnen. Obwohl ich Gummisohlen an den Schuhen hatte, muß Kate mehr geahnt als gehört haben, daß sie verfolgt wurden.

 

Einmal kam der Mann ein Stück zurück, aber ich hatte mich flach gegen eine Mauer gedrückt, und er bemerkte mich nicht.

 

Was Charles Berry vorhatte, konnte ich nun schon erraten. Das Gespräch der beiden war aufschlußreich genug für mich gewesen. Deshalb verringerte ich den Abstand zwischen uns immer mehr und war nun ein stummer Beobachter dessen, was jetzt folgte.

 

Als Berry sie packte und zu dem Flußufer zog, war ich dicht hinter ihnen. In diesem Augenblick entschloß ich mich zu handeln – ich schoß zweimal auf ihn. Schon der erste Schuß muß ihn getötet haben. Kate wankte auf mich zu, und als sie meine Stimme hörte, erkannte sie mich sofort.

 

Es ist nicht mehr allzuviel zu berichten. An einem Ort, den wir vorher vereinbart hatten, traf ich Jimmy und ließ die beiden davonziehen. Ich ging weiter meiner normalen Beschäftigung in Devonshire Street nach – Sie, lieber Leamington, wollte ich erst in Freiheit sehen, bevor ich die erste Gelegenheit wahrnahm, England für immer zu verlassen.

 

Kate ist verheiratet und ist unaussprechlich glücklich. Jimmy, ihr Mann, sitzt mir mit ruhigem, zufriedenem Gesicht gegenüber. Sie würden es ihm nicht ansehen, daß er einmal ein höherer Beamter Scotland Yards war.

 

Das ist die ganze Geschichte, mein lieber Frank. Niemand als Sie und Ihre Frau darf sie erfahren. Als wir uns kurz vor Ihrer Hochzeit voneinander verabschiedeten, versprach ich Ihnen, noch zeitig genug zur Trauung von meinem Urlaub wieder zurück zu sein. Das war ein Versprechen, das ich damals schon nicht zu halten gedachte. Nun, ich glaube, Sie verstehen jetzt, warum. Ich wünsche Ihnen zusammen mit Ihrer lieben Frau ein langes und glückliches Leben – und behalten Sie Ihren alten Doktor in gutem Andenken.«

 

Kapitel 24

 

24

 

Am nächsten Morgen tauchte in der Wohnung im zweiten Stock Dr. Warden auf. Er wollte sich mit Trainor unterhalten. Vor allem hätte er gern erfahren, ob Miller dem Detektiv seine, Hurley Brown betreuende, Theorie wiederholt hatte, und welche Bedeutung Trainor dieser Vermutung beilegte. Er hatte zwar absolutes Vertrauen zu Brown, wußte aber, daß es merkwürdig aussah, wenn Brown den von der Polizei gesuchten Charlie verfolgte, ohne dies offiziell mitzuteilen.

 

Der Doktor fand Trainor gerade im Begriff, in da Costas Wohnung einzudringen.

 

»Eigentlich wollte ich schon gestern abend hinein, aber wir wurden abgelenkt, und deshalb begnügte ich mich damit, an beide Ausgänge Posten zu stellen«, erklärte er. »Ich glaube zwar nicht, daß überhaupt jemand oben ist, aber ich hätte gerne herausgefunden, ob vielleicht mein kleiner Mann dort gewohnt hat, was mir sehr wahrscheinlich vorkommt.«

 

»Um was für einen kleinen Mann handelt es sich denn?« fragte Warden.

 

»Mr. Weldrake.« Trainor erzählte, was vorgefallen war. »Sie haben von Louba wohl nie etwas über ein Perlenkästchen gehört? Sehen Sie es sich einmal an«, sagte er zum Schluß.

 

»Ich kann mich nicht darauf besinnen. Verrückt von diesem Weldrake, sich sozusagen über Ihrem Kopf einzulogieren, nur um Sie von einem Besuch in seiner eigenen Wohnung abzuhalten.«

 

»Das schon, aber er ist überhaupt ein merkwürdiger Kerl. Möglich, daß er noch irgend etwas anderes hier zu suchen hatte. Ich weiß es nicht … Gestern abend konnte ich nicht mehr aus ihm herausbringen, als daß er den Gegenstand da in der Wardour Street gekauft hätte.«

 

»Kann ich Sie nach oben begleiten?«

 

»Selbstverständlich, kommen Sie mit, Doktor, wollen mal sehen, was da zu finden ist. Ich habe mich beim Hausmeister erkundigt, aber er hat keinen Schlüssel. Wir werden die Tür wohl aufbrechen müssen.«

 

Trainor beauftragte den Sergeanten, die Feuerleiter zu beobachten, stieg mit seinem Begleiter nach oben und läutete an da Costas Wohnung. Wie zu erwarten, erhielt er keine Antwort. Kein Laut war von drinnen zu hören.

 

Ohne zu zögern nahm Trainor aus seiner Rocktasche einen Bund Dietriche. Innerhalb fünf Minuten öffnete er das Hauptschloß, aber als sie die Tür aufdrücken wollten, widerstand sie weiter allen ihren Bemühungen.

 

»Zugeriegelt!« stieß Trainor hervor. »Von innen zugeriegelt … Begreifen Sie, Doktor?«

 

Aufgeregt gingen sie wieder nach unten und stiegen aus Loubas Fenster. Den Sergeanten schickten sie zur Beobachtung vor da Costas Wohnung. Dann kletterten sie hinauf. Kurz entschlossen schlug Trainor eine Fensterscheibe ein und zog den Riegel zurück, der das Fenster sicherte.

 

Als erstes ließen sie den Sergeanten ein und postierten ihn zwischen dem Haupteingang und dem Fenster. Den Arzt bat Trainor, in dem Zimmer zu bleiben, in das sie durch das zerbrochene Fenster eingestiegen waren, während er sich selbst auf die Suche machte, die eigentlich nicht von langer Dauer sein konnte.

 

»Na, ich glaube, ich werde bald etwas entdecken«, bemerkte er, »Machen Sie sich auf etwas gefaßt. Alle Eingänge von innen verriegelt – das spricht Bände. Da, schauen Sie her« – er deutete auf den Tisch –, »eine erst vor kurzem eingenommene Mahlzeit, das Brot ist noch ganz frisch.«

 

Es war klar, daß hier jemand vor ganz kurzer Zeit gegessen hatte.

 

Trainor umspannte mit den Händen die Kaffeekanne.

 

»Sie ist noch warm«, rief er triumphierend. »Drehen Sie alle Lichter an!«

 

In Anbetracht des trüben Tages war diese Maßnahme durchaus angebracht.

 

Dann ging er vorsichtig in das Schlafzimmer.

 

»Im Bett hat jemand geschlafen«, rief er den anderen zu und öffnete einen großen Kleiderschrank – nichts. Er schaute unter das Bett – auch nichts.

 

Nun ging er in die übrigen Zimmer, fand aber auch dort niemanden. Er betrat die kleine Küche, wo er schmutzige Teller und eine leere Sardinenbüchse fand. Der Sergeant deutete auf eine große Kommode, die, wenn sie keine Schubfächer enthielt, sich gut zum Versteck eignen mußte. Trainor nickte, und sie öffneten beide das Möbel.

 

Im Speisezimmer hatte Trainor eine breite Couch übersehen, die in der dunkelsten Ecke des Zimmers an der Wand stand. Hätte er die Figur da Costas gekannt, dann würde er diesen Diwan sogar absichtlich übersehen haben. Aber trotz seiner Körpergröße hatte da Costa sich tatsächlich daruntergequetscht. Und außerdem umklammerte seine Hand mit festem Griff auch noch einen Hut. Trotz seiner Aufregung hatte er sich gesagt, daß ein Mann ohne Hut, noch dazu ohne Mantel und an einem Wintertag, als Flüchtling allgemeine Aufmerksamkeit erregen mußte. Falls ihm die Flucht gelang, dachte er verzweifelt, mußte er wenigstens einen Hut bei sich haben!

 

Nachdem er sich eine Zeitlang im Zimmer umgesehen hatte, wandte sich der Doktor dem Fenster zu und starrte grüblerisch in die dichten Nebelschwaden hinaus.

 

Da Costa, der ihn vorsichtig beobachtet hatte, verlor keine Zeit. Er wand sich unter seinem Diwan hervor, kam im nächsten Augenblick auf die Beine, behielt den Rücken des Doktors im Auge, stülpte sich den Hut fest auf den Kopf und sprang mit einem mächtigen Satz auf das Fenster zu.

 

Dr. Warden schrie auf und taumelte erschreckt zur Seite, als ihn da Costa anstieß. Aber er riß sich noch rasch genug zusammen, um den Flüchtling wenigstens beim Rockzipfel zu erwischen. Im nächsten Augenblick jedoch stolperte er über die Ecke eines Teppichs und verlor das Gleichgewicht.

 

Trainor und sein Gehilfe stützten auf den Schrei hin sofort herbei und sahen gerade noch da Costa durch das Fenster verschwinden. Der Doktor hatte sich wieder aufgerafft und wurde sofort erneut umgerissen, als er mit den beiden, die schleunigst auf das Fenster zurannten, zusammenstieß.

 

Als sie sich endlich frei gemacht hatten und zum Fenster hinausgestiegen waren, war da Costa schon auf der unteren Plattform angelangt und stieg das letzte Stück der Leiter mit erstaunlicher Behendigkeit hinunter. Die Einbrecherglocke schrillte, gerade als sie an den Fenstern des zweiten Stockwerks ankamen, und Miller stürzte heraus.

 

»Aus dem Weg!« brüllte Trainor den Diener an, der schon auf der Leiter stand. Miller drückte sich ängstlich zur Seite und geriet dadurch dem Sergeanten direkt in die Quere, der ihn nun seinerseits wieder wegzuschieben versuchte, wodurch er nochmals gegen Trainor fiel.

 

»Zum Teufel mit euch allen!« zeterte Trainor und rutschte nun fast die Leiter herunter.

 

Unten angelangt, wurde er von dem atemlosen Hausmeister sofort gepackt und festgehalten.

 

»Lassen Sie mich gehen, Sie Esel!« schnaubte Trainor und riß sich von ihm los.

 

»Verzeihung, Sir, aber die Alarmglocke …«, keuchte der Mann.

 

»Ach – wir haben rein gar nichts gehört!« knurrte Trainor mit schneidender Ironie und rannte wie besessen in Richtung des Tores.

 

Auf der Straße trennten sie sich und liefen in verschiedenen Richtungen. Der Sergeant pfiff mit aller Kraft auf seiner Trillerpfeife. Von dem Flüchtling war schon nichts mehr zu sehen. Der Nebel war für ihn ein Geschenk Gottes.

 

Als die Pfeife des Sergeanten schrillte, kam da Costa gerade an einem Polizisten vorbei. Er hatte den großen Mut und die große Frechheit, stehenzubleiben und den Beamten zu fragen:

 

»Ist was nicht in Ordnung, Wachtmeister?«

 

»Haben Sie was gesehen? Ist jemand davongelaufen?« fragte der Polizist und erwiderte den Pfiff auf seiner eigenen Pfeife.

 

»Nein, nicht in dieser Richtung.«

 

Der Polizist rannte los.

 

»Man könnte glauben, dieses neblige Wetter wäre speziell von dem Mörder und seinen Komplicen bestellt worden!« erklärte Trainor wütend, als er in die Wohnung zurückkehrte. »Haben Sie ihn genau gesehen, Doktor?«

 

»Nein. Es ging alles so schnell … Wahrscheinlich war es dumm von mir, mit dem Rücken gegen das Zimmer zu stehen, aber ich dachte im Grunde genommen gar nicht im Ernst daran, daß er hier, in diesem Zimmer sein könnte«, entgegnete Warden.

 

»Nein, natürlich nicht. Ich vermutete ihn auch in einem andern Teil der Wohnung. Wenn dieser Miller uns nicht noch in den Weg gekommen wäre, hätten wir ihn gefaßt.«

 

»Miller wurde wahrscheinlich durch die Alarmklingel auf den Plan gebracht?«

 

»Natürlich, das war’s ja. Wir waren alle so erpicht darauf, ihn festzunehmen, daß wir uns gegenseitig im Weg waren.«

 

»Haben Sie ihn denn gesehen?«

 

»Ich sah seinen Rücken – ein großer Kerl, ziemlich massiv gebaut, ohne Mantel. Aber er hatte einen Hut auf. Wenn ich daran denke, daß er die ganze Zeit über hier im Zimmer war …!«

 

»Sie halten ihn also für den Richtigen. Aber wie konnte er denn von außen in Loubas Wohnung gelangen, wo doch das Fenster geschlossen war?«

 

»Weiß ich’s?« gab Trainor kurz angebunden zurück.

 

Er überlegte sich, ob Miller die Verfolgung da Costas nicht absichtlich behindert hatte … Denn als Tatsache blieb bestehen: Wenn der Mörder einen Komplicen in der Wohnung gehabt hatte, dann konnte dieser Komplice kein anderer als Miller sein.

 

Mühsam schluckte Trainor seinen Ärger hinunter und nahm die Durchsuchung der Wohnung wieder auf. Einer der Gegenstände, die er sich dabei vornahm, war der Briefkasten. Briefe waren zwar keine drin, dafür entdeckte er etwas anderes:

 

»Brotkrumen!« rief er und ließ die kleinen Brocken in die Handfläche der anderen Hand fallen.

 

»Er hat also Lebensmittel durch den Briefkasten zugesteckt bekommen, was?« fragte Dr. Warden.

 

»Sieht so aus. Aber warum gerade durch den Briefkasten?«

 

Miller war durch das Fenster hereingeklettert und schaute sich neugierig im Zimmer um.

 

»Ich glaube, Weldrake weiß darüber Bescheid«, sagte Trainor. »Den haben wir wenigstens sicher.«

 

»Haben Sie heute schon mit ihm gesprochen?« fragte Warden.

 

»Nein, aber ich gehe jetzt zu ihm hin.« Er wandte sich an Miller. »Was tun Sie noch hier?«

 

»Nichts, Herr Inspektor. Übrigens – an einem so nebligen Tag wie heute ist es ja kein Wunder, daß Sie ihn nicht erwischen konnten.«

 

»Wir hätten ihn gefangen, wenn Sie nicht dazwischengekommen wären.«

 

»Aber Herr Inspektor«, verteidigte sich nun Miller, »wenn ich im Zimmer geblieben wäre und nicht versucht hätte, den Mann auf der Feuerleiter aufzuhalten, dann hätten Sie auch etwas auszusetzen gehabt. Wie konnte ich wissen, daß ich Ihnen direkt in den Weg lief? Außerdem hätte ich ihn vielleicht sogar erwischt, wenn Sie und der Sergeant mich nicht beinahe die Leiter heruntergeworfen hätten.« Er sagte das mit außerordentlich gekränkter Miene.

 

»Er hat ganz recht«, stimmte Dr. Warden bei.

 

»Nun, ich werfe Ihnen ja auch nichts vor, Miller«, meinte Trainor beschwichtigend. »Aber es ist schon aufreizend, wenn man den Kerl auf diese Weise entkommen sieht.«

 

»Ja, das glaube ich schon«, gab Miller zu und schaute sich wieder in der Wohnung um. »So, hier hat er also die ganze Zeit gehaust«, murmelte er.

 

»Wer?« fragte Trainor prompt.

 

»Nun, natürlich der Mörder«, versetzte Miller, und der Detektiv wandte sich mit einem enttäuschten Blick ab.

 

Dr. Warden betrachtete Miller sehr verwundert.

 

Kapitel 25

 

25

 

Nach seiner Teilnahme an diesem mißglückten Festnahmeversuch da Costas ging Dr. Warden in seinen Club, wo sich bald darauf auch Hurley Brown einfand. Browns Gesicht war düster, seine Miene die eines Menschen, der sich mit irgendwelchen Sorgen herumschlägt. Er sah Warden und kam langsam auf ihn zu.

 

»Ich fürchte, Sie hatten kein Glück«, sagte Dr. Warden. »Ich meine, in Ihrer selbstgestellten Aufgabe …«

 

Hurley Brown gab keine Antwort, sondern kniff nur ein wenig die Lippen zusammen.

 

»Na, Sie sind nicht der einzige Mensch, dem der Nebel einen Streich gespielt hat«, fuhr der Doktor tröstend fort. »Trainor kocht vor Wut.«

 

»Warum?«

 

Brown sah neugierig auf.

 

»Ich habe bei einem kleinen Einbruch mitgeholfen und mich an einer Verfolgungsjagd beteiligt, wie sie nicht sein soll. Trainor durchsuchte heute morgen da Costas Wohnung, und jemand, er glaubt, es war da Costa selbst, machte sich davon und entwischte ihm.«

 

»War es denn wirklich da Costa?« fragte Brown schnell.

 

»Ich kenne ihn ja gar nicht.«

 

»War es jemand, den Sie kannten?«

 

»Bestimmt nicht – soweit ich das mit Sicherheit sagen kann. Es ging ja alles so schnell«, versetzte Warden und betrachtete ihn etwas überrascht. Hurley Brown wich seinem Blick aus.

 

»Und er ist entkommen?«

 

»Ja. Trainor hofft allerdings, ein paar Auskünfte von einem Mann zu erhalten, den er gestern abend anhielt.«

 

»Wo anhielt?«

 

»In Braymore House. Er kam anscheinend von der Wohnung da Costas und hatte etwas bei sich, was aus der Truhe in Loubas Zimmer stammt.«

 

»Davon weiß ich noch gar nichts. Wie heißt der Mann?«

 

»Weldrake. Sowohl Miss Martin als auch Leamington sahen ihn in der Mordnacht vor Braymore House.«

 

»Es ist also nicht Charlie?«

 

»Nein, nein.«

 

Brown biß sich auf die Lippen.

 

»Weldrake, sagten Sie?« fragte er. »Ich kannte einmal einen Mann dieses Namens, das ist aber schon lange her wahrscheinlich ist es nicht derselbe. Hat Trainor von ihm etwas Wichtiges erfahren?«

 

»Nicht besonders viel. Er ist eben zu ihm hingefahren, um zu sehen, was er noch aus ihm herausholen kann.«

 

»Ich fahre auch hin. Wissen Sie die Adresse?«

 

Warden gab sie ihm, und Brown wollte eben gehen, als ihn der Doktor zurückhielt.

 

»Der Weldrake, den Sie kannten, stand wohl in keiner Beziehung zu Louba?«

 

Brown fuhr so erschrocken herum, als ob ihm der Gedanke auch eben gekommen wäre.

 

»Doch, er stand in Beziehung zu ihm«, antwortete er nachdenklich. »Eigentlich habe ich erst durch ihn Louba kennengelernt.«

 

»Und hatte er Ursache, Louba zu hassen?«

 

»Gerade genug«, gab Brown zögernd zu.

 

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

 

»Könnte nicht er den Mord begangen haben? Was halten Sie davon?« fragte Warden dann.

 

»Nein, der Gedanke ist absurd! Er – und Gewalt anwenden … Großer Gott, nein!« rief er, als ihm die Erinnerung an die unscheinbare Gestalt Weldrakes ins Gedächtnis zurückkam.

 

»Dann haben Sie wohl auch keine Vermutung über seine Absichten?«

 

»Wahrscheinlich wäre es besser, ich würde ihn überhaupt nicht wiedererkennen«, antwortete Brown beruhigt. »Und doch, ich weiß nicht recht. Das könnte uns beiden auch allerhand Unannehmlichkeiten bringen. Es ist sehr unangenehm.« Mit einer Handbewegung scheuchte er die schlimmen Vorahnungen beiseite. »Ach was – ich glaube nicht, daß man ihn verdächtigen wird, wenn es derselbe Mann ist, den ich kenne. Im Grunde genommen nehme ich gar nicht an, daß es wirklich derselbe ist, aber sollte er es sein, dann wird er alles zur Zufriedenheit aufklären können.«

 

Er verließ den Club und trat auf die Straße hinaus. Die gelben Nebelschwaden waren schon wieder so dicht, daß die Straßenbeleuchtung angezündet worden war – als ob es elf Uhr nachts wäre, anstatt elf Uhr morgens.

 

Trainor verhörte Weldrake gerade, als er ankam. Ein Blick auf den hilflosen kleinen Mann genügte, seine Überzeugung zu festigen, daß es absurd war, ihn auch nur der Beihilfe an dem Mord zu verdächtigen. Übrigens erkannte ihn Weldrake sofort wieder, wodurch Brown der Entscheidung enthoben wurde, wie er sich ihm gegenüber zu verhalten habe.

 

»Captain Brown kennt mich«, erklärte Weldrake dem Inspektor. »Er wird Ihnen sagen, daß ich ein anständiger Mensch bin. Sie erinnern sich doch noch an mich, Captain?«

 

»Aber natürlich«, sagte Brown und schüttelte ihm die Hand. »Dies ist der Vater eines Freundes und ehemaligen Kameraden von mir, der vor einigen Jahren starb.«

 

»Und Sie haben sich seitdem wieder einmal getroffen?«

 

»Das zwar nicht«, versetzte Weldrake, »aber ich habe mittlerweile bestimmt nicht die Verbrecherlaufbahn eingeschlagen.«

 

»Ich habe diesen Herrn gerade verhaftet. Können Sie sich denken warum?« wandte sich Trainor an Brown.

 

»Ja«, erwiderte Brown. »Ich sprach soeben mit Warden. Können Sie uns eine Erklärung geben, Mr. Weldrake?«

 

»Ich habe mein Wort gegeben, daß ich an dem Mord vollkommen unbeteiligt bin und daß ich nicht weiß, wer ihn beging«, antwortete er.

 

»Sie erklärten doch, da Costa sei verreist. Trotzdem fanden wir ihn heute morgen in seiner Wohnung«, sagte Trainor.

 

»Und hat er Ihnen vielleicht gesagt, daß ich mit ihm in Verbindung stand und wußte, daß er zu Hause war?« fragte Weldrake zurück.

 

Trainor antwortete nicht sogleich, und Brown merkte sofort, daß er sich in einer ziemlich schwierigen Lage befand.

 

»Ich glaube, Inspektor, es ist das beste, wenn Sie Mr. Weldrake alles sagen«, meinte er. »Sicher ist er dann Ihnen gegenüber genauso ehrlich. Ich bin eigentlich sicher, daß Sie nichts zu verbergen haben, Mr. Weldrake. Da ist es doch besser, man spricht ganz offen miteinander.«

 

Trainor war eigentlich selber der Meinung, daß der Mann nur deshalb nichts aussagte, weil er einen anderen schonen wollte.

 

»Von da Costa wissen wir gar nichts«, erklärte er deshalb. »Er ist uns entkommen und befindet sich noch in Freiheit.«

 

Weldrake verbarg keineswegs seine Genugtuung über diese Nachricht. Selbst Brown bemerkte sie mit einiger Überraschung.

 

»Wollen Sie uns jetzt alles sagen, was Sie wissen?« fragte Trainor.

 

»Ja, gerne«, entgegnete der kleine Mann nun bereitwillig. »Sie wissen doch, daß ich Mr. Leamington bei mir ein Versteck anbot. Ich war einfach nicht der Ansicht, daß er verdiente, gehängt zu werden – selbst wenn er Mr. Louba ermordet hätte. Ich wußte auch, daß da Costa in der Wohnung über Louba wohnte und daß er mit ihm vor Jahren einen Streit gehabt hatte. Ob er mit dem Mord etwas zu tun hat, weiß ich nicht – aber für den Fall, daß er irgendwie beteiligt gewesen war, wollte ich ihm beistehen. Leamington konnte ich doch nicht mehr helfen, und so ging ich also zu da Costas Wohnung. Er öffnete mir das erste- und zweitemal nicht, obgleich ich ihm jedesmal einen Brief hinterließ, in dem ich ihn an unsere frühere Begegnung erinnerte. Außerdem warf ich ihm Lebensmittel durch den Briefkastenschlitz, weil ich annahm, er könnte sie gebrauchen. Gestern abend dann öffnete er endlich. Er versicherte mir, daß er mit dem Mord nichts zu tun habe. Er hatte nur große Angst, in den Verdacht der Täterschaft zu geraten, weil er aus bestimmten Gründen eine Abreise vorgetäuscht hatte, ohne daß er wirklich abgereist war. Worüber er sich am meisten Gedanken machte, das war das Kästchen, das er von Louba am Mordtag selbst gekauft hatte. Das kann nicht lange vor der Ankunft des Mannes, den Sie suchen – Charlie – gewesen sein. Miller konnte darüber nicht Bescheid wissen, weil da Costa die Feuerleiter herunterkam. Louba ließ ihn durch das Fenster herein und auch auf dieselbe Weise aus der Wohnung wieder heraus; das Fenster schloß er hinter ihm.«

 

»Eine wirklich merkwürdige Art, Raritäten zu kaufen«, bemerkte Trainor spöttisch.

 

»Auf diese Weise hat er Louba öfters besucht«, sagte Weldrake. »Er hatte nämlich gewisse Privatgeschäfte mit ihm er übernahm einen Teil seiner Geschäftsinteressen, und Louba wollte nicht gerne, daß jemand davon erfuhr, daß er sie abstieß.«

 

»Und hatte dieses wertlose Kästchen auch etwas mit Geschäftsinteressen zu tun?«

 

»Nein, aber Louba kannte seinen Wert nicht, und da Costa hatte Schwierigkeiten; es zu bekommen, ohne daß Louba Verdacht schöpfte.«

 

»Wieviel soll dieses Glasperlending eigentlich wert sein?«

 

»Ich weiß nicht. Das hat er mir nicht gesagt. Er bat mich nur, es mitzunehmen und für ihn aufzuheben. Er hatte Angst, es würde verdächtig aussehen, wenn man den Kasten bei ihm fände.«

 

»Und Sie wollten ihm helfen, weil Sie glaubten, daß er möglicherweise Louba ermordet hat?«

 

»Ja«, antwortete Weldrake mit einer Offenheit, die seine Zuhörer wieder völlig verblüffte.

 

»Sie wünschten tatsächlich, daß Louba ermordet wurde?«

 

»Ja.«

 

Trainor blieben die Fragen fast im Hals stecken.

 

»Warum, verflixt noch mal?« brachte er schließlich heraus.

 

»Weil er meinen Sohn umgebracht hat.«

 

»Jeder, der Louba genauer kannte«, warf Hurley Brown ein, »weiß, daß er nur die gerechte Strafe erhalten hat.«

 

»Möglich«, stimmte Trainor bei. »Aber es besteht immer noch ein Unterschied zwischen Hoffen und Wünschen und praktischer Beihilfe.«

 

»Ich habe niemals irgendwelche Beihilfe geleistet«, sagte Weldrake. »Ich wartete nur.«

 

»Und hofften?«

 

»Ja.«

 

»Was taten Sie an jenem Abend vor Braymore House?«

 

»Es war durchaus nicht das erstemal, daß ich dort stand und das Haus beobachtete, besonders seit ich wußte, daß da Costa über Louba wohnte. Es war mir auch bekannt, daß Miss Martin wegen Louba ihre Verlobung mit dem jungen Leamington gelöst hatte. Ich hatte Leamington gesehen, als er die Feuerleiter untersuchte. Das war am Abend vor dem Mord. Am nächsten Morgen kam er schon wieder, und ich vermutete, was er vorhatte. Deshalb kam ich auch in der betreffenden Nacht ziemlich früh und wartete sehr lange. Dann sprach ich Miss Martin an, die mir leid tat.«

 

»Und was sahen Sie alles?«

 

»Ich sah Mr. Leamington hineingehen und herauskommen. Und dann sah ich Sie alle eintreffen, nachdem das Verbrechen entdeckt war.«

 

»Und sonst sahen Sie niemand in die Wohnung eindringen?«

 

»Sonst niemand.«

 

»Sie sahen auch nicht, wie Charlie fortging?«

 

»Nein.«

 

»Sie wohnen nur einen Teil des Jahres in London, wurde uns in Balham gesagt. Wo halten Sie sich während der übrigen Zeit auf?«

 

»Dort, wo sich Louba aufhielt. Ich war immer nur dann in London, wenn auch er da war.«

 

»Was?« rief Brown. »Wollen Sie damit sagen –«

 

»Seitdem mein Sohn ermordet wurde, verfolge ich seinen Mörder. Ich versprach Reggie, ich würde nicht nach Hause gehen, bevor er nicht gerächt sei. Deshalb folgte ich Louba.«

 

»Überallhin?« rief Brown.

 

»Fast überallhin. Für längere Zeit habe ich ihn nie aus den Augen verloren.«

 

Brown hätte noch eine ganze Menge Fragen gehabt, und Trainor wartete darauf, daß er sie stellen würde. Aber anscheinend waren es Fragen, die er lieber zurückhielt, obgleich es klar war, daß ihm dies nicht leichtfiel. Trainors Gesicht wurde um noch einen Grad düsterer, als er seinen Vorgesetzten anschaute – die Kluft zwischen ihnen hatte sich nicht verringert.

 

»Hm – Sie sind also seit Jahren hinter Louba her, immer nur mit der einen Hoffnung beschäftigt, daß er ermordet würde … Und nun wollen Sie uns weismachen, daß Sie an der ganzen Sache unbeteiligt sind?« fragte Trainor.

 

»Ja.«

 

»Und Sie wissen auch nicht, wo da Costa hin ist?«

 

»Nein, bestimmt nicht.«

 

»Ist das die Wahrheit?«

 

»Die volle Wahrheit, wirklich.«

 

Er schaute Hurley Brown flehend an. »Darf ich jetzt nicht endlich gehen?« fragte er. »Ich möchte so gerne nach Hause und mich ausruhen. Früher fand ich dort kaum Schlaf, aber seitdem Louba tot ist …«

 

»Jammerschade, daß Sie nicht schon früher heimgegangen sind«, konnte sich Trainor nicht versagen zu spötteln.

 

»Ich fühlte genau, daß ich dem helfen mußte, der Louba ermordet hatte – wer es auch gewesen war.«

 

»Weil sie seinen Tod wünschten und demjenigen dankbar waren, der ihn ermordete? Verhält es sich so?«

 

»Ja«, erwiderte der kleine Mann gelassen.

 

Trainor blickte Brown an.

 

War der kleine Mann nun sehr einfältig oder sehr durchtrieben?

 

Kapitel 26

 

26

 

Was Weldrake ausgesagt hatte, stimmte anscheinend genau. Nachforschungen ergaben keine Widersprüche, und nachdem Trainor verschiedene Angaben auf ihre Glaubwürdigkeit untersucht hatte, suchte der Detektiv Miss Martin auf.

 

»Ich will mich mit Ihnen gar nicht darüber unterhalten, daß Sie mir verschiedenes verschwiegen haben, Miss Martin«, begann er. »Ich glaube, ich kenne den Grund dafür. Aber ich hoffe, daß Sie wenigstens jetzt Rede und Antwort stehen.«

 

»Was – was habe ich Ihnen denn verschwiegen?« stammelte Beryl.

 

»Sie sagten mir zum Beispiel nichts davon, daß Weldrake Ihnen anbot, Frank Leamington bei sich aufzunehmen.«

 

Beryl errötete.

 

»Nein. Weil … nun, ich wußte natürlich, daß es bestraft wird, wenn jemand einen Verbrecher oder einen Verdächtigen bei sich aufnimmt, und ich … Sie können doch nicht verlangen, daß ich dem freundlichen kleinen Mann Unannehmlichkeiten gemacht hätte, nachdem er mir seine Hilfe angeboten hatte.«

 

»Vielleicht nicht. Aber wie soll denn die Polizei die Wahrheit ermitteln, wenn jeder sorgsam alles vor ihr verbirgt? Wußten Sie, daß dieser Mann Louba als den Mörder seines Sohnes betrachtet und ihm seit Jahren in der Hoffnung folgt, daß er eines Tages ermordet wird?«

 

»Woher sollte ich denn das wissen?« rief Beryl erschrocken. »Und doch …«

 

»Nun, Miss Martin?«

 

»Ich erinnere mich eben daran, daß er an jenem Abend eine Menge unsinniges Zeug zusammenredete … Ich dachte damals, er sei nicht ganz normal.«

 

»Und glauben Sie nicht, daß er wirklich ein wenig verrückt ist – wenigstens was diesen Punkt betrifft? Und daß er, falls er tatsächlich geistesgestört ist, vielleicht einen Mord verübt hat, dessen ihn normalerweise niemand für fähig halten würde?«

 

»Mein Gott, glauben Sie, daß er Louba ermordet hat? Das ist doch fast unmöglich!«

 

»Wir wissen nicht, wer ihn ermordet hat. Er wurde von hinten niedergeschlagen und hatte keine Zeit, sich zu verteidigen. Das wissen wir. Ob Weldrake, selbst in seinem Wahnsinn, Louba zu dem Bett schleifen konnte, auf dem wir ihn fanden, ist nicht leicht feststellbar. Verrückte haben bekanntlich in besonderen Fällen außerordentliche Kräfte. Außerdem war ja noch da Costa da. Möglich, daß Weldrake ihm geholfen und als Belohnung das Kästchen bekommen hat.«

 

»Also nehmen Sie wirklich an …«

 

»Aber nicht im geringsten. Ich möchte Sie nur davon überzeugen, daß eventuell sogar dieser anscheinend harmlose Mann schuldig sein könnte. In diesem Fall würde es Mr. Leamington nur schaden, wenn Sie etwas verschweigen, was Sie über Weldrake wissen – ganz abgesehen von anderen Gesichtspunkten.«

 

»Es kam ja nur durch sein Anerbieten, Mr. Leamington zu helfen«, murmelte sie schuldbewußt.

 

»Schon das kann, für sich betrachtet, eine Spur sein. Sein Wunsch, niemand anders für das Verbrechen leiden zu lassen, wäre ganz natürlich, wenn er selbst der Täter ist – denn immerhin scheint Weldrake, abgesehen von seiner Verrücktheit, doch ein ganz anständiger Mensch zu sein. Kann ich mich jetzt auf Sie verlassen, daß Sie mir alles sagen, was Sie wissen? Vertrauen Sie mir ganz … Ich werde niemandem Schwierigkeiten machen, ausgenommen denen, die es verdienen.«

 

»Sie können sich auf mich verlassen, Mr. Trainor«, antwortete sie und sah ihm offen ins Gesicht.

 

»Dann sagen Sie mir bitte alles, was Sie über den Mann wissen.«

 

»In der Nacht vor der Ermordung Loubas schaute er zu einem Fenster von Sir Marshleys Haus herein und beobachtete mich und Louba.«

 

»Ja, das hat er mir erzählt.«

 

»Dann sprach er mich vor Braymore House an.«

 

Sie erzählte ihm alles, was sie von dem Gespräch an diesem Abend noch in Erinnerung hatte, und auch das, was sie noch von der Unterhaltung mit ihm wußte, die sie mit ihm am folgenden Morgen geführt hatte.

 

»Seitdem ich ihn bei Franks Verhaftung entdeckte, habe ich ihn nur ein einziges Mal gesehen, und da kam er aus Sir Harry Marshleys Haus.«

 

»Mr. Weldrake?«

 

»Ja.«

 

»War er dort häufiger?«

 

»Ich habe ihn nie dort gesehen. Warum hätte er sonst auch durch das Fenster schauen sollen?«

 

»Außerdem würde er ja nicht offen dort verkehren, wo Louba war«, überlegte Trainor halblaut. »Er kam also wirklich aus dem Haus? Er hat nicht nur wegen irgend etwas an der Tür nachgefragt?«

 

»Er kam dort heraus. Ich nehme fest an, daß er mit Sir Harry gesprochen hat, denn ich sah diesen an einem der Fenster stehen und ihm nachblicken. Und zwar blickte ihm Sir Harry äußerst interessiert nach.«

 

»Und Weldrake?«

 

»Er sah richtig vergnügt aus.«

 

Das war genug für Trainor. Er suchte sofort Sir Harry Marshley auf.

 

»Ich nehme an, Sie kommen wegen meines armen Freundes Louba«, sagte Sir Harry und bog die Karte des Detektivs zwischen den Fingern. »Eine böse Geschichte, eine sehr böse Geschichte. Ein guter Freund von mir – und ein großer Verlust für mich.«

 

Trainor dachte, Sir Harry hätte sich die letzte Äußerung eigentlich sparen können; er war auf der Hut.

 

»Wir sind momentan einem kleinen Mann auf der Spur, der über Loubas Leben sehr gut Bescheid weiß«, sagte er. »Ich habe erfahren, daß er Sie gestern morgen besucht hat.«

 

»Mich besucht? Was für ein Mann?«

 

»Er heißt Weldrake.«

 

Sir Harry schüttelte den Kopf.

 

»Kenne ich nicht, habe einen Mann dieses Namens nie empfangen«, sagte er. »Ich habe gestern morgen überhaupt keine Besuche gehabt. Bin viel zu niedergeschlagen.«

 

»Niedergeschlagen?«

 

»Diese Miss Martin versucht, meinen Namen mit der Angelegenheit in Verbindung zu bringen. Na, reden wir nicht darüber. Ich muß mich nur ärgern. Nein«, fuhr er fort und wärmte sich die Hände am Kamin. »Sie sind nicht richtig informiert worden. Weshalb sollte er denn hier gewesen sein?«

 

»Gerade das wollte ich von Ihnen wissen, Sir Harry«, entgegnete Trainor.

 

»Tut mir leid, aber ich kenne den Mann gar nicht«, behauptete Marshley. »Selbstverständlich würde ich Ihnen alles sagen, was ich weiß. Wer hat denn gesagt, daß er mich besucht hat?«

 

»Er selbst.«

 

Die List verfing allerdings nicht, denn Marshley wurde nunmehr nur noch vorsichtiger.

 

»Was soll das heißen? Dann ist er ein verdammter Lügner, Inspektor! Wie gesagt – ich kenne den Mann nicht, habe nie mit ihm gesprochen. Was will er nur damit bezwecken? Hat wohl angenommen, daß Sie auch hinter ihm her seien?« setzte er aufgeregt hinzu.

 

»Nun, bis gestern abend waren wir tatsächlich hinter ihm her.«

 

Sir Harry wandte sich seinem Besucher mit der Miene einer beleidigten Fürstlichkeit zu.

 

»Haben Sie eigentlich die Ansicht, ich wüßte etwas über die ganze Angelegenheit? Sind Sie etwa nur dazu hergekommen, um mir eine Falle zu stellen und mich zu einer unklugen Aussage zu veranlassen?« fragte er. »Das würde ich als eine Unverschämtheit betrachten, Inspektor!«

 

Trainor hob die Hand.

 

»Langsam, langsam, Sir Harry«, mahnte er. »Ich komme gerade von Miss Martin, die mir seinerzeit verschiedene Dinge verschwieg – zuerst, um ihren Verlobten zu schützen, danach, um diesen Mr. Weldrake nicht in Schwierigkeiten zu bringen, also nicht etwa, weil sie selbst etwas mit dem Mord zu tun hatte, sondern weil sie ganz sicher zu wissen glaubte, daß die beiden anderen nichts damit zu tun hatten. So wäre es ganz gut möglich, daß auch Sie etwas, was Sie über Weldrake wissen, aus reiner Menschenfreundlichkeit verheimlicht hätten.«

 

»Ah … nun … hm – das hat was für sich«, gab Sir Harry besänftigt zu. »Aber ich weiß trotzdem nichts von diesem Mann. Was sagte er, weshalb er zu mir gekommen sei?«

 

»Er hat Ihren Namen tatsächlich nicht einmal erwähnt, Sir Harry. Er weigerte sich, uns zu sagen, daß er einen Mann namens da Costa besucht hatte, bis er wußte, daß wir diesen da Costa aus seinem Versteck herausgetrieben hatten. Und deshalb, wiederhole ich, war es möglich, daß Sie vielleicht ihm gegenüber dieselbe Rücksicht übten.«

 

»Nichtdestoweniger sehr unangenehme Methoden, die Sie da anwenden«, erwiderte Sir Harry von oben herab. »Sagten Sie gerade, da Costa sei in die Sache verwickelt?«

 

»Ja, kennen Sie ihn?«

 

»Hm – dem Namen nach. Was hatte er denn damit zu tun?«

 

»Das wissen wir nicht«, sagte Trainor und stand auf. »Wir waren so geschickt, ihn heute morgen entkommen zu lassen.«

 

»Das heißt, er befindet sich in Freiheit, wie?«

 

»Bis jetzt noch. Hat Louba jemals von ihm gesprochen? Hat er jemals etwas davon gesagt, daß da Costa so nahe bei ihm wohnt?«

 

»Nicht eine Silbe«, erwiderte Sir Harry. »Denken Sie, daß er der Mörder sein könnte?«

 

Trainor zuckte die Schultern.

 

»Ich denke bald überhaupt nicht mehr«, murmelte er.

 

Er verließ das Haus mit gemischten Gefühlen; einesteils traute er Sir Harry in keiner Weise, andernteils bestand die Möglichkeit, daß sich Beryl in dem Haus geirrt hatte, aus dem sie Weldrake hatte herauskommen sehen. Vor allen Dingen wollte er nur noch hören, was Weldrake zu sagen haben würde.

 

Es war jetzt fünf Uhr nachmittags, und der Nebel lagerte schwerer denn je auf der Stadt. Leute huschten wie Schatten an Trainor vorüber.

 

Ungewiß, welche Richtung er einschlagen sollte, schaute er sich um. Ein Taxi war nirgends zu sehen. Also mußte er zur nächsten Bushaltestelle.

 

In diesem Augenblick ging ein korpulenter, großer Mann an ihm vorbei. Die Umrisse waren im Nebel nur verschwommen zu sehen, aber der massive Rücken fiel ihm sofort auf. Es war ein Mann ohne Mantel.

 

Zweifellos gab es in London noch mehr Menschen, die ohne Mantel herumliefen, aber keinesfalls wollte er eine Unterlassungssünde begehen. Vorsichtig schritt er hinterher.

 

Einige Meter weiter, vor Sir Marshleys Haus, machte der Mann halt. Trainor schmiegte sich an die Mauer und beobachtete ihn, wie er zögernd an Marshleys Haus hinaufschaute und dann weiterschlenderte. Um nicht entdeckt zu werden, durfte ihm der Detektiv nicht folgen, aber er behielt ihn im Auge. Nach einem forschenden Blick; drehte der Mann wieder um und ging auf die Haustür Sir Marshleys zu. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür, und er verschwand im Innern. Dort ging er aber nicht weiter bis zu der eigentlichen Eingangstür von Marshleys Wohnung, sondern fuhr nur schnell mit der Hand nach dem Briefkasten und der Klingel. Dann drehte er sich hastig wieder um und eilte zurück auf die Straße.

 

Trainor hatte mittlerweile den Eingang scharf im Auge behalten und verfolgte den Mann jetzt bis zur nächsten Ecke und dann bis zur Rückseite von Marshleys Haus. Hier zog sich ein kleines verstecktes Sträßchen entlang.

 

Der Inspektor war jetzt sicher, da Costa gefunden zu haben, aber er war entschlossen, diesmal nicht zu voreilig zu sein. In dieser Dunkelheit war es genauso leicht, ungesehen zu bleiben, wie sich da Costa sicher fühlen konnte, nicht beobachtet zu werden.

 

Vor den Hoftoren der Rückfront standen einige große Bäume, und Trainor stellte sich hinter einen. Da Costa marschierte nervös auf und ab.

 

Nach einigen Augenblicken trat eine Gestalt aus einem der Hoftore, blieb davor stehen und schaute sich um. Da Costa kam zögernd näher. Sir Harry kam ihm ein Stück entgegen, und sie begrüßten sich.

 

Trainor konnte sehen, wie sie sich kurze Zeit unterhielten, dann führte Sir Harry seinen Besucher durch das Tor, aus dem er herausgekommen war. Der Inspektor folgte ihnen vorsichtig und hatte gerade noch Zeit zu beobachten, wie die beiden an den erleuchteten Küchenfenstern vorbeigingen und an der einen Seite des Hauses durch das Fenster eines dunklen Zimmers kletterten. Es war dasselbe Fenster – obgleich das Trainor nicht wissen konnte –, durch das Weldrake seinerzeit Beryl und Louba gesehen hatte und später wieder da Costa und Sir Harry bei ihrem ersten Zusammensein.

 

Der Detektiv rannte wieder zum Haupteingang. Er war aufgeregt, er fühlte, daß er endlich einen erheblichen Schritt vorwärtsgekommen war bei der Enträtselung dieses seltsamen Falles.

 

Kapitel 27

 

27

 

Während Trainor noch vor der Haustür stand und sich überlegte, wo er Hilfe herbekommen konnte, ohne selbst seinen Posten zu verlassen, gingen zwei Jungen an ihm vorüber. Er konnte sie im Nebel kaum erkennen.

 

»Hallo!« rief er schnell, und die beiden blieben sofort stehen. Die Bürschchen machten einen ganz aufgeweckten Eindruck.

 

»Ich bin Detektiv … Ihr wißt ja, so einer wie in den Romanen, und ihr könntet mir etwas helfen. Einer von euch muß auf die Rückseite dieses Hauses gehen. Wenn jemand das Haus durch das hintere Hoftor verlassen will, dann muß er mir das sofort melden. Und der andere soll, so schnell er kann, zum nächsten Polizeirevier rennen … Weißt du, wo es ist? – Gut! Ungefähr fünf Minuten von hier. Nimm diesen Zettel mit und gib ihn dort ab.« Er schrieb etwas in sein Notizbuch. »Wenn du unterwegs einen Polizisten triffst, dann schick ihn hierher. Na, wollt ihr das tun?«

 

Die Jungen bejahten mit einer Selbstverständlichkeit, als gehörten die ihnen zugeteilten Aufgaben zu ihrem Tagespensum in der Schule. Ohne viel zu fragen begaben sie sich sofort ans Werk.

 

Trainor atmete erleichtert auf. Er war sehr zufrieden. Hinter einem Straßenbaum wartete er und beobachtete dabei Sir Harrys Wohnung.

 

Nach genau zwölf Minuten kehrte der eine Junge mit zwei Polizisten zurück; alle drei keuchten, denn sie waren im schnellsten Tempo von der Wache hierhergelaufen.

 

*

 

Sir Harry hatte inzwischen mit da Costa verabredet, daß sich dieser in sein Wochenendhäuschen nach Shoreham begeben solle und schaute gerade im Fahrplan nach. Da klingelte es.

 

»Ich gebe Ihnen einen meiner Mäntel und außerdem einen Handkoffer mit ein paar Sachen drin«, sagte er zu da Costa. »Am besten, Sie gehen jetzt in den Hinterhof, und ich werfe Ihnen die Sachen hinunter.«

 

Er hob den Kopf. An der Wohnungstür hörte man Stimmengewirr.

 

»Sie brauchen mich nicht anzumelden, danke sehr«, sagte Trainor und riß die Tür des Zimmers auf. »Ich erkläre Sir Harry persönlich, warum ich gekommen bin.«

 

»Entschuldigen Sie vielmals, Sir«, sagte das Dienstmädchen. »Dieser Herr … Ich konnte ihn nicht aufhalten …«

 

Sie stotterte, war dann still und blickte mit verlegenem Gesicht erst ihren Herrn und dann den Detektiv an.

 

»Ich freue mich ja so unendlich, Sie kennenzulernen, Mr. da Costa«, sagte Trainor und nickte dem Mädchen zu. »Es ist nicht Ihre Schuld«, beruhigte er sie und schloß hinter ihr die Tür.

 

Da Costas sonst so volles, blühendes Gesicht sah plötzlich bleich und gelblich aus; sein Lippen zuckten vor unverhohlener Furcht, als er aufstand und den Detektiv ansah. Er mühte sich ab, irgendein Wort hervorzubringen, war aber anscheinend wie gelähmt. Trotz seiner massiven Figur bot er einen erbärmlichen Anblick.

 

Sir Harrys Kinn war einen Augenblick herabgesunken, aber erstaunlich schnell bekam er sich jetzt wieder in die Gewalt. Trainor konnte ihn nur bewundern.

 

»Ah, Inspektor, Sie kommen ja wie gerufen!« rief er. »Ich wollte Sie gerade holen lassen. Ich glaube, das ist der Herr, den Sie suchen. Er versicherte mir zwar, daß er unschuldig sei, und ich glaube ihm das eigentlich auch – aber da ich wußte, daß Sie hinter ihm her sind, wäre mir natürlich keine andere Wahl geblieben, als Ihnen mitzuteilen, daß er hier ist.«

 

»Aber natürlich!« spottete Trainor, ohne sich die geringste Mühe zu geben, seine Verachtung zu verbergen. Als er da Costa anschaute, hätte er ihn fast bedauert. »Trotzdem weiß ich nicht recht«, setzte er boshaft hinzu, »ob ich Sie nicht ebenfalls bitten muß, mit uns zur Wache zu gehen.«

 

»Was … ich?« Sir Harry schnappte nach Luft. »Ich versichere Ihnen, ich hatte keine Ahnung –«

 

»Was meinen Sie dazu, Mr. da Costa?« unterbrach ihn Trainor.

 

Da Costas Antwort war ein Satz nach dem Fenster.

 

»Da unten sind zwei meiner Leute«, rief Trainor und riß ihn zurück. »Gar keinen Zweck, da Costa, sie stehen vor dem Haus und hinter dem Haus.«

 

Stöhnend sank da Costa in einen Stuhl und rang die Hände.

 

»Ich schwöre, ich hatte nichts damit zu tun! Ich weiß nichts von der ganzen Sache – wirklich nicht!« jammerte er.

 

»Nun, ich bin wirklich sehr neugierig, was Sie mir zu sagen haben, Mr. da Costa«, meinte Trainor. »Würden Sie bitte mitkommen?« Er sah Sir Harry an. »Ich fürchte wirklich, ich muß auch Sie bitten, uns zu begleiten, Sir Harry. Sie werden zugeben, daß die eine oder andere Sache der Aufklärung bedarf.«

 

»Aber bester Inspektor, ich sagte Ihnen doch, ich wußte von nichts, bis er eben hierherkam! Er hat sich nicht einmal anmelden lassen. Bis er in dieses Zimmer kam, wußte ich nicht …«

 

»Ich sah, wie er einen Zettel in Ihren Briefkasten steckte und hinter dem Haus wartete«, schnitt Trainor kurz seinen Redeschwall ab. »Ich sah ferner, wie Sie ihn durch das Fenster hereinlotsten.« Er deutete auf den aufgeschlagenen Fahrplan. »Außerdem schauten Sie ja gerade nach einem Zug für ihn.«

 

»Oh, der Teufel hole meine verdammte Gutmütigkeit!« ächzte Sir Harry. Er sah aus, als hätte er sich am liebsten die Haare ausgerauft, wenn er noch welche gehabt hätte. »Setzen Sie sich doch einen kleinen Moment, Inspektor, und lassen Sie sich alles in Ruhe erklären. Sie werden sehen, ich weiß wirklich von nichts – Sie können mich nicht mit zur Wache schleppen!«

 

»Auch gut, wollen mal sehen«, sagte Trainor und ließ sich in einen Sessel fallen. »Was haben Sie also zu sagen?«

 

»Ich hatte von Mr. da Costa nie etwas gehört, bis er kam und mir seine finanzielle Hilfe anbot – anstelle von Mr. Louba. Ich war natürlich empört über dieses Angebot eines völlig Fremden und warf ihn hinaus. Dann kam dieser Mr. Weldrake und fragte mich, ob ich nicht Mr. da Costa bei mir unterbringen könne, falls er ein Versteck brauche. Ich sagte, unter keinen Umständen – das heißt, unter keinen Umständen, falls er mich nicht völlig von seiner Unschuld überzeugen könne. Nun kam Mr. da Costa heute abend zu mir und hat mir alles so erklärt, daß ich ihn für ganz unschuldig halte. Selbstverständlich wollte ich Sie trotzdem informieren, aber …«

 

»Das wissen wir schon«, knurrte Trainor. »Wann bot er Ihnen denn seine finanzielle Hilfe an?«

 

»Genau zu der Zeit, als Louba ermordet wurde«, rief da Costa dazwischen.

 

»Kennen Sie denn die Zeit? Wir kennen sie nicht.«

 

»Nun, eben an dem ganzen betreffenden Abend. Ich war nicht in Braymore House von sechs Uhr an bis sehr spät in der Nacht.«

 

»Waren Sie etwa die ganze Zeit über hier?«

 

»Nein, dann hätte ich mich ja nicht zu verstecken brauchen. Ich hatte doch nur deshalb Angst, weil ich den ganzen Abend allein war, mit Ausnahme der Unterredung mit Sir Harry.« »Warum denn Angst?«

 

»Weil ich so getan hatte, als ob ich aus London abgereist sei; weil ich außerdem früher mit Louba einen Streit gehabt hatte; und drittens, weil ich eine Wohnung über der seinigen bewohne. Sie sehen ja selbst, daß ich mit meiner Befürchtung recht hatte: Sie verdächtigen mich!«

 

»Warum taten Sie, als seien Sie abgereist?«

 

»Nun, ich übernahm einen großen Teil der Loubaschen Geschäftsinteressen – einen größeren Teil, als er selbst wußte. Deshalb kam ich auch hierher zu Sir Harry und bot ihm Geld an, denn ich wußte, daß Louba es nicht mehr lange machen konnte.«

 

»Warum nicht?«

 

»Weil er nahezu pleite war und Vorbereitungen traf, ins Ausland zu gehen.«

 

»Hätte Louba nicht alles, was er besaß, an Sie abstoßen können?«

 

»Ja, zu seinem Preis – einem sehr hohen Preis. Er hat mich von jeher übervorteilt.«

 

»Und deshalb haßten Sie ihn wohl auch?«

 

»Ich haßte ihn nie so sehr, daß ich ihn hätte ermorden können.«

 

»Haben Sie ihm jemals gedroht?«

 

Da Costa schaute den Inspektor verwirrt an. Alle seine früheren Prahlereien fielen ihm wieder ein.

 

»Ich drohte ihm nicht mehr, als er mir«, meinte er endlich. »Und meine Drohungen bedeuteten viel weniger. Wenn ich ihm jemals drohte, dann nur in gewissen zornigen Augenblicken. Ich bin kein gewalttätiger Mensch. Wenn ich ihn je hätte umbringen wollen, dann bestimmt nicht hier in England. Vor Jahren, in einem ganz anderen Land, hätte ich viel bessere Gelegenheit dazu gehabt.«

 

»Sind Sie der Mann, auf den Weldrake so große Hoffnungen setzte?«

 

Da Costa fuhr hoch.

 

»Der Mensch hat mich doch nicht angeschwärzt, wie?« fragte er aufgeregt. »Wissen Sie, vor Jahren war er die Ursache, daß ein Lokal Loubas in Flammen aufging. Wenn ich zu der Zeit Drohungen ausstieß, die er sich gemerkt hat, dann tat ich das nur seinetwegen. Er muß meinen Worten viel zuviel Bedeutung beigelegt haben! Andere verwünschten damals Louba ebenfalls – wie zum Beispiel der Captain Hurley Brown.«

 

»Hurley Brown!«

 

Trainors Lippen preßten sich fest zusammen.

 

»Sagen Sie mir nun ganz genau, wie Ihre Beziehungen zu Weldrake waren.«

 

»Ich hatte eigentlich schon vollkommen vergessen, daß ich je mit ihm zusammengekommen war, bis er mir Mitteilungen durch den Briefkasten warf und danach auch Lebensmittel. Und ich brauchte dringend etwas zu essen. Dann teilte er mir mit, daß mir eventuell Sir Harry helfen würde, falls ich nicht flüchten könnte. Deshalb kam ich auch hierher, nachdem Sie mich heute morgen aus meiner Wohnung vertrieben hatten.«

 

»Wo waren Sie in der Mordnacht?«

 

»Ich ging spazieren. Da ich angeblich verreist war, konnte ich mich nur abends herauswagen, um Essen für den nächsten Tag einzukaufen und frische Luft zu schnappen.«

 

»Wo haben Sie das Perlenkästchen her, das Sie Weldrake gaben?«

 

Da Costa fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn.

 

»Das habe ich von Louba gekauft«, sagte er. »Aber ich kann das nicht beweisen, und deshalb wollte ich nicht, daß man das Kästchen bei mir finden würde.«

 

Trainor ließ einige Sekunden verstreichen.

 

»Sie machen die Sache nur noch schlimmer, wenn Sie nicht die volle Wahrheit sagen«, redete er ihm dann gut zu. »Noch vor fünf Minuten haben Sie gesagt, daß Sie zur Täuschung Loubas vorgegeben hätten, daß Sie abgereist seien. Jetzt wollen Sie mir aufbinden, daß Sie etwas von ihm gekauft haben.«

 

»Das war doch … das war doch, bevor ich vorgab, abgereist zu sein.«

 

»Weldrake haben Sie aber gesagt, es sei am Mordtag gewesen.«

 

»Ausgeschlossen! Niemals! Es war ein paar Wochen vorher.«

 

Trainor stand auf.

 

»Es hat gar keinen Zweck, darauf zu warten, daß sich Ihre lebhafte Phantasie etwas beruhigt«, erklärte er. »Ich glaube, es ist besser, wir gehen.«

 

»Nein, Inspektor! So hören Sie doch! Ich will Ihnen alles sagen – alles!« schrie da Costa.

 

Da er sich einzubilden schien, daß ein Geständnis ihn vor der Verhaftung bewahren könnte, ließ ihn Trainor bei dem Glauben.

 

»Nun, wie Sie meinen…«, erwiderte er und setzte sich von neuem. »Aber merken Sie sich – nichts als die reine Wahrheit kann Sie retten, glauben Sie mir das.«

 

»Oh, dieser verdammte Mörder – wer er auch gewesen ist!« schrie da Costa wie von Sinnen und verkrampfte seine plumpen Hände ineinander. »Mich so ins Unglück hineinzureiten! Diese schrecklichen Tage und noch viel schrecklicheren Nächte. Ich hoffe, ich sehe den Kerl noch am Galgen baumeln!«

 

Dieser Ausbruch war so echt, daß ihm Trainor fast glaubte.

 

»Hatten Sie eine bestimmte Absicht, als Sie die Wohnung über der von Louba mieteten?« fragte er weiter.

 

»Ja, ich wollte das Kästchen haben.«

 

»Stehlen?«

 

»Nun, ich wußte ja, daß er es nicht verkaufen würde, falls er merkte, daß ich dahinter her war. Er hätte sofort erraten, daß es mehr wert ist, als es den Anschein hat. Deshalb beabsichtigte ich in der Tat, ihm das Kästchen einfach wegzunehmen. Es gehörte ja gar nicht ihm! Er selbst stahl es einem anderen. Zu guter Letzt schenkte er mir das Kästchen schließlich … Jawohl, das tat er! Hier ist ein Zettel, den ich in dem Kasten fand.«

 

Er zog aus einer seiner Taschen die spöttischen Zeilen, die Louba nach seinem letzten Zusammentreffen mit da Costa geschrieben und in das Geheimfach im Boden des Kästchens gelegt hatte.

 

»Erzählen Sie von vorne«, sagte Trainor schroff.

 

»Gut – ich gebe zu, daß ich in seine Wohnung einstieg, wenn sich die Möglichkeit dazu bot. Er selbst duldete nicht, daß die Fenster geöffnet waren, wenn er zu Hause war; deshalb pflegte sein Diener das Zimmer nur zu lüften, wenn sich Louba in der Stadt aufhielt. Das war dann für mich die Gelegenheit, in die Wohnung einzudringen und zu suchen. Einmal entdeckte mich Louba außerhalb des Fensters auf der Feuerleiter und warf mir vor, ich hätte bei ihm einbrechen wollen. Das war aber, bevor ich vorgab, verreist zu sein. Ich konnte mich jedesmal nur ganz kurze Zeit in der Wohnung aufhalten und durfte auch kein Durcheinander machen, denn obgleich ich wußte, daß Louba mich nie der Polizei anzeigen würde, wollte ich doch vermeiden, daß er auf seiner Hut war. Was hatte ich nicht schon alles durchsucht, bis ich endlich an die Truhe dachte und herausbekam, wie man sie öffnet. An dem Tage, an dem mir dies gelungen war, wäre ich fast entdeckt worden. Miller kam nämlich herein und schloß das Fenster. Ich wußte, daß Louba bald zurückkommen würde, und wollte schleunigst durch das Fenster flüchten. Da hörte ich aber Louba schon auf dem Vorplatz und versteckte mich schnell hinter den Gardinen. Er bemerkte mich dort und wurde wütend… Ich forderte ihn daraufhin auf, doch die Polizei zu rufen, wenn er es wage. Ich erklärte ihm auch, daß ich etwas suchen und daß ich das Gesuchte auch bekommen würde.«

 

Er fing einen Blick von Trainor auf.

 

»Nicht einen Augenblick dachte ich an Gewalt!« rief er. »Aber nachdem ich den Kasten gefunden hatte, wußte ich ganz genau, daß es mir ein leichtes sein würde, ihn aus dem Zimmer herauszuholen.«

 

»Glaubten Sie im Ernst, daß Louba nach diesem Vorfall keine Vorsichtsmaßregeln anwenden würde?«

 

»Je nun, er tat es eben nicht«, murmelte da Costa. Seine Augen irrten unruhig umher. Dann faßte er sich wieder ein Herz. »Unerwarteterweise machte er mir das Kästchen schließlich zum Geschenk. Er hatte höchstwahrscheinlich erraten, daß ich dahinter her war, und deshalb schrieb er diesen Zettel und legte ihn unter den falschen Boden. Wahrscheinlich vermutete er, daß ich darunter etwas Wertvolles zu finden hoffte.«

 

»Wie lange hatte Louba den Kasten schon?«

 

»Seit Jahren. Der Mann, der ihn stahl, wurde verfolgt und gab ihn Louba zum Aufheben. Kurz darauf wurde er ermordet, und Louba behielt den Kasten.«

 

»Und Sie behaupten nun, Sie hätten sich all diese Mühe nur im Hinblick auf die Möglichkeit gemacht, daß Louba den doppelten Boden nicht entdeckt hatte?«

 

Widerstrebend gab da Costa sein Geheimnis preis.

 

»Der falsche Boden ist nur ein Kniff«, sagte er. »Eventuelle Diebe sollen dadurch irregeführt werden, weil jeder, der den doppelten Boden entdeckt, glaubt, er sei zu spät gekommen, und der darin verborgene Schatz sei schon herausgenommen. In Wirklichkeit ist das Kästchen aus purem, schwerem Gold, besetzt mit Edelsteinen von unerhörtem Wert – die Glasperlen und Ornamente verdecken das feste Leder, mit dem das Gold bezogen ist –, und zwar innen und außen. Die rauhe Oberfläche ermöglicht es, das darunterliegende Gold und die echten Steine zu kaschieren.«

 

Während er dies sagte, sank er immer mehr in sich zusammen.

 

»So viele Leute waren dahinter her!« lamentierte er. »Und das muß ich jetzt für den Erfolg bezahlen!«

 

Sir Harrys Augen traten fast aus den Höhlen. Trainor dagegen schaute immer nachdenklicher.

 

»Sie wissen, daß ich den Kasten habe?« fragte er.

 

»Das ist anzunehmen, wenn Sie Mr. Weldrake haben«, kam die mürrische Antwort.

 

»Und wann, sagen Sie, haben Sie den Kasten endlich bekommen?«

 

»Am Tage, nachdem ich festgestellt hatte, wie die Truhe zu öffnen ist – also an demselben Tag, an dem Louba ermordet wurde. Es kann nicht lange vor Loubas Heimkehr gewesen sein, als ich in dem Zimmer war, denn Miller schloß das Fenster sofort, nachdem ich den Raum verlassen hatte. Ich hatte es höchst eilig hinauszukommen. Den Deckel der Truhe ließ ich einfach fallen und nahm mir nicht einmal mehr Zeit, den Überzug wieder daraufzulegen. In meiner Wohnung lehnte ich mich aus dem Fenster hinaus um zu lauschen, da ich ja ein paar Sachen nicht in die Truhe zurückgelegt hatte und nun gerne gewußt hätte, ob Miller argwöhnte, daß jemand im Zimmer gewesen war. Auf diese Weise hörte ich ihn das Fenster schließen, was soviel bedeutete, als daß er Louba erwartete.«

 

»Und danach?«

 

»Ging ich fort. Ich kam zurück, als Sie jemanden die Feuerleiter hinab verfolgten. Ich hörte Sie sprechen und erfuhr dadurch, was vorgefallen war. Dabei wurde mir auch sofort klar, wie verdächtig es aussehen mußte, daß ich mich in meiner Wohnung versteckt gehalten hatte. Jetzt weiß ich, daß ich alles hätte erklären müssen. Ich besaß ja den Zettel Loubas als Beweis dafür, daß er mir das Kästchen gern überließ. Nur … ich … ich …«

 

Seine Aufregung war ihm deutlich anzusehen. Im Grunde genommen war er ein ausgesprochener Prahlhans – von Tapferkeit keine Spur.

 

»Wie konnten Sie immer ausgehen, da doch alles annahm, daß Sie in Südfrankreich seien?«

 

»Es war ganz einfach, nachts die Lieferantentreppe hinunterzuschleichen … bis dann der Mord geschah. Von da ab durfte ich es nicht mehr wagen.«

 

Sir Harry benutzte die Pause, die folgte, um zu sagen: »Sehen Sie! Man kann doch gar keinen Zweifel in da Costas Unschuld setzen. Ist es da verwunderlich, daß ich ihm geglaubt habe?«

 

Er hütete sich allerdings hinzuzusetzen, daß da Costa ihn keineswegs so weit ins Vertrauen gezogen hatte.

 

»Wenigstens brauche ich Sie jetzt nicht mehr aufzufordern, uns zu begleiten, Sir Harry«, sagte Trainor und stand auf. »Obgleich wir uns fraglos wegen der genauen Zeit, zu der Sie da Costa an dem bewußten Abend besucht hat, an Sie wenden müssen.«

 

»Aber selbstverständlich – ich stehe Ihnen völlig zur Verfügung«, entgegnete er mit einem bedauernden Seitenblick auf da Costa.

 

Hätte er nur die genaue Zeit gewußt, zu der Louba ermordet wurde! Dann wäre es ihm ein leichtes gewesen, den Besitzer so wertvoller Gegenstände, wie dieses Perlenkästchens, freizubekommen und ihn sich für alle Zeiten zu verpflichten.

 

»Und ich … muß ich wirklich mit Ihnen gehen?« fragte da Costa flehend.

 

»Ich fürchte – ja«, erwiderte Trainor. »Aber wenn Sie die Wahrheit gesagt haben, dann können Sie der weiteren Untersuchung mit Ruhe entgegensehen.«

 

»Ich werde Ihnen einen Mantel leihen«, ließ sich Sir Harry aus dem Hintergrund vernehmen.

 

Aus Trainors Verhalten dem Gefangenen gegenüber schloß er, daß er dies Anerbieten machen konnte, ohne sich etwas zu vergeben. Im großen ganzen hatte er sich sehr gut aus der Schlinge gezogen – besser, als er erwartet hatte.

 

Tatsächlich war Trainor beinahe überzeugt von der Wahrheit, oder wenigstens von der teilweisen Wahrheit der Geschichte, die da Costa erzählt hatte. Die ausgesprochene Feigheit dieses Mannes machte sie mehr als wahrscheinlich. Aber Loubas Tod war damit immer noch nicht aufgeklärt!

 

Als der Detektiv schließlich sein Büro in Scotland Yard erreicht hatte und eben begann, sich die Aussagen da Costas noch einmal zu überlegen, läutete das Telefon. Er nahm den Hörer ab. »Ist dort der Beamte, der die Mordsache Louba bearbeitet?«

 

»Jawohl«, sagte Trainor rasch.

 

»Hier Inspektor Welsh vom R-Bezirk. Wir haben soeben Charles Berry gefunden, den Mann, den Sie wegen des Mordes an Louba suchen.«

 

»Gefunden – wo?«

 

»Auf einem kleinen Pfad am Flußufer in Deptford; er ist tot – erschossen. Wahrscheinlich liegt Selbstmord vor, denn wir fanden …«

 

»Nun?« fragte Trainor, als der andere eine Pause machte.

 

»Wir fanden in seiner Tasche ein ausführliches Geständnis – es steht darin, daß er der Mann ist, der Emil Louba ermordet hat.«

 

Kapitel 28

 

28

 

Von Freitag nacht bis Dienstag früh lag der Nebel wie eine graue, dichte Decke über London. In der Nähe von Deptford war er vielleicht noch etwas dichter, denn der Fluß ist nicht weit entfernt von dem Ort. Es war ein Wetter, wie es sich Mr. Charles Berry nur wünschen konnte. Er brauchte dabei wenigstens keine Angst zu haben, entdeckt zu werden, wenn er etwas spazierenging.

 

Für seine Frau, die er die ganze Zeit mit seinen Befürchtungen und seinen Beschuldigungen gequält hatte, war dieser Aufenthalt in Deptford bis jetzt eine noch größere Anstrengung gewesen als die vorhergehenden Jahre. Als ihr Mann den Wirt jetzt davon überzeugt hatte, daß es bei diesem Wetter für ihn gefahrlos wäre auszugehen, atmete sie erleichtert auf. Wenigstens ein paar Stunden Ruhe.

 

Auch Charles Berry wollte allein sein. Er wollte sie nicht mehr sehen. Er haßte sie – hatte sie immer gehaßt, mit ihrem verschlossenen Wesen und der überlegenen Haltung, die sie ihm gegenüber stets einnahm.

 

Einmal, vor langer Zeit, als er sie noch sehr gern gehabt hatte, war er von ihr so verächtlich behandelt worden, daß die Erinnerung daran heute seinen Haß immer von neuem anspornte. Und ausgerechnet jetzt war sie an ihn gekettet, wo Unabhängigkeit für ihn doch so dringend notwendig war. Er verfluchte sie und sein Geschick, als er so im Nebel umherstolperte.

 

Captain Brown würde ihn festnehmen lassen – er sah den Richter vor sich, die Geschworenenbank … Er faßte sich entsetzt an den Kopf, wenn er daran dachte. Und das alles nur, weil er diese Frau geheiratet hatte …

 

Zwei Männer und ein kleiner Junge, die vor ihm liefen, bogen vom Weg ab. Gedankenlos folgte er ihnen. Sehen konnte er nichts – der Nebel lag so schwer und drückend … Er meinte fast zu ersticken und blind zu sein. Der Weg senkte sich jetzt steil, und er fragte einer Mann, der ihn überholte, wohin er ginge.

 

»Zum Fluß … zum Fluß hinunter«, war die hastige Antwort.

 

»Was ist denn los dort unten?»

 

»Eine Frau ist ins Wasser gesprungen … man fand einen Brief am Ufer«, erwiderte der Mann. »Die Polizei läßt den Fluß nach ihr absuchen.«

 

Berry zitterte und wäre beinahe umgekehrt. Aber irgend etwas zog ihn hin, und bald mischte er sich unter eine kleine Gruppe von Menschen, die um zwei Polizisten herumstanden. Einige Arbeiter stocherten mit langen Stangen in dem dunklen Wasser des in den Fluß mündenden Kanals.

 

Das unheimliche Schauspiel fesselte ihn, und er blieb stehen.

 

Wenn doch seine Frau Selbstmord verübt hätte! Aber sie würde den Mut dazu nie aufbringen. Aber wenn sie doch … Und wenn sie dann auch einen Brief am Ufer zurückließ, einen Brief, der ihn vor jeder Anklage schützte, die man gegen ihn erheben konnte …

 

Sein Atem ging immer schneller, je mehr diese Idee Form annahm. Aber wie konnte er sie überreden, den Brief zu schreiben – das war die Schwierigkeit.

 

Die Polizisten zogen etwas Schlaffes, Schweres auf die Uferbank, als er mit unsicheren Schritten zu ihrer Unterkunft zurückhastete.

 

Sie hatte seine Tritte schon auf der Treppe gehört und seufzte beklommen, als er zur Tür hereinkam. Zu ihrer Überraschung lächelte er sie geradezu verschmitzt an, und sein Benehmen war alles andere als unangenehm.

 

»Kate«, sagte er. »Ich schlenderte ein wenig durch den Ort und habe nachgedacht. Falls Hurley Brown mich festnehmen kann, wird er sämtliche Beweise, die er beibringen muß, fälschen – nur um mich hängen zu sehen! Ob ich den Mord begangen habe oder nicht, macht ihm gar nichts aus. Er wird mir eins auswischen wollen – und ich muß dafür baumeln. Und dann kommt alles heraus – merk dir das –, auch über dich.«

 

Er sprach so leichtfertig von ›baumeln‹, daß sie, die ihn doch ganz genau kannte, sofort wußte, daß er keinen Augenblick auch nur die Möglichkeit eines solchen Endes in ernsthafte Erwägung ziehen konnte.

 

»Als ich gerade über die Kanalbrücke ging, suchte die Polizei nach der Leiche einer Frau«, fuhr er fort. »Sie fiel gestern abend hinein und ertrank.«

 

Kate schauderte zusammen.

 

»Eine glückliche Frau!« murmelte sie, und es fiel ihm nicht leicht, seine angenommene Freundlichkeit beizubehalten.

 

»Wahrscheinlich ist sie glücklich«, sagte er so sanft wie möglich. »Aber ich habe da eine Idee. Angenommen, man findet diese Frau, sucht das Ufer ab und entdeckt dort ein schriftliches Geständnis, daß sie Louba ermordet hat? Kein schlechter Gedanke, was?«

 

»Man hätte sehr bald herausgefunden, daß sie den Mord gar nicht begangen haben kann.

 

»Oh, da irrst du dich aber ganz gewaltig«, entgegnete Berry schroff. »Ich habe mich über das Mädchen erkundigt. Stell dir vor – sie war in Braymore House beschäftigt. Was hältst du von einem solchen Zufall, Kate?«

 

Sie sah ihn ungläubig an.

 

»Das ist doch kaum möglich«, meinte sie dann. »Wie konntest du denn in so kurzer Zeit Erkundigungen einziehen?«

 

Er schaute sie bösartig an.

 

»Stelle nur weiter solche Fragen – ich werde dir dann schon die richtige Antwort geben«, fuhr es ihm heraus. Aber dann hielt er sich wieder zurück. »Ich habe herausgekriegt, daß sie dort beschäftigt war – das muß dir genügen«, brummte er. »Das Ganze ist ein vom Himmel gesandter Glücksfall, mit dem Geständnis kann mich niemand mehr verurteilen – und auch der wird frei, den sie am Sonntag geschnappt haben.«

 

»Ist wieder jemand verhaftet worden?«

 

»Was geht’s dich an, wen sie verhaftet haben? Sag mir lieber, was du von meiner Idee hältst!«

 

»Sie mag ganz gut sein«, sagte die Frau ausweichend.

 

»Ich habe die Absicht, zum Fluß hinunterzugehen, jemandem den Brief zu geben und zu sagen, ich hätte ihn gefunden, und man solle ihn der Polizei bringen. Im Nebel würde mich niemand erkennen.«

 

Er ließ sie allein, damit sie sich den Vorschlag überlegen konnte, und ging zu ihrem Wirt hinunter.

 

»Willst du schon wieder ausgehen?« fragte ihn der Mann erschrocken. »Auf diese Weise erwischen sie dich doch noch, Charlie. Wenn du allein wärst, hättest du vielleicht eine Chance, aber mit deiner Frau ist es so gut wie sicher.«

 

»Genau dasselbe habe ich auch gedacht«, erklärte Berry. Er sprach ein wenig stockend. So kurz vor der Ausführung seines Planes, der ihm in seiner nackten, schauerlichen Brutalität erst jetzt recht zum Bewußtsein kam, war ihm doch etwas beklommen zumute. Nach Freds Warnung aber riß er sich doch wieder zusammen. »Sie ist eine Gefahr für mich, ja … Ich schicke sie fort, zu Freunden aufs Land.«

 

»Wohin denn? Ich dachte, du hättest keine Freunde?« antwortete der andere mißtrauisch.

 

»Dafür hat sie selbst eine ganze Menge – noch dazu ziemlich vornehme Leute. Ich habe schon mit ihr darüber gesprochen, und sie ist selbst der Ansicht, daß sie fortgehen muß.«

 

»Und wann geht sie?«

 

Charles Berry fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

 

»Noch heute nacht«, sagte er tonlos, drehte sich kurz um und stieg die Treppe hinauf.

 

Vor der Tür ihres Zimmers blieb er eine Weile unentschlossen stehen und versuchte krampfhaft, sich für die Aufgabe, die ihm bevorstand, vorzubereiten.

 

»Ich war eben unten bei Fred und habe mit ihm gesprochen«, sagte Berry, nachdem er eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Er hält den Plan für gut, Kate.«

 

Langsam ging er hinüber zum Kaminsims, nahm von dort einen Block billigen Schreibpapiers, ein Tintenfaß und eine Feder und setzte sich an den Tisch. Kurze Zeit kaute er an dem Federhalter herum und überlegte, dann begann er zu schreiben. Sie beobachtete neugierig, wie er, mit vielen Pausen, das Blatt mit seiner eckigen Handschrift bedeckte.

 

»So, das wird’s tun«, sagte er und hielt den Briefbogen in die Höhe. »Hör mal zu.« Etwas unsicher las er vor:

 

 

»Ich gestehe, daß einzig und allein ich für den Tod Emil Loubas verantwortlich bin. Seit Jahren habe ich Geld von ihm erhalten, aber vor einem Monat weigerte er sich, mich noch weiter auszuhalten. Am Samstagabend ging ich nach Braymore House und gelangte durch den Lieferanteneingang in die Wohnung, für die ich einen Schlüssel hatte. Dort geriet ich mit Louba in Streit, schlug ihn mit einem silbernen Leuchter nieder und flüchtete dann über die Feuerleiter. Hiermit erkläre ich, daß außer mir niemand für den Mord verantwortlich zu machen ist. Jetzt bin ich am Ende. Möge Gott mir gnädig sein.«

 

 

»Der letzte Absatz klingt besonders gut, nicht wahr, Kate?« Er sah sie von der Seite her scharf an. Sie saß mit geschlossenen Augen da.

 

»Armer Kerl«, murmelte sie dann leise.

 

»Was heißt hier armer Kerl!« höhnte er. »Bin ich nicht auch ein armer Kerl? Los, Kate – schreib dies hier nach.«

 

»Ich?« fragte sie und starrte ihn an.

 

»Selbstverständlich – du. Es ist doch eine Frau, oder vielleicht nicht? Und deshalb muß auch die Schrift eine Frauenhandschrift sein.«

 

»Ich mag nicht«, entgegnete sie. »Deine schmutzige Arbeit habe ich dich immer allein machen lassen.«

 

»Du wirst das abschreiben, Kate – oder du wirst es bedauern, daß du es nicht getan hast! Ich weiß genau, an wen du jetzt denkst. Du denkst wieder mal an deinen Polizisten, das ist alles.«

 

Sie gab ihm gar keine Antwort, sondern streckte nur müde die Hand aus. Wort für Wort schrieb sie das Geständnis ab. Er wartete, bis sie fertig war. Das von ihm selbst geschriebene Original faltete er zusammen und steckte es in die Tasche, um es sobald wie möglich loszuwerden.

 

»Paß auf«, sagte er dann. »Nach ›Möge Gott mir gnädig sein‹ mußt du noch anfügen: ›Mein Mann weiß von allem nichts.‹«

 

»Ist die Frau denn verheiratet?« fragte sie.

 

»Jede anständige Frau ist verheiratet«, entgegnete Berry. »Deshalb bist du ja auch eine anständige Frau!« Er kicherte über diesen Witz. »Und jetzt los! Wart mal – schreib so: ›Mein Mann ist an allem unschuldig, und ich bitte ihn um Verzeihung für die schreckliche Tat, die ich jetzt begehen werde.‹«

 

Sie schrieb es, und er nahm ihr den Bogen aus der Hand.

 

»Gut so.« Seine Stimme zitterte, während er ihr auf die Schulter klopfte. »Verlaß dich nur immer auf den alten Charlie, der hilft schon weiter. Na, bevor eine Woche vergangen ist, haben wir England verlassen – für drei Pfennig Glück werden wir doch noch haben.«

 

Mit einem Kopfnicken ging er zur Tür hinaus. Bis zum Abend sah sie ihn nicht mehr. Als sie um sechs Uhr eine Tasse Tee trank, kam er zurück.

 

»Dichter Nebel draußen«, sagte er zur Begrüßung. »Aber das kann uns ja für einen kleinen Spaziergang gerade recht sein. Du solltest nicht immer herumhocken, Kate. Komm, wir machen einen kleinen Bummel.«

 

Mühselig stand sie auf, nahm ihren Mantel von einem Nagel an der Wand und zog ihn an.

 

Berry hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, das Gelände in der Nachbarschaft zu inspizieren. Je weiter die Zeit fortgeschritten war, desto ängstlicher war er geworden. Jetzt hatte er allmählich den letzten Grad von Kopflosigkeit erreicht, in dem ihm jede Methode, und war sie auch noch so schrecklich, gerechtfertigt erschien – wenn er nur damit seine eigene Sicherheit erkaufen konnte.

 

Er ging zu dem Wirt hinunter.

 

»Ich begleite meine Frau jetzt zum Bahnhof«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Du sagst ihr am besten nicht adieu, denn ich habe ihr versprochen, sie hierher zurückzubringen.«

 

»Sie scheint die Gegend recht gern zu haben, was?« spottete der Mann in der alten Strickjacke. »Sag mal, was hast du eigentlich mit ihr vor, Charlie? Du willst doch nicht etwa der Frau etwas tun? Wenn ich so etwas ahnte, würde ich dir gleich hier den Hals umdrehen.«

 

»Ihr etwas tun?« entgegnete der andere entrüstet. »Meiner eigenen Frau? Für wen hältst du mich eigentlich?«

 

Der Wirt schaute ihn unschlüssig an. Irgendwie spürte er die Gefahr, in der die Frau schwebte.

 

»Na schön«, sagte er schließlich. »Wenn du es nicht willst, werde ich mich nicht von ihr verabschieden. Aber wenn was passiert …«

 

»Mach doch keine Geschichten, Fred«, sagte nun Berry eindringlich. »Tatsächlich ist meine Frau in einer ganz scheußlichen Klemme. Sie sind nämlich gar nicht hinter mir her – sondern hinter ihr! Deshalb möchte ich ja auch, daß sie fortgeht.«

 

Betroffen schaute ihn der andere an.

 

»Soll das etwa heißen, daß deine Frau diesen alten Gauner Louba ermordet hat?« fragte er ihn erschrocken.

 

»Du wirst es bald genug erfahren«, erwiderte Berry düster.

 

Fred stand noch immer bewegungslos im Zimmer, als kurze Zeit darauf die beiden an seiner Tür vorbeigingen. Gleich danach fiel die Haustür ins Schloß. Er setzte sich und dachte nach. Als er ein wenig später das obere Zimmer untersuchte, zeigte sich, daß der Koffer nicht gepackt war und daß auch sonst keine Spur davon zu bemerken war, daß die Frau eine längere Reise angetreten hatte. Er faßte einen Entschluß und lief in den Nebel hinaus zur Telefonzelle.

 

Dort schaute er ohne zu zögern im Telefonbuch nach und wählte dann die Nummer der Polizeiwache in Greenwich.

 

Kapitel 29

 

29

 

Kate stolperte und wäre beinahe hingefallen.

 

»Ich will nicht mehr weiter«, sagte sie. »Dieser Nebel ist ja entsetzlich. Wir wollen umdrehen, Charles.«

 

»Vorwärts!« zischte ihr Begleiter. »Tu doch nicht so – auf der andern Seite der Brücke ist es ganz hell.«

 

Sie ging wieder neben ihm her, und so schritten sie langsam in die Nacht hinaus.

 

»Hier ist ein Randstein«, sagte er. »Anscheinend überqueren wir die Straße. Steck das in deine Tasche.«

 

»Was ist das?« fragte sie und nahm das Papier in die Hand.

 

»Das Geständnis«, erwiderte er. »Es ist gut, wenn wir es gleich loswerden, da wir nun doch schon einmal unterwegs sind.«

 

Die Frau blieb stehen.

 

»Ich gehe jetzt keinen Schritt weiter«, erklärte sie mit einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Entschlossenheit. »Merkst du denn nicht, daß wir verfolgt werden? Jemand geht dauernd hinter uns her, warte wenigstens, bis er vorbei ist.«

 

Sie blieben stehen. Berry strengte Augen und Ohren an, konnte aber nichts feststellen.

 

»Du lügst ja«, sagte er. »Wenn du nicht gerne mit mir allein bist, dann beeile dich eben. In fünf Minuten sind wir in der High Street in Greenwich.«

 

»Ich habe ganz bestimmt Schritte gehört«, sagte sie. Und dann, als sie ein kurzes Stück weitergegangen waren: »Hör doch – jemand folgt uns!«

 

Die Nerven des Mannes waren bis zum Äußersten gespannt.

 

»Verdammt, komm schon weiter!« zischte er völlig außer sich. »Und wenn schon jemand hinter uns geht … Haben denn wir allein das Recht, im Nebel herumzulaufen?«

 

»Laß uns doch umdrehen«, flehte sie. Er lachte nur.

 

»Weißt du vielleicht allein den Weg zurück?« fragte er höhnisch. »Sei nicht so kindisch, Kate. Wir sind schon beinahe an der Brücke.«

 

Er nahm sie am Arm und führte sie weiter. Sie spürte, daß sie jetzt nicht mehr auf dem Asphalt der Straße gingen, sondern auf einem schmutzigen Pfad. Einmal trat sie in eine Pfütze und schrie erschrocken auf, als das Wasser hochspritzte.

 

»Wo gehen wir denn nur hin?« fragte sie ängstlich.

 

»An das Flußufer. Dort läuft immer noch ein halbes Dutzend Polizisten herum, und du brauchst dich wirklich nicht zu fürchten«, setzte er hinzu.

 

Sie konnte nur den Kopf schütteln über diese unlogische Handlungsweise, die Polizei geradezu aufzusuchen.

 

Zum drittenmal blieb sie plötzlich stehen.

 

»Es folgt uns ganz bestimmt jemand. Ich hörte es gerade wieder ganz deutlich.«

 

»Sei ruhig – komm hierher, an die Seite des Pfades«, flüsterte er.

 

Sie lehnten sich an das Holzgeländer, das den Weg zum Fluß hin abgrenzte. Kein Laut war zu hören.

 

»Du willst mir wohl Angst machen, wie?« knurrte er höhnisch. »Warum willst du mich eigentlich durchaus glauben machen, daß jemand uns verfolgt?«

 

Am Arm zerrte er sie weiter, und durch eine Lücke des Geländers stolperten sie gemeinsam die Uferböschung hinab. Plötzlich blieb er stehen. Auch er hatte jetzt die leisen Fußtritte gehört.

 

»Warte hier«, sagte er nervös und ging einige Schritte zurück.

 

In diesem Augenblick hatte aber auch das Geräusch wieder aufgehört.

 

»Wahrscheinlich ist es nur das Wasser, das gegen die Böschung klatscht«, meinte er, als er zurückkam. »Jetzt hier herum.«

 

Er fühlte mit der Hand und schob sie zwischen einigen Pfosten durch, direkt auf den kleinen betonierten Damm, gegen den die Wellen schlugen.

 

»Der Fluß ist ja direkt neben mir«, sagte sie plötzlich, und ihre Stimme zitterte noch mehr. »Ich kann die Kälte spüren, die vom Wasser aufsteigt. Sind wir denn immer noch nicht weit genug gegangen?«

 

»Ja, jetzt reicht es dann«, versetzte er. »Komm – bleiben wir hier ein wenig stehen.«

 

»Ich mag nicht mehr!«

 

Sie versuchte verzweifelt, sich an ihm vorbeizudrängen.

 

Er packte sie und erstickte mit der Hand ihren wilden Aufschrei.

 

»Du wolltest doch immer so gerne sterben.« Seine Stimme war nur noch ein heiseres Knurren. »Du hast doch immer gesagt, daß du so gerne tot sein möchtest – jetzt ist es gleich soweit! Sie werden dich und dein Geständnis finden, verstehst du?«

 

Sie wehrte sich mit aller Kraft, war aber gegen seinen Griff machtlos. Mit seiner großen Hand verschloß er ihr den Mund und hielt sie mit dem andern Arm eisern umschlossen. Sie wankte und wäre gleich gestürzt … Da sah sie plötzlich hinter Berry im Nebel einen Umriß – einen dunklen Schatten, der Charles zurückriß.

 

Sie hörte ein leichtes ›plopp‹ – und gleich darauf noch einmal denselben Laut. Ein Laut, als ob der Korken aus einer Weinflasche gezogen würde.

 

Charles Berry sank in die Knie, schwankte einen Augenblick hin und her und fiel dann lautlos in sich zusammen. Kate hatte atemlos die beiden Blitze gesehen, die den Nebel zerrissen hatten, und rannte jetzt auf ihren unbekannten Retter zu.

 

»O Gott! Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen!«

 

»Kit!«

 

»Du bist es – du«, stieß sie hervor und sank in seine Arme.

 

»Liebe, liebe Kit!« murmelte der Mann und hielt sie fest.

 

Kapitel 20

 

20

 

Für einen Londoner war Dr. Warden geradezu ein Frühaufsteher. Aber er hatte auch eine große ärztliche Praxis und war ein gewissenhafter Arbeiter.

 

Im Augenblick saß er gerade bei seinem Frühstück und überflog die Zeitungsspalten, die von der Mordtat berichteten. Im Innersten war er froh, daß sein Name nicht genannt wurde. Zwar mußte Dr. Warden bei der gerichtlichen Untersuchung seine Aussage noch zu Protokoll geben, aber er freute sich doch über die Atempause bis dahin. Er machte sich nun einmal nichts daraus, von neugierigen Reportern ausgefragt zu werden.

 

Als das Mädchen einige Zeit darauf einen Besucher ankündigte, war er schon in seinem Laboratorium mit einigen Versuchen beschäftigt.

 

»Führen Sie den Herrn herein, Mary.«

 

Es war Miller, Loubas Diener.

 

»Guten Morgen, Miller. Ich kann mir schon denken, warum Sie kommen. Das Ganze ist eine sehr heikle Angelegenheit, und es tut mir sehr leid um Sie. Ich vermute, Sie stehen auch unter Verdacht. Na, das passiert bei einem solchen Fall vielen, also machen Sie sich nichts daraus«, setzte er hinzu, als er die Bestürzung in dem Gesicht des Mannes bemerkte. »Haben Sie irgend etwas Neues zu berichten?«

 

»Nein, Herr Doktor, nur daß die Polizei diesen Charlie bis zu einem Hotel verfolgt hat. Aber als sie hinkamen, war er schon weg.«

 

»Das habe ich schon gelesen«, entgegnete der Doktor. »Man nimmt an, daß er noch in London ist.«

 

»Herr Doktor …« Miller stockte. »Dürfte ich Ihnen etwas erzählen? Sie entsinnen sich doch noch genau daran, daß ich Sie einige Zeit allein ließ, um meiner Braut mitzuteilen, daß ich unsere Verabredung verschieben müßte?«

 

»Ja«, sagte der Doktor. »Sie blieben eine Viertelstunde weg. Wenn Sie wollten, hätten Sie genügend Zeit gehabt, die Feuerleiter hinaufzusteigen«, meinte er scherzhaft.

 

»Um Gottes willen, setzen Sie ihnen nur nicht diese Idee in den Kopf!« rief Miller nervös.

 

Dr. Warden lachte.

 

»Ich habe ja nur einen Scherz gemacht – vielleicht ein etwas unangenehmer Scherz, wie? Na ja, Spaß muß sein. Also, was wollen Sie denn nun eigentlich?«

 

Miller holte tief Luft.

 

»Herr Doktor, wissen Sie auch, daß das Haus beobachtet wurde?«

 

»Ich habe gehört, daß ein Mann namens Weldrake dort gesehen wurde, ein Mann, den niemand kennt und den man auch nicht finden kann«, entgegnete der Doktor.

 

»Nein, den meine ich nicht. Es ist jemand, der uns beiden gut bekannt ist.«

 

»Meinen Sie Mr. Leamington? Haben Sie ihn gesehen?«

 

»Nein, Herr Doktor, nicht Mr. Leamington. Aber der letzte Mensch auf Gottes Erdboden, den ich zu sehen erwartet hätte – Mr. Hurley Brown.«

 

»Was!«

 

»Ja, Mr. Hurley Brown. Ich sah ihn ganz deutlich.«

 

»Aber das ist ja fast unmöglich, Miller. Ich war doch mit dem Captain zusammen in meinem Club … Er war dort, als ich hinkam, und ich ging auch von Louba wieder direkt dorthin zurück.«

 

»Keine Ahnung, Herr Doktor, wie das möglich ist«, meinte Miller verstört. »Aber es war Mr. Brown. Er stand hinter dem Gartentor von Braymore House, als ich fortging.«

 

»Allein?«

 

»Ja, Herr Doktor. Ich sprach mit dem Diener von der Wohnung unter uns, und auch er sagt, daß er einen Mann an der Tür hat stehen sehen – und dieser Mann sei Mr. Brown gewesen. Der Diener kennt ihn genau und hat ihn sogar auch aus noch viel kürzerer Entfernung gesehen als ich.«

 

»Warum nennt die Polizei den nächtlichen Besucher eigentlich Charlie?«

 

»So nannte ihn Mr. Louba in meinem Beisein. ›Kommen Sie herein, Charlie‹, sagte er. Ich erzählte das schon Inspektor Trainor. Der Diener hat übrigens sowohl Mr. Brown als auch Charlie beobachtet. Er sah, wie der Captain diesem Charlie aufmerksam mit Blicken folgte. Meine Meinung ist, Herr Doktor« – Millers hageres Gesicht zuckte vor Aufregung, als er seine große Theorie erklärte –, »daß man zwei und zwei zusammenzählen soll. Wenn jemand weiß, wer den Mord wirklich begangen hat, dann ist dieser Jemand Mr. Hurley Brown.«

 

Dr. Warden sah den Mann sprachlos an.

 

»Davon bin ich felsenfest überzeugt, Herr Doktor – Mr. Brown weiß über diesen Mord mehr als…«

 

»Was fällt Ihnen ein, Miller!« polterte der Doktor ärgerlich los. »Wie können Sie es wagen, einen solchen Verdacht überhaupt nur auszusprechen – Mr. Hurley Brown! Ein Polizeikommissar! Das ist doch eine Ungeheuerlichkeit! Genausogut könnten Sie mich beschuldigen – ich war doch allein in der Wohnung, wenigstens eine Viertelstunde lang. Mr. Brown! Na, wissen Sie …«

 

»Es tut mir ja leid, Herr Doktor«, murmelte der Mann niedergeschlagen. »Ich wollte ganz bestimmt auch nichts Böses anrichten. Aber gestern war er den ganzen Tag in der Wohnung und suchte nach etwas. Er ließ das Unterste zuoberst kehren.«

 

»Aber natürlich! Das ist doch seine Pflicht, Miller! Was soll er denn als Polizeibeamter sonst tun – er muß doch nach Spuren suchen.«

 

Miller ließ beschämt den Kopf hängen.

 

Immer noch konnte er sich nicht zum Gehen entschließen, obgleich er doch anscheinend alles gesagt hatte, was er hatte sagen wollen.

 

»Alle möglichen Leute besuchten Mr. Louba seinerzeit«, brummte er schließlich noch.

 

»Wen meinen Sie denn jetzt wieder?«

 

»Beispielsweise Sir Harry Marshley, auch Lady Marshley. Und wenn ich richtig darüber nachdenke, dann kommt es mir so vor, als ob dieser Charlie ihn ebenfalls öfters besucht hätte. Ich kann mich zwar nicht genau auf ihn besinnen, aber die Art, wie er ging, kam mir so bekannt vor.«

 

Der Doktor sah den Diener mit einem scharfen Blick an.

 

»Es kommt mir so vor, als ob Sie etwas wüßten, was Sie mir ganz gerne mitteilten«, meinte er. »Wollen Sie es mir nicht endlich sagen – oder, noch besser, es gleich der Polizei mitteilen?«

 

Leider wurde Miller beim Erwähnen der Polizei wieder außerordentlich nervös. Er murmelte noch etwas, entschuldigte sich dann hastig und eilte davon.

 

Kapitel 21

 

21

 

Dr. Warden ging wieder an seine Versuche. Als sie beendet waren, legte er seinen weißen Labormantel ab und suchte sein Konsultationszimmer auf. Nach einigen Stunden angestrengter Arbeit rief ihn Brown an und berichtete ihm die letzte Entwicklung der Dinge.

 

An diesem Nachmittag aß er im Club.

 

Hurley Brown war zwar nicht da, aber er hörte von einem der Diener, daß Frank Leamington im Haftprüfungsverfahren dem Polizeigericht in der Bow Street vorgeführt worden war und daß er jetzt unter Mordverdacht in Untersuchungshaft saß.

 

Dr. Warden hatte an diesem Nachmittag nichts mehr in seiner Praxis zu tun. Nach dem Essen fuhr er zum Edwards Square. Er hatte den Fuß eben auf die Treppe von Nummer 903 gesetzt, als sich die Tür öffnete und Sir Harry Marshley herauskam. Auf Sir Harrys Gesicht lag ein Ausdruck ausgesprochenen Trübsinns.

 

»Guten Tag, Doktor«, knurrte er. »Hoffentlich haben Sie mehr Erfolg mit der jungen Dame als ich. Ich habe niemals eine krassere Undankbarkeit angetroffen.«

 

Dr. Warden kannte Marshley nur oberflächlich. Er war einmal in seiner Sprechstunde gewesen.

 

»Mir ist gar nicht bekannt, daß Miss Martin einen besonderen Grund dazu hätte, Ihnen dankbar zu sein, Sir Harry«, sagte er trocken. »Aber es interessiert mich sehr, warum sie undankbar sein soll?«

 

»Ich bat sie, meinen Namen unerwähnt zu lassen, und sie weigerte sich ganz entschieden«, sagte Sir Harry bitter. »Dabei setzte ich ihr doch so schön auseinander, daß sie es ›ihrer Mutter zuliebe‹ tun solle.«

 

»Oh, ich bin sicher, daß Ihre Fürsorge bei Miss Martin auf größtes Verständnis gestoßen ist«, entgegnete der Doktor spöttisch. »Um was handelt es sich eigentlich, Marshley?«

 

Der Mann mit dem trübsinnigen Gesicht zuckte die Schultern.

 

»Ich bin ruiniert«, erklärte er düster. »Die Polizei drang gestern abend bei mir ein und machte eine Art Razzia. Das allein ist schon katastrophal genug. Aber wenn Sie noch dazu bedenken, Doktor, daß jetzt meine Geldquelle endgültig und für immer verstopft ist, dann können Sie sich vorstellen, wie ich mich fühle.«

 

»Louba hat Sie also finanziert?«

 

»Natürlich hat er mich finanziert«, erwiderte der andere, ärgerlich darüber, daß eine solche Frage überhaupt noch gestellt wurde. »Sie nehmen doch nicht etwa an, daß ich Geld für ein großes Haus und eine Menge Angestellter übrig habe? Meine Frau befindet sich in heller Aufregung. Seit gestern abend weint sie unaufhörlich. Es ist ein schwerer Schlag für mich.«

 

Er ging zu seinem wartenden Auto, und Dr. Warden klopfte an die Tür.

 

Das Mädchen, das ihm öffnete, erklärte, Miss Martin empfange keine Besucher. Trotzdem sandte er ihr seine Karte, und nach wenigen Minuten kam Beryl selbst. Sie sah übermüdet und sehr blaß aus.

 

»Ich habe Mutter alles erzählt«, sagte sie. »Wäre ich nur vernünftig genug gewesen, es ihr schon, vorher zu sagen ich hätte mir viel Kopfzerbrechen erspart. – Sie waren nicht bei der Verhandlung?«

 

»Nein«, erwiderte der Doktor. »Waren Sie dort?«

 

»Ja«, anwortete sie. »Es war eigentlich nur eine Formsache – die Verhaftung betreffend.«

 

»Das ist mir durchaus klar«, sagte Dr. Warden rasch. »Ich bin eigentlich nur gekommen, weil ich Sie fragen wollte, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Glücklicherweise besitzt Frank genug Geld für seine Verteidigung. Soviel ich höre, hat er Sir Carthew Barnet als Anwalt gewählt. Aber wie steht es mit Ihnen?«

 

Sie lächelte flüchtig.

 

»Danke, Herr Doktor, wir kommen schon aus mit unserem Geld. Aber es ist sehr freundlich von Ihnen, danach zu fragen. Allerdings – wenn ich die Schuldscheine zahlen will, und ich glaube, ich bin moralisch dazu verpflichtet, dann sind wir natürlich ruiniert.«

 

»Hat Sie Louba eigentlich jemals näher ins Vertrauen gezogen? Hat er Ihnen jemals etwas aus seiner Vergangenheit erzählt?«

 

»Nur einmal«, sagte sie nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Sie dürfen nicht vergessen, daß ich ihn erst vor einem Monat kennenlernte.«

 

»Sprach er jemals von irgend jemand, den wir beide kennen?«

 

Sie sah ihn schnell an und nickte.

 

»Ja, ich erinnere mich, daß er sagte, hier in London sei ein Mann, der ihn hasse – der einzige Mann, der ihm jemals über gewesen sei. Das sind seine eigenen Worte. Alle Einzelheiten der Geschichte kenne ich nicht, aber anscheinend war Mr. Louba vor vielen Jahren einmal Geldverleiher. Und als solcher hatte er die Schuld daran, daß ein junger Mann so in Schwierigkeiten geriet, daß er sich erschoß. Der junge Mann war Soldat, und irgend jemand n seinem Regiment machte sich an die Arbeit und hätte Louba fast zu Fall gebracht er erreichte sogar, daß Louba von der Insel ausgewiesen wurde. In erinnere mich noch daran, obwohl er mir nie sagte, um welche Insel es sich handelte.«

 

»Es war Malta«, entgegnete der Doktor nachdenklich. »Hat er den Namen des Mannes, der ihn haßte, etwa nicht erwähnt? Sie wissen ihn doch – nicht wahr – Miss Martin?«

 

Sie schaute zu Boden.

 

»Ich möchte den Namen nicht nennen«, sagte sie leise. »Es wäre im Augenblick bestimmt nicht angebracht.«

 

»War es Hurley Brown?«

 

Sie sah ihn ernst an.

 

»Ich frage Sie ganz im Vertrauen«, sagte er. »Und ich versichere Ihnen, daß ich jedes Wort, das wir miteinander sprechen, ganz für mich behalten werde.«

 

»Sie haben recht – es war Mr. Brown«, anwortete sie. »Aber das Ganze muß schon sehr lange her sein. Noch bevor Captain Hurley Brown in den Polizeidienst übertrat.«

 

»Tatsächlich verhält es sich so, daß er bald nach diesem Vorfall zuerst als Polizeibeamter in Malaya tätig war«, verbesserte sie der Doktor. »Dann nahm er seinen Abschied und kam vor zehn Jahren nach England zurück, um hier einen kleinen Landbesitz zu bewirtschaften. Irgend etwas passierte damals, und er kehrte nach Indien zurück, trat in den dortigen Polizeidienst ein und wurde schließlich von Scotland Yard nach England zurückberufen.«

 

»Mr. Louba hat mir nichts weiter erzählt«, sagte das Mädchen. »Nur das noch, daß es ihm ein großes Vergnügen bereite, mit Mr. Brown im selben Clubzimmer zusammenzusitzen, mit dem Bewußtsein, daß ihn der Captain verabscheue. Ach, das alles ist mir ja gar nicht wichtig … Glauben Sie, daß wirklich die Gefahr besteht, daß Frank verurteilt wird, Herr Doktor?«

 

Dr. Warden strich sich über das Kinn, seine grauen Augen schauten das Mädchen freundlich an.

 

»Ich glaube nicht, daß es zu einer Verurteilung kommt«, sagte er. »So viele Faktoren sind noch in Betracht zu ziehen. Die Polizei ist beispielsweise schon fest davon überzeugt, daß Frank unmöglich das Fenster zu Loubas Schlafzimmer von außen geöffnet haben kann. Schon aus diesem Grund hat Franks Erzählung viel Wahrscheinlichkeit für sich. Außerdem ist es ein Vorteil für ihn, daß er vollkommen frei und offen über alles berichtet hat. Es besteht nicht der leiseste Zweifel, daß er das Fenster geöffnet vorfand. Louba selbst kann es nicht aufgemacht haben, denn es war ja eine außerordentlich kalte Nacht, und nach Millers Angaben öffnete Louba abends das Fenster überhaupt nie. Franks Erzählung ist also wahr. Natürlich war es verrückt von ihm, daß er überhaupt in Loubas Wohnung eindrang. Ich befürchtete es ja gleich, als ich ihn in jener Nacht sah …«

 

»Wer hat den Mord begangen, Herr Doktor?« fragte Beryl rasch.

 

Dr. Warden blieb stumm.

 

»Haben Sie einen Verdacht?«

 

»Ich habe mehr als einen Verdacht«, antwortete er.

 

*

 

Der Doktor traf Hurley Brown an jenem Nachmittag kurz im Club, aber es gab nicht viel Neues.

 

»Trainor ist nun auch von Franks Unschuld überzeugt«, sagte Brown. »Nein, ich habe ihm das nicht klargemacht, er kam ganz allein zu diesem Schluß. Wahrscheinlich wäre er schon länger daraufgekommen, wenn ich Frank nicht ständig verteidigt hätte.«

 

»Haben Sie ›Charlie‹ gefunden?«

 

Brown schüttelte den Kopf.

 

»Wenn der verflixte Nebel in der bewußten Nacht nicht so stark gewesen wäre, hätte ich ihn sicher gefaßt«, sagte er.

 

Dr. Warden zog die Stirn kraus.

 

»Also stimmt es, was Miller sagt: Sie waren hinter ›Charlie‹ her! Warum?«

 

»Ich möchte Ihnen das lieber nicht erklären, Warden«, sagte Brown. »Es ist allerdings wahr, daß ich kurz nach dem Verlassen des Clubs eine gewisse Person zu erkennen glaubte.«

 

Er hielt inne.

 

»Wen glaubten Sie zu erkennen?« fragte der Doktor geduldig.

 

»Das werde ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls folgte ich dem Mann, um festzustellen, wo er wohnte. Ich sah ihn Braymore House betreten und bemerkte ihn wieder beim Herauskommen. Ich nahm sofort seine Verfolgung auf, mußte aber nach einiger Zeit feststellen, daß ich einem verkehrten Mann nachlief. Seitdem ist er verschwunden. Was hat Ihnen Miller erzählt?«

 

»Er erkannte Sie«, sagte der Doktor, »und sein Verdacht wurde durch den Diener im darunterliegenden Stockwerk bestätigt. Ich glaube, Brown, es ist besser, Sie überlassen die eigentliche Detektivarbeit Ihren Mitarbeitern.«

 

Hurley Brown gab keine Antwort. Er ging in sein Büro, wo Trainor auf ihn wartete.

 

Etwas in Trainors Verhalten ärgerte ihn. Sein Benehmen ihm gegenüber hatte eine leichte Veränderung erfahren. Wußte der Detektiv vielleicht, daß er in der Mordnacht in der Nähe von Braymore House gesehen worden war? Der Gedanke war ihm nicht angenehm.

 

»Ich lieh mir in einem Filmatelier eine große Lampe aus und habe sie in der Wohnung anbringen lassen, Herr Kommissar«, meldete Trainor. »Das Licht in der Wohnung war außerordentlich schlecht.«

 

»Haben Sie etwas Neues gefunden?«

 

»Eine ganze Menge. In der Vorhalle sind Blutflecke. Aber am bemerkenswertesten ist wohl, daß der Mörder durch den Haupteingang der Wohnung fortging und nicht über die Feuerleiter oder die Lieferantentreppe. An der inneren Türfüllung kann man deutlich einen schmierigen Flecken entdecken. Ich bin sicher, daß es Blut ist. Außerdem habe ich schwache Spuren an einem Handtuch im Badezimmer gefunden. Dies ist sehr wichtig. Wenn man Miller glauben darf, hat er frische Handtücher ins Badezimmer gehängt, nachdem Louba an jenem Abend sein Bad genommen hatte. Die Handtücher werden in einem kleinen Schrankkasten aufbewahrt, und als wir diesen durchstöberten, fanden wir das benutzte Tuch schön gefaltet und weggelegt unter einem Dutzend anderer. Es war noch ganz feucht.«

 

»Der Fall wird immer verworrener«, sagte Brown. »Wie steht’s mit Miller?«

 

»Miller kann sehr wohl seine Hand im Spiel gehabt haben. Meine eigene Theorie ist, daß der Mord zwischen sieben und neun Uhr verübt wurde. Dr. Warden, der vor der Tür saß, erklärt, daß es im Zimmer plötzlich ruhig geworden sei. Dadurch wurde er veranlaßt, noch aufmerksamer zu lauschen – aber er hörte keinen einzigen Laut mehr. Auch merkte er nicht, daß Charlie die Wohnung verließ. Was ist naheliegender, als daß Charlie über die Feuertreppe verschwand? Falls er auf diesem Weg aus der Wohnung fortging, während Louba noch am Leben war, dann hätte der letztere bestimmt das Fenster geschlossen – er fürchtete sich doch so vor Erkältungen. Falls Louba aber tot war und Charlie, vielleicht mit einem Komplicen, als Mörder in Betracht kommt, dann waren sie höchstwahrscheinlich in der größten Eile, so daß sie das Fenster offenstehen gelassen hätten. Unmöglich wäre es für Charlie auf jeden Fall gewesen, das Fenster hinter sich ordnungsgemäß zu schließen.«

 

»Aber Miller hätte das gekonnt, wenn er der Komplice war.«

 

»Ja, aber er tat es nicht. Das ist eben das Merkwürdige an der Sache. Miller kann natürlich sehr gut in den Mord verwickelt sein. Durchaus möglich, daß er fortgegangen ist, um mit seiner Braut zu sprechen … dann kam er aber zurück, half bei der Ermordung Loubas und ließ seinen Gefährten zum Fenster hinaus. In dem Fall …«

 

»In dem Fall hätte er das Fenster offengelassen, um den Verdacht von sich abzulenken«, unterbrach ihn Brown. »Ganz richtig, dies und nichts anderes hätte er tun müssen. Sonnenklar ist, daß sich jemand in der Wohnung aufhielt, nachdem der Doktor fortgegangen war.«

 

»Miller war zehn Minuten lang da«, sagte Trainor. »Falls wir ihn aus dem Spiel lassen und als unschuldig betrachten, dann haben wir uns immer noch die Blutflecken auf dem Vorplatz zu erklären. Die konnten keinesfalls dorthinkommen, während der Doktor da war, oder während Miller in der Wohnung war. Die Spuren an der Türfüllung wurden von irgendjemand weggewischt. Wahrscheinlich vom Mörder selbst. Es sieht fast so aus, als ob der Versuch gemacht wurde, den Leichnam zur Vordertür hinauszuschleppen Das muß meiner Meinung nach zwischen sieben Uhr dreißig und acht Uhr passiert sein. Miller kann über seinen Aufenthalt ziemlich befriedigend Auskunft geben – wenigstens von dem Moment an, wo er die Wohnung verließ, bis zu seiner Heimkehr um zehn Uhr dreißig. Dennoch können wir ihn nicht ganz außer Betracht lassen. Er kann den Mord zum Beispiel durchaus in den zehn Minuten begangen haben, die er mit Louba allein war. In das Wohnzimmer kann man durch die Küche und das Speisezimmer gelangen. Es besteht da ein Durcheinander in den Zeitangaben, das aufgeklärt werden muß. Hat eigentlich jemand gesellen, wie Charlie das Haus verließ?«

 

Das war ziemlich deutlich. Trainor beobachtete seinen Vorgesetzten scharf und wartete gespannt auf die Antwort, denn er wußte ganz genau, daß Hurley Brown selber Charlie hatte fortgehen sehen. Miller hatte ihm das berichtet.

 

»Wer sollte ihn schon gesehen haben?« fragte Brown kühl zurück. »Kennen Sie vielleicht jemand, der in Frage kommt?«

 

Trainor überlegte einen Augenblick.

 

»Nein«, antwortete er dann.

 

Um sieben Uhr abends stand Trainor mit dem Rücken gegen das Feuer in seinem kleinen Büro und durchdachte immer von neuem die Fingerzeige und Spuren, die er im Fall Louba herausgefunden hatte. Unentwegt setzte er die Stücke dieses Rätselspiels nach einer anderen Methode zusammen, um die Lösung zu finden.

 

Hurley Brown hatte Scotland Yard schon verlassen. Er hatte ihm noch mitgeteilt, daß er in seinem Club zu finden sei, falls man ihn brauche. Um sechs Uhr hatte Trainor auch dort angerufen, aber er war im Club noch nicht aufgetaucht.

 

Hurley Brown? Trainor runzelte nachdenklich die Stirn. Es war ganz verständlich, daß Brown mit der Sache nichts zu tun haben wollte. Aus den Nachforschungen, die Trainor heimlich angestellt hatte, ging klar hervor, daß Brown seine eigene Privatfehde mit Louba auszufechten gehabt hatte. Aber Mord – unmöglich!

 

Er setzte sich, zog Notizbuch und Bleistift aus der Tasche und schrieb noch einmal alles auf, was mit dem Fall in Zusammenhang stand; jede Vermutung, die irgendwann einmal aufgetaucht war. Jede mögliche oder unmögliche Person, die auf Grund irgendwelcher Kombinationen für den Mord verantwortlich gemacht werden konnte.

 

Plötzlich klopfte er sich mit dem Bleistift an die Stirn.

 

Da Costa!

 

Was hatte Brown von da Costa erzählt? – Daß er ein alter Konkurrent Loubas sei und in der Wohnung über ihm hause.

 

Jedenfalls mußte es ihm sehr gelegen kommen, daß er zur Zeit des Mordes auf Reisen war.

 

Aber war er auch wirklich auf Reisen?

 

Es war kein Grund vorhanden, das Gegenteil anzunehmen, nur – wer setzte die Fahrstuhlklingel in Tätigkeit, als Dr. Warden in der Mordnacht bei seinem zweiten Besuch vor Loubas Tür stand?