Kapitel 4

 

4

 

»Kennen Sie Mr. Elson?«

 

Jim Ferraby kannte Mr. Stephen Elson gut und hatte eine begründete Abneigung gegen ihn. Er war, wenn auch ohne sein Zutun, der Hauptzeuge bei der Anklage gegen Lukas Markus Sullivan und hatte den Freispruch dieses Diebes und Landstreichers als eine persönliche Beleidigung empfunden. Jim hatte aus vielen Gründen ein Vorurteil gegen Elson – nicht zuletzt, weil er Elfa Leigh in herausfordernder Weise den Hof machte. Von seinem Standpunkt aus war dieses Benehmen unverschämt, und er hoffte, daß auch Elfa so dachte. Nicht, daß sie in seinem Leben irgend etwas Besonderes bedeutete – sie war für ihn nur die hübsche junge Dame auf der anderen Seite der Treppe. Sie hatte eine schöne, weiche Stimme und graue Augen, sie hatte ein reizendes Wesen, war wohlerzogen und ungewöhnlich gutaussehend – aber er bewunderte sie nur platonisch aus der Ferne.

 

Elfa war eine Dame und stand gesellschaftlich jedem von Cardews Gästen gleich. Jim Ferraby haßte die plumpe Vertraulichkeit Elsons. Es hatte ihn aufs unangenehmste berührt, daß er überhaupt eingeladen war. Selbst wenn Mr. Cardew kein so guter Detektiv gewesen wäre, hätte er die Antipathie Jims gegen Elson bemerken müssen. Bei der ersten Gelegenheit nahm er den jungen Mann beiseite.

 

»Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß Sie Elson treffen würden. Es ist mir sehr unangenehm, aber Hanna war dafür, ihn einzuladen. Wenn er zu mir gekommen ist, war jedesmal Hanna die Veranlassung. Sie sagte, daß er das ganze letzte Jahr nicht eingeladen wurde, und ich dachte, daß dies eine gute Gelegenheit sei. Wenn ich allein mit ihm sein müßte, könnte ich es nicht aushalten.«

 

Jim lachte. »Mir macht es nichts aus, obgleich er sich nach der Gerichtssitzung unglaublich unhöflich gegen mich benommen hat. Was war er eigentlich früher? Weshalb hat er sich in England niedergelassen?«

 

Cardew schüttelte den Kopf.

 

»Das ist eine der Fragen, die ich eines Tages klären werde. Ich weiß nur, daß er sehr reich ist.« Er schaute auf die andere Seite des Salons, wo der breitschultrige Amerikaner sich heiter mit Elfa unterhielt. »Die verstehen sich gut miteinander«, sagte er gereizt. »Vermutlich, weil sie Landsleute sind.«

 

»Miss Leigh ist Amerikanerin?« fragte Jim erstaunt.

 

»Ja. Ich dachte, Sie wüßten das. Ihr Vater, der unglücklicherweise im Krieg ums Leben kam, war ein hoher Beamter des amerikanischen Schatzamtes. Ich glaube, daß er die meiste Zeit seines Lebens in den Vereinigten Staaten zubrachte, wo auch Miss Leigh erzogen wurde. Ich habe ihren Vater niemals kennengelernt, sie wurde mir durch den amerikanischen Botschafter empfohlen.«

 

Jim beobachtete sie, während Cardew sprach. Er sah, daß ihre Hautfarbe gut zu ihrem schwarzen Kleid paßte und daß ihre seltene Schönheit durch dieses einfache Kleid noch gehoben wurde.

 

»Ich hätte nie gedacht, daß sie Amerikanerin ist«, war alles, was er sagen konnte.

 

»Ich vermutete, Sie seien von der jüngeren englischen Generation«, sagte Mr. Elson gerade zu ihr. »Es ist doch sonderbar, daß ich nicht wußte, daß Sie ein guter Yankee sind.«

 

»Ich bin aus Vermont«, sagte Elfa. Aber sie war keineswegs erfreut, einen Landsmann in ihm zu begrüßen.

 

Er hätte ein rotes, tiefgefurchtes Gesicht, grobe Züge und eine knollige Nase. Es schwebte stets ein Geruch von Whisky und fadem Zigarrenrauch um ihn.

 

»Und ich stamme aus dem Mittleren Westen«, sagte er höflich. »Kennen Sie St. Paul? Es ist eine hübsche Stadt mittlerer Größe. Sagen Sie mir, Miss Leigh, was tut eigentlich dieser Herr hier?« Er zeigte mit dem Kopf zu Jim hinüber, und seine Stimme war so laut, daß der junge Mann die Frage nicht überhören konnte. Er hätte viel darum gegeben, wenn er auch ihre Erwiderung gehört hätte.

 

»Mr. Ferraby gilt als einer unserer tüchtigsten Beamten bei der Staatsanwaltschaft«, sagte sie ruhig.

 

»Wie – tüchtig?« fragte er hochnäsig. Dann änderte er plötzlich seinen Ton. »Sie sagen, von der Staatsanwaltschaft? Ich kenne dieses Amt nicht.«

 

Sie erklärte ihm die Funktionen dieser Behörde kurz.

 

»Ach so«, erwiderte Elson. »Er mag ja außerhalb des Gerichtshofes ein tüchtiger Staatsanwalt sein; aber wenn er vor den Richtern erscheint, ist er gänzlich unfähig – das kann ich Ihnen versichern.«

 

»Sind Sie ein alter Freund von Mr. Cardew?« fragte Elfa, die bemüht war, das Gespräch in liebenswürdigere Bahnen zu lenken.

 

Elson strich sich über das nicht allzu gut rasierte Kinn.

 

»Er ist doch mein Nachbar – ein vorzüglicher Anwalt, nicht wahr?« Er beobachtete sie unter halbgeschlossenen Augenlidern.

 

»Mr. Cardew übt seine Praxis nicht mehr aus«, sagte sie. Er lachte laut.

 

»Detektivgeschichten sind doch seine starke Seite?« kicherte er.

 

»Ich habe bisher noch nie einen erwachsenen Mann gesehen, der sich mit solchen Dingen abgibt.«

 

Seine bewundernden Blicke wichen nicht von ihrem Gesicht.

 

In ihrer unangenehmen Lage schaute sie zu Jim hinüber, der ihren Kummer längst erkannt hatte. Er faßte ihren Blick als einen Hilferuf auf und ging quer durch den Saal, um sie aus Elsons Gesellschaft zu befreien.

 

Miss Leigh und Ferraby fiel es auf, daß Mr. Cardew in schlechter Stimmung war. Er schien ganz zu vergessen, weshalb er Jim eingeladen hatte, denn er hatte Hanna noch nicht ein einziges Mal erwähnt. Von Zeit zu Zeit sah er auf seine Uhr und schaute ängstlich, fast furchtsam nach der Tür, und als schließlich die Hausdame steifer, düsterer und unzugänglicher als je erschien und unvermittelt sagte, daß das Essen aufgetragen sei, nahm der Anwalt seine Brille ab und sprach mit fast bittender Stimme:

 

»Wollen Sie, bitte, mit dem Essen noch ein paar Minuten warten. Ich habe noch einen guten Bekannten eingeladen, Hanna den Oberinspektor.«

 

Sie hielt an sich und sagte nichts.

 

»Ich traf ihn heute, und er war sehr nett«, beeilte sich Mr. Cardew entschuldigend hinzuzufügen. »Und ich sehe nicht ein, warum wir schlechte Freunde sein sollten. Ich weiß auch gar nicht, warum ich Ihnen dies sage …«

 

Dann murmelte er noch allerhand Unverständliches. Es war ein komischer Anblick, wie der Hausherr von Barley Stack unter dem Pantoffel seiner Haushälterin stand. Jim war das nichts Neues, denn er hatte schon bei seinen früheren Besuchen diese Erfahrung gemacht. Aber Elfa konnte nur verwundert staunen, als die Frau den Raum mit steifen Schritten verließ und ihre schlechte Laune in jeder Weise zum Ausdruck brachte.

 

Cardew war es sehr peinlich.

 

»Ich fürchte, Hanna schätzt unseren Freund nicht; das ist mir sehr unangenehm.«

 

Er schaute auf Ferraby, als ob der ihn unterstützen sollte.

 

»Es gibt nur wenige Hausdamen, die es gerne sehen, wenn man ihre Pläne durchkreuzt«, sagte Jim vermittelnd.

 

Nach fünf weiteren ungemütlichen Minuten erschien Hanna wieder in der Tür.

 

»Wie lange sollen wir noch warten, Mr. Cardew?« fragte sie unwirsch.

 

»Wir gehen jetzt zu Tisch, Hanna«, sagte Cardew, nachdem er schnell auf seine Uhr gesehen hatte. »Ich nehme nicht an, daß unser Freund noch kommt.«

 

Elfa saß neben Ferraby an dem runden Tisch. An ihrer anderen Seite stand der leere Stuhl, der für Oberinspektor Minter bestimmt war.

 

»Der arme Mr. Cardew«, sagte sie leise.

 

Jim grinste, aber ein Blick auf das Gesicht Hanna Shaws, die ihm direkt gegenübersaß, ließ sein Lächeln verschwinden. Sie schaute das Mädchen mit einem so bösen Blick an, daß ihm der Atem stockte. Als die Suppenteller abgetragen wurden, kam der verspätete Gast.

 

Super kleidete sich niemals elegant. Jim hatte den Eindruck, daß ihm die schlechtsitzenden Anzüge von einem längst verstorbenen Verwandten vererbt oder daß sie möglicherweise von einem Kellner erworben waren, der sie im Restaurant nicht mehr tragen konnte.

 

»Es tut mir sehr leid, meine Damen und Herren«, entschuldigte er sich und sah sich in der Gesellschaft um. »Ich esse sonst niemals auswärts, und gerade, als ich mich zu Bett legen wollte, erinnerte ich mich an Ihre liebenswürdige Einladung. Guten Abend, Miss Shaw!«

 

Hanna hob langsam ihren Blick und sah ihn voll an.

 

»Guten Abend, Oberinspektor!« sagte sie eisig.

 

»Wir haben schönes Wetter; so warm war es noch nie in dieser Jahreszeit. Ich könnte mich wenigstens nicht darauf besinnen.«

 

Elfa sah den gestrengen Super zum erstenmal und fühlte unwillkürlich eine Zuneigung zu diesem alten Mann in seinem abgetragenen Frack. Sein Hemd war altmodisch, und zwei Rostflecke auf dem Einsatz machten es unansehnlich. Die Krawatte hatte sich verschoben. Aber seine Haltung war die eines Aristokraten.

 

»Er ist prachtvoll … Ist das der Oberinspektor?« fragte sie, als Supers Aufmerksamkeit durch ein Gespräch mit seinem Gastgeber abgelenkt wurde.

 

»Ja, er ist der König aller Detektive in Europa. Hören Sie mal zu, jetzt hat er Cardew wieder zum besten.«

 

»Ich gehe höchst selten unter Menschen«, bemerkte Super. »Mir scheint, daß ich zu wenig gesellschaftlich veranlagt bin, als daß man mich einlädt. Ich kann nicht ein Messer vom anderen unterscheiden, und meistens nehme ich das falsche Bierglas. Das ist es ja gerade, wo es bei uns Polizeibeamten fehlt – keine Manieren. Ich sagte noch heute nachmittag zu meinem Sergeanten: ›Wir haben nicht genügend vornehme Amateure bei uns – was wir brauchen, sind Leute, die einen Frack tragen können, ohne daß es aussieht, als ob sie auf einen Maskenball gingen.‹«

 

Mr. Cardew schaute argwöhnisch auf seinen Gast.

 

»Die Polizei hat ihre festumschriebenen Aufgaben«, sagte er etwas steif. »Der einzige Punkt, in dem wir nicht übereinstimmen, mein lieber Oberinspektor, ist, daß gewisse Fälle feinere Untersuchungsformen oder mehr Verstand und eine weitgehendere Anwendung der Psychologie erfordern.«

 

»Das ist sicherlich nötig«, sagte Elson, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, lehnte sich vor und nickte stark mit dem Kopf. »Das ist es, was den Leuten fehlt …« Plötzlich hielt er inne, denn er hatte einen Blick von Hanna aufgefangen, und Jim Ferraby, der es beobachtete, sah, wie sie ihn warnte.

 

»Psychologie ist sicher sehr wertvoll«, stimmte Super bei. »Das ist ja gerade das, was wir brauchen. Jeder junge Beamte müßte darin unterrichtet werden. Nächst Anthropologie ist Psychologie das Wichtigste. Aber ich muß sagen, daß auch gute Beobachtungsgabe nicht zu verachten ist. Ich bin etwas kurzsichtig beim Lesen, aber ich kann eine Million Meilen weit sehen. Lassen Sie die Jalousien nie herunterziehen, Mr. Cardew?«

 

Die großen Bogenfenster des Speisesaals waren unten nur mit durchsichtigen Gardinen bedeckt. Die große Rasenfläche draußen lag im Dämmerlicht, und die Ahornbäume am Ende des Gartens zeichneten sich in schwarzen Umrissen von dem tiefblauen Himmel ab. Die Rhododendronsträucher erschienen wie dunkle Flecken.

 

»Nein«, sagte Cardew erstaunt. »Warum sollte ich sie auch schließen – wir werden nicht beobachtet –, die Landstraße liegt etwa einen halben Kilometer entfernt.«

 

»Ich wundere mich nur«, entschuldigte sich Super. »Ich verstehe nicht viel von vornehmen Villen. Ich lebe in einem kleinen Häuschen und ziehe immer die Jalousien herunter, wenn ich esse. Das macht meine Mahlzeiten gemütlich. Wie viele Gärtner mögen Sie wohl hier haben?« fragte er.

 

»Vier oder fünf«, sagte Cardew. »Ich weiß es nicht genau.«

 

Das machte Eindruck auf Super. »Da müssen Sie aber allerhand Räume haben, wo die Leute schlafen können.«

 

»Sie schlafen nicht hier. Mein Hauptgärtner hat ein Haus für sich in der Nähe der Straße. Um nun aber auf die Polizei zurückzukommen …«

 

Aber Super schien keine Neigung zu haben, weiter über die Zustände bei der Polizei zu sprechen. Er wollte vielmehr seine Kenntnisse über Cardews Angestellte vervollständigen.

 

»Ich dachte, Sie würden Gärtner oder Leute halten, die in der Nacht die Blumen begießen oder Maulwurfsfallen aufstellen.«

 

Gordon Cardew schien unangenehm berührt zu sein.

 

»Meine Gärtner gehen um sieben Uhr nach Hause. Ich würde ihnen nicht erlauben, sich hier herumzutreiben. Was haben Sie, Oberinspektor?«

 

Super war aufgestanden und ging zur Tür. Plötzlich hörte man das Knipsen des elektrischen Schalters, und das Licht ging aus.

 

»Gehen Sie alle möglichst schnell vom Tisch weg zu den Wänden!« befahl er mit rauher Stimme. »Deshalb habe ich das Licht ausgemacht – draußen ist jemand im Schatten der Sträucher, und er hat eine Pistole.«

 

Kapitel 18

 

18

 

Auch Jim genoß nun das Vorrecht, das bis dahin ausschließlich Super gehabt hatte. Elfa Leigh erlaubte ihm, eine halbe Stunde in ihrer kleinen Wohnung zu bleiben und den letzten Bericht über ihren Vater zu hören.

 

»Sie wollten mich über Nacht nicht in dem Krankenhaus lassen«, sagte sie, »und vielleicht ist das auch sehr klug von ihnen. Meinem Vater geht es gut, und er fühlt sich glücklich. Man kann gut mit ihm auskommen. Mir scheint das Ganze wie ein Traum, ein glücklicher, aber auch zu gleicher Zeit ein unglücklicher Traum. Es ist schrecklich, wenn ich an die Jahre denke, in denen er durch das Land wanderte, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte.«

 

Jim hatte auch den berühmten Arzt gesprochen; der Tag der Operation war schon festgesetzt. Der Doktor und sein Assistent waren voller Hoffnung, daß das Resultat gut ausfallen werde. Sie hatten ihm eine ganze Anzahl ähnlicher Fälle genannt, in denen vollständige Genesung des Patienten eingetreten war.

 

»Nein, wegen der Operation sorge ich mich gar nicht«, sagte sie ruhig, als er danach fragte. »Ich bin durchaus nicht ängstlich. Die Botschaft tut alles, was nur in ihren Kräften steht. Die Herren waren sehr mitfühlend und freundlich und haben mir sogar eine Summe zur Verfügung gestellt, bis er wiederhergestellt ist, so daß ich tatsächlich nicht gezwungen bin, zu Mr. Cardew zurückzugehen.«

 

»Haben Sie etwas von ihm gehört?«

 

»Ja, er rief mich heute morgen an. Er war außerordentlich liebenswürdig, aber sehr zerfahren. Ich hatte den Eindruck, daß er so sehr von dem Problem der Ermordung der armen Miss Shaw in Anspruch genommen wird, daß er unfähig ist, sich um meine Angelegenheiten zu kümmern. Trotzdem ist er ein lieber Mensch.«

 

»Wer? Cardew?« fragte Jim lächelnd. »Ich kenne zum mindesten einen, der diese Ansicht nicht teilt.«

 

»Super? Natürlich, aber Sie müssen bedenken, daß Super eine Stellung für sich einnimmt. Man kann sich nicht vorstellen, daß er jemals derselben Ansicht ist wie andere Leute. Trotzdem ist auch er ein guter Mensch. Ist er tatsächlich so rauh, wie er sich den Anschein gibt? Er spricht immer so merkwürdig.«

 

»Super ist einer der ältesten Beamten bei der Polizei«, sagte Jim. »Ich weiß noch nicht, ob er sich nur so ungebildet stellt. Er erscheint in so vielen Gestalten und Charakteren, daß es schwer ist, die Wahrheit zu ergründen …«

 

Das Telefon klingelte in dem Augenblick, und Elfa nahm den Hörer ab. Sie runzelte die Stirn.

 

»Nein, ich habe nichts geschickt … gewiß nicht. Bitte, geben Sie es ihm nicht, ich werde sofort hinkommen.«

 

Sie legte den Hörer auf, und ihr Gesicht hatte einen sorgenvollen Ausdruck.

 

»Das kann ich nicht verstehen«, sagte sie. »Die Vorsteherin des Krankenhauses fragte mich, ob ich meinem Vater einen Kirschkuchen geschickt hätte. Natürlich habe ich das nicht getan. Ein Bote hat ihn mit einem kurzen Brief gebracht.«

 

Jim pfiff vor sich hin.

 

»Das klingt ja sehr sonderbar.«

 

Als Elfa schnell in ihrem Zimmer verschwand, um sich anzuziehen, erinnerte er sich an Super und rief ihn an. Glücklicherweise meldete sich der Oberinspektor selbst. Er hörte den Bericht ruhig an.

 

»Sagen Sie ihnen, sie sollen den Kuchen verwahren, bis ich komme. Warten Sie vor dem Krankenhaus auf mich, wenn Sie Miss Leigh wieder heimgebracht haben. Wenn Sie einen jungen Mann dort finden, der Sie beobachtet, so erwähnen Sie nur meinen Namen.«

 

Jim erfuhr so zum erstenmal, daß das Krankenhaus bewacht wurde.

 

Als sie ankamen, wurden sie in das Privatzimmer der Vorsteherin gebeten. Mitten auf dem Tisch stand das verdächtige Backwerk.

 

»Ich wollte es ihm nicht geben, bis ich nicht ganz sicher war, daß Sie es geschickt hatten«, sagte die alte Dame. »Mr. Minter hat mir das sehr genau eingeschärft.«

 

»Sagten Sie nicht auch, daß ein Begleitbrief dabei war?«

 

Die Vorsteherin gab ihnen einen Briefumschlag.

 

»Das ist nicht meine Schrift«, sagte Elfa bei dem ersten Blick auf die Adresse.

 

Auch den Brief hatte sie nicht geschrieben. Es war einfaches, glattes Papier. Ihre Adresse in Cubitt Street war oben links in der Ecke notiert. Das Schreiben enthielt nur die kurze Bitte, den Kuchen ihrem Vater zu geben.

 

»Kennen Sie die Handschrift?« fragte Jim.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe sie vorher nie gesehen. Aber warum schickt man denn diesen Kuchen? Will man … Ach, das ist doch ganz unmöglich!«

 

Sie wurde bleich.

 

»Vielleicht hat irgendein wohlmeinender Freund diese Aufmerksamkeit geschickt«, sagte Jim, um sie zu beruhigen.

 

»Aber wer würde denn meinem Vater ein Leid zufügen wollen?« fragte sie und schaute ängstlich auf den unschuldig aussehenden Kuchen.

 

»Was soll ich nun tun?« fragte die alte Dame.

 

»Heben Sie ihn bitte auf«, sagte Jim schnell und tauschte einen Blick mit ihr, indem er verstohlen auf Elfa deutete. Sie verstand. Obgleich er den Vorfall leicht abtat, zweifelte Elfa doch nicht an der wahren Bedeutung.

 

»Ich hörte, wie Sie mit Mr. Minter am Telefon sprachen«, sagte sie zu ihm, als er sie wieder zur Cubitt Street brachte. »Kommt er in die Stadt?«

 

»Er wird dort sein, wenn ich zurückkomme. Sie müssen sich nicht aufregen, Elfa.«

 

Sie hörte die vertrauliche Anrede ganz gut, und es schien ihr sogar recht zu sein, daß er sie Elfa nannte.

 

»So viele Dinge sind mit Vaters Abwesenheit verknüpft, daß ich gar nicht klug daraus werden kann, und so will ich auch gar nicht erst versuchen, alles zu entwirren. Ich werde noch nicht zu Bett gehen. Würden Sie so liebenswürdig sein, mich anzurufen, wenn etwas entdeckt wird?«

 

Mit der Versicherung, dies zu tun, verließ er sie und kehrte zurück, um seinen Posten vor dem Krankenhaus einzunehmen. Wie Super vorausgesagt hatte, kam aus der Dunkelheit der gegenüberliegenden Seite der Straße ein Fremder auf ihn zu, als er sich in einen Torweg gestellt hatte, und fragte ihn ohne weiteres, was er hier suche. Seine Erklärung wurde nicht sofort geglaubt, denn Detektive sind von Natur aus sehr skeptisch. Glücklicherweise hörte man während ihres Disputs einen fürchterlichen Spektakel, ähnlich dem Knattern eines Maschinengewehres, das in unregelmäßigen Zwischenräumen abgefeuert wird. Einige Sekunden später erschien Super auf seiner Feuerfliege.

 

»Ich habe sie in Barnes Common auf eine Geschwindigkeit von achtzig Kilometer gebracht«, sagte er mit innerster Befriedigung, obwohl eine solche Schnelligkeit innerhalb der Stadt gegen die polizeilichen Vorschriften verstieß. »Ein Verkehrsschutzmann versuchte, mich bei der Eisenbahnkreuzung anzuhalten; aber ebensogut hätte er versuchen können, einen Blitz mit den Händen zu fangen.«

 

Er lehnte die Maschine an die Hauswand, dann ging er mit Ferraby ins Haus. Als sie oben waren, wurde der Kuchen gebracht, damit Super ihn ansehen konnte.

 

»Oh, der sieht gut aus. Ich werde ihn mitnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben. Können Sie sich auf den Distrikt besinnen, aus dem der Bote mit dem Kuchen kam?«

 

»Ich glaube, es war Trafalgar Square«, sagte die alte Dame.

 

Sie hielten bei der Polizeiwache an, um den Kuchen dort abzugeben. Super hinterließ Instruktionen, ihn in der Frühe des nächsten Morgens in einer versiegelten Kiste zu der staatlichen Untersuchungsstelle zu bringen. Dann machte er sich auf den Weg, den Boten herauszufinden. Jim überredete ihn, seine Spektakelmaschine auf der Wache zu lassen, und sie fuhren in einer Taxe nach Trafalgar Square.

 

Hier hatte Super keine Schwierigkeit, die Angabe der alten Dame bestätigt zu finden. Das Paket mit dem Kuchen war offensichtlich von einem Mann gebracht worden, von dem man keine genaue Beschreibung geben konnte. Anscheinend war er der Bote des wirklichen Absenders.

 

»Irgendein Vagabund, den er auf der Straße für ein paar Groschen aufgelesen hat«, sagte Super. »Wir werden ihn ohne Annoncieren in der Zeitung nicht finden. Und dann ist es außerdem noch wahrscheinlich, daß er sich mit dem natürlichen Instinkt dieser verschlagenen Menschen nicht meldet.«

 

»Es wäre aber doch möglich, daß es kein Verbrecher war.«

 

»Es war ein Landstreicher, und alle Landstreicher sind Verbrecher«, sagte Super, der sich gern in Allgemeinplätzen erging.

 

Er verließ das Botenbüro am Trafalgar Square, trat an den Rand des Bürgersteiges und betrachtete nachdenklich das Nelson-Denkmal.

 

»Ich möchte zu Lattimer gehen. Er ist irgendwo in der Stadt. Das ist der richtige Mann, den ich auf die Spur dieses Vagabunden hetzen kann – er hat einen natürlichen Hang zu Leuten, die nicht arbeiten wollen. Ich werde diese Sache doch Scotland Yard melden müssen. Gerne tue ich es nicht – dieser langnasige Kommissar wird wahrscheinlich einen anderen Mann mit der Sache betrauen und verdirbt mir dann meine ganzen Nachforschungen.«

 

Mit offensichtlichem Widerstreben ging er nach Whitehall hinunter. Als er nach Scotland Yard kam, überzeugte er sich zu seiner größten Genugtuung davon, daß kein höherer Beamter zugegen war, der ihm die Untersuchung aus den Händen hätte nehmen können. Trotzdem konnte er seinen Bericht über die letzte Entwicklung erstatten.

 

Obgleich Jim nur wenig mitzuteilen hatte, berichtete er doch Elfa telefonisch das Resultat seiner Nachforschungen.

 

»Glauben Sie, daß der Kuchen vergiftet war?«

 

»Super ist dessen nicht ganz sicher – wir werden es erst morgen erfahren.«

 

Als er hörte, wie ängstlich sie sprach, tat es ihm leid, daß er überhaupt etwas gesagt hatte.

 

Als er wieder mit Super zusammenkam, machte ihm der geniale Beamte ein merkwürdiges Geständnis.

 

»Ich habe so eine Idee, daß es besser wäre, wenn ich recht bequem zur Wache zurückfahre. Wo ist Ihr alter Autobus?«

 

»Er steht hier in der Nähe in einer Garage – ich will Sie gerne zurückbringen. Ich dachte nur, Sie wären mit Ihrer höllischen Radaumaschine verheiratet.«

 

»Man kann kaum sagen, daß ich verheiratet bin«, meinte Super.

 

Jim fuhr in einer Taxe zur Garage und holte Super dann in der Polizeistation ab. Der alte Mann wartete mit seiner Feuerfliege, und sie hoben sie auf den Gepäckhalter auf der Rückseite.

 

»Es ist doch merkwürdig, wie Einfälle und Gedanken zu einem kommen. Mir geht es gerade wie Mr. Cardew – mitten in der Nacht kommen sie. Gerade in diesem Augenblick habe ich eine großartige Idee, über die ich sehr erfreut bin.«

 

Trotzdem lehnte er es ab, sie Jim mitzuteilen. Die Rückfahrt ging schnell und ohne Zwischenfall vonstatten.

 

»Kommen Sie doch bitte herein«, sagte Super. »Ich will Sie nicht lange aufhalten. Es ist aber möglich, daß neue Nachrichten eingetroffen sind.«

 

Er hatte recht. Der diensttuende Sergeant berichtete, daß ein Motorradfahrer zur Station gekommen sei.

 

»Er sagte, daß jemand auf der Landstraße zwei Schüsse auf ihn abgegeben habe, etwa einen Kilometer von der Stadt entfernt.«

 

Super seufzte zufrieden.

 

»Sie haben ihn doch nicht etwa getroffen? Ich vermute, daß sie die Schnelligkeit, mit der er fuhr, nicht richtig beurteilten. Er gehört wahrscheinlich zu den Motorradfahrern, die nicht mehr als 60 km Stundengeschwindigkeit aus ihrer Maschine herausholen können. Wenn ich nun auf Feuerfliege mit meinen 90 km vorbeigerast wäre, hätte mich die Kugel sicher erwischt.«

 

»Sie?« fragte Jim verwundert. »Wollte man denn auf Sie schießen?«

 

»Sie können getrost darauf wetten, daß man die Absicht hatte, mich niederzuknallen«, sagte Super ruhig. »Sie haben vorher davon gesprochen, daß ich mit meiner Feuerfliege verheiratet wäre. Ich will ja gerade, daß die Leute das denken sollen. Ich möchte nicht gerne, daß man erfährt, daß Feuerfliege ab und zu Witwe ist.«

 

Jim verstand jetzt, warum Super es vorgezogen hatte, im Auto zurückzukehren. Angenommen, die Explosion der Schießfalle in der vorigen Nacht wäre kein Unfall gewesen, und man hätte es auf sein Leben abgesehen, so wäre er ein leichtes Ziel für Leute gewesen, die aus dem Hinterhalt auf ihn schossen. Der Lärm seines Motorrades war kilometerweit zu hören. Später stellte es sich heraus, daß auch der Motorradfahrer, auf den man geschossen hatte, eine verhältnismäßig laute Maschine fuhr.

 

»Ich werde über nichts mehr erstaunt sein, was auch geschieht«, sagte Super mit philosophischer Ruhe. »Aber man muß es ihnen lassen, sie haben schnell gehandelt. – Ist Lattimer schon zurück?«

 

»Nein«, sagte der diensttuende Sergeant, »er ist noch in der Stadt.«

 

Aber hier sagte er etwas, was der Wirklichkeit nicht entsprach; denn Lattimer saß in diesem Augenblick auf einem Zaun zwischen zwei hohen Sträuchern in dem verlassenen Teil einer Londoner Landstraße. Er hatte eine Pistole in der Hand und war sehr ärgerlich über seinen Vorgesetzten, denn er hatte nicht gesehen, daß Super vorbeigefahren war.

 

Kapitel 19

 

19

 

Es schien Jim Ferraby das Natürlichste von der Welt, am Morgen einen Besuch in Cubitt Street zu machen. Er wartete geduldig, bis Elfa herunterkam, und brachte sie auf dem leider allzu kurzen Weg von der Cubitt zu der Weymouth Street. Er konnte sich nicht damit entschuldigen, daß die Strecke auf seinem Wege lag; denn es war tatsächlich ein so großer Umweg, daß seine Fahrt fast verdoppelt wurde. Elfa machte ihn darauf aufmerksam und bat ihn am Abend mit noch größerer Dringlichkeit, sich ihretwegen keine so großen Umstände zu machen. Mr. Leigh hatte einen guten Tag verbracht und fast die ganze Zeit geschlafen. Die Pflegerinnen berichteten, daß er die Nacht über meistens wachte.

 

»Er muß sich in den letzten Jahren angewöhnt haben, bei Tage zu schlafen und in der Dunkelheit umherzuwandern«, sagte sie. »Ich glaube fast, daß er mich heute nachmittag erkannt hat. Er schaute so verwundert auf mich, als ob er versuchte, sich etwas oder irgend jemand ins Gedächtnis zurückzurufen. Gerade bevor ich zu Ihnen herunterkam, fragte er mich, ob ich ihn nicht mit zum Meer nehmen könne. Er sagte, er müsse nach drei und vier schauen. Und wie mir die Vorsteherin erzählte, hat er sie gestern abend dasselbe gefragt. Haben Sie eine Ahnung, was er mit drei und vier meinen könnte?«

 

»Ich muß die Aufklärung Super überlassen. Haben Sie den Arzt gesprochen?«

 

Sie hatte den Doktor gefragt, und er hatte ihr mitgeteilt, daß die Operation auf nächsten Sonnabend festgesetzt sei. Nachdem er verschiedene Versuche angestellt hatte, war er überzeugt, daß Mr. Leigh wieder vollständig hergestellt werden könnte.

 

Als Elfa morgens Jim traf, fragte sie sofort nach dem Kuchen, und er antwortete aalglatt, daß der Amtschemiker keine Spur von Gift gefunden habe. Sie schien aber nicht überzeugt zu sein und wiederholte ihre Frage auf dem Rückweg nach Cubitt Street.

 

»Ich bin bei Super gewesen, und er sagte mir, daß kein Gift gefunden wurde.« Aber trotz dieser Versicherung war Elfa Leighs Argwohn nicht eingeschläfert.

 

»Ich habe mich heute schon mit dem Gedanken beschäftigt, ob mein Vater irgend etwas von der Mordtat gesehen haben kann oder ob er den Mörder kennt. Um Mittag fuhr ich nach King’s Bench Walk und suchte Mr. Cardew auf. Er nimmt an, daß der Anschlag auf meinen Vater gestern abend nur aus dem Grund verübt wurde, weil er Dinge sah, die in dem Haus an der Küste vorgingen. Mein Vater lebte in einer Höhle, von der aus man Beach Cottage sehen konnte. Aber Sie wissen das natürlich. Super erzählte mir heute, daß die Höhle von der Polizei durchsucht wurde und man nach dem Ergebnis annehmen muß, daß mein Vater jahrelang dort gelebt hat. Er pflegte sich gewöhnlich spät abends an der Außenseite der Klippe an einer Strickleiter herunterzulassen und vor Tagesanbruch wieder zurückzukehren. Dann zog er die Strickleiter hinter sich in die Höhe. Sie war so weiß, von Kreide, daß Mr. Minter erklärte, man hätte sie auch am Tage nicht wahrnehmen können, wenn er sie hätte hängen lassen.«

 

»Sie haben Super also schon gesehen?«

 

Minter hatte schon einen kurzen Besuch im Krankenhaus gemacht, aber er hatte wohlweislich den Bericht des Chemikers über den Kuchen verheimlicht.

 

Nachdem Jim sie bis zur Tür ihrer Wohnung gebracht hatte, zögerte er noch eine Weile und wartete, daß sie ihn einladen würde, näher zu treten.

 

»Ich werde heute abend sehr ungastlich sein und Sie ohne eine Tasse Tee nach Hause gehen lassen – ich bin entsetzlich müde.«

 

Wieder erklärte er, daß eine Tasse Tee im Park sehr angebracht sei, die Müdigkeit zu verscheuchen, besonders wenn man eine schöne Kapelle dazu spielen höre. Aber er hatte keinen Erfolg bei ihr.

 

»Ich wünschte, es wäre alles vorüber«, sagte sie. »Ich habe eine Ahnung … so eine furchtbare Ahnung, daß Gefahr droht … und daß sich noch etwas Schreckliches ereignet.«

 

»Sie sprechen so, als ob Sie wirklich noch eine Tasse Tee nötig hätten«, sagte Jim einladend. Aber sie lächelte ihn zum Abschied an, und die Haustür schloß sich hinter ihr.

 

Jim wußte nicht, was er anfangen sollte. Er hatte sich für den Abend freigemacht, und obgleich zu Hause Arbeit auf ihn wartete, fühlte er sich doch sehr unbehaglich, als er daran dachte.

 

Es war ein so schöner Abend. Er wollte nicht gern allein essen, und mechanisch wandte er seinen Wagen nach Westen. Zuerst hatte er die Absicht, Super zu besuchen, aber als er bei ihm vorsprach, erfuhr er, daß der Oberinspektor mit unbekanntem Ziel fortgegangen sei. Auch Lattimer war nicht zu sehen. So fuhr er nach Barley Stack und hatte die Genugtuung, Mr. Cardew anzutreffen, der auf dem Rasenplatz vor seinem Haus auf und ab ging. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und die Stirn in tiefe Falten gelegt. Als er das Auto hörte, drehte er sich um und grüßte mit der Hand.

 

»Wenn ich heute abend gern noch jemand gesehen hätte, dann sind Sie es, obgleich ich keinen besonderen Grund habe, ausgenommen … Nun wohl, ich vermute, daß ich noch unter dem Eindruck von Hannas Tod leide. Es scheint mir noch so unmöglich und unwahrscheinlich, daß ich jede Minute erwarte, ihre laute Stimme zu hören« – er zögerte – »ich möchte nicht undankbar sein … die arme Hanna!« Er seufzte tief. »Die Dienerschaft zeigt gerade keine große Trauer, wie ich zu meinem Bedauern festgestellt habe und wie man eigentlich hätte erwarten sollen. Hanna war streng, aber trotzdem hatte sie ihre guten Seiten, die leider niemand recht verstand.«

 

Sie waren zusammen bis zum äußersten Ende des Rasens gegangen und zu einem kleinen, schmalen Grasstreifen gekommen, der im rechten Winkel abbog. Von ihrem Platz aus hatten sie einen freien Blick auf Hill Brow. Irgend etwas Düsteres liegt in dem Aussehen dieses großen, roten Hauses, dachte Jim. Da hörte er einen Ausruf seines Begleiters.

 

»Es ist doch heute abend zu warm, um einzuheizen!«

 

Aus einem der großen Kamine von Hill Brow kam eine weiße Rauchwolke.

 

»Zufällig weiß ich, daß dieser Schornstein mit dem Kamin in Mr. Elsons Arbeitszimmer in Verbindung steht. Ich möchte nur wissen, warum er an einem solchen Abend wie heute ein Feuer anmacht.«

 

Die beiden Männer standen schweigend und beobachteten den sonderbaren Vorgang. Anscheinend wurde der Kamin sehr ausgiebig geheizt, denn die dicke Rauchwolke verminderte sich keineswegs.

 

»Vielleicht verbrennen sie Kehricht aus dem Garten«, meinte Jim.

 

Mr. Cardew schüttelte den Kopf.

 

»Er hat einen besonderen Verbrennungsofen für solche Zwecke in seinem Garten. Außerdem ist um diese Jahreszeit alles grün, und es fallen noch keine Blätter von den Bäumen.«

 

Jim beobachtete den Kamin und bezweifelte, daß das Vorkommnis so wichtig war, wie der Anwalt dachte.

 

»Möglicherweise räumt er unter seinen alten Papieren auf – ich habe auch jedes Jahr einmal das Bedürfnis, so etwas zu tun. Dabei überlege ich mir nicht, ob das Wetter auch dazu angetan ist.«

 

Mr. Cardew lächelte geheimnisvoll.

 

»Ich kenne unseren Freund zwar nicht sehr genau«, erwiderte er, »aber er kommt mir nicht wie ein Mann vor, der immer alles ordentlich aufräumt – ich bin nur gespannt, was er dort oben verbrennt.« Er schaute sich um und rief den treuherzig dreinschauenden Gärtner, den Jim schon von früheren Besuchen her kannte.

 

»Bringen Sie doch bitte einen Brief zu Mr. Elson«, sagte er und verschwand im Haus, um ihn zu schreiben.

 

Als der Mann hinübergegangen war, erklärte ihm Cardew seine schlaue Absicht.

 

»Ich habe Elson für morgen zum Abendessen eingeladen, nicht weil ich ihn gerne bei mir haben möchte, sondern weil mein Gärtner ihn allein im Hause finden wird, wenn er nach Hill Brow kommt.«

 

»Was soll das denn beweisen?« fragte Jim.

 

»Daraus will ich nur ersehen, ob Elson während dieses großen Feuerwerks aus irgendwelchen dringenden Gründen seine Dienerschaft wegschickte. Und nun möchte ich Ihnen etwas sehr Interessantes zeigen.«

 

Jim folgte ihm in sein Arbeitszimmer, und vermutete, was Cardew mit diesem ›Etwas‹ meinte, als er einen großen Gegenstand auf dem Bibliothekstisch sah, der in Packpapier eingeschlagen war. Cardew entfernte die Hüllen, und Jim sah ein genaues Modell von Beach Cottage vor sich.

 

»Ich ließ es von einem Modellmacher herstellen, der es mir in vierundzwanzig Stunden baute«, sagte er mit verzeihlichem Stolz.

 

»Das Dach nehme ich jetzt ab.« Bei diesen Worten hob er es hoch, so daß man die kleinen Räume darunter genau sehen konnte. »Der Mann hat noch keine Farben aufgemalt, aber das ist nicht so wichtig. Auch muß ich mich auf mein Gedächtnis verlassen, was den Standort der verschiedenen Möbel angeht. Dieses«, er zeigte mit einem Bleistift auf einen Raum, »ist die Küche. Das Modell ist maßstäblich genau hergestellt. Sie können sogar die Türbolzen an der Hintertür sehen – und hier ist das Verbindungsfenster zwischen Küche und Speisezimmer.« Er öffnete das kleine Fensterchen. »Nun muß ich Sie an eine bedeutungsvolle Tatsache erinnern«, sagte er nachdrücklich. »Von dem Augenblick, da Hanna Shaw in das Haus eintrat, bis zu jenem Zeitpunkt, als sie oder ein anderer wieder herauskam, sind vermutlich weniger als fünf Minuten vergangen. Also ist es ganz klar, daß sie oder die beiden sofort in die Küche gingen – ich frage Sie, warum?«

 

»Um den Brief zu holen.«

 

Cardew sah ihn bestürzt an.

 

»Den Brief?« sagte er schnell. »Was meinen Sie für einen Brief?«

 

»Es war ein Brief, der an den Leichenbeschauer in West Sussex gerichtet war. Super fand den Briefumschlag und einen losen Ziegel in der Küche, unmittelbar unter dem Tisch, wo dieses Dokument offensichtlich verborgen war.«

 

Mr. Cardews Kummer war sehr komisch.

 

»Einen Brief?« fragte er wieder. »Das ist doch bei der Verhandlung neulich nicht angegeben worden, und das widerspricht auch meiner Theorie ganz bedeutend. Ich wünschte wirklich, daß dieser Super nicht so mit seinen Nachrichten zurückhielte!«

 

»Wahrscheinlich hätte ich Ihnen überhaupt nichts über den Briefumschlag sagen sollen.«

 

Mr. Cardew setzte sich nieder und betrachtete das Modell düster.

 

»Es könnte doch zu meiner Theorie passen«, sagte er schließlich. Aber man merkte, daß die frühere Zuversicht von ihm gewichen war. »Ich wollte nicht zugeben, daß ein anderes Motiv für die Ermordung vorhanden sei«, fuhr er fort. »Der Briefumschlag war an den Leichenbeschauer gerichtet? Soll das heißen, daß ein Selbstmord vorliegt?«

 

»Nein, selbst Super nimmt das nicht an«, sagte Jim lächelnd. Aber er tadelte sich schon, daß er Supers Geheimnis dem Rivalen mitgeteilt hatte.

 

»Es ist merkwürdig, daß ich plötzlich den Gedanken an Selbstmord hatte; aber es ist ja keine Waffe in der Küche gefunden worden, und dieser Umstand macht einen Selbstmord unmöglich.«

 

»Außerdem war die Haustür von außen verschlossen«, bemerkte Jim. Cardew nickte.

 

»Ja, ich muß jetzt wieder ganz von vorn anfangen, aber sicher werde ich eine befriedigende Lösung finden. Ich achte Oberinspektor Minter, der jedoch nach meiner Meinung einer etwas ungeschickten Methode folgt, die vielleicht im großen und ganzen gute Resultate erzielt. Aber in diesem Fall bin ich überzeugt, daß er keinen Erfolg haben wird.«

 

Er nahm ein Heft von seinem Schreibtisch und drehte die Seiten in seinem Manuskript um. Jim war erstaunt über den Fleiß dieses Mannes. Eine Seite war ganz mit Zeitangaben und Maßen bedeckt. Auf einer anderen Seite war eine rohe Skizze von der Seefront des Hauses. Verschiedene Linien liefen waagerecht über die Zeichnung und gaben die einzelnen Höhen der Flut zu bestimmten Stunden an. Zahlreiche Fotografien, die das Haus von den verschiedensten Seiten zeigten, lagen auf dem Schreibtisch. Es war auch eine Landkarte von Sussex da, auf die Mr. Cardew mit roter Tinte Linien eingetragen hatte. Jim vermutete, daß damit die verschiedenen Wege angedeutet werden sollten, auf denen der Mörder hätte entfliehen können. Sie waren beide in die Betrachtung der Papiere vertieft, als der Gärtner zurückkam.

 

»Ich habe Mr. Elson Ihren Brief gegeben, Sir.«

 

»Hat er Ihnen selbst die Tür geöffnet?« fragte Cardew schnell.

 

»Ja. Es dauerte fünf Minuten, bevor er herunterkam. Ich glaube, daß die Dienstboten alle ausgegangen sind.«

 

Cardew lehnte sich überlegen in seinen Stuhl zurück.

 

»Wie war er denn angezogen? Haben Sie aufgepaßt, ob sein Gesicht und seine Hände normal aussahen?«

 

»Seine Hände waren schwarz«, entgegnete der Gärtner. »Es machte den Eindruck, als ob er damit die Kaminröhre ausgewischt hätte. Er war nur mit Hose und Hemd bekleidet und sah sehr erhitzt aus.«

 

Mr. Cardew lächelte wieder.

 

»Ich danke Ihnen«, sagte er, und als sich die Tür schloß, schaute er Jim unverwandt an.

 

»Es geht etwas dort vor, ich wußte es doch. – Nun fragt es sich, wie weit hängt dieses merkwürdige Betragen mit dem Tod der armen Hanna zusammen? Erinnern Sie sich, daß er Hanna gut kannte und daß er sie heimlich traf? Ich weiß aus dem Gerede der Dienstboten nach ihrem Tode, daß sie häufig Besuche in Hill Brow machte. Es ist auch eine erwiesene Tatsache, daß Elson seit dem Todesfall nicht mehr nüchtern war. Früher hat er schon schwer getrunken, aber jetzt hat er jede Hemmung verloren. Zwei der Mädchen haben gestern den Dienst verlassen, und sein Diener geht noch diese Woche fort. Elson geht in der Nacht im Haus umher und hat öfter Anfälle, in denen er vor Angst laut aufschreit.«

 

Cardew stand auf, deckte das Dach über das Modell und packte es dann sorgfältig wieder ein.

 

»Bis jetzt sind meine Nachforschungen nur abstrakter Natur gewesen. Aber ich will mich jetzt auf ein neues Gebiet wagen, wozu ich eigentlich meinen Jahren nach nicht mehr geeignet bin.«

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Jim.

 

»Ich wollte sagen, daß ich jetzt das Geheimnis von Hill Brow aufklären werde«, sagte Mr. Cardew.

 

Kapitel 2

 

2

 

Der junge Beamte hörte mit bewunderungswürdiger Geduld zu.

 

»Ich habe Sullivan festgenommen, weil er vorige Nacht in der Nachbarschaft des Tatortes schlief. Praktisch hat er schon eingestanden, daß er versuchte, in das Haus einzubrechen.«

 

»Nehmen Sie die Maße seiner Ohren und betrachten Sie ihre Form.« Bei diesen Worten nahm Super seinen Federhalter auf. »Haben Sie schon bemerkt, daß Verbrecher und Halbverrückte Ohren haben, die so groß wie Wandschirme sind? Das steht alles in dem Buch, und das Buch kann doch nicht lügen. Der Detektivberuf ist nicht mehr das, was er einst war, mein lieber Sergeant. Wir brauchen jetzt mehr Physiognomiker und mehr Chemiker. Wenn ich mir so einen richtigen Detektiv von heute vorstelle, sehe ich einen Mann vor mir, der in einer feinen Villa wohnt, in einem kostbaren Armsessel sitzt und ein Mikroskop, einen Blutfleck und etwas Londoner Straßenschmutz vor sich hat. Wenn er diese Dinge zusammenmischt, dann kann er Ihnen sagen, daß die Juwelen von einem linkshändigen Mann gestohlen wurden, der in einem grünlackierten Packard, letztes Modell, fuhr. Sind Sie schon einmal einem Mann mit Namen Ferraby begegnet?«

 

»Mr. Ferraby von der Staatsanwaltschaft?« fragte der Sergeant interessiert. »Ja, ich sah ihn, als er neulich hier war.«

 

Super nickte. Seine Kiefer schlössen sich wie eine Rattenfalle, und dann zeigten sich zwei Reihen gesunder Zähne, als er lachte.

 

»Der ist kein Detektiv«, sagte Super mit Nachdruck. »Der versteht sich nur auf die Gesichter der Leute. Wenn der zugezogen würde, um die geheimnisvolle Sache mit dem Rajah von Bong aufzuklären, dessen Armbanduhr verlorenging, würde er zunächst entdecken, daß der Großwesir, oder wie der Kerl heißt, so ein Ding bei Veltheims Tag- und Nachtleihhaus versetzt hat, und dann würde er den Wesir schnappen und gefangensetzen. Aber ein wirklicher Detektiv würde nicht so töricht handeln. Der würde erst folgern, daß die Uhr im Kampf mit einer jungen, schönen Stenotypistin abgerissen wurde, die hinter einer geheimen Tapetentür verborgen sitzt, mit einem Knebel im Munde, vollständig gefesselt und soweit verpackt, daß sie von diesen verdammten Indern nach dem Lapislazulipalast gebracht werden kann. Der alte Cardew, das ist ein Detektiv! Das ist ein Mann, an dem Sie sich ein Beispiel nehmen müssen, Sergeant!«

 

Super zeigte mit dem Ende seines Federhalters bedeutsam auf seinen Untergebenen.

 

»Er kennt sich in der Psychologie aus, er versteht etwas von der Form der Ohren, er weiß, was ein vorstehendes Kinn und ein unsymmetrisches Gesicht bedeuten und wieviel ein Gehirn wiegen kann – und noch viel mehr so schöne Dinge. In Barley Stack hat er eine große Bibliothek, in der nur Bücher über Verbrechen stehen.«

 

Wenn Super erst anfing, von dem ausgezeichneten Amateurdetektiv Gordon Cardew zu sprechen, dann war schwer etwas mit ihm anzufangen. Der Sergeant seufzte leise und respektvoll.

 

»Wollen Sie Sullivan sprechen, Super? Er hat praktisch schon eingestanden, daß er nach Hill Brow kam, um einen Einbruch zu verüben.«

 

Super schaute drohend um sich, dann nickte er plötzlich zum größten Erstaunen Lattimers.

 

»Ich will ihn sehen, lassen Sie ihn hereinkommen.«

 

Der Sergeant erhob sich schnell und verschwand in dem anstoßenden Raum. Einige Minuten später kehrte er mit einem großen, wenig appetitlichen Landstreicher zurück, der sehr verwirrt aussah.

 

»Dies ist Sullivan«, meldete der Beamte.

 

Super legte seine Feder hin, nahm seine Brille ab und schaute den Gefangenen an.

 

»Was hast du da vorhin erzählt …, daß dieser Strolch dich nicht nach Hill Brow hineinließ?« fragte er unerwartet. »Und wenn du lügen willst, Sullivan, dann lüge wenigstens so, daß es glaubwürdig erscheint.«

 

»Es stimmt, Super«, sagte der Landstreicher heiser. »Und wenn ich in dieser Minute sterben soll – der schwachsinnige Kerl hat mich beinahe umgebracht, als ich das Fenster öffnen wollte. Und wir hatten doch vorher alles so genau ausgemacht – er sagte mir sogar die Stelle, wo der Amerikaner sein Geld aufbewahrt. Und wenn ich diesen Augenblick sterben soll …«

 

»Das wirst du nicht tun – Landstreicher sterben überhaupt nicht«, bemerkte Super bissig. »Sullivan? Jetzt weiß ich Bescheid. Du bist doch damals wegen Raubes zu drei Jahren verurteilt worden … Lukas Markus Sullivan – ich erinnere mich genau an deine Heiligennamen!«

 

Lukas Markus bewegte sich unruhig hin und her, aber bevor er widersprechen und seine Unschuld beteuern konnte, fuhr Super fort: »Was weißt du von diesem verrückten Landstreicher?«

 

Sullivan wußte nur wenig. Er hatte ihn in Devonshire getroffen, hatte aber schon vorher durch andere ›Ritter‹ der Landstraße von ihm gehört.

 

»Er ist nicht ganz richtig im Kopf, Super, das sagen alle. Er geht im Land umher und singt vor sich hin, er schließt sich keiner größeren Gesellschaft an und führt so merkwürdige Reden – so vornehmes Zeug – und dann spricht er immer in fremden Sprachen.«

 

Super lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

 

»Das hast du nicht aus den Fingern gesogen, dazu hat dein Gehirn nicht das nötige Gewicht. Wo hat er denn seine Bleibe?«

 

»Er kampiert überall. Aber ich glaube, daß er doch irgendwo eine feste Wohnung hat, wahrscheinlich in der Nähe des Meeres. Als ich die eine Woche mit ihm zusammen auf der Straße wanderte, fragte er mich öfters, ob ich Schiffe gern hätte, und dann erzählte er mir, daß er ihnen ganze Tage lang auf der See zuschaute und feststellte, welche nicht untergehen könnten. Er ist wirklich verrückt. Nachdem wir ausgemacht hatten, daß wir in das Haus einbrechen wollen – was meinen Sie, was er zu mir gesagt hat? Er hat mich angefahren, als ob er ein böser Hund wäre. ›Fort‹, sagte er – genauso, wie ich es jetzt sage, Super –, ›fort, deine Hände sind nicht rein genug, um …‹, und dann kam noch etwas von Gerechtigkeit … der ist verrückt.«

 

Der Oberinspektor sah den Mann lange Zeit an, ohne zu sprechen. Sullivan war es nicht wohl dabei.

 

»Dir bleiben die Lügen ja im Hals stecken«, meinte Super schließlich. »Du kannst die Wahrheit gar nicht sagen, du hast so sonderbare Augen! Bringen Sie ihn wieder hinter Schloß, und Riegel, Sergeant – wir werden ihn hängen!«

 

Super schaute düster und bewegungslos auf das Tintenfaß und hielt den Federhalter in der Hand. Sullivan saß wieder in seiner Zelle, und der Sergeant hatte sein Mittagessen noch nicht ganz beendet, als Super sich wieder erhob. Er schnitt ein Gesicht, als ob er Schmerzen empfände, zog die Pantoffeln aus, die er unweigerlich während der Bürostunden trug, und zog mit einem Seufzer seine zerrissenen Stiefel an.

 

Lattimer war beim Pudding, als sein Vorgesetzter in das Beamtenzimmer trat.

 

»Wissen Sie irgend etwas über diesen Amerikaner Elson? Bleiben Sie aber ruhig sitzen und essen Sie weiter.«

 

»Man sagt, daß er sehr reich sei.«

 

»Das habe ich auch schon herausgebracht«, meinte Super. »Wenn ein Mann in einem großen Haus lebt, drei Autos und zwanzig Dienstboten hat, dann kann ich mir an meinen fünf Fingern abzählen, daß er in den besten Verhältnissen lebt. Ich werde ihn jetzt aufsuchen.«

 

Super hatte ein Motorrad, das in der ganzen Gegend verrufen war. Es verhielt sich zu einem anständigen Motorrad wie etwa eine Spelunke zum Buckingham-Palast. Jedes Frühjahr nahm er seine Maschine fast vollständig auseinander, und während Sergeant Lattimer bestürzt zuschaute, reinigte er sie und setzte sie wieder zusammen. Und dann gab er ihr ein ganz anderes Aussehen, denn er hatte eine Vorliebe dafür, die Farbe der alten Maschine zu ändern. Einmal erstrahlte sie in einem leuchtenden Grün, ein andermal war sie feuerrot. In einem Jahr hatte er sie sogar weiß und die Speichen himmelblau angestrichen. Er konnte an keinem Farbengeschäft vorbeigehen, ohne sich neue Emaillefarben zur Verschönerung seines Rades zu kaufen. In dem kleinen Schuppen hinter seinem Haus standen die Farbtöpfe reihenweise auf den Wandbrettern. An das Kriegsjahr, in dem er ein Dutzend kleiner Probenäpfe dazu benützte, seiner Maschine einen Tarnanstrich zu geben, erinnern sich noch sämtliche Polizeibeamten Londons.

 

Aber es war immerhin noch ein brauchbares Motorrad. Der Zweizylinder war wunderbarerweise außerordentlich leistungsfähig und machte eine große Geschwindigkeit möglich. Die früher blanken Teile der Maschine waren längst mit Farbe übermalt, der Sitz war mit vielen Lederstrippen repariert, und die Reifen hatten ein so auffälliges Muster, daß selbst das kleinste Kind in einem Dorf, wenn es nur die Spuren des Rades sah, sagen konnte, daß Super vorbeigekommen und in welcher Richtung er gefahren war.

 

So ratterte er denn seinen Weg entlang bis nach Dewlag Hill und fuhr an der hohen, roten Ziegelmauer von Hill Brow vorbei. Dann stieg er ab, stieß das Tor auf und ging zwischen den Ulmen durch, die die Zufahrt zu dem Haus von Mr. Elson einfaßten. Er lehnte sein Motorrad an einen Baumstamm, ging langsam zu dem großen Gebäude, stieg die breiten Stufen empor und blieb in der offenen Eingangshalle stehen. Sie war leer, aber er hörte die Stimmen einer Frau und eines Mannes. Der Schall drang aus einem Raum, der mit der Halle in Verbindung stand. Der Türflügel war nur angelehnt. Plötzlich sah er vier kürze, dicke Finger um die Kante der Tür greifen. Er schaute sich nach einer elektrischen Klingel um und bemerkte, daß sie in der Mitte des Haustores war. Er ging eben darauf zu, um auf den Knopf zu drücken …

 

»Heirat, aber sonst nicht, Steve! Ich bin lange genug zum Narren gehalten worden. Versprechen, Versprechen – immer nur Versprechen … Ich werde krank, wenn ich nur davon höre! Geld! Was bedeutet mir das? Ich bin ebenso reich wie Sie …«

 

In diesem Augenblick wurde die Tür ganz geöffnet, und Super konnte die Frau sehen. Er erkannte sie, obgleich sie ihm den Rücken zukehrte. Es war Hanna Shaw, die unfreundliche Hausdame von Barley Stack. Einen Augenblick schaute er verwundert auf die Gestalt, schlüpfte dann leise zur Tür, stieg schnell über das Geländer der Treppe und verschwand. Hanna hatte nicht einmal seinen Schatten bemerkt. Aber um ganz sicher zu sein, daß seine Anwesenheit nicht bekannt wurde, schob Super sein Motorrad erst einen Kilometer weit, bevor er es wieder bestieg.

 

Kapitel 20

 

20

 

Sergeant Lattimer wartete die Dunkelheit ab, ehe er seine Wohnung verließ. Er machte einen Umweg durch einsame Straßen und näherte sich langsam dem Haus des Amerikaners. Er ging nicht durch die Vordertür, sondern er benutzte eine kleine Öffnung in der Hecke, die er genau kannte. Nachdem er sich durch das Dickicht hindurchgezwängt hatte, kam er zu der kleinen grünen Pforte in der Mauer. Diesmal war Mr. Elson nicht anwesend, um ihn zu erwarten, noch war seine Gegenwart nötig. Lattimer steckte einen Schlüssel ins Schloß, trat ein, schloß wieder hinter sich zu, und nach einem kurzen Umhersehen eilte er vorsichtig über den Kiesweg zum Haupteingang. Er klopfte nicht. Er hatte etwas vor, das er schnell erledigen wollte. Aus seiner Tasche nahm er ein Stück weißes, auf der Rückseite gummiertes Papier, feuchtete es an und drückte es gegen, das mittlere Paneel der Eingangstür. Als das geschehen war, ging er halb um das Haus herum und kam zu zwei Türfenstern, die sich auf den Rasenplatz öffneten. Er klopfte leise. Eine Zeitlang kam keine Antwort. Als er wieder klopfte, hörte er das Rücken eines Stuhles und bemerkte, wie die schweren Vorhänge beiseite gezogen wurden. Elsons erschrockenes Gesicht sah ins Dunkle.

 

»Sie sind es?« grollte er.

 

»Ja, ich«, erwiderte Lattimer lakonisch. »Sie können Ihren Revolver einstecken, es will Ihnen niemand etwas tun.«

 

Er zog die Vorhänge dicht hinter sich zusammen, fiel in einen Stuhl und langte mechanisch nach der offenen Zigarrendose.

 

»Super ist in die Stadt gegangen«, sagte Lattimer.

 

»Meinetwegen kann er in die Hölle gehen«, knurrte Elson.

 

Die Anzeichen seiner schweren Trunkenheit waren deutlich sichtbar. Sein Gesicht war kaum wiederzuerkennen. Seine Hände und seine Lippen zitterten bei dem geringsten Anlaß.

 

»Ich darf wohl Sagen – Super geht überallhin, wenn es sich um einen interessanten Fall handelt.«

 

»Er sollte vorsichtiger sein«, begann der Mann laut; aber Lattimers erhobene Hand und sein erschrockener Gesichtsausdruck dämpften seine Stimme.

 

»Es ist nicht notwendig, deshalb ein Geschrei zu erheben.«

 

»Ich habe nichts damit zu tun.«

 

»Vielleicht denkt er das«, sagte Lattimer und biß das Ende der Zigarre mit seinen starken Zähnen ab. »Sie wissen nie, was Super denkt. Ich bin neugierig, ob er mich verdächtigt. Er gab mir heute morgen eine lange Lektion über den Vorteil des Bekehrens von Kronzeugen.«

 

Elson feuchtete seine Lippen an.

 

»Ich sehe nicht ein, was das mit Ihnen oder mit mir zu tun hat«, begann er.

 

»Wir wollen nicht ins Persönliche kommen«, sagte Lattimer nachlässig. »Ich werde einen kleinen Schluck Whisky nehmen, der ganze Rest bleibt Ihnen – haben Sie heute ein Freudenfeuer angezündet?«

 

»Wie? Was meinen Sie?«

 

»Ich sah Ihren Schornstein rauchen. Es ist doch wohl zu warm, um zu heizen.«

 

Elson antwortete nicht gleich.

 

»Ich habe eine Menge altes Zeug weggeschafft«, sagte er dann kurz.

 

Sie rauchten fünf Minuten lang schweigend.

 

»Sie waren heute morgen in der Stadt«, stellte Lattimer fest.

 

Der Mann sah ihn mißtrauisch an.

 

»Ich wollte einmal aus diesem verfluchten Nest heraus. Ich kann doch wohl noch in die Stadt gehen, nicht wahr?«

 

»Was für eine Kabine haben Sie bekommen?«

 

Elson sprang entsetzt auf.

 

»Vermutlich nahmen Sie nicht die direkte Linie nach New York?«

 

»Woher wissen Sie das?« keuchte Elson.

 

»Ich vermutete es. Ich habe schon lange das Gefühl. Und natürlich bedrückt es mich«, sagte Lattimer lässig, »wenn ich sehe, daß mir eine Einkommensquelle versiegt.«

 

»Ich dachte, Sie nannten mein Geld ›Darlehen‹«, grinste Elson. »Ich möchte wissen, warum ich Ihnen überhaupt etwas gab.«

 

»Ich bin nützlich. Ich mag am nächsten Sonnabend noch nützlicher sein. Natürlich können Sie niemand brauchen, der weiß, daß Sie das Land verlassen wollen. Ich vermute, Sie sind in Kanada sicherer …«

 

»Ich bin überall sicher«, rief Elson heftig. »Ich sage Ihnen, ich habe nichts mit der Polizei zu tun.«

 

»Das haben Sie mir schon so oft erzählt, daß ich es beinahe glaube. Nur heraus damit, Elson, warum so eilig?«

 

»Ich habe England satt«, sagte Elson mürrisch. »Seit Hanna tot ist, bin ich mit den Nerven fertig. Sagen Sie, Lattimer, was ist aus diesem Landstreicher geworden?«

 

»Dem Burschen, den Super aufgriff? Ach, der ist irgendwo in London. Warum?«

 

»Ich weiß nicht – es interessierte mich nur«, sagte Elson heiser. »Ich sah ihn in meinem Garten an jenem Morgen, an dem er eingefangen wurde – mein Chauffeur war auf der Straße, als Minter ihn fing. Diese Sorte von Landstreichern ist mir unheimlich. Er ist doch verrückt, nicht wahr?«

 

»Verrückt? Ja, ich glaube – wenigstens Super glaubt es. Ich habe nicht die Erlaubnis, etwas zu denken, wenn Super in der Nähe ist.«

 

»Hören Sie, Lattimer« – Elson beugte sich vor und dämpfte seine Stimme zu einem heiseren Flüstern – »Sie kennen das Gesetz dieses Landes … niemand achtet darauf, was ein verrückter Bursche sagt, nicht wahr? Ich meine, die Richter? Gesetzt den Fall, er erzählt etwas – er verleumdet Menschen oder so etwas? Man würde doch nicht darauf achten, nicht wahr?«

 

Lattimer sah ihn durchdringend an. »Warum erschrecken Sie so?« fragte er.

 

»Ich erschrecke nicht«, keuchte Elson. »Ich bin nur neugierig. Ich habe eine Erinnerung, als ob ich diesen Burschen in Amerika irgendwo getroffen hätte. Mag sein in Arizona. Ich war Farmer und beschimpfte ihn – das habe ich mit vielen Leuten gemacht. Sie verstehen, was ich meine? Das ist das einzige, worüber ich besorgt bin.«

 

Er log, und Lattimer wußte, daß er log.

 

»Ich glaube nicht, daß sie groß Notiz von dem nehmen, was ein Verrückter sagt – ich hoffe, sie werden es nicht tun. Aber er wird nicht mehr lange verrückt sein. Super erzählt mir, daß er operiert werden soll und daß große Hoffnung auf seine Wiederherstellung besteht.«

 

Elson sprang auf, sein Gesicht zuckte.

 

»Das ist eine Lüge! Eine Lüge! Er kann nicht recht haben! Gott, wenn ich das gewußt hätte! Wenn ich das gewußt hätte!«

 

Lattimer beobachtete ihn unentwegt. Kein Muskel seines scharfen Gesichtes regte sich.

 

»Ich dachte es mir. Das ist der Mann, der Sie in der Hand hat. Sie können aber ruhig sein: Es wird Tage und Wochen dauern, bevor John Leigh reden kann – wenn er überhaupt jemals redet.«

 

Elson wurde ruhiger, und es fiel ihm etwas in Lattimers Ton auf, als er sich zu der halbleeren Whiskyflasche wandte.

 

»In welchem Verhältnis stehen Sie zueinander?«

 

Der Sergeant zuckte die Schultern.

 

»Ich habe nichts mit ihm zu tun.«

 

Elson bewegte sich nicht. Sein aufgedunsenes Gesicht war Lattimer zugekehrt.

 

»Nehmen wir an, daß er nicht so verrückt ist, wie Sie glauben. Man sagt, daß er in einer Höhle oder so etwas oben bei den Klippen in der Nähe von Beach Cottage gehaust hat. Es ist doch sehr leicht möglich, daß er nicht weit entfernt war, als Hanna dort hinausfuhr. Was denken Sie darüber?«

 

Lattimer lachte und blies eine Rauchwolke zur Decke empor.

 

»Was würden Sie dazu sagen?« fragte er dann eindringlich.

 

»Sie haben unrecht, wenn Sie glauben, daß ich irgend etwas mit Leigh zu tun habe. Natürlich habe ich von ihm gehört, aber ich habe ihn niemals gesehen, bis Super ihn verhaftete – ich wußte selbst nicht, daß er verhaftet war, als ich ihn sah. Er saß mit Super im Büro und trank Tee.«

 

Elson hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und lauschte angestrengt. Plötzlich zog er seine Uhr.

 

»Meine Dienerschaft kommt zurück«, sagte er.

 

»Kommt jemand hier herein?«

 

»Nein, nur wenn ich läute.«

 

Aber während er noch sprach, klopfte es schon an der Tür. Lattimer erhob sich schnell und schlüpfte hinter die Fenstervorhänge, als Elson zur Tür ging und aufschloß. Es war der Diener.

 

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte er, »ich wollte Sie nicht stören …«

 

»Nun ja, aber warum haben Sie mich dann gestört?« fragte Elson.

 

»Ich weiß nicht, Sir, ob Sie den Zettel an der Tür gesehen haben. Ich konnte ihn nicht abreißen, denn er ist mit der ganzen Fläche angeklebt.«

 

»Ein Zettel an der Tür?« fragte Elson mit veränderter Stimme. »Wovon sprechen Sie eigentlich?«

 

Er ging hinter dem Diener her und eilte quer durch die Halle. Die Lichter brannten bereits. Er sah das weiße, viereckige Papier auf der Türfüllung, las es langsam und traute seinen Augen kaum.

 

»Zuerst Hanna Shaw. Sie werden der nächste sein, der stirbt.«

 

Er faßte sich mit der Hand an die Kehle und versuchte zu sprechen, aber er konnte nur ein ängstliches Ächzen und Stöhnen hervorbringen. Er taumelte zu seinem Arbeitszimmer zurück, warf die Tür krachend hinter sich zu und schloß sie ab.

 

»Lattimer«, rief er keuchend. »Lattimer!«

 

Er sah hinter die Vorhänge, aber der Sergeant war bereits auf dem Weg verschwunden, auf dem er gekommen war.

 

Kapitel 21

 

21

 

Von Supers Hinterhof kam der vertraute Spektakel des Motorrades, den alle Leute so gut kannten, die im Umkreis von einem Kilometer wohnten. Einst hatten mehrere gute Freunde und Gönner eine Subskription eröffnet, um Super die neueste und geräuschloseste Maschine zu kaufen. Sie wurde ihm in Gegenwart des Majors und der ganzen Spitzen des Ministeriums überreicht. Es dauerte genau eine Woche, dann war diese schöne Maschine plötzlich verschwunden! Super erzählte den Leuten eine ergreifende Geschichte, wie er mit dem Motorrad Schiffbruch erlitten hatte. Aber es war ein offenes Geheimnis, daß er es auf einer öffentlichen Auktion verkauft und sich von dem Erlös einen Brutapparat für seine Hühner gekauft hatte. Außerdem wurde davon auch Feuerfliege neu angestrichen, und er zahlte noch eine beträchtliche Summe auf der Bank ein.

 

Es war noch sehr früh am Morgen, und die meisten Bürger waren noch nicht auf. Super hatte seine Maschine auf dem Küchentisch vollständig auseinandergenommen und war gerade dabei, ein Stück des Motors zu reparieren, das nur durch sein eigenes Herumbasteln in Unordnung geraten war.

 

Ein Beamter stand in respektvoller Haltung, ebenfalls in Hemdsärmeln, neben ihm. Er verstand etwas von Motoren und Maschinen und wurde deshalb stets bei solchen Gelegenheiten zugezogen, um allem, was Super sagte, seine Zustimmung zu geben. Und in Supers Augen blieb er auch nur so lange eine Autorität in mechanischen Dingen, wie er seinen Ansichten beistimmte.

 

»Lärm ist natürlich, mein lieber Sergeant«, sagte Super, als er mit einem Schlüssel eine Schraube festzog. »Haben Sie schon einmal gehört, daß jemand einen Schalldämpfer für den Donner erfand?«

 

»Nein, Sir.«

 

»Das Schaf blökt, und die Rinder brüllen.«

 

»Ich schlug Ihnen nur vor, sich einen besseren Schalldämpfer für Ihren Motor anzuschaffen«, sagte der Beamte respektvoll.

 

»Das wäre Geldverschwendung, Sergeant. Außerdem lieben alle Leute das Geräusch der Feuerfliege. Sie drehen sich dann nachts in ihren Betten um und sagen: Es ist alles in Ordnung, Super ist unterwegs.«

 

Super ließ seinen Motor Probe laufen, und es drehten sich wirklich viele Leute in ihren Betten um, ohne allerdings über das Geräusch sehr erfreut zu sein.

 

»Aber Super, wäre es nicht unangenehm, wenn ein Dieb, der in eine einzelne Villa einbricht, schon von weitem hört, daß Sie ankommen?«

 

»Die hören überhaupt nicht, wenn ich komme«, sagte Super und schaute seinen Untergebenen groß und erstaunt an. »Das Geräusch dieser Maschine ist wie das Sprechen eines Bauchredners. Sie glauben, es kommt von rechts, während es tatsächlich von links kommt. Aber was ist denn eigentlich heute mit Ihnen los, Sergeant? Sie streiten dauernd mit mir herum. Zum Donnerwetter, man kann ja überhaupt nicht mehr zu Wort kommen!«

 

Infolgedessen schwieg der Sergeant von jetzt ab. Super beendete seine Arbeit zu seiner größten Zufriedenheit, steckte seine Pfeife an, betrachtete den Morgenhimmel und fand das Wetter gut.

 

Nachdem er das Hühnerhaus revidiert und die Eier eingesammelt hatte, ging er hinein, um sich vollständig anzuziehen. Er trocknete sich gerade mit seinem rauhen Badehandtuch ah, als Lattimer sich zum Dienst meldete.

 

»Wo waren Sie eigentlich vorige Nacht, Lattimer?« fragte Super und brummte ihn über die Ecke seines Handtuches an.

 

»Es war meine freie Nacht.«

 

»Wie ich so jung war, da gab es so etwas wie freie Nacht überhaupt nicht«, sagte der alte Mann bissig. »Bringen Sie mir die Post.«

 

Lattimer kam mit einem kleinen Paket amtlicher Briefe zurück.

 

»Das ist eine Rechnung, da ist wieder eine Beschwerde über Feuerfliege, das ist ein Steckbrief, ein Brief von dem durchtriebenen Kerl im Finanzministerium«, murmelte Super vor sich hin, als er Umschlag für Umschlag durch die Finger gleiten ließ. »Und das ist der Brief, den ich haben will.«

 

Es war ein einfacher Briefumschlag, wie Lattimer bemerkte, und er hatte einen gedruckten Kopf, den er nicht lesen konnte.

 

»Hm!« sagte Super, als er den Inhalt überflogen hatte. »Haben Sie schon einmal etwas von Akonit gehört?«

 

»Nein – ist es ein Gift?«

 

»Es ist schon ein bißchen giftig – soviel wie ein Stecknadelkopf würde Sie unter die Erde bringen, Lattimer, obgleich es mich nicht umbringen würde, denn ich bin stärker und robuster als Sie und bringe meine Nächte nicht mit Jazz und Charleston zu und tanze nicht immer gleich mit einem ganzen Dutzend Mädchen herum.«

 

»Ist es der Bericht des Gerichtschemikers?« fragte Lattimer.

 

»Ja. Sie können einmal nachforschen und herausfinden, ob jemand Akonit gekauft hat. Für gewöhnlich wird so etwas nicht gehandelt. Fragen Sie einmal in Scotland Yard nach. Haben Sie noch nichts von Akonit gehört?«

 

Super schloß gerade seinen Kragen und richtete seine verzweifelten Blicke zur Decke.

 

»Nein, das Zeug ist mir unbekannt.«

 

»Ich wette, daß der alte Cardew, dieser berühmte Amateurdetektiv, Ihnen ein Dutzend Fälle an den Fingern aufzählen kann, in denen Leute mit Akonit getötet wurden.«

 

»Leicht möglich«, stimmte Lattimer bei.

 

»Ich kann Giftmörder nicht leiden«, sagte Super vergnügt und band seine Krawatte mit ungewöhnlicher Sorgfalt. »Es ist ungefähr die niedrigste Art von Mördern, und außerdem gestehen sie niemals ihre Tat ein. Wissen Sie das, Lattimer? Ein Giftmörder gesteht niemals, selbst wenn ihm schon der Strick ums Genick gelegt ist.«

 

»Ich wußte das nicht«, sagte Lattimer geduldig.

 

»Ich möchte aber wetten, daß der alte Cardew es weiß. Und ich wette obendrein, daß er Bücher über Mörder und Giftmorde hat, daß Ihnen die Haare zu Berge stehen. Ich muß mir doch tatsächlich ein Abonnement für eine wissenschaftliche Bibliothek zulegen. Ich bin so weit hinter meiner Zeit zurück, daß ich mich bei der erstbesten Gelegenheit blamieren kann.«

 

Er erledigte seine amtliche Korrespondenz in äußerst kurzer Zeit. Dann bestieg er seine Maschine, um verschiedene wichtige Besuche zu machen. Sie wären vielleicht nicht wichtig gewesen, aber Super hielt sie eben für wichtig. Eine Viertelstunde lang war er in der Telefonzentrale und fragte den Leiter der Station aus. Dann verbrachte er ungefähr zwei Stunden auf der Polizei in High Street und erwarb sich in dieser Zeit eine außerordentliche Kenntnis über verschiedene Arten von Schreibpapier, Wasserzeichen und anderen Erkennungszeichen. Danach informierte er sich kurz in einem Schreibmaschinengeschäft. Als er dann aber weit von seinem Bezirk entfernt die Seitenstraßen durchwanderte, die vom Strand abzweigen, begannen erst seine eigentlich wichtigen Nachforschungen.

 

Jim sah ihn zufällig, als er mit Elfa zum Green Park fuhr. Zu seinem Mißvergnügen bestand sie darauf, daß er anhielt. Sie fuhren ungefähr hundert Meter zurück, um den weit ausschreitenden alten Super einzuholen.

 

»Wir fahren nach Kensington Garden, wollen Sie nicht mitkommen?« fragte sie.

 

Super drehte sich nach dem Wagen um.

 

»Ich glaube nicht, daß junge Leute meine Gegenwart lieben, Miss Leigh. Ich bin niemals ein Spielverderber gewesen und gehöre nicht zu den Menschen, die jungen Liebesleuten im Wege sein wollen.«

 

»Unsere Herzen sind zwar jung«, sagte Elfa, »aber sie lieben sich nicht.« Sie wurde sehr rot dabei. »Mr. Ferraby ist nur immer sehr freundlich zu mir.«

 

»Wer würde nicht freundlich zu Ihnen sein?« fragte Super. »Sind Sie denn auch sicher, daß Mr. Ferraby nichts dagegen hat?«

 

»Warum sollte er denn etwas dagegen haben?«

 

Super stieg zögernd ein.

 

»Ich sagte gerade, daß. es mir sehr fernliegt, zu stören, wenn zwei junge Leute allein sein wollen.«

 

»Wir sind sehr erfreut, Sie zu sehen, Super«, sagte Jim etwas steif.

 

»Ich bin der Meinung, daß junge Leute noch viel Zeit haben, sich in die Augen zu schauen, sich an den Händen zu halten und so weiter. Und man braucht nicht gerade den Kopf zu verlieren, wenn irgend so ein alter Onkel ins Zimmer kommt, ohne vorher zu husten oder anzuklopfen. Ich selbst bin niemals verliebt gewesen«, sagte er ganz traurig. »Ich habe früher einmal so eine Affäre mit einer Witwe gehabt – habe ich Ihnen jemals von dieser temperamentvollen Dame erzählt?«

 

»Ich bin überzeugt, daß sie sich sehr nach Ihnen gesehnt hat, als Sie sie verließen«, meinte Jim etwas boshaft.

 

»Das hat sie auch wirklich getan. Sie hat sich nur zollweise an unsere Trennung gewöhnt. Und dann möchte ich noch bemerken, daß der Teller, den sie mir an den Kopf warf, haarscharf vorbeiging.«

 

Es war das erste und einzige Mal, daß er die Art und Weise erwähnte, wie er mit seiner temperamentvollen Witwe auseinanderkam.

 

»Ich bin dafür, daß die Menschen sich in jungen Jahren heiraten. Wenn sie alt genug geworden sind, um sich scheiden zu lassen, haben sie sich schon so aneinander gewöhnt, daß sie es bleiben lassen.«

 

»Heute abend sind Sie aber sehr lustig aufgelegt«, sagte Jim und mußte trotz seiner schlechten Stimmung lachen.

 

»Ich bin niemals lustig um diese Tageszeit.«

 

Als sie an der Wache im Hyde Park vorbeifuhren, stand der Posten stramm und präsentierte das Gewehr. Super zog feierlich den Hut und dankte.

 

»Er grüßte doch den Offizier auf der anderen Seite«, erklärte Elfa. Super schüttelte traurig den Kopf.

 

»Ich dachte, man würde mich auf meine alten Tage doch noch anerkennen. Man müßte eigentlich jedesmal die Kirchenglocken läuten, wenn ich nach London komme.«

 

Bei der dritten Tasse Tee erwähnte er so nebenbei, warum er zur Stadt gekommen war, und sagte plötzlich in seiner charakteristischen, sprunghaften Weise: »Miss Leigh, der Kuchen ist vorher präpariert worden. Ich will Ihnen nichts vormachen, Sie würden mir ja doch nicht glauben.«

 

»Er war also vergiftet?« fragte sie und wurde blaß. Super nickte.

 

»Ich glaube, daß Ihr Vater einen Feind hat, der nicht wünscht, daß er wieder zu Verstand kommt. Es ist möglich, daß er zu viele Dinge von seiner kleinen Höhle aus sah. Vermutlich war es aber etwas, bevor er – bevor sein Geist Schaden litt. Wenn Sie mich fragen, wer es tat, so kann ich Ihnen darauf keine Antwort geben, weil ich Ihnen das nicht sagen darf. Und wenn ich es Ihnen auch wirklich sagte, so hätte ich doch noch keinen Beweis dafür und könnte den Mann nicht verhaften.«

 

Seine Blicke wanderten über die Nachbartische.

 

»Als ich ein junger Beamter war, wäre es mir nie eingefallen, wie ein feiner Herr herumzulaufen und Eiscreme zu essen.« Der Übergang von einem Gegenstand zum andern war so plötzlich, daß Elfa bestürzt war. Aber Jim, der Supers merkwürdige Gewohnheiten kannte, folgte seinen Blicken. An einem der äußeren Tische sah er ein bekanntes Gesicht.

 

»Haben Sie Lattimer hierher bestellt?«

 

Super schüttelte den Kopf.

 

»Eiscreme essen«, sagte er entrüstet. »Wie ein junges Mädchen! Als ich in dem Alter war, habe ich kameradschaftlich ein oder mehrere Glas Bier getrunken.«

 

»Hat er Sie gesehen?« fragte Jim mit leiser Stimme.

 

»Sicher hat er mich gesehen. Dieser Lattimer sieht alles. Er ist so ähnlich wie die bekannte Spinne mit den vierzig Millionen Augen.«

 

Aber wenn Lattimer ihn auch gesehen hatte, so ließ er sich doch nichts merken. Er aß seelenruhig sein Eis und genierte sich nicht im mindesten, als Super aufstand, zu ihm hinkam und ihm gegenüber Platz nahm. Jim bemerkte, wie der alte Mann auf ihn einsprach. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war Super in seiner bissigsten Gemütsverfassung.

 

Als er zurückkam, rief Lattimer den Kellner, zahlte und verschwand etwas plötzlich.

 

»Ich habe ihm die striktesten Anweisungen gegeben, die Wache nicht zu verlassen – und hier ißt er Eiscreme wie ein Backfisch! Haben Sie eine Uhr bei sich, Mr. Ferraby? Ich habe keine. Früher hat man einmal davon gesprochen, daß man mir eine verehren wollte, aber dieser Plan kam nicht zur Ausführung. Wenn Sie noch eine alte Uhr haben, die Sie nicht brauchen, so können Sie sie mir geben.«

 

Als Jim die genaue Zeit gesagt hatte, stand er auf.

 

»Ich muß nun gehen. Ich habe Feuerfliege in der Bayswater Road stehen, das ist ja nur ein paar Schritte von hier.«

 

Mit einer kurzen Verbeugung vor Elfa war er gegangen, bevor sie auch nur eine von den Fragen an ihn richten konnte, die sie sich zurechtgelegt hatte.

 

Von ihren Plätzen aus konnten sie die Straße und die Brücke überschauen, die über den See führte. Als Super fortging, sah Jim einen Mann quer über die Straße gehen und ihm in respektvoller Entfernung folgen. Es war Lattimer.

 

»Ich bin nur neugierig, was Lattimer eigentlich macht. Super sagte doch, daß er ihn zur Polizeiwache zurückgeschickt hat, aber er scheint den Befehl nicht so schnell ausführen zu wollen.«

 

Die beiden blieben noch eine halbe Stunde sitzen und plauderten sorglos miteinander. Dann gingen sie zum Wagen, der auf der Seite der Straße parkte. Jim war schon eingestiegen, als ihn jemand beim Namen rief.

 

»Entschuldigen Sie, Mr. Ferraby.«

 

Jim schaute sich um, und sein Blick fiel auf ein unbekanntes Gesicht. An den zerrissenen Schuhen und dem verbeulten Strohhut des Mannes sah man deutlich, daß er ein Landstreicher war.

 

»Können Sie sich nicht mehr auf mich besinnen – ich bin Sullivan, der Gentleman, gegen den Sie damals so liebenswürdig waren, in Old Bailey als Staatsanwalt aufzutreten.«

 

»Donnerwetter!« sagte Jim leise. »Sie sind also der Verbrecher, den man eigentlich hätte einsperren müssen?«

 

»Ja, das stimmt«, sagte der andere und ließ sich nicht im mindesten einschüchtern. »Können Sie mir nicht etwas Geld für ein Nachtlogis geben? Ich habe eine Woche lang draußen im Freien geschlafen.«

 

Jim; der wenig Lust hatte, seine Bitte zu gewähren, schaute sich nach einem Polizisten um. Aber anscheinend hatte sich Sullivan schon vorher genau umgesehen, ob jemand von der Polizei in der Nähe war. Jim sah ein Lächeln auf dem Gesicht Elfas und wandte sich zu ihr um.

 

»Dies ist der arme Kerl, über den wir damals gesprochen haben, Elfa. Sie besinnen sich, daß ich die Anklage gegen ihn vertrat?«

 

»Das haben Sie gut gemacht«, sagte Sullivan devot. In diesem Augenblick sah Jim, wie eine berittene Polizeipatrouille um die Ecke bog; aber Sullivan sah sie auch.

 

»Geben Sie mir doch ein paar Shilling«, sagte er plötzlich mit dringlicher Stimme. »Sie helfen mir damit außerordentlich. Das einzige Geld, das ich mir verdienen konnte, war ein Shilling, den ich gestern abend von einem Herrn bekam, weil ich einen Kuchen nach Trafalgar Square brachte.«

 

Die scharf umherblickenden Polizisten kamen näher, und Sullivan wandte sich, um zu entschlüpfen; aber Jim hielt ihn am Arm fest.

 

»Kommen Sie einmal mit, mein Freund. Was ist das für eine Geschichte, die Sie da erzählen, daß Sie einen Kuchen fortgetragen haben? Wer hat Ihnen den gegeben?«

 

»Irgend so ein Mensch – ich habe ihn früher nie gesehen. Er hielt mich plötzlich am Themseufer an und fragte mich, ob ich mir nicht einen Shilling verdienen wollte. Ich will Sie nicht belügen, Sir, es ist wahr. Ich sollte ein Paket für ihn zu dem Botenbüro des Bezirks bringen.«

 

»Haben Sie sein Gesicht gesehen?« fragte Jim schnell.

 

Sullivan schüttelte den Kopf.

 

Die Patrouille war jetzt neben ihnen. Der eine Polizist brachte sein Pferd zum Stehen und schaute mißtrauisch auf den Landstreicher. Jim trat auf die Straße, stellte sich mit ein paar Worten vor und erzählte ihm, was Sullivan soeben mitgeteilt hatte.

 

»Ja, Sir, wir hatten eine entsprechende Benachrichtigung in unserem Tagesbefehl«, sagte der Polizist und zeigte auf Sullivan. »Sie können mit mir gehen, und wenn Sie den Versuch machen fortzulaufen, schieße ich Sie über den Haufen.«

 

An demselben Abend wurde Sullivan Super zur Vernehmung vorgeführt. Super war durchaus nicht mit seinem Bericht einverstanden. Zunächst hatte er das Gesicht des Fremden nicht gesehen, und dann war es ihm auch in keiner Weise möglich, seine Identität auf irgendeine andere Art festzustellen.

 

»Er hat sehr eindringlich mit mir gesprochen. Zuerst dachte ich, er wäre ein Detektiv.«

 

»Sage mir, was du wirklich meinst«, sagte Super milde. »Ich kenne die Redeweise der gewöhnlichen Leute sehr gut. Er benahm sich wie ein Detektiv – meintest du das?«

 

»Ja, die ganze Art und Weise, wie er mir den Auftrag gab, ließ mich das annehmen.«

 

Super sprach mit dem Polizisten, der Sullivan auf der Wache eingeliefert hatte.

 

»Hat man ihn in dem Büro dem Boten gegenübergestellt? Gut, ich erinnere mich, daß Mr. Ferraby sagte, du hättest ihn um Geld für ein Nachtlogis gebeten. Also heute abend bekommst du eins, und es hat noch den großen Vorteil, daß es dich nichts kostet. – Bringen Sie ihn in die Zelle!« sagte Super mit einer freundlichen Handbewegung.

 

Sullivan verließ unter Protest den Raum.

 

Kapitel 22

 

22

 

Mr. Gordon Cardew war ein Leser, der alles verschlang. Er hatte mehr Bücher gelesen, als die Bibliothek eines durchschnittlichen Gentleman überhaupt enthält, nachdem er sich von seiner Praxis zurückgezogen hatte. Es war seine Gewohnheit, ein Buch mit zu Bett zu nehmen, denn er konnte nicht gut schlafen. Und um sich die frühen Morgenstunden zu vertreiben, begann er seine Lektüre dort, wo er am Abend vorher aufgehört hatte. Seit Jahren waren seine Studien ausschließlich der Wissenschaft gewidmet. Wenn man dies Super gegenüber nur erwähnte, so konnte man sicher sein, Hohn und Spott zu ernten. Anthropologie kann aber ein sehr anregendes Studium sein, und die trockenen Akten toter Verbrecher sind oft anziehender und aufregender als irgendein moderner Roman. Cardew entdeckte, daß kein Tag verging, an dem er nicht seine Kenntnisse vergrößerte und seinen Überblick über die Kriminalistik erweiterte.

 

Er lag noch zu Bett und las in Mantegazzas wohlgemeintem, aber vollkommen verkehrtem Traktat über Physiognomik. Seine Aufmerksamkeit war geteilt zwischen den Theorien dieses großen Kriminologen und der voraussichtlichen Fortführung der Leichenschauverhandlung, als das Dienstmädchen hereinkam und ihm den Morgentee brachte. Sie stellte ihn auf den Tisch an seinem Bett.

 

»Mr. Minter ist da, Sir.«

 

»Minter?« sagte Cardew und sprang auf. »Wieviel Uhr haben wir denn?«

 

»Halb acht Uhr, Sir.«

 

»Minter um diese Zeit? Sagen Sie ihm, daß ich in ein paar Minuten komme.«

 

Er schlüpfte schnell in seinen Schlafrock, zog Pantoffeln an, nahm seine Teetasse mit und ging die Treppe hinunter. Er fand Super in der Halle steif auf einem Stuhl sitzen.

 

»Ich habe einen Kerl in der Zelle sitzen, der Sullivan heißt«, erklärte er, indem er direkt auf seine Angelegenheit zu sprechen kam. »Ich vermute, daß Sie sich nicht an ihn erinnern. Er versuchte, in Elsons Haus einzubrechen …«

 

»Oh, ich erinnere mich sehr genau an die näheren Umstände. Er war doch der Mann, gegen den Mr. Ferraby Anklage erhob.«

 

»Deshalb kam er ja auch frei«, sagte Super unliebenswürdig. »Er wurde gestern abend wieder eingeliefert. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, daß ich darüber sehr beunruhigt bin, Mr. Cardew. Und ich wäre auch nicht hierhergekommen, denn um ehrlich zu sein – ich halte nichts von Ihren Theorien über Anthropologie und so weiter. Aber Sie sind ein Anwalt, und ich bin ein unwissender, alter Mann. Ich habe den Eindruck, daß dieser Mensch irgend etwas vor mir geheimhält und daß er mehr weiß, als er mir sagen will. Ich habe alle möglichen Methoden angewandt, um ihn zum Reden zu bringen, aber er kommt nicht heraus mit der Sprache und verrät das nicht, was ich brauche. Ich habe mich immer von Ihren Ideen und Mitteilungen ferngehalten, weil ich ein altmodischer Polizeibeamter mit altmodischen Methoden bin. Vergrößerungsgläser und Chopinsche Sonaten haben in meinem Leben nichts bedeutet. Aber ich bin ein aufgeschlossener Mann und habe niemals aufgehört weiterzulernen.«

 

Er machte eine Pause und schien zu warten, was Mr. Cardew darauf sagte.

 

»Gut, was soll ich tun?«

 

»Sie sind Anwalt«, sagte Super mürrisch. »Sie sind gewöhnt, mit solchen Burschen umzugehen und sie zu vernehmen …«

 

»Sie wollen, daß ich ein Kreuzverhör mit ihm anstelle? Aber das ist doch sehr ungewöhnlich. Warum nehmen Sie nicht Mr. Ferraby?«

 

»Er klagte Sullivan an, und Sullivan wurde freigesprochen«, sagte Super verächtlich. »Natürlich brauchen Sie nicht zu kommen, es war nur ein Gedanke von mir. Er kam mir um Mitternacht«, fügte er hinzu. »Es ist sonderbar, wie einem die Gedanken mitten in der Nacht kommen.«

 

»Ganz richtig«, sagte Mr. Cardew eifrig. »Wenn Sie sich erinnern – ich fand meine Theorie über den Mord um zwei Uhr morgens.«

 

»Ich besinne mich nicht auf die genaue Zeit, aber es wird schon so gewesen sein.«

 

Mr. Cardew überlegte. »Gut«, sagte er dann. »Wenn Sie es nicht für unpassend halten, daß ich den Mann ausfrage, will ich kommen. Aber ich warne Sie, ich bin in der kriminellen Praxis nicht erfahren.«

 

Super machte kein Hehl aus seiner Erleichterung.

 

»Ich lag im Bett und ärgerte mich über diesen Sullivan – er ist ein richtiger Windhund. Manche mögen denken, ich würde mich nicht herablassen, um Rat zu fragen, aber ich gehöre nicht zu der Sorte. Man kann von jedem lernen!«

 

Er schien sich nicht bewußt zu sein, daß seine Worte nicht sehr dankbar klangen; aber Mr. Cardew war nicht beleidigt.

 

»Nun sagen Sie mir, warum der Mann verhaftet wurde und was Sie herausbringen wollen.«

 

»Versuchter Mord«, sagte Super. »Mitschuldig vor oder bei der Tat.« Als er die Überraschung in dem Gesicht des Anwalts sah, erklärte er ihm kurz den Fall.

 

»Dieser Sullivan nahm einen kleinen Kirschkuchen von einem Fremden am Themseufer. Er sollte ihn mit einem Brief zu dem Botenbüro am Trafalgar Square bringen, und alles sollte in einem Krankenhaus in Weymouth Street abgeliefert werden. In diesem Kuchen war Gift – Akonit. Sullivan sagt, daß er den Mann nicht kenne, der ihm das Paket gab, und er lügt wie ein Hund! Aber so geschickt ich auch bin, ich konnte nichts weiter aus ihm herausbringen.«

 

Mr. Cardew verzog die Lippen.

 

»Ein außergewöhnlicher Fall«, sagte er schließlich. »Sie meinen es ernst … Sie haben mich nicht – zum besten?«

 

»Ich wünschte, ich hätte Sie zum besteh. Nicht, daß ich dazu fähig wäre, aber ich wünschte es wirklich!«

 

Der Rechtsanwalt stützte sein Kinn auf die Hand und schaute nachdenklich drein.

 

»Eine sonderbare Geschichte – sie scheint kaum glaublich im zwanzigsten Jahrhundert – mitten im Zentrum der Zivilisation …«

 

»Und Kultur«, meinte Super, als Cardew eine Pause machte.

 

»Daß sich solche Dinge ereignen können! Nun gut, Super, ich will mit diesem Mann sprechen. Meine geringe Geschicklichkeit steht zu Ihrer Verfügung. Sie bringen ihn nicht irgendwie mit dem Mord in Zusammenhang?«

 

»Sicher und gewiß tue ich das«, sagte Super.

 

Er ging zur Wache zurück und weckte Sullivan auf.

 

»Wach auf, Mensch, deine letzte Stunde auf Erden ist da«, sagte er. »Mut, mein Junge!«

 

Sullivan setzte sich auf der harten Bank auf und rieb sich die Augen.

 

»Wieviel Uhr ist es denn?« fragte er schläfrig.

 

»Zeit ist nichts für dich, du Landstreicher – und wird bald noch weniger sein«, sagte Super ebenso. »Es kommt jetzt ein erstklassiger Anwalt, der wird dein Inneres nach außen kehren. Belüge ihn nicht, mein Junge! Er ist ein Genie an Psychologie und kann in dein schwarzes Herz sehen. Und dann wirst du ihm alles über den Mann sagen, dem du am Ufer begegnet bist … und die Wahrheit!«

 

»Ich kann mich nicht auf den Mann besinnen!« sagte der erschrockene Sullivan. »Ich hätte es Ihnen gesagt, wenn ich mich an ihn erinnert hätte.«

 

Super schüttelte traurig den Kopf.

 

»Ich habe von Schwefel und Feuer gehört und was einem Burschen passiert, der nicht geradeheraus reden kann. Hast du keine Mutter gehabt, die dir etwas beigebracht hat?«

 

»Ich weiß nichts und kann Ihnen also auch nichts sagen«, schrie Sullivan beinahe. »Zum Teufel auch mit Ihrem Anwalt!«

 

»Warte!« warnte Super und drehte den Schlüssel hinter seinem Gefangenen wieder um.

 

Er schlenderte gerade dem Eingang der Wache zu, als er Cardews Limousine die Straße herunterkommen sah. Der Wagen bremste scharf, und der Chauffeur sprang auf den Gehsteig.

 

»Super, kommen Sie …! Mr. Cardew liegt chloroformiert in seinem Zimmer …«

 

»Warum haben Sie denn nicht angerufen?« schrie Super wütend, als er in den Wagen sprang.

 

»Die Drähte sind durchgeschnitten«, sagte der Mann.

 

»Dieser Großfuß denkt an alles«, murmelte Super.

 

*

 

»Ich ging in mein Zimmer zurück und legte mich wieder hin, um über Ihre ungewöhnliche Bitte nachzudenken«, sagte Mr. Cardew. Er sah kreidebleich aus und war wirklich sehr krank.

 

Er lag auf einer Couch, und das Zimmer war von Chloroformgeruch erfüllt.

 

»Ich muß geschlafen haben … ich schlief in der Nacht nicht besonders gut. Ich habe keine Erinnerung, daß etwas geschah, bis mein Diener mich an der Schulter rüttelte. Er kam zufällig in das Zimmer und sah mich mit einem Stück gefalteten Leinen über dem Gesicht liegen. Er muß meinen Feind gestört haben, denn er fand das Fenster weit offen.«

 

Super ging zum Fenster und sah hinaus. Er erblickte etwas Glänzendes auf dem Blumenbeet unmittelbar unter sich, ging die Treppe hinunter ins Freie und hob es auf. Es war eine zerbrochene Flasche mit der Aufschrift: »Cloroformit B.P.« Sie mußte erst kürzlich geöffnet worden sein.

 

Super sah zu dem offenen Fenster hinauf. Es war leicht, sich hier herunterzulassen. Es waren keine Fußspuren auf dem kleinen Blumenbeet unter der Mauer zu sehen, aber wenn jemand von dem Fenster heruntersprang, konnte er leicht das Beet vermeiden und direkt den Kiesweg erreichen.

 

Er sah auf das Schild der Flasche. Es trug in der Ecke die Initialen einer wohlbekannten chemischen Großfirma. Es würde schwierig sein, dadurch etwas herauszubekommen. Der Telefondraht lief hier die Mauer entlang. Er war sauber abgeschnitten.

 

»Dieselbe Zange, die meinen Draht durchschnitt«, sagte Super.

 

Er ging zu dem Anwalt zurück, der sich so weit erholt hatte, daß er in einem Sessel sitzen konnte.

 

»Sie haben niemand auf dem Feld gesehen – wo war denn der Gärtner?«

 

»Er ist heute morgen mit dem Umpflanzen der Töpfe im Schuppen beschäftigt. Ich hörte ein Geräusch, als ich im Bett lag. Aber ich gab nicht weiter darauf acht.«

 

»Das Fenster war offen?«

 

»Halb offen und mit einem Haken befestigt, den man leicht von außen aufheben konnte. Es war weit geöffnet, als mein Diener hereinkam.«

 

Super prüfte das gefaltete Leinen. Obwohl sich Chloroform schnell verflüchtigt, war der Stoff zwischen den Falten noch feucht. Er zog das Kissen weg, auf dem der Kopf des Anwalts gelegen hatte, und schaute dann unter das Bett.

 

Mr. Cardew, der sich krank fühlte, lächelte.

 

»Nein, ich erwarte nicht, ihn hier zu finden«, sagte Super. »Ich hatte die Idee, daß ich – etwas fände. Sie haben Ihnen die Hände nicht zerkratzt?«

 

»Meine Hände zerkratzt? Was in aller Welt?«

 

Super besah sich die Hände des Anwalts Finger um Finger, wie es seine Art war.

 

»Ich dachte, Ihre Hände würden zerkratzt sein.«

 

Er schien enttäuscht zu sein. »Das vernichtet eine meiner Theorien – ich habe immer sehr schnell Theorien. Ich werde Ihnen polizeilichen Schutz geben, Mr. Cardew.«

 

»Sie werden nichts Derartiges tun«, sagte der Anwalt nachdrücklich. »Ich kann mich sehr gut selbst beschützen.«

 

»So sieht es aus«, war alles, was Super sagte.

 

Kapitel 23

 

23

 

Die Aufgabe, die Mr. Cardew hätte übernehmen sollen, fiel an Jim Ferraby.

 

»Aber, mein lieber Super«, sagte Jim erregt. »Sie haben anscheinend nicht eher Ruhe, als bis ich erledigt bin!«

 

»Ich werde nicht eher ruhen, als bis ein gewisser Jemand erledigt ist, Mr. Ferraby«, sagte der unerschütterliche Super. »Ich würde Sie nicht bemüht haben, aber der Bursche, der an alles denkt, erwischte den größten Anthropologen des Jahrhunderts gerade in dem Moment, als er im Begriff war, alles aus diesem Dieb Sullivan herauszuholen.«

 

»Mr. Cardew? Was ist denn passiert?« fragte Jim schnell.

 

Super lachte so selten, daß Jim ihn verwundert anstarrte.

 

»Großfuß, der Schlaue, faßte ihn. Das Gehirn dieses Burschen ist so gut wie seine Füße. Wahrscheinlich lauschte er, als ich ein kleines Gespräch mit Mr. Cardew hatte. Ich. habe schon die ganze letzte Woche gewußt, daß sich etwas mit Cardew ereignen wird. Ich glaube, ich könnte ihn mit einer ganzen Schutztruppe umgeben«, amüsierte er sich; »aber wer würde jemals denken, daß sie einen Burschen fangen könnte, der auf vertrautem Fuß mit Lombosse lebt – oder wie der Name dieses Italieners sein mag.«

 

Jim sah ihn mißtrauisch an. Er war niemals ganz sicher, wie nahe Super in seinen ernsten Momenten das Lachen war.

 

»Sagen Sie mir, was vorgefallen ist«, sagte er, und Super gab ihm eine genaue Beschreibung von Cardews unglücklichem Erlebnis. Auf die dringende Bitte des alten Mannes ging er in die Zelle und unterwarf den zornigen Landstreicher eine Stunde lang einem Kreuzverhör. Super überließ ihn seiner Aufgabe.

 

»Ich erwartete auch niemals, daß es Ihnen gelingen würde«, sagte er, als Jim über seinen Mißerfolg berichtete. »Natürlich fühlt sich dieser Bursche Ihnen überlegen. Er hat Sie einmal übervorteilt. Ich wußte, daß Sie ihn nicht zum Reden bringen könnten.«

 

»Aber Sullivan spricht die Wahrheit«, sagte Jim verärgert.

 

Super schloß gelangweilt die Augen.

 

»Es ist ein Elend.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Wollten Sie nicht gehen, Mr. Ferraby?«

 

»Ja, ich gehe«, sagte Jim. »Wirklich, Super, ich weiß nicht, warum in aller Welt Sie mich hierhergeholt haben.«

 

Super sah auf die Uhr, die Zeiger deuteten auf zwei Minuten vor vier.

 

»Ich habe diesen ganzen Nachmittag mit mir selbst gekämpft und gerungen«, sagte er. »Gerechtigkeit gegen persönlichen Ehrgeiz. Und die Gerechtigkeit hat gesiegt.«

 

Er öffnete sein Pult, nahm einen blauen Schein heraus und füllte ihn sorgsam aus. Jim beobachtete ihn und war neugierig, was das bedeuten sollte.

 

»Gehen Sie noch nicht. Sie sind Beamter der Staatsanwaltschaft, und ich glaube, Sie können dies unterzeichnen.«

 

Jim sah auf das Dokument, das er ihm reichte. Es war ein Haftbefehl gegen Elson wegen unrechtmäßigen Besitzes.

 

»Wollen Sie im Ernst, daß ich das unterzeichne?«

 

Super nickte.

 

»Ja. Meines Wissens sind Sie Friedensrichter.«

 

»Aber wegen unrechtmäßigen Besitzes?«

 

»Das weiß ich nicht, bis ich ihn habe«, sagte Super. »Mr. Ferraby, ich riskiere etwas. Ich werde Sie später informieren. Geben Sie mir jetzt den Haftbefehl.«

 

Jim zögerte eine Sekunde, griff dann nach der Feder und schrieb seinen Namen auf das Papier.

 

»Gut«, sagte Super, »die Gerechtigkeit hat gesiegt. Kommen Sie mit mir – Sie werden etwas erleben.«

 

Ein Dienstmädchen erschien auf das Klopfen und bat sie, in die Halle einzutreten, bevor es die Treppe hinaufging. Sie hörten ihr Klopfen an Elsons Tür. Sie kam sofort wieder herunter.

 

»Mr. Elson ist nicht im Haus«, sagte sie. »Er geht vielleicht im Garten spazieren. Wenn Sie hier warten wollen …«

 

»Macht nichts, mein Fräulein«, sagte Super. »Wir werden ihn schon finden. Ich kenne mich hier aus.«

 

Es war nichts von Elson zu sehen. Das Dienstmädchen, das am Eingang auf ihre Rückkehr wartete, meinte, daß er vielleicht in der Wildnis sei, einem Streifen unkultivierten Landes, das einst einem singenden Landstreicher zur Flucht verholfen hatte. Die Wildnis, wie sie zutreffend hieß, lag am Fuß eines sanften Abhanges, außerhalb der roten Mauer. Von dieser Erhebung aus konnte man alles sehen, was sich bewegte; denn das Gebüsch war nicht sehr hoch.

 

»Ich will doch nicht annehmen, daß er entflohen ist«, sagte Super.

 

»Was ist denn eigentlich mit ihm los?«

 

»Ich brauche ihn – das ist alles«, sagte Super. »Ich habe den Verdacht, daß er heute morgen fort ist.«

 

»Bringen Sie ihn mit dem Mord in Verbindung?«

 

Super nickte.

 

»Aber Sie wollen ihn nicht wegen Mordes verhaften – ist das richtig?«

 

»Das ist richtig. Sie vermuten stets das Richtige.«

 

Er beschattete seine Augen mit der Hand und überschaute das Gebüsch.

 

»Hier links läuft ein Pfad«, sagte er plötzlich. »Es wird nichts schaden, wenn wir bis zum Ende des Grundstücks gehen.«

 

Was Super einen Pfad nannte, war nicht mehr als eine fußbreite Spur, die sich verschlungen hin und her zog, manchmal durch Gräben hindurchging und gelegentlich parallel mit dem Zaun lief.

 

»Ich glaube nicht, daß er hier ist«, sagte Jim. »Denken Sie wirklich, daß er fort ist?«

 

Super fuhr ihn plötzlich zu seiner Verwunderung an.

 

»Was wollen Sie eigentlich mit Ihren Fragen?« rief er in heftiger Aufwallung. »Sehen Sie nicht, daß mich diese Sache aufregt?« Dann beherrschte er sich und zeigte grinsend seine Zähne. »Setzen Sie mir nur den Kopf zurecht, Mr. Ferraby, ich habe es verdient. Ich bin heute sehr temperamentvoll, so temperamentvoll wie seit Jahren nicht mehr.«

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie verletzt habe«, sagte Jim. »Aber ich bemühte mich, Ihre Ansicht zu erfahren.«

 

»Es ist nicht wert, das zu tun, Mr. Ferraby.«

 

Jim hob die Hand, daß er schweigen solle. Von irgendwoher kam aus der Wildnis ein sonderbarer Ton – plok, plok, plok!

 

»Er fällt Holz«, sagte er; aber Super gab keine Antwort.

 

Nach weiteren fünf Minuten kamen sie an die Biegung eines Weges, der in eine schlüsselförmige Vertiefung führte. Es war notwendig, hier die Büsche beiseite zu biegen, um weiterzukommen. Super ging zuerst durch und hielt die Zweige zurück. Ferraby dachte, daß dies ein Akt der Höflichkeit sei. Dann blickte er über Supers Schultern und sah eine Gestalt in einer Blutlache. Es war Elson! Super ging vorwärts und drehte ihn um, so daß er auf dem Rücken lag.

 

»Ein-, zwei-, dreimal durchschossen«, sagte er hart. »Elson, ich hätte Sie an diesem Morgen verhaftet und Ihr Leben gerettet!«

 

Kapitel 15

 

15

 

Elfa Leigh hatte aus dem Haus in Edward Square alle persönlichen Gegenstände mitgenommen, die sie mit ihrem Vater einst geteilt hatte. Elfa war ihm sehr zugetan gewesen. Sie hatte keine Mutter mehr gehabt und liebte diesen träumerischen, etwas hilflosen Mann. Als ihr mit einem allgemein gehaltenen Ausdruck des Beileids die kurze Mitteilung von der britischen Admiralität überbracht wurde, daß der amerikanische Transporter ›Lenglan‹ mit allen Leuten an Bord untergegangen sei, betäubte sie diese Nachricht; aber sie glaubte sie nicht. Das Schiff war an der Südküste Englands während eines Sturmes von einem Unterseeboot torpediert worden und gesunken.

 

John Kenneth Leigh kehrte damals aus Washington zurück, wohin er von seinem Chef zur Beratung gerufen worden war. Während des Krieges war er Verbindungsoffizier zwischen dem englischen und dem amerikanischen Schatzamt gewesen und war in weitgehendem Maße für die finanziellen Vereinbarungen zwischen den beiden Ländern verantwortlich.

 

Als Amerika in den Krieg eintrat, wurde er dem Heer zugeteilt, und Elfa sah zwölf Monate lang wenig von ihrem Vater. Er pendelte zwischen den beiden Ländern hin und her, und es schien unvermeidlich, daß er einmal verunglücken würde, obwohl er dem Verderben oft genug mit knapper Not entkommen war.

 

Elfa mußte ein neues Leben beginnen und tat dies mit einem Mut, der über jedes Lob erhaben war. Sie gab das Haus in Edward Square auf, bezog eine Wohnung von drei Räumen im Obergeschoß des Hauses Cubitt Street Nr. 75 und baute ihr Leben neu auf.

 

Sie hatte Verwandte in den Vereinigten Staaten, aber sie zog es vor, in der Stadt zu bleiben, die ihr durch die Erinnerung an ihren Vater teuer war.

 

In der kleinen Wohnung erlangte sie allmählich ihr Gleichgewicht wieder. An den Wänden des schönen Wohnzimmers hingen die Drucke und Aquarellbilder; die ihr Vater gesammelt hatte, obgleich er kein eigentlicher Kenner war. Der alte Lehnstuhl, in dem er so gerne saß, hatte seinen Ehrenplatz neben dem Fenster, sein Pfeifenbrett hing über dem Kamin und darunter sein Säbel. Er hatte früher einmal in der amerikanischen Kavallerie gedient.

 

Elfa hatte kaum Freundinnen und nur einige wenige Bekannte. Sie ermutigte die Leute, die sie besuchten, nicht, wiederzukommen. Aber Super hatte ein gewisses Vorrecht bei ihr erlangt, und als das Dienstmädchen ihr am Montag nachmittag seine Karte brachte, sandte sie hinunter, um ihn hereinzubitten. Super stieg die drei Treppen hinauf und trat in den hübschen Wohnraum. Er hielt den Hut in der Hand, und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, das jeden erschreckt hätte, der ihn nicht kannte.

 

»Ich werde alt«, sagte er, als er seinen Hut auf das Klavier legte. »Ich kann mich noch deutlich auf die Zeit besinnen, wo ich diese Treppe mit sechs Schritten genommen hätte.« –

 

Sie konnte aus seinem Betragen nicht schließen, ob er gekommen war, ihr neue Nachrichten zu bringen oder weiter über diesen geheimnisvollen Großfuß bei ihr nachzuforschen. Vielleicht verriet die Art und Weise, wie er sein Gespräch begann, das so ziellos und sprunghaft schien, doch eine bestimmte Absicht und gehörte zu seinem System, die Leute auszufragen. Sie dachte es sich und war damit nicht weit von der Wahrheit entfernt.

 

»Sie haben ein hübsches Zimmer, Miss Leigh; es ist wirklich nett eingerichtet. Wenn Sie sagten, daß ich Platz nehmen solle, würde ich es tun. Aber wenn Sie sagten: Minter, Sie können rauchen, dann würde ich es nicht tun – nämlich nicht die Sorte Tabak, die ich gewöhnlich rauche.«

 

»Sie können beides – sich niedersetzen und rauchen«, sagte sie lachend. »Die Fenster sind weit offen, und ich habe den Geruch von Tabak sehr gern. Auch bin ich nicht wählerisch in den Sorten.«

 

»Man kann aber sehr daran zweifeln, ob das, was ich rauche, überhaupt Tabak genannt werden kann«, sagte Super und füllte seine Pfeife aus einem alten Tabaksbeutel. »Manche sagen so und manche anders. Ich nenne es Tabak … Spielen Sie Klavier, Miss Leigh?«

 

»Ja, manchmal spiele ich«, sagte sie belustigt.

 

»Das gehört doch zur guten Erziehung, und niemand ist gebildet, der nicht Klavier spielen kann. Grammophon spielen ist leicht. Haben Sie die schlechte Nacht nun überwunden?«

 

Sie nickte.

 

»Wenn ich auf der Klippe im Regen gelegen hätte, wäre ich tot«, sagte er. »Aber Sie sind noch jung und haben nichts abbekommen als Rheumatismus.«

 

»Ich habe nicht einmal Rheumatismus!«

 

»Aber Sie werden ihn bekommen. Sie haben sich Rheumatismus geholt – Sie merken es nur noch nicht, das kommt erst in zwanzig Jahren.«

 

Er setzte sich nicht nieder, sondern wanderte im Zimmer umher und sah sich die Bilder an.

 

»Hübsche Bilder – sind doch wohl Originale, Miss Leigh?« Als sie lachend bejahte, fuhr er fort: »Das kann man eigentlich nie unterscheiden. Ich habe gedruckte Reproduktionen gesehen, die gerade so gut aussahen wie handgemalte Bilder, manchmal sogar noch besser. Sie malen sicher selbst?« Er zeigte auf eine Aquarellandschaft.

 

»Nein, das Bild stammt von einem großen französischen Künstler«, entgegnete sie.

 

»Die Franzosen haben es doch weg, so etwas zu machen. Und es ist doch nur eine bestimmte Fertigkeit, die richtigen Farben an die richtige Stelle zu setzen. Das kann jeder, der darin unterrichtet ist. – Sie haben eine ganz hübsche Bibliothek.«

 

Er besah sich die Bände, die drei lange Bücherregale füllten.

 

»Haben Sie nichts über Anthropologie? – Von der Krankheit sind Sie also noch nicht befallen? Oder vielleicht haben Sie etwas über Psychologie? Ich sehe auch kein einziges Buch über Verbrechen.«

 

»Ich interessiere mich nicht sehr für Verbrechen«, sagte Elfa. »Das hier waren die Bücher meines Vaters.«

 

Er nahm einen Band heraus und blätterte langsam darin.

 

»Er fiel im Krieg. Ich bin ihm einmal begegnet.«

 

»Meinem Vater?« fragte sie schnell.

 

Er nickte.

 

»Ja, einer seiner Angestellten im Büro stahl Geld – er hatte bei den Rennen gewettet –, und ich wurde gerufen. Er war ein sehr schöner Mann – ich meine, Ihr Vater.«

 

»Er war der beste Mann auf der Welt«, sagte Elfa ruhig.

 

Super nickte beifällig.

 

»Ich höre es gern, wenn die Kinder so von ihren Eltern sprechen. Heute ist das leider anders. Immer, wenn ich heutzutage Kinder schlecht von ihren Eltern reden höre, freue ich mich, daß ich nicht geheiratet habe.«

 

»Sie sind Junggeselle?«

 

»Ich? Ja. Ich habe nur einmal in meinem Leben einen Roman erlebt, und das war nicht einmal eine Liebesgeschichte. Es war eine Witwe mit drei Kindern, aber sie war temperamentvoll, genauso wie ich. Und in einem Haus ist nun einmal kein Platz für zwei temperamentvolle Leute. Nun waren es aber im ganzen fünf, denn die Kinder waren nicht weniger temperamentvoll. Sie wollten das Frühstück ans Bett haben, und das ist doch das Temperamentvollste, was ich je erlebt habe. Ist Mr. Cardew heute ins Büro gekommen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, er hat heute morgen telefoniert. Er ist nach Barley Stack zurückgekehrt. Ich glaube, er hat sich von der Aufregung erholt, die ihm der Tod der armen Miss Shaw verursachte, denn sein Diener erzählte mir, daß er in seinem Studierzimmer bei der Arbeit säße.«

 

»Er denkt wieder neue Theorien aus und zieht psychologische und logische Schlüsse«, sagte Super düster. »Ich habe ihn heute morgen besucht, ehe ich hierherkam. Da saß er auch schon in seinem Studierzimmer bei Büchern über Anthropologie und Soziologie und Logik und all solchem Zeug. Er hatte einen Plan von seiner Villa vor sich und maß alles mit Zirkel und Maßstab nach. Dabei entdeckte er, daß es 8,60 Meter von der Küchentür bis zur Haustür sind. Er hatte auch Bücher über die Gezeiten … ein Mikroskop war noch nicht da. – Diese Art zu arbeiten kann ich nicht leiden. Er hatte auch noch keine Reagenzgläser, aber es ist möglich, daß er das alles noch hergeholt hat, nachdem ich gegangen war. Ich wollte den Plan des Hauses haben, aber er brauchte ihn selbst und überließ ihn mir nicht. Er rechnete sich alle Maße aus und auch die Flutzeiten, und dann hat er eine Sandprobe – heute abend werden wir ja erfahren, wer den Mord begangen hat.«

 

Obwohl sie über so grauenvolle Dinge sprachen, mußte sie doch lachen.

 

»Sie sind kein großer Anhänger der deduktiven Methode, Mr. Minter?«

 

»Nennen Sie mich doch Super«, bat der alte Detektiv. »Da haben Sie unrecht. Ich achte sie sehr hoch, ich glaube an die Wissenschaft. Bei der Polizei werden nicht genügend wissenschaftliche Methoden angewandt. Da fehlt es noch sehr bei uns. – Sie hat übrigens den Hut in Astors Warenhaus in der High Street in Kensington gekauft. Sie wollte diese Form haben, obgleich sie schon ein Jahr lang aus der Mode ist. Es ist eine merkwürdige Sache, daß eine Frau einen Hut kauft, der so unmodern ist.«

 

Der Übergang des Gesprächs von den verschiedenen Methoden, Verbrechen aufzuspüren, zu der realen Wirklichkeit der Kleider war so unerwartet und schnell, daß Elfa etwas verblüfft war.

 

»Meinen Sie Miss Shaw? Was für einen Hut kaufte sie denn?«

 

»Einen großen gelben Strohhut mit einem Schleier. Sie kennen die Art, die bis zur Nase heruntergeht? Sie kaufte ihn am Sonnabend, kurz bevor der Laden geschlossen wurde, und er paßte ihr nicht. Die Verkäuferin sagte ihr das. Sie muß sehr aufrichtig sein. Wenige Verkäuferinnen würden einer Kundin sagen, daß ein Hut ihr nicht stehe. Aber Hanna Shaw sagte, daß sie diese Art wünsche, und so bekam sie ihn. Sie bezahlte und nahm ihn gleich mit. Ich habe Cardew nichts davon erzählt. Solche Neuigkeiten würden ihn verrückt machen. Er würde daraus schließen, daß sie den Hut kaufte, um ihn auf dem Kontinent zu tragen, und würde Paris mit dem Zollstock nachmessen.«

 

Super trat wieder an den Bücherschrank und nahm ein Buch nach dem andern in die Hand, ließ es durch die Finger gleiten und warf nur gelegentlich einen Blick auf den Inhalt.

 

»Gab es noch einmal Eier und Kartoffeln?« fragte er plötzlich.

 

»Sie meinen in Edward Square? Nein, ich habe nichts mehr von Mr. Bolderwood Lattimer gehört.«

 

»Ich kann nicht verstehen, warum er sich selbst Bolderwood nennt. Ich dachte, nur Leute, die Smith heißen, haben so verrückte Vornamen. Lieben Sie Blumen, Miss Leigh?«

 

»Sehr.«

 

Super kratzte sich am Kinn.

 

»Wer liebt sie nicht?« fragte er. »Blumen regen mich mehr an als irgend etwas anderes. Haben Sie jemals ein Feld mit Butterblumen gesehen … jemals einen Blick auf Glockenblumen geworfen, die aus dem dunklen Wald schimmern? Ich habe ein Sammelbuch für Ausschnitte von Gedichten über Blumen zu Hause – Rosen und Veilchen und Primeln und viele andere. Es ist komisch, daß noch niemand ein Gedicht über Flieder gemacht hat.«

 

Sie sah ihn mißtrauisch an.

 

»Mr. Minter, Sie kommen auf einem Umweg zu den Blumen, die in Edward Square niedergelegt worden sind. Ich würde ein Gedicht über Flieder schreiben, wenn ich überhaupt ein Gedicht schreiben könnte – es sind meine Lieblingsblumen.«

 

»Meine sind Tulpen«, sagte Super.

 

Er setzte sich umständlich hin.

 

»Sind Sie je Mr. Elson begegnet – mögen Sie ihn? Er ist auch Amerikaner, nicht wahr?«

 

»Ja.«

 

»Er kann – richtig lesen und beinahe schreiben. Er hält sich eine Sekretärin für seine Korrespondenz, aber er selbst kann kaum schreiben.«

 

»So?« fragte sie überrascht. »Ich glaubte, es gäbe fast niemand in Europa, der nicht lesen und schreiben könnte.«

 

»Er ist in gewisser Weise ein Niemand«, sagte Super.

 

Ein paar Minuten später ging sie aus dem Zimmer, um Tee zu bestellen, und als sie zurückkam, fand sie ihn wieder am Bücherschrank.

 

»Lieben Sie Bücher sehr?«

 

»Bücher zum Lesen liebe ich sehr«, gab er zu. »Bücher zum Studieren sind für mich soviel wie Masern, Scharlach und alle diese berüchtigten Krankheiten.« J.K.L. las er auf dem Vorsatzblatt eines Buches. »Das war Ihr Vater, Miss Leigh?«

 

»Ja, das ist der Name meines Vaters – John Kenneth.«

 

»Ein schöner Mann«, sagte Super nachdenklich. »Nicht die Art, die sich Feinde macht.«

 

»Nein, er hatte keinen Feind auf der Welt«, sagte sie. »Jeder liebte ihn.«

 

»Das wird man niemals über mich sagen. Eine Liste der Leute, die mich nicht lieben, würde diesen Band füllen, Miss Leigh. Und dann würde noch genug Papier übrig sein, das Zimmer damit zu tapezieren. Alles nur«, fügte er bescheiden hinzu, »aus Eifersucht der anderen über meine Genialität. Merken Sie sich das, Miss Leigh: Wenn ein Mensch nicht beliebt ist, so kommt das von der Eifersucht. Und wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie den Menschen selbst, er wird es Ihnen bestätigen.«

 

»Ich glaube, Sie sind gar nicht so unbeliebt«, sagte sie, als sie den Tee einschenkte.

 

»Ich bin es nicht, aber ich bin im Begriff, es zu werden«, meinte er düster. »Passen Sie nur auf, ich bin dabei, einer der unbeliebtesten Menschen bei der Polizei zu werden – und zwar bald.«

 

Kapitel 16

 

16

 

Als Super sich verabschiedete, erzählte er Elfa, daß er zu seinem Revier zurückginge, Er erlaubte sich dabei eine Unwahrheit, die in seinen Augen gerechtfertigt war. Er verbrachte eine unangenehme Zeit im Polizeipräsidium, wo ihn seine Chefs interviewten. Aber das Mißvergnügen war hauptsächlich auf ihrer Seite. Im Verlauf von zwei Stunden zerstörte er im allgemeinen und im besonderen mindestens zweiundzwanzig Theorien und Nebentheorien und tat das mit solchem Wohlgefallen an boshaften Bemerkungen und Illustrationen, daß selbst der Polizeipräsident froh war, als sich die Tür wieder hinter Super schloß.

 

Er verließ Scotland Yard und ging in ein schönes Kino, nicht weil ihn das Programm anzog, sondern weil ihn an diesem Zufluchtsort kein Licht ins Gesicht schien, denn er schlief am besten in der Dunkelheit. Zwei Stunden lang saß er zusammengekrümmt in einem Stuhl, sein Kopf ruhte auf der Brust, seine Arme waren verschränkt. Die halsbrecherischen Kunststücke beliebter und hochbezahlter Artisten zogen an seinem dämmernden Bewußtsein vorüber. Männer vollbrachten waghalsige Taten, kriegerische Helden übersprangen gähnende Abgründe, schöne Mädchen wurden aus schrecklichen Gefahren befreit; aber Super schlief, bis ein Platzanweiser seine Schulter berührte und ihn fragte, ob er gütigst aufstehen wolle, um eine starke Dame vorbei zu lassen. Erfrischt ging er in das Theaterrestaurant, trank schnell hintereinander drei Tassen Kaffee, aß ein Paket Keks und ging wie neugeboren von dannen.

 

Sein Ziel war Fregetti. In bezug auf Exklusivität hatte dieses Lokal nichts vom Ritz-Carlton oder anderen noch so prachtvollen Restaurants zu befürchten. Fregetti liegt in einem unansehnlichen Viertel, an dem unteren Ende der Portland Street, aber unter Feinschmeckern gilt es allgemein als das beste Lokal Londons.

 

Super nahm an einem Tisch Platz und wartete. Wagen auf Wagen hielt vor dem Glasdach, und elegant gekleidete Damen und Herren stiegen aus. Es war schon Viertel nach neun, als ein Auto vorfuhr, das die beiden Männer brachte, auf die Super wartete. Der erste war Elson. Er war im Gesellschaftsanzug und trug auf dem Hinterkopf einen glänzenden Zylinder, der ihm irgendwie nicht zu passen schien. Ein eleganter Herr folgte ihm. Er wartete, bis Elson den Chauffeur bezahlt hatte, und verschwand dann hinter den Glastüren des Restaurants. Super sah befriedigt aus.

 

»Ich hoffe, Sie freuen sich auf das Essen, Lattimer«, sagte er vor sich hin. »Sie sehen sehr rüstig aus für einen müden Mann!«

 

Lattimer schlenderte durch den Palmengarten in das Halbdunkel des Restaurants. Außer der gedämpften Beleuchtung in den Wandleisten erhellten nur Tischlampen den Raum und gaben ihm eine seltsame Traulichkeit.

 

Elson war dieses Dämmerlicht willkommen. Er haßte helles Licht beinahe ebenso wie Gesellschaft, und er ging schnell, wenn auch unsicher, auf den Tisch in der Ecke zu, den er telefonisch bestellt hatte.

 

»Wo haben Sie diesen alten Narren gelassen?« grollte er, als er sich setzte und nach dem Cocktail langte, der auf ihn wartete.

 

»Super? Oh, der ist irgendwo in London«, sagte Lattimer, nahm eine Zigarette aus der goldenen Dose und entzündete sie. »Sie brauchen sich keine Sorgen um ihn zu machen.«

 

»Wenn Sie glauben, daß ich um ihn besorgt, bin, sind Sie schwer im Irrtum«, keuchte Elson. »Nein, mein Herr, ich habe keinen Respekt vor der englischen Polizei.«

 

»Danke«, sagte Lattimer.

 

»Sie glauben wohl, ich spreche von Ihnen?« fragte Elson wild. »Wo bleibt denn bloß der Kellner?«

 

Der Kellner kam schließlich, und nachdem er sie bedient hatte, verschwand er wieder.

 

»Nun, was wünschen Sie also?« fragte Elson, legte seine Gabel hin und lehnte sich zurück.

 

»Ich brauche noch einmal fünfhundert«, erwiderte Lattimer kühl.

 

»Das ist in Dollars nicht viel«, murrte der andere, »aber in Pfunden ist es eine Menge! Ich gab Ihnen doch gestern nacht hundert – was haben Sie denn damit angefangen?«

 

»Sie liehen mir hundert«, verbesserte Lattimer sorgsam, »und ich gab Ihnen einen Wechsel. Was ich mit dem Geld angefangen habe, tut nichts zur Sache. Ich brauche jetzt fünfhundert.«

 

Elsons Gesicht wurde dunkel vor Ärger.

 

»Wie lange glauben Sie mich noch aussaugen zu können?« fragte er. »Wenn ich zu diesem alten Esel gehe und ihm erzähle …«

 

»Aber das werden Sie nicht tun«, sagte Lattimer sanft. »Ich weiß wirklich nicht, warum Sie sich so darüber aufregen. Es ist doch wertvoll für Sie, sich mit mir gut zu stellen. Ich habe Sie vor einer Menge Unannehmlichkeiten bewahrt und bin bereit, Ihnen noch weiter zu helfen. Ich kann Ihnen aus allem heraushelfen, wenn Sie nicht einen Mord begangen haben.«

 

Elson schrak zusammen.

 

»Was wollen Sie denn mit Mord?« fragte er laut.

 

Vom Nachbartisch drehte sich jemand nach ihnen um, und Elson fuhr leiser fort: »Ich hoffe, daß Sie mir in diesen Tagen nützlich sind, und wenn Sie es nicht sind – Ihr Chef wird eine Freude haben, wenn er Ihre Wechsel in meinen Händen sieht. Ich werde Ihnen die fünfhundert geben, nicht weil Sie sie von mir zu bekommen haben, sondern weil ich sie Ihnen geben will. Ich habe nichts von der Polizei zu befürchten, noch habe ich etwas …«

 

»Ausgenommen St. Paul«, unterbrach ihn Lattimer mit gespitzten Lippen. »Die Polizei von St. Paul sucht Sie wegen eines Raubes mit tätlichem Angriff. Sie sind zweimal im Zuchthaus gewesen wegen Raubes und anderer Dinge, und wenn das Auslieferungsgesetz angewandt wird, ist es nicht schwer, Sie wieder dorthin zu bringen. Aber«, sagte er lächelnd, »ich habe nichts gegen Sie.«

 

»Sie sind ein Erpresser«, stieß Elson zwischen den Zähnen hervor.

 

»Und Sie ein Narr«, erwiderte Lattimer in ausgezeichneter Stimmung. »Sehen Sie, Elson oder Alstein oder wie immer Ihr Name ist, ich kann Ihnen sehr nützlich sein. Denken Sie daran, daß es nicht zählt, was ich darüber denke – was Super denkt, das ist wichtig.«

 

»Weiß er von dieser St.-Paul-Geschichte?«

 

»Es macht nichts, ob er es weiß«, war die kühle Antwort. »Es war nichts, weswegen das Auslieferungsgesetz in Betracht käme …«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte der erstaunte Millionär. »Sie erzählten mir doch …«

 

»Ich habe Ihnen viel gesagt, was ich vor Gericht nicht aufrechterhalten könnte. Aber jetzt sage ich Ihnen die Wahrheit. Solange Sie in England bleiben, können Sie nicht bedrängt werden, und Sie brauchen nicht böse dreinzuschauen, weil ich bis heute nichts darüber wußte.« Er lehnte sich über den Tisch und dämpfte seine Stimme. »Elson, es wird große Unannehmlichkeiten wegen Hanna Shaw geben. Super sandte mich nach Cambridge, um Nachforschungen über Ihre Geschichte anzustellen; aber sie hielt der Prüfung nicht stand. Ich kam mit der Nachricht zurück, daß ich die Garage gefunden hätte, wo Sie Ihr Auto für die Nacht einstellten. Aber ich habe niemals eine solche Garage gefunden. Sie waren nicht dort!«

 

»Wie soll ich wissen, wo ich war? Sagte ich Ihnen nicht, daß ich betrunken war? Ich erinnere mich nur, daß ich irgendwo in der Nähe einer Schule war. Das ist alles.«

 

Sergeant Lattimer musterte das Gesicht des unruhigen Mannes.

 

»Kommen Sie, Elson«, sagte er sanft. »Sie haben mir etwas mitzuteilen. Erzählen Sie, alter Junge!«

 

Der andere schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe nichts zu erzählen«, sagte er scharf. »Was ist mit Ihnen los? Sie wissen alles – warum fragen Sie mich?«

 

»Wer tötete Hanna Shaw?«

 

Elsons Augenlider fielen herunter.

 

»Vielleicht wissen Sie nichts darüber«, grinste er höhnisch. »Vielleicht wissen Sie nicht, wo sie an dem Nachmittag war.«

 

»Warum sollte ich auch?« fragte Lattimer gleichgültig.

 

»Sie haben wohl Hanna Shaw niemals am Ende der Straße nach Einbruch der Dunkelheit getroffen? Und wenn sie in ihrem Wagen ausfuhr, begegneten Sie ihr da nicht und machten lange Fahrten mit ihr?« fragte Elson, während er Lattimers Gesicht aufmerksam beobachtete. »Ich glaube, Super weiß das nicht!«

 

»Er weiß nicht alles«, war die kühle Antwort.

 

»Ich möchte wetten, er weiß nichts! Hanna Shaw und Sie waren gute Bekannte. Sie kannten sie zu gut, als daß Sie jetzt zu mir kommen und mich ausfragen wollen. Sie hat mir ein oder zwei Dinge von Ihnen erzählt, die vor Gericht nicht gut klingen würden. Sie haben monatelang mit Hanna gespielt. Super weiß es nicht, und Cardew weiß es nicht. Ich habe heute morgen die Zeitungen gelesen – und anscheinend wurde kein Geld gefunden, als man Hannas Zimmer durchsuchte. Ich weiß« – er sprach langsam – »daß Hanna Shaw vierhunderttausend Dollar besaß, als sie verschwand. Ich weiß nicht, woher sie es hatte, aber ich weiß, daß sie es hatte. Wo ist dieses Geld geblieben?«

 

Lattimer gab keine Antwort.

 

»Es gibt nichts, was Sie nicht für Geld tun würden, Lattimer. Sie haben ihr noch vor einer Woche erzählt, daß Sie alles tun würden, wenn Sie zehntausend Dollar bekämen.«

 

»Bestellen Sie noch eine Flasche Wein«, sagte Lattimer, »und lassen Sie uns von etwas anderem sprechen!«

 

Mitternacht war vorbei, als Elsons Wagen vorsichtig die Straße entlangfuhr und vor seinem Haus hielt. Der Amerikaner stieg aus und schwankte zur Tür. Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, sie zu öffnen. Er erreichte die Halle, stützte sich an der Wand und stieß die Tür auf. Als er die Treppe hinaufging, klammerte er sich krampfhaft an das Geländer. Schließlich kam er zu einer Couch, setzte sich und fiel sofort in Schlaf. Die scharfe Ecke seines Kragens hielt ihn aber bei halbem Bewußtsein. Er erwachte mit schmerzendem Kopf, und seine Beine waren so schwach, daß sie kaum das Gewicht seines Körpers tragen konnten, als, er endlich auf den Füßen stand. Schläfrig zerrte er an dem Kragen, und nach vielen Versuchen riß er ihn ab. Alle Lichter brannten, und dunkel erinnerte er sich, daß er besser schlafen würde, wenn er sie auslöschte. Während er das Zimmer mit unsicheren Schritten durchquerte, zog er seinen Rock und das Oberhemd aus, und bevor er den Schalter umdrehte, lehnte er sich an die Wand und zog die Schuhe aus. Die geisterhafte Dämmerung ernüchterte ihn halb. Er ging zur Couch zurück, schenkte sich einen Whisky-Soda ein, goß ihn mit einem Zug hinunter und fühlte sich sofort wieder wach.

 

Der Morgen war warm. Er ging zum Fenster, zog den Vorhang zurück, beugte sich hinaus und atmete in tiefen Zügen die kühle Morgenluft ein. Dann wurde ihm bewußt, daß sich beinahe unter ihm eine Gestalt an der Ecke des Blumenbeetes bewegte, die hier und da anhielt, um eine Blume zu pflücken. Ihre linke Hand hielt schon einen großen Strauß.

 

Eine Sekunde lang dachte Elson, daß seine Augen ihm einen Streich spielten, denn der Garten lag noch im Dunkel der Nacht. Dann hörte er den Mann summen.

 

»Hallo!« rief er. »Was machen Sie hier?«

 

Der Mann blickte auf. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen.

 

»Was machen Sie hier?« brüllte Elson zornig, als keine Antwort kam.

 

Während Elson sprach, lief der Eindringling quer über die Beete schnell auf die Fahrstraße zu.

 

»Ich werde dich schon kriegen!« schrie Elson in unsinniger Wut.

 

Dann kam aus dem Dunkel der Bäume der Gesang:

 

Eine Weile stand Elson still und klammerte sich an das Fenster. Sein Gesicht war grau, und seine Augen starrten unbeweglich geradeaus.

 

»Ay de mi, Alhama!« Der Refrain erstarb in der Ferne. Aber Elson hörte es nicht. Er lag zitternd auf dem Boden, er stieß demütige Bitten und wilde Verwünschungen aus – er schrie vor Entsetzen, denn er hatte eine Stimme aus dem Grabe gehört.

 

Aber im Schatten des Hauses war jemand, der von diesem Gesang zum Leben erweckt wurde. Super hörte das Lied und sah einen Augenblick lang den Sänger, als er wie ein Schatten über die Straße lief. Im nächsten Augenblick explodierte sein fürchterliches Motorrad gleich einem Maschinengewehr, und er fuhr die Straße entlang, um den nächtlichen Wanderer abzufangen. Der Strolch sah ihn, lief über ein Feld und tauchte in einer Wildnis von Gebüsch und Gehölz unter, das die Ecke eines angrenzenden Besitztums bildete. Supers geräuschvolle Maschine drehte, flog die Hauptstraße hinab und um die Ecke einer alten Mauer herum, als der Landstreicher Deckung suchte.

 

Der Mann lief wie der Wind. Er hielt die Blumen, die er gepflückt hatte, noch in der Hand. Als Super Seite an Seite mit ihm kam, wandte er sich im rechten Winkel, sprang über einen Graben und eilte quer über eine Wiese. Super überlegte schnell, raste mit größter Eile die Straße entlang, verlangsamte das Tempo, als er um die Ecke fuhr, und bog dann in einen Feldweg ein. Er wußte, daß dieser parallel zu der Wiese lief, über die er den Mann hatte laufen sehen. Sein Manöver hatte Erfolg. Als der Mann auf die Straße kam, sprang Super von seinem Rad.

 

»Halt, mein Freund!« sagte er.

 

Der bärtige Mann blickte ihn mit einem sonderbaren Lächeln an.

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen so viel Mühe gemacht habe«, sagte er schwach.

 

Er hatte die Stimme eines kultivierten Amerikaners, aber Super war darauf vorbereitet.

 

»Gar keine Mühe«, erwiderte er freundlich. »Können Sie stehen?«

 

Der Mann erhob sich unsicher.

 

»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie mit mir auf die Wache gehen und etwas essen«, sagte Super, und der andere folgte ihm ohne Widerstand.

 

Als sie langsam der Stadt zuwanderten, drückte Super seine innere Befriedigung durch große Geschwätzigkeit aus.

 

»Vor einer Woche hätte ich Sie rauher behandelt, muß ich gestehen. Ich glaubte, Sie seien ein sehr schlechter Mensch.«

 

»Ich bin kein schlechter Mensch«, sagte der andere einfach.

 

»Ich bin überzeugt, daß Sie es nicht sind«, stimmte Super bei. »Nein, mein Herr, ich habe viele Theorien über Sie ausgedacht, und ich vermute, daß ich recht habe. Ich weiß Ihren Namen.«

 

Der Mann lächelte.

 

»Ich habe so viele Namen. Ich wünschte nur, ich wüßte den richtigen.«

 

»Ich werde Ihnen den richtigen sagen«, erwiderte Super. »Durch Logik und Deduktion und Theorie habe ich Ihren Namen festgestellt. Sie sind John Kenneth Leigh vom Schatzamt der Vereinigten Staaten!«