Kapitel 10

 

10

 

Drei Stunden saß Anna Jeans in ihrem Zimmer, überlegte, plante und ärgerte sich. Sie wollte am nächsten Morgen abreisen. Lorney hatte sich wirklich zu wenig um sie gekümmert, redete sie sich in ihrem Ärger ungerechterweise ein. Es war doch seine Aufgabe, zu verhüten, daß ihr etwas passierte. Aber gleich darauf mußte sie sich sagen, daß er sie ja gewarnt hatte, allein in den Wald zu gehen. Ihm durfte sie keine Vorwürfe machen.

 

Sollte sie es ihm erzählen? Aber was sollte sie ihm erzählen? So viel war es ja gar nicht. Wenn ein erfahrener Mann und ein ziemlich unerfahrenes junges Mädchen sich auf eine einsame Bank setzen und über Liebe reden, kommt so was eben vor. Keller hatte sie plötzlich und unerwartet umarmt und geküßt. Ach, nein, ganz unerwartet war es auch nicht gewesen. Sie wußte, daß es so kommen würde, und sie hätte es auch vermeiden können, aber sie war ihrer selbst so sicher gewesen und hatte geglaubt, über der Situation zu stehen. Es war unerträglich! Diese Küsse – sie konnte die Erinnerung daran nicht loswerden.

 

Sollte sie es Mr. Lorney erzählen oder Dick? Nein, ihm konnte sie es am allerwenigsten sagen. Er würde Keller umbringen. Und Lorney fand wahrscheinlich gar nichts dabei! Anna war äußerst schlechter Laune.

 

*

 

Inzwischen war der neue Gast in Sketchley angekommen, und Lorney brachte sein Gepäck ins Haus.

 

Mr. Collett sah sich in der behaglich eingerichteten Diele um. Die neuen Möbel gefielen ihm außerordentlich, aber während Charles seine Koffer auf sein Zimmer trug, beklagte er sich, daß kein Feuer im Kamin brannte.

 

»Richtiges englisches Sommerwetter. Nachmittags ging es ja noch, aber jetzt gegen Abend weht wieder ein Nordostwind wie im März. Ein gräßliches Land!«

 

»Wollen Sie hier Ihren Urlaub verbringen, Mr. Collett?«

 

»Oh, ich erhole mich eigentlich dauernd, Mr. Lorney. – Nein, ich bin beruflich hier. Was macht denn der ›Alte‹? Ich habe gehört, seine neueste Masche sei es, gestohlene Sachen wieder zurückbringen – und das Feuer im Schloß wird ihm ja auch in die Schuhe geschoben.«

 

Der Wirt mußte lachen.

 

»Ich muß Ihnen mal jemanden schicken, der sich für Märchen interessiert.«

 

Collett ließ sich den Tee in die Diele bringen und ging später trotz des schlechten Wetters noch aus, um sich die Ruinen von Schloß Arranways anzusehen. Außerdem wollte er sich aber auch noch mit ein paar Leuten unterhalten, die zwar nicht an Märchen, aber an die Existenz des ›Alten‹ glaubten. Er hatte drei Adressen von Personen, die ihn in der letzten Zeit gesehen hatten.

 

Collett stattete dem Farmhaus an der Ecke des Waldes einen Besuch ab, dann sprach er noch mit einem Arbeiter, der an der Ausfahrt des Dorfes wohnte, und danach suchte er den Pfarrer auf, der an der Straße nach Guildford bei einer Witwe lebte. Es stand also fest: Der ›Alte‹ war gesehen worden. Alle Aussagen stimmten mit der offiziellen Personenbeschreibung überein.

 

Er war gesehen worden, als das Tafelgeschirr zurückgebracht wurde. Und das Seltsamste an der Geschichte war, daß alle Gegenstände gut geputzt und sorgfältig verpackt waren, wie er von anderer Seite erfuhr.

 

Collett überschlug in Gedanken die bisher erreichten Ergebnisse. Daraus ergab sich, daß der ›Alte‹ aus dem Wald von Sketchley gekommen sein mußte und auch wieder dahin zurückgekehrt war. Collett hatte den einzigen vorhandenen Plan von den Höhlen mitgebracht und engagierte auch noch einen älteren Mann, der im Sommer als Fremdenführer tätig war.

 

Als er zurückkam, war die Bar bereits geschlossen und die Diele nur noch durch eine Lampe erleuchtet. Lorney war ein sparsamer Mann, und in der Mitte der Woche war das Geschäft sowieso nicht besonders. Collett traf Charles, der zum Speisesaal ging, wo sich zwei Gäste in ihrer Einsamkeit nicht besonders wohl fühlten.

 

»Ist Lord Arranways hier?« fragte der Chefinspektor.

 

Der Kellner sah ihn finster an, denn er erkannte in Collett einen Mann, dem er früher nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen war, mit dem er aber verschiedentlich unangenehme Begegnungen gehabt hatte. Allem Anschein nach war das Erkennen jedoch nicht gegenseitig, denn der Beamte ließ in keiner Weise merken, daß er einen Bekannten vor sich hatte.

 

»Der Lord ist heute nachmittag nach London gefahren und hat seinen Schlüssel mitgenommen«, erklärte Charles unfreundlich und ging dann in den Speisesaal. Das Tablett zitterte in seinen Händen.

 

Collett lächelte leicht. Es wunderte ihn, daß Lorney einem alten Verbrecher eine derartige Chance gab.

 

Gleich darauf erschien Mrs. Harris in schwarzem Kleid, weißer Servierschürze und weißem Häubchen auf dem Haar. Collett konnte sie eigentlich nicht ausstehen, weil sie so entsetzlich gesprächig war.

 

»Sind Sie auch noch hier?« fragte er sie trotzdem freundlich.

 

Sie strahlte ihn an. Mrs. Harris war die Tochter eines Polizeibeamten und wußte die Aufmerksamkeit von einem hohen Kollegen ihres Vaters zu schätzen.

 

»Wer ißt denn dort drüben?« erkundigte sich Collett weiter.

 

»Miss Jeans und Mr. Mayford.«

 

»Ist übrigens Lady Arranways auch in die Stadt gefahren?«

 

Mrs. Harris sah ihn vorwurfsvoll an.

 

»Ich weiß doch nicht, was Mylady vorhat. Es hat keinen Zweck, daß Sie mich fragen. Sie sind ja auch nicht besser als der amerikanische Herr«, sagte sie.

 

»Ach, etwa Mr. Rennett? Den muß ich auch noch sprechen. Wo ist er denn?«

 

»Ausgegangen.«

 

Mrs. Harris warf einen kurzen Blick ins Speisezimmer, dann kam sie zu Collett zurück und fragte leise: »Warum sind Sie hergekommen? Ist etwas passiert, worum sich Scotland Yard kümmern muß?«

 

»Es passiert immer etwas, worum sich die Polizei kümmern muß«, erwiderte er gutgelaunt. »Vor allem will ich meinen alten Freund wiedersehen.«

 

»Den ›Alten‹?« fragte sie und runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, daß er überhaupt noch lebt. Sie etwa? Aber hier haben ja immer noch alle Leute Angst. Sie fürchten sich vor ihrem eigenen Schatten!«

 

Sie trat schnell hinter die Theke, und Collett vermutete, daß Lorney in der Nähe war. Als er aufsah, entdeckte er ihn oben auf der Galerie. Für sein Gewicht hatte der Mann wirklich einen außerordentlich leichten Schritt. Er hielt einen Gegenstand in der Hand, der die Aufmerksamkeit des Kriminalbeamten magisch auf sich zog.

 

»Was haben Sie denn da, Mr. Lorney? – Wollen Sie zu einem Maskenball?«

 

Der Wirt lächelte, als er ihm den langen Dolch in der Samtscheide zeigte.

 

»Er gehört Lord Arranways«, erklärte er. »Er sammelt solche Waffen. Haben Sie schon einmal von Aba Khan gehört? Bis heute wußte ich noch nichts von ihm, aber Lord Arranways hat mir die tolle Geschichte erzählt.«

 

Er zog den Dolch aus der Scheide und prüfte die Klinge.

 

»So scharf, daß man sich damit rasieren könnte.«

 

Collett betrachtete die Waffe neugierig.

 

»Was machen Sie denn damit?«

 

Lorney erklärte ihm, daß die Waffensammlung vom Schloß herübergebracht worden war. Den Dolch hatte er in der Diele gefunden. Wahrscheinlich hatte ihn der Lord dort liegengelassen, er war manchmal etwas zerstreut.

 

»Ich will eben den Schlüssel zu seinem Zimmer holen, um die Waffe wegzuschließen.«

 

»Ist Lord Arranways denn nicht hier?«

 

»Nein, er ist in die Stadt gefahren. Morgen kommt er vielleicht wieder zurück.«

 

Collett steckte die Klinge in die Scheide und gab sie Lorney zurück. Er wartete, bis der Wirt wieder unten war und den Schlüssel angehängt hatte, dann bat er ihn, mit in sein Zimmer zu kommen, da Mrs. Harris schon wieder Gläser putzte.

 

»Hier hat es inzwischen Schwierigkeiten bei den Arranways gegeben?« sagte er in fragendem Ton.

 

»Woher wissen Sie denn das?«

 

»Ich habe so meine Quellen. Wer ist denn an der Sache schuld? Etwa der Mann, den sie aus Ägypten mitgebracht haben?«

 

Lorney zuckte die Achseln.

 

»Ich weiß nur sehr wenig davon. Die Leute im Dorf tratschen ja, daß einem die Haare zu Berge stehen.«

 

Collett kniff die Augen zusammen.

 

»Sie haben der Lady doch das Leben gerettet, als das Haus abbrannte. Wo haben Sie sie nun eigentlich wirklich gefunden?«

 

Lorney sah den Kriminalbeamten mit seinen kalten grauen Augen ruhig an.

 

»Haben Sie sich pensionieren lassen, Mr. Collett?«

 

»Warum?«

 

»Nun, ich habe häufig beobachtet, daß Beamte von Scotland Yard sich nach ihrer Pensionierung als Privatdetektive betätigen. Ich verstehe nicht viel davon, aber so viel Ahnung habe ich doch, daß ich weiß, sie beschäftigen sich dann gern damit, für Ehegatten zu arbeiten, die sich betrogen fühlen.«

 

Collett starrte ihn einen Anblick verblüfft an, dann lachte er leise.

 

»Nein, nein, ich bin noch im Dienst. Aber Sie haben völlig recht, die Sache geht mich nichts an. – Also, wenn ich von London angerufen werden sollte: Ich bin hier oben.«

 

Lorney wollte hinausgehen.

 

»Übrigens«, fügte Collett noch hinzu, »wie heißt eigentlich Ihr Kellner?«

 

»Mr. Collett, Sie kennen seinen Namen genauso gut wie ich, und Sie wissen auch über seine Vergangenheit Bescheid. Ich versuche, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Haben Sie etwas dagegen?«

 

Lorney konnte recht unfreundlich sein, aber Collett nahm es ihm nicht übel, denn er bewunderte ihn im stillen.

 

Kapitel 11

 

11

 

Dick Mayford und Anna Jeans saßen sich beim Essen gegenüber. Es war ziemlich einsilbig verlaufen, aber als Charles den Kaffee gebracht hatte, hielt Dick es nicht mehr aus.

 

»Anna, haben Sie heute etwas Unangenehmes erlebt – im Wald? Ich sah, wie Sie zurückkamen.«

 

»Wenn Sie gesehen hätten, wie ich wegging, wäre es besser gewesen«, erwiderte sie vorwurfsvoll.

 

»Was ist denn passiert?«

 

Sie antwortete nicht, und er wiederholte seine Frage.

 

»Ach nichts – nichts, was Sie angeht.« Sie lehnte sich plötzlich vor. »Ich habe mich immer gewundert, daß Leute aridere Menschen umbringen können. Das war mir unbegreiflich. Sooft ich von einem Mord las, hatte ich das Gefühl, daß er in einer anderen Welt passiert sein müßte, mit der ich nichts zu tun habe. Aber jetzt weiß ich wenigstens, wie man zu so etwas kommen kann.«

 

Sie sprach leise, aber ihre Stimme klang nicht ganz fest. Dick war sprachlos über die Leidenschaft, die er hinter ihren Worten spürte.

 

»War es Keller? Was hat er Ihnen getan?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sie brauchen sich keine Sorgen um mich zu machen wenigstens nicht in der Beziehung.«

 

Sie blickte aufs Tischtuch und zeichnete mit dem Löffel sonderbare Linien darauf.

 

»Es war so entsetzlich, weil er sich nicht mit einem Kuß zufriedengeben wollte. Ich konnte ihn einfach nicht loswerden.«

 

Dick kochte vor Wut über diesen Keller. Er glaubte auch nicht recht, daß das schon alles gewesen war.

 

»Haben Sie mit jemanden darüber gesprochen?« fragte er plötzlich. »Etwa mit Lorney?«

 

»Nein, nur Ihnen habe ich es erzählt. Ach, eigentlich ist es gar nicht wert, daß man sich so darüber aufregt. Aber –«

 

In diesem Augenblick trat Charles ins Zimmer.

 

»Es möchte Sie jemand am Telefon sprechen, Mr. Mayford.«

 

Dick sah ihn an und fragte: »Wer denn?«

 

»Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, Lord Arranways.«

 

Anna schaltete sich ein.

 

»Ist er denn nicht zur Stadt gefahren? Ich wollte dringend mit Ihnen über ihn sprechen und über –«

 

»– meine Schwester?« fragte er geradezu. »Wahrscheinlich hat man Ihnen auch darüber Gerüchte zugetragen. Haben Sie etwas gehört?«

 

Sie wurde rot.

 

»Sie dürfen den Lord nicht so lange warten lassen.«

 

Als er hinausging, kam sie ihm in die Diele nach und wartete dort, bis er zurück war. Er sah bedrückt und niedergeschlagen aus.

 

»Der Lord ist in einem Dorf, ein paar Meilen von hier entfernt. Was er dort eigentlich tut, ist mir schleierhaft. Jedenfalls muß ich hinfahren und mit ihm sprechen.«

 

Hilflos schaute Dick von ihr zu Charles. Er machte sich immer noch Sorgen um sie.

 

»Können Sie nicht irgend etwas unternehmen – irgendwo anders hingehen? Vielleicht ins Kino?« schlug er vor. »Ich möchte Sie nicht alleine hierlassen.«

 

»Bitte, machen Sie doch nicht so ein Theater wegen dieser Sache«, sagte sie beinahe ärgerlich. »Ich komme bestimmt nicht mit, und morgen fahre ich ja nach London.«

 

Dick sah sich um.

 

»Wo ist eigentlich Mr. Lorney?«

 

»Der wird schon irgendwo sein«, meinte Charles unbestimmt. »Er sagt mir nie, wo er hingeht.«

 

Dick und Anna trennten sich etwas verlegen. Ohne ein Wort zu sagen, ging Anna die Treppe hinauf. Dick wartete, bis er sie nicht mehr sehen konnte; dann fiel ihm schlagartig alles ein, was er sie noch hatte fragen wollen. Aber nun war es zu spät.

 

*

 

Die erste Tür im Korridor führte zu Kellers Zimmer, und Anna seufzte erleichtert auf, als sie von drinnen nichts hörte.

 

Sie öffnete ihre eigene Tür und schloß sie hinter sich. Der Raum lag im Dunkeln, und sie tastete nach dem Schalter.

 

»Mach kein Licht«, sagte plötzlich eine Stimme.

 

Anna fuhr zusammen.

 

»Wer ist da?« brachte sie mühsam hervor, aber die Frage war eigentlich überflüssig. Sie wußte nur zu gut, wer es war. Jetzt sah sie auch die Silhouette eines Mannes, die sich deutlich gegen den helleren Hintergrund des Fensters abhob.

 

»Ich muß mit dir sprechen. Ich möchte mich wegen meines Benehmens heute nachmittag entschuldigen – ich hatte den Kopf verloren. Hoffentlich hast du Dick Mayford nichts gesagt. Der ist imstande und bringt mich um. Seit Stunden habe ich gewartet, daß du endlich kommst.«

 

»Wenn Sie nicht sofort mein Zimmer verlassen, rufe ich Mr. Lorney!« rief sie schrill. Im Innern verachtete sie sich dabei selbst, daß sie es nicht fertigbrachte, Keller allein loszuwerden.

 

Sie versuchte noch einmal, den Schalter zu erreichen, aber er zog sie an sich. Der Duft seines Herrenparfüms verriet, daß er darin einen guten Geschmack hatte. Aber das interessierte sie jetzt nicht.

 

»Ich liebe dich«, flüsterte er eindringlich. »Noch nie ist mir ein Mädchen begegnet, das so schön und begehrenswert war wie du.«

 

Er küßte sie. Sie stand wie gelähmt. Aber plötzlich riß sie sich los, schlug ihn ins Gesicht und stürzte auf die Balkontür zu.

 

Sie schloß auf und lief den Balkon entlang, die Treppe hinunter und ums Haus. Ein Mann stand in der Eingangstür. Sie lief an ihm vorbei und kam atemlos in der Diele an.

 

Lorney, der hinter der Theke gesessen hatte, stand auf und kam auf sie zu.

 

»Aber Miss Anna, was ist denn mit Ihnen los?«

 

»Ein Mann ist in meinem Zimmer!«

 

Lorney ließ sie los, eilte die Treppe hinauf, riß die Tür zu ihrem Zimmer auf und machte Licht. Es war leer, und die Balkontür stand weit offen. Eine Ecke des Teppichs war hochgeschlagen, als ob jemand mit dem Fuß darüber gestolpert wäre.

 

»Offensichtlich ein Einbrecher, der Parfüm benutzt«, sagte plötzlich eine ruhige Stimme. »Solche Leute mag ich gerne.«

 

Lorney drehte sich um und sah Collett, der ihn vom äußeren Ende des Korridors beobachtet hatte und nun hinter ihm stand.

 

»Er muß durch die Balkontür hinaus sein«, meinte Lorney.

 

Der Kriminalbeamte nickte.

 

»Das junge Mädchen anscheinend auch, denn ich habe sie zwar hinauf-, aber nicht wieder hinuntergehen hören. Wer kann denn der Mann gewesen sein?«

 

»Das bringe ich schon noch heraus«, erwiderte Lorney ruhig. »Eine Ahnung habe ich jedenfalls.«

 

Als er wieder unten war, fragte er Anna: »Sie haben den Mann nicht erkannt?«

 

Sie sah von Collett zu Lorney und schüttelte den Kopf. Collett merkte, daß sie nicht die Wahrheit sagte.

 

»Nein, er hat mich furchtbar erschreckt, das war alles.«

 

Als Lorney Anna beruhigt hatte, machte er sich auf die Suche nach Keller.

 

Er fand ihn in seinem Zimmer.

 

»Ich war die ganze letzte Stunde hier und habe Briefe geschrieben, an meine Verlobte in Australien«, erklärte er kühl.

 

»Jemand war in Miss Jeans‘ Zimmer. Waren Sie das vielleicht?« fragte Lorney finster.

 

Keller ließ sich nichts anmerken.

 

»Nein, ich war es nicht – aber der Eindringling hat jedenfalls keinen schlechten Geschmack bewiesen. – War es vielleicht der ›Alte‹? Aber eigentlich sind doch junge Mädchen nicht sein Gebiet. Hat Miss Jeans ihn denn nicht erkannt?«

 

»Woher wissen Sie denn, daß Miss Jeans ihn gesehen hat?« fragte Lorney mißtrauisch.

 

»Na, irgendwer muß ihn doch gesehen haben, sonst würde doch nicht dies Tamtam um ihn gemacht. – Meinen Sie, er ist hier im Zimmer? Vielleicht sehen Sie sicherheitshalber einmal unter dem Bett nach.«

 

Keller nahm sich eine neue Zigarette aus der Kiste, die vor ihm auf dem Schreibtisch stand.

 

Lorney ging wütend aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Unten in der Diele hörte er Collett lachen. Es ärgerte ihn, daß er sich offensichtlich keine Sorgen mehr um den Einbrecher machte.

 

»Sie gehören also auch zu diesen amerikanischen Superdetektiven, von denen man soviel hört«, sagte Collett gerade.

 

»Ach, übertreiben Sie doch nicht so.« Das war Captain Rennetts Stimme. »Auf der ganzen Welt hört man nur Wunderdinge von der englischen Kriminalpolizei.«

 

»Wonach suchen Sie hier eigentlich, Captain?« fragte Collett.

 

»Oh – ich interessiere mich für den ›Alten‹. Außerdem liebe ich diese Gegend. Sketchley ist wirklich so schön, wie man es nur auf Bildern sieht – sanfte Täler, alte Parks, dazwischen Schlösser mit Gespenstern …«

 

Collett schob einen Stuhl an den Tisch, wo sich der Amerikaner niedergelassen hatte.

 

»Das soll Ihnen jemand anders glauben! Sie sind imstande, mir mit dem unschuldigsten Gesicht von der Welt die größten Schauermärchen zu erzählen.«

 

Rennett schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich wüßte wirklich nicht, was ich hier sonst sollte –«

 

»Oh, ich wüßte das schon«, unterbrach ihn Collett. »Ich selbst bin ja extra Ihretwegen hergeschickt worden, nicht etwa um den ›Alten‹ aus seinem wohlverdienten Grab zu holen. Das ist meine persönliche Meinung«, setzte er schnell hinzu, als er das erstaunte Gesicht von Captain Rennett sah. »Offiziell soll ich mich natürlich auch um diese Angelegenheit kümmern. Aber Sie sind der eigentliche Magnet, der mich hergezogen hat. – Kennen Sie übrigens Lord Arranways?«

 

»Ich habe ihn gesehen«, entgegnete Rennett unbeeindruckt.

 

»Das ist aber ziemlich zahm ausgedrückt«, meinte Collett. »Sie sind ihm, soviel ich weiß, durch halb Europa gefolgt. Was bezweckten Sie damit?«

 

Rennett lächelte.

 

»Man trifft doch manchmal immer wieder dieselben Leute, wo man auch hingeht. Nein, von Interesse kann da keine Rede sein, und schon gar nicht für Lord Arranways. Er ist für mich nur einer unter den vielen Lords, die es in England gibt und die ja sicher auch ab und zu Reisen auf den Kontinent machen.«

 

Collett sah ihn aufmerksam an.

 

»Dann – interessieren Sie sich vielleicht für Lady Arranways?«

 

»Auch das nicht. Verheiratete Frauen interessieren mich nicht, selbst wenn sie sehr schön sind. Ich bin überhaupt zu alt für Abenteuer. Ich reise wirklich nur zu meinem Vergnügen.«

 

»Warum hat man‘ Sie eigentlich bei dem Brand von ›Arranways Hall‹ gesehen? Warum sind Sie erst später hier im Gasthaus aufgetaucht und warum haben Sie dann getan, als hätten Sie von nichts eine Ahnung?«

 

»Sie verstehen aber ganz nett, die Leute auszufragen, mein lieber Inspektor! Wer hat mich denn verraten? Vielleicht der Kellner Charles oder Mrs. Harris? Nun, ich gebe zu: Ich war bei dem Brand. Aber um Ihnen die Gründe auseinanderzusetzen, würde ich eine Stunde brauchen. Glauben Sie mir denn wirklich nicht, daß ich einer von jenen exzentrischen Amerikanern mittleren Alters bin, die nicht wissen, was sie sonst mit ihrer Zeit anfangen sollen?«

 

Der Chefinspektor schüttelte den Kopf.

 

»Ein Amerikaner, der in Ihrem Alter nicht weiß, was er mit: seiner Zeit anfangen soll, ist allerdings exzentrisch – das gebe ich zu. Aber ein Kriminalbeamter, der zwanzig bis dreißig Jahre Praxis hinter sich hat, verfolgt nicht eine Gesellschaft von extravaganten Engländern durch halb Europa – bloß so zum Zeitvertreib. Von solchen Sachen hat er dann meistens genug.«

 

Rennett blickte auf die Uhr und erhob sich.

 

»Ich werde noch ein bißchen Spazierengehen und sehen, was hier in Sketchley für Verbrechen begangen werden, damit ich nicht aus der Übung komme.«

 

Er nickte Collett zum Abschied zu, nahm seinen Hut vom Haken und ging in die Nacht hinaus.

 

Kapitel 1

 

1

 

Die häßlichen roten Backsteingebäude auf der Höhe von Sketchley Hill hießen offiziell ›Landesirrenanstalt‹, aber in der Gegend wurden sie allgemein ›das Asyl‹ genannt. Nur die ältesten Leute konnten sich noch daran erinnern, welch heftigen Widerstand die Bevölkerung seiner Errichtung entgegengesetzt hatte, aber die Beamten, die es anging, waren vernünftig und erklärten, daß Geisteskranke doch auch ein Anrecht darauf hätten, etwas von der Schönheit der Natur zu genießen, und daß dieser wunderbare Ausblick nach allen Seiten sicher wohltuend auf sie wirken würde.

 

Diese Auseinandersetzung hatte sich vor langer Zeit abgespielt, als der ›Alte‹ noch ein junger Mann war und mit düsterem Gesicht durch Wälder und Felder streifte und merkwürdige Pläne schmiedete. Aber schon bald fürchtete man, seine phantastischen Gedanken könnten sich gemeingefährlich auswirken, und so ließ man ihn von drei Ärzten untersuchen, die ihn die gleichgültigsten Dinge fragten – so kam es ihm wenigstens vor – und die ihn danach in geschlossenem Wagen in die Anstalt brachten.

 

Dort lebte er dann viele Jahre. Inzwischen rasten Kriege und Revolutionen über die Erde, wurden Könige von ihren Thronen verbannt und die leichten Kutschwagen von den Landstraßen, wo jetzt Autos in großen Staubwolken dahinsausten.

 

Manchmal fühlte der ›Alte‹ eine unstillbare Sehnsucht, aus den hohen roten Mauern herauszukommen, wieder unter normalen Menschen zu leben. Von seinem Fenster aus konnte er die Giebel von ›Arranways Hall‹ sehen. Seit vierundvierzig Jahren schaute er nun immer durch dasselbe Fenster auf dieselben Giebel.

 

Aber eines Nachts konnte er es nicht mehr aushalten; die Sehnsucht nach den Wäldern und einem Leben in Freiheit wurde übermächtig in ihm. Er dachte an die Höhlen, an die Stellen im Wald, wo er als Junge unter den großen Farnen geträumt hatte, an den Steinbruch mit den senkrecht abfallenden Wänden und dem tiefen Teich davor. Leise stand er auf, kleidete sich an, verließ sein Zimmer und ging die Treppe hinunter. In der Hand trug er einen schweren Hammer, den er vor einiger Zeit gestohlen und seither versteckt hatte.

 

Unten in der Halle schlief der Wärter – der ›Alte‹ schlug ihn mit dem Hammer mehrmals auf den Kopf. Der Mann gab keinen Ton von sich. Der ›Alte‹ nahm den Schlüsselbund und schloß die Türen auf. Dann eilte er durch den Garten und war bald darauf durch das große Tor verschwunden. Mit seinem weißen, unordentlichen Bart sah er richtig unheimlich aus, als er in den frühen Morgenstunden kurz vor Sonnenaufgang durch die kühlen Wälder von Sketchley strich. Am Rande des Steinbruchs setzte er sich schließlich hin und versank in Träumereien, während er in das stille Wasser des Teichs tief unter sich starrte.

 

*

 

Mr. Lorney, der neue Wirt des Gasthauses in Sketchley, wollte sich nicht an der Verfolgung des Entsprungenen beteiligen. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit kahlem Kopf und harten Zügen. Seine Stimme klang energisch, und er trieb sein Personal ständig zur Arbeit an. Bei der Jagd mitzumachen, hatte er keine Lust, soweit fühlte er sich für das Allgemeinwohl doch nicht mitverantwortlich.

 

Er wohnte erst seit kurzem in Sketchley und wurde deswegen von den Einheimischen mit einem gewissen Mißtrauen beobachtet, das er in gleichem Maße erwiderte. Er wettete dauernd, aber mit Verstand. Ab und zu fuhr er nach London, und selbstverständlich besuchte er alle Rennen in der Umgegend. Trotzdem konnte man nicht sagen, daß er sein Geschäft irgendwie über seiner Liebhaberei vernachlässigte. Von Anfang an hatte er sich vorgenommen, für besser gestellte Leute Wochenendappartements einzurichten. Deshalb baute er das etwas verfallene Haus um, das noch aus der Tudorzeit stammte. Auch den verwilderten Garten hatte er neu angelegt und die Fassade des Gasthauses frisch gestrichen.

 

Die Reporter, die nach Sketchley kamen, um über den geflüchteten Geisteskranken zu berichten, fanden bei Mr. Lorney ein bequemes und gutes Quartier. Obwohl sie wenig wirklich Neues entdeckten, von dem ›Alten‹ ganz zu schweigen, verfaßten sie die sensationellsten Artikel. Spaltenlang beschrieben sie die aufregenden Streifen durch die Wälder und die geheimnisvollen Höhlen, die noch niemand genau untersucht hatte. Von den Landleuten ließen sie sich allerhand Geschichten über den ›Alten‹ erzählen; außerdem war auch noch über den toten Wärter zu berichten, dessen geheimnisvolle Vorahnung seines Todes jetzt von seinen Freunden bestätigt wurde und dessen Begräbnis viel Stoff zum Schreiben lieferte.

 

Aber nach einer Weile, als von dem ›Alten‹ immer noch keine Spur zu entdecken war, versiegte das Interesse der Öffentlichkeit, und die Furcht der Leute in den umliegenden Dörfern schlief ein.

 

»Je eher die Sache vergessen wird, desto besser«, meinte John Lorney. »Für uns ist der Fremdenverkehr von größtem Interesse. Wenn die Gäste immer an den ›Alten‹ mit dem Hammer erinnert werden, bekommen wir eine schlechte Saison.«

 

Man nahm an, daß der ›Alte‹ tot sei oder sich in eine andere Gegend verzogen habe.

 

*

 

Aber dann tauchte der ›Alte‹ plötzlich doch wieder auf. Man sah ihn in derselben Nacht, als in ›Tinsden House‹ silbernes Geschirr im Wert von etwa tausend Pfund gestohlen wurde. Ein Arbeiter, dessen Frau krank war, ging auf der Straße auf und ab und erwartete die Ankunft des Arztes. Plötzlich sah er, daß sich eine Gestalt aus dem Schatten einer Hecke löste, über die Straße rannte und in der nahen Schonung verschwand. Im Mondlicht erkannte er den weißen Bart des ›Alten‹. Als der Doktor ankam, hatte er zwei Patienten zu versorgen.

 

Die Bewohner von Sketchley fingen wieder an, alles zu verriegeln, und niemand traute sich nachts allein auf die Straße.

 

Aus Guildford und sogar von Scotland Yard wurden Kriminalbeamte nach Sketchley geschickt, und der Polizeidirektor hielt eine Konferenz ab.

 

Während sich noch alle Leute über den ersten Einbruch den Kopf zerbrachen, wurde in einem nahegelegenen Schloß ein zweiter verübt. Diesmal sah der Chauffeur des Postautos, das von Guildford nach London fuhr, einen weißhaarigen Mann in abgetragenen Sachen auf der Landstraße entlangwandern.

 

Chefinspektor Collett kam von London und ließ sich die Personalakten des Geisteskranken zeigen, aber er konnte keinen Anhaltspunkt finden, der ihm half, das Geheimnis aufzuklären.

 

»Entweder muß er ein erstklassiger Einbrecher gewesen sein, als er noch jung war«, sagte er kopfschüttelnd, »oder er hat das alles in der Anstalt gelernt. Das wäre nicht das erste Mal. Ich kann mich ganz genau auf so einen Fall besinnen …«

 

Der dritte Einbruch geschah in ›Arranways Hall‹. Lord Arranways hörte mitten in der Nacht ein Geräusch, ging in das Schlafzimmer seiner jungen Frau und weckte sie.

 

»Wenn ich mich nicht irre, ist unten ein Fenster eingedrückt worden«, sagte er leise. »Ich gehe einmal hinunter und schaue mich um.«

 

»Warum verständigst du nicht jemanden vom Personal?« fragte sie ängstlich, stand auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und folgte ihm durch den dunklen Gang die breite Treppe hinunter. Er flüsterte ihr zu, daß sie oben bleiben solle, aber sie schüttelte nur den Kopf. Vorsichtig ging er durch die stille Eingangshalle und öffnete die Tür zur Bibliothek. Im gleichen Augenblick sprang jemand aus dem Schatten und war deutlich in der offenen Glastür zu erkennen. Der Lord riß den Revolver hoch und drückte ab. Gleich darauf hörte man, daß Glas splitterte.

 

»Warum hast du das getan?« fragte er ärgerlich.

 

Als er die Waffe hob, hatte sie seinen Arm in die Höhe geschlagen, so daß der Schuß in den Kristalleuchter ging und Scherben von der Decke fielen.

 

»Warum wolltest du auf den alten Mann schießen? Hast du nicht seine weißen Haare gesehen?«

 

Der Lord hatte ein reizbares, jähzorniges Wesen. Er war zum zweitenmal verheiratet. Das Verhalten seiner zweiten und sehr jungen Frau regte ihn manchmal auf.

 

»Der Kerl war wahrscheinlich schwer bewaffnet«, brummte er. »Du hast dich verrückt benommen!«

 

Sie lächelte und ging zu der offenen Tür, die auf die Terrasse führte. Nirgends war etwas von dem alten Mann zu sehen. Hastig angekleidete Diener eilten die Treppe herunter, und alle Räume im Erdgeschoß wurden durchsucht. Es stellte sich heraus, daß einer der zwei goldenen Becher, die Charles I. dem siebenten Grafen von Arranways geschenkt hatte, verschwunden war.

 

Eddie Arranways lief eine Woche lang mit düsterem Gesicht herum und war seiner Frau böse.

 

Der ›Alte‹ war wieder das Gespräch des Tages.