Kapitel 14

 

14

 

Anna war nicht ins Bett gegangen. In verzweifelter Stimmung hatte sie angefangen zu packen, aber sie brachte alles durcheinander. Sie wollte am kommenden Morgen nach London fahren, weil sie Angst hatte – Angst vor Keller. Sie wußte, daß sie ein drittesmal nicht mit ihm fertig werden würde. Bisher hatte immer sie selbst bestimmt, mit wem sie etwas zu tun haben wollte und mit wem nicht, und mit, der Zeit hatte sie sich ein gewisses Selbstvertrauen angeeignet. Sie war der Meinung, alles im Leben spielte sich nach feststehenden Regeln ab.

 

Das Erlebnis mit Keller hatte ihre Sicherheit ins Wanken gebracht.

 

Sie setzte sich hin, um ihm einen Brief zu schreiben – einen ausführlichen Brief, in dem sie ihm auseinandersetzen wollte, was man ihrer Meinung nach tat und was nicht. Sie hoffte, ihn dadurch zu überzeugen und – zu bessern. Aber nachdem sie dreimal angefangen und den Brief dann wieder zerrissen hatte, wurde sie sich des eigentlichen Grundes für ihre Besserungsversuche bewußt: Es war nicht so sehr der Wunsch, einen besseren Menschen aus ihm zu machen, als der, sich selbst ein Zeugnis über ihren großartigen Charakter auszustellen, der fern von allen Versuchungen auf dem Pfade der Tugend wandelte.

 

Schließlich siegte aber ihr angeborener Sinn für das Komische, und sie gab es auf. Wenigstens war sie dabei ruhiger geworden.

 

Sie hatte eben den letzten Brief in tausend Fetzen gerissen, als sie ein Klopfen hörte.

 

Entsetzt starrte sie auf die Tür, die glücklicherweise abgeschlossen war. Als das Klopfen wiederholt wurde, schlich sie zur Tür und horchte.

 

»Schlafen Sie schon? Kann ich noch hereinkommen?«

 

Es war Lady Arranways Stimme. Anna schloß auf.

 

»Sind Sie krank?« fragte Mary ernstlich besorgt.

 

»Nein, es geht mir ganz gut«, versicherte Anna. »Kommen Sie bitte herein. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich wieder abschließe?«

 

»Nein, im Gegenteil. Was ist denn mit Ihnen los? Sie sehen ja ganz blaß aus. Sie haben vorhin etwas Häßliches erlebt, nicht wahr? – Darf ich rauchen?«

 

Anna nahm eine Zigarette aus dem goldenen Etui, das Mary ihr hinhielt.

 

Mary setzte sich aufs Bett und zog Anna neben sich.

 

»Ich weiß, was heute nachmittag passiert ist – ich hab‘ es gesehen.«

 

»So? – Im Wald?«

 

Mary nickte.

 

Anna wurde rot.

 

»Es war so gemein!« sagte sie tonlos. »Heute abend war er auch noch hier im Zimmer.«

 

»Auch das weiß ich. Ich habe gesehen, wie Sie auf den Balkon hinausstürzten.«

 

Es entstand eine Pause. Nur das Ticken der kleinen Uhr auf dem Nachttisch war zu hören.

 

»Ist er ein Freund von Ihnen?« fragte Anna fast entschuldigend. »Ich meine, kennen Sie ihn eigentlich schon sehr lange?«

 

»Nein, nicht sehr lange. Aber er ist sehr eng mit mir befreundet – das heißt, er war es. Vermutlich spricht das ganze Dorf darüber.«

 

»Ich habe noch nichts gehört«, log Anna. »Natürlich wußte ich, daß er bei Ihnen und Ihrem Mann auf dem Schloß wohnte. Wer ist er eigentlich?«

 

»Er ist Australier – nein, er ist in England geboren, aber er lebte in Australien. – Wie lange war er eigentlich in Ihrem Zimmer? Ich habe Sie nämlich nicht heraufkommen hören.«

 

»Höchstens eine Minute – nein, noch nicht einmal. Er küßte mich und versuchte mich festzuhalten, aber ich konnte mich losreißen.«

 

Lady Arranways seufzte erleichtert auf.

 

»Sie sind noch sehr jung und eigentlich die letzte, die ich um Rat fragen sollte, aber bitte sagen Sie mir, was Sie tun würden, wenn Sie zu weit gegangen wären … Ich meine, wenn Sie vollkommen verantwortungslos gehandelt hätten – und wenn Sie einen Zettel wie diesen unter Ihrer Tür fänden.«

 

Sie zog ein Blatt Papier aus ihrer Handtasche und faltete es zögernd auseinander.

 

Anna nahm es und überflog den kurzen Text, der in peinlich ordentlicher Handschrift darauf stand. Mr. Keller hatte seine Schrift nach den Regeln der Ästhetik gestaltet, aber ein geübtes Auge kannte trotzdem noch gewisse Züge von Primitivität darin erkennen.

 

›Am Sonnabend brauche ich 3000 Pfund. Ich übersiedle dann auf den Kontinent und werde Dich nie wieder belästigen. Oder ist es Dir lieber, wenn ich mich an Eddie wende?‹

 

»Hat er denn selbst kein Geld?« fragte Anna überrascht. »Er sagte mir, er wäre sehr reich, besäße eine große Farm in Australien … Wollen Sie ihm das Geld geben?«

 

Mary Arranways faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es in die Tasche zurück.

 

»Er weiß genau, daß ich keine dreitausend Pfund habe, aber er erwartet, daß ich meinen Mann darum bitte.«

 

Anna sah sie erst verständnislos an, aber dann begriff sie plötzlich.

 

»Das ist ja Erpressung!«

 

Mary nickte.

 

»So kann man es nennen. Scheußlich, nicht wahr? Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll.«

 

»Daß so jemand überhaupt weiterleben darf! Man sollte ihn … Ach, ich benehme mich wirklich hysterisch. Entschuldigen Sie bitte.«

 

Mary stand auf und gab Anna die Hand.

 

»Würden Sie so freundlich sein, die Balkontür aufzuschließen? Ich möchte außen herum gehen. Nun gute Nacht, und haben Sie Dank für Ihr Zuhören.«

 

Anna schloß auf, und Mary trat hinaus, wich aber sofort wieder ins Zimmer zurück.

 

»Da draußen ist ein Mann!« sagte sie leise.

 

Annas Herz fing an zu hämmern.

 

»Wo?«

 

»Am hinteren Ende – sehen Sie, dort!«

 

Ängstlich schaute Anna durch den Türspalt. Zuerst konnte sie nichts entdecken, aber dann sah sie, daß sich am Ende des langen Balkons eine Gestalt bewegte und gleich darauf verschwand.

 

»War das …?« fragte sie leise.

 

»Nein, Keller war es nicht. Meiner Meinung nach war es ein viel größerer Mann. Ich dachte zuerst an Mr. Rennett; aber bei der Beleuchtung konnte ich natürlich keine Einzelheiten erkennen.«

 

Sie warteten noch fünf Minuten, aber die Gestalt erschien nicht wieder.

 

»Wollen wir nicht lieber die Tür zumachen?« fragte Anna ängstlich.

 

»Ich muß in das Zimmer meines Mannes. Dort liegt etwas … etwas, das mir gehört: und das ich brauche. Die Tür zum Gang ist abgeschlossen. Vielleicht ist die Balkontür auf.«

 

Sie trat in die Dunkelheit hinaus. Anna wartete eine Weile. Dann hörte sie die Stimme von Lady Arramways.

 

»Es ist alles in Ordnung, ich danke Ihnen. Ich gehe jetzt wieder in mein Zimmer. Gute Nacht.«

 

Anna schloß die Balkontür ab und zog die Vorhänge zu.

 

Kapitel 15

 

15

 

Collett kehrte gerade von seinem scheinbar harmlosen Spaziergang durchs Dorf zurück, als plötzlich ein Mann kurz vor ihm eilig die Straße überquerte. Der Chefinspektor ging schneller und kam an die Stelle, wo der Fremde durch eine Öffnung in der Hecke verschwunden war. Hier mündete der Fußweg auf die Straße, die am Gasthaus vorbeiführte.

 

Rechts und links dehnte sich eine Schonung aus. Collett bückte sich und blickte den Pfad entlang. Das Gelände stieg etwas an, und die Bäume ringsum behinderten seine Sicht. Er folgte dem Weg bis auf eine Wiese, konnte aber niemanden sehen. Der Mann hatte wahrscheinlich gemerkt, daß er verfolgt wurde, und sich im Gehölz versteckt. Das war verdächtig. Vielleicht handelte es sich um einen Wilderer.

 

Collett hätte sich als Chefinspektor von Scotland Yard eigentlich nicht um solche Lappalien zu kümmern brauchen, aber er war neugierig, und außerdem konnte man in dieser Gegend nie wissen, wen man aufstöberte und was alles passieren konnte.

 

Er nahm seine Taschenlampe und leuchtete nach allen Seiten.

 

Allerdings konnte er sich vorstellen, wie sich der Mann beim ersten Aufblitzen des Lichtstrahls flach auf die Erde werfen würde. Diese Vermutung war auch berechtigt, denn der Mann lag im hohen Gras und beobachtete mit Genugtuung, wie der Lichtstrahl hin und her wanderte und schließlich wieder erlosch.

 

Collett ging zum Gasthaus zurück. Er war gerade an der kleinen Pforte angelangt, die auf das Grundstück Lorneys führte, als er einen Mann sah, der schräg von hinten auf ihn zukam, aber sofort stehen blieb, als er Collett erblickte.

 

»Wer ist da?« rief er mit scharfer Stimme, und Collett erkannte, daß der Mann offenbar Angst hatte.

 

»Alles okay. Mein Name ist Collett.«

 

»Ach, Verzeihung, ich wußte nicht … Mein Name ist Keller. Ich habe gerade einen Spaziergang gemacht. Wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich mit Ihnen zum Gasthaus zurück. Ich habe mich verspätet.«

 

»Ach«, erkundigte sich Collett interessiert, »hatten Sie eine Verabredung?«

 

»Nein, nichts Offizielles. Ein Mädchen aus dem Dorf versprach mir, mich heute abend zu einem Spaziergang zu treffen.«

 

»Sie sind doch ein Freund der Arranways, nicht?«

 

Keller zögerte.

 

»Ach, im Moment bin ich allein. – Sie wohnen auch im Gasthaus, nicht wahr? Suchen Sie etwa den ›Alten‹?«

 

»Ja – unter anderem. Aber ich bin auch zur Erholung hier. Wer war denn das Mädchen aus dem Dorf?«

 

Keller wunderte sich über diese indiskrete Frage.

 

»Sie erwarten doch nicht, daß ich in Einzelheiten gehe, oder? Es war ein kleines Abenteuer. Man sollte so etwas nicht anfangen.«

 

Sie betraten zusammen die Diele. Mrs. Harris war an der Theke eingeschlafen und wurde von ihnen geweckt.

 

»Ich glaube, es sind alle ins Bett gegangen«, gab sie Auskunft. »Nur Captain Rennett ist noch nicht zurück. Lady Arranways hat sich auch hingelegt. Ich brachte ihr noch ein Glas heiße Milch.«

 

»Ist sie in ihrem Zimmer?« fragte Keller schnell.

 

»Na, hören Sie mal, junger Mann, eine Dame geht doch nur in ihrem eigenen Zimmer ins Bett«, erwiderte Mrs. Harris in moralischem Ton.

 

»War sie den ganzen Abend zu Hause?« fragte Keller, der sonderbar blaß geworden war.

 

Als er in seinem Zimmer war und die Tür abgeschlossen hatte, nahm er ein Blatt Papier aus der Tasche. Es war ein Bogen des Gasthauses. Er las zum zehnten Male die Sätze, die darauf standen. Eine halbe Stunde, nachdem er seinen Brief an Lady Arranways unter ihre Tür geschoben hatte, war dieses Blatt bei ihm unter der Türritze erschienen. Schließlich steckte er es wieder ein.

 

Nach einer Weile hörte er leise Schritte auf dem Holzboden des Balkons und sprang nervös auf. Seine Knie zitterten, und er ließ sich erleichtert wieder auf sein Bett fallen, als die Schritte an seiner Tür vorbeigingen. Morgen wollte er nach London fahren und dort auf Mary warten. Sicher würde sie ihm das Geld bringen. Er nahm den Zettel noch einmal heraus und studierte ihn eingehend.

 

Ja, morgen mußte er weg. Sketchley und alle Leute hier machten ihn nervös. England war überhaupt ein heißes Pflaster geworden.

 

Er zog eine Schublade seines Schreibtisches auf, holte einen Browning heraus und lud ihn. Wenn jemand versuchen würde, ihm zu nahe zu kommen, mußte er vorbereitet sein. Dann konnte er keine Rücksichten mehr nehmen.

 

Wieder glaubte er draußen Schritte zu hören und horchte krampfhaft. Vielleicht war es Mary, die mit ihm über die Angelegenheit sprechen wollte. Vielleicht war es auch Anna? An sie durfte er gar nicht denken. Sie hatte ihn tiefer beeindruckt als je eine Frau zuvor. Zweimal hatte sie ihn jetzt schon abgewiesen, aber darauf durfte man nicht zuviel geben. Die meisten Frauen pflegten sich erst eine Weile zu sträuben. Es schien dazuzugehören. Wenn er nur an das junge Mädchen in Brisbane dachte!

 

Er drehte das Licht aus, zog die Vorhänge beiseite und schaute hinaus. Das Geländer des Balkons konnte er sehen, das sich in strengem Muster von dem mondüberglänzten Rasen abhob, aber ein Mensch war nicht zu entdecken.

 

Nein, nach Paris wollte er nicht gehen, lieber nach Den Haag. Dort hatte er Verbindungen und konnte sich leichter absetzen – vielleicht nach Südamerika.

 

Wieder lauschte er. Er schlich zum Fenster und schaute hinaus.

 

Eine Frau! Mary Arranways kam vom Zimmer ihres Mannes zurück. Sie mußte an seiner Tür vorbei. Sollte er hinausgehen und sie um eine Erklärung bitten? Vielleicht wollte sie ihn auch sprechen? Aber bevor er sich entschlossen hatte, war sie schon vorbei.

 

Anna Jeans fiel ihm ein. Mary war zwar eine charmante Frau, eine jener Damen der guten englischen Gesellschaft, von denen man soviel in Romanen und Illustrierten las. Aber jetzt bedeutete sie nur noch das große Geschäft für ihn.

 

Man mußte ja sagen, daß sie wirklich eine Frau mit Kultur war. Es hatte schon so seine Vorteile, wenn man mit vornehmen Damen verkehrte. Erstens warf es ein günstiges Licht auf einen selbst, und zweitens waren sie so gut erzogen, daß sie keine Szenen beim Abschied machten. Er bewunderte ihre Selbstbeherrschung.

 

Aber Anna war weniger anstrengend. Man mußte, so bildete er sich ein, bei ihr nicht dauernd etwas darstellen, was man im Grunde doch nicht war, nicht ständig den feinen Mann markieren.

 

Keller seufzte. Kurz entschlossen griff er nach der Kognakflasche.

 

Leer, verdammt noch mal!

 

Er klingelte, aber niemand kam.

 

Wütend riß er die Tür auf und ging bis vorne an die Treppe.

 

Unten sah er Charles die Theke abwischen.

 

»Mann, ich habe geklingelt! Sitzen Sie denn auf Ihren Ohren?«

 

»Sie wissen doch, daß Ihre Klingel nicht funktioniert«, brummte Charles ebenso unliebenswürdig. »Was regen Sie sich denn so auf?«

 

Keller bestellte eine neue Flasche Kognak.

 

Er ging in sein Zimmer zurück. Diesen Kellner mit dem häßlichen, harten Gesicht konnte er nicht ausstehen. Sicher hatte er ihn belogen und die Klingel kaltlächelnd überhört.

 

Kurz darauf kam Charles.

 

»Mr. Lorney könnte sich wirklich Kellner halten, die besser auf Draht sind«, sagte Keller ärgerlich. »Aber es ist wohl im Gefängnis nichts Besseres zu haben.«

 

Charles warf ihm einen haßerfüllten Blick zu, sagte aber nichts.

 

Draußen kam ein Auto den Zufahrtsweg herauf. Sofort wurden Kellers Befürchtungen wieder wach. Wer konnte es sein? Vielleicht Lorney? Um den brauchte er sich nicht besonders zu kümmern.

 

Mr. Lorney hatte den Wagen auch gehört, trat vors Haus und knipste am Eingang die große Beleuchtung an. Den eleganten Rolls Royce kannte er nicht. Lord Arranways stieg aus. Es war der Wagen, den die Arranways in London hatten.

 

Lorney war etwas überrascht, als er auch Dick aussteigen sah.

 

»Ich habe meine Geschäfte in London erledigt«, sagte der Lord, »und bleibe die Nacht hier. Den Schlüssel von meinem Zimmer hatte ich mitgenommen. Hoffentlich hat er Ihnen nicht gefehlt.«

 

Als der Wirt gegangen war, um Charles zu rufen, redete Dick noch einmal auf seinen Schwager ein, wie er es schon die ganze Fahrt über getan hatte.

 

»Ich muß mir aber völlig klar darüber werden«, erwiderte der Lord hartnäckig und leicht gereizt. »Das alles habe ich schon einmal durchgemacht, Dick, und ich muß wissen, woran ich bin.«

 

»Gibt es denn keine andere Möglichkeit, dich darüber zu informieren, als persönlich nachzuschnüffeln? Du wärst wirklich besser in der Stadt geblieben, Eddie.«

 

Dick war noch spät am Abend zu dem kleinen, zehn Meilen von Sketchley entfernten Dorf gefahren und hatte dort Eddie getroffen. Der Lord hatte sich ein Zimmer im Gasthaus genommen und lief erregt darin auf und ab. Immer tiefer verrannte er sich in die verrücktesten Pläne, wie er seine Frau und ihren Liebhaber überraschen wollte.

 

»Und was willst du eigentlich tun, wenn du feststellst, daß du mit deinen Befürchtungen recht hattest?«

 

Der Lord lachte verbittert auf. Er sah alt und vergrämt aus. Dick erschrak über die Veränderung.

 

»Das hängt davon ab, wie mir dann gerade zumute ist. Wenn ich tatsächlich die Gewißheit hätte, daß sie mich betrügt, würde ich mich vom öffentlichen Leben zurückziehen, irgendwohin gehen und – Kakteen züchten! Entweder das, oder ich würde es auf einen Prozeß ankommen lassen, von dem noch nach fünfzig Jahren gesprochen würde.«

 

Dick sah ihn entsetzt an.

 

»Verschwinden und Kakteen züchten, du? So was Idiotisches habe ich wirklich schon lange nicht mehr gehört. Ein Mann wie du, der in der Politik und Gesellschaft eine solche Rolle spielt, kann doch nicht so einfach untertauchen, selbst wenn er möchte.«

 

Lorney kam zurück, sagte, daß das Zimmer fertig sei und brachte seinen Gast nach oben.

 

»Soll ich Mylady sagen, daß Sie zurückgekommen sind?«

 

»Nein. Das ist das einzige, was Sie weder ihr noch irgend jemandem sonst sagen sollen. – Wo ist sie denn?«

 

»Soviel ich weiß, ist sie ins Bett gegangen.«

 

»Und Keller?«

 

»Der ist seit einiger Zeit in seinem Zimmer. Er fährt morgen nach London ab. – Ich habe Ihre Dolche und Waffen in eine leere Schublade dieses Schranks und Ihre Miniaturen in meinem Safe eingeschlossen.«

 

Arranways nickte.

 

»Ich danke Ihnen, Lorney. – Ist etwas passiert, seitdem ich fort war?«

 

»Nein.«

 

»Also, Mr. Lorney, ich kann mich auf Sie verlassen, daß Sie Lady Arranways nichts von meiner Rückkehr sagen?«

 

Er sah Lorney an, schüttelte dann aber den Kopf.

 

»Nein, ich kann mich nicht auf Sie verlassen. Sie haben mir das erstemal schon etwas vorgelogen – es war zwar gut gemeint von Ihnen, aber es war eben doch eine Lüge. Sie haben Mylady nicht auf dem Flur gefunden.«

 

Der Wirt sah ihn gerade an. »Ich habe Lady Arranways auf dem Gang unter dem Fenster entdeckt.«

 

»Würden Sie das auch vor Gericht beschwören?«

 

»Zehnmal würde ich es beschwören«, gab der Wirt zurück.

 

Eddie Arranways lehnte sich gegen den Schreibtisch und verschränkte die Arme.

 

»Eigentlich verstehe ich nicht, warum Sie lügen sollten. Lady Arranways kann Ihnen doch nichts bedeuten. Oder hat sie Ihnen Geld gegeben?«

 

An dem Zug von Verachtung, der jetzt auf Lorneys Gesicht lag, erkannte der Lord, daß er zu weit gegangen war.

 

»Es tut mir leid, ich bin heute abend etwas nervös, Mr. Lorney. Bitte lassen Sie mich morgen gegen sieben Uhr wecken das heißt, wenn ich hier sein sollte!«

 

Der Lord erklärte diese mysteriöse Bemerkung nicht, aber der Wirt glaubte zu verstehen.

 

Er ging in sein Privatzimmer, zog den Scheck aus der Tasche und betrachtete ihn eingehend. Dieser Keller besaß wirklich Mut! Dann schloß er ihn im Safe ein.

 

Als er in die Diele zurückkehrte, saß Collett dort in einem tiefen Sessel, hatte eine Karte auf den Knien und studierte sie.

 

»Ich habe ihm noch mal was zu trinken ‚raufgebracht«, sagte Charles zu Lorney.

 

»Von wem sprechen Sie – etwa von Mr. Keller?«

 

»Jawohl.« Charles‘ Gesicht lief rot an. »Er hat die größten Frechheiten zu mir gesagt – das tut er ja immer. Wenn man einmal im Gefängnis gewesen ist, will einen jeder wieder hineinstecken.«

 

Lorney drehte sich ungeduldig um.

 

»Nun machen Sie sich nicht so entsetzlich wichtig! – Ist er schlafen gegangen?«

 

»Nein, bisher noch nicht.«

 

Inzwischen war Dick erschienen. Er sah sehr schlecht aus.

 

Aber ehe er dazu kam, etwas zu sagen, klingelte es dreimal heftig.

 

Lorney schaute aufs Schaltbrett und wandte sich dann an Charles. »Mr. Keller.« Er runzelte die Stirn. »Ich will mal nachsehen, was er hat.«

 

Collett beobachtete, wie der Wirt an Kellers Zimmertür anklopfte und hineinging. Bald darauf kam er wieder heraus und blieb in der offenen Tür stehen.

 

»Sie haben genug gehabt heute abend, Mr. Keller«, sagte er unfreundlich. »Schön, dann gehen Sie woanders hin. Mich wird es nur freuen, wenn ich nichts mehr mit Ihnen zu tun habe.«

 

Er schlug die Tür hinter sich zu und kam dann herunter. Die Hände hatte er in die Taschen gesteckt. Ohne jemanden anzusehen, ging er mit düsterem Gesichtsausdruck hinter die Theke, drückte die Tür zu seinem Privatzimmer mit der Schulter auf und verschwand.

 

»Na, der ist ja auf achtzig«, meinte Collett.

 

»Das kann ich ihm nicht mal verdenken«, entgegnete Dick Mayford. »Gehen Sie zu Lord Arranways und fragen Sie, ob Sie ihm etwas helfen können«, fuhr er dann, zu Charles gewandt, fort.

 

»Sind Sie Lord Arranways Schwager?« fragte Collett. »Ich dachte, der Lord wäre in London.«

 

»Er ist heute abend zurückgekommen«, gab Dick kurz Auskunft.

 

Er war nicht in der Stimmung, sich mit anderen Leuten über die Arranways zu unterhalten, und außerdem hatte er das Gefühl, der gerissene Kriminalbeamte wollte ihn nur im Lauf eines harmlosen Gesprächs ein bißchen aushorchen.

 

Lorney kam wieder aus seinem Zimmer, ging zur Theke, stützte sich mit beiden Ellenbogen darauf und sah die beiden Männer mit ausdruckslosem Blick an.

 

»Was ist denn mit Mr. Keller los?« erkundigte sich Collett. Er sah auf seine Uhr, die etwas nachging, und stellte sie nach der Turmuhr, die gerade halb zwölf schlug.

 

»Sinnlos betrunken. Er hat heute schon fast zwei Flaschen Kognak leergemacht – da ist es kein Wunder«, antwortete Lorney.

 

Charles erschien wieder in der Gaststube.

 

»Lord Arranways ist nicht in seinem Zimmer. Ich glaube, ich habe ihn auf dem Rasen gesehen.«

 

Lorney wurde vor Ärger rot im Gesicht.

 

»Zum Teufel, wer hat Sie denn nach oben geschickt …?« begann er.

 

»Ich«, entgegnete Dick. »Ich wollte nur wissen, ob Lord Arranways etwas wünscht. – Auf dem Rasen haben sie ihn gesehen?«

 

»Ja, am Fuß der Balkontreppe.«

 

Ein markerschütternder Schrei unterbrach ihn.

 

Alle schraken zusammen und sahen sich entsetzt an. Gleich darauf hörten sie ihn noch einmal.

 

Eine Frau mußte zu Tode erschrocken sein. Ein paar Minuten später kam Mary Arranways oben den Gang entlanggelaufen – geisterhaft blaß. Sie trug einen cremefarbenen Morgenrock, von dem Collett zuerst dachte, er wäre mit roten Blumen bedruckt, bis er erkannte, daß es große Blutflecken waren.

 

Als sie die Treppe herunterkam, streckte sie die Hände weit von sich. Auch sie waren blutbefleckt.

 

Dick lief ihr erschreckt entgegen und führte sie vorsichtig zu einem Stuhl.

 

»Was ist denn passiert?«

 

»Da oben – da!« rief sie völlig verstört. »Keller – er ist tot, ermordet … auf dem Balkon!«

 

Im nächsten Augenblick stürzte Collett die Treppe hinauf, rannte den Gang entlang, riß die Tür zu Kellers Zimmer auf und machte Licht. Der Raum war leer. Eine der beiden Balkontüren stand offen. Er trat hinaus.

 

Keller lag auf dem Rücken. Aus seiner Brust ragte der Griff eines Dolches. Es war der Dolch Aba Khans.

 

Kapitel 1

 

1

 

Die häßlichen roten Backsteingebäude auf der Höhe von Sketchley Hill hießen offiziell ›Landesirrenanstalt‹, aber in der Gegend wurden sie allgemein ›das Asyl‹ genannt. Nur die ältesten Leute konnten sich noch daran erinnern, welch heftigen Widerstand die Bevölkerung seiner Errichtung entgegengesetzt hatte, aber die Beamten, die es anging, waren vernünftig und erklärten, daß Geisteskranke doch auch ein Anrecht darauf hätten, etwas von der Schönheit der Natur zu genießen, und daß dieser wunderbare Ausblick nach allen Seiten sicher wohltuend auf sie wirken würde.

 

Diese Auseinandersetzung hatte sich vor langer Zeit abgespielt, als der ›Alte‹ noch ein junger Mann war und mit düsterem Gesicht durch Wälder und Felder streifte und merkwürdige Pläne schmiedete. Aber schon bald fürchtete man, seine phantastischen Gedanken könnten sich gemeingefährlich auswirken, und so ließ man ihn von drei Ärzten untersuchen, die ihn die gleichgültigsten Dinge fragten – so kam es ihm wenigstens vor – und die ihn danach in geschlossenem Wagen in die Anstalt brachten.

 

Dort lebte er dann viele Jahre. Inzwischen rasten Kriege und Revolutionen über die Erde, wurden Könige von ihren Thronen verbannt und die leichten Kutschwagen von den Landstraßen, wo jetzt Autos in großen Staubwolken dahinsausten.

 

Manchmal fühlte der ›Alte‹ eine unstillbare Sehnsucht, aus den hohen roten Mauern herauszukommen, wieder unter normalen Menschen zu leben. Von seinem Fenster aus konnte er die Giebel von ›Arranways Hall‹ sehen. Seit vierundvierzig Jahren schaute er nun immer durch dasselbe Fenster auf dieselben Giebel.

 

Aber eines Nachts konnte er es nicht mehr aushalten; die Sehnsucht nach den Wäldern und einem Leben in Freiheit wurde übermächtig in ihm. Er dachte an die Höhlen, an die Stellen im Wald, wo er als Junge unter den großen Farnen geträumt hatte, an den Steinbruch mit den senkrecht abfallenden Wänden und dem tiefen Teich davor. Leise stand er auf, kleidete sich an, verließ sein Zimmer und ging die Treppe hinunter. In der Hand trug er einen schweren Hammer, den er vor einiger Zeit gestohlen und seither versteckt hatte.

 

Unten in der Halle schlief der Wärter – der ›Alte‹ schlug ihn mit dem Hammer mehrmals auf den Kopf. Der Mann gab keinen Ton von sich. Der ›Alte‹ nahm den Schlüsselbund und schloß die Türen auf. Dann eilte er durch den Garten und war bald darauf durch das große Tor verschwunden. Mit seinem weißen, unordentlichen Bart sah er richtig unheimlich aus, als er in den frühen Morgenstunden kurz vor Sonnenaufgang durch die kühlen Wälder von Sketchley strich. Am Rande des Steinbruchs setzte er sich schließlich hin und versank in Träumereien, während er in das stille Wasser des Teichs tief unter sich starrte.

 

*

 

Mr. Lorney, der neue Wirt des Gasthauses in Sketchley, wollte sich nicht an der Verfolgung des Entsprungenen beteiligen. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit kahlem Kopf und harten Zügen. Seine Stimme klang energisch, und er trieb sein Personal ständig zur Arbeit an. Bei der Jagd mitzumachen, hatte er keine Lust, soweit fühlte er sich für das Allgemeinwohl doch nicht mitverantwortlich.

 

Er wohnte erst seit kurzem in Sketchley und wurde deswegen von den Einheimischen mit einem gewissen Mißtrauen beobachtet, das er in gleichem Maße erwiderte. Er wettete dauernd, aber mit Verstand. Ab und zu fuhr er nach London, und selbstverständlich besuchte er alle Rennen in der Umgegend. Trotzdem konnte man nicht sagen, daß er sein Geschäft irgendwie über seiner Liebhaberei vernachlässigte. Von Anfang an hatte er sich vorgenommen, für besser gestellte Leute Wochenendappartements einzurichten. Deshalb baute er das etwas verfallene Haus um, das noch aus der Tudorzeit stammte. Auch den verwilderten Garten hatte er neu angelegt und die Fassade des Gasthauses frisch gestrichen.

 

Die Reporter, die nach Sketchley kamen, um über den geflüchteten Geisteskranken zu berichten, fanden bei Mr. Lorney ein bequemes und gutes Quartier. Obwohl sie wenig wirklich Neues entdeckten, von dem ›Alten‹ ganz zu schweigen, verfaßten sie die sensationellsten Artikel. Spaltenlang beschrieben sie die aufregenden Streifen durch die Wälder und die geheimnisvollen Höhlen, die noch niemand genau untersucht hatte. Von den Landleuten ließen sie sich allerhand Geschichten über den ›Alten‹ erzählen; außerdem war auch noch über den toten Wärter zu berichten, dessen geheimnisvolle Vorahnung seines Todes jetzt von seinen Freunden bestätigt wurde und dessen Begräbnis viel Stoff zum Schreiben lieferte.

 

Aber nach einer Weile, als von dem ›Alten‹ immer noch keine Spur zu entdecken war, versiegte das Interesse der Öffentlichkeit, und die Furcht der Leute in den umliegenden Dörfern schlief ein.

 

»Je eher die Sache vergessen wird, desto besser«, meinte John Lorney. »Für uns ist der Fremdenverkehr von größtem Interesse. Wenn die Gäste immer an den ›Alten‹ mit dem Hammer erinnert werden, bekommen wir eine schlechte Saison.«

 

Man nahm an, daß der ›Alte‹ tot sei oder sich in eine andere Gegend verzogen habe.

 

*

 

Aber dann tauchte der ›Alte‹ plötzlich doch wieder auf. Man sah ihn in derselben Nacht, als in ›Tinsden House‹ silbernes Geschirr im Wert von etwa tausend Pfund gestohlen wurde. Ein Arbeiter, dessen Frau krank war, ging auf der Straße auf und ab und erwartete die Ankunft des Arztes. Plötzlich sah er, daß sich eine Gestalt aus dem Schatten einer Hecke löste, über die Straße rannte und in der nahen Schonung verschwand. Im Mondlicht erkannte er den weißen Bart des ›Alten‹. Als der Doktor ankam, hatte er zwei Patienten zu versorgen.

 

Die Bewohner von Sketchley fingen wieder an, alles zu verriegeln, und niemand traute sich nachts allein auf die Straße.

 

Aus Guildford und sogar von Scotland Yard wurden Kriminalbeamte nach Sketchley geschickt, und der Polizeidirektor hielt eine Konferenz ab.

 

Während sich noch alle Leute über den ersten Einbruch den Kopf zerbrachen, wurde in einem nahegelegenen Schloß ein zweiter verübt. Diesmal sah der Chauffeur des Postautos, das von Guildford nach London fuhr, einen weißhaarigen Mann in abgetragenen Sachen auf der Landstraße entlangwandern.

 

Chefinspektor Collett kam von London und ließ sich die Personalakten des Geisteskranken zeigen, aber er konnte keinen Anhaltspunkt finden, der ihm half, das Geheimnis aufzuklären.

 

»Entweder muß er ein erstklassiger Einbrecher gewesen sein, als er noch jung war«, sagte er kopfschüttelnd, »oder er hat das alles in der Anstalt gelernt. Das wäre nicht das erste Mal. Ich kann mich ganz genau auf so einen Fall besinnen …«

 

Der dritte Einbruch geschah in ›Arranways Hall‹. Lord Arranways hörte mitten in der Nacht ein Geräusch, ging in das Schlafzimmer seiner jungen Frau und weckte sie.

 

»Wenn ich mich nicht irre, ist unten ein Fenster eingedrückt worden«, sagte er leise. »Ich gehe einmal hinunter und schaue mich um.«

 

»Warum verständigst du nicht jemanden vom Personal?« fragte sie ängstlich, stand auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und folgte ihm durch den dunklen Gang die breite Treppe hinunter. Er flüsterte ihr zu, daß sie oben bleiben solle, aber sie schüttelte nur den Kopf. Vorsichtig ging er durch die stille Eingangshalle und öffnete die Tür zur Bibliothek. Im gleichen Augenblick sprang jemand aus dem Schatten und war deutlich in der offenen Glastür zu erkennen. Der Lord riß den Revolver hoch und drückte ab. Gleich darauf hörte man, daß Glas splitterte.

 

»Warum hast du das getan?« fragte er ärgerlich.

 

Als er die Waffe hob, hatte sie seinen Arm in die Höhe geschlagen, so daß der Schuß in den Kristalleuchter ging und Scherben von der Decke fielen.

 

»Warum wolltest du auf den alten Mann schießen? Hast du nicht seine weißen Haare gesehen?«

 

Der Lord hatte ein reizbares, jähzorniges Wesen. Er war zum zweitenmal verheiratet. Das Verhalten seiner zweiten und sehr jungen Frau regte ihn manchmal auf.

 

»Der Kerl war wahrscheinlich schwer bewaffnet«, brummte er. »Du hast dich verrückt benommen!«

 

Sie lächelte und ging zu der offenen Tür, die auf die Terrasse führte. Nirgends war etwas von dem alten Mann zu sehen. Hastig angekleidete Diener eilten die Treppe herunter, und alle Räume im Erdgeschoß wurden durchsucht. Es stellte sich heraus, daß einer der zwei goldenen Becher, die Charles I. dem siebenten Grafen von Arranways geschenkt hatte, verschwunden war.

 

Eddie Arranways lief eine Woche lang mit düsterem Gesicht herum und war seiner Frau böse.

 

Der ›Alte‹ war wieder das Gespräch des Tages.