Kapitel 1

 

1

 

Larry Holt saß vor dem Café de la Paix und beobachtete aufmerksam den Menschenstrom, der den ›Boulevard des Italiens‹ in beiden Richtungen entlangströmte. Der Hauch des Frühlings hing in der Luft, und ein goldener Sonnenschein ließ die Farben der Zeitungskioske in leuchtenden Schattierungen hervortreten und verlieh sogar den schreienden Reklamen einen gewissen künstlerischen Wert. Dies Treiben und Hasten, all diese Menschen entzückten Larry Holt, der nach vier Jahren harter Arbeit in Frankreich und Deutschland von Berlin hier eingetroffen war, und er fühlte ein richtiges Feriengefühl in sich, ein Feriengefühl, das sogar ein vielbeschäftigter Detektiv empfinden kann.

 

Die Stellung, die Larry Holt bekleidete, war den Beamten von Scotland Yard ein Rätsel. Er hatte den Rang eines Inspektors, seine Tätigkeit war die eines Kommissars, und allgemein wurde angenommen, daß er für den ersten freien Posten eines assistierenden Kommissars vorgemerkt war. Aber in diesem Augenblick lagen all diese Fragen von Rang und Beförderung für Larry in weiter Ferne. Behaglich saß er auf seinem Stuhl und trank mit jedem Atemzug den süßen Odem des Frühlings; die reine Freude am Leben sprach sich in seinen hübschen Gesichtszügen aus, und in seinem Herzen war ein Gefühl der Erleichterung, der Ruhe, das er für Monate und Jahre nicht gefühlt hatte.

 

Larry bezahlte seinen Kaffee, stand auf und ging gemächlich um die Ecke nach seinem Hotel. Behaglich ging der schlanke, große Mann seines Weges, die Hände in den Taschen, während seine weißen Zähne eine lange, schwarze Zigarettenspitze festhielten.

 

Er trat in die überfüllte Vorhalle seines Hotels und ging auf den Fahrstuhl zu, als er durch die große Glastür, die nach dem Wintergarten führte, dort einen eleganten Herrn bemerkte, der bequem in einem großen Klubsessel saß und bedächtig seine Zigarre rauchte.

 

Larry grinste und zögerte einen Augenblick. Dieser Mann mit den scharfen Gesichtszügen, der so wunderbar elegant angezogen war, an dessen Fingern und Krawatte Brillanten blitzten, war ihm bekannt. In einem Anfall mutwilliger Bosheit ging er durch die Glastür auf den behaglich Sitzenden zu.

 

»Ist es wirklich mein alter Freund Fred?« sagte er leise.

 

»Flimmer Fred«, internationaler Hochstapler und Falschspieler, sprang mit einem Satz auf die Füße und unverkennbare Bestürzung zeigte sich beim Anblick dieser unerwarteten Erscheinung auf seinen Zügen.

 

»Hallo, Mr. Holt!« stammelte er. »Sie sind wirklich die letzte Person in der ganzen Welt, die ich erwartet hätte, hier zu finden –«

 

»Oder gewünscht hätte, hier zu finden«, unterbrach ihn Larry mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln. »Was für ein Glanz! Donnerwetter, Fred, Sie sind ja ausgeputzt wie ein Weihnachtsbaum.«

 

Flimmer Fred griente unbehaglich, gab sich aber große Mühe, vollkommene Gleichgültigkeit zu zeigen.

 

»Das alte Leben ist jetzt für mich abgetan, Mr. Holt«, sagte er.

 

»Sie sind ein Schwindler und werden immer ein Schwindler bleiben«, erwiderte Larry ruhig.

 

»Auf die Bibel schwöre ich Ihnen –« begann Fred nachdrücklich.

 

»Fred, Fred«, fiel Larry ohne eine Spur von Ärger ein, »wenn Sie zwischen Ihrer toten Tante und Ihrem sterbenden Onkel stehen und einen Eid auf die Bibel schwören, ich würde Ihnen doch nicht glauben.«

 

Mit Bewunderung betrachtete er sich Freds Äußeres, die große Brillantnadel in seiner Krawatte, die dreifache, goldene Kette über seiner hocheleganten Weste, die blendend weißen Gamaschen über den glänzenden Lackschuhen, das tadellos gebürstete Haar.

 

»Sie sehen süß aus, wirklich süß! Was für eine neue Sache haben Sie jetzt vor? – Ich nehme natürlich nicht an«, unterbrach er sich selbst, »Sie werden’s mir erzählen, aber ziemlich aussichtsreich muß es doch sein, Fred.«

 

Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

 

»Ich bin jetzt im Geschäft«, sagte er.

 

»In wessen Geschäft denn?« fragte Larry mit Interesse. »Und wie sind Sie denn da ‚reingekommen? Mit ’nem Brecheisen oder war’s eine Dynamitpatrone? Das wäre ja ein ganz neuer Beruf für Sie, Fred. Bis jetzt haben Sie sich doch ausschließlich darauf beschränkt, unerfahrene Jugend um ihr Geld zu bringen und«, fügte er bedeutungsvoll hinzu, »die Taschen von gerade Gestorbenen zu erleichtern.«

 

Freds Gesicht rötete sich.

 

»Sie glauben doch nicht, daß ich irgend was mit dem Morde in Montpellier zu tun hatte?« protestierte er hitzig.

 

»Ich glaube ja nicht, daß Sie den bedauernswerten, jungen Mann erschossen haben«, gab Larry zu, »aber Sie sind sicherlich beobachtet worden, wie Sie sich über den Körper beugten und seine Taschen durchsuchten.«

 

»Ich wollte doch bloß sehen, wer es war«, entgegnete Fred tugendhaft, »und ‚rausfinden, wer ihn getötet hatte.«

 

»Sie sind gleichfalls gesehen worden, wie Sie mit dem Täter sprachen. Eine alte Dame, eine gewisse Madame Prideaux, sah von ihrem Schlafzimmerfenster aus, wie Sie den Mann festhielten und dann gehen ließen. Ich nehme an, er hat ›geschmiert‹.«

 

»Das ist nun schon zwei Jahre her, Mr. Holt«, sagte Fred, »und ich begreife nicht, warum Sie diesen alten Kohl noch aufwärmen. Der Untersuchungsrichter hat mich in jeder Beziehung freigesprochen.«

 

Larry lachte und klopfte ihn auf die Schulter.

 

»Wie das auch sein mag, ich bin auf jeden Fall jetzt nicht im Dienst, Fred. Ich gehe auf eine Erholungs- und Vergnügungsreise.«

 

»Sie fahren also nicht nach London?« fragte der Mann schnell.

 

»Nein«, antwortete Larry und hatte die Empfindung, daß der andere erleichtert aufatmete.

 

»Ich fahre heute nach London und hoffte, wir würden vielleicht zusammen reisen können.«

 

»Es tut mir unendlich leid«, erwiderte Larry, »Ihre Hoffnungen enttäuschen zu müssen, aber ich reise in entgegengesetzter Richtung. Auf Wiedersehen.«

 

»Viel Vergnügen!« sagte Fred und blickte mit einem Gesicht hinter ihm her, dessen Ausdruck keineswegs mit seinen Worten übereinstimmte.

 

Larry ging auf sein Zimmer und fand seinen Diener mit dem Reinigen und Ordnen seiner Garderobe beschäftigt. Patrick Sunny, den er nun schon zwei Jahre hindurch als Diener ertragen hatte, war ein ernsthafter, junger Mann mit Glotzaugen und einem runden Gesicht.

 

»Sunny«, sagte er, »Sie brauchen meine Anzüge nicht weiter zu beschädigen. Packen Sie sie ein.«

 

»Ja, Sir«, entgegnete Sunny.

 

»Ich reise mit dem Nachtzug nach Monte Carlo.«

 

»Ja, Sir«, sagte Sunny, der genau dasselbe gesagt hätte, wenn Larry die Absicht ausgesprochen hätte, nach der Sahara oder dem Nordpol abzureisen.

 

»Nach Monte Carlo, Sunny!« rief Larry vergnügt. »Auf sechs freie, vergnügte und kostspielige Wochen. – Fangen Sie sofort mit dem Packen an.«

 

Er nahm den Telephonhörer vom Schreibtisch auf und rief das Reisebüro an.

 

»Reservieren Sie mir einen Schlafwagen und ein Erster für heute nacht nach Monte Carlo«, sagte er. »Monte Carlo«, wiederholte er lauter. »Nein, nicht nach Calais. Ich habe nicht die geringste Absicht, nach Calais zu fahren – danke bestens.« Er hing den Hörer auf, nahm eine frühe Abendausgabe und überflog die Spalten. Verschiedene Einzelheiten erinnerten ihn an seinen Beruf und dessen Anforderungen. Ein großer Bankeinbruch in Lyon, bewaffnete Räuber hatten in Belgien einen Postwagen aufgehalten, und dann ein Artikel:

 

»Der Mann, den man auf den Stufen des Themse Embankment auffand, ist als ein Mr. Gordon Stuart, ein reicher Kanadier, identifiziert worden. Man nimmt an, daß es sich um einen Selbstmord handelt. Mr. Stuart hatte den Abend mit einigen Freunden im Theater verbracht, verschwand im Zwischenakt und wurde nicht wieder gesehen, bis sein Leichnam gefunden wurde. Die amtliche Totenschau findet in den nächsten Tagen statt.«

 

Er las den Artikel zweimal durch und runzelte die Stirn.

 

»Gewöhnlich geht man eigentlich nicht während der Pause aus dem Theater und begeht Selbstmord – oder das Stück müßte ausnehmend schlecht gewesen sein«, sagte er, und der gehorsame Sunny antwortete:

 

»Nein, Sir.«

 

Er warf die Zeitung fort.

 

Der Nachmittag war mit den Vorbereitungen für die Abreise ausgefüllt, und um halb sieben stand er im Hotelbüro, um seine Rechnung zu bezahlen – Sunny mit seinem Mantel über dem Arm, der Gepäckträger mit den Koffern hinter ihm –, als ein Page auf ihn zukam.

 

»Monsieur Holt?« fragte er.

 

»Der bin ich«, sagte Larry und sah argwöhnisch auf den Briefumschlag in der Hand des Pagen. »Ein Telegramm? – Ich will’s nicht sehen.«

 

Trotzdem nahm er es und las mit recht gemischten Gefühlen:

 

»Sehr dringend. Spezial Polizeidienst. Alle Linien frei machen. Larry Holt, Grand Hotel, Paris. Fall Stuart sehr verwickelt stop wäre persönlich dankbar wenn Sie sofort zurückkommen und Fall übernehmen.«

 

Der Oberkommissar, der nicht nur Vorgesetzter, sondern auch ein persönlicher Freund Larrys war, hatte das Telegramm selbst unterzeichnet, und mit einem schweren Seufzer steckte Holt es in die Tasche.

 

»Wann kommen wir in Monte Carlo an, Sir?« fragte Sunny, als sein Herr auf ihn zukam.

 

»Ungefähr heute in zwölf Monaten«, antwortete er grimmig.

 

»Wirklich, Sir?« fragte Sunny mit höflichem Interesse. »Das muß ja recht weit weg sein.«

 

Kapitel 10

 

10

 

Flimmer Fred hatte London nicht verlassen und auch niemals die Absicht gehabt, fortzugehen. Flimmer Fred war mit allen Wassern gewaschen. Wäre er dies nicht, könnte er nicht in einem so eleganten Stil leben, hätte keine schicke Wohnung in der Jermyn Street und kein Motorcoupé, das ihn abends zum Theater brachte. Seine Unkosten waren nicht gering, aber seine Einkünfte desto höher. Er hatte immer verschiedene Eisen im Feuer, aber niemals verbrannte er sich die Finger an einem – und das ist die große Kunst des Erfolges im Leben.

 

Am Abend des gleichen Tages, an dem Larry das erste Rätsel des Falles Stuart gelöst hatte, saß Flimmer Fred in seinem prächtigen Wohnzimmer und dachte über eine Theorie nach, die er sich im Anschluß an eine am Morgen gemachte Beobachtung gebildet hatte.

 

Zwölfhundert Pfund jährlich ergeben innerhalb fünf Jahren die respektable Summe von sechstausend Pfund. Aber fünf Jahre bilden auch eine bedeutende Spanne Zeit in dem abenteuerlichen Leben eines Mannes wie Flimmer Fred. Zwölfhundert Pfund gestatten nur zweimal das Maximum am Spieltisch und können in weniger als drei Minuten verloren werden.

 

Dr. Judd war Sammler. Fred hatte erfahren, daß Dr. Judds Haus in Chelsea eine wahre Schatzkammer von Gemälden und antiken Schmuckgegenständen war, daß Dr. Judd der Besitzer historischer Juwelen war, deren Wert fünfzigtausend Pfund überschritt. Und wenn auch Fred absolut kein Interesse für Geschichte hatte, so war er doch für den Wert kostbarer Steine äußerst empfänglich, und die Theorie, die er sich am Morgen gebildet hatte, war in erster Linie auf arithmetischer Basis aufgebaut. Wenn er sich innerhalb vierundzwanzig Stunden mit Kostbarkeiten im Werte von zehntausend Pfund aus dem Staube machen könnte, hätte er nicht nur sein Einkommen für acht bis neun Jahre im voraus, sondern er würde sich dann auch die Mühe ersparen können, alle zwölf Monate nach London kommen zu müssen, um sich sein »Gehalt« auszahlen zu lassen. Was könnte nicht alles in zwölf Monaten passieren! Wie leicht könnte ihm die Reise überhaupt unmöglich sein. Gefängnisdirektoren sind bekannterweise gutem Zureden so schwer zugänglich. Vielleicht könnte er auch tot und begraben sein!

 

Es würde natürlich ziemlich schwierig sein, diese Kostbarkeiten in die Hände zu bekommen, da der Doktor kaum der Mann dazu war, sein Eigentum unbewacht zu lassen. Die gewöhnlichen Methoden, einen unerlaubten Zugang in das Haus des Doktors zu erzwingen, waren mit Freds professionellen Gefühlen unverträglich. Er gewann seinen Lebensunterhalt durch sein geschicktes Mundwerk und durch die blitzartige Geschwindigkeit, mit der sich verschiedene Zellen seines Gehirns den plötzlichen Forderungen jeder unerwarteten Lage anzupassen verstanden. Ein Brecheisen war für Fred ein Instrument des Abscheus – verkörperte es doch für ihn Arbeit. Aber es gab ja auch einen anderen Weg – und wenn er sich erst einmal mit seiner Beute aus dem Staube gemacht hätte, würde der Doktor überhaupt wagen, ihn anzuzeigen?

 

Am Nachmittag schlenderte Fred ziellos durch die Piccadilly Circus und sah sich plötzlich einem großen, etwas starken Mann gegenüber, der nach einem kurzen Blick in sein Gesicht versuchte, sich vorbeizudrücken. Aber Fred packte ihn am Arm und hielt ihn fest.

 

»Ist denn das nicht die liebe, alte Nummer 278? Wie geht’s denn, Strauß?«

 

Das Gesicht von Mr. Strauß zuckte nervös.

 

»Ich glaube, Sie irren sich, Sir«, sagte er.

 

»Laß doch den Blödsinn«, sagte Fred unelegant und zog ihn in die Lower Regent Street hinein.

 

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannt habe«, begann Mr. Strauß unruhig, »ich dachte erst, Sie wären ein Geheimer – Spitzel sagen wir hier.«

 

»Nee, noch nicht«, erwiderte Flimmer Fred. »Na, und wie geht’s dir denn hier bei uns in dem schönen Europa? Erinnerst du dich noch an die Galerie G in Portland, Block B?«

 

In dem Gesicht des dicken Mannes zuckte es wieder unruhig. Es war ihm nichts weniger als angenehm, an seine Erfahrungen im Gefängnis erinnert zu werden, wenn er auch in Wahrheit nichts gegen seinen ehemaligen Zellennachbar in Portland hatte.

 

»Na, wie geht’s Ihnen denn?« fragte er. Zufällig war Fred an diesem Morgen ohne allen Schmuck ausgegangen, kein einziger Brillant war zu sehen – er hatte alles sicher in seiner hinteren Beinkleidtasche verwahrt. Man konnte heutzutage ja doch niemand trauen.

 

»Schlecht«, schwindelte er. Kein richtiger Hochstapler wird je zugeben, daß es ihm gut geht. Dann aber fragte er plötzlich: »Immer noch im alten Geschäft?« und bemerkte den unruhigen Blick in den Augen des anderen.

 

»Nee, nee, damit ist’s aus. Ich arbeite jetzt.«

 

»Du bist ein Schwindler und wirst es immer bleiben«, zitierte Fred Larry Holt. »Ich wette, du bist auf dem Wege zum nächsten Hehler.«

 

Der Mann blickte wieder um sich, als ob er einen Weg zum Entwischen suchte, aber Fred, der niemals auch nur die kleinste Gelegenheit versäumte, ein Geschäft zu machen, streckte eine überredende Handfläche aus und sagte kurz: »Her damit.«

 

»Nur ein paar Kleinigkeiten, die ich bekommen habe und die nicht weiter vermißt werden. Kleiner Dreckkram. Ein paar Salzlöffel …« und er begann seine Beute aufzuzählen.

 

»Her damit!« sagte Fred von neuem. »Es geht mir verdammt mies, und ich brauche Geld. Ich will meinen Teil haben, und du kriegst das Geld zurück – gelegentlich.«

 

Mr. Strauß fluchte und – teilte.

 

»So, und jetzt müssen wir uns stärken«, sagte Fred vergnügt, als das Geschäft zu seiner Zufriedenheit erledigt war.

 

»Sie haben mir kaum für drei Pfund Wert gelassen«, brummte der Mann. »Nee, wirklich, Mr. Grogan, das war nicht anständig von Ihnen«, er betrachtete den anderen argwöhnisch, »und Sie sehen auch gar nicht so aus, als ob’s Ihnen schlecht ginge.«

 

»Die Anzeichen täuschen«, sagte Fred in guter Laune und ging voran in die nächste Bar. »Was bist du denn jetzt? Kammerdiener oder Haushofmeister?«

 

»Haushofmeister«, antwortete Strauß und warf ein Geldstück auf den Tisch. »Das ist gar nicht so schlecht, Mr. Grogan.«

 

»Sag‘ doch Fred, Mensch.«

 

»Wenn du nichts dagegen hast«, sagte Strauß demütig und meinte es wirklich so. »Ich habe eine Stellung bei einem sehr feinen Herrn.«

 

»Reich?«

 

»Mächtig. Aber nichts für mich. Er weiß, daß ich gesessen habe, behandelt mich aber sehr anständig.«

 

Fred sah ihn scharf an. »Immer noch das verfluchte Gift?« fragte er, und der Mann wurde rot.

 

»Ja«, sagte er rauh. »Ab und zu ein bißchen Koks.«

 

»Wer ist denn nun eigentlich dein Herr?«

 

»Du wirst ihn doch nicht kennen«, sagte Mr. Strauß kopfschüttelnd. »Geschäftsmann in der City, Direktor von ’ner Versicherungsgesellschaft.«

 

»Dr. – Judd?« fragte Fred schnell.

 

»Stimmt«; sagte der andere überrascht. »Aber woher weißt du denn das?«

 

Bald darauf trennten sie sich, und für den Rest des Tages war Fred ein sehr nachdenklicher Mann. Mit Einbruch der Dunkelheit hatten seine Pläne bestimmte Formen angenommen.

 

Er kleidete sich mit Sorgfalt um und machte sich in der Richtung nach dem Strand auf den Weg. Neben seinen sonstigen Talenten besaß er auch noch die Erfahrung eines vollendeten Schürzenjägers. Für jedes junge Mädchen, das nach Hause eilte, hatte er ein stets bereites Lächeln, und trotz vieler Abweisungen bereitete ihm jede neue Eroberung ein besonderes Vergnügen. Zwischen St. Martin und der Ecke zum Strand hatte er kein Glück. Entweder waren die jungen Mädchen, die ihm begegneten, wenig anziehend oder schon in männlicher Begleitung, aber gegenüber dem Morley-Hotel sah er, was er suchte.

 

Er sah sie nur einen Augenblick im Schein der Straßenlampe und war von der seltenen Schönheit ihres Antlitzes gefesselt. Sie war allein. Fred drehte um und hatte sie in wenigen Schritten eingeholt.

 

»Haben wir uns nicht schon mal getroffen?« fragte er und lüftete seinen Hut. Aber mehr konnte er nicht herausbringen. Eine kräftige Faust hatte ihn am Kragen gepackt und zurückgerissen.

 

»Fred, Fred, ich werde wirklich mal ernst mit Ihnen sprechen müssen«, sagte die verhaßte Stimme Larry Holts, und Fred hatte erneuten Grund zur Beschwerde.

 

»Haben Sie denn gar kein Zuhause, wo Sie hingehen können?« jammerte er und setzte in schlechtester Laune seinen Weg den Strand hinunter fort. Die Sehnsucht nach Romanze war ihm vergangen.

 

Das junge Mädchen ging ihres Weges, ohne sich bewußt zu sein, daß Larry Holt hinter ihr gewesen war. Für sie war es keine ungewöhnliche Erfahrung, auf der Straße angesprochen zu werden, und sie hatte sich allmählich daran gewöhnen müssen.

 

Sie wohnte in der Charing Croß Road oberhalb eines Zigarrengeschäftes. Larry sah, wie sie die Tür öffnete und in dem dunklen Eingang verschwand. Er wartete noch einige Minuten und setzte dann seinen Weg fort.

 

Das junge Mädchen hatte einen ganz außerordentlichen Eindruck auf ihn gemacht. Er erzählte sich selbst, daß es nicht ihre zarte Schönheit war, das Weib in ihrer Person, das ihn anzog, sondern ihre ganz außerordentlichen Fähigkeiten, korrekt zu denken und korrekte Schlußfolgerungen zu ziehen.

 

Das waren so seine Selbstgespräche. An und für sich war es schon ungewöhnlich genug, daß er die Notwendigkeit fühlte, sich selbst etwas zu erzählen. Aber die Tatsache war nun einmal nicht aus dem Wege zu räumen, daß er einen großen Teil seiner freien Zeit damit verbrachte, über Diana Ward nachzudenken. Und er kannte sie kaum länger als vierundzwanzig Stunden!

 

Diana Ward dachte auf ihrem Nachhauseweg nicht im mindesten an Larry. Ihre Gedanken waren vollkommen mit den Problemen beschäftigt, die der Fall Stuart darbot.

 

Sie schlug die Haustür zu und ging langsam die dunkle, enge Treppe hinauf. Sie bewohnte die oberste und billigste der drei kleinen Etagewohnungen, die über dem Zigarrenladen lagen, und wußte, daß die Mieter der beiden anderen Wohnungen für das Wochenende aufs Land gefahren waren.

 

Diana war schon in der zweiten Etage angelangt und im Begriff, die beiden letzten Treppen hinaufzugehen, als sie plötzlich stehenblieb. Sie glaubte, ein Geräusch gehört zu haben, ein leises Knacken, das sie mehr gefühlt als gehört hatte. Sie hatte dieses Knacken, diese leichten Geräusche schon öfter gehört, war sich aber klar geworden, daß dies nur auf reiner Einbildung beruhte und hatte ihre Furchtsamkeit bemeistert. Trotzdem ging sie aber noch langsamer nach oben und erreichte den obersten Treppenabsatz, von dem einige wenige Stufen zu ihrer Wohnung führten. Der Treppenabsatz war breit, und mit einer gewissen Herausforderung streckte sie die eine Hand in das Dunkel, als ob sie einen verborgenen Eindringling packen wollte.

 

Und dann erstarrte ihr Blut zu Eis. Ihre Hand hatte den Mantel eines Mannes gestreift! Gellend schrie sie auf, aber im gleichen Augenblick preßte sich eine riesige, rauhe Hand auf ihr Gesicht, ihren Mund und drückte sie langsam nach hinten. Sie sträubte und wehrte sich mit all ihren Kräften, aber der Mann, der sie packte, hatte übermenschliche Kräfte, seine Arme legten sich um sie wie stählerne Zangen. Ihr Widerstand erschlaffte, und für einen Augenblick lockerte sich der Druck der sie umklammernden Arme.

 

Mit einem plötzlichen Sprung riß sich das junge Mädchen los, flog die letzten Stufen empor, riß die Tür auf und warf sie im gleichen Augenblick wieder zu. Der Schlüssel steckte auf der Innenseite. Mit einem Gefühl der Dankbarkeit, daß sie niemals die Angewohnheit hatte, ihr Zimmer beim Fortgehen von außen zu verschließen, drehte sie den Schlüssel herum. Sie rannte durch das Zimmer, schaltete das Licht ein, riß ein Schubfach heraus und aus diesem einen kleinen Revolver. Diana Ward stammte aus einer Familie, in der man nicht so leicht den Mut verlor – wenn auch mit klopfendem Herzen – sie rannte zur Tür zurück und riß diese auf.

 

Wenige Augenblicke stand sie bewegungslos auf der Türschwelle. Dann hörte sie einen leichten Fußtritt auf der Treppe und gab Feuer. Ein Angstgeheul, und hastige Füße polterten die Treppe hinunter. Nur einen Augenblick zögerte sie, dann flog sie selbst hinterher. Sie hörte das Poltern auf den unteren Treppenabsätzen, dann das Öffnen der Tür. Als sie atemlos unten ankam, fand sie die Tür offen. Niemand war zu sehen.

 

Sie verbarg den Revolver in den Falten ihres Kleides und trat auf die Straße hinaus. Um diese Zeit waren wenige Fußgänger in Sicht, und vergebens spähte sie nach ihrem Angreifer umher. Ein leichtes Lieferauto einer Wäscherei fuhr gerade vorbei, und die einzige Person, die sie in ihrer Nähe sah, war ein alter, blinder Mann. »Tap – tap – tap –« klopfte die eiserne Zwinge seines Stockes auf das Pflaster, als er mühselig und langsam vorwärts stolperte.

 

Kapitel 11

 

11

 

»Sunny«, sagte Larry zu seinem Diener, »London ist eine fürchterliche Stadt.«

 

»Das glaube ich auch, Sir«, stimmte Mr. Patrick Sunny bei.

 

»Aber London besitzt auch einen strahlenden Lichtpunkt, der die tiefe Trostlosigkeit und Verkommenheit dieser Riesenstadt durchbricht.«

 

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Sir. Das ist mir auch schon öfter aufgefallen. Ich gehe auch sehr gern in das Kino.«

 

»Wer spricht denn von Kinos!« fuhr ihn Larry an. »Nichts lag meinen Gedanken ferner als die Kinos. Ich dachte an etwas ganz anderes, an etwas Geistiges.«

 

»Wünschen Sie vielleicht einen Whisky und Soda, Sir?« fragte Sunny.

 

»Scheren Sie sich raus!« brüllte Larry und schüttelte sich vor Lachen. »Machen Sie, daß Sie in das Kino kommen.«

 

»Ja, Sir«, sagte Sunny ehrerbietig, »aber es ist schon ein bißchen spät.«

 

»Dann gehen Sie ins Bett. – Halt! Bringen Sie mir meine Schreibmappe.«

 

Er trug bequeme Hauskleidung – Schlafrock, ein Paar alte Criquethosen und weiches Hemd – und stopfte seine geliebte Pfeife mit einem Gefühl physischen Wohlbehagens.

 

Ein leichtes Ratt-Ratt-Ratt ließ sich an der Wohnungstür hören. »So spät noch Besuch!« wunderte sich Larry.

 

Er wartete und hörte einen kurzen Austausch von Fragen und Antworten. Die Tür öffnete sich und Diana Ward kam in das Zimmer. An ihrem Gesicht sah er, daß etwas vorgefallen sein mußte.

 

»Was ist passiert?« fragte er hastig. »Hat der Mann Sie nochmal belästigt?«

 

»Welcher Mann?« fragte sie erstaunt.

 

»Flimmer Fred.«

 

»Ich weiß nicht, ob es Flimmer Fred war«, sagte sie kopfschüttelnd. »Aber wenn er ein ganz besonders unangenehmer Mensch ist, wird er es wohl gewesen sein.«

 

»Setzen Sie sich doch, bitte. Ich wollte gerade Kaffee trinken – darf ich Ihnen eine Tasse anbieten. Sunny, bringen Sie zwei Tassen.«

 

»Ja, Sir«, sagte Sunny und fügte dann bedeutungsvoll hinzu: »Wünschen Sie, daß ich ins Kino gehe?«

 

Larry errötete ärgerlich.

 

»Bringen Sie den Kaffee, Sie – Sie«, stotterte er; und zu Diana: »Nun was gibt es denn?«

 

Ohne weitere Umschweife berichtete das junge Mädchen ihr Abenteuer und Larry hörte mit ernstem Gesicht zu.

 

»Sie sagen, er war groß und dick? – Dann scheidet Fred aus. Nehmen Sie an, daß es ein Einbrecher war, den Sie durch ihr unerwartetes Eintreffen gestört haben?«

 

»Das glaube ich nicht.« Diana schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe die Überzeugung, daß es ein sehr ernst gemeinter Angriff war. Als ich in meine Wohnung zurückkam, habe ich alle Räume genau durchsucht. Im Eßzimmer, wohin ich unter gewöhnlichen Umständen zuerst gegangen wäre, habe ich einen großen Wäschekorb gefunden.«

 

»Einen Wäschekorb?« fragte Larry verwundert. Sie nickte.

 

»Er war mit einer Art Polsterung dick ausgeschlagen, und auch der Deckel war gefüttert. Dies hier habe ich im Korb gefunden.«

 

Sie legte den Gegenstand auf den Tisch. Er sah aus wie eine Pilotenkappe, hatte aber keine Öffnung für den Mund.

 

Larry nahm sie auf und roch daran, obwohl dies unnötig war, denn ihm war sofort ein eigenartiger, süßlicher Geruch aufgefallen, als sie das Zimmer betreten hatte.

 

»Mit Chloroform getränkt«, sagte er. »Das würde Sie natürlich nicht vollkommen besinnungslos gemacht haben, hätte Sie aber sicherlich für kurze Zeit betäubt. Haben Sie noch etwas anderes bemerkt?«

 

»Als ich auf die Straße kam, fuhr gerade ein Lieferungswagen einer Wäscherei fort. Das ist mir deshalb so besonders aufgefallen, weil das Wort ›Wäscherei‹ – und das war die Aufschrift – sehr ungeschickt und fehlerhaft geschrieben war.«

 

»Das ist mir völlig unverständlich«, sagte Larry verwirrt. »Der Kerl hätte Sie doch nicht allein wegbringen können, oder er muß Helfershelfer im Hause gehabt haben.«

 

»Darin stimme ich Ihnen nicht bei«, sagte sie ruhig. »Dieser Mensch hatte unglaubliche Kraft. Ich war in seinen Armen wie ein kleines Kind, und für ihn wäre es sehr einfach gewesen, den Korb die Treppenstufen hinuntergleiten zu lassen, und der Chauffeur hätte ihm dann unten geholfen, den Korb in den Lieferwagen zu heben.

 

»Warum hat man es aber auf Sie abgesehen?« entgegnete er immer verwirrter. »«Was haben Sie denn mit der ganzen Geschichte zu tun?«

 

Das junge Mädchen antwortete nicht sofort.

 

»Ich überlege«, sagte sie schließlich, »ob ich vielleicht durch Zufall auf eine Spur gekommen bin die zu dem Mörder Stuarts führen könnte. Vielleicht habe ich irgend etwas erfahren, irgend etwas in meinem Besitz, ohne daß ich selbst weiß, welche gefährliche Bedeutung dies für die Verbrecher hat, und sie versuchen natürlich mit allen Mitteln, diese Spur zu beseitigen.«

 

Larry war sehr nachdenklich geworden.

 

»Warten Sie bitte einen Augenblick; ich möchte mich umziehen«, sagte er und verschwand in das Nebenzimmer.

 

Das junge Mädchen sah sich mit Gefallen in dem behaglichen Zimmer um. Dann kam Sunny mit einem Tablett, aber nicht, ohne vor seinem Eintreten vor der Tür auffallend laut gehustet zu haben, was seinen Herrn im anderen Zimmer ausnehmend ärgerte.

 

Als sie in Dianas Wohnung in der Charing Croß Road angekommen waren, begann Larry sofort eine sorgfältige Durchsuchung. Er hatte eine elektrische Taschenlampe mitgenommen und leuchtete jede Stufe der Treppe ab, ohne jedoch einen Hinweis auf den geheimnisvollen Angreifer finden zu können.

 

»Und jetzt wollen wir uns mal Ihre Wohnung ansehen.«

 

Er untersuchte den Wäschekorb, den das junge Mädchen schon so genau beschrieben hatte.

 

»Hier ist nichts zu finden«, sagte er. »Sehen Sie nach, ob Ihnen irgendwas fehlt.«

 

Sie suchte allein in den anderen Räumen nach und kam mit einem verdutzten Gesicht in das Wohnzimmer zurück.

 

»Mein grüner Mantel und ein Hut sind verschwunden.«

 

»Ist der Hut auffallend?« fragte er schnell.

 

»Was meinen Sie mit ›auffallend‹?«

 

»Ob er besonders ins Auge fällt?«

 

»Ich glaube ja«, lächelte sie. »Es ist ein goldgelber Hut, den ich zu meinem grünen Mantel trage.«

 

»Haben Sie ihn schon mal in Scotland Yard aufgehabt?« fragte er.

 

»Schon sehr oft«, erwiderte sie, ohne zu begreifen.

 

»Dann hab‘ ich’s«, sagte er. »Kommen Sie mit. Ich möchte Sie nicht gern allein hier lassen.«

 

Sie gingen zusammen nach der nächsten öffentlichen Telephonzelle, von der Larry das Präsidium anrief und sich mit dem diensttuenden Pförtner verbinden ließ.

 

»Hier Inspektor Holt. War Miß Ward heute abend im Büro?«

 

»Jawohl«, kam die Antwort. »Sie ist gerade wieder fortgegangen.«

 

Larry stöhnte.

 

»Aber ich bin doch gar nicht im Präsidium gewesen«, rief Diana erstaunt.

 

»Aber jemand anders, der Sie sehr gut nachgeahmt haben muß«, sagte er kurz.

 

Wenige Minuten später waren sie schon in dem düsteren Gebäude an dem Themse-Embankment und fanden nichts Auffälliges an der Tür von Zimmer 47. Er öffnete sie und schaltete das Licht ein.

 

»Da haben wir’s ja«, sagte er leise. Das Schloß des Wandschrankes, in dem er die Beweisstücke des Falles Stuart aufbewahrte, war aufgebrochen, und die Türen standen weit offen.

 

Er nahm die Schale heraus und überflog mit einem Blick den Inhalt.

 

Die Braille-Schrift war verschwunden.