Kapitel 22

 

22

 

War es Vermutung? War es reine Schlußfolgerung? War es Wissen? – Diese drei Fragen schossen Larry durch den Kopf, aber bevor er noch weitere Fragen an sie richten konnte, kam Jahn Dearborn aus dem Zimmer des Kranken und fühlte seinen Weg die Treppe hinab.

 

Auf dem nächsten Treppenabsatz öffnete er die Tür des Schlafraumes, den Larry schon früher gesehen hatte. Er bestand aus drei Zimmern, die vor längerer Zeit zu einem einzigen vereinigt worden waren.

 

Auf Larrys Instruktion hin schlossen sich die beiden Detektive ihnen nicht an. Der eine schlenderte die Treppe hinunter und stellte sich auf dem unteren Treppenabsatz auf, der andere setzte sich auf die Stufen, die zu den oberen, kleineren Räumen führten, und wartete.

 

»Ist es noch hell?« fragte Dearborn, als er in den Schlafraum voranging.

 

»Noch ganz hell«, antwortete Larry.

 

»Man hat mir gesagt, daß man von dem Fenster dort eine sehr hübsche Aussicht hat«, sagte der Vorsteher und wies, ohne sich zu irren, in die Richtung des Fensters, von dem aus die Aussicht nichts weniger als malerisch war.

 

Larry antwortete nicht. Möglicherweise war es eine fromme Lüge, daß man von den Fenstern des Heims einen wunderschönen Ausblick hatte, und er wünschte auch nicht im geringsten die Gefühle eines Mannes zu verletzen, der so stolz von einem Blick auf sechs Dächer und einige hundert Schornsteine sprach.

 

»Ich glaube, das Fenster ist geschlossen?« fragte Ehrw. John Dearborn. »Würden Sie es bitte für mich öffnen?«

 

Larry schob das untere Fenster geräuschvoll in die Höhe, und ein Strom frischer, klarer Luft drang in den dumpfigen Schlafraum.

 

»Danke verbindlichst« sagte Mr. Dearborn. »Vielleicht sieht sich die junge Dame …«

 

Larry blickte sich um. Das junge Mädchen war nirgends zu sehen. Er ging schnell nach der Tür, und der Beamte, der vor dieser auf den Stufen gesessen hatte, erhob sich.

 

»Wo ist Miß Ward hingegangen?«

 

»Sie ist gar nicht herausgekommen, Sir«, sagte der Mann verblüfft. »Sie ist doch mit Ihnen in den Schlafraum gegangen.«

 

Lary starrte ihn an.

 

»Nicht herausgekommen?« wiederholte er stotternd. »Sind Sie sicher?«

 

»Absolut sicher.«

 

Er rief zu dem Mann auf dem unteren Treppenabsatz: »Haben Sie Miß Ward gesehen?«

 

»Nein, Sir. Sie ist nicht aus der Tür herausgekommen. Ich habe die Tür die ganze Zeit hindurch unter Augen gehabt.«

 

Larry ging in den Schlafsaal zurück. Er war leer – mit Ausnahme von einem halben Dutzend einfacher, eiserner Bettstellen und einem Schrank, der an der Wand, dem Kamin gegenüber, stand. Nirgendswo ein Platz, wo man sich verbergen könnte. Ein panischer Schrecken hatte sich seiner bemächtigt, und sein Herz schlug wild; keine Gefahr, die ihn selbst bedrohte, hätte ihn mehr erschüttern können.

 

Er riß die Schranktür auf. Einige alte Kleidungsgegenstände hingen an den Haken, sonst war er leer. Er warf diese heraus und schlug gegen die hintere Schrankwand. Sie war fest und unbeweglich.

 

»Haben Sie die junge Dame gefunden?« fragte jetzt John Dearborn.

 

»Nein, noch nicht«, sagte Larry schnell. »Gibt es außer der Tür noch eine andere Möglichkeit, aus dem Zimmer herauszukommen?«

 

Der Geistliche schüttelte verwundert den Kopf.

 

»Nein. Warum fragen Sie? – Ach so, Sie nehmen wohl an, wir hätten hier einen Notausgang, falls es brennen sollte. Wir haben schon mal daran gedacht …«

 

Larry war schneeweiß und zitterte vor Aufregung. Er rief einen der beiden Beamten zu sich.

 

»Sie bleiben hier im Zimmer, bis Sie abgelöst werden«, sagte er und wandte sich dann zu dem anderen: »Sie rufen in meinem Namen Scotland Yard an und lassen sofort zwanzig Mann hierherschicken. An der Ecke von Lissom Grove steht ein Schutzmann auf Posten. Holen Sie ihn und sagen Sie ihm, er soll vor der Haustür stehenbleiben.«

 

»Was ist denn vorgefallen?« fragte Ehrw. John Dearborn ängstlich. »Das ist einer der wenigen Fälle, wo mein Gebrechen mich zur Verzweiflung bringt, weil ich fühle, daß ich nicht helfen kann.«

 

»Vielleicht wäre es besser, Sie gingen in Ihr Büro«, sagte Larry sanft. »Ich befürchte, hier ist unter unseren Augen ein Verbrechen begangen worden.«

 

Aber wie sollte das möglich gewesen sein? Nicht einen Laut hatte er vernommen. Er hatte gedacht, das junge Mädchen stand hinter ihm. Er wußte, sie war mit in das Zimmer gekommen, denn er hatte sie vor sich hergehen lassen. Er erinnerte sich ganz genau daran. Er erinnerte sich ebenso deutlich, daß sie sich nach der linken Seite des Zimmers gewandt hatte, während er nach dem Fenster ging, um es zu öffnen – in diesem Augenblick mußte es passiert sein.

 

Das Aufschieben des Fensters war sehr geräuschvoll gewesen und würde jeden Laut am anderen Ende des Saales erstickt haben. Aber das alles hatte sich doch so schnell abgespielt – und sie hatte das Zimmer nicht verlassen.

 

Systematisch klopfte er die Wände ab, suchte nach versteckten Türen. Die Kokosmatte auf dem Fußboden wurde aufgerollt – nichts zu finden. Diana Ward war spurlos verschwunden, als ob ein Erdbeben sie verschlungen hätte, als ob sie sich in winzige Atome aufgelöst hätte und zum Fenster hinausgeschwebt wäre.

 

Kapitel 23

 

23

 

Larry lief in dem Schlafraum hin und her, krank vor Aufregung und Sorge, beängstigt, wie er es nie zuvor in seinem Leben gewesen war. Vom Keller bis zum Giebel war das ganze Haus durchsucht worden, in finstere staubige Ecken, die nicht einmal den Bewohnern des Hauses bekannt waren, hatte er hineingeblickt – aber alles Suchen, alles Fragen war umsonst.

 

Innerhalb einer halben Stunde war um das ganze Haus ein Kordon von Beamten in Zivil gelegt und Larry von seinem selbstgewählten Posten im Schlafsaal abgelöst worden, um anderwärts weitere Nachsuchungen vornehmen zu können.

 

»Es gibt keine Verbindung zwischen diesem und dem Nachbarhause?« fragte er den Geistlichen.

 

»Keine«, antwortete ohne Zögern John Dearborn. »Einige Jahre zurück wurde der Lärm von der Wäscherei so störend, daß ich die Besitzer des Hauses veranlassen mußte, eine neue Mauer, eine Art Abdichtung, aufführen zu lassen, um den Schall zu dämpfen. Jetzt wird dort nicht mehr gearbeitet. Die Gesellschaft machte Konkurs, und das Grundstück wurde von einer Firma in Lebensmitteln übernommen. Soweit ich weiß, beabsichtigen die jetzigen Besitzer, die Räume der Wäscherei als Speicher für ihre Waren zu benutzen.«

 

»Das ist das schmale Haus am anderen Ende des Hofes, das über den Torweg hinweg sichtbar ist?« erkundigte sich Larry.

 

Der Vorsteher gab eine zustimmende Antwort.

 

Larry ging mit einem der Sergeanten von Scotland Yard an die Tür des leeren Hauses und prüfte diese sorgfältig.

 

»Ich kann Ihnen die Versicherung geben, Sir, daß die Tür seit langer Zeit nicht geöffnet worden ist«, sagte dieser. Über das Gitter hinweg, das einen kleinen Vorplatz abschloß, konnten sie in einen unglaublich schmutzigen Raum blicken, in dem nicht ein einziges Möbelstück zu sehen war. Mit jeder Minute, die verging, wuchs Larrys Sorge mehr und mehr. Wenn er Diana verlieren müßte, wenn er sie verlieren sollte!

 

Er hatte jetzt keine Zeit mehr, über den Fall Stuart oder den Zusammenhang, der zwischen diesem und dem Verschwinden Dianas bestand, zu grübeln. All seine Angst, all seine Energie waren nur auf das eine gerichtet – die Entdeckung, die Befreiung von Diana Ward.

 

Larry kletterte über den Holzzaun und durchforschte den Hof der Wäscherei, und hier fand er die erste Spur, die ihn wieder auf die Fährte brachte. Radspuren, und noch ziemlich frisch. Die Spuren eines Motorwagens, möglicherweise von zweien. Er blickte in dem unordentlichen Hof herum und suchte nach einer Möglichkeit, wo die Wagen untergestellt sein könnten. Ein großes schwarzes Tor schien der Eingang zu einer Garage zu sein.

 

Sergeant Harvey war ihm gefolgt und versuchte, mit einem Dietrich das Schloß zu öffnen. Nach kurzer Mühe gelang ihm das, und die beiden Tore, die auf Rollen liefen, ließen sich leicht und geräuschlos, beinahe mit einem leichten Stoß, aufschieben.

 

»Die Tore sind erst kürzlich geölt und geschmiert worden«, stellte Larry fest.

 

In der Garage standen zwei Wagen. Eine Limousine mit langer Haube und ein kleines Lieferauto. Larry ging hinein und betrachtete im ungewissen Licht des fallenden Tages die beiden Automobile.

 

»Sehen Sie mal her!« rief er plötzlich und zeigte auf die Plane des Lieferwagens.

 

Sie war frisch lackiert worden, aber deutlich sah man unter der weißen Farbe den Schatten eines Wortes – schlecht und ungeschickt von Laienhand gemalt – »Wäscherei«.

 

»Erinnern Sie sich, Harvey, daß Miß Ward uns erzählte, sie hätte an dem Abend, wo man sie entführen wollte, einen Wäschelieferwagen vor ihrem Hause gesehen? Wenn sie den Wagen wiedererkennen würde –« Mit einem stechenden Schmerz im Herzen hielt er inne. Wenn sie doch nur wieder da wäre!

 

Die Limousine war erst kürzlich gereinigt worden, und Larry schrieb sich beide Nummern auf. Es konnte ja natürlich auch möglich sein, daß die beiden Wagen rechtmäßiges Eigentum der neuen Hausbesitzer waren und vollkommen harmlos für geschäftliche Zwecke benutzt wurden. Es konnte Zufall gewesen sein, daß ein solcher Lieferwagen in der Nacht, in der Jake den Versuch gemacht hatte, das junge Mädchen zu entführen, in der Charing Croß Road gesehen worden war.

 

Er schob die Garagentüren zu, die Harvey kunstgerecht mit seinem Dietrich verschloß.

 

»Telephonieren Sie die Nummern nach dem Präsidium«, sagte Larry, »und lassen Sie in der Verkehrskontrolle nachfragen, für wen sie ausgestellt sind.«

 

Harvey ging seiner Wege, und Larry blieb allein im Hof zurück. Von neuem untersuchte er die Räderspuren. Es hatte in der Nacht stark geregnet, und man konnte an der Deutlichkeit der Spuren erkennen, daß sie erst an diesem Morgen entstanden waren.

 

Er ging an dem eigentlichen Wäschereigebäude entlang – ein Neubau aus Ziegelsteinen mit Mattglasfernstern. Auch hier befand sich eine Schiebetür und auf den Stufen, die zu dieser führten, war eine Fußspur sichtbar. Er bückte sich plötzlich, um diese genauer zu betrachten.

 

»Ploff!«

 

Ein Ton wie das Knallen eines Champagnerpfropfens, nur ein wenig lauter und härter, erschreckte ihn. Ein Schlag oberhalb seines Kopfes – Holzsplitter fielen auf Larrys Hals, und mit einem Satz sprang er zur Seite. Die Türfüllung war durch eine Kugel zersplittert. Hätte er nicht so unvermutet seinen Kopf gesenkt, um den Fußabdruck zu prüfen – Sunny würde die Morgenzeitungen abbestellt haben. Das war merkwürdigerweise der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoß.

 

Larry überflog blitzschnell seine Umgebung. Den Ton hatte er erkannt, kaum daß er ihn gehört hatte. Es war keine Detonation zu hören gewesen, aber man hatte auf ihn mit einem Gewehr oder einer Pistole geschossen, die mit einem Maxim-Schalldämpfer versehen war. Das »Ploff« hatte er schon öfter gehört. Seine scharfen Augen suchten an einem der Fenster des hinter ihm liegenden Gebäudes vergeblich nach einem Anzeichen von Pulverrauch. Jetzt bemerkte er zum erstenmal, daß man von dem Fenster des Schlafsaales, aus dem Diana verschwunden war, auf den Hof blicken konnte. Er sah das offene Fenster und erkannte mit seinem ausgeprägten Ortssinn den betreffenden Raum. Kein weiterer Schuß fiel, und er zog sich langsam über den Hof zurück, ohne die Rückseiten der beiden Gebäude aus den Augen zu verlieren und bereit, sich beim ersten Aufblitzen eines Schusses zu Boden zu werfen.

 

Harvey hatte bei seinem Weggehen eine kleine Durchgangstür in dem großen Tor geöffnet, und durch diese trat ein sehr nachdenklicher Larry auf die Straße. Er ging direkt in das Heim zurück, wo die blinden Straßenhändler, die dort Unterkunft hatten, langsam einzutreffen begannen. Sie kamen allein oder zu zweien, tappten sich ihren Weg mit den eisenbeschlagenen Stöcken entlang und suchten den gemeinsamen Wohnraum auf. Ein Beamter des zuständigen Polizeireviers stellte die Persönlichkeit eines jeden fest.

 

»Alles unbescholtene Leute, was?« fragte Larry. Keiner von ihnen auf der Verbrecherliste?«

 

»Nein, Sir«, sagte der Beamte. »Alle haben ein gutes Führungszeugnis, und wir haben niemals Beschwerde gegen irgendeinen von ihnen gehabt.«

 

Larry ging nach dem Schlafsaal hinauf, von dem seiner Ansicht nach der Schuß auf ihn abgefeuert war. Zu seiner Überraschung war die Tür verschlossen, und der Schutzmann stand jetzt außerhalb der Tür auf Posten.

 

»Was soll das bedeuten?« fragte er streng.

 

»Der Vorsteher hat mir sagen lassen, Sie wünschten mich zu sehen«, entschuldigte sich der Detektiv, »aber als ich nach unten kam, stellte sich heraus, daß er keine Botschaft geschickt hatte. Als ich wieder zurückkam, war die Tür verschlossen.«

 

»Von innen?«

 

»Scheint so, Sir. Es steckt kein Schlüssel im Schlüsselloch.«

 

»Wer hat Ihnen die Mitteilung gebracht?«

 

»Der kleine Kerl, der immer die Tür des Heims öffnet.«

 

»Ich weiß, wen Sie meinen«, nickte Larry, »und was hat er für eine Erklärung gegeben?«

 

»Er hat gesagt, jemand mit einer Stimme wie der Vorsteher hätte ihm aufgetragen, mit der Bestellung an mich nach oben zu gehen.«

 

»Machen Sie Platz«, sagte Larry und stieß mit einem kräftigen Fußtritt die Tür auf.

 

Das Zimmer war leer, aber Larry schnüffelte.

 

»Hier ist ein Schuß abgefeuert worden; jedenfalls, als Sie nach unten gingen«, sagte er. »Merken Sie sich, Sie verlassen das Zimmer nicht, wenn nicht Sergeant Harvey oder ich persönlich kommen, um Sie abzulösen und einen anderen Mann an Ihre Stelle zu bringen.«

 

»Zu Befehl, Sir«, sagte der Mann niedergeschlagen.

 

»Unter den vorliegenden Umständen mache ich Ihnen übrigens keinen Vorwurf«, fuhr Larry mit halbem Lächeln fort. »Wir haben es mit einer ganz außergewöhnlichen Bande zu tun, und sie wendet ganz außergewöhnliche Methoden an – man kann von Ihnen nicht erwarten, daß Sie jeden Zug des Gegners parieren und noch viel weniger voraussehen können, wie der nächste sein wird.«

 

Es bestand nicht der geringste Zweifel, daß in diesem Raum eine Schußwaffe abgefeuert worden war; er konnte ganz deutlich den Geruch des verbrannten Schießpulvers erkennen, und eine abgefeuerte Patronenhülse, die er unter einem Bett in der Nähe des Fensters fand, lieferte ihm den endgültigen Beweis. Larry ging nach unten in das Büro des Vorstehers, der unruhig auf ihn wartete.

 

»Beabsichtigen Sie Ihre Leute noch lange hier zu lassen, Mr. Holt?« fragte Ehrw. John Dearborn. »Verschiedene meiner Schutzbefohlenen möchten nach dem Schlafraum gehen; sie sind müde.«

 

»Meine Leute bleiben so lange hier, bis ich mich davon überzeugt habe, daß Miß Ward nicht mehr in dem Grundstück ist«, sagte Larry kurz, »und bis ich den Herrn gefunden habe, der in liebenswürdiger Weise von dem Schlafsaal, aus dem sie verschwunden ist, auf mich gefeuert hat.«

 

»Auf Sie gefeuert hat?« wiederholte der andere entsetzt. »Sie wollen doch nicht sagen …«

 

»Ich meine genau das, was ich gesagt habe«, fiel Larry ein. »Verzeihen Sie, wenn ich etwas schroff bin. Während Sie mit dem Detektiv sprachen, der durch eine List nach unten gelockt wurde, ist von dem Zimmer aus auf mich geschossen worden – und die Tür war von innen verschlossen.«

 

»Das ist ja kaum glaublich!« rief Ehrw. John kopfschüttelnd. »Ich kann mir kaum eine Situation vorstellen, die für mich und Sie noch angreifender und aufregender sein könnte.«

 

»Aufregend!« lachte Larry bitter. »Aufregung werden wir noch genug haben, nur etwas später, wenn ich erst hinter die ganze Geschichte gekommen bin.«

 

Und dann gewann sein bissiger Humor die Oberhand.

 

»Sie sollten das in einem Ihrer Stücke verwenden, Mr. Dearborn«, sagte er und glaubte, eine schwache Röte in dem fahlen Gesicht des Mannes erscheinen zu sehen.

 

»Das ist ein guter Gedanke«, sagte der Vorsteher nachdenklich, »und ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür. Haben Sie schon einige meiner Stücke gesehen?«

 

»Nein, bis jetzt noch nicht, aber bei der ersten passenden Gelegenheit werde ich mal nach dem Macready-Theater gehen.«

 

Der Vorsteher fuhr kopfschüttelnd fort:

 

»Manchmal befürchte ich, daß meine Stücke doch nicht so gut sind, wie einige meiner Bekannten es annehmen, und es tut mir leid, daß Sie noch keines gesehen haben. Aber sie werden doch immer wieder angenommen und aufgeführt, und das bringt Geld für unser Heim.«

 

»Wer bestreitet eigentlich die Aufführungskosten?« fragte Larry neugierig.

 

»Ein Herr, der sich für meine Arbeit unter den Blinden interessiert«, war die Antwort. »Ich bin niemals mit ihm zusammengetroffen, aber niemals hat er sich gesträubt, ein Stück von mir auf die Bühne zu bringen. Manchmal habe ich das Gefühl, er tut dies nur, um dem Heim zu helfen.«

 

»Irgendeinen guten Grund muß er ja haben«, sagte Larry.

 

Die Unterhaltung schlief langsam ein. Ein Telephon schnarrte, und der Vorsteher nahm den Hörer auf.

 

»Ja, ich glaube es ist besser, Sie machen das so«, sagte er und hängte den Hörer ein. »Eine Haushaltsfrage von der Küche«, lächelte er. »Soweit unsere Mittel es gestatten, habe ich Telephonverbindungen im ganzen Hause anlegen lassen. Es erspart so viele Laufereien.«

 

In dem Augenblick erschien eine Abordnung aus dem gemeinsamen Wohnraum. Man beklagte sich. Die Insassen von Schlafsaal Nr. 1 wollten zu Bett gehen. Verschiedene waren gewöhnt, ihre zwölf Stunden zu schlafen, und alle, ob sie sich nun niederlegen wollten oder nicht, bestanden auf ihrem Recht, den Schlafraum aufsuchen zu können.

 

»Da sehen Sie es ja selbst«, sagte der Vorsteher. »Ich komme da in eine sehr unangenehme Lage.«

 

Larry nickte.

 

»Sie alle können Betten in dem nächstliegenden Hotel bekommen. Ich komme für die Kosten auf. Meinetwegen können sie auch in einem anderen Raum schlafen. Ich habe nichts dagegen, daß die Betten herausgeholt werden. Aber niemand hat sich in dem Zimmer aufzuhalten, bis Miß Ward wieder aufgefunden ist.«

 

Er schlenderte zum Zimmer hinaus und durch den Gang nach dem gemeinsamen Wohnraum. Diese armen Menschen hatten Anrecht auf eine Erklärung, und er gab ihnen diese, indem er den Fall genau und einfach auseinandersetzte. Alle, auch diejenigen, die sich am lautesten beschwert hatten, stimmten ihm bei.

 

Larry hatte seine kurze Ansprache beendigt und lehnte in tiefen Gedanken versunken an der Wand des Korridors, als er eine Treppe höher Lärmen und einen Schrei hörte. In wenigen Sätzen flog er die Treppe hinauf. Als erster erreichte er den Treppenabsatz, und was er sah, ließ sein Herz ungestüm schlagen.

 

Langsam, Stufe für Stufe, schritt Diana Ward auf ihn zu. Ihre Bluse hing in Fetzen und ließ eine schneeweiße Schulter sehen. In einer Hand hielt sie einen schweren Smith-Wesson-Revolver, und auf ihrem blassen Gesicht lag ein triumphierendes Lächeln.

 

Einen kurzen Augenblick starrte Larry sie an, dann sprang er ihr entgegen und riß sie in seine Arme.

 

»Mein Liebling!« sagte er mit gebrochener Stimme. »Mein Liebling! Gott sei Dank, daß Sie wieder da sind!«

 

Kapitel 24

 

24

 

Diana war nach dem anderen Ende des Saales geschlendert und prüfte die Leinwand der rauhen Laken zwischen ihren Fingern. Durch ihren früheren Beruf als Krankenschwester hatte sie noch ein besonderes Interesse an der Art und Weise, wie diesen armen, blinden Bettlern – denn es waren ja fast alle nur Bettler – ein wenig Bequemlichkeit verschafft wurde. Sie hatte gehört, wie der Vorsteher Larry bat, das Fenster zu öffnen, und blickte gedankenlos dorthin, als sich die Tür eines Schrankes hinter ihr geräuschlos öffnete und ein barfüßiger Mann leise heraustrat.

 

Das erste, was Diana zu Bewußtsein kam, war, daß ein feuchtes, weiches Leder sich über ihr Gesicht legte und daß sie emporgehoben wurde. Der Schreck raubte ihr einen Augenblick lang die Besinnung, und in diesem Augenblick wurde sie in den Schrank hinein- und durch die dahinterliegende Mauer hindurchgezogen. Beide Türen – denn die Rückseite des Schrankes war, wie Larry zuerst angenommen hatte, eine bewegliche Tür – öffneten sich nach außen. Larry konnte nicht wissen, daß diese zweite Geheimtür aus Steinen bestand und durch einfaches Beklopfen nicht als solche zu erkennen war.

 

Sie hörte das leichte Schnappen der Tür, als diese sich schloß, befreite ihr Gesicht von dem nassen Leder und schrie. Und wieder legte sich eine Hand, groß genug, um ihr ganzes Gesicht zu bedecken, auf ihren Mund, und sie wurde weiter durch die Dunkelheit gezerrt. Eine andere Tür öffnete sich – man stieß sie vorwärts – das elektrische Licht wurde eingeschaltet, und zum erstenmal erblickte sie ihren Entführer. Sprachlos vor Schreck wich sie in die äußerste Ecke zurück.

 

Er war außergewöhnlich groß, größer als irgend jemand, den sie je gesehen hatte. Er war mindestens zwei Meter hoch, wie sie annahm, und von entsprechender Breite. Seine Kleidung bestand aus Hemd und Hose. Füße und Arme waren nackt, und seine behaarten muskulösen Oberarme verrieten enorme Kraft. Sein rotes, rundes Gesicht war eigenartig nichtssagend.

 

Wasserblau waren die Augen, die bewegungslos blieben, wenn er sprach; eine graue Mähne fiel unordentlich nach hinten über seinen Kopf, der dicklippige, große Mund war mit einem struppigen Bart bedeckt, dessen Farbe eine schmutzige Mischung von Grau und Gelb war, die riesenhaften Ohren standen beinahe im rechten Winkel vom Kopf ab – entsetzt starrte sie ihn an, diese Schrecken erregende Kreatur, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatte.

 

»Sieh mich mal gut an, Kleene, daß du mich ooch wiedererkennst«, meckerte er. (Kein anderes Wort konnte sein schrilles Lachen besser beschreiben.) »Wo is denn nu dein Schießeisen?« höhnte er. »Warum schießt du denn nicht auf den ollen, armen Jake – ich wette, er hat dir doch alles von mir erzählt?«

 

Sie wußte, er meinte Larry, gab aber keine Antwort. Ihre Augen durchsuchten den Raum nach irgendeiner Waffe, aber die getünchten Wände waren kahl, und nicht ein einziges Möbelstück befand sich in dem Zimmer. Das einzige Fenster war ein schmaler, langer Streifen aus dickem Glas in der Nähe der Decke, und an jeder Seite war ein Wandventilator angebracht. Sie durchsuchte ihre Handtasche, fand aber auch dort nichts. Sie hatte nicht einmal Hutnadeln, die ja auch diesem Scheusal gegenüber nutzlos gewesen wären.

 

»Du suchst wohl was, womit du mich umbringen kannst, was?« kicherte er wieder. »Ich höre doch, was du machst. Nu, setz dich jeduldig hin, kleenes Frauenzimmer! Für dich kommt noch ’ne feine Zeit, und keen Mensch will dir was tun.«

 

Zu ihrer Erleichterung machte er keine Anstalten, sich ihr zu nähern, aber schon seine nächsten Worte sagten ihr, daß die wirkliche Gefahr nur aufgeschoben war.

 

»Du sollst ja ganz hübsch sein«, gluckste er. »Und wer was für ’n hübsches Gesicht übrig hat, würde ’ne janze Masse für dich jeben. Es wundert mich eigentlich, daß – Sie dich nich für sich jenommen haben, aber weeste, Kleene, für Frauen und Heiraten und so was haben – Sie keenen Sinn, darum hat ooch der olle Jake dich jekricht.«

 

Er meckerte wieder, und bei diesem Ton lief es dem jungen Mädchen eiskalt über den Rücken. Er hatte die Angewohnheit, vor dem Wort »sie« anzuhalten und das Wort so zu betonen, als ob es in seinem Inneren mit großen Buchstaben geschrieben stände.

 

»Ich kann dich nich sehn, und so macht’s mir nischt aus, ob du hübsch bist, kleene Nutte. Und wenn du ooch ’n Gesichte hättest wie die da oben –« er wies mit dem Daumen nach der Decke – »det würde mir nischt ausmachen.«

 

»Sie werden niemals aus dem Haus herauskommen.« Sie hatte sich klargemacht, daß es besser war, sich unerschrocken zu zeigen. »Mr. Holt ist im Nebenhaus, und in der Zwischenzeit ist das ganze Grundstück schon umzingelt worden.«

 

Sein Kichern wurde lauter.

 

»Es gibt hier mehr als zehn Ausgänge«, sagte er verächtlich. »Aus diesem Grunde haben – Sie ’s ja gekooft. Da gibt’s ’ne Höhle unterm Keller, da kannste meilenlang loofen. Keen Mensch kann dich uffhalten, bloß Ratten gibt’s. Ratten haben Lauseangst vor Blinden.«

 

In all seinen ordinären Worten lag eine Art merkwürdiger, kindlicher Einfachheit, die schlecht zu seinem abschreckenden, riesenhaften Äußern paßte.

 

»Früher oder später wird man Sie doch fassen«, sagte sie ruhig und fügte dann, einer plötzlichen Eingebung Folge leistend, hinzu: »Lew ist schon festgenommen worden.«

 

Er war im Begriff, den Raum zu verlassen, aber bei diesen Worten fuhr er mit verzerrtem Gesicht herum.

 

»Lew!« brüllte er. »Er hat Lew geschnappt!«

 

Dann blieb er eine Zeitlang still, bis er in ein dröhnendes Gelächter ausbrach, das die Wände zu erschüttern schien.

 

»Lew wird ihnen ’ne Masse erzählen können! Wie kann er denn Lew was fragen, wenn Lew nich weeß, wo er is oder mit wem er spricht? Er kann ja nich lesen und nich schreiben. Sie würden ihn ja kalt gemacht haben für den gemeinen Streich den er ihnen jeschpielt hat. Er war ja doch das Luder, der das Stück Papier in die Tasche von dem Kerl gesteckt hat, den sie um die Ecke jebracht ham.«

 

»Das wissen wir sehr gut«, sagte sie furchtlos, und ihre Worte schienen auf Jake Eindruck zu machen.

 

»Das habt ihr doch rausgefunden?« sagte er. »Aber Lew hat nischt verklappt. Er würde schon längst kalt und steif sein, bloß – Sie wollten keene toten Kerls rumliegn haben. Ich und Lew haben ihn die Stufen runtergeschleppt bis ans Wasser«, sagte er und nickte mit seinem riesigen Kopf. »Ich kann dir das ruhig erzählen, denn ich kenne das Gesetz. Ich kenne es ganz genau. Old Jake kannst du nischt lehren.«

 

Sie wunderte sich, was er wohl mit seiner Prahlerei, das Gesetz zu kennen, meinte.

 

»’ne Frau kann nich gegen ihren Mann aussagen«, fuhr er boshaft lächelnd fort. »Darum kann ich dir ja ooch alles erzählen, kleenes Mädchen.«

 

»Eine Frau!« stammelte sie verstört. Die Vorstellung einer solchen entsetzlichen Möglichkeit ließ ihr Herz stillstehen.

 

»Mrs. Jake Bradford«, grunzte er. »Ja, Kleene, Bradford heeß ich, und Ehrwürden wird uns gut und richtig verheiraten.«

 

»Sie Narr!« brach sie in Wut und Angst los. »Denken Sie denn wirklich, daß irgend jemand mich mit einem Grausen wie Sie verheiraten könnte? Glauben Sie denn wirklich, ich würde still und ruhig an Ihrer Seite stehen und nicht in alle Welt hinausschreien, was ich von euch allen weiß? Sie müssen wahnsinnig sein.«

 

Er schob seinen unförmigen Kopf nach vorn, und mit jedem Wort wurde seine Stimme leiser und leiser, bis sie in einem heiseren Flüstern erstarb:

 

»Es gibt noch Schlimmre als ich im Haus, und vielleicht wirste nischt mehr gegen mich haben, kleene Frau, wenn de mich nich mehr sehn kannst. Vielleicht biste blind wie ich und doof wie Lew.« Er hielt inne, und sie schrak weiter zurück, hielt sich mit zitternden Händen an der Wand. »Und stumm dazu, wenn de uns verpfeifen willst!« brüllte er in plötzlicher Wut. »Es gibt nischt, was ich nich tue, wenn – Sie mir das sagen.«

 

Die Tür öffnete und schloß sich. Sie hörte, wie ein Schlüssel herumgedreht wurde, wie ein Riegel sich vorschob, und blickte auf. Er war gegangen. Halb ohnmächtig sank sie auf den Boden. Sie rief alle Energie zu Hilfe, senkte den Kopf ganz tief, bis sie allmählich das Blut zurückströmen fühlte, und kam mühsam wieder auf die Füße.

 

Mehr als zehn Minuten vergingen, in denen sie sich zwang, in dem Raum auf und ab zu laufen, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Sie wußte, es war keine leere Drohung, die dieser Mensch ausgestoßen hatte. Er würde ohne Gnade sein, wenn sein unbekannter Führer dies befehlen würde. Wenn sie es wünschten, würde er erbarmungslos Jugend und ihre Schönheit zertreten, ohne Zögern und Gewissensbisse den letzten Lebenshauch ersticken. Unbarmherzig würde er verstümmeln, foltern. Sie mußte ihre Gedanken zusammenreißen, klar denken – schnell denken.

 

Sie untersuchte die Tür, wenn sie auch wußte, daß Flucht auf diesem Wege unmöglich war. Sie hatte keinen Stuhl, mit dessen Hilfe sie an das Fenster reichen konnte, und würde auch nicht durch dieses entfliehen können, ohne die Aufmerksamkeit ihrer Peiniger zu erwecken. Nichts war in dem kahlen Raum, nichts wie das elektrische Licht.

 

Sie dachte an Larrys Erzählung, wie dieser Mensch mit erhobenen Händen auf ihn zukam, wie er die Glühlampe in seinen riesenkräftigen Händen zerdrückt hatte. Er mußte unmenschlich stark sein! War denn keine Gefahr für ihn, von dem elektrischen Strom getroffen zu werden?

 

Bei diesem Gedanken blickte sie plötzlich in die Höhe. Die Beleuchtung war ohne jede Rücksicht auf ordentliche Ausführung angelegt worden. Ein langer Draht lief von einer Ecke des Zimmers, lose an der Decke befestigt, bis zur Mitte, wo er über einen Haken nach unten hing. An seinem Ende war ein kleiner Metallreflektor über der birnenförmigen Lampe befestigt. Sie ergriff diese und drehte sie herum.

 

»Zweihundert Volt«, las sie auf dem Hals der Lampe.

 

Sie schwang und schleuderte den Draht hin und her, bis es ihr nach einigen vergeblichen Versuchen gelang, ihn von dem Haken freizubekommen. Die Lampe hing nun tief bis beinahe zum Fußboden herunter. Dann zog sie vorsichtig und ruckweise an dem Draht, bis die dünnen Klammern, die diesen an der Decke festhielten, nachgaben und der ganze Draht frei wurde. Sie ging nach dem Schalter an der Tür und löschte das Licht aus. Jetzt setzte sie einen Fuß auf die Leitungsschnur dicht in der Nähe der Lampe und zerrte aus Leibeskräften, bis diese riß und die beiden Enden frei wurden.

 

Sie war im Dunkeln, aber mit ihren geschickten Fingern zupfte sie die seidene Isolation auseinander, kratzte mit den Nägeln die Gummiumhüllung ab, die die vielen haarfeinen Kupferdrähte einschloß. Bald hielt sie etwas in den Händen, das sich wie ein kleiner struppiger Pinsel anfühlte; sie war mit ihrem Werk zufrieden. Jetzt glaubte sie ein Geräusch im Gang zu hören, eilte nach der Tür und schaltete den Strom ein. In dem Halbdunkel suchte sie nach ihrer Handtasche, nahm ihre Lederhandschuhe heraus, zog sie an und tastete vorsichtig nach den herabhängenden Drahtenden. Sie nahm sie in die Hand und hielt den »Drahtpinsel« vor sich, ängstlich bemüht, nicht die beiden freien Polenden zu berühren. Mit dem Fuß stieß sie Reflektor und Lampe beiseite und wartete in der Mitte des Zimmers. Dann öffnete sich die Tür.

 

»Da bin ich wieder, Puppe.« Ihr Atem kam stoßweise, als sie hörte, wie sich die Tür von innen schloß. »Ich bin also nich hübsch jenuch für dich?« Er wußte nicht, daß das Licht aus war, denn er lebte in ständiger Dunkelheit.

 

Eine Zeitlang machte er keinen Versuch, sich ihr zu nähern. Die Umrisse seiner riesigen Gestalt waren kaum in dem schwachen Lichte, das durch das schmale Fenster drang, sichtbar.

 

»Tony hat danebengeschossen«, teilte er ihr mit. »Danebengeschossen!« knurrte er verächtlich. »Wenn ich bloß sehen könnte, hätte ich den Hund gekricht. Blind, wie ich bin, würde ich ihn mit dem kleenen Schießprügel hier treffen, wenn ich ihn bloß bewegen hörte. Aber wir wern den kleenen Holty noch fassen, Mächen. Nur keene Bange. Wir wern fassen und reißen ihm die Kaldaunen raus. Es wird ihm leid tun, daß er überhaupt geborn is.«

 

Seine Stimme wurde leiser, und er sagte einige Worte, die dem jungen Mädchen unverständlich blieben. Dann schien ihm der eigentliche Zweck seine« Kommens einzufallen.

 

»Komm zu deinem ollen Jake, Puppchen!« kicherte er und ging langsam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Komm zu deinem lieben, ollen Mann, Kleene!«

 

Er war flink wie eine Katze, und bevor sie sich noch Rechenschaft geben konnte, was geschah, hatte er sie schon an der Schulter gepackt und riß ihr die Bluse vom Leibe. Sie warf sich zurück. Seine andere Hand schoß vor und – berührte die ausgefransten Drahtenden. Mit einem Schrei, halb Kreischen, halb Gebrüll, sprang er zurück.

 

»Wat haste gemacht?« schrie er wild. »Wat haste gemacht, kleene Hexe? Haste mich gestochen wie det verdammte Schwein?«

 

Augenscheinlich befühlte er sich selbst, um nach einer Verletzung zu suchen, und dann sprang er wieder auf sie ein. Jetzt trafen die Polenden sein Gesicht, und wie ein Holzklotz stürzte er zu Boden.

 

Sie hörte, wie er sich bewegte.

 

»Wat is denn das? Wat is denn das bloß?« flüsterte er. »Ich kann nischt sehen! ’n ollen, blinden Mann so zu behandeln! Du verdammte –«

 

Seine Hand packte sie am Fußgelenk und riß sie zu Boden. Aber wieder berührte sein Gesicht die elektrischen Drähte mit 200 Volt Spannung. Er kreischte wie ein wildes Tier und rollte sich auf dem Boden. Er war jetzt wahnsinnig vor Wut und Angst – ein wimmernder Tollhäusler. Wieder und wieder fiel er sie an, wieder und wieder kam seine Hand, sein Gesicht, sein Hals mit dem Strom in Berührung. Plötzlich brach er zusammen, und das junge Mädchen hielt die grausamen Enden des todbringenden Drahtes an seine Kehle. Sie fühlte sich als Mörderin mit dem zuckenden Körper unter sich. Aber sie mußte ihn töten; sie wußte: nur sein Tod würde ihr Leben retten.

 

Endlich nahm sie den Draht von seinem Halse weg. Er lag regungslos, und mit zitternden Händen durchsuchte sie seine Taschen. Sie fand den Schlüssel und einen Revolver. Dann suchte und fand sie das Schlüsselloch. Die Tür öffnete sich, und sie befand sich in einem Gang, der nach rechts in ein helleres Zimmer mit zwei Fenstern führte. Aber immer noch war sie in Todesangst: jetzt hatte sie ihr bestes Verteidigungsmittel verloren.

 

Die Tür war leicht zu finden. Wie außerordentlich geschickt auch die Tür im Schlafsaal von Todds Heim verborgen war, hier lag sie sichtbar vor Augen. Sie zog an einem Handgriff, das ganze schwere steinerne Tor schwang zurück, und sie ging durch die Öffnung. Ein Mann stand in der Mitte des Schlafsaales und fuhr, Revolver in der Hand, bei dem Geräusch herum.

 

»Mein Gott! Miß Ward«, rief er. »Wo kommen Sie denn her?«

 

Kapitel 18

 

18

 

Er begleitete Diana nach unten, und sie plauderten noch einige Augenblicke in der Halle. Vor der Tür wartete ein Privatauto auf sie, und sie erklärte ihm diesen anscheinenden Luxus. Die Familie Gray hatte ihr den Wagen zur Verfügung gestellt, der den Versicherungsbeamten und Frau gegen zwei Uhr abholen sollte.

 

In diesem Augenblick kam ein Beamter aus einem der Erdgeschoßräume auf ihn zu.

 

»Ferngespräch für Sie, Sir.«

 

»Kommen Sie mit«, sagte Larry. »Vielleicht läßt sich die Sache gleich erledigen, und dann kann ich mich mal als Millionär fühlen und mit Ihnen fahren.«

 

Er ging dem Mädchen voran in sein Zimmer zurück. Es war der Inspektor vom Polizeibüro in Oxford Lane, der ihn anrief.

 

»Ist dort Inspektor Holt?« fragte er.

 

»Am Apparat«, war Larrys Antwort.

 

»Sie haben die Beschreibung eines Manschettenknopfes aus schwarzer Emaille mit Brillanten veröffentlicht!«

 

»Jawohl«, sagte Larry schnell.

 

»Ein Mr. Emden, in Firma Emden & Smith, Pfandleihe, erwähnte ein Paar Manschettenknöpfe, die genau mit der Beschreibung in der amtlichen Diebstahlsliste übereinstimmen.«

 

»Haben Sie sie bei sich?« fragte Larry eifrig.

 

»Nein, Sir«, antwortete der Inspektor. »Aber Mr. Emden ist hier im Büro, falls Sie ihn zu sprechen wünschen. Er kann Ihnen die Knöpfe morgen früh geben. Heute nach dem Abendessen las er die amtliche Liste und stieß auf die Beschreibung der Manschettenknöpfe. Er ist dann sofort hierhergekommen; er wohnt ganz in der Nähe.«

 

»Gut. Ich komme sofort hin«, sagte Larry.

 

»Was gibt es denn?« fragte Diana. »Sind die Manschettenknöpfe gefunden worden?«

 

Larry schüttelte den Kopf.

 

»Man hat ein Paar Manschettenknöpfe gefunden; die genau so sind wie der eine, den wir in Stuarts Hand gefunden haben«, sagte er etwas verblüfft. »Das ist mir unverständlich. Ja, wenn es ein halber Knopf oder anderthalb Knöpfe gewesen wären, würde das sicherlich ein Beweisstück für unseren Fall bedeuten.«

 

Er blickte zögernd auf den Mann, der die Telephonzentrale bediente.

 

»Wenn Sergeant Harvey anruft, sagen Sie ihm bitte, er möchte noch einmal anklingeln oder hierherkommen und auf mich warten. Und jetzt«, sagte er zu dem jungen Mädchen, als sie beide vor die Tür traten, »werde ich Sie in Ihrer fürstlichen Fahrgelegenheit nach Haus bringen.«

 

Vor ihrer Haustür lungerte ein Mensch herum, der Larry grüßte.

 

»Sie lassen mich doch nicht bewachen?« fragte das junge Mädchen überrascht. »Ich glaube, das ist wirklich nicht nötig, Mr. Holt.«

 

»Meine eigenen Erfahrungen haben mich gelehrt, daß es sehr nötig ist«, versetzte Larry grimmig. »Dem liebenswürdigen Herrn, der mich herumgeschlenkert hat, als ob ich eine Feder wäre, fehlt es weiß Gott nicht an Mut. Gibt es außer diesem hier noch einen anderen Eingang im Haus?« fragte er den Detektiv.

 

»Nein, Sir, ich habe mich ganz genau umgesehen und habe auch die Zimmer der jungen Dame untersucht.«

 

»Wie ist denn das möglich?« sagte sie verdutzt.

 

»Ich habe mir einen Nachschlüssel machen lassen«, sagte Larry. »Hoffentlich sind Sie mir deshalb nicht böse. Und, da wir gerade von Schlüsseln sprechen«, fügte er hinzu, »das Erscheinen des blinden Jake in dem Zimmer Fanny Weldons ist auch kein Rätsel mehr. Sie hatte ihm für den Fall, daß sie ihn mit ihrer Beute in der Sonnabendnacht verpassen sollte, ihren Hausschlüssel gegeben. Er sollte dann nach oben kommen. Sie hatte eine solche Angst vor ihm, daß sie nicht wagte, ihm den Schlüssel zu verweigern. Sie mußte das aber völlig vergessen haben, da sie sich sonst niemals zum Schlafen niedergelegt hätte.«

 

Er wünschte ihr »Gute Nacht« und ging zu Fuß nach Oxford Lane.

 

Mr. Emden war ein kleiner, freundlicher Mann und trug einen Klemmer.

 

»Ich war dabei, die amtliche Diebstahlsliste durchzulesen und fand dann Ihre Beschreibung der Knöpfe, Mr. Holt.«

 

Er zeigte ihm das Blatt Papier mit der Zeichnung des Knopfes, dessen Gegenstück gesucht wurde.

 

»Sie haben ein Paar solcher Knöpfe, wie Sie sagen?«

 

»Ja, Sir«, antwortete der Pfandleiher. »Heute morgen sind sie bei mir versetzt worden. Ich habe übrigens selbst das Versatzstück in Empfang genommen. Gewöhnlich stehe ich ja nicht hinter dem Ladentisch, aber einer meiner Angestellten mußte etwas besorgen, und als der Kunde hereinkam, nahm ich die Knöpfe an und gab ihm vier Pfund dafür.«

 

»Kein gewöhnliches Muster!« sagte Larry, und Mr. Emden schüttelte den Kopf.

 

»Im Gegenteil. Ganz und gar ungewöhnlich«, sagte er. »Ich erinnere mich nicht, jemals Manschettenknöpfe wie diese gesehen zu haben. Ich glaube, es ist französische Arbeit. Sie waren etwas beschädigt. Drei Diamanten fehlten, sonst hätte ich auch viel mehr als vier Pfund dafür gegeben.«

 

»Kennen Sie den Mann, der die Knöpfe versetzt hat?«

 

»Nein, Sir. Er war ein sehr eleganter Herr, der mir erzählte, er hätte sich die Dinger übergesehen. Meiner Meinung nach aber war er…« Er zögerte.

 

»Nun«, fragte Larry.

 

»Ja – trotz seines guten Äußeren machte er mir den Eindruck eines jener eleganten Hochstapler, wie sie im West-End zu Hunderten herumlaufen. Ich hatte das Gefühl, daß er die Knöpfe versetzte, nicht weil er das Geld brauchte, sondern weil er sie loswerden wollte. Die Diebe machen das oft genug und riskieren es eben, daß der Pfandleiher herausfindet, die Schmucksachen werden vermißt und von der Polizei gesucht.«

 

Larry nickte.

 

»Elegant angezogen?« sagte er nachdenklich und fragte dann plötzlich: »Trug er irgendwelchen Schmuck? Diamanten?«

 

»Ja«, sagte der Pfandleiher, »und aus dem Grunde habe ich ja angenommen, daß er die Sachen loswerden wollte. Vier Pfund war ja nicht viel für so wertvolle Gegenstände, aber er verlor kein Wort darüber.«

 

»Was für einen Namen hat er angegeben?«

 

»Mr. Frederick und, wie ich annehme, eine x-beliebige Adresse.«

 

»Flimmer Fred!« sagte Larry. »Liegt Jermyn Street in Ihrem Bezirk?« fragte er den Inspektor.

 

»Ja, Sir«, war die Antwort.

 

»Nehmen Sie ein paar Leute und heben Sie Flimmer Fred aus. Bringen Sie ihn erst hierher und dann nehme ich ihn nach Cannon Row mit, falls es nötig ist.

 

»Soll er verhaftet werden?«

 

»Nein, er soll erst mal vernommen werden. Vielleicht kann er eine genügende Erklärung geben, aber er muß es schon äußerst geschickt anfangen, wenn er sich hier herauslügen will. Nun, Mr. Emden«, wandte er sich zu dem Pfandleiher, »ich bin leider nicht in der Lage, bis morgen früh warten zu können und muß Sie schon bitten, mich nach Ihrem Geschäft zu begleiten und mir die betreffenden Knöpfe auszuhändigen.«

 

»Mit Vergnügen«, sagte der kleine Mann. »Ich habe mir schon so etwas gedacht und gleich die Schlüssel mitgebracht. Mein Laden ist nur fünf Minuten von hier entfernt.«

 

Als Mr. Emden den Schlüssel in das Schloß gesteckt hatte und ihn herumdrehen wollte, gab die Tür nach.

 

»Nanu, die Tür ist ja offen«, sagte er verwundert und ging schnell in den Gang hinein. Es war unnötig, einen anderen Schlüssel zu suchen, um die Seitentür zu öffnen, denn diese stand halb offen, und Larry sah beim Schein seiner Taschenlampe die Spuren eines Brecheisens. Der Pfandleiher stürzte voran in den Laden und schaltete das Licht ein.

 

Auf dem Ladentisch lag das Kassabuch und war an der Seite aufgeschlagen, auf der die am letzten Tage gemachten Geschäfte eingetragen waren.

 

»Wo haben Sie die Knöpfe aufbewahrt?« fragte Larryhastig.

 

»Im Geldschrank in meinem Privatbüro«, sagte der Mann. »Sehen Sie«, er zeigte auf das Buch, »hier ist die Nummer.«

 

»Und das Wort ›Geldschrank‹ dahinter«, fügte Larry hinzu, »aber ich habe so die Empfindung, als ob Sie Ihren Geldschrank nicht ganz unberührt finden werden.«

 

Und seine Worte erwiesen sich als wahr. Der große »diebessichere« Geldschrank war in kläglicher Verfassung, ein Loch war in den Stahlmantel hineingebrannt und das Schloß war verschwunden. Von Wertgegenständen irgendwelcher Art keine Spur, nicht ein einziges Päckchen war zurückgeblieben.

 

»Ich glaube, sie haben die Knöpfe richtig erwischt«, sagte Larry verbissen.

 

Kapitel 12

 

12

 

Er nahm den Telephonhörer ab und sagte kurz: »Schicken Sie sofort die ersten beiden Beamten, die Sie im Hause finden, hierher und einen Boten. Aber schnell.« Das junge Mädchen beobachtete ihn mit Interesse. Jetzt lernte sie zum erstenmal den wirklichen Larry Holt kennen, den Mann, von dem der Kommissar gesagt hatte, daß er »nicht einmal im Schlaf die Spur verlor«. Der Eindringling hatte sich nicht die Mühe gemacht, das leichte Stemmeisen wieder mitzunehmen, das er gebraucht hatte. Larry nahm es vorsichtig mit einem Stück Papier auf und brachte es unter das Licht.

 

Ein kurzer wollener Faden hing an seinem rauhen Ende, und das bewies, daß man Handschuhe getragen hatte, um Fingerabdrucke zu vermeiden. Seine einzige Hoffnung war die Schale, deren Boden aus einer dicken Glasplatte bestand. Seitenwände und Handgriffe waren Korbgeflecht. Larry wußte, daß, falls die Handschuhe überhaupt ausgezogen worden waren, es bei dem Hantieren mit der Schale geschehen sein mußte. Und seine Annahme war richtig. Als er auf die polierte Rückfläche der goldenen Uhr hauchte, wurde ein Fingerabdruck deutlich sichtbar.

 

Inzwischen waren die beiden Polizisten eingetroffen.

 

»Ist in der daktylographischen Abteilung jemand in Dienst?« fragte Larry.

 

»Jawohl.«

 

»Bringen Sie die Uhr hin. Halten Sie sie an der Krone; kann man den Abdruck nicht mit Puder sichtbar machen, so muß er sofort photographiert und innerhalb der nächsten Stunde verglichen werden.«

 

Der Einbrecher hatte noch einen anderen Fehler gemacht. Larry hatte den Papierkorb unter dem Tische hervorgezogen und drei zusammengeknüllte Stückchen Papier, die obenauf lagen, herausgenommen. Die beiden ersten waren nichts Wichtigeres als Briefentwürfe in Dianas Handschrift. Das dritte dagegen zeigte einen Plan des Zimmers, von fachmännischer Hand in Tinte gezeichnet. Der Platz des Wandschrankes und die Position der Schreibtische waren genau angegeben.

 

»Der Zeichner hat angenommen, daß es hier drei Wandschränke gibt«, sagte Larry und wies auf die Skizze. »Einer soll links vom Kamin sein«, er blickte auf und zog seine Brauen überrascht in die Höhe. »Weiß der Himmel, das stimmt auch. – Und ein anderer hinter der Tür«, er blickte hin und nickte. »Die kennen das Zimmer viel besser als ich selbst, Miß Ward«, sagte er und studierte von neuem die Zeichnung. »Das hat ein Mann gezeichnet, der Fachkenntnisse hat. – Ich glaube, es wäre besser, wir hätten einen Geldschrank hier und eine Leibwache«, fügte er bitter hinzu.

 

Auf der Türschwelle tauchte plötzlich Sir John Hason auf, der gelegentlich abends in sein Büro kam, um ruhig und ungestört arbeiten zu können.

 

»Was ist denn vorgefallen, Larry?« fragte er.

 

»Ach, gar nichts«, sagte Larry leichthin. »Nur ein Einbrecher hat Scotland Yard einen Besuch abgestattet! Meinst du nicht, wir müßten nach der Polizei schicken?« Als Antwort auf diese impertinente Frage grinste Sir John, war aber sofort wieder ernst.

 

»Man hat doch nicht die Stuart-Beweisstücke gestohlen?«

 

»Das einzige Beweisstück, das wirklich von Wert war, ist verschwunden«, entgegnete Larry.

 

»Laß den Pförtner nach oben kommen«, entgegnete der Kommissar.

 

Aber auch dieser konnte keine zufriedenstellende Auskunft geben. Er hatte gedacht, es wäre Miß Ward gewesen, die an seiner Loge vorbeiging. Es war Gewohnheit im Yard, daß die Beamten beim Passieren der Portierloge ihre Zimmernummer angaben, wenn sie ihren Dienst begannen und dieselbe Gewohnheit galt auch für die Zeit außerhalb der Bürostunden. Der Besucher hatte »47« angegeben und war ohne weiteres hineingelassen worden.

 

»Sind denn Fremde heute hier gewesen?« fragte Larry.

 

»Nein«, entgegnete das junge Mädchen, fügte dann aber hinzu: »Heute nachmittag war ein Blinder hier. Sie entsinnen sich doch, daß Sie eines dieser Instrumente sehen wollten, die diese bedauernswerten Menschen benutzen, und ich bat den kleinen, alten Mann, der Streichhölzer auf dem Embankment verkauft, nach oben zu kommen.«

 

»Auf jeden Fall«, sagte Larry, der sich daran erinnerte, »konnte er doch keinen Plan des Zimmers angefertigt haben.«

 

»Das System, was sich hier bei uns herausgebildet hat, scheint ein bißchen unsicher zu sein«, sagte Sir John, als der Pförtner das Zimmer verlassen hatte. »Wir können dem Mann wirklich keinen Vorwurf machen. Es ist unser eigener Fehler.«

 

»Hier haben wir ja den Herrn von der daktylographischen Abteilung«, rief Larry.

 

Der Beamte, der hereinkam, strahlte über das ganze Gesicht.

 

»Gleich beim ersten Griff gefunden, Sir«, sagte er. »Fanny Weldon, Coram Street 280. Hier ist ihr Personalrekord.« Er übergab Larry eine Karte.

 

»Zweimal Gefängnisstrafe für Beilegung falscher Persönlichkeit«, las er. »Das ist das Frauenzimmer. Aber was hat sie mit der ganzen Geschichte zu tun?«

 

»Fanny ist eine merkwürdige Frau, Sir«, sagte der Beamte, »sie hat nicht einen Funken von eigenen Ideen und ist immer in Unannehmlichkeiten gekommen, weil sie anderen Leuten bei ihren Plänen geholfen hat. Der dicke Joe Jacket hat sie gebraucht, um die bekannte Schauspielerin Miß Lottie Holm darzustellen. Das war vor ungefähr zwei Jahren. Dann hatte sie im Auftrage von irgend jemand eine Bardame personifiziert, während der Besitzer nicht im Hause war. Die Mannic-Bande hat bei der Gelegenheit im Hotel ›Victor Hugo‹ dreitausend Pfund erwischt.«

 

Larry saß an seinem Schreibtisch und hatte nachdenklich das Kinn in die Hand gestützt.

 

»Die Sache ist ganz klar«, sagte er dann. »Die Bande, hinter der wir her sind, kennt alle Hochstapler in London und hat höchstwahrscheinlich Fanny für ihre Pläne gewonnen. Wie war doch die Adresse – Coram Street 280? … Wir wollen mal sehen, was Fanny Weldon dazu zu sagen hat.«

 

Er bekam aber Fanny nicht vor Tagesanbruch zu sehen. Coram Street 280 war ein Eckhaus, das augenscheinlich nur möblierte Zimmer enthielt. In den ersten Morgenstunden fuhr ein Wagen vor das Haus, eine Frau stieg heraus und bezahlte den Kutscher. Als sie auf die Haustür zuging, kam Larry hinter ihr her und ergriff ihren Arm. Mit einem Ausruf des Schreckens fuhr sie herum. Sie war eine hübsche Frau mit einem etwas ordinären Mund.

 

»Was soll das heißen?« rief sie erschreckt.

 

»Sie werden mich auf einem kleinen Spaziergang begleiten«, sagte Larry.

 

»Geheimer?« fragte sie und erblaßte.

 

»Richtiggehender Geheimer«, entgegnete Larry und führte sie nach dem nächsten Polizeibüro, wo Diana und seine Beamten ihn erwarteten.

 

Auf dem Wege dorthin bejammerte sie ihr Schicksal.

 

»Das kommt davon, wenn man anderen Leuten Gefälligkeiten erweist«, sagte sie bitter. »Was soll ich denn getan haben?«

 

»Einbruch in Scotland Yard«, sagte Larry ruhig.

 

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dann liege ich im Essen!« sagte sie.

 

»Das scheint mir auch so«, gab Larry zu.

 

Weibliche Beamte nahmen eine Körpervisitation vor, deren Ergebnis der Fund von einhundertfünfzig Pfund in Banknoten war. Fanny hatte sich mittlerweile von ihrem ersten Schrecken erholt und bestand darauf, daß das Geld genau gezählt wurde.

 

»Mir ist schon öfter auf Polizeibüros verschiedenes abhanden gekommen«, sagte sie anzüglich.

 

Statt in eine Zelle wurde sie in ein kleines Wartezimmer gebracht, wo Larry sie in Gegenwart Dianas verhörte. Die Anwesenheit der letzteren interessierte Fanny ungemein.

 

»Wie ich sehe, haben Sie Ihre Freundin mitgebracht«, sagte sie schnippisch. »Ist das die Dame, die ich ›nachgemacht‹ habe?«

 

»Das ist die betreffende Dame«, sagte Larry. »Also, Fanny, jetzt wollen wir mal wie Vater und Tochter miteinander reden.«

 

»Immer los, und genieren Sie sich gar nicht«, sagte Fanny unbekümmert. »Aber eins kann ich Ihnen sagen. Die ganzen letzten Monate kann man mir nichts nachsagen.«

 

»Fanny«, sagte Larry ernst, »ich werde Ihnen eine Chance geben – ich spreche absolut offen mit Ihnen. Es liegt Scotland Yard nichts daran, daß die ganze Welt erfährt, ein weiblicher Gauner ist in das Präsidium eingebrochen und hat unter den Augen der Polizei verschiedene Wertgegenstände gestohlen.«

 

Die Frau lachte leise und zwinkerte Diana zu.

 

»Für so was kann man nur ’ne Frau gebrauchen, nicht wahr?« fragte sie. »Erzählen Sie man weiter, mein Herr Schnüffler. Wenn Sie aber denken, daß ich irgend jemand verklappe, dann irren Sie sich gewaltig.«

 

»Sie werden mir ganz genau mitteilen, was ich von Ihnen wissen will«, versetzte er scharf, »und Sie werden mir sofort sagen, wer Sie für diese Geschichte angeworben hat.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sie werden mir außerdem noch sagen, wer der Mann war, dem Sie die gestohlenen Sachen ausgehändigt haben, und wo das geschehen ist.«

 

Fanny schüttelte den Kopf von neuem und war in ausgezeichneter Laune.

 

»Das viele Fragen hat gar keinen Zweck«, sagte sie, »ich antworte ja doch nicht. Sparen Sie sich doch die Mühe und sperren Sie mich lieber in meine Zelle.«

 

»Ich werde Sie in die Zelle bringen lassen, sobald ich Ihnen die gegen Sie vorliegende Anklage mitgeteilt habe«, sagte er ruhig. Die Frau fuhr hoch und blickte ihn unruhig an.

 

»Sie haben mich wegen Einbruches angeklagt.«

 

»Das ist nicht das Verbrechen, dessen ich Sie beschuldigen werde«, sagte Larry. »Wenn ich nicht befriedigende Antwort auf meine Fragen erhalte, werde ich Sie noch einmal zur Protokollaufnahme zurückführen und Anklage gegen Sie erheben wegen Beihilfe zum Morde an Gordon Stuart in der Nacht des dreiundzwanzigsten April.«

 

Sie blickte ihn entsetzt und keines Wortes mächtig an.

 

»Mord?« wiederholte sie, »Mord? – Guter Gott, Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich …«

 

»Sie sind in einer ernsten Lage«, sagte er. »Sie helfen Mördern, sich dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen. Sie haben sich verleiten lassen, ein wichtiges Beweisstück zu stehlen, das in den Händen der Polizei war und vielleicht zur Überführung der Mörder geführt hätte – alles das genügt vollständig, um Sie außerordentlich schwer zu verdächtigen.«

 

»Ist das Ihr wirklicher Ernst?« fragte sie.

 

»Vollständiger Ernst«, sagte Larry eindrucksvoll. »Nehmen Sie nur nicht an, daß ich Sie zum besten haben will, Fanny. Sie haben ein Beweisstück gestohlen, das vielleicht die Verhaftung der Mörder ermöglicht hätte.«

 

»Wer sind Sie eigentlich?« fragte sie.

 

»Ich bin Inspektor Holt«, war die Antwort.

 

»Allmächtiger Vater! Dann bin ich verratzt!« stammelte sie. »Ich dachte, Sie wären im Ausland. Nee, Mr. Holt, ich will Ihnen erzählen, was ich weiß. Ich habe genug von Ihnen gehört und weiß, daß Sie auch Gaunern gegenüber ’n ehrliches Spiel spielen. Von der ganzen Geschichte habe ich bis gestern nachmittag keine Ahnung gehabt, und dann wurde ich angerufen, ich sollte mich mit dem großen Jake oder dem blinden Jake, wie er auch noch genannt wird, treffen.«

 

»Blinde Jake?« wiederholte Larry, dem der Name unbekannt war, und dann fiel ihm der blinde Streichholzhändler auf dem Embankment ein, der im Büro gewesen war – aber der konnte es doch unmöglich gewesen sein. Diana hatte gesagt, er wäre klein gewesen.

 

»Die Polizei weiß genau Bescheid über ihn, Mr. Holt«, sagte Fanny zaudernd. »Er ist ein schlechter Mensch. Von mir klingt das komisch, ich weiß es, aber vielleicht verstehen Sie, was ich damit sagen will: er ist schlecht, grundschlecht. ich bin in Todesangst vor Jake dem Blinden, und es gibt nicht einen Strolch, keinen Hochstapler in ganz London, dem es nicht ebenso geht. Er hat zweimal gesessen. Gewöhnlich arbeitet er mit zwei Komplizen, alles Gauner, und alle drei blind. Wir hatten sie ›Die toten Augen von London‹ getauft, weil sie sich schneller bewegen können als Sie, und weil die dicksten Nebel für sie gar nichts bedeuten. Jake der Blinde war der Anführer der drei, dann ist einer von ihnen verschwunden, und ich habe gehört, er wäre tot. In den letzten zwölf Monaten haben wir nicht viel von ihnen gehört, bis auf einmal der blinde Jake wieder auftauchte. Und Geld hatte er wie Heu. Ich glaube, er arbeitet jetzt für eine Kanone in der Zunft.«

 

»Schön, Sie haben den blinden Jake getroffen?«

 

»Ja«, nickte sie. »Er gab mir den Plan…«

 

»Aber der war doch nicht von ihm – er konnte doch nicht zeichnen«, unterbrach Larry.

 

»Der sicher nicht«, sagte sie verächtlich. »Nein, er hatte den Plan bei sich. Ich muß ihn irgendwo haben. Vielleicht in meiner Handtasche, die Sie mir abgenommen haben.«

 

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf«, sagte Larry. »Ich habe ihn im Büro gefunden.«

 

»Also der blinde Jake sagte mir, was ich zu tun hätte, daß er mir den Mantel und Hut geben würde, den die junge Dame hier immer trug, wenn sie ins Präsidium kam, daß ich beim Pförtner ›Nummer 47‹ sagen und dann so schnell wie möglich nach oben gehen müßte.«

 

»Was sollten Sie holen?«

 

»Eine kleine Rolle aus braunem Papier«, war die Antwort. »Er hat mir ganz genau beschrieben, wo sie war und daß sie in einer Schale lag.« Sie zuckte die Schultern hoch. »Ich kann mir nicht denken, wie sie das herausgefunden haben.«

 

»Aber ich«, sagte Larry und wandte sich zu dem jungen Mädchen. »Der Streichholzhändler hat auf einmal sein Augenlicht wiedergefunden! Wo kann ich den blinden Jake finden?« fragte er Fanny.

 

»Sie werden ihn überhaupt nicht finden«, entgegnete sie kopfschüttelnd. »Er läßt sich niemals am Tage sehen – wenigstens sehr selten.«

 

»Und wie sieht er aus?«

 

»Er ist riesengroß und stark wie ein Ochse.«

 

Diana stieß einen Schrei aus und fragte: »Hat er einen Bart?«

 

»Ja, Miß. So ’ne Art kleinen grauen Bart.«

 

»Das war der Mann auf der Treppe«, sagte Diana, »dessen bin ich ganz sicher.«

 

Larry nickte und wandte sich zu der Frau.

 

»Wann haben Sie die Rolle weitergegeben?«

 

»Heute morgen gegen zwei Uhr. Um diese Zeit sollte ich ihn am unteren Ende der Arundel Street und Strand, in der Nähe des Embankments, treffen. Und was er für eine Laune hatte!«

 

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Vor Jahren wohnten sie in Todds Heim. Das war eine Blindenanstalt in Lissom Lane, Paddington, wo die blinden Straßenhändler Unterkunft fanden. Aber ich glaube nicht, daß er noch da ist.«

 

Larry führte sie in die Wachtstube zurück.

 

»Sie können sie auf meine Verantwortung hin freilassen«, sagte er zu dem diensttuenden Beamten. »Fanny, Sie melden sich morgen früh zehn Uhr bei mir in Scotland Yard.«

 

»Ja, Sir«, sagte Fanny, »und was wird mit meinem Geld?«

 

Larry überlegte einen Augenblick.

 

»Das können Sie wiederbekommen.«

 

»Wenn mir irgend jemand erzählen will«, sagte Fanny, als sie die Banknoten mit beleidigender Sorgfalt nachzählte, »daß die Polizei nicht ehrlich ist, soll er man zu mir kommen, und er wird allerlei zu hören kriegen.«

 

Kapitel 13

 

13

 

»Miß Diana«, sagte Larry freundlich, »Sie müssen jetzt aber wirklich nach Hause gehen und machen, daß Sie ins Bett kommen.«

 

Diana schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht ein bißchen müde, Mr. Holt. Darf ich nicht mitkommen? Wissen Sie nicht, daß Sie mir versprochen haben, den Fall Stuart mit Ihnen zusammen bearbeiten zu dürfen?«

 

»Aber ich habe nicht versprochen, Sie die ganze Nacht hindurch aufzuhalten«, meinte er, »und Sie sehen sehr abgespannt aus. Und nun sofort nach Hause. Die Vorsehung schickt uns gerade ein Taxi«, sagte er und winkte.

 

Sie fühlte sich müde zum Umfallen, versuchte aber trotzdem zu protestieren. Aber Larry war unerbittlich und hielt die Wagentür für sie offen.

 

»Sergeant Harvey bringt Sie nach Haus«, sagte er und zog den Beamten beiseite. »Sie gehen nach oben in Miß Wards Zimmer, durchsuchen diese sorgfältig und bleiben auf dem unteren Treppenabsatz, bis Sie abgelöst werden.«

 

»Und nun, Sergeant, wollen wir uns mal Todds Heim ansehen«, wandte er sich dem anderen Beamten zu.

 

Sechs Uhr schlug es von den Kirchtürmen, als Larrys Taxi vor Todds Heim anhielt. Es war ein trauriges, wenig einladend aussehendes Haus, dessen Fenster mit blauer Farbe bedeckt waren. Auf einer langen, schwarzen Tafel, die über die Breite des Hauses hinweglief, stand in verblichenen goldenen Buchstaben: Todds Heim für bedürftige Blinde.

 

Kaum hatte er geklopft, als die Tür von einem kleinen Mann geöffnet wurde.

 

»Das ist nicht Toby oder Harry, auch nicht der alte Joe«, sagte er laut. »Wer ist es denn?«

 

Larry sah, der Mann war blind.

 

»Ich möchte den Vorsteher sprechen«, sagte er.

 

»Ja, Sir«, sagte der Mann respektvoll. »Wollen Sie bitte hier warten?«

 

Er verschwand in einem langen verzweigten Gang; dann hörten sie ihn in seinen Pantoffeln zurückschlürfen, gefolgt von einem großen, schlanken Mann, der einen weißen Priesterkragen trug. Seine Augen waren hinter dunklen, blauen Gläsern versteckt, und auch er fühlte sich seinen Weg den Gang entlang.

 

»Wollen Sie nicht bitte näher treten.« Es war die Stimme eines gebildeten Mannes. Er war groß und kräftig gebaut, und sein glattrasiertes Gesicht zeigte eine außergewöhnliche Strenge des Charakters. »Ich bin John Dearborn – Reverend John Dearborn«, stellte er sich beim Voranschreiten vor. »Wir haben leider wenig Besucher hier. Ich fürchte, Todds Heim ist nicht besonders beliebt.«

 

Er machte keine Anspielung auf die frühe Stunde, die sie für ihren Besuch gewählt hatten.

 

»Wir müssen den Gang noch etwas weiter entlanggehen, meine Herren«, sagte er. »Ich höre an den Fußtritten, daß Sie zwei Personen sind – Vorsicht – hier ist eine Stufe.«

 

Er stieß eine Tür auf, und sie traten hinein. Das Zimmer war behaglich möbliert. Das erste, was Larry auffiel, waren die kahlen Wände, bis er sich daran erinnerte, daß Bilder für Blinde keinen Wert haben.

 

Ein merkwürdiger, kleiner Apparat stand auf der Seite des Tisches, der das Hauptstück der Ausstattung bildete, und ein kleines Rädchen drehte sich, als sie hereinkamen. Der Vorsteher ging geradewegs auf die kleine Maschine zu. Ein leichtes Schnappen eines Knopfes, und das Rad stand still.

 

»Das ist mein Diktaphon«, erklärte er, als er sich ihnen mit einem Lächeln zuwandte. »Ich bin literarisch tätig und diktiere in den Apparat, von dem dann meine Worte abgehört und mit der Schreibmaschine geschrieben werden.

 

»Nun, meine Herren«, sagte Ehrw. John Dearborn, als er selbst Platz genommen hatte, »was verschafft mir das Vergnügen Ihres Besuches?«

 

»Ich bin Beamter von Scotland Yard«, stellte sich Larry vor, »mein Name ist Holt.«

 

Der andere verbeugte sich leicht.

 

»Ich hoffe, keiner meiner unglücklichen Schutzbefohlenen ist in Unannehmlichkeiten geraten?«

 

»Das weiß ich selbst noch nicht genau«, sagte Larry. »Im Augenblick suche ich einen Mann mit Namen Jake der Blinde.«

 

»Der blinke Jake?« erwiderte der andere langsam. »Ich glaube nicht, daß wir einen solchen Namen in unserem Heim gehabt haben, wenigstens nicht, solange ich die Leitung habe. Und ich bin jetzt vier Jahre hier. Vor meiner Zeit wurde das Heim von einem Mann geleitet, und noch dazu sehr schlecht, der die schlimmste Sorte von Blinden, die es in ganz London gab, hier zusammenbrachte. Sie wissen, Blinde sind in ihrer Art wundervoll, tapfer und geduldig. Leider gibt es aber auch andere, verkommen, vertiert, der Abschaum der Erde. Wahrscheinlich haben Sie von den ›Toten Augen‹ gehört?«

 

»Heute morgen zum ersten Mal«, antwortete Larry, und der andere nickte.

 

»Wir sind diese Menschen losgeworden und haben jetzt nur anständige, alte Hausierer hier, wo alles nur mögliche für sie getan wird. Möchten Sie sich vielleicht das Heim ansehen?«

 

»Sie kennen also den blinden Jake nicht?«

 

»Ich habe niemals von ihm gehört«, sagte Ehrw. John Dearborn, »aber wenn Sie bitte mitkommen wollen, können wir uns ja erkundigen.«

 

Das Heim bestand aus vier Schlafräumen und einem gemeinsamen Wohnraum, der Tabaksrauch ausdunstete, und in dem die Insassen sich aufhielten.

 

»Einen Augenblick bitte«, sagte Dearborn, als er mit den beiden Herren in den Gang getreten war, und ging noch einmal in das Zimmer, kam aber bald wieder kopfschüttelnd zurück.

 

»Niemand kennt den blinden Jake persönlich, und nur einer hat überhaupt etwas von ihm gehört.«

 

Sie gingen nach dem ersten Schlafsaal hinauf.

 

»Ich bezweifle, daß Sie noch mehr zu sehen wünschen«, sagte Dearborn.

 

Larry hob lauschend den Kopf.

 

»Es kam mir vor, als ich jemand stöhnen hörte.

 

»Ganz recht«, entgegnete der Vorsteher. »Das ist ein trauriger Fall. »Oben sind kleine Räume für die Leute, die in der Lage sind, ein wenig mehr als ihre anderen Leidensgenossen zu zahlen. In einem wohnt ein Mann, der, wie ich befürchte, geistig nicht ganz normal ist. Ich habe schon darüber an die zuständigen Behörden berichten müssen.«

 

»Können wir nach oben gehen?« fragte Larry.

 

»Aber mit dem größten Vergnügen«, gestand nach kurzem Zaudern Ehrw. Dearborn zu. »Das einzige, was ich befürchte«, fuhr er im Vorausgehen fort, »ist die Ausdrucksweise des Mannes, die Sie sicherlich abstoßen wird.«

 

In einem kleinen, viereckigen Raum lag ein vertrockneter, alter Mann in den Sechzig, der sich ruhelos in seinem Bett hin- und herwarf, unaufhörlich plapperte – und mit einer unsichtbaren Person zu sprechen schien. Larry hörte seine Worte und wunderte sich.

 

»Du Biest! Du Feigling!« stammelte der Mann im Bett. »Gehenkt wirst du. Denke an meine Worte! Gehenkt wirst du dafür!«

 

»Es ist wirklich schrecklich«, sagte Ehrw. John Dearborn und wandte sich mit bedauerndem Kopfschütteln ab. »Bitte hier entlang, meine Herren.«

 

Aber Larry rührte sich nicht vom Fleck.

 

»Gut, Jake, aber du wirst dafür bezahlen, denke an meine Worte. Das wird dir teuer zu stehen kommen! Die sollen ihre dreckige Arbeit allein machen! Ich habe das Papier nicht in seine Tasche gesteckt, das kann ich dir sagen.«

 

Larry trat in das Zimmer hinein, beugte sich über den Mann und ergriff seinen Arm.

 

»Lassen Sie meinen Arm los, Sie tun mir weh«, beklagte sich dieser, und Larry ließ ihn los.

 

»Wachen Sie auf«, sagte er, »ich möchte Sie sprechen.« Aber der Mann schwatzte weiter, und Larry schüttelte ihn von neuem.

 

»Lassen Sie mich in Ruhe«, brummte der Alte. »Ich will nicht noch mehr Unannehmlichkeiten haben.«

 

»Er phantasiert«, sagte John Dearborn. »Er bildet sich ein, daß man ihn beschuldigt, einem seiner Freunde unten eine Streich gespielt zu haben.«

 

»Aber er sprach von ›Jake‹«, warf Larry ein.

 

»Das ist richtig, wir haben einen Jake unten – Jake Horley. Möchten Sie ihn sprechen? Er ist ein kleiner Kerl und in seiner Art ganz amüsant.«

 

Larry ging enttäuscht die Treppe hinunter und verabschiedete sich von seinem Führer.

 

»Ich freue mich sehr, einen Besuch von der Polizei gehabt zu haben«, sagte John Dearborn. »Ich wünschte nur, wir könnten auch andere Leute überreden, sich für uns zu interessieren. Sie haben nun einen kleinen Einblick in unsere Arbeit tun und selbst sehen können, mit welchen Schwierigkeiten wir zu kämpfen haben. Würden Sie aber vielleicht«, fügte er hinzu, »bevor Sie gehen, mir mitteilen, warum Sie Jake den Blinden suchen? – Meine Leute kommen mir ja sonst vor Neugierde über den Grund dieses polizeilichen Besuches um.«

 

»Wenn es weiter nichts ist«, lächelte Larry. »Es liegt die Anklage einer Frau gegen ihn vor, sie zu einem Verbrechen angestiftet zu haben.«

 

Der ihn begleitende Polizeibeamte starrte ihn verblüfft an. Es war wider allen Gebrauch bei der Polizei, den Angeber zu verraten.

 

»Verzeihen Sie bitte eine Frage, Mr. Dearborn, die Ihnen vielleicht peinlich ist«, fragte Larry sanft. »Sind Sie selbst auch …?«

 

»O ja«, sagte der andere heiter. »Ich bin vollständig blind. Die Gläser trage ich nur aus Eitelkeit. Ich bilde mir ein, daß ich mit der Brille besser aussehe.« Er lachte leise.

 

»Auf Wiedersehen«, sagte Larry und schüttelte ihm die Hand. Dann stieß er die Tür auf und stand Angesicht zu Angesicht mit Flimmer Fred.

 

Wie vom Donner gerührt starrte Flimmer Fred ihn an und ging dann – mit einigem Risiko für sich selbst – die wenigen Stufen rückwärts hinunter. Larry, den Kopf auf einer Seite, betrachtete ihn mit dem interessierten Ausdruck eines wißbegierigen Huhnes, das eine ganz neue Art Wurm vor sich sieht.

 

»Wer von uns beiden läuft eigentlich dem anderen nach? Sie mir oder ich Ihnen?« fragte er freundlich. »Und warum so frühzeitig aus dem Bett, Fred? Haben Ihre – hm – Geschäfte Sie die ganze Nacht hindurch in Anspruch genommen?«

 

Fred fand keine Worte. Er war den ganzen langen Weg von der Jermyn Street bis Paddington zu Fuß gegangen, hatte alle erdenkbare Vorsicht angewendet, um nicht verfolgt zu werden, und nun … Endlich fand er seine Stimme wieder.

 

»Also ’ne Falle war es?« sagte er bitter. »Das hätte ich mir eigentlich denken können. Aber gegen mich liegt doch nichts vor, Mr. Holt.«

 

»Doch! Eine ganze Masse«, sagte Larry scherzend, der unbewußt die Tür des Heims hinter sich geschlossen hatte. »Doch, Fred! Ich kann Ihr Gesicht nicht leiden, ich kann Ihre Schmucksachen nicht sehen und Ihr Personalbericht ist mir direkt ekelhaft. – Was steckt dahinter, Fred? Kommen Sie so früh, um persönlich den armen Blinden einen freiwilligen Beitrag zu überbringen? Haben Sie endlich mal Gewissensbisse bekommen?«

 

»Lassen Sie doch den Unsinn, Mr. Holt«, knurrte Fred und ging zu Larrys Überraschung mit ihm mit.

 

»Wollten Sie denn nicht nach dem Heim gehen?« fragte er.

 

»Nee«, sagte Fred bissig.

 

Schweigend gingen sie ihres Weges. Ein sehr nachdenklicher Fred zwischen den beiden Polizeibeamten. Sie hatten schon die breite Edgware Road erreicht, bevor er seine Gedanken gesammelt hatte.

 

»Ich habe keine Idee, warum Sie mich mitgenommen haben. Sie können mich doch für ’ne alte Geschichte nicht nochmal fassen?«

 

»Stimmt. Ich habe tatsächlich keine Ahnung, warum Sie eigentlich mit uns mitlaufen. Aber Sie haben uns ja selbst Ihre liebwerte Begleitung aufgedrängt.«

 

»Wollen Sie wirklich sagen, daß ich nicht geschnappt bin?« stieß Fred ungläubig hervor und blieb stehen.

 

»Was mich anbetrifft«, antwortete Larry, »sind Sie nicht geschnappt, falls nicht Sergeant Reed eine private Verabredung mit Ihnen hat.«

 

»Ich auch nicht, Sir«, lächelte der Sergeant. »Wie kommen Sie denn überhaupt auf den Gedanken, daß Sie verhaftet sind, Fred?«

 

»Na, da schlag‘ doch einer lang hin«, stotterte Fred verdutzt. »Was soll denn das nun bedeuten?«

 

»Kennen Sie denn jemand in dem Heim?«

 

»Ich kenne das Heim ebensowenig wie ’n Kuhstall«, antwortete Fred. »Ich habe einen Milchmann nach dem Wege fragen müssen.«

 

»Sie hätten sich an einen Schutzmann wenden sollen«, murmelte Larry. »Es gibt ’ne ganze Masse hier.«

 

»Für meinen Geschmack zu viel«, war Freds bissige Antwort. »Hören Sie mal, Mr. Holt«, sagte er plötzlich ernsthaft, »Sie sind ein anständiger Mensch, und ich bin sicher, Sie werden mich nicht reinlegen…«

 

»Nun?« fragte Larry. Fred tauchte in eine seiner inneren Taschen und brachte einen Brief hervor.

 

»Was halten Sie davon, Sir?« fragte er.

 

Larry öffnete den Brief, der an Fred Grogan adressiert war, und las:

 

»Man wird Sie morgen verhaften. Larry Holt hat den Haftbefehl. Kommen Sie morgen früh halb sieben nach Todds Heim, Lissom Lane, und fragen Sie nach Lew. Der wird Ihnen Mitteilungen machen, die es Ihnen ermöglichen, zu entwischen. Seien Sie vorsichtig, daß man Ihnen nicht nachfolgt, und erzählen Sie niemand, wohin Sie gehen.«

 

Der Brief war nicht unterzeichnet. Larry wollte ihn schon an Fred zurückgeben, als er sich eines Besseren besann.

 

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich den Brief behalte?« fragte er.

 

»Nein, Sir, behalten Sie ihn ruhig. Aber, Mr. Holt«, fragte er unruhig, »wollen Sie mir nicht sagen, ob da irgend was Wahres dran ist, daß ich gefaßt werden soll?«

 

Larry schüttelte den Kopf.

 

»Soweit mir bekannt ist, sind Sie nicht auf der Liste, und ich habe ganz sicher keinen Haftbefehl gegen Sie. Tatsächlich«, fügte er hinzu, »lauten die Auskünfte über Sie jetzt so gut, daß Sie, falls Sie ehrlich bleiben würden, ohne jede Furcht vor der Polizei leben könnten.«

 

»Klingt verdammt uninteressant für mich«, war Freds Antwort, als er mit gesenktem Kopf in eine Seitenstraße einbog.

 

Kapitel 14

 

14

 

Coram Street 280 war ein Mietshaus, in dem Mrs. Fanny Weldon zwei Räume bewohnte. Sie lebte gut, bezahlte gut, verursachte wenig oder gar keine Umstände und hielt ihren Namen frei von jeder üblen Nachrede. Ihre Wirtin würde alles mögliche tun, um ihr gefällig zu sein, vorausgesetzt natürlich, daß der gute Ruf von Nr. 280 nicht zu leiden hätte.

 

Dieser weibliche Hochstapler hatte eine vielbeschäftigte Nacht hinter sich, aber trotzdem war es ihr nicht möglich, den ganzen Tag hindurch zu schlafen.

 

»Sie sind heute nacht spät nach Haus gekommen, Mrs. Weldo«, sagte die Wirtin, als sie ihr eigenhändig den Tee brachte.

 

Fanny nickte. »Um genau zu sein, bin ich heut nacht überhaupt nicht ins Bett gekommen«, sagte sie. »Ich war tanzen. Wie spät ist es denn?«

 

»Sechs Uhr. Ich dachte, Sie schliefen noch, und da Sie nicht klingelten, wollte ich Sie nicht stören.«

 

»Heute abend gehe ich aber früh zu Bett«, gähnte Fanny. »Was gibt’s Neues?«

 

»Nicht viel, liebes Kind«, sagte die Vermieterin mit berufsmäßiger Mütterlichkeit. »Im Zimmer gegenüber«, sie wies mit dem Daumen nach der Tür, »wohnt jetzt ein junger Mann. Ein Herr aus Manchester, sehr ruhig. Mrs. Hooper hat sich mal wieder über das Essen beklagt.« Und sie begann den täglichen Pensionsklatsch zu erzählen.

 

»Schicken Sie mir irgendwas Kaltes nach oben«, sagte Fanny. »Ich will zeitig zu Bett gehen. Morgen habe ich eine sehr wichtige Verabredung.«

 

Sie dachte an die Verabredung mit Larry Holt, der sie mit sehr gemischten Gefühlen entgegensah.

 

Um halb acht zog sich Fanny aus und legte sich hin. Sie war todmüde und schlief beinahe im gleichen Augenblick, als ihr Kopf das Kissen berührte. Aber sie war übermüdet und träumte. Schreckliche Träume von drohenden Ungeheuern, von Männern, die sie mit langen, blitzenden Messern verfolgten – und sie warf sich ruhelos im Bett hin und her. Dann träumte sie, sie hätte einen Mord begangen, und der Tag der Hinrichtung war gekommen. Man schleppte sie aus ihrer Zelle, und langsam schritt sie an der Seite eines Priesters in einen kahlen Raum hinein. Und dann erschien der Henker, und er hatte das höhnische Gesicht Jakes des Blinden. Sie fühlte den Strick um ihren Hals und versuchte zu schreien, aber er zog sich enger und enger, würgte sie, erstickte sie. Sie wachte jäh auf.

 

Zwei Hände lagen um ihren Hals, und in dem ungewissen Lichtschein einer Straßenlaterne blickte sie entsetzt in die ausdruckslosen Augen des blinden Jake. Es war kein Traum – es war Wirklichkeit! Eins seiner Knie preßte sich auf ihren Leib, und er sprach leise in zischendem Flüstern, das nur für ihr Ohr bestimmt war:

 

»Fanny, du hast mich verraten! Du hast mich hinter eiserne Gardinen bringen wollen. Den armen blinden Jake! Ich weiß alles. Ein guter Freund bei Todd hat mir alles erzählt. Und jetzt bist du geliefert, Kleine!«

 

Sie kämpfte vergebens nach Atem, sie konnte keinen Schrei, kein Wort hervorbringen, sie fühlte, wie ihr Blut in den Schläfen hämmerte, wie die grausamen Hände sich immer mehr und mehr zusammenzogen. Plötzlich flammte das Licht auf. ›Der junge Mann aus Manchester‹, der das Zimmer gegenüber gemietet hatte, der geduldig die ganze Nacht hindurch auf die leisen Schritte Jakes des Blinden gewartet, weil er wußte, daß er kommen würde, um sich an der Verräterin zu rächen, ›der junge Mann aus Manchester‹ – Lary Holt, stand in der Tür, und sein langer Browning war auf den Würger gerichtet.

 

»Hände hoch, Jake«, sagte er, und Jake der Blinde drehte sich mit einem tiefen Knurren herum. Es klang wie das Fauchen eines gestellten Tigers.

 

Kapitel 15

 

15

 

Einen Augenblick standen beide Männer regungslos, dann streckte Jake langsam seine Hände in die Höhe.

 

»Sie haben wohl ein kleines Schießeisen?« grollte er. »Mr. Holt, Sie werden sich doch nicht an einem armen, alten Mann vergreifen?«

 

»Kommen Sie langsam vorwärts«, sagte Larry, »und machen Sie keine Dummheiten, oder es wird Ihnen leid tun.«

 

»Es tut mir jetzt schon leid genug«, brummte der Mann.

 

Es war wunderbar, ihn zu beobachten. Er bewegte sich so leicht wie ein junges Mädchen, und sein außerordentlich entwickelter sechster Sinn ermöglichte es ihm, jedes Hindernis in seinem Wege zu vermeiden.

 

Larry war in einer schwierigen Lage. Der Mann kam langsam auf ihn zu und brachte so die halb ohnmächtige Frau auf dem Bett in seine Schußrichtung. Er war fest entschlossen, zu schießen, falls der Mann Widerstand leisten sollte, aber jetzt war ihm dies unmöglich, auch nicht um sein eigenes Leben zu retten, ohne Fanny Weldon zu gefährden.

 

Der große, starke Mann kam langsam mit hochgehaltenen Händen vorwärts. Die eine kam in Berührung mit der elektrischen Hängelampe. Und plötzlich, bevor Larry sich Rechenschaft geben konnte, was vorging, schloß sich die eine Hand um die elektrische Birne, die unter dem Druck mit betäubendem Krachen zersprang, und das Zimmer lag in Dunkelheit. Jetzt zu schießen wäre Wahnsinn gewesen, und Larry spannte all seine Muskeln zusammen, um den Anprall des Körpers, der sich jetzt auf ihn stürzen würde, aufzufangen. Und dann war er in den Griffen des blinden Jake. Diana hatte nicht übertrieben, als sie von seiner riesigen Kraft sprach. Sie war erschreckend, unmenschlich, und Larry, doch selbst ein kräftiger Mann, fühlte seine Kräfte schwinden. Was das Resultat dieses Kampfes gewesen wäre, wagte Larry sich auch später kaum auszudenken. Hier aber kam eine Unterbrechung: der Klang einer sich öffnenden Tür auf dem oberen Treppenabsatz und die Stimme eines Mannes. Der blinde Jake hob den Detektiv in die Höhe wie ein Bündel Lumpen und schleuderte ihn in die Ecke des Zimmers, wo er keuchend und halb betäubt liegenblieb.

 

Einen Augenblick später wurde die Tür aufgerissen und Jake flog die Treppe in Windeseile hinunter, schneller als ein Mann im vollen Besitz seines Augenlichtes es je gewagt hätte.

 

Larry kam mühsam auf die Füße, nahm seine Taschenlampe auf und fand den Revolver, der ihm bei dem ungleichen Kampf entfallen war. Er stürzte zum Fenster und blickte hinaus. Aber Jake der Blinde war bereits um die Straßenecke verschwunden.

 

Jetzt brachte jemand eine andere Glühlampe, und Larry bemühte sich um die junge Frau. Sie war immer noch bewußtlos, und blutrote Flecken an ihrem Halse sprachen von der unerhörten Kraft des Blinden.

 

»Es ist besser, Sie holen einen Arzt«, sagte Larry zu der Wirtin, die ihn mit Mißtrauen betrachtete.

 

»Was hatten Sie hier in dem Zimmer zu suchen?« fragte sie. »Ich werde einen Schutzmann holen lassen.«

 

»Lassen Sie meinetwegen zwei holen«, war Larrys Antwort, »und vor allen Dingen einen Arzt.«

 

Glücklicherweise befand sich das Polizeibüro ganz in der Nähe. Der Polizeiarzt war wenige Minuten später zur Stelle.

 

»Wäre es nicht besser, Doktor, wenn wir sie in ein Hospital bringen ließen?« schlug Larry vor, und der Arzt pflichtete bei.

 

Mit dem Ausdruck höchster Verwunderung untersuchte er von neuem die Strangulationsmarken.

 

»Ein Mensch hat das nicht mit den Händen machen können«, sagte er, »er muß irgendeine Art Instrument gebraucht haben.«

 

Larry lachte – es war ein sehr wehleidiges Lachen.

 

»Wenn Sie das annehmen, Doktor, sehen Sie sich bitte auch mal meinen Hals an«, und er zeigte ihm die roten Striemen, die Jakes Daumen und Finger hinterlassen hatten.

 

»Wollen Sie mir vielleicht sagen, daß er Ihnen das zugefügt hat?« fragte der Doktor ungläubig.

 

»Ich möchte am liebsten so wenig wie möglich sagen«, entgegnete Larry. »Die ganze Geschichte ist kein Abenteuer, auf das ich hervorragend stolz bin. Er hat mich aufgehoben wie einen Tennisball und in die Porzellanausstellung am Fenster geworfen.«

 

Der Arzt stieß einen überraschten Pfiff aus. Mittlerweile hatte sich die Wirtin über Larrys bona fides beruhigt und floß gleichzeitig mit Entschuldigungen und Tränen über.

 

Larry ging auf die Straße hinunter, um frische Luft zu schöpfen. Er fühlte sich schwindlig und wie zerschlagen.

 

Eine halbe Stunde später war jedes Polizeibüro Londons in Besitz der Personalbeschreibung, und die allgemeine Jagd nach dem blinden Jake begann.

 

Um drei Uhr morgens betrat Larry seine Wohnung und fand Sunny friedlich schlafend in einem Stuhl. Er weckte seinen Diener mit einem leisen Klopfen auf die Schulter.

 

»Sunny«, sagte er, »was ich heute durchgemacht habe, genügt mir für mein ganzes Leben.«

 

»Das scheint mir auch so, Sir«, blinzelte Sunny. »Wünschen Sie etwas Kaffee?«

 

Larry war tief in Gedanken versunken.

 

»Er packte mich beim Genick, Sunny«, sagte er leise, »und warf mich quer durchs Zimmer.«

 

»Wirklich, Sir?« fragte Sunny. »Wann wünschen Sie morgen früh Ihren Tee?«

 

Müde und zerschlagen, wie Larry war – er konnte sich des Lachens nicht erwehren.

 

»Wenn man mich nun eines Tages mit gebrochenem Halse nach Hause bringen würde«, sagte er gereizt, »was würden Sie da eigentlich machen?«

 

»Ich würde sofort die Morgenzeitungen abbestellen«, sagte Sunny ohne jedes Zaudern. »Das wäre doch wohl das Nächstliegendste, Sir.«

 

Larry zuckte in ohnmächtiger Verzweiflung die Schultern, fuhr aus den Schuhen, zog Jacke und Weste aus, legte Krawatte und Kragen ab, warf sich auf das Bett und zog mit einem Ruck die Bettdecke über sich.

 

Kapitel 16

 

16

 

In St. George, Hannover Square, fand eine sehr elegante Hochzeit statt.

 

Unter den »gegenwärtig waren«, wie die Zeitungen zu schreiben pflegen, befand sich auch unser Freund Mr. Fred Grogan. Eingeladen war er zwar nicht, aber eine solche Kleinigkeit beunruhigte Fred nicht im geringsten. Er wußte ganz genau, daß bei einem ersten Zusammentreffen der Familien von Braut und Bräutigam, die sich gegenseitig mit ausgesprochener Zurückhaltung und Mißbilligung betrachteten, eine elegante Figur wie die seine jede Musterung bestehen und einen der besten Plätze in der Kirche erhalten würde. So erschien er denn in St. George mit glänzendem Zylinder, weißen Glaces und wunderbar gebügelten Beinkleidern. Als er den Chorgang entlang ging, hielt man ihn versehentlich für den Bräutigam.

 

Er war weniger aus dem Grunde gekommen, um sich Eingang in die gute Gesellschaft zu schaffen, sondern weil die letzte Mode den Damen das Tragen von kostbaren Juwelen auch in den Vormittagsstunden gelegentlich einer solchen feierlichen Handlung vorschrieb – und das interessierte Fred ganz besonders.

 

Die Feierlichkeit dauerte sehr lange und langweilte ihn bis zur Bewußtlosigkeit. Endlich war die Zeremonie beendigt, die Orgel ließ triumphierende Klänge hören, und Braut und Bräutigam, die sich außerordentlich über sich selbst zu schämen schienen, schritten feierlich den Mittelgang entlang. Fred schloß sich der Prozession an und erschien inmitten der Gerechten und Ungerechten auf den Stufen der Kirche.

 

Er war noch unschlüssig, ob es klug und ratsam wäre, sich an dem Empfange zu beteiligen – die Adresse, wo dieser stattfand, hatte er schon längst ausfindig gemacht – als jemand seinen Arm berührte. Fred fuhr herum.

 

»Hallo, Doktor Judd«, sagte er erleichtert. »Ich dachte, es wäre wieder der verfluchte Holt. Er ist mir ständig auf den Fersen und fällt mir direkt auf die Nerven.«

 

Doktor Judd, eine stattliche Figur in seiner zeremoniellen Kleidung, sah ihn streng an.

 

»Sie haben mir doch erzählt, Sie fahren nach Nizza?« sagte er.

 

»Ich habe den Zug verpaßt«, antwortete Fred geläufig, »und mein Freund mußte ohne mich abfahren. Ich gedenke noch ein paar Tage hierzubleiben, bevor ich abreise.«

 

Doktor Judd sagte nachdenklich:

 

»Kommen Sie ein paar Schritte mit. Ich möchte einiges mit Ihnen besprechen.«

 

Ohne ein weiteres Wort gingen beide über Hannover Square und bogen in die Bond Street ein.

 

»Sie fallen mir auch auf die Nerven, Mr. Grogan«, begann Doktor Judd. »Bis jetzt fand ich doch wenigstens eine gewisse Befriedigung in dem Gedanken, daß Sie auf dem Kontingent Hals und Kragen riskierten. Statt dessen sind Sie hier in London und leben herrlich und in Freuden.«

 

»Sie wußten also, daß ich noch hier war?« sagte Fred.

 

»Das habe ich gehört«, war Doktor Judds Entgegnung. »Hören Sie mal zu, Mr. Grogan. Halten Sie es nicht auch für besser, wenn wir beide zu irgendeiner Einigung kommen?«

 

Fred war ganz Ohr. »In welcher Weise denken Sie sich das?« fragte er vorsichtig.

 

»Nehmen wir mal an«, sagte Doktor Judd, »ich zahle Ihnen eine Pauschalsumme unter der Bedingung, daß Sie mich nicht weiter belästigen.«

 

Nichts konnte besser zu Freds Plänen passen.

 

»Einverstanden«, sagte er nach längerer, diplomatischer Pause. Doktor Judd sah ihn ernst an.

 

»Aber Sie müssen Ihr Wort halten. Ich habe nicht die Absicht, zwölftausend Pfund loszuwerden …«

 

»Zwölftausend Pfund«, sagte Fred schnell. »Warum nicht? Das ist eine hübsche, runde Summe.«

 

»Ich wiederhole aber nochmal«, sagte der Doktor, »ich habe nicht die geringste Absicht, eine derartige Summe zu zahlen, wenn ich nicht die absolute Sicherheit habe, von Ihnen nicht wieder belästigt zu werden. Wollen Sie morgen abend acht Uhr bei mir in Chelsea essen?«

 

Fred nickte zustimmend.

 

»Ich habe noch verschiedene andere Gäste«, sagte der Doktor, »und niemand kennt Sie, aber ich muß als eine persönliche Gunst von Ihnen erbitten, Ihr möglichstes zu tun, keine der Bekanntschaften, die Sie morgen machen werden, für zukünftige Pläne vorzumerken.«

 

»Glauben Sie denn nicht, daß ich viel zuviel Kavalier bin, um so was machen zu können?« fragte Fred in tugendhafter Entrüstung.

 

»Nein, das glaube ich, weiß Gott, nicht«, sagte der Doktor kurz und ließ ihn an der Ecke Bond Street stehen.

 

Zwölftausend Pfund! Das war ja ein wunderbares Übereinkommen. Fred, dessen Gelder bedenklich zur Neige gingen, wandelte wie auf Wolken, als er Old Bond Street in der Richtung Piccadilly hinunterschlenderte.

 

In dem Überschwang seiner Begeisterung, als seine Großzügigkeit nach Betätigung suchte, sah er auf der anderen Seite der Straße ein junges Mädchen. Ihr Gesicht war nicht zu vergessen. Schon einmal war er ihr begegnet. Er beschleunigte seine Schritte, kreuzte die Straße und ging hinter ihr her, aber nicht, ohne sich vorher ängstlich umgeblickt zu haben. Larry Holt war wirklich einmal nicht in Sicht.

 

An der Ecke von Piccadilly überholte er sie und lüftete lächelnd den Hut. Einen Augenblick war Diana unter dem Eindruck, diesen eleganten Herrn irgendwo kennengelernt zu haben und hatte schon halb ihre Hand erhoben, als er den Fehler beging, die abgedroschene Phrase zu äußern:

 

»Sind wir uns nicht irgendwo schon mal begegnet?« Sie zog ihre Hand zurück.

 

»Kleines Fräulein«, sagte Fred, »Sie sind das wunderbarste Wesen in der weiten Welt, und ich muß Sie unbedingt näher kennenlernen.«

 

»Dann müssen Sie mich besuchen«, sagte sie, und Fred wagte kaum, an sein gutes Glück zu glauben.

 

Sie öffnete die kleine Handtasche, nahm eine Karte heraus und kritzelte eine Nummer auf diese.

 

»Verbindlichsten Dank«, sagte Fred im Kavalierston, als er die Karte entgegennahm. »Ich werde Ihnen sofort meine Karte geben. Ja – und nun, wie denken Sie über ein kleines Diner –« Er hob die Karte und las: »Diana Ward – ein wundervoller Name. – Diana! – Zimmer 47«; und dann änderte sich sein Gesichtsausdruck. »Scotland Yard!« sagte er mit hohler Stimme.

 

»Ja«, sagte sie zuckersüß, »ich arbeite bei Mr. Larry Holt.«

 

Fred schien irgend etwas zu verschlucken.

 

»Wenn er nicht da ist, sind Sie hier, und wenn Sie nicht hier sind, ist er’s sicherlich«, sagte er wild. »Warum kann man denn einen Kavalier nicht mal in Ruhe lassen?«

 

Kapitel 17

 

17

 

An diesem Nachmittag hatte Diana ihrem Vorgesetzten ein Gesuch vorgelegt, das diesen ein wenig enttäuschte.

 

»Aber selbstverständlich«, sagte er. »Heute abend brauche ich Sie nicht. Sie gehen zu einem Tanzvergnügen, wie Sie sagen?« Sie nickte. »Das ist nett. Hoffentlich werden Sie sich gut amüsieren.«

 

»Ich gehe mehr im Dienst aus, Mr. Holt. Ich würde nie daran gedacht haben, zu einem Tanz zu gehen, wenn ich nicht von einem jungen Versicherungsbeamten, bei dem ich sechs Monate als Sekretärin gearbeitet habe, eingeladen worden wäre.«

 

»Sie gehen im Dienst dorthin«, fragte Larry. »Was wollen Sie damit sagen?«

 

Sie ging an ihren Schreibtisch, nahm ihre Handtasche auf und aus dieser einen Brief.

 

»Es wird Sie interessieren«, sagte sie mit einem feinen Lächeln, »daß Mrs. Gray mich bemuttern wird und mich gleichfalls eingeladen hat.«

 

Das interessierte Larry ganz außerordentlich. Er sagte dies aber nicht, weil er befürchtete, indiskret zu erscheinen.

 

»Hier ist der Absatz, der mich entschieden hat, die Einladung anzunehmen«, sagte das junge Mädchen, und er las:

 

»Wir haben in letzter Zeit viel Malheur gehabt. Der Verlust eines Schiffes im Baltischen Meer hat meinen Kompagnon hart getroffen, und ich selbst habe eine sehr große Versicherungssumme für den Tod eines Mannes Namens Stuart auszahlen müssen.«

 

»Stuart?« rief Larry. »Das kann doch nicht unser Stuart sein. Was ich übrigens sagen wollte: Das Gutachten der Geschworenen in diesem Falle lautete: ›Ertrunken aufgefunden‹. Uns lag natürlich nichts daran, Widerspruch zu erheben oder irgendeine Behauptung vorzubringen, die die Mörder aufmerksam gemacht hätte… So? Stuart?« sagte er zu sich selbst und nickte mehrere Male. »Ich muß Sie um Entschuldigung bitten. Diana«, zum ersten Male redete er sie mit ihrem Vornamen an. »Ich dachte schon, Sie wollten anfangen, leichtsinnig zu werden, und ich hatte gehofft, Sie hätten genügend Interesse an unserem Fall, um sich mit Leib und Seele damit zu befassen.«

 

»Meine Gedanken beschäftigen sich mit nichts anderem«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich arbeite zu gern mit Ihnen«, und erzählte ihm dann, um das Thema zu wechseln, ihr Abenteuer mit Fred.

 

»Armer Fred« kicherte Larry. »Jetzt haben Sie wenigstens eine gewisse Befriedigung in dem Bewußtsein, daß er Ihnen in Zukunft wie die Pest aus dem Wege laufen wird. Wann werden Sie ungefähr zurückkommen?« fragte er.

 

»Warum?« fragte sie erstaunt.

 

»Ich dachte eben daran, ob Sie vielleicht noch einmal hierherkommen könnten, oder ob ich vor der Tür in Charing Croß Road auf Sie warten müßte. Ich möchte gern wissen, was Sie erfahren haben.«

 

»Ich werde nach dem Präsidium kommen«, sagte sie, »und kurz nach elf hier sein.«

 

Aus halbgeschlossenen Augen sah sie nach den blutunterlaufenen Stellen an seinem Halse.

 

»Tut es nicht sehr weh?« fragte sie mitleidig.

 

»Es ist nicht so schlimm«, meinte Larry. »Aber verletzte Eitelkeit schmerzt mehr. Es wird noch einige Zeit vergehen, bis sie geheilt ist.«

 

»Er muß unheimlich stark sein«, sagte sie mit einem Schauder. »Die Nacht auf der Treppe werde ich niemals vergessen. Bis jetzt hat man noch nichts von ihm gehört?«

 

»Absolut nichts«, sagte Larry. »Er ist in seiner Höhle verschwunden.«

 

»Halten Sie das Heim unter Beobachtung?«

 

»Das Heim?« wiederholte er überrascht. »Nein, ich denke nicht, daß es notwendig ist. Der Vorsteher scheint ein sehr anständiger Mensch zu sein. Ich habe den Polizeiinspektor von dem Viertel gesprochen, und der erzählte mir, daß jeder der Insassen des Heims als ehrlich bekannt wäre, und daß er für alle, mit Ausnahme des Mannes Lew, garantieren könne. Lew ist der Mann, den ich im oberen Stock gesehen habe und der halb blöde zu sein schien.«

 

»Ich möchte eine Gefälligkeit von Ihnen erbitten«, sagte sie. »Wollen Sie mich morgen noch einmal nach dem Heim begleiten?«

 

»Ja-a«, entgegnete er zögernd, »aber –«

 

»Aber wollen Sie das tun?«

 

»Sicherlich, wenn Sie dahin gehen wollen, aber ich glaube nicht, daß Sie dort irgend etwas finden werden, das uns den Herrn näher bringt, der Stuart ermordet hat.«

 

»Wer weiß?« versetzte sie nachdenklich.

 

Der Nachmittag brachte ernsthafte Arbeit, und all sein Nachforschen nach urkundlichen Beweisen, daß Dianas Annahme richtig wäre und Mrs. Stuart Zwillingstöchter gehabt hätte, war erfolglos.

 

»Reinfall Nummer zwei«, sagte Larry.

 

»Den wir gutmachen werden«, sagte das Mädchen, »obwohl es mir sehr merkwürdig vorkommt, daß eine Dame wie Mrs. Stuart versäumt haben sollte, die Geburt ihrer Kinder anzuzeigen.«

 

Sie sagte dies lächelnd, und Larry fragte nach dem Grunde.

 

»Mrs. Ward hatte ihre ganz besonderen Ansichten über derartige Sachen. Meine Tante, deren Namen ich führe, haßte behördliche Anmeldungen und Impfen und hatte für Bildung nichts übrig.«

 

»Was ist denn aus Ihrer Tante geworden? – Ist sie gestorben?« fragte Larry.

 

Das junge Mädchen schwieg eine Zeitlang.

 

»Nein – sie ist nicht tot.«

 

Sie sagte das so eigenartig, daß Larry aufblickte und sie wurde blutrot.

 

»Man sollte nicht anfangen, über etwas zu sprechen, wenn man nicht zu Ende reden will«, sagte sie leise. »Ich – ich stamme aus keiner guten Familie, Mr. Holt. Meine Tante hat ihren Chef bestohlen, und sie muß das andauernd getan haben, denn eines Tages, ich war gerade zwölf Jahre alt, ging sie für lange Zeit fort, und ich habe sie nie wieder gesehen.«

 

Larry ging auf sie zu und legte die Hand auf ihre Schultern.

 

»Liebes Kind«, sagte er, »Sie haben es fertig bekommen, sich von all diesem frei zu machen und sich in geradezu bewundernswerter Weise eine Position im Leben zu schaffen. Ich bin sehr stolz auf Sie.«

 

Als sie zu ihm aufblickte, hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt.

 

»Ich glaube, sie trank; aber ich weiß es nicht ganz sicher. Wenn ich sie sehr nötig hatte, war sie wirklich gut zu mir. Ich würde so gern wissen, was aus ihr geworden ist, aber ich wage gar nicht, mich zu erkundigen.«

 

»Ist sie ins Gefängnis gekommen?«

 

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube in eine Trinker-Heilanstalt. – Und was liegt für heut nachmittag vor?« fragte sie lebhaft. Larry legte ihr sein Programm vor, diktierte einige Briefe und ging fort, während sie ihre Arbeit beendigte.

 

Mit jedem weiteren Schritt wurde das Rätsel, das den Fall Stuart umgab, mehr und mehr verwickelt. Überall stieß er gegen unübersteigbare Mauern, und nicht einmal die Tatsache, daß Stuart ermordet worden war, war in Wirklichkeit erwiesen. Es war ja nur eine Theorie, basiert auf dem ungewöhnlichen Verhalten der Strömung, die den Körper auf den Stufen der Ufertreppe zurückgelassen hatte, und auf einem Stück Papier in Brailleschrift, das ihm jetzt wieder gestohlen war.

 

Mitten in der Northumberland Avenue blieb er plötzlich stehen, zog sein Notizbuch heraus und las noch einmal kopfschüttelnd die rätselhaften Worte:

 

»Gemordet … dear … See …«

 

Warum »dear«? überlegte er. Der Mann, der sich die Mühe gab, die Namen seiner Mörder anzugeben, würde wohl kaum ›dear Sir‹ geschrieben haben. Außerdem stand dann auch das ›dear‹ an einem ganz falschen Platze, denn das junge Mädchen hatte ihm die betreffenden Zeichen am Ende der zweiten Linie gezeigt.

 

»Dear, dear, dear«, wiederholte er, langsam weiterschlendernd, und auf einmal kam ihm ohne irgendwelche Veranlassung ein Name ins Gedächtnis. Dearborn! Er lachte vor sich hin. Diese gute Seele von einem Geistlichen, der für jene Bedauernswerten wirkte und arbeitete, die in ständiger Dunkelheit ihr Leben verbrachten! Er schüttelte von neuem den Kopf.

 

Sein Weg führte ihn durch die Shaftesbury Avenue, und als er an einem Theater vorbeikam, fiel ihm ein Name ins Auge. Er blieb stehen und beugte sich vor, um die Theateranzeige zu lesen.

 

»John Dearborn«, las er.

 

Dearborn war augenscheinlich der Verfasser des Stückes, das hier aufgeführt wurde. Welches Theater war denn das? Er trat ein paar Schritte auf die Straße zurück und blickte nach dem farbigen Glasschild oberhalb des Einganges. Das »Macready-Theater«. Und aus dem Macready-Theater war Gordon Stuart verschwunden!

 

Ohne Zögern betrat er das Vestibül und ging nach der Kasse, wo seine Augen auf den Theaterplan fielen, der vor dem Kassierer ausgebreitet lag. Nur wenige blaue Striche zeigten an, daß Plätze für den Abend verkauft worden waren.

 

»Können Sie mir bitte sagen, wo ich Mr. Dearborn finden kann?« fragte er den Mann hinter dem Schalter.

 

Der Angestellte sah ihn mit einem Ausdruck schmerzlicher Resignation ins Gesicht.

 

»Sind Sie vielleicht ein Freund der Direktion?«

 

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Larry.

 

»Aber vielleicht zufällig ein Freund Mr. Dearborns?« fragte der Mann leichthin, und als Larry den Kopf schüttelte: »Sehen Sie, da kann ich Ihnen ja meine Meinung sagen. Ich habe keine Ahnung, wo Mr. Dearborn zu finden ist, und ich wünschte, die Direktion wüßte es ebensowenig! Ende der Woche höre ich auf, und da macht es nicht mehr viel aus, was ich sage. Dearborn ist so ungefähr der schlechteste Theaterschriftsteller, den die Welt jemals gesehen hat. Hoffentlich schrecke ich Sie damit nicht ab, falls Sie ein Billett kaufen wollen?« fügte er gutgelaunt hinzu.

 

»Durchaus nicht«, lächelte Larry. »Sie haben aber meine Frage noch nicht beantwortet. Wissen Sie, wo ich den Verfasser dieses unglückseligen Stückes finden kann?«

 

»Er ist Vorsteher einer Mission für, ich weiß nicht was, im West-End. Armer Teufel, er ist blind, und ich sollte eigentlich nicht so über ihn reden. Aber er schreibt furchtbare Stücke.«

 

»Schreibt er denn schon lange?« fragte Larry überrascht.

 

»Schon lange? … Er schreibt ununterbrochen«, sagte der andere mit hohler Stimme. »Ich glaube, er schreibt auch im Schlaf.«

 

»Und alle seine Stücke werden aufgeführt?«

 

Der Mann nickte.

 

»Und alle fallen durch?«

 

Der Mann nickte von neuem.

 

»Aber wie ist denn das möglich? Keine Theaterdirektion wird doch immer wieder von neuem Stücke desselben Verfassers bringen, wenn sie regelmäßig durchfallen.«

 

»Aber unsere macht’s«, sagte der Kassierer verzweifelt, »darum ist ja auch der Name ›Macready‹ gleichbedeutend mit …

 

»Wie lange schreibt denn John Dearborn schon?«

 

»So ungefähr zehn Jahre. Stellenweise ist es manchmal gar nicht so schlecht. Mehr verrückt als schlecht.«

 

»Kommt er manchmal hierher?«

 

»Niemals«, sagte der Mann kopfschüttelnd. »Warum, weiß ich nicht; aber er kommt nicht mal zu den Proben.«

 

»Noch eine Frage, bitte. Wem gehört das Theater?«

 

»Einer Gesellschaft«, erwiderte der Beamte, dem die Fragen anscheinend zu viel wurden. »Darf ich wissen, warum Sie all diese Auskünfte wünschen?«

 

»Aus keinem besonderen Grunde«, sagte Larry lächelnd. Er fühlte, daß er nichts weiter erfahren könnte und verließ das Theater.

 

Die ganze Sache war unbegreiflich. Aber noch abgeschmackter würde es sein, das eine Wort »dear« mit dem Verfasser der schlechten Theaterstücke in Verbindung oder gar Mr. Dearborn, einen bekannten Philanthropisten, in falschen Verdacht bringen zu wollen. Als er vor dem Theater stand, kam ihm plötzlich ein Gedanke, und er kehrte noch einmal um.

 

»Würden Sie mir eventuell einen großen, persönlichen Gefallen erweisen«, fragte er, »und mir das Theater zeigen?«

 

Der Kassierer ließ einen der Theaterdiener rufen.

 

»Sie werden es ziemlich dunkel finden«, sagte er, »die Beleuchtung ist noch nicht eingeschaltet.«

 

Larry folgte dem Diener in den ersten Rang und betrachtete von dort aus das kleine Theater.

 

»Wo ist Loge A?« fragte Larry, der nur aus diesem Grunde zurückgekehrt war.

 

Der Mann führte ihn durch einen schweren Vorhang hindurch und dann in einen Gang, der sich hinter den Logen befand. An seinem äußeren Ende blieb er stehen und öffnete eine Tür zu seiner Rechten. Larry trat in die Loge, die in völliger Dunkelheit lag und steckte ein Streichholz an. Ein schwerer, kostbarer Teppich bedeckte den Boden, die drei Sessel waren wundervoll geschnitzt, aber sonst hatte Loge A nichts Ungewöhnliches an sich.

 

»Sind denn die anderen Logen auch so kostbar ausgestattet?« fragte Larry.

 

»Nein, Sir. Nur Loge A.«

 

Larry ging wieder hinaus und sah sich den Gang an. Gegenüber der Loge A hing ein großer, roter Teppich an der Wand. Er schob ihn etwas zur Seite und fand eine eiserne Tür, auf der in roten Buchstaben geschrieben stand: »Ausgang bei Feuersgefahr.«

 

»Wo führt denn die Tür hin?« fragte er.

 

»In eine Seitenstraße, Sir. Cowley Street. Es ist keine richtige Straße, sondern nur ein Privatgang, der zum Theater gehört und am anderen Ende abgeschlossen ist.«

 

Larry gab dem Mann ein Trinkgeld und verließ das Theater. In diesem Augenblick war er der Erklärung für Gordon Stuarts Verschwinden und Ermordung näher als er es jemals gewesen war.

 

Abends halb elf war er im Büro zurück und wartete ungeduldig auf das junge Mädchen.

 

Sie kam zehn Minuten vor elf, und Larry, der sie vorher nur in Alltagskleidung gesehen hatte, war beim Anblick dieser strahlenden Schönheit keines Wortes mächtig. Er konnte ja nicht wissen, daß sie für ihr einfaches schwarzes Tüllkleidchen noch nicht einmal fünf Pfund bezahlt hatte, daß das Stirnband aus schwarzen Blättern, das ihr goldenes Haar einrahmte, kaum zehn Schilling kostete. Ihm erschien sie prachtvoll gekleidet, ein Wesen, so göttlich und feenhaft, daß er kaum wagte, das Wort an sie zu richten.

 

»…Herein, herein«, sagte er. »Das ist beinahe zuviel Glanz in meiner armen Hütte.«

 

Sie lachte und ließ ihr Cape auf den Stuhl gleiten. »Ich hab’s herausgefunden!« rief sie triumphierend.

 

»Herausgefunden?« stammelte er. »Ach ja, Sie waren ja mit Ihrem Versicherungsfreund zusammen.«

 

Sie öffnete ihre kleine, seidene Handtasche und nahm ein Blatt Papier heraus.

 

»Ich habe mir ein paar Notizen gemacht«, sagte sie.

 

»Mein Bekannter ist durch Stuarts Tod sehr in Mitleidenschaft gezogen, und – es ist unser Stuart.«

 

»Wie ist das zugegangen?« fragte er.

 

»Mein Bekannter ist Inhaber einer Versicherungsagentur«, setzte sie ihm auseinander. »Wenn jemand sein Leben sehr hoch versichert, trägt die Gesellschaft, die die Police ausgestellt hat, wie Sie wissen, nicht das ganze Risiko allein, sondern offeriert anderen Versicherungsgesellschaften Anteile an ihrer Haftpflicht. Es hat sich nun herausgestellt, daß die Firma meines Bekannten Rückversicherung im Werte von dreitausend Pfund übernommen hat.«

 

»Dreitausend Pfund?« wiederholte Larry überrascht. »Aber in Himmels Namen, wie hoch war denn eigentlich Stuart versichert?«

 

»Ich habe mich sofort danach erkundigt«, sagte das junge Mädchen und hob das Blatt Papier hoch. »In der Police, die Mr. Gray mit unterzeichnete, war eine Summe von fünfzigtausend Pfund erwähnt, aber Mr. Gray erzählte mir, daß noch eine zweite Police über denselben Betrag ausgestellt war.«

 

Larry setzte sich hin. Seine Augen funkelten.

 

»Das also war die geschäftliche Seite von Stuarts Tod? So, so … Versichert für hunderttausend Pfund! … Hat Ihr Bekannter bezahlt?«

 

»Natürlich hat er in dem Augenblick bezahlen müssen, wo die ausstellende Firma ihre Rückversicherungsansprüche geltend machte. Es blieb ihm doch weiter nichts übrig, als das Geld aufzutreiben.«

 

»Wie heißt denn die Versicherungsgesellschaft?«

 

Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort und sah ihn bedeutungsvoll an.

 

»Die Greenwich-Versicherungsgesellschaft«, sagte sie langsam, und Larry sprang auf die Füße.

 

»Dr. Judd!« sagte er leise.