Kapitel 37

 

37

 

Der Mann, der sich selbst Ehrw. John Dearborn nannte, saß hinter verschlossenen Türen in seinem Arbeitszimmer und verbrannte in einem kleinen Kamin, der sich dicht hinter seinem Sessel befand, planmäßig und sorgfältig Papiere aller Art. Er hatte seine blaue Brille abgenommen und durchflog mit seinen scharfen und lebhaften Augen den Haufen von Manuskripten, alten Briefen, Quittungen und anderen Notizen, verbrannte und sortierte, bis nur noch ein schmales Päckchen übrigblieb, das er bequem in seiner Tasche unterbringen konnte. Er streifte ein Gummiband über dieses und legte es auf die Seite. Dann nahm er ein dickes Bündel Manuskripte auf und packte dies in eine Handtasche, die neben seinem Tische stand. Und während er sortierte, las und vernichtete, pfiff er nachdenklich eine kleine Melodie vor sich hin.

 

Aus einem der Schubfächer seines Schreibtisches zog er noch ein anderes Manuskript hervor, durchblätterte die Seiten, vertiefte sich hier und da in den Inhalt des Werkes.

 

»Das ist wirklich ausgezeichnet«, sagte er nicht einmal, nein, viele Male. John Dearborn war ein enthusiastischer Bewunderer des Genies von John Dearborn.

 

Endlich, widerstrebend, schloß er den Manuskriptband und legte ihn mit besonderer Sorgfalt in die Tasche.

 

Mit Ausnahme des kleinen, alten Mannes, der den Portier spielte und die Räume sauber hielt, und der alten Köchin, die träumend in der Küche saß, war das ganze Haus leer. Die Hausierer hatten ihr Tagewerk noch nicht beendigt, und es würde noch geraume Zeit vergehen, bis einer nach dem anderen die Zufluchtsstätte des Heims erreichte.

 

Endlich war er mit dem Aufräumen und Packen fertig und suchte nun in seinen Brusttaschen nach einem Brief, den er für sein Vorhaben benötigte. Es war eine kurze, handschriftlich geschriebene Mitteilung, die er von Larry Holt am Tage nach dessen ersten Besuche in Todds Heim erhalten hatte. Er ergriff die Feder und malte, mit einem Auge auf der Vorlage, eines der Worte, die er aus dem Briefe herausgegriffen hatte. Dann verglich er sorgfältig Kopie mit dem Original. Schließlich nahm er aus der offenen Schreibmappe auf seinem Tisch einen Briefbogen mit Aufdruck und begann langsam und mühselig zu schreiben – und die ganze Zeit pfiff er leise seine fröhliche, kleine Melodie. Endlich hatte er sein Schreiben beendigt, nahm einen Briefumschlag und adressierte diesen; und als er ihn abgelöscht und versiegelt hatte, steckte er ihn in seine Tasche, schloß die Schreibmappe und legte sie auf den Boden neben die Handtasche. Nun schloß er einen Wandschrank auf und nahm verschiedene Kleidungsgegenstände heraus, die er über die Stuhllehne legte.

 

Er legte seine düstere, priesterliche Kleidung ab und begann sich umzuziehen. In seinem eleganten Anzüge hatte er das Aussehen eines gut situierten, verwöhnten Müßiggängers.

 

Halb mechanisch hatte er sich umgezogen und kämpfte vergebens gegen ein bedrückendes Gefühl von Unzufriedenheit. Alle Ausgänge waren bewacht: die Geheimtür im Schlafsaal, der Weg über das Dach hinweg, der Weg durch den Kesselraum.

 

»Ich bin ja wahnsinnig«, sagte er aufstehend.

 

Langsam legte er den Rock ab und begann sich von neuem umzuziehen. Diesmal ging er aber nicht an den Wandschrank, sondern zu einer langen, schwarzen Truhe, die unterhalb des Fensters stand, und entnahm ihr verschiedene Sachen, die er mit offensichtlichem Mißvergnügen betrachtete.

 

»Ein jämmerlicher Clown!« sagte er verachtungsvoll zu sich selbst.

 

Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Der blinde Jake konnte seinen Weg durch den Untergrundkanal finden, hatte die scharfen Instinkte des Blinden, konnte sich wie eine Katze an den Posten vorbeischleichen, konnte sich durch enge Höhlungen hindurchzwängen, die für einen so riesigen Körper wie den seinen kaum passierbar erschienen.

 

Und wieder zog sich John Dearborn an, nahm einen Leinwandsack aus der Truhe und legte ihn auf den Tisch. Er schüttete den Inhalt der ledernen Handtasche in den Sack, ging nach dem Vorderzimmer des Heims und blickte vorsichtig auf die Straße hinaus. Zwei Schutzleute bewachten, wie er genau wußte, den Eingang zu dieser Sackgasse. Niemand außer ihm selbst benutzte das Vorderzimmer, in dem er alte Möbel, Rechnungsbücher und allerlei Gerumpel aufbewahrte. Aber es hatte den Vorteil einer Tür, die nur wenige Schritte von dem Haupteingang entfernt lag.

 

John Dearborn legte den Sack neben die Tür, ging hinaus und verschloß sorgfältig das Zimmer, bevor er nach seinem Arbeitsraum zurückging und sich dort einschloß. Vielleicht zehn Minuten saß er wartend dort, bis sich ein leises Klopfen an der Türfüllung hören ließ. Geräuschlos schlich er an die Tür und öffnete sie, gerade weit genug, um seinen Besucher hineinschlüpfen zu lassen.

 

Es war der blinde Jake, sein Gesicht war verzerrt und geschwollen, wie Stränge lagen die blauen Adern auf seiner breiten Stirn.

 

»Ich bin grade erst gekommen, Herr«, keuchte er atemlos.

 

Der andere betrachtet ihn mit einem stahlharten Blick.

 

»Was machst du denn hier, Jake?« fragte er leise. »Habe ich dir nicht geboten, die Frau unter keinen Umständen allein zu lassen, bis ich selbst komme?«

 

»Ja, aber Sie sind nicht gekommen, Herr«, erwiderte der blinde Mann. Es war ergreifend, den flehenden Ton, die Demut in seiner Stimme zu hören. Seine toten Augen starrten auf den harten Mann, dem er diente, dem er gefolgt war, wie die Menschen dem unerbittlichen Schicksal folgen müssen. Ein riesenhafter, wilder Hund von einem Manne, kräftig genug, den Herrn, den er anbetete, in seinen Pranken zu zerreißen, und doch bereit, bei jedem scharfen Worte dieses Mannes sich jammernd und winselnd in den Staub zu beugen. Jake der Blinde hatte alles für John Dearborn getan, war der willigste Helfershelfer bei seinen verbrecherischen Plänen, war der gehorsamste Sklave seiner unersättlichen Begierden gewesen. Blut klebte an seinen Händen, und es gab viele Nächte, in denen unheimliche, verschwommene Schatten in seinem Zimmer erschienen und verschwanden, in denen kalte Finger ihn berührten, kalte, starre Finger nach seiner Kehle griffen, Nächte, in denen durchnäßte, rauhe Ärmel über ihn hinwegwischten, in denen er das eintönige Drip-Drip-Drip des Wassers vernahm.

 

Aber all das war vergessen. Schweiß floß in Strömen über sein ängstlich verzogenes Gesicht, seine dicken Lippen hingen halboffen über dem keuchenden Munde – vielleicht fühlte der blinde Mann das Feindliche, Ungewohnte in der Atmosphäre, denn in kläglichem Tone fragte er:

 

»Ist irgend was nicht in Ordnung, Herr?«

 

»Wo ist die Frau?« fragte Mr. Dearborn. Seine Worte fielen wie Stahlkugeln von seinen Lippen.

 

Jake rutschte unruhig auf seinem Sitze hin und her.

 

»Ich mußte sie zurücklassen! Ich konnte doch nicht –«

 

»Du hast sie zurückgelassen!« Eine neue, unheilverkündende Pause. »Und sie haben sie gefunden, was?« John Dearborns Stimme war sehr sanft geworden.

 

»Ja, Herr, sie haben sie gefunden«, sagte der Mann, »Was sollte ich den machen? Ich würde doch alles in der Welt für Sie tun. Habe ich denn nicht getan, was in meinen Kräften stand, Herr? Es gibt doch keinen Menschen, der so stark ist wie ich, der alte, blinde Jake. Es gibt doch keinen, der so gerissen für Sie arbeiten kann wie ich! Habe ich den nicht für Sie gearbeitet? Habe ich sie nicht alle weggebracht, für Sie, Herr? Habe ich sie nicht mit diesen Händen erwürgt, für Sie erwürgt, Herr?«

 

Er streckte sie aus: große, grausame Hände; rauh und knotig, die Handrücken mit gelbbraunen Flecken bedeckt, die Handflächen voller harter Schwielen.

 

»Du hast Holt entwischen lassen«, sagte Dearborn ruhig und gefühllos, wie der Richter, der ein Urteil verkündet. »Die Frau ist dir entkommen, und das Mädchen auch. Und du kommst hierher und erzählst mir von allem, was du für mich getan hast!«

 

»Ich habe getan, was ich konnte«, entgegnete der Mann demütig.

 

»Und man wird dich fassen, dich auch! Und – du kannst sprechen.«

 

»Die Zunge können sie mir herausreißen, bevor ich ein Wort gegen Sie sage, Herr«, rief der blinde Jake wild und schlug krachend mit seiner riesigen Faust auf den Tisch. »Sie wissen, daß ich für Sie sterben würde, Herr!«

 

»Ja«, sagte Dearborn.

 

Seine linke Hand, die Hand, an der der kleine Finger fehlte, fühlte sich langsam in die Hüftentasche, zog langsam einen kurzen, schwerkalibrigen Revolver hervor.

 

»Du wirst schwatzen«, sagte er. »Du hast ja keine andere Möglichkeit als zu schwatzen, Jake.«

 

Der blinde Man beugte sich ihm zu, krampfhaft zuckte und zitterte es in seinem dicken, runden Gesicht.

 

»Und wenn ich sterben sollte –« begann er. Da hob Ehrw. John Dearborn seinen Revolver, zielte langsam und bedächtig – drei Schüsse hintereinander, die fast wie einer klangen, und der riesenhafte Berg von Muskeln schwankte vorwärts, rückwärts und brach neben dem Schreibtisch zusammen. Jakes des Blinden Tag der Vergeltung war gekommen.

 

Kapitel 38

 

38

 

Dearborn schob den Revolver in die Tasche, schloß die Tür auf und ging hinaus. Der kleine, alte Mann, der das Amt des Pförtners bekleidete, stand mit offenem Munde im Gang.

 

»Was ist passiert?« rief er hastig. »Wer hat geschossen?«

 

»Mach‘ schnell und hole die Polizei«, antwortete John Dearborn ruhig. »Hier ist jemand erschossen worden.«

 

»Du lieber Himmel«, flüsterte der alte Mann.

 

»Am Ende der Straße stehen zwei Schutzleute, beeile dich«, sagte Dearborn scharf und lauschte auf das Geräusch der sich entfernenden Schritte.

 

Dearborn wartete einen Augenblick, ging dann in das Vorderzimmer und schloß die Tür. Lauschend stand er hinter dieser. Jetzt hörte er das Rennen von eiligen Fußtritten, unterschied die beiden Polizisten, hörte wie sie durch den Gang stürzten und das Geschwätz von einigen Müßiggängern bei oder hinter ihnen. Dann öffnete er die Tür. Ein Polizist beugte sich zu dem blinden Jake nieder.

 

»Das ist er«, sagte er. »Jim, jage alle die Leute zum Hause hinaus und bleibe an der Tür auf Posten, bis der Inspektor kommt. Gib lieber das Alarmsignal.«

 

Der schrille Pfiff der Polizeipfeife gellte durch Lissom Lane, und die wenigen Neugierigen, die zum Hause hinausgetrieben waren, blieben vor der Tür stehen.

 

»Was ist den hier vorgefallen?« fragte Mr. Dearborn, und der Beamte lächelte gutgelaunt.

 

»Hören Sie, Herr Postrat«, sagte er, »machen Sie, daß Sie weiterkommen und Ihre Briefe loswerden.« Und John Dearborn warf sich den Sack über die Schulter.

 

Er hatte die Uniform eines Briefträgers gewählt – sie bewies sich als beste Verkleidung – und verließ das Haus wenige Minuten vor Larrys Ankunft. Der Detektiv war bereits unterwegs, um Mr. John Dearborn zu sprechen, und die Handschellen in seiner Tasche waren ganz besonders für diesen Herrn bestimmt.

 

Larry sah die Ansammlung Neugieriger vor der Tür und fühlte, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignet haben mußte. Er betrat das Arbeitszimmer und blickte schweigend auf den massigen Körper seines Feindes. Der blinde Jake war auf der Stelle tot gewesen. Niemals hatte er erfahren, wer ihn gefällt hatte, hatte niemals den gemeinen Verrat seines Herrn, dem er so treu gedient hatte, ahnen können.

 

»Der Mörder muß hier irgendwo im Hause stecken, Sir«, sagte der Beamte. »Der kleine Kerl an der Tür hat die Schüsse gehört, und der Vorsteher hat ihn weggeschickt, um die Polizei zu holen. Wir sind beide zusammen hierher gekommen, mein Kollege und ich.«

 

»Ist der Eingang einen Augenblick ohne Bewachung geblieben?« fragte Larry.

 

»Nur für eine Sekunde, Sir«, antwortete der Mann. »Wir kamen zusammen in das Haus.«

 

»Und in dieser Sekunde ist unser Freund entwischt«, sagte Larry. »Ich glaube nicht, daß es noch Zweck hat, weiter zu suchen.«

 

Larry fuhr nach dem Präsidium, um mit dem Chefkommissar zu sprechen, und suchte dann das junge Mädchen auf.

 

»Ich habe die Neuigkeit schon gehört«, sagte sie ruhig. »Sergeant Harvey war gerade hier. Glaubst du, daß Dearborn ihn getötet hat?«

 

»Dearborn ist David Judd«, sagte Larry kurz.

 

»Doktor Judds Bruder?« rief sie überrascht. »Aber er ist doch schon lange tot.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Das großartige Begräbnis war tadellos inszeniert, und ich bin fest davon überzeugt, daß David sogar so weit gegangen ist, den notwendigen Körper für den Sarg zu verschaffen. Er ist ein ganz außerordentlich gründlicher Herr. Erinnerst du dich, wie Lew uns erzählte, daß sein Bruder, ein gut aussehender Mensch mit langem Bart, eines Tages plötzlich verschwunden war?« Sie nickte. »Das ist der Mann, den wir in David Judds Grab finden werden.«

 

»Ist denn Doktor Judd auch –« begann sie, aber es war unnötig, diesen Satz zu Ende zu führen.

 

»Doktor Judd steckt bis über den Hals in der Geschichte«, sagte Larry. »Die Geschichte von Dearborn ist schnell erzählt. Dearborn war ein Teilhaber Judds, und irgend etwas muß im Büro vorgekommen sein – ein Verbrechen, ein Mord vielleicht, den David veranlaßte, um die Versicherungssumme zu erhalten, was weiß ich – und einer der Angestellten muß dahintergekommen sein. Der Mann unterschlug dann eine große Summe, flüchtete nach Montpellier und begann von dort aus Erpressungen gegen David. David fuhr hinterher und erschoß ihn. Höchstwahrscheinlich war es kein vorbedachter Mord, denn David war nicht die Sorte von Mann, seinen Gegner auf offener Straße niederzuschießen. Auf jeden Fall schoß er aber und wurde dabei von Flimmer Fred gesehen, der gerade noch zeitig genug kam, um von dem sterbenden Mann den Namen seines Mörders zu hören. Das bedeutete für einen Mann vom Schlage Flimmer Freds ein Lebenseinkommen. So schnell wie möglich reiste er nach London zurück, suchte Judd auf und teilte ihm dann jedenfalls die Bedingungen mit, unter denen er seinen Mund halten würde. Dann kam Judd auf den Gedanken, daß es das beste wäre, wenn David sterben würde; und David, du erinnerst dich, war ein gut aussehender Mann mit Vollbart. Lews Bruder war unter all ihren Helfershelfern und Bekannten der einzige, der in seinem Äußeren am meisten David ähnelte, und so wurde er ohne viel Federlesen ermordet und als David Judd begraben. Bei dieser Gelegenheit zogen sie noch eine bedeutende Summe von den Rückversicherungsgesellschaften für Davids hohe Lebensversicherung.

 

Den Plan mußten sie schon lange Zeit erwogen haben, denn schon einen Monat vor Davids Tod hatte Dr. Judd den Kauf von Todds Heim abgeschlossen. Es war nichts weniger als ein wohltätiges Unternehmen, sondern im Gegenteil eine rein geschäftliche Sache, denn Todds Heim hatte sich allmählich in eine bessere Bettlerherberge umgewandelt, die von den verkommensten der blinden Bettler Londons aufgesucht wurde. Dort hatten die berüchtigten ›Toten Augen‹ ihr Hauptquartier, und von ihnen mußte David die Einzelheiten über Todds erfahren haben.

 

Das Heim wurde gekauft, und einen Tag nach dem ›Tode‹ Davids erschien Ehrw. John Dearborn als Vorsteher auf der Bildfläche. Es steht absolut fest, daß er tatsächlich alle verdächtigen Elemente aus dem Hause jagte und verschiedene Änderungen in der Organisation vornahm, aber er tat dies nur um den Makel von Todds Heim zu lösen, ihm wieder einen guten Namen zu schaffen und – um das Haus als sein Hauptquartier zu benutzen, ohne Besorgnis vor polizeilichen Besuchen haben zu müssen. Als die Wäscherei Konkurs machte, kaufte Judd das Grundstück, und David führte die baulichen Veränderungen unter Mithilfe seiner Bande aus. Ich muß dabei bemerken, daß David Architekt ist und das Haus, in dem sein Bruder lebt, gebaut hat. Wir wissen, daß er ausländische Arbeiter beschäftigt hat und daß das ganze Haus für einen ganz besonderen Zweck gebaut wurde«, fügte er ernst hinzu.

 

»Als sie das Wäschereigrundstück in Besitz hatten, kamen die ›Toten Augen‹ wieder nach ihrem alten Sitz in Lissom Lane zurück, gingen und kamen inmitten der Blinden, die sie nicht sehen konnten, und die nichts von ihrer Gegenwart wußten.«

 

»Was wird nun mit Dr. Judd?« fragte sie.

 

»Ich werde ihn verhaften«, antwortete Larry, »und zwar werde ich ihn an demselben Platz verhaften, von dem dein Vater verschwand – in der berühmten Loge A im Macready-Theater.«

 

»Ist er denn dort?« fragte sie erstaunt.

 

Er nickte.

 

»Beinahe jeden Abend«, antwortete er ruhig.

 

»Aber warum verhaftest du ihn denn nicht gleich?«

 

»Weil Loge A und ihr Geheimnis noch nicht aufgeklärt ist«, sagte Larry, »aber ich glaube, ich werde das fertig bekommen.«

 

Am gleichen Abend trat Larry um acht Uhr in das Vestibül des Macready-Theaters.

 

»Dr. Judd, Sir?« sagte der Logenschließer. »Ja, er ist in Loge A. Erwartet er Sie?«

 

Larry nickte. Sergeant Harvey wollte ihn begleiten, aber Larry verabschiedete ihn.

 

»Ich gehe lieber allein.«

 

Er ging schnell den Gang hinunter, blieb einen Augenblick vor der Loge A stehen, drehte den Türknopf herum und trat ein.

 

Dr. Judds Augen waren auf die Bühne gerichtet. Der Detektiv war stehengeblieben, um mit ihm zu sprechen, als etwas Warmes, Wolliges über seinen Kopf glitt. Es fühlte sich wie ein mit Wolle gefüllter Sack an und mußte mit irgendeiner Chemikalie getränkt sein, die ihm den Atem raubte und einen Augenblick völlig lähmte. Dann fühlte er, wie sich ein Strick straff um seinen Hals legte. Er riß den Revolver heraus, aber bevor er ihn benutzen konnte, traf ein scharfer Schlag seine Hand, und mit einem Schmerzensschrei, der durch den Wollsack erstickt wurde, ließ er die Waffe fallen. Jeder Atemzug erstickte ihn beinahe, er schlug wild um sich, seine Arme wurden von hinten ergriffen, und man warf ihn zu Boden. Undeutlich hörte er die Stimme Dearborns.

 

»Den Zerstäuber, Peter!«

 

Das Mundstück einer Röhre preßte sich an seinem Kinn vorbei in den Sack, und etwas scharf riechendes wurde unter seine Nasenlöcher gespritzt. Er versuchte noch einmal, sich aus den umklammernden Griffen zu befreien, aber ein Knie preßte sich in seinen Rücken, und er verlor das Bewußtsein.

 

»Du bist wirklich ein Genie, David«, sagte Dr. Judd im Tone tiefster Bewunderung. »Auf die Minute abgepaßt und glänzend durchgeführt. Hervorragend, alter Junge, ganz hervorragend!«

 

»Mach die Tür auf und sieh mal nach, Peter«, sagte David, und der Doktor gehorchte.

 

Der Gang war leer. Gerade gegenüber der Tür von Loge A war ein Vorhang an der Wand aufgehängt, hinter dem der Doktor verschwand. Ein Strom frischer Luft flutete herein, als er den Notausgang öffnete, der nach dem Hof führte, wo ein Wagen auf ihn wartete.

 

Eine Minute später hatte David den Detektiv aufgehoben – mit einer Leichtigkeit, als ob er ein Kind in den Armen hätte –, ihn in das Innere der Limousine gelegt und selbst den Platz am Steuerrad eingenommen.

 

Bald war er vor dem Hause in Chelsea und brachte den Wagen in einem kurzen Bogen bis dicht an die verschlossenen Torflügel der überdachten Anfahrt. In dem massiven Tor befanden sich zwei runde Löcher, die mit den Enden zweier Stahlstangen korrespondierten, die dicht unterhalb der Scheinwerfer seines Wagen hervorragten. Langsam und geschickt brachte er das Auto den langsam abfallenden Weg hinauf, bis die Stangen in die Löcher eindrangen. Dann trieb er den Wagen vorwärts. Ein leichtes Schnappen, und die Flügel öffneten sich. Der Wagen rollte durch das Tor, und als die Räder über eine querliegende bewegliche Plattform hinwegrollten, schlossen sie sich wieder.

 

Gegenüber der Tür, die wie ein Fenster aussah, hielt David Judd an, öffnete sie und trug Larry hinein. Die Treppe, die nach dem Keller führte, war erleuchtet, und die Tür stand offen.

 

Er warf den Detektiv auf das Bett, nahm die Fußschelle auf und legte den Ring um Larrys Knöchel. Und dann erst nahm er den schweren Ledersack, der Larrys Kopf verhüllte, ab. Er roch betäubend nach Formalhyadin, und Judd warf ihn in das Badezimmer.

 

Larrys Gesicht war purpurrot, und er sah aus wie jemand, der erwürgt worden war, aber als ihn die Nachtluft traf, begann er langsam und mühselig zu atmen. David beugte sich zu ihm hinab, fühlte seinen Puls, zog die Augenlider auf und lächelte.

 

Leise ging er hinaus, schloß die beiden Türen hinter sich und blieb auf dem ersten Treppenabsatz stehen, um den Raum, den Sergeant Harvey den »Maschinensaal« getauft hatte, zu betreten. Er drückte einen Schalter herunter, und der elektrische Ventilator begann leise zu summen.

 

David ging in den Hof zurück, hielt sich aber nur auf, um die Türen hinter sich zu schließen. Er hatte nicht einen Augenblick zu verlieren. Der Motor lief noch, er sprang in den Führersitz und ließ den Wagen langsam rückwärts laufen. Als die Räder die schmale Brückenwaage erreichten, öffneten sich die Torflügel wiederum. Sie würden genau zwanzig Sekunden offenbleiben und sich dann automatisch wieder schließen; kaum war der Wagen rückwärts auf die Straße gekommen, als sich die Tür geräuschlos schloß.

 

Schnell fuhr er nach der Stadt zurück, diesmal aber in nördlicher Richtung und hielt erst gegenüber von Larry Holts Wohnung an.

 

Kapitel 39

 

39

 

Diana war schon zeitiger nach Haus gegangen – eigenartig war es, wie sie sich in den wenigen Tagen daran gewöhnt hatte, Larrys Wohnung als ihr Heim zu betrachten. Die Arbeit war getan, und es blieb weiter nichts als die harte und grimmige Notwendigkeit zu erfüllen, die Verbrecher festzunehmen. Jeden Augenblick erwartete sie, das Telephon läuten zu hören und Larrys Stimme zu vernehmen, die ihr mitteilte, daß die beiden Brüder hinter Schloß und Riegel säßen.

 

Ein Buch lag in ihrem Schoß, aber sie las nicht. Ihre Anstandsdame und Pflegerin saß in ihrem Zimmer und nähte. Sunny stand außerhalb der angelehnten Wohnungstür und plauderte leise mit Louie, dem Mädchen, das den Fahrstuhl bediente.

 

Diana saß mit gebeugtem Haupt, die Wange auf die Hand gestützt, und ihre Gedanken wanderten in eine rosige Zukunft – die tragische Vergangenheit schien vergessen. Einmal stand sie auf und ging in Sunnys kleines Zimmer, wo die Frau, die sie »Tante« genannt hatte, friedlich schlief.

 

Sie hatte gerade ihr Buch wieder aufgenommen, als Sunny anklopfte und hineinkam.

 

»Ein Brief für Sie, Miß«, sagte er und überreichte ihn dem jungen Mädchen. Es war Larrys Handschrift. Sie riß den Umschlag auf und las:

 

»Liebe Diana. Ein ganz unbegreifliches Versehen hat sich herausgestellt. Dr. Judd hat eine verblüffende Erklärung über den Tod deines Vaters gegeben. Ich schicke dir einen Wagen und bitte dich, sofort nach Dr. Judds Haus – 38 Endman Gardens, Chelsea – zu kommen. Larry.«

 

Das Briefpapier trug die gleiche Adresse. Larry mußte von Endman Gardens aus geschrieben haben.

 

»Ist eine Antwort nötig, Miß?« fragte Sunny.

 

»Ja, bestellen Sie dem Chauffeur, daß ich sofort komme.«

 

»Gehen Sie aus, Miß?« Sunny frage es zögernd.

 

»Ja, ich suche Mr. Holt auf«, antwortete sie lächelnd.

 

»Wünschen Sie, daß ich Sie begleite, Miß? Der Herr sieht es nicht gern, daß Sie allein gehen.«

 

»Ich glaube, heute abend brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Sunny«, sagte das junge Mädchen freundlich. »Auf jeden Fall vielen Dank für Ihr freundliches Anerbieten.«

 

Sie zog sich hastig an und ging nach unten. Die Limousine stand vor der Tür, und der Chauffeur grüßte höflich.

 

»Miß Ward?« fragte er. »Ich komme von Dr. Judd.« Seine Stimme klang heiser, als ob er erkältet wäre.

 

»Ja, ich bin Miß Ward«, antwortete sie und stieg in den Wagen.«

 

Vor einem dunklen, schweigenden Hause hielt das Auto an.

 

»Ist das Dr. Judds Haus?« fragte sie.

 

»Ja, Miß«, antwortete der Mann. »Wollen Sie bitte die Stufen hinaufgehen und läuten. Der Diener wird Sie dann zu dem Herrn bringen.«

 

Dr. Judd selbst war es, der jovial lächelnd die Tür öffnete und sie in den prachtvollen Salon nötigte.

 

»Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, einige Augenblicke hier warten zu müssen, Miß Stuart?« sagte er freundlich.

 

Der Name klang ihr so fremd und ungewohnt, daß sie lachte.

 

»Ich nehme an, Sie haben sich noch nicht daran gewöhnt, mit diesem Namen angeredet zu werden?« sagte der Doktor in ausgezeichneter Laune. »Ich gehe nach oben, um unseren beiderseitigen Freund aufzusuchen und ihn nach unten zu holen. Vielleicht können Sie sich einige Minuten gedulden. Unsere kleine Besprechung war noch nicht ganz beendigt.«

 

Sie nickte und setzte sich in einen der großen Sessel. Zehn Minuten vergingen, zwanzig Minuten verstrichen, aus den zwanzig wurden vierzig Minuten. Nichts rührte sich in dem großen Hause, niemand kam zu ihr. Die Uhr auf dem Kamin schlug leise klingend.

 

»Zehn Uhr!« sagte sie überrascht. »Ich möchte wissen, was ihn so lange aufhält.«

 

Sie saß an der Seite eines großen offenen Kamins, in dem ein kleines Feuer brannte, und betrachtete bewundernd die Gemälde, die Gobelins, die prachtvollen Vorhänge und künstlerische Wandtäfelung als Hintergrund für all diese Kostbarkeiten. Nicht ein einziges Möbelstück befand sich in dem Raum, das nicht, wie sie fühlte, mit Sorgfalt und Verständnis ausgewählt war. Die Teppiche auf dem Parkett waren antike Perser; die geschnitzte Tafel hätte aus einem kaiserlichen Palast des fernen Osten stammen können.

 

Ihr Blick wanderte zu dem Feuer im Kamin zurück und ihre Gedanken zu Larry. Sie wunderte sich mehr und mehr, welch wichtige Angelegenheiten er zu besprechen hatte, was wohl die Erklärung sein könnte, die der Doktor gegeben hatte. Wieder blickte sie nach der Uhr. Halb elf! Sie legte die Zeitung fort und begann unruhig in dem prachtvollen Gemach auf und ab zu gehen. Jetzt hörte sie das Schnappen einer Türklinke, und Dr. Judd kam von der Halle herein.

 

»Hoffentlich haben Sie sich nicht zu einsam gefühlt«, sagte er. »Er kommt sofort.«

 

Sie zweifelte nicht einen Augenblick, daß »er«, von dem der Doktor sprach, Larry Holt war.

 

»Ich fing schon an unruhig zu werden«, sagte sie lächelnd. »Was ist das für ein wunderbarer Raum!«

 

»Ja«, sagte er gleichgültig, »er ist sehr schön, aber später werden wir Ihnen einen Salon zeigen können, gegen den dieser hier ärmlich erscheint.«

 

»Da ist er ja«, sagte der Doktor; aber es war nicht Larry, der hereinkam. Mit einem Ausruf des Schreckens sprang sie auf die Füße. Es war John Deaborn. Die Maske des Blinden war verschwunden, wie seine Brille, und seine klaren Augen betrachteten sie mit spöttischer Belustigung. »Wo ist Mr. Holt?« fragte sie.

 

Deaborn lachte leise.

 

»Sie wollen doch sicherlich etwas genießen«, sagte er, schob an der Seite des Kamins ein Paneel zur Seite und nahm eine silberne Platte heraus, auf der eine Mahlzeit für eine Person angerichtet war.

 

»Wir essen so spät am Abend nicht mehr«, er setzte die Platte auf den Tisch, über den er eine weiße Spitzendecke gelegt hatte.

 

Diana war leichenblaß geworden. Sie war in tödlicher Gefahr, aber ihre Stimme schwankte nicht.

 

»Wo ist Mr. Holt?« fragte sie von neuem.

 

»Mr. Holt ist glücklich und zufrieden.« Es war der Doktor, der antwortete. »Sie werden ihn später zu sehen bekommen.«

 

Die eigenartigen Worte und der merkwürdige Ton erschreckten sie. Diana stand auf und nahm ihren Schal.

 

»Ich glaube nicht, Dr. Judd, daß ich noch länger bleiben kann, wenn Mr. Holt nicht hier ist«, wandte sie sich an diesen jovialen Mann. »Können Sie mich nach Haus bringen?«

 

Der Doktor antwortete nicht. Er hatte ein Schubfach des japanischen Tisches aufgezogen und einen dicken Stoß Papiere herausgenommen, die er mit strahlendem Lächeln Deaborn hinhielt.

 

»Sie werden eine entzückende Stunde genießen, Miß Stuart«, sagte er. »Nein, wirklich, David, das ist zu nett von dir. Ich dachte, du wärest heut abend zu sehr ermüdet.«

 

Das junge Mädchen blickte von einem zu dem anderen und glaubte ihren Ohren nicht trauen zu können. Dr. Judd, der sich bisher ihr gegenüber von einer Höflichkeit die beinahe an Unterwürfigkeit grenzte, gezeigt hatte, beachtete ihre Worte ganz und gar nicht.

 

»Ich glaube, Sie haben mich nicht gehört, Dr. Judd«, sagte sie mit Nachdruck. »Ich wünsche, daß Sie mich nach meiner – nach Mr. Holts Wohnung bringen.«

 

»Sie macht sich Sorge um ihre Garderobe«, wandte sich der Doktor halblaut zu seinem Bruder. »Du wirst doch dafür Sorge tragen, daß sie hierher geschickt wird, David?«

 

»Hierher geschickt wird?« stammelte sie. »Was meinen Sie damit?«

 

David Judd – sie hatte schon aufgehört, ihn als »Dearborn« zu betrachten – hatte sich in den Sessel gesetzt, aus dem sie sich erhoben hatte, und blätterte in seinem Manuskriptbuch.

 

»Ich glaube, es ist besser, Sie essen erst eine Kleinigkeit. Sie müssen doch sehr hungrig sein.«

 

»Ich werde in diesem Hause nichts essen, bevor ich nicht weiß, was Sie mit Ihren Worten, meine Garderobe soll hierher geschickt werden, meinen«, sagte sie erregt. »Dann gehe ich eben allein nach Haus.«

 

»Mein liebes, junges Fräulein« – der Doktor legte seine große Hand auf ihren Arm – »bitte stören Sie David nicht. Er wird Ihnen jetzt eines seiner wundervollen Stücke vorlesen. Wissen Sie denn, daß David der größte Dramatiker der Welt ist, daß seine Stücke Spitzenleistungen des modernen Dramas sind, daß sein Können gleich … nein, weit über dem sogenannten Genie eines Shakespeare steht!«

 

David blickte von seinem Buch zu seinem Bruder auf; ihre Blicke trafen sich.

 

Er sprach mit einem solchen Ernst, einer derartigen unerschütterlichen Überzeugung, daß ihr im Augenblick die Worte fehlten. Dann sagte sie:

 

»Ich bin jetzt nicht in der Laune, mir Theaterstücke vorlesen zu lassen, mögen sie auch noch so gut sein.« Sie mußte alle ihre Kräfte zusammennehmen, denn sie fühlte, daß sie sich in einer verzweifelten Lage befand.

 

»Ich glaube nicht, daß sie heut noch nach Haus fahren kann«, sagte der Doktor beinahe bedauernd. »Vielleicht morgen, wenn du sie geheiratet hast?«

 

Er sprach furchtsam, beinah flehend, und seine Worte waren in fragendem Ton gehalten.

 

»Ich werde sie nicht heiraten«, sagte der Mann, der sich Dearborn nennen ließ, scharf. »Ich dachte, das hätten wir doch schon besprochen und erledigt, Bruder! Jake ist tot, aber es gibt doch noch andere. Es kommt doch schließlich gar nicht darauf an, wer sie heiratet?«

 

Diana war sprachlos vor Entrüstung und Schrecken. Sie verhandelten über ihre Heirat mit einem von ihnen, und jeder versuchte dem anderen mit einer derartigen Ruhe und selbstsicheren Anmaßung zu dieser Heirat zuzureden, daß sie keine Worte finden konnte. Endlich stieß sie zitternd vor Empörung hervor:

 

»Ich denke gar nicht daran, einen von Ihnen beiden zu heiraten. Ich bin mit – Larry Holt verlobt.«

 

Beide Männer blickten sie an, und auf dem dicken, runden Gesichte des Doktors lag ein Ausdruck von tiefem Bedauern.

 

»Es ist wirklich ein Jammer«, sagte er. »Die ganze Sache hätte sich so einfach arrangieren lassen, wenn Mr. Holt auf unserer Seite wäre. Bedauerlicherweise sind wir, auch wenn er im Fleische bei uns ist, geistig durch Welten voneinander getrennt.«

 

»Im Fleisch bei uns ist?« wiederholte sie und zitterte am ganzen Körper. Jetzt war ihr klargeworden, daß der Brief, der sie in dies Haus des Schreckens gelockt hatte, eine Fälschung war, und ihre einzige Hoffnung auf Rettung lag in der Gewißheit, daß Larry ihre Abwesenheit bemerken und ihr folgen würde.

 

Die beiden Brüder blickten einander vielsagend in die Augen, und schließlich stand Dearborn auf und legte sein Manuskriptbuch mit einem resignierten Seufzer nieder. Er winkte sie zu sich und ging nach dem anderen Ende des Zimmers, wo er eine andere versteckte Tür öffnete, die so geschickt unter den Schnitzereien angebracht war, daß sie selbst Larrys Blicken entgangen war.

 

»Ich habe die Pläne für das Haus gezeichnet«, erklärte er einfach, »und es selbst mit nicht mehr als zwanzig Maurern aus Toskana gebaut«, und später fand sie heraus, daß seine Angaben auf Wahrheit beruhten.

 

Sie folgte ihm unter dem Banne eines ständig wachsenden Entsetzens in einen kleinen, vollkommen leeren Raum. Unter sich hörte sie ein leises, dumpfes Summen und fühlte, wie der Boden unter ihren Füßen leicht vibrierte. Dann blieb David stehen, beugte sich auf den Fußboden und öffnete schließlich eine kleine viereckige Falltür, die kaum vierzig Zentimeter im Durchmesser hatte. Unter dieser befand sich ein Glasfenster, und als sich ihre Augen an die unerwartete Perspektive gewöhnt hatten, sah sie unter sich einen kellerähnlichen, offenbar von der Decke aus beleuchteten Raum.

 

Sie sah nichts von den besonderen Eigenheiten des Zimmers, denn ihre Blicke starrten auf eine Gestalt, die auf der Kante des Bettes saß und sich eine Wunde an der Hand mit einem Taschentuch verband. Zuerst erkannte sie nicht, wer es war. Dann aber blickte der Mann nach der Decke; wenn er auch nicht die Personen in dem Zimmer über sich sehen konnte, so hatte er doch das Geräusch der sich öffnenden Falltür gehört.

 

Sie starrte und schrie gellend auf. Dort unten saß Larry Holt, eine Fußschelle lag um seinen Knöchel.

 

Kapitel 4

 

4

 

Flimmer Fred hatte den Bahnhof als erster und in großer Eile verlassen, aber außerhalb der Station gewartet, bis er Larrys Taxe vorbeifahren sah.

 

Er hatte den lebhaften Wunsch, daß gerade an diesem Abend niemand ihm nachspürte, und außerdem einen tiefen Respekt vor dem Scharfsinn und der Überlegung Larry Holt’s. Fred hatte mehr als jeder andere Veranlassung, vor ihm auf der Hut zu sein.

 

Nach Larrys Abfahrt wartete er noch zehn Minuten, verließ die Station durch einen der Nebenausgänge und stieg in das erste der dort stationierten Taxis. Einige zehn Minuten später war er auf einem der ruhigen Plätze in Bloomsbury angelangt, an dem sich hauptsächlich Anwaltsbüros befinden. Das Haus, vor dem er ausstieg, war ein schmales, hohes Gebäude aus roten Ziegelsteinen. Der Portier sah ihn etwas mißmutig an.

 

»Das Büro ist schon seit mehreren Stunden geschlossen, Sir«, sagte er kopfschüttelnd. »Wird erst morgen früh neun Uhr geöffnet.«

 

»Ist Dr. Judd noch da?« fragte Flimmer Fred und schob seine Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen.

 

»Mr. Judd arbeitet noch, und ich glaube nicht, daß er gestört werden möchte.«

 

»Glauben Sie das wirklich?« sagte Fred höhnisch. »Fahren Sie mal ‚rauf und sagen Sie dem Herrn, daß Mr. Walter Smith ihn sprechen möchte. Aber vergessen Sie bloß den Namen nicht – er ist ein bißchen ungewöhnlich.«

 

Der Fahrstuhlführer blickte zweifelnd auf den Besucher.

 

»Ich werde mir bloß Unannehmlichkeiten bereiten«, brummte er, als er in einen der beiden kleinen Fahrstühle trat und schnell nach oben entschwand.

 

Nach wenigen Minuten kam der Portier herabgefahren.

 

»Er will Sie empfangen, Sir«, sagte er.

 

»Sie sollten mich so nach und nach kennengelernt haben, Sergeant«, sagte Fred, als er in den Fahrstuhl trat. »In den letzten Jahren bin ich ziemlich regelmäßig hierhergekommen.«

 

»Ich hatte vielleicht gerade keinen Dienst«, entgegnete der Mann, während der Fahrstuhl langsam nach oben stieg. »Wir sind nämlich zwei Mann hier. Waren Sie vielleicht ein Freund von Mr. David, Sir?«

 

Fred verzog keine Miene.

 

»Nein«, sagte er leichthin, »ich habe Mr. David nicht gekannt.

 

»Ja, das war eine traurige Geschichte. Denken Sie sich, er ist ganz plötzlich vor vier Jahren gestorben.«

 

Fred wußte dies sehr gut, hielt es aber für besser, es für sich zu behalten. Der Tod Mr. Davids hatte ihm beinahe eine Einkommensquelle, »eine rechtmäßige«, wie er es nannte, geraubt, während dies Einkommen ihm jetzt nur noch als »Gunst« zufloß. Er konnte es jeden Augenblick verlieren, falls der joviale Mr. Judd einmal seine Geduld verlor und sich nichts mehr erpressen lassen wollte.

 

Der Fahrstuhl hielt an, und er folgte dem Portier zu einer Tür, an die dieser anklopfte. Eine laute Stimme forderte sie auf einzutreten, und Flimmer Fred stolzierte in das elegant eingerichtete Büro. Mit einem kühlen Kopfnicken begrüßte er den Inhaber der Wohnung.

 

Dr. Judd war aufgestanden, um ihn zu begrüßen.

 

»Danke bestens, Sergeant«, sagte er und warf ihm eine Silbermünze quer durch das Zimmer zu, die der Mann geschickt auffing.

 

»Holen Sie mir bitte ein paar Zigaretten!« Als sich die Tür geschlossen hatte, sagte Dr. Judd gutgelaunt: »Nehmen Sie Platz, Sie Gauner, Sie wollen sich wohl Ihr Pfund Fleisch abholen?«

 

Er war ein großer, starker und kräftig gebauter Mann mit einem blühenden Gesicht. Seine Stirn war sehr hoch und seine tiefliegenden Augen lagen weit auseinander. Trotz seines etwas lärmenden, guten Humors verbreitete er ein Gefühl des Behagens um sich. Fred war in keiner Weise verletzt und setzte sich auf die Ecke eines Stuhls.

 

»Na, Doktor«, sagte er, »da bin ich wieder.«

 

Dr. Judd nickte und suchte in seinen Taschen nach einer Zigarette.

 

»«Was suchen Sie – Zigarette?« fragte Fred und holte sein Etui hervor, aber der Doktor schüttelte den Kopf mit einem bezeichnenden Lächeln.

 

»Danke bestens, Mr. Grogan«, kicherte er. »Ich rauche nie Zigaretten, die mir von Herren Ihres Berufes angeboten werden.«

 

»Was heißt das, ›mein Beruf‹?« knurrte Flimmer Fred. »Denken Sie etwa, ich will Sie betäuben?«

 

»Ich habe Sie erwartet«, sagte der andere, ohne auf die Frage zu antworten, und setzte sich. »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie eine außerordentlich starke Abneigung gegen Schecks.«

 

»Stimmt, Doktor«, grinste Fred. »Das ist immer noch meine Schwäche.«

 

Dr. Judd ging nach dem Geldschrank und sagte, über die Schulter blickend:

 

»Sie brauchen nicht zu genau aufzupassen, alter Freund; ich bewahre nie Geld in meinem Schrank auf, ausgenommen, ich habe Zahlungen an Erpresser zu leisten.«

 

»Scharfe Worte haben noch nie jemand umgebracht«, zitierte Fred salbungsvoll.

 

Der Doktor nahm ein Paket heraus und blätterte dann in einem kleinen Notizbuch, das er aus dem Schubfach genommen hatte.

 

»Sie sind drei Tage zu früh gekommen«, bemerkte er, und Fred nickte bewunderungsvoll.

 

»Haben Sie aber einen Kopf für Zahlen, Doktor! Einfach großartig! ’s stimmt, ich bin drei Tage früher gekommen, weil ich sehr schnell wieder abreisen muß, um einen Freund in Nizza zu treffen.«

 

Der Doktor warf ihm das Paket über den Tisch hinweg zu.

 

»Es sind zwölfhundert Pfund in dem Kuvert; Sie brauchen es nicht nachzuzählen, es stimmt ganz genau«, sagte Dr. Judd und sah dem anderen gerade und nachdenklich in die Augen. »Ich bin selbstverständlich der größte Narr in der Welt«, fuhr er fort, »denn sonst würde ich niemals eine solch schändliche Erpressung ertragen. Ich tue es ja nur, um das Andenken an meinen Bruder von jeder Verleumdung freizuhalten.«

 

»Wenn Ihr Bruder sich damit amüsiert, Menschen in Montpellier niederzuschießen, und wenn ich zufällig dazukomme«, entgegnete Flimmer Fred, »und helfe ihm, zu entwischen – und ich kann beweisen, daß ich das getan habe –, dann denke ich, daß ich Anspruch auf eine kleine Entschädigung haben kann.«

 

»Sie sind ein unglaublicher Schuft«, sagte der andere in seiner freundlichen Manier und lächelte. »Und Sie amüsieren mich auch. Nehmen Sie mal an, daß ich anders wäre, wie ich wirklich bin! Nehmen Sie mal an, ich wäre verzweifelt und könnte das Geld nicht auftreiben! Was dann? – Ich könnte Sie …«

 

»Das würde für mich keinen Unterschied machen«, versetzte Fred, »aber für Sie auch nicht. Ich habe den ganzen Vorfall niedergeschrieben, die Schießerei, wie ich dem Mann half, zu fliehen, wie ich nach London zurückkam und ihn dort als Mr. David Judd wiedererkannte – mein Rechtsverdreher hat die ganze Geschichte in Händen.«

 

»Ihr Anwalt?«

 

»Selbstverständlich mein Anwalt«, nickte Fred. Er beugte sich über den Tisch. »Wissen Sie, ich habe zuerst überhaupt nicht geglaubt, daß Ihr Bruder gestorben war. Ich dachte, die ganze Sache wäre bloß ein Schwindel, um mich übers Ohr zu hauen, und ich hätte es auch nicht geglaubt, wenn ich es nicht in den Zeitungen gelesen hätte und nicht selbst beim Begräbnis gewesen wäre.«

 

»Daß ein Mensch wie Sie einen Namen wie den seinen mit Schmutz bewerfen durfte!« sagte Judd und stand auf. All seine gute Laune war aus seiner Stimme verschwunden, und er zitterte vor leidenschaftlicher Empörung.

 

Er ging um den Tisch herum und blickte finster auf Flimmer Fred herab, und Fred, der an solche Szenen gewöhnt war, lächelte nur.

 

»Er war der beste Mensch, der je gelebt hat, der geschickteste, der wundervollste Mann«, sagte Dr. Judd mit schneeweißem Gesicht. »Und durch einen Menschen wie Sie –« Seine Hand schoß nieder, und bevor Fred wußte, was vorging, hatte er ihn am Kragen gepackt und emporgerissen.

 

»Was fällt Ihnen denn ein?« schrie Fred und versuchte, sich loszureißen.

 

»Das Geld macht mir nichts aus«, stieß Judd hervor. »Das läßt mich kalt. Aber das Bewußtsein, daß Sie – Sie – es in Ihrer Macht haben, einen Mann mit Kot zu bewerfen, einen Mann …« Seine Stimme brach, und die andere Hand fuhr in die Höhe.

 

Fred warf sich mit aller Macht zurück und entriß sich den Händen seines Gegners. Plötzlich, wie herbeigezaubert, war in seiner Hand ein Revolver.

 

»Hände hoch und keine Bewegung! Verdammt noch mal!«

 

Und dann fragte eine Stimme sanft und liebenswürdig:

 

»Kann ich hier irgendwie behilflich sein?«

 

Fred fuhr herum. Freundlich lächelnd stand Larry Holt auf der Türschwelle.

 

Flimmer Fred starrte den Eindringling verblüfft an.

 

»Na, Sie haben aber keine Zeit verloren?« Die Worte wurden beinahe unbewußt hervorgestoßen, und Larry lachte leise.

 

Dr. Judd war wieder Herr über sich selbst geworden und sagte leichthin:

 

»Unser Freund Grogan ist Ihnen doch bekannt? Er ist Mitglied unseres dramatischen Theatervereins, und wir haben gerade eine Szene aus den Korsischen Brüdern geprobt. Ich glaube, das sah ganz echt aus.«

 

»Ich dachte, es war aus Julius Cäsar«, sagte Larry trocken. »Wissen Sie, die Szene zwischen Cassius und Brutus. Die Revolverschießerei war mir allerdings aus dem Gedächtnis entschwunden.«

 

Der Doktor blickte von Flimmer Fred zu Larry.

 

»Mit wem habe ich eigentlich das Vergnügen?« fragte er. Seine Stimme hatte ihren gutmütigen Klang zurückgefunden.

 

»Ich bin Inspektor Larry Holt von Scotland Yard«, stellte Larry sich vor. »Aber nun ernsthaft gesprochen! Erheben Sie irgendeine Anklage gegen diesen Mann?«

 

»Nein, nein«, sagte Judd lachend. »Nein, wirklich, das war weiter nichts als eine harmlose Dummheit.«

 

Larrys Blick wanderte überlegend von dem einen Mann zum anderen.

 

»Ich nehme an, Sie kennen diesen Mann?«

 

»Ich habe ihn schon verschiedene Male getroffen«, antwortete Judd ruhig.

 

»Sie wissen natürlich auch, daß er ein Verbrecher ist, unter dem Namen ›Flimmer Fred‹ bekannt ist und schon mehrere Jahre hier und in Frankreich im Gefängnis gesessen hat?«

 

Der Doktor blieb einige Augenblicke schweigsam.

 

»Das habe ich mir auch gedacht«, sagte er leise, »und begreiflicherweise muß Ihnen meine Verbindung mit diesem Mann sehr eigenartig vorkommen – aber ich bin leider nicht in der Lage, eine Erklärung geben zu können.«

 

Larry nickte. Flimmer Fred schwebte in tödlicher Angst, daß Dr. Judd sich Larry offenbaren und ihm die Veranlassung seines Besuches mitteilen würde. Aber jede derartige Absicht lag Dr. Judd fern.

 

»Sie können jetzt gehen!« sagte er kurz. Flimmer Fred steckte sich mit zitternden Händen eine Zigarre an.

 

»Sie müssen sich ›Nervin für die Nerven‹ kaufen«, sagte Larry, der ihn beobachtet hatte. »Ein Drogist an der Ecke hatte noch auf, als ich hierherkam.«

 

Mit einem kläglichen Versuch, vollkommene Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen, stolzierte Fred hinaus.

 

»Es tut mir sehr leid, daß ich gerade in einem so unpassenden Augenblick kommen mußte«, wandte sich Larry dem Doktor zu. »Ich glaube kaum, daß Sie irgendwie in Gefahr waren. Freds dramatische Effekte liegen nur im Drohen, aber er schießt nicht.«

 

»Das glaube ich auch nicht«, lachte Judd. »Nehmen Sie Platz, Mr. Holt! Nun«, fuhr er fort, indem er sich eine Zigarette ansteckte, »was führt Sie zu mir? – Ich nehme an, wieder der Fall Stuart. Ich habe heute schon einen Ihrer Beamten hiergehabt.«

 

»Es handelt sich allerdings um den Fall Stuart«, nickte Larry zustimmend. »Ich habe gerade den Fall übernommen und die Untersuchung der diversen – Fundgegenstände abgebrochen, um Sie noch sprechen zu können, bevor Sie weggingen.«

 

»Mir ist sehr wenig bekannt«, antwortete der Doktor, behaglich rauchend. »Vorgestern abend ging Stuart mit mir ins Theater. Er war ein eigenartiger, sehr ruhiger und vor allen Dingen außerordentlich reservierter Mann, dessen Bekanntschaft ich ganz zufällig gemacht habe. Mein Wagen stieß mit seinem Taxi zusammen, und ich kam mit einer ganz unbedeutenden Verletzung davon. Er erkundigte sich dann nach meinem Befinden, und so begann unsere Freundschaft – wenn man überhaupt von Freundschaft sprechen kann.«

 

»Erzählen Sie mir bitte die Einzelheiten über diesen Abend!« bat Larry.

 

Der Doktor blickte zur Decke des Zimmers hinauf:

 

»Lassen Sie mich mal überlegen. Ich kann Ihnen die Zeit mit ziemlicher Genauigkeit mitteilen, ich bin ein wenig pedantisch veranlagt. Wir trafen uns am Theatereingang um dreiviertel acht und gingen dann sofort in die Loge A, die letzte auf der linken Seite. Die Logen liegen auf dem Straßenniveau, während sich Parkett und Stehplätze unterhalb des Niveaus befinden. Kurz vor Schluß des zweiten Aktes stand er mit einer kurzen Entschuldigung auf und verließ die Loge. Seit dem Augenblick habe ich Stuart nicht wieder gesehen.«

 

»Hat ihn denn niemand von den Logenschließern bemerkt?«

 

»Nein, aber das ist schließlich leicht zu erklären. Sie wissen ja, daß es eine Erstaufführung war. Die Angestellten wollen natürlich das Stück auch sehen und stehen dann in den verschiedenen Saaleingängen, anstatt sich um ihre Arbeit zu kümmern.«

 

»War es Ihnen bekannt, daß Stuart so reich, beinahe ein halber Millionär, war?«

 

»Ich hatte davon keine Ahnung«, erwiderte der Doktor. »Mit Ausnahme, daß er von Kanada kam, wußte ich überhaupt nichts über ihn.«

 

»Ich hatte die Hoffnung, von Ihnen eine ganze Menge Aufklärungen erhalten zu können«, sagte Larry enttäuscht. »Niemand anders scheint mit Stuart bekannt gewesen zu sein, und begreiflicherweise dachte ich, er hätte Ihnen etwas mehr Vertrauen geschenkt.«

 

»Weder ich noch sein Bankier wußten etwas über ihn. Erst heute morgen erfuhr ich von dem Direktor der London & Chatham-Bank, daß er ihr Kunde war. Das einzige, was wir wußten, war, daß er sehr vermögend war.«

 

Kapitel 33

 

33

 

Larry riß die Tür im Erdgeschoß auf und schwankte aus dem Schacht heraus. Vor ihm stand Dr. Judd, Überraschung, Unglauben, höchste Verwunderung standen in jedem Zuge seines Gesichtes geschrieben.

 

»Was ist passiert?« fragte er besorgt.

 

»Ein Wunder!« antwortete Larry verbissen. »Es scheint, als ob ich ungefähr anderthalb Meter tief gefallen bin. Sie haben nach mir geschickt, Dr. Judd?«

 

Dr. Judd schüttelte den Kopf.

 

»Ich befürchte, ich verstehe nichts von allem, was hier vorgefallen ist«, sagte er. »Wollen Sie bitte mit nach oben in mein Büro kommen?«

 

»Ich glaube nicht, daß das noch nötig ist«, erwiderte Larry. »Sie haben mich telephonisch hierherrufen lassen – so schnell wie möglich –, weil Sie mir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen hatten. Sicher gehe ich nach oben«, fügte er grimmig hinzu. »In der obersten Etage ist ein Herr, dessen Bekanntschaft ich sehr gern machen möchte.«

 

»Ich versichere Ihnen, Mr. Holt«, sagte der Doktor ernsthaft, »daß ich niemals nach Ihnen geschickt oder mich in irgendeiner Weise mit Ihnen in Verbindung gesetzt habe. Ich habe den Portier weggeschickt, um mir etwas zu besorgen, und dann fiel mir ein, daß ich nicht eine Zigarette hatte und ließ dummerweise das große Haus unbewacht. Sie sind doch nicht etwa in den falschen Aufzug gestiegen?«

 

Ein langsames Lächeln erschien auf Larrys Gesicht.

 

»Das habe ich, glaube ich, getan«, sagte er.

 

»Allmächtiger Gott!« stammelte der Doktor. »Sie hätten sich das Genick brechen können.«

 

»Ich bin mir immer noch nicht klar, was eigentlich passiert ist«, sagte Larry.

 

»Es ist ja nur ein Aufzug in Betrieb«, erklärte der Doktor. »Irgend etwas an den Motoren ist in Unordnung geraten, und wir lassen sie jetzt im Gleichgewicht laufen. Ich will damit sagen, daß ein Aufzug hoch geht, wenn der andere nach unten kommt. Außerdem haben die Arbeiter von dem morgigen Sonntag profitiert, wo der Fahrstuhl sowieso nicht benutzt wird, und angefangen, den Boden des Aufzugs Nr. 2, der sehr schadhaft war, auszubessern und …«

 

»Und haben ein paar Bogen Papier und Zeugstücke dafür hingelegt, wie ich annehme«, war Larrys unhöfliche Antwort, und er war sich dessen völlig bewußt. »Auf jeden Fall fahre ich jetzt nach oben!« – und stieg mit Dr. Judd in den zweiten Aufzug.

 

In halber Höhe trafen sie mit Harvey zusammen, der die Treppe herabeilte.

 

»Gott sei Dank, daß Sie nicht verletzt sind«, sagte dieser.

 

Larry schüttelte den Kopf.

 

»Ich konnte kaum drei Meter vom Boden entfernt sein, als ich fiel. Es kam mir ja gar nicht zum Bewußtsein, daß dieser verwünschte Fahrstuhl ständig nach unten ging, während der liebenswürdige Herr mich von oben bombardierte.«

 

»Hat denn jemand nach Ihnen geworfen? – Es kam mir doch auch so vor, als ob ich Eisen auf den Boden des Schachtes aufschlagen hörte.«

 

Der Aufzug ging nur bis zum vierten Stock, und von dort ging eine Treppe bis in die oberste Etage. Als Larry dort ankam – sie lag in tiefer Dunkelheit –, fand er, daß sein Angreifer, wie er es auch nicht anders erwartet hatte, verschwunden war. Auch den Weg, den dieser genommen hatte, brauchte er nicht lange zu suchen. Am Ende des Ganges war in der Decke ein viereckiger Lichtschein sichtbar, eine Luke war geöffnet, und unter dieser stand eine Leiter.

 

»Ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, wie peinlich mir die ganze Angelegenheit ist«, sagte Dr. Judd, als sie mit ihm wieder zusammentrafen.

 

Er sah ungewöhnlich blaß aus und seine Stimme schwankte.

 

»Irgendein Narr muß Ihnen einen Streich gespielt haben, der sehr ernsthafte Folgen hätte haben können. Wie haben Sie es denn fertigbekommen, daß Sie nicht abstürzten?«

 

Aber Larry war nicht in der Stimmung, noch weitere Erklärungen zu geben und ließ mit einem kurzen »Gute Nacht« einen sehr beunruhigten Dr. Judd zurück.

 

»Harvey«, sagte Larry. »Ich bin morgen um halb zehn im Büro und möchte, daß Sie mich dort erwarten. Morgen werden wir allen Ernstes mit der Abrechnung beginnen, und ich hoffe zu Gott, daß heute in acht Tagen das Stuart-Rätsel gelöst sein wird.«

 

*

 

»Kleine«, sagte Larry Holt am nächsten Morgen in väterlichem und zugleich besorgtem Tone, als er an der Frühstückstafel saß. »In dieser Nacht habe ich ein langes Gebet gesprochen, ein Dankgebet, daß deine Prophezeiung wirklich in Erfüllung geht.«

 

»Wegen der Gefangennahme der Bande?«

 

»Ja« – er zögerte einen Augenblick –. »Ich möchte eine kleine Spur untersuchen, die sich möglicherweise zu einer sehr wichtigen Fährte entwickeln kann.«

 

Sie sah ihn zweifelnd an. »Ich kann wohl nicht mitkommen?«

 

Er schüttelte abwehrend den Kopf.

 

»Nein, diese Arbeit muß ich wirklich ganz allein unternehmen. Ich muß mich im Verlauf meiner Nachforschungen auf jeden Fall einer Gesetzesübertretung schuldig machen, und ich möchte nicht auch noch dafür verantwortlich gemacht werden, dich vom geraden Wege des Gerechten abgebracht zu haben.«

 

»Ich glaube nicht, daß ich mir darüber viel Kopfschmerzen machen würde«, sagte Diana lächelnd, »aber du willst mir eben nicht erzählen, um was es sich handelt. Das ist doch die ganze Geschichte, nicht wahr?«

 

»Das hast du aber schnell herausgefunden! Der edle Sunny wird auf dich aufpassen und dich nach Scotland Yard begleiten – bis an die Zähne mit allerhand Mordwaffen gewappnet.«

 

»Wo führt dich denn diese Fährte hin?« fragte sie. »Ich möchte es so gern wissen, falls –« sie zauderte einen Augenblick – »falls du wirklich mal nicht zurückkommen solltest.«

 

»Meine Fährte führt nach Hampstead.«

 

Sie seufzte erleichtert auf.

 

»Ich hatte so große Angst, sie würde ganz woanders hinführen-«

 

Er zog es vor, nicht weiter über dieses Thema zu sprechen, denn er hatte sie schändlich belogen.

 

Eine halbe Stunde nach seinem Eintreffen im Präsidium verließen zwei nicht zu sauber aussehende Männer in der abgetragenen Uniform der Städtischen Gasanstalt Scotland Yard und kletterten auf einen Autobus. Der eine trug eine Tasche mit Werkzeugen. Ungefähr eine Viertelmeile vor ihrem Bestimmungsort stiegen sie aus und gingen langsam zu Fuß weiter, bis sie stehenblieben und sich das Haus betrachteten, in dem nach Larrys Meinung die Aufklärung von Gordon Stuarts Tod zu finden war.

 

Es war ein Haus von ganz ungewöhnlichem Aussehen, kahl und finster, mit wenigen, aber stark vergitterten Fenstern.

 

»Der Mann, der den Plan für dieses Haus entworfen hat, muß angenommen haben, daß es ein Gefängnis werden sollte«, sagte Harvey.

 

»Vielleicht hat er das auch gedacht«, erwiderte Larry. »Harvey, wenn das wahr ist, was uns der blinde Lew erzählt hat, dann sind wir jetzt am Ende unserer Jagd angelangt.«

 

»Aber das soll doch nur eine gewöhnliche Durchsuchung sein«, sagte Harvey verblüfft. »Glauben Sie wirklich, daß Sie mit dieser einmaligen Haussuchung den ganzen Fall beendigen werden?«

 

Larry nickte.

 

»Wenn ich dies Haus betrete, mache ich jedem Traum, den ich in dieser Sache geträumt, jede Theorie, die ich mir aufgebaut habe, zur Wirklichkeit. Ich stehe oder falle mit dem heutigen Ergebnis.«

 

»Weiß den Miß Ward –«, begann Harvey dreist.

 

»Das ist das einzige, was sie nicht weiß«, lächelte Larry, schritt über die Straße, stieg die wenigen Stufen zur Haustür empor und läutete.

 

Die Tür wurde von einem Diener geöffnet, der sie nach wenigen scharfen und herrischen Worten Larrys in die Vorhalle einließ.

 

»Vergessen Sie nicht, daß unser Besuch geheim bleiben muß«, sagte Larry.

 

»Sie können sich auf mich verlassen, Mr. Holt«, antwortete der Mann, dessen Gesicht beim Anblick Larrys eine krankhafte, grünweiße Farbe angenommen hatte.

 

Die Vorhalle war hoch und geräumig und von dem Marmorfußboden bis zur Decke hinauf in Eiche getäfelt. Die einzigen Möbelstücke waren ein Tisch und ein Stuhl. Das Tageslicht fand durch ein einziges langes, schmales Mattglasfenster Einlaß, durch das man den Schatten seines schmiedeeisernen Gitters sehen konnte. Anstatt der sonst üblichen Haupttreppe, die in die oberen Etagen führte, lag dem Hauptgang gegenüber eine Tür, die, wie er glaubte, diese Treppe versteckte. Eine zweite Tür befand sich auf der anderen Seite der Halle. Dies waren die einzigen sichtbaren Möglichkeiten, den großen Raum zu verlassen.

 

Er öffnete die Tür auf der rechten Seite und fand sich in einem großen, wundervoll ausgestatteten Salon. Die Wände waren unter Gemälden und Gobelins versteckt, und auf dem Parkettfußboden lagen ein halbes Dutzend persischer Teppiche, die ein Vermögen wert waren.

 

Der Raum hatte sechs farbige Fenster, und jedes einzelne war ein Meisterwerk. Schwere Samtvorhänge verdeckten die Fensterrahmen und machten es unmöglich, daß auch nur der geringste Lichtschimmer durch das Fenster dringen konnte. Ein silberner Kronleuchter hing in der Mitte des Zimmers, aber auch hier glaubte Larry, daß die Hauptbeleuchtung durch verborgen angebrachte Lampen erfolgte.

 

Von dem Salon öffnete sich eine Tür auf eine Treppe, die nach dem oberen Stockwerk zu einer Reihe Schlafzimmer, einem kleinen Salon und einem großen Studierzimmer führte. Dieses lag oberhalb des Salons und hatte beinahe dessen Größe.

 

Seine Untersuchung der oberen Etage war mehr oder weniger oberflächlich, obgleich er den Gang, an dem alle diese Räume lagen, genau und sorgfältig prüfte. Überzeugt, daß das, was er entdecken wollte, im Erdgeschoß liegen mußte, ging er wieder in den Salon hinunter.

 

Dort fand er den Diener, den er mit einigen scharfen Worten hinausschickte.

 

»Machen Sie, daß Sie in die Halle kommen«, sagte er kurz, und der Mann gehorchte verdrossen.

 

Und jetzt untersuchte Larry langsam und mit größter Sorgfalt die Wandtäfelungen, Zentimeter für Zentimeter, hauptsächlich die, welche der Eingangstür, durch die er und Harvey eingetreten waren, gegenüberlagen. So geschickt waren diese angebracht, daß geraume Zeit verging, bis er die verborgene Tür fand, die an einem ganz unvermuteten Platze in gleicher Höhe mit dem farbigen Glasfenster lag. Dann erinnerte er sich, daß er von außen eine kleine halbrunde Ausbuchtung an der Mauer des Gebäudes bemerkt hatte.

 

»Jetzt haben wir’s«, sagte er triumphierend und zog eine geschnitzte Girlande auf, die ein festes Stück der Wandverzierung zu sein schien und unter der sich ein winziges Schlüsselloch verbarg. Dann nahm er einen Bund Schlüssel aus der Tasche und versuchte einen nach dem anderen. Beim vierten hörte man ein leises Schnappen, und die Tür öffnete sich nach innen.

 

Er hatte recht behalten. Er wußte es in diesem Augenblick! Die Freude, sein Ziel erreicht zu haben, ließ sein Herz schneller schlagen – das Bewußtsein, endlich etwas Greifbares zu haben, etwas sehen lassen zu können, nicht für den Kommissar, nicht für seine Vorgesetzten, aber für das junge Mädchen, das ihm mehr bedeutete als seine Karriere, als sein Leben, dieser Gedanke färbte seine Wangen und ließ seine Augen aufblitzen.

 

Er befand sich in einem kleinen glockenförmigen Raum mit gewölbtem Dach, dessen Wände, ebenso wie die schmale Treppe, die nach unten in den Keller führte, aus Beton waren.

 

Das erste, was seine Blicke auf sich zog, war ein elektrischer Lichtschalter, den er sofort nach unten drückte. Der untere Treppenabsatz wurde hell. Eine andere Tür lag auf der linken Seite, und eine weitere Reihe schmaler Steinstufen lief weiter nach unten und verschwand in der Dunkelheit. Man hatte sich nicht die Mühe gegeben, das Schlüsselloch dieser Tür zu verstecken, die einer seiner Schlüssel öffnete.

 

Er trat in einen sehr niedrigen zementierten Raum, der kaum zwei Meter hoch und, soweit er schätzen konnte, drei Meter lang war. Dann suchte und fand er den Schalter, der die Kammer erhellte.

 

»Was halten Sie davon, Harvey?«

 

»Was machen die denn hier?« fragte Harvey überrascht. »Ist das eine elektrische Kraftanlage?«

 

Larry schüttelte den Kopf.

 

»Nein«, sagte er. »Keine Lichtanlage. Ich verstehe zwar sehr wenig von Maschinen, aber ich glaube, das ist hier eine Pumpe.« Dann untersuchte er die Maschinenanlage sehr sorgfältig.

 

»Ja, es ist eine Pumpe; eine von der Art, die auf Schiffen gebraucht werden, um die Wassertanks zu reinigen.«

 

Ein dickes Kabel lief an der Wand über Isolatoren hinweg, und er betastete es vorsichtig.

 

»Elektrisch«, sagte er. »Da bekommt er also seinen Kraftstrom her.«

 

An der Wand war ein Schaltbrett und ein Hebel, den er genau untersuchte, bevor er sich zu der zweiten Maschine in der Kammer wandte.

 

»Und das hier ist die Ventilationsanlage« – er zeigte auf einen tonnenförmigen Apparat –. »Sehen Sie, da ist der Exhauster für verbrauchte Luft.«

 

»Das ist ein recht gründlicher Herr«, meinte Sergeant Harvey.

 

»Ja, sehr gründlich«, pflichtete Larry bei, als sie den Raum verließen und die Tür hinter sich schlossen.

 

»Da drüben ist eine Tür, die auf den Hof geht.« Larry wies auf die Wand, die dem Maschinenraum gegenüberlag.

 

Harvey konnte die Tür nicht entdecken, folgte aber seinem Chef, der die Stufen hinabschritt, die weiter nach unten führten.

 

»Zehn Stufen«, warnte Larry und blieb dann vor einer weiteren Tür stehen, die aus Eisenbeton hergestellt war und in schweren Scharnieren aus gehärteter Bronze hing. Larry überzeugte sich erst davon, bevor er weiterging. Er hatte erwartet, Bronzescharniere zu finden. Er hegte nur noch zwei Befürchtungen: daß die Türen mit Riegeln versehen wären und sich nicht von innen öffnen ließen. Aber beide Befürchtungen waren grundlos. Er schob den Schutzdeckel vom Schlüsselloch und öffnete die Tür, die langsam aufschwang.

 

»Zehn Zentimeter dick«, sagte er grimmig, »der Mann geht ganz sicher.«

 

Hinter dieser schweren Tür lag eine zweite aus Stahl, die er aufschloß. Und jetzt blieb er stehen und sagte mit stockendem Atem zu Harvey:

 

»Betrachten Sie sich den Raum, in den wir jetzt hineinkommen, ganz genau, lieber Harvey. Hier starb Gordon Stuart.«

 

Kapitel 34

 

34

 

Trotz seiner Taschenlampe dauerte es geraume Zeit, bis er den Schalter gefunden hatte, der hoch an der Wand und sehr weit von der Tür entfernt dicht unterhalb der abfallenden Decke der Treppe angebracht hat. Ein leichtes Knacken, und der Raum lag in heller Beleuchtung. Von seinem Standpunkt aus konnte er nichts weiter als eine Messingbettstelle sehen, ohne Matratze und Bettzeug. Zwei Stufen weiter hinunter, zwei, drei Schritte durch einen engen Gang, und er befand sich in dem Keller. Fußboden, Wände und Decke waren aus Zement, und es gab noch einen zweiten kleineren Raum, der notdürftig als Badezimmer eingerichtet war. Keinerlei Fenster waren sichtbar, und Larry hatte auch nicht erwartet, solche zu finden. Eine schwere, verbrauchte Luft hing in dem Raum, augenscheinlich waren die beiden Ventilatoren dicht unterhalb der Decke geraume Zeit nicht in Tätigkeit gewesen.

 

Aber weder das Badezimmer noch die Bettstelle nahmen seine Aufmerksamkeit gefangen, sondern der große, schwere Granitblock in der Mitte des Fußbodens. In dem würfelförmigen Stein von ungefähr dreiviertel Meter Durchmesser saß ein großer Stahlhaken, an dem eine lange, dünne Kette, gleichfalls aus Stahl, hing. Die Kette lief in Abständen von je einem Meter durch drei Bleiklötze, deren Gewicht Larry auf vielleicht zehn Pfund schätzte, und endigte in einer bronzenen Fußschelle.

 

»Ja«, sagte Larry, »ich glaube, so ist es.«

 

Er nahm den Fußring auf und versuchte erst den einen, dann den anderen seiner Schlüssel in dem kleinen Schlüsselloch, das durch einen Schieber verdeckt war, und atmete erleichtert auf, als sich der Ring öffnete.

 

»Gott sei dank! Ich befürchtete schon, daß ich nicht den richtigen Schlüssel hätte.«

 

Er blickte Harvey an, dessen Gesicht ein einziges Fragezeichen war.

 

»Was soll das alles bedeuten, Mr. Holt?« fragte der Sergeant verständnislos.

 

»Der Operationssaal der ›Toten Augen‹, war Larrys kurze Antwort.

 

»Wollen Sie damit sagen, daß diese Teufel –«

 

Larry nickte. Er ging an den Wänden entlang und suchte vergeblich nach einem Platz, wo er den wasserdichten Beutel, den er in der Tasche hatte, verbergen könnte. Aber es war auch nicht ein einziger Riß in dem Mauerwerk zu sehen, und die Löcher, die in regelmäßigen Abständen in der Nähe des Fußbodens lagen, waren, wie er wußte, für diesen Zweck nicht zu gebrauchen. Dann fiel sein Auge wieder auf den Granitblock, und er stemmte sich mit allen Kräften gegen diesen. Langsam und mühevoll zog er ihn auf die Seite. Es war unnötig gewesen, einen Steinblock von solchem Gewicht in den Boden einzuzementieren.

 

»Helfen Sie mir mal, ihn umzulegen, Harvey«, sagte er, und die beiden Männer legten den Block auf die Seite.

 

Er war genau eingepaßt, und seine Auflagestelle war kaum zwei Zentimeter tiefer als der Fußboden, aber die Arbeiter hatten sich nicht die Mühe gemacht, diese zu glätten, und so hatte sich in dem Zement eine unregelmäßige, flache Vertiefung gebildet, die für Larrys Zwecke gerade groß genug war. Er nahm den wasserdichten Sack, der kaum größer als ein Schwammbeutel war, aus seiner Tasche und steckte verschiedene Gegenstände hinein.

 

»Noch einen Handschellenschlüssel, Harvey«, sagte er. »Hoffentlich haben Sie einen. Ich habe meinen im Büro vergessen.«

 

Harvey fand einen in seiner Westentasche.

 

»Und das auch noch!« Er zog etwas aus der Tasche und legte es in den Sack. Dann machte er diesen so flach wie möglich, legte ihn in die kleine Vertiefung, die er gerade ausfüllte, und schob mit Harveys Hilfe den Block an seine ursprüngliche Stelle.

 

»Darf ich fragen, was das alles bedeuten soll?« fragte Sergeant Harvey mehr und mehr erstaunt.

 

Larry lachte, und in dem fürchterlichen Raum, der nie Gelächter gehört hatte, klang sein Lachen hohl und unheimlich.

 

»Ist der Diener mit in die Geschichte verwickelt?« fragte Harvey.

 

»Sicherlich nicht. Die Bande würde niemals einem Diener trauen«, entgegnete Larry. »Nein, er kommt wahrscheinlich nur nach den Herrschaftszimmern, wenn sein Herr nach ihm klingelt. Wenn Sie sich das Haus genau betrachten, werden Sie finden, daß es für einen ganz besonderen Zweck gebaut worden ist. Der Raum hier hat zum Beispiel in der Wandtäfelung Rohranlagen, um Luft hinein- und herauspumpen zu können, ein elektrischer Fahrstuhl geht von der Küche nach oben, eine private Treppe führt zu den Schlafzimmern und der Bibliothek in der oberen Etage. Meine Annahme ist, daß der Diener und das ganze Personal tatsächlich in einem Teil des Hauses wohnen, der von diesem hier vollkommen getrennt ist. Haben Sie die Tür gegenüber dem, lassen Sie mich sagen, Maschinenraum, bemerkt? Nein? – Es war gar nicht so leicht, sie zu entdecken, denn sie paßte sich in jeder Weise der Wand an, ist aber in Wirklichkeit eine wunderbar maskierte Eisentür, führt direkt auf den Hof und von dort – vergessen Sie das nicht – in die Garage.«

 

Harvey nahm seinen Sack mit Werkzeugen auf die Schulter.

 

»Das ist ein furchtbares Haus, Mr. Holt«, sagte er schaudernd. »In meinen ganzen fünfunddreißig Dienstjahren hat mich niemals etwas so – so entsetzt, wie das Haus hier. Das kommt Ihnen vielleicht etwas lächerlich vor?«

 

»Ganz und gar nicht«, sagte Larry ruhig. »Ich selbst finde keine Worte für die Empfindungen, die mich in diesen Räumen beschleichen.«

 

»Glauben Sie wirklich, daß hier alle die Leute umgebracht worden sind?«

 

»Davon bin ich fest überzeugt. In der Kammer da unten starb Gordon Stuart eines schmählichen Todes.«

 

Sie gingen in die Vorhalle zurück. Dicht bei der Tür befand sich ein sehr schmales Fenster, das durch einen schweren seidenen Vorhang verdeckt war. Harvey schob ihn zur Seite.

 

»Da steht ein Auto vor der Tür«, rief er. »Es ist gerade vorgefahren.«

 

Larry ging zu ihm hin und blickte an seiner Seite durch das Fenster. Ein Mann war aus dem Taxi gestiegen und bezahlte den Chauffeur.

 

»Ehrwürden Mr. Dearborn«, sagte Larry. »Außerordentlich interessant.«

 

Larry zögerte nur eine Sekunde, bevor er die Tür öffnete und hinaustrat. Ehrwürden John Dearborn war von dem Wagen auf das Haus zugegangen, und seine Hand lag schon auf der Klinke des eisernen Gitters, als er plötzlich das Haupt senkte, wie jemand, der sich an etwas erinnert, und dem Chauffeur zuwinkte.

 

»Hören Sie mal, lieber Freund«, sagte er. »Ich kann Sie nicht sehen, sind Sie noch da?«

 

»Ja, Sir«, erwiderte der Mann.

 

»Es fällt mir gerade ein, daß ich noch nach dem Postamt fahren muß. Wollen Sie mich dahin bringen?«

 

Seine Hand streckte sich suchend aus, der Chauffeur ergriff sie, beugte sich zurück und öffnete die Wagentür.

 

Bevor Larry die Stufen hinunterkommen konnte, fuhr das Auto schon fort. Larry drehte sich mit einem halben Lächeln um.

 

»David Judd kann ruhig warten«, sagte er leise.

 

»David Judd!« wiederholte Harvey ungläubig.

 

»David Judd!« sagte Larry von neuem. »Wer kann behaupten, daß wir nicht in einem Zeitalter von Zeichen und Wundern leben, wo der Blinde sehen kann wie John Dearborn, wo David Judd, tot und begraben, in London in einer Autotaxe spazierenfährt!«

 

Kapitel 35

 

35

 

»Warten Sie. mal«, rief Larry – Sergeant Harvey war gerade im Begriff, dies Haus des Todes zu verlassen –. »Vielleicht bekommen wir nicht so bald wieder Gelegenheit, das Grundstück in Ruhe durchsuchen zu können. Ich möchte doch noch die Seitentür untersuchen.« Er ging voran nach der Geheimtür im Salon, schloß sie hinter sich, schritt dann die Stufen hinab und blieb an der Wand dem Maschinenraum gegenüber stehen.

 

»Ich glaube, hier muß die Tür nach dem Hof sein«, sagte er und ließ das Licht seiner Taschenlampe über die Wand streichen.

 

Das Schlüsselloch war sehr schwierig zu finden, aber endlich fand er es dicht über dem Fußboden in der rechten Ecke. Wie erwartet ging diese auf einen überdachten Weg, der von dem Hof nach der Straße lief.

 

»Verteufelt geschickt«, sagte er in ehrlicher Bewunderung.

 

Vom Hof aus betrachtete er sich Mauer und Tür, durch die sie eben gekommen waren. Nichts erinnerte an eine solche. Man sah nur eine Art Fenster, das aus vier Mattglasscheiben bestand, in der natürlichsten Art der Welt in der Wand angebracht und dessen Fensterbrett mit Blumenkästen geschmückt war.

 

»Sieht weiß Gott nicht aus wie eine Tür«, sagte Larry und fügte noch einmal hinzu: »Verwünscht geschickt gemacht!«

 

Er ging an das Gitter, das er genau untersuchte und kam dann zu Harvey zurück.

 

»Das Rätsel des geheimnisvollen, automatischen Gittertores wäre auch gelöst. Wie ich erwartet habe, ist es möglich, in das Haus und den Hof zu kommen, ohne daß die Dienstboten das geringste bemerken. Als ich das letztemal hier war, fielen mir zwei Löcher in dem Tor auf, die ungefähr fünfviertel Meter voneinander entfernt ziemlich dicht über dem Boden angebracht waren. Ist Ihnen nicht bei dem Wagen, den wir in der Wäscherei fanden, etwas aufgefallen?«

 

»Ja, Sir«, sagte Harvey. »Unterhalb der Scheinwerfer waren zwei Stahlstangen angebracht, die ziemlich weit nach vorn herausstanden.«

 

Larry nickte zustimmend und sagte:

 

»Zuerst habe ich angenommen, es wäre so eine neue Erfindung für Automobile, aber jetzt ist es mir ganz klar, wozu diese Stangen dienen. Der Wagen wird dicht an das Tor gefahren, wo die beiden Stangen in die Löcher eindringen, auf ein Schloß einwirken und so das Tor öffnen, das sich dann wieder hinter dem Wagen schließt. Auf diese Weise haben sie keinerlei Bedienung nötig und vermeiden vor allen Dingen, daß ihr Kommen und Gehen vom Personal im Hause bemerkt wird. Wir wollen uns noch die Garage ansehen und dann machen, daß wir fortkommen.«

 

Larry suchte unter seinen Schlüsseln und fand schließlich den passenden.

 

Als er ihn in das Schloß steckte und umdrehte, hörte er, wie sich in der Garage etwas bewegte.

 

»Haben Sie gehört?« flüsterte er.

 

Harvey nickte und hielt seinen Gummiknüttel bereit. Dann riß Larry schnell beide Torflügel weit auf. Er sah einen Wagen, dessen Räder noch naß waren, aber sonst war augenscheinlich niemand in der Garage.

 

»Der Wagen ist erst heute morgen draußen gewesen«, sagte Larry.

 

Nicht ein Fleckchen, wo sich auch der kleinste Mensch verbergen konnte, dachte er und – ein scharfer, schriller Schrei durchriß das Schweigen, der Schrei eines Menschen in Todesangst. Mit einem Satz war er an der Tür der großen Limousine und riß diese auf. Und dann schien es, als ob ein Tornado, ein Orkan auf ihn losgelassen war – eine gigantische, kreischende Gestalt stürzte sich auf die beiden Männer, rie sie mit ihrem enormen Gewicht zu Boden, warf sich mit ihrer ganzen Masse auf sie.

 

Einen Augenblick war Larry wie betäubt, und als er sich mühsam auf die Füße gearbeitet hatte, hörte er die Garagentür zufallen und das Schnappen des Schlosses, in dem sich der Schlüssel drehte. Beide Männer warfen sich gegen das Tor, das aber unter ihrem Anprall auch nicht einen Millimeter nachgab.

 

»Die Frau!« rief Harvey und wies auf den Wagen.

 

Auf dem Fußboden des Wagens lag zusammengebrochen die regungslose Figur einer Frau. Larry hob sie in seine Arme und trug sie unter ein schmales Dachfenster, durch das ein schwacher Lichtschein in die Garage fiel.

 

Eine Frau im Alter von fünfzig Jahren, grauhaarig und unsäglich schmutzig. Ihr Gesicht schien Wochen hindurch nicht mit Wasser und Seife in Berührung gekommen zu sein, ihre Hände waren kohlschwarz. Unter dem Schmutz sah ihr weißes Gesicht in einem erstarrten Grinsen hervor, und auf ihrem mageren Halse waren die blutroten Merkmale der Krallen des blinden Jake deutlich sichtbar.

 

»Schnell etwas Wasser, Harvey«, rief Larry. »Sie lebt noch!« Und mit leiser Stimme: »Mein Gott, die Aufwärterin!«

 

Während er sich um das arme, unglückliche Wesen bemühte, hatte Harvey die Garage durchsucht und ein Beil gefunden. In wenigen Minuten war das Schloß zertrümmert und die Tür geöffnet.

 

»Nehmen Sie den Revolver«, sagte Larry und reichte ihm seine Waffe hin. »Bis jetzt hat er mir nicht viel genutzt, aber wenn Sie den Schuft zu Gesicht bekommen, schießen Sie. Schießen Sie sofort, ohne sich mit ihm in irgendwelche Redereien einzulassen, und denken Sie nur nicht, daß Sie ihm mit Ihrem Knüttel beikommen können.«

 

Aber Jake der Blinde war – er wußte es – verschwunden. Dieser blinde Mann, dessen kostbarster Sinn zerstört war, war ihm wiederum überlegen gewesen.

 

Die Frau begann jetzt allmählich einige Lebenszeichen von sich zu geben. Ihre Augenlider zuckten, öffneten sich, und mit einem Schrei fuhr sie hoch.

 

»Wo ist Miß Clarissa?« rief sie heiser.

 

»Das möchte ich gern von Ihnen wissen«, war Larrys Antwort.

 

Bald darauf kam ein Taxi, und sie trugen die Frau durch die maskierte Seitentür, die Stufen hinauf und in den prachtvollen Salon. Dort legten sie sie nieder, und Larry blickte um sich auf all diesen Komfort, all diesen Luxus, der mit den Leichen, dem Elend von, Gott weiß wie vielen, unschuldigen Seelen erkauft war.

 

Dann fielen seine Blicke auf diese elende Frau, die dort auf einem Teppich lag, der ein Vermögen wert war, die niemand etwas zuleide getan hatte und die verdammt war, sich unter der Aufsicht eines Unmenschen wie des blinden Jake verbergen zu müssen – und nur, weil sie Stuart kannte und wiedererkannt hatte.

 

Strauß, der Exsträfling und Haushofmeister, wartete mit nervös zuckenden Händen in der Vorhalle.

 

»Sie sind doch nicht bei der Geschichte hier beteiligt?« fragte Larry.

 

»Nein, Sir«, antwortete der Mann zitternd. »Als Sie kamen, dachte ich, daß mein Herr nach Ihnen geschickt hätte, weil – weil ich verschiedene Kleinigkeiten gefunden hatte.«

 

»So was wie Manschettenknöpfe aus schwarzer Emaille, nicht wahr?« fragte Larry. »Wieviel Paar solcher Knöpfe hat er denn gehabt?«

 

»Zwei Paar, Sir. Ich mußte ihm erzählen, was aus ihnen geworden ist, als er mich danach fragte, denn ich habe sie ja in Wirklichkeit gar nicht gestohlen – er hatte sie mir sozusagen geschenkt, weil drei Brillanten fehlten.«

 

»Machen Sie sich keine Kopfschmerzen, Strauß«, sagte Larry. »Er hat sie jetzt wieder, und wenn er auch in ein Leihhaus einbrechen mußte, um sie wiederzubekommen.«

 

Eine Menge Müßiggänger hatten sich auf dem Bürgersteig vor dem Hause angesammelt, um das Schauspiel zu betrachten, wie zwei Männer, augenscheinlich Angestellte einer Gasgesellschaft, ein zerlumptes altes Frauenzimmer die Stufen hinab und in den Wagen trugen.

 

Das Auto war noch nicht lange unterwegs, als sie wieder völlig zu sich kam und heftig zitternd von einem ihrer Begleiter zu dem anderen blickte.

 

»Sie sind jetzt in Sicherheit, Emma«, sagte Larry freundlich.

 

»Emma?« wiederholte sie. »Kennen Sie mich denn, Sir?«

 

»Ja, ich kenne Sie sehr gut«, war Larrys Antwort.

 

»Bin ich jetzt wirklich in Sicherheit?« fragte sie eifrig. »Oh, Gott sei gelobt! Sie haben ja keine Ahnung, was ich alles habe durchmachen müssen. Sie haben ja keine Ahnung davon!«

 

»Ich kann es mir denken.«

 

»Wo wollen Sie sie denn hinbringen?« fragte Harvey leise. »Ich habe nicht gehört, was Sie dem Chauffeur gesagt haben.«

 

»Ich nehme sie mit in meine Wohnung«, sagte Larry zu Harveys deutlich sichtbarer Überraschung. »Die Frau ist ja nicht krank. Sie ist nur todmüde und halb verhungert.«

 

»Das stimmt«, sagte Emma eifrig. »Ich weiß, ich muß furchtbar aussehen, aber ich habe niemals Gelegenheit bekommen, mich zu waschen. Ich bin nicht eine gewöhnliche Frau, Sir, wenn ich auch als Aufwärterin gegangen bin. Ich war Kindermädchen und habe ein kleines Mädchen großgezogen, Sir – die Tochter meiner Herrin. Ich habe sie erzogen wie eine feine Dame, Sir, die kleine Clarissa Stuart.«

 

»Clarissa Stuart?«

 

»Ich habe sie Clarissa genannt, Sir«, sagte Emma. »Wenn ich sie doch nur noch einmal sehen könnte.«

 

»Sie haben sie Clarissa genannt?« sagte Larry langsam. »War denn das nicht ihr eigentlicher Name?«

 

»Doch, Sir«, entgegnete die Frau. »Clarissa Diana, aber ich nannte sie gewöhnlich Clarissa.«

 

Larry fuhr zurück, als hätte ihn der Schlag getroffen.

 

»Wie heißen Sie denn?« fragte er mit heiserer Stimme.

 

»Emma Ward, Sir. Ich habe das junge Mädchen Diana Ward genannt, aber ihr wirklicher Name ist Diana Stuart, und ihr Vater ist jetzt in London.«

 

»Diana Stuart!« wiederholte Larry langsam. »Dann ist also Diana Stuart die Erbin, der Stuart sein ganzes Vermögen vermacht hat. Diana Stuart!« wiederholte er verdutzt. »Diana Stuart! Meine Diana!«

 

Kapitel 30

 

30

 

Diana Ward war es gewesen, die Larry auf den großen verrosteten Kessel in einer Ecke des Kellers aufmerksam gemacht hatte, der der Wäscherei Dampf und Energie lieferte. Larry versuchte vergeblich, die dicke, eiserne Kesseltür, die in den Feuerungsraum führte, zu öffnen. Er zog und zerrte, aber alle seine Mühe war umsonst.

 

»Da kann doch niemand drin sein«, sagte Larry kopfschüttelnd. »Was meinen Sie, Harvey?«

 

»In dem Kessel würde man ja ersticken«, erwiderte Sergeant Harvey.

 

Das junge Mädchen blickte enttäuscht um sich.

 

»Gibt es nicht noch einen anderen Platz, wo sie sein könnte? Ich hatte so sehr gehofft …« Sie beendete ihre Worte nicht.

 

»Nein, Miß«, sagte der Sergeant, »wir haben das ganze Haus sorgfältig durchsucht … Sollen wir die Tür aufbrechen, Sir? fragte er. »Das wird ein paar Stunden dauern.«

 

Larry schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube, es ist nicht nötig. Ich stimme Ihnen bei, daß sich kein Mensch in dem Kessel aufhalten könnte, falls überhaupt Platz genug für einen Menschen sein sollte, um sich darin zu verstecken, was ich nicht einmal annehmen kann.«

 

»Glauben Sie?« fragte das junge Mädchen, als sie weggingen, »daß uns Mr. Grogan die Wahrheit gesagt hat? – Es ist töricht, so dumme Fragen zu stellen: ich bin ja selbst davon überzeugt.«

 

»Da haben Sie recht«, sagte Larry. »Fred ist nun gerade kein Musterknabe, aber in diesem Fall hat er uns nicht angelogen. Es ist wirklich wie ein Glücksspiel«, fügte er bitter hinzu. »Manchmal habe ich das Gefühl, als ob ich dieses Rätsel niemals ergründen werde.«

 

»Das Rätsel wird gelöst, und zwar noch innerhalb einer Woche!« Diana sagte dies mit solcher Sicherheit, daß Larry sie sprachlos ansah.

 

»Dann müssen Sie es lösen«, sagte er schließlich, »denn ich bin jetzt auf einem Punkte angelangt, und zwar dem gefährlichsten für jeden Detektiv, wo ich jeden Menschen in Verdacht habe. Verdacht auf Dr. Judd, auf den unschuldigen Mr. Dearborn, auf Flimmer Fred, den Chefkommissar, auf Sie selbst«, fügte er gutgelaunt hinzu, aber Diana lächelte nicht.

 

»Ich habe mich schon gewundert, wie lange es dauerte, bis Sie mich in Verdacht haben würden«, sagte sie ernsthaft.

 

Sie ging in Begleitung von Harvey nach dem Präsidium, während Larry nach dem Hospital fuhr, um dem verwundeten Hochstapler noch einige weitere Fragen vorzulegen.

 

»Der Himmel weiß, daß ich in meinem ganzen Leben noch niemals einem Polizisten vertraut habe«, sagte Flimmer Fred, der aufmerksam Larrys Worten gelauscht hatte, salbungsvoll, »aber ich glaube, Sie sind ein anderer Schlag, Mr. Holt. In einer meiner Taschen ist der Schlüssel von meinem Bankschließfach, meine Garderobe hat die Anstalt in Verwahrung genommen. Es ist die Bank in Chancery Lane, und ich habe nun mal Vertrauen zu Ihnen«, sagte er mit eigenartiger Betonung. »In meinem Fach liegen verschiedene Dinge, die ich keinen Menschen sehen lassen möchte, aber Sie werden schon finden, was Sie suchen, ohne zuviel zu kramen. Da ist ein Paket Kriegsanleihe«, sagte er unsicher, »die ich mir im Schweiß meines Angesichtes erworben habe.«

 

»Daß jemand dabei geschwitzt hat, möchte ich wetten«, sagte Larry munter. »Sie brauchen sich keine Sorge zu machen, Fred, daß ich hinter Ihre Geheimnisse kommen will, oder daß ich irgend etwas, was ich vielleicht finde, gegen Sie verwerten werde.«

 

Fred fühlte sich äußerst unbehaglich.

 

»Ich wußte ja, daß ich viel riskierte, als ich Ihnen die ganze Geschichte erzählte, denn es war sicher, daß Sie der Sache auf den Grund gehen würden, und ich war mir auch klar darüber, daß ich Ihnen helfen würde. Wenn ich gesund und munter wäre, würde es sehr einfach sein, denn ich hätte Ihnen die Schlüssel gegeben.«

 

»Was sind denn das für Schlüssel?« frage Larry.

 

»Nachschlüssel«, sagte Fred ohne zu erröten, »ich habe sie mir machen lassen. Strauß bekam die Schlüssel in die Hände, als der Doktor schlief, und machte die Abdrücke. Strauß ist gar kein so schlechter Kerl, aber das Schlimme ist, er ›kokst‹. Ich habe niemals für solche schlechte Angewohnheiten etwas übrig gehabt«, fügte Fred tugendhaft hinzu. »Man muß ein klares Auge und einen klaren Kopf haben, um im Leben vorwärtszukommen, stimmt das nicht, Mr. Holt?«

 

»Und acht geschickte Finger plus zwei flinke Daumen«, sagte Larry.

 

Ohne weitere Schwierigkeiten erhielt er die Schlüssel, und eine halbe Stunde später betrat er, vergnügt eine Melodie summend und mit Freds unrechtmäßigen Besitztümern in seiner Tasche klappernd, sein Zimmer Nummer 47 in Scotland Yard.

 

Nach langem Zureden war Diana darauf eingegangen, bis auf weiteres unter Larrys Schutz zu bleiben. Auch die mütterliche Pflegerin war nun eine bleibende Einrichtung in Regents Gate Gardens geworden, was aber Mr. Patrick Sunny äußerst mißfiel, da er gezwungen war, sich in der Küche ein Feldbett aufzuschlagen.

 

»Es tut mir leid, Sunny«, hatte Larry am Abend des ereignisreichen Tages gesagt, »Ihnen diese Unbequemlichkeit verursachen zu müssen. Sehen Sie, die Dame schwebte in großer Gefahr« – Sunny wußte das sehr gut, denn die ganze Angelegenheit war freimütig in seiner Gegenwart besprochen worden –, »und man hätte sie unmöglich in ihrer Wohnung lassen können.«

 

»Nein, Sir, das war ausgeschlossen. – Was für einen Kragen wünschen Sie heute?«

 

»Irgendeinen«, sagte Larry mit einem Lächeln. »Na, auf jeden Fall ist die Dame sicher, wenn sie hier schläft.«

 

»Nein, Sir«, sagte Sunny, und Larry blickte ihn sprachlos vor Überraschung an. Zum erstenmal in seinem Leben stimmte Sunny ihm nicht bei.

 

»Nein?« fragte er ungläubig. »Haben Sie denn nicht gehört, was ich gesagt habe? – Ich sagte, die Dame ist in unserer Wohnung sicher.«

 

»Nein, Sir«, sagte Sunny, »ich bedauere, Ihnen widersprechen zu müssen und bitte ergebenst um Entschuldigung.«

 

»Aber Sie meinen wirklich ›nein‹? Ja, warum ist sie denn hier nicht in Sicherheit?«

 

»Weil Sie selbst nicht sicher sind, Sir«, erwiderte Sunny ruhig, »und solange Sie es nicht sind, ist es die junge Dame auch nicht.«

 

»Es ist gut«, lachte Larry, »denken Sie, wie Sie wollen! Noch eins, Sunny …«

 

»Ja, Sir?«

 

»Schließen Sie bitte heut nacht die Küchentür. Ich habe gehört, wie Sie sich im Bett bewegten und bin dadurch wach geworden.«

 

»Ja, Sir, ich werde die Küchentür schließen«, sagte Sunny und tat es auch wirklich.

 

Als Larry zu Bett gegangen war und die Wohnung in tiefem Schweigen lag, schleppte Sunny sein schmales Feldbett in die Diele, stellte es so auf, daß das Fußende ungefähr vierzig Zentimeter von der Tür entfernt war, lehnte einen Besen so gegen die Tür, daß der Stiel auf seiner Bettkante stand und legte sich hin. Aber die Küchentür hatte er zugemacht!

 

Gegen zwei Uhr morgens wurde geräuschlos ein Schlüssel in das Schloß gesteckt, und die Tür öffnete sich langsam einige Zentimeter. Unbarmherzig fiel der Besen auf Sunnys Kopf.

 

Larry hörte drei schnell aufeinanderfolgende Schüsse, sprang aus dem Bett und lief, Revolver in der Hand, in den Gang. Er sah ein leeres Feldbett, eine offene Tür, aber Sunny war verschwunden. Er flog die Treppe hinunter und begegnete dem würdigen Sunny, der einen kleinen Kerl, dessen gemeine Gesichtszüge schmerzhaft verzogen waren – er hatte eine Fleischwunde im Bein davongetragen –, am Kragen hinter sich herzog.

 

»Bringen Sie ihn hinein«, sagte Larry und verschloß die Tür.

 

Diana, die im Gang stand, zog sich hastig zurück, als man den Mann hindurchführte, erschien aber bald wieder, um an dem nicht sehr ordnungsmäßigen Verhör teilzunehmen, das durch eine respektvolle Entschuldigung Sunnys eingeleitet wurde.

 

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, daß ich mir Ihren Revolver geliehen habe. Was nun mein Bett in der Diele anbetrifft, außerdem noch die Störung, die ich Ihnen verursachen …«

 

»Mein Junge, kein Wort mehr darüber«, sagte Larry mit einem dankbaren Blick zu seinem Diener. »Darüber sprechen wir später. Und nun, mein Freund«, wandte er sich dem abstoßend aussehenden Gefangenen zu, »was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung anzuführen?«

 

»Er hat keen Recht, Schießwaffen zu gebrauchen«, antwortete der Mann heiser. »Ich bin verwundet. Ich kam die Treppe runter, so ruhig und friedlich wir nur möglich, als der Mensch hier aus der Tür kam und auf mich schoß.

 

»Du Unschuldsknabe«, sagte Larry ironisch. Er fühlte über die Taschen des Strolches hinweg und brachte ein Messer mit langer Klinge an das Tageslicht, dessen Schärfe er zwischen Daumen und Zeigefinger prüfte. Es war scharf wie ein Rasiermesser.

 

Larry betrachtete den Mann genau. Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, hatte hohle Backen und tiefliegende Augen.

 

»Zeigen Sie Ihre Hände«, befahl Larry. Mit finsterem Gesicht gehorchte der Mann. »Schon vorbestraft?«

 

»Nein, Sir«, sagte der Mann mürrisch.

 

»Wer hat Sie hierher geschickt?«

 

»Finden Sie’s doch ‚raus!«

 

»Das werde ich herausfinden«, sagte Larry sanft, »und Sie werden dabei etwas beschädigt werden. Also – wer hat Sie hierher geschickt?«

 

»Von mir erfahren Sie nichts«, war die Antwort.

 

»Ich glaube doch, mein Liebling«, sagte Larry, führte den Mann in die Küche und schloß die Tür hinter ihnen.

 

Als zehn Minuten später Polizeibeamte erschienen, führten sie einen sehr erschütterten Mann ab.

 

»Wie haben Sie ihn denn zum Sprechen gebracht«, fragte das junge Mädchen zaghaft.

 

»Ich habe ihm gedroht, daß ich ihn waschen würde«, sagte Larry und sprach die reine Wahrheit. »Es war natürlich nicht diese Drohung, die seinen Mund öffnete, sondern der Umstand, daß er mit mir allein im Zimmer war, das Bewußtsein, daß ich ihm mit einem Griff seine Sachen herunterreißen konnte und die Angst, daß mein angedrohtes Waschen nur das Vorspiel zu einer schrecklichen Marter sein würde. Seine Verwundung hat übrigens nichts zu bedeuten. Sie wird sich wahrscheinlich schon geschlossen haben, bevor der Polizeiarzt sie überhaupt zu sehen bekommt. Und jetzt, glaube ich, können wir uns alle wieder in unsere diversen Gemächer zurückziehen. Sunny, bevor Sie zu Bett gehen, möchte ich Sie noch einmal sprechen.«

 

Was Larry mit Sunny besprach, hatte zur Folge, daß er für den Rest der Woche mit stolzgeschwellter Brust einherwandelte.

 

Kapitel 31

 

31

 

Ein dünner weißer Nebel hing über dem Park und verhüllte den verlassenen Reitweg von Rotten Row.

 

Sir John Hason, Chefkommissar der Polizei, dessen Gewohnheit es war, jeden Morgen vor dem Frühstück einen Spazierritt zu machen, erwartete weder noch wünschte irgendwelche Gesellschaft. Um so größer war daher seine Überraschung und auch sein Verdruß, als ein Reiter hinter ihm aus dem Nebel auftauchte, zu ihm heranritt und sein Pferd an Sir Johns Seite in Schritt fallen ließ.

 

»Hallo, Larry«, rief John Hason. »Wo tauchst du denn auf einmal auf; ich dachte erst, du wärest ein Geist.«

 

»Das werde ich auch bald sein. Lange wird’s nicht mehr dauern, wenn ich nicht sehr aufpasse«, sagte Larry. »Aber ich wußte, daß ich dich hier finden würde, und so habe ich mir im Tattersall einen Gaul gemietet und bin hierhergekommen. Ich habe ein bißchen frische Luft nötig und möchte mal außerhalb der verblödeten Atmosphäre deines Büros mit dir sprechen.«

 

»Gibt’s was Neues?«

 

»Ein kleiner Mordversuch wurde heute nacht probiert, aber das ist so etwas Gewöhnliches, daß es mir widersteht, dies als Neuigkeit zu rapportieren«, sagte Larry und berichtete von dem nächtlichen Besucher.

 

»Das ist der merkwürdigste Fall, der mir jemals vorgekommen ist«, sagte Sir John Hason nachdenklich. »Nicht ein einziger Tag vergeht, ohne daß sich etwas Neues ereignet. Du hältst also die Frage mit der Aufwärterin für wichtig?«

 

Larry nickte.

 

»Du kennst ja London viel besser als ich, John«, sagte er. Zwischen ihm und seinem alten Schulkameraden gab es bei solchen Gelegenheiten wie diese keine Formalitäten. »Wer ist eigentlich Judd?«

 

»Judd!« lachte der Kommissar. »Ich glaube nicht, daß du dir seinetwegen den Kopf zu zerbrechen brauchst. Er ist in der Geschäftswelt ganz gut angesehen; ich glaube aber gehört zu haben, daß sein Bruder sehr leichtsinnig gewesen sein soll. Beinahe sämtliche Aktien der Greenwich-Versicherungs-Gesellschaft gehören der Familie Judd. Es ist keine sehr bedeutende Gesellschaft, hat es aber fertig bekommen, jedem Versuch der Versicherungskonzerne und der großen Gesellschaften, die Greenwich-Kompanie aufzuschlucken, zu widerstehen. Das beweist Charakter und Standfestigkeit, die ich bewundern muß. Die Judds haben die Aktien von ihrem Vater geerbt und brachten die Gesellschaft, die damals als wenig sicher angesehen wurde, zu ihrer jetzigen Höhe.«

 

»Ich habe heut nacht die Aufsichtsratsliste durchgelesen«, sagte Larry. »Sie ist im Jahresbericht der Börse, und ich habe eine ganze Zeit damit verbracht, mir den Kopf zu zerbrechen. Weißt du denn, daß John Dearborn auch Direktor der Gesellschaft ist?«

 

»Dearborn, der Theaterschriftsteller?« fragte Hason schnell. »Nein, das war mir nicht bekannt. Selbstverständlich sind Direktoren in einer derartigen Gesellschaft, wie diese hier«, sagte er lächelnd, »nur von Judd vorgeschlagen und gewählt. Man hat mir erzählt, daß Judd ein ganz guter Kerl ist und eine Menge Geld für wohltätige Stiftungen spendet. Er unterhält beinahe ganz allein das Heim, in dem Dearborn der Vorsteher ist. Vielleicht hat man dem nur den Direktorposten gegeben, um das Heim auf diese Weise etwas zu unterstützen.«

 

»Daran habe ich auch schon gedacht«, nickte Larry. »Wer ist aber Walters?«

 

»Habe niemals von ihm gehört«, sagte Sir John.

 

»Er ist ein anderer Direktor der Gesellschaft. Und Cremley? Ernest John Cremley aus Wimbledon.«

 

»Der ist ganz sicher dekorative Figur«, lachte der Kommissar. »Ich kenne ihn oberflächlich. Er ist ein Mann mit sehr wenig Kopf, aber einem unstillbaren Appetit auf Karten. Warum fragst du?«

 

»Weil diese beiden gleichfalls Direktoren des Macready-Theater-Syndikates sind«, antwortete Larry bedächtig. »Judds Name ist nicht erwähnt, dafür aber ein fremder Name, unter dem wahrscheinlich ein Strohmann Judds erscheint.«

 

»Und was schließt du aus all diesem?« fragte der Chefkommissar.

 

»Was ich daraus schließe?« – Larry verhielt sein Pferd und brachte es herum, so daß er seinem Chef in das Gesicht blickte – »daß Judd das Theater, in dem Dearborns Stücke aufgeführt werden, unter seiner Kontrolle hat. Es besteht also eine Verbindung zwischen Judd und dem Leiter der Blinden-Mission in Paddington.«

 

Sir John dachte lange Zeit über diese Mitteilung nach, bevor er antwortete.

 

»Ich kann wirklich nicht sehen, daß dabei etwas zu finden sein sollte. Dearborn ist doch schließlich nur das Opfer des blinden Jake, und Judd nach allem, was du mir in deinem Rapport von gestern mitgeteilt hast, ist überhaupt nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, wenn du nicht unseren Freund Flimmer Fred mit hineinbringen willst. Ich kann sehr gut begreifen, warum der Doktor den Namen seines Bruders rein halten wollte«, fuhr er fort. »Judd vergötterte seinen jüngeren Bruder, hielt ihn für den besten und tüchtigsten Menschen in der ganzen Welt. Mir ist niemals ein Fall vorgekommen; wo ein Bruder soviel Liebe für den anderen bewies. Die ganze Woche hindurch, in der sein Bruder David Judd gestorben war, hatte der Doktor sich eingeschlossen und wollte niemand sehen. Teufel noch mal, was –!«

 

Der überraschte Ausruf des Kommissars war sehr berechtigt, denn Larry hatte plötzlich sein Pferd herumgerissen und sprengte in scharfem Galopp quer durch den Park, ohne das gefährliche Gelände zu beachten, über das er hinwegsetzte.

 

Der Mann hörte den Galopp der Hufe und rannte schnell wie ein Reh gerade auf das Parktor zu und in die Straße hinaus. Das Tor war so schmal, daß Larry nicht hindurchreiten konnte. Er sprang ab, überließ das Pferd seinem Schicksal und eilte auf die Straße. Er sah nur noch ein Auto, das von der Bordschwelle wegfuhr und sich schnell nach Westen entfernte.

 

Vergebens hielt er nach einem Taxi Ausschau, zuckte die Achseln, fand sein Pferd, stieg auf und kanterte langsam zu Sir John zurück.

 

»Was zum Teufel ist denn in dich gefahren?« fragte Sir John.

 

»Ich sah einen Herrn, den ich brennend gern treffen möchte«, war Larrys ein wenig atemlose Antwort. »Einen gewissen blinden Jake, der seinen morgendlichen Gesundheitsspaziergang im Park macht, während sein Wagen wartet, um ihn, wie es sich für einen vollkommenen Kavalier geziemt, wieder nach Haus zu fahren!«

 

Kapitel 32

 

32

 

Als er nach seiner Wohnung zurückkam, war Diana bereits aufgestanden und saß am Frühstückstisch.

 

»Ich dachte, Sie würden nicht wieder zurückkommen«, sagte sie mit einem leichten Seufzer.

 

Er erzählte ihr von seiner Jagd im Park.

 

»Das wirft eigentlich meine Annahme über den Haufen, daß der blinde Jake sich immer noch im Heim oder in der Wäscherei verborgen hält«, sagte sie, »denn das Haus ist doch wohl noch unter Beobachtung?«

 

»Auf beiden Seiten«, antwortete Larry, »aber es gibt ein Dutzend verschiedener Wege, auf denen der Kerl herauskommen kann. Die Tatsache allein, daß er einen Morgenspaziergang machen kann, daß die Leute, die hinter ihm stehen, seine Gesundheit für wichtig genug halten, um ein Auto zu seiner Verfügung zu stellen, beweist, daß er während des Tages eingeschlossen sein muß.«

 

Beide waren allein, da die Pflegerin und Anstandsdame ihre Toilette noch nicht beendet hatte.

 

»Ich weiß wirklich nicht, wie dieser Fall mal endigen wird, Diana«, sagte Larry nach kurzem Schweigen, »und es ist jetzt ein sehr prosaischer Augenblick, um Ihnen zu sagen, was ich gern … hm … was ich gern sagen möchte, aber – aber, Diana, wenn der Fall wirklich einmal abgeschlossen ist, möchte ich nicht, daß Sie weiter im Präsidium bleiben.«

 

Sie erblaßte leicht.

 

»Sie wollen damit sagen, Sie sind nicht mit mir zufrieden«, sagte sie. »Als Sekretärin?«

 

»Ich schätze Sie sehr als Sekretärin und als Mensch«, Larry gab sich die größte Mühe, in ruhigem Ton zu antworten. »Aber es gefällt mir gar nicht, daß – Sie hier arbeiten.«

 

Beide schwiegen. Endlich sagte sie ruhig:

 

»Ich denke nicht, daß ich nach Erledigung des Falles Stuart noch weiterarbeiten werde. Ich habe auch schon daran gedacht, meine Stellung aufzugeben.«

 

Diese Antwort kam ihm gänzlich unerwartet und erfüllte ihn mit tiefem Schrecken.

 

»Sie werden doch nicht weggehen?« rief er, und Diana brach in helles Gelächter aus.

 

»Sie sind wirklich die inkonsequenteste Person, die man sich denken kann. In einem Augenblick entlassen Sie mich und hoffen in dem anderen, daß ich nicht weggehe.« – Sie bewegte sich auf gefährlichem Boden und war sich dieser Tatsache völlig bewußt. – »Aber schließlich« fügte sie mutwillig hinzu, »gibt es doch noch andere Stellen, wo tüchtige, junge Mädchen verlangt werden.«

 

»Ich kenne eine Stelle, wo ein tüchtiges, junges Mädchen verlangt wird.« Larry schluckte hart. »Seine Arbeit besteht darin, sich um eine kleine Wohnung zu kümmern und das bescheidene Vermögen eines Kriminalinspektors, der eines schönes Tages auch mal was besseres wird, zu teilen.«

 

Bei diesen Worten ließ sie das Stückchen Toast fallen, das sie gerade aufgenommen hatte.

 

»Ich – ich verstehe Sie nicht«, stammelte sie.

 

»Sie verstehen mich nicht?« wiederholte Larry. »Ich möchte Sie heiraten – scheren Sie sich zum Teufel!«

 

Mit offenem Munde blickte sie auf und sah gerade noch, wie sich die Tür hinter dem schwergekränkten Sunny schloß.

 

»Entschuldigen Sie, bitte – es tut mir furchtbar leid«, stotterte Larry. »Ich habe Sie doch nicht gemeint – ich meinte natürlich –«

 

»Ich weiß, was Sie meinen«, sie legte ihre Hand auf die seinige, »Sie wollen mich haben?«

 

»Ich verlange nach Ihnen«, sagte Larry heiser. »Ich sehne mich so sehr nach Ihnen, daß ich keine Worte finden kann, um Ihnen das auszudrücken.«

 

Sie sagte nichts. Ihre Hand lag still unter seiner, aber als ihr Blick auf ihr verzerrtes Spiegelbild in der silbernen Kaffeekanne fiel, lachte sie auf, und Larry, der sehr empfindlich war, zog schnell seine Hand zurück.

 

»Ich befürchte, ich mache mich lächerlich«, sagte er ruhig. Sie hatte sich nicht gerührt.

 

»Legen Sie Ihre Hand wieder zurück«, flüsterte sie ganz leise, und Larry gehorchte. »Und jetzt erzählen Sie mir, was Sie sagen wollten. Ich mußte über mich selbst in der Kaffeekanne lachen. Ich sehe wirklich nicht aus wie jemand, dem man um halb neun Uhr morgens einen Heiratsantrag machen könnte.«

 

»Und – wollen Sie wirklich?« stammelte er, kaum fähig, ein Wort herauszubringen.

 

»Wollen? – Was denn – einen Antrag erhalten?« antwortete sie schalkhaft. »Ob ich das will! Es gefällt mir sogar sehr – liebster Larry.«

 

Und dann fand sie sich in seinen Armen, und die Welt verschwand um sie herum.

 

Sunny kam herein – sie sahen ihn nicht. Leise schlich er sich wieder hinaus, ging auf den Treppenabsatz vor der Wohnungstür und drückte auf den Klingelknopf des Fahrstuhls. Das junge Mädchen, das den Fahrstuhl bediente, war gut befreundet mit ihm und verschaffte ihm so manche wertvolle Auskünfte.

 

»Louie«, sagte er und war noch feierlicher als gewöhnlich, »können Sie mir sagen, ob ich hier in der Nähe ein möbliertes Zimmer finden kann? – Ich glaube, ich werde bald woanders schlafen müssen.«

 

»Woanders schlafen, Pat?« fragte Louie verwundert. (Er hatte ihr gnädigst die Freiheit gestattet, ihn bei seinem Vornamen anzureden.) »Will denn Ihr Herr eine Haushälterin nehmen?«

 

»Ich glaube es«, sagte Sunny mit Grabesstimme. »Ich glaube es wirklich, Louie.«

 

War er an diesem Morgen nach seinem Büro gefahren, gelaufen, vielleicht geflogen – Larry hatte keine bestimmte Erinnerung daran, alles war verschwommen, nur das eine wußte er: Diana Ward war an seiner Seite, und er war hoffnungslos, lächerlich, überwältigend glücklich in seiner Liebe zu ihr.

 

»Aber doch nicht beim Frühstück«, sagte er laut. »Du lieber Himmel, doch nicht beim Frühstück!«

 

»Nicht beim Frühstück?« wiederholte das junge Mädchen. »Ach so, du denkst an – ja, es war wirklich komisch.«

 

»Es war … wundervoll! Wundervoll! Ich fühle mich wie im Himmel.«

 

»Dann muß ich dich mal wieder ein wenig auf die Erde zurückbringen«, sagte Diana ruhig. »Ich möchte, daß du mir etwas versprichst.«

 

»Ich will dir alles versprechen, was es auch sein mag, Diana«, sagte er im Überstrom seiner Gefühle. »Verlange den obersten Ziegel des Schornsteins, verlange ein Stückchen vom Mond und –«

 

»Gar nichts so Schwieriges. Ich möchte nur – und doch wird es vielleicht noch schwieriger sein«, sagte sie ernsthaft. »Willst du mir versprechen, daß du mich unter keinen Umständen bitten wirst, unsere Verlobung aufzuheben?«

 

Er drehte sich zu ihr und wäre beinahe stehen geblieben.

 

»Nichts mehr als das?« sagte er. »Wie kannst du nur auf den Gedanken kommen, daß ich jemals den Wunsch haben sollte, diese wunderbare Verlobung aufzulö–«

 

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Es ist genau so wundervoll für mich, und doch« – sie schüttelte den Kopf – »willst du mir versprechen, daß du niemals unsere Verlobung aufheben wirst, was auch immer vorfallen mag, wie auch immer der Ausgang des Falles Stuart sein mag, ob du Erfolg hast oder nicht, was für Enthüllungen auch kommen mögen – willst du mir das versprechen?«

 

»Das verspreche ich dir«, sagte Larry bestimmt. »Es gibt nichts auf der ganzen Welt, das mich veranlassen könnte, mein gegebenes Wort zurückzunehmen. Aber ich lebe in Todesangst, du wirst noch mal herausfinden, daß du dich an jemand weggeworfen hast, der deiner unwürdig ist. Wenn du das aber tust, schwöre ich dir, daß ich dich wegen gebrochenen Eheversprechens verklagen werde! Mit meinen Gefühlen lasse ich nicht spielen«, fügte er lachend hinzu.

 

Als sie nach dem Zimmer 47 kamen, fanden sie zwei Mann, die im Gang auf sie warteten. Einer war ein Kriminalbeamter in Zivil, und der andere ein kleiner, verschrumpelter Mann, der nachdenklich, die Hände auf den Knien, auf einer Bank saß und mit sichtlosen Augen auf den Boden starrte.

 

Bei seinem Anblick blieb Larry stehen.

 

»Was soll das bedeuten?« fragte er.

 

»Ach, bitte, sei nicht böse«, sagte das junge Mädchen bedauernd. »Das hätte ich dir ja erzählen müssen – ich habe ihn holen lassen.«

 

»Das ist doch Lew«, rief Larry überrascht, und Diana nickte.

 

»Du hast mir doch selbst gesagt, daß ich als Zeugen holen lassen könnte, wen ich nur immer wollte«, begann sie, aber er unterbrach sie freundlich:

 

»Selbstverständlich, Liebling, du kannst tun, was du willst.«

 

Er betrachtete neugierig den alten Mann, der teilnahmlos für alle äußeren Dinge in seiner dunklen, schweigenden Welt seinen eigenen Gedanken nachhing.

 

»Bringen Sie ihn ins Büro«, sagte Larry, und zu Diana: »Wie willst du es denn anfangen, ihn zum Sprechen zu bringen? Wie willst du es ihm verständlich machen, was wir von ihm wollen?« Er schüttelte mitleidig den Kopf. »Ich habe es mir vorher nie recht klar gemacht, was für ein entsetzlicher Zustand es sein muß, blind und taub zu sein. – Kannst du dich mit ihm verständigen?«

 

»Ich glaube – ja«, antwortete das Mädchen ruhig, »aber du mußt dir erst klar machen, daß Lew keine Idee hat, wo er eigentlich ist. Wie soll er das denn wissen? – Vielleicht denkt er, daß er immer noch in jenem fürchterlichen Blindenheim in der Gewalt der Leute ist, die ihn so grausam mißhandelt haben.«

 

Larry nickte beipflichtend.

 

»Ich brauche einen Revolver«, sagte das junge Mädchen, »und einen Schutzmann in Uniform.« Sie wandte sich Larry zu. »Ich muß sehen, ob ich noch nicht alles vergessen habe, was ich im Blindenheim gelernt habe«, und ergriff die Hand des alten Mannes.

 

Sie nahm seine beiden Handgelenke und hob seine Hände an ihr Gesicht.

 

»Eine Frau«, sagte Lew. Dann hielt sie die kleine Vase mit Blumen, die auf ihrem Schreibtisch stand, unter seine Nase.

 

»Rosen, nicht wahr?« fragte er. »Das ist wohl ein Hospital.«

 

Sie winkte den uniformierten Schutzmann, der an der Tür stand, zu sich heran und hob von neuem die Hände des alten Mannes hoch, führte sie leicht über den Uniformkragen des Beamten, über die Knöpfe der Tunika hinweg und ließ ihn schließlich den Helm berühren.

 

»’n Blauer!« sagte Lew und fuhr zurück.

 

Wieder ließ sie ihn an den Blumen riechen und strich von neuem mit seiner knochigen, alten Hand über ihre frische Wange.

 

»Ich bin in ‚m Hospital und ’n Schutzmann paßt auf mich auf. Sucht man mich denn für irgend was?«

 

Diana nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und schüttelte ihn von rechts nach links.

 

»Also nich? Was?« sagte er erleichtert.

 

Larry beobachtete gespannt die beiden.

 

»Bin ich vor den Schweinehunden sicher?«

 

Wieder nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände und zwang ihn zu nicken.

 

»Ich soll wohl aussagen?«

 

Das junge Mädchen wiederholte dieselbe Bewegung, zog einen Stuhl heran und führte ihn zu diesem.

 

Der Kriminalbeamte hatte inzwischen den Revolver gebracht und reichte ihn dem jungen Mädchen. Sie nahm Lews Hand und strich leicht mit dieser über Griff und Lauf der Waffe. Er schauderte.

 

»Ja, das haben sie mit mir gemacht«, sagte er. »Sie wollen sie wohl dafür fassen, nicht wahr? – Es war furchtbar grausam für ’nen blinden Mann. Warum kneifen Sie mich denn in die linke Hand?«

 

Wieder ließ sie ihn nicken und zwickte dann seine rechte Hand und, ohne auf seine Frage zu warten, ließ sie ihn den Kopf schütteln.

 

»Ich hab’s, ich hab’s begriffen«, sagte er eifrig. »Die rechte Hand bedeutet nein und die linke ja. Ist jemand hier – ’n Oberbonze?«

 

Sie signalisierte ihm »Ja«.

 

»Wollen Sie, daß ich aussage?«

 

Wieder das »Ja«-Zeichen, und Lew begann seine Erzählung.

 

Er und der blinde Jake waren Leidensgenossen, aber er war beinahe schon von Jugend an der Sklave des riesigen Kerls gewesen und hatte unter der Herrschaft dieses Verbrechers ein ständiges Leben voller Schrecken geführt.

 

»Er hat Dinger gedreht, Sie würden zu Stein erstarren, wenn Sie se wüßten. Dinger«, sagte er kopfnickend, »hat Jake angestellt, an die ick nich gern denke – oft kann ich nachts nich schlafen.«

 

Dann war vor fünf oder sechs Jahren Lews eigener Bruder ein Mitglied dieser außergewöhnlichen Bande geworden.

 

»Und ein feiner, kräftiger Kerl war er«, sagte Lew stolz, »und sehen konnte er auch! Er lief immer auf den Jahrmärkten als Blinder herum, aber er konnte sehen wie ein Luchs, konnte sogar Zeitungen und Bücher lesen; ’n großer Kerl war er, Sir, und hatte einen langen, buschigen Backenbart. Ja, Jim war ein großer Kerl, aber ’n Gauner.«

 

Dann waren sie unter den Einfluß jener außergewöhnlichen Macht geraten, über die der blinde Jake nur in so respektvoller Weise zu sprechen pflegte. Man hatte sie gebraucht, um Tote aus dem Hause fortzuschaffen, Jake hatte dabei geholfen und Jim und Lew. Er wußte nicht, ob man sie ermordet hatte, aber er glaubte es.

 

»Das war ’ne gerissene Bande. Wissen Sie, was sie vor sechs Jahren fertigbekommen haben?« Er schien beinahe stolz auf das verbrecherische Genie dieser Schreckensmenschen zu sein. »Wir haben einen Mann in den Fluß geschmissen mit einem Gewicht an den Beinen. Denken Sie vielleicht, man hat Lunte gerochen, als der Körper gefunden wurde? Nich dran zu denken. Wo denken Sie, daß das Gewicht befestigt worden war? An einem großen Block Salz, der genau um die Beine von dem armen Deibel paßte. Als das Salz sich aufgelöst hatte, kam er fein nach oben und nischt war zu merken.«

 

»Lebte er denn noch, als er hineingeworfen wurde?« fragte Larry, und das junge Mädchen schauderte bei diesem Gedanken.

 

Der Mann konnte die Frage nicht hören, aber er antwortete, als ob er die Worte vernommen hätte.

 

»Vielleicht war er tot«, fuhr Lew fort, »ich weiß es nicht mehr, Krakehl oder so was Ähnliches hat er jedenfalls nich gemacht. Aber ich hatte keine Ahnung, daß sie ihn ins Wasser werfen würden, ich hatte bei Gott keine Ahnung davon. Wie konnte ich denn das wissen? Aber ins Wasser ging er! Na und dann verschwand Jim. Ich weiß nicht, was ihm passiert ist. Eines Tages ging er, und wir haben ihn nie wieder gesehen. Das war, wenn ich mich recht erinnere, im Mai vor vier Jahren.«

 

Lew wurde dann ängstlich, begann allmählich Gefahr für sich selbst zu fürchten und lebte nach dem geheimnisvollen Verschwinden seines Bruders in ständigem Schrecken vor Jake und seinen Drohungen.

 

Er selbst konnte nicht Braille-Schrift schreiben, aber es gab in Todds Heim einen Mann, »’n anständiger Kerl, wissen Sie«, der die Mitteilung schreiben konnte, die er in die Tasche des nächsten Opfers stecken wollte. Möglicherweise hatte er von Jake gehört, daß es in nächster Zeit »Arbeit« geben würde.

 

»Ich glaube, es ist besser, ich gehe jetzt«, sagte das junge Mädchen, das auf einmal tief erblaßt war.

 

Larry führte sie in den Gang und brachte ihr ein Glas Wasser.

 

»Es geht mir schon wieder besser«, lächelte sie tapfer. »Gehe ruhig wieder zurück und höre zu.«

 

Lew sprach noch, als er wieder in das Büro kam, und als er seine Erzählung beendet hatte, wußte Larry alles Wissenswerte über den Mord an Gordon Stuart.

 

An diesem Abend fand eine Konferenz aller Abteilungschefs des Präsidiums unter dem Vorsitz des Chefkommissars statt.

 

»Ich bezweifle, daß die Aussagen dieses Mannes als überführend betrachtet werden«, sagte Sir John bedächtig; »wenn Sie darauf bestehen, werden wir die Haftbefehle erhalten. Ich glaube aber, daß wir mit dem, was wir schon erfahren haben, die Bande vielleicht auf frischer Tat fassen können, wenn wir ihr noch ein wenig Spielraum lassen.«

 

Larry kam gerade rechtzeitig in sein Büro zurück – Diana war bereits nach Haus gegangen –, um das andauernde Läuten seines Telephons zu hören.

 

»Ist dort Mr. Holt?« fragte eine unbekannte Stimme.

 

Gewöhnlich kommt es äußerst selten vor, daß man im Präsidium von anderen Personen als Beamten oder Polizisten angerufen wird, da die Nummer der verschiedenen Abteilungen nicht in dem Telephonbuch angeführt sind.

 

»Hier Inspektor Holt«, antwortete Larry.

 

»Dr. Judd läßt fragen, ob Sie sofort nach seinem Büro kommen könnten. Er hat Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.«

 

Larry überlegte einen Augenblick.

 

»Schön! Ich komme sofort!«

 

Er nahm Harvey mit, und bald darauf setzte sie ein Taxi im Bloomsbury Pavement ab.

 

Larry hatte erwartet, das Haus um diese Zeit verlassen vorzufinden und war überrascht, eines der oberen Fenster und die lange, schmale Vorhalle beleuchtet zu sehen. Er ging schnell durch das Vestibül; die kleine Portierloge war leer. Am äußersten Ende der Halle befanden sich die Türen der beiden automatischen Fahrstühle, von denen einer fahrbereit unten war.

 

»Soll ich mit Ihnen hinauffahren?« fragte der Sergeant.

 

Es lag kein Grund vor, warum er das nicht tun sollte, aber doch – –

 

»Nein, warten Sie hier unten«, sagte Larry.

 

Er stieg in den Fahrstuhl, drückte auf den Knopf »Vierte Etage« und fuhr langsam nach oben. Der Aufzug hielt in der vierten Etage, Larry öffnete die Gittertür und betrat den Vorplatz. Gerade ihm gegenüber lag eine erleuchtete Glastür, auf der die Worte »Dr. Judd« deutlich sichtbar aufgemalt waren. Er drehte den Türknopf herum. Das Zimmer war leer. Er rief noch einmal und ging, als niemand antwortete, verwundert auf den Treppenabsatz zurück.

 

Jede Faser in Larrys Körper war angespannt – Dr. Judd gehörte nicht zu jenen Leuten, die einem einen Schabernack spielen wollen, oder versuchen würden, ihn an der Nase herumzuführen.

 

Dann machte er eine überraschende Entdeckung. Er war mit dem Fahrstuhl zur Linken heraufgekommen. Dieser war jetzt verschwunden, aber dafür war jetzt der rechtsseitige sichtbar, der in dem obersten Stockwerk gewesen sein mußte, während er im vierten ausstieg. Noch auffälliger aber war es, daß die Fahrstuhltür weit offen stand.

 

Wer war heraufgekommen?

 

Er spähte den Gang entlang, niemand war zu sehen.

 

»Ist oben alles in Ordnung?« kam die hohle Stimme Harveys durch den Schacht des Aufzuges nach oben.

 

»Ich komme jetzt nach unten«, rief Larry und trat durch die offene Tür in den wartenden Aufzug.

 

Sein Fuß war schon erhoben, und er war gerade im Begriff, ihn auf den Boden des Aufzugs zu setzen, als er sich blitzschnell darüber klar wurde, daß das, was er für festes Holz gehalten hatte, nichts anderes wie bemaltes Papier war. Es war unmöglich, sich zurückzuwerfen, das Gleichgewicht zu bewahren, sein ganzer Körper schoß nach vorn.

 

Nur einen Bruchteil einer Sekunde zur Überlegung – dann nahm er alle seine Kräfte zusammen und stieß sich mit aller Gewalt ab, die sein linker Fuß, der noch auf der festen Schwelle ruhte, aufbringen konnte, sprang vorwärts und klammerte sich an eine der Leisten an der Täfelung der Hinterseite des Aufzugs fest. Die Leiste war noch nicht anderthalb Zentimeter breit, aber mit der ganz außergewöhnlichen Kraft seiner Hände gelang es ihm, sich festzuhalten, selbst als seine Füße durch den Papierboden brachen und das ganze Gewicht seines Körpers nur an den Fingerspitzen hing. So hing er, jede Muskel seines Körpers aufs höchste angespannt, in der Höhe des Schachtes fünfundzwanzig Meter hoch über dem Steinboden unter ihm.

 

»Schnell heraufkommen!« rief er. »Vierte Etage. Schnell. Ich sitze in der Falle.«

 

Er hörte das Geräusch des anderen Aufzuges, das Summen des Motors und hörte zu gleicher Zeit über sich ein anderes Geräusch. Er blickte nach oben und sah aus der Öffnung der fünften Etage ein Gesicht auf sich herabblicken.

 

Dann sauste etwas an ihm vorbei und schlug mit einem Krach gegen die Seitenwand des Aufzuges. Beinahe hätte er für einen Augenblick den Halt verloren. Er fühlte, wie der ganze Fahrstuhl schwankte und dann – zu seinem Entsetzen – glitt der andere an ihm vorbei.

 

»Halt! Hier!« schrie er.

 

Das Gesicht über ihm schien allmählich zu verschwimmen, aber wieder sah er, wie sich eine Hand vorstreckte, fühlte, wie etwas Schweres sein Schulter streifte. Seine Finger glitten ab und er fiel.