Kapitel 4

 

4

 

Margaret Maliko stützte sich auf den Ellbogen und sah blinzelnd in den hellen Sonnenschein, der zum Fenster hereinströmte. Zuerst schaute sie bestürzt um sich, aber dann erinnerte sie sich an die Ereignisse des vergangenen Abends.

 

Sie sprang aus dem Bett, ging im Zimmer umher und bewunderte die prächtige Einrichtung. Mr. Sands hatte wirklich eine ausgesprochene Vorliebe für Luxus und Wohlleben.

 

Bürsten und Kämme waren aus echtem Schildpatt und Silber; die venezianischen Glasvasen und die prachtvollen Radierungen zeugten von geschmackvoller Auswahl. In der Fensternische stand ein zierlicher Empireschreibtisch. Schließlich trat sie in die Mitte des Zimmers und freute sich an dem harmonischen und luxuriösen Gesamteindruck. In einem solchen Hause ließ es sich leben!

 

Vorsichtig öffnete sie dann die Tür und hörte, daß unten jemand den Staubsauger in Tätigkeit setzte. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Treppengeländer und spähte nach unten, wo sie eine ältere Frau bei der Arbeit sah.

 

»Ist Mr. Sands schon zurückgekommen?« fragte sie.

 

Die Frau schaute nach oben.

 

»Ja, er war vor ungefähr einer halben Stunde hier«, rief sie hinauf. »Haben Sie mir alles aufgeschrieben, was ich besorgen soll? Mr. Sands hat auch die Zeitungen für Sie hiergelassen. Er sagte, Sie würden sie gern lesen.«

 

Margaret zögerte.

 

»Bringen Sie die Zeitungen herauf und legen Sie sie auf mein Bett. Ich bade inzwischen. Können Sie mir auch den Kaffee bringen?«

 

»Ich habe das Frühstück schon fertig. Ihr Bruder sagte, ich sollte Sie nicht wecken, bis Sie mich selbst riefen.«

 

Als Margaret in ihr Zimmer zurückkam, fand sie einen Stoß Tageszeitungen. John Sands hatte darin mit Blaustift Annoncen angestrichen, in denen Damengarderobe angeboten wurde.

 

Sie war erstaunt, daß er sich soviel Mühe mit ihr machte.

 

Dann nahm sie Papier und Bleistift und setzte eine Liste all der Dinge auf, die sie brauchte. Aber plötzlich kam ihr der beunruhigende Gedanke, daß sie kein Geld hatte. Wieder ging sie nach draußen und bemerkte, daß sich die Frau bereits zum Ausgehen angekleidet hatte.

 

»Hat Mr. Sands denn nicht noch etwas für mich zurückgelassen? Vielleicht einen Brief?«

 

»Ach ja, den habe ich ganz vergessen.«

 

Die Frau kam mit einem Briefumschlag die Treppe herauf und reichte ihn Margaret durch die Türspalte. Sie öffnete ihn und fand darin zehn Banknoten zu je zehn Pfund. Das war reichlich, soviel brauchte sie gar nicht.

 

»Hier ist die Liste. Nehmen Sie bitte einen Wagen.«

 

Margaret war sehr vorsichtig und zeigte sich nicht in ihrem Kostüm, denn die Aufwartefrau würde natürlich alle Schlafröcke und Pyjamas ihres Herrn kennen, und schließlich durfte die Gutgläubigkeit der alten Frau nicht zu sehr auf die Probe gestellt werden.

 

Sie kehrte zu ihrem Bett zurück und las sorgfältig alle Zeitungen durch. Jede hatte eine kurze Notiz über ihre Flucht aus dem Gefängnis gebracht. Margaret las auch eine Personalbeschreibung von sich selbst. Sie mußte lächeln, denn nach diesen dürftigen amtlichen Angaben würde es so leicht keinem Menschen gelingen, sie wiederzuerkennen, wenn er sie nicht vorher gesehen hatte. Die meisten Artikel glichen einander; das kam wahrscheinlich daher, daß die Polizei allen Blättern dieselbe Auskunft gegeben hatte. Aber als sie eine Bemerkung sah, wurde sie doch plötzlich ernst:

 

»Man muß annehmen«, lautete der kurze Absatz, »daß es der Strafgefangenen mit Hilfe eines Freundes gelang, nach London zu entkommen. Unsere Nachforschungen haben ergeben, daß ein großer, eleganter Wagen auf der North Road beobachtet wurde, und zwar dicht in der Nähe der Stelle, an der sich die Gefangene verborgen hielt. Es sind bereits Nachforschungen im Gange, den Eigentümer dieses Wagens festzustellen.«

 

Das war allerdings gefährlich. Wenn die Nummer des Autos bekannt wurde – und vielleicht hatte irgend jemand sie gesehen –, dann war sie verraten. Man würde den Eigentümer feststellen können, und wenn bekannt war, daß John Sands den Wagen gesteuert hatte, würde auch sie entdeckt werden.

 

Aber nach dem ersten Schrecken erholte sie sich wieder und dachte ruhiger. Wenn die Nummer des Wagens tatsächlich bekannt wäre, würde die Polizei längst hergekommen sein und das Haus durchsucht haben. Sie wartete ungeduldig auf die Rückkehr der Aufwartefrau, die ihr die neuen Kleider bringen sollte. Unruhig ging sie im Zimmer auf und ab und sah nervös durch das Fenster auf die Straße.

 

Nur langsam vergingen die Minuten. Aber endlich kam die Frau zurück. Sie war zu Fuß gegangen; sicherlich wollte sie das Geld für den Wagen für sich behalten.

 

Als Margaret dann aber die Kleider in Augenschein nehmen konnte, vergaß sie ihren Ärger. Ein Kostüm von graugrünem Ton kleidete sie vorzüglich, auch wenn es nicht nach ihren Maßen angefertigt war. Dann probierte sie einen einfachen Hut auf, der in der Farbe dazu paßte, und zog noch einen Regenmantel an. Als sie sich in dem großen Spiegel betrachtete, fühlte sie sich sicher. Ihr Aussehen hatte sich so verändert, daß niemand in ihr die entsprungene Gefangene erkennen würde. Sie suchte auf dem Frisiertisch von John Sands und fand auch Puder und sonstige Toilettengegenstände, die sie brauchte. Erst dann erinnerte sie sich daran, daß die Aufwartefrau ihr das auch alles mitgebracht hatte. Aber sie mußte doch lächeln, daß sie John Sands richtig beurteilt hatte. Als sie die schön geschwungenen Augenbrauen nachgezogen hatte, war sie fest davon überzeugt, daß sie das Gefängnistor passieren könnte, ohne von den Wärtern erkannt zu werden. Und als John Sands eintraf und sie ihm entgegentrat, hatte sie ihre ruhige Haltung und ihr Selbstbewußtsein vollkommen wiedererlangt.

 

»Sie sehen glänzend aus«, sagte er, und seine Augen leuchteten bewundernd auf. »Gestern machten Sie schon einen sehr guten Eindruck, aber das war nichts im Vergleich zu Ihrem heutigen Aussehen. Was haben Sie denn in der Hand?« fragte er.

 

Sie reichte ihm die Zeitungsmeldung, die sie ausgeschnitten hatte. Er las sie sorgfältig durch und schüttelte dann den Kopf.

 

»Als ich gestern abend mit Ihnen hierher zurückkehrte, bin ich noch einmal nach draußen gegangen und habe mir die Nummer des Wagens genau angesehen. Das Schild war derartig mit Schmutz bedeckt, daß man es unmöglich lesen konnte. Übrigens war es nahezu dunkel, als ich Sie unter dem Baum fand.«

 

»Dann ist das also nicht gefährlich?« erwiderte sie und atmete auf.

 

»Ich bin meiner Sache ganz sicher. Und jetzt werde ich Sie auch gleich zum Essen mitnehmen und mich mit Ihnen in der Öffentlichkeit zeigen, und zwar in einem der elegantesten Restaurants der Stadt.«

 

Draußen wartete das Auto; sie stieg ein, und er fuhr sie zum Piccadilly Circus. Er hatte das Verdeck zurückgeklappt, denn es regnete nicht mehr. Als sie langsam durch die Wimpole Street fuhren, nahm er einmal den Hut ab. Sie sah schnell zur Seite und bemerkte, wen er so liebenswürdig grüßte. Es war eine hübsche junge Dame in Begleitung eines jüngeren Herrn, die auf dem Gehsteig entlanggingen.

 

»Sehen Sie sich die Dame genauer an, drehen Sie sich aber nicht nach ihr um. Das ist Ihre zukünftige Nichte.«

 

Er mußte über seinen eigenen Witz lachen.

 

*

 

Faith Leman sah dem Wagen interessiert nach.

 

»Mir kommt dieser Herr sehr bekannt vor«, sagte ihr Begleiter.

 

»Er ist ein Freund meines Onkels, ein gewisser Mr. John Sands.«

 

»Ja, jetzt erinnere ich mich«, entgegnete er. »John Sands, ein Mann aus New York, der sich in London aufhält und ein richtiger Engländer geworden ist.«

 

»Das könnte man ebensogut von meinem Onkel sagen.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Onkel Harry ist durchaus nicht Engländer, abgesehen von seinen schlechten Manieren.«

 

Sie drohte mit dem Finger.

 

»Ich habe meinem Onkel gesagt, daß Sie heute abfahren würden. Kehren Sie wirklich morgen nach Amerika zurück?«

 

Er nickte.

 

»Ich wünschte, ich könnte mit Ihnen fahren«, meinte sie nachdenklich. »Ich habe so große Sehnsucht, meine Mutter einmal wiederzusehen.«

 

»Warum bitten Sie Mr. Leman nicht, Sie einmal nach New York zu schicken? Ich kenne mehrere Damen, die in nächster Zeit nach drüben fahren. Denen würde es eine große Freude machen, wenn sie sich Ihrer auf der Reise annehmen könnten.«

 

»Es hat keinen Zweck, meinen Onkel um etwas zu bitten«, sagte sie traurig. »Allein die Tatsache, daß ich etwas gern haben möchte, genügt für ihn, es mir abzuschlagen.«

 

»Warum gehen Sie nicht von ihm fort?« drängte sie der junge Mann. »Ich weiß wohl, daß mich die Sache nichts angeht. Andererseits ist mir allerdings auch bekannt, daß Sie die große Erbschaft von acht Millionen Dollar ausschlagen, wenn Sie das tun.«

 

»Darüber brauche ich mir keine grauen Haare wachsen zu lassen. Mit der Millionenerbschaft habe ich nie gerechnet«, unterbrach sie ihn. »Für mich ist das Geld niemals bestimmt gewesen. Aber es geht leider aus anderen Gründen nicht. Mein Onkel ist immer sehr gut zu meiner Mutter gewesen, und –«

 

»Ich verstehe vollkommen«, erwiderte er ruhig. »Sie müssen bei ihm bleiben. Vermutlich fesselt Sie der alte Mann dadurch an sich, daß er Ihre Mutter unterstützt.«

 

Sie antwortete nicht, aber was er sagte, entsprach den Tatsachen. Sie konnte es nicht in Abrede stellen.

 

»Aber wie steht es denn bei Ihnen?« lenkte sie ab. »Sind Sie mit Ihrem Besuch in London zufrieden? Haben Sie genügend Material gesammelt, das Sie für Zeitungsartikel verwerten können?«

 

»Ich habe viel erreicht. Sie wissen doch, daß kurze Geschichten und Witze über Harry Leman in Amerika glänzend weggehen. Natürlich hat unser Vertreter hier in London sich auch darum bemüht und viele Geschichten nach New York geschickt, die von Harry Leman handeln, aber in letzter Zeit ging ihm anscheinend der Stoff aus. Deshalb beauftragte mich Holland Brown, die Sache ein wenig in Schwung zu bringen. Zuletzt waren die Sachen, die unser Mann von hier einsandte, zu trocken. Wir brauchen aber etwas Romantik, damit die Leute das Interesse nicht verlieren. Ich habe auch ein paar zugkräftige Geschichten, die sicher gern gelesen werden. Zum Beispiel den Witz, wie er in der Oxford Street beinahe ein Paar neue Schuhe gekauft hätte, ihm nachher aber der Preis für die beiden zu hoch war und er zunächst nur einen kaufen wollte!«

 

Sie sah ihn vorwurfsvoll an.

 

»Aber Miss Faith, was haben Sie denn dagegen? Wenn Ihr Onkel so etwas liest, freut er sich halbtot. Ich habe Ihnen übrigens noch nicht die Geschichte erzählt, die uns mit ihm passiert ist. Als wir eines Samstags einmal in unserem Feuilleton schrieben, daß John Rockbetter der geizigste Millionär wäre, erhielten wir von Harry Leman mit der nächsten Post einen Brief, in dem er furchtbar schimpfte. Die Nachricht von seiner Heirat stammt übrigens nicht von mir. Sie sind doch sicher, daß nichts Wahres an dem Gerücht ist?«

 

Sie zögerte.

 

»Ja, ich bin meiner Sache ganz sicher«, erwiderte sie dann. »Mein Onkel sagt zwar immer, daß er sich verheiraten will, aber ich glaube, das tut er nur, um mich zu ärgern und mir alle Hoffnungen zu nehmen, daß ich einmal sein Vermögen erben könnte. Und dabei will ich sein Geld doch gar nicht!« fügte sie bitter hinzu. »Ich habe nur den einen Wunsch, nicht mehr mit ihm im selben Haus zusammenleben zu müssen. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer mir das fällt, Mr. Cassidy.«

 

»Das kann ich mir schon denken – und ich fahre nicht gern mit dieser unangenehmen Erinnerung nach Amerika zurück.«

 

Er wollte noch mehr sagen, aber er unterließ es. Es war nicht das erstemal, daß er sich mit ihr aussprechen wollte, und nur die eine Tatsache, daß sie später wahrscheinlich doch einmal das ungeheure Vermögen ihres Onkels erben würde, hinderte ihn daran, ihr zu erklären, was er für sie fühlte. Schon oft hatten sich die Worte auf seine Lippen gedrängt, aber jedesmal hatte er sich im letzten Augenblick zusammengenommen. Er hatte sie kennengelernt, als er den Millionär zum erstenmal besuchte. Mr. Harry Leman war nicht zu Hause gewesen, und in der Zwischenzeit hatte sie ihn unterhalten. Später hatten sie sich noch häufig getroffen. Sie wußte allerdings nicht, daß er es jedesmal so geschickt einrichtete, daß er ihr auf der Straße begegnete, aber sie empfand diese neue Freundschaft wie den Sonnenschein nach langen Regentagen. Und jetzt, da sie wußte, daß er England bald wieder verlassen würde, fühlte sie sich bekümmert und bedrückt.

 

»Ich beneide Sie direkt, daß Sie wieder nach unserem lieben, alten New York zurückkehren können. Wissen Sie, was ich am liebsten möchte?«

 

»Ich weiß es«, erwiderte er eifrig.

 

»Nun, was denn?« fragte sie überrascht.

 

»Ich möchte es Ihnen nicht sagen, aber das schließt nicht aus, daß ich es nicht gern aus Ihrem Mund hören möchte.«

 

»Ich möchte zu gerne in New York einen Ausflug im Auto nach Coney Island machen, einmal wieder mitten in einer großen Menschenmenge sein, all die einzelnen Buden und Sehenswürdigkeiten betrachten und eine ganze Menge heißer Würstchen essen –«

 

»Dann wären Sie am nächsten Morgen sicher todkrank«, entgegnete er nüchtern und praktisch. »Nein, da könnte ich Ihnen doch etwas Schöneres vorschlagen, wenn Sie wieder einmal nach New York fahren.«

 

Sie kamen jetzt am Berkeley Square an. Zuletzt waren sie langsamer und langsamer gegangen. Er mußte ihr noch etwas anvertrauen, aber sosehr er sich auch in Gedanken abmühte, er konnte nicht die richtige Einleitung finden.

 

»Miss Leman«, begann er schließlich, »ich möchte Ihnen etwas sagen, das ich schon seit einiger Zeit auf dem Herzen habe.«

 

Er machte eine Pause.

 

»Ja, und was ist das?« fragte sie ermutigend.

 

»Sie wissen, ich bin nur ein Zeitungsberichterstatter…« Wieder blieb er stecken.

 

»Ja, das weiß ich. Sie sind doch bei der ›New York Mail‹?«

 

Er nickte.

 

»Das wollte ich Ihnen eigentlich nicht erzählen. Ich fahre morgen ab, und es mag vielleicht ein Jahr oder länger dauern, bis ich Sie wiedersehen kann, wenn Sie nicht inzwischen nach New York zurückkehren sollten.«

 

»Aber Sie werden mir doch sicherlich schreiben?« fragte sie und sah ihn voll an. »Sie haben doch versprochen, das zu tun.«

 

Er schluckte.

 

»Ja, ich werde Ihnen schreiben, wenn Sie es gestatten. Und Sie sollen auch wissen, daß ich Ihr bester Freund bin.«

 

»Das sind Sie«, entgegnete sie lächelnd. »Ich habe keinen anderen Freund, und ich werde immer sehr gern an Sie denken, Mr. Cassidy.«

 

»Das freut mich«, entgegnete Jimmy, »aber ich möchte Ihnen nur dies eine sagen: vielleicht sind Sie eines Tages doch eine Millionärin, und dann werde ich Sie nicht mehr behelligen. Wenn Sie aber das Vermögen nicht erben, wenn dieser alte Geizhals – ach, entschuldigen Sie –, wenn Ihr Onkel sein Vermögen irgendwelchen anderen Leuten vermacht – also, wenn das der Fall sein sollte –«

 

Was er auch noch sagen wollte, er äußerte es jedenfalls nicht, denn in dem Augenblick wurde er plötzlich angerufen, wandte sich um und sah Harry Leman.

 

»Hallo, hallo, was machen Sie denn?« rief der Millionär freundlich. »Ich dachte, Sie wären schon abgefahren?«

 

»Mein Dampfer fährt erst morgen, Mr. Leman.«

 

»Sehen Sie, das ist ja glänzend. Kommen Sie mal her, Jimmy, ich habe eine Geschichte für Sie, mit der Sie mindestens eine ganze Seite in Ihrer Zeitung füllen können. Schreiben Sie für Ihr Leserpublikum, daß ich mich zwar verheiraten wollte, daß aber nichts aus der Sache wurde, weil ich mich mit meiner Braut zankte. Keiner von uns wollte nämlich die Kosten für die Trauung bezahlen. Haben Sie die Sache auch richtig verstanden? Und dann habe ich noch eine andere feine Sache. Schreiben Sie, daß ich, bevor es zur Kirche ging, mir vom Juwelier den Trauring für fünfzig Cent geliehen habe. Ist die Geschichte nicht Gold wert?«

 

Faith wandte sich mit einem leisen Seufzer von den beiden ab, nachdem sie Jimmy zum Abschied noch einmal zugenickt hatte.

 

»Ich erzähle Ihnen nächstens die Geschichte zu Ende, Miss Leman«, sagte er.

 

»Was ist das für eine Geschichte?« fragte der Onkel, als sie fortging. »Handelt sie auch von mir? Aber ich kann Ihnen eine noch viel bessere erzählen. Neulich hat mich doch jemand gefragt, ob ich ihm nicht eine Briefmarke leihen könnte –«

 

Aber Jimmy Cassidy hörte nicht hin, obwohl die Geschichte sehr gut erfunden war. Er sah noch immer dem jungen Mädchen nach.

 

Kapitel 5

 

5

 

Achtzehn Monate später saß Jimmy Cassidy wieder in London, und zwar im Hotel Magnificent am Russell Square. Er arbeitete an einer Sache, die ihn mehr interessierte als alle exzentrischen Millionärslaunen.

 

 

Der Bösewicht in all den Kriminalgeschichten ist natürlich ein Wahnsinniger, weil er vollkommen von der Norm der gewöhnlichen Menschen abweicht. Ein Mann, der nur Böses tut um des Bösen willen, muß ja verrückt sein. Und früher oder später kommt er in eine Irrenanstalt, wohin er auch gehört. Aber das sind nur die großen Ausnahmen. Die meisten Verbrecher kommen nur deshalb mit den Gesetzen in Konflikt, weil sie durch die Umstände dazu getrieben werden. Sie wollen einen gewissen Zweck erreichen, und da ihnen das auf legalem Weg nicht möglich ist, geraten sie von selbst auf den Weg des Verbrechens. Von all diesen Leuten sind die Mörder am wenigsten verbrecherisch veranlagt. Siebzig Prozent all der Leute, die wegen Mordes hingerichtet werden, haben früher niemals ein anderes Verbrechen begangen und sind achtbare Staatsbürger gewesen. Menschen, die kaltblütig morden wie die Borgias in früheren Zeiten, gibt es nur selten –

 

 

Soweit war Jimmy Cassidy gekommen, als sich die Tür seines Zimmers öffnete und Holland Brown mit einer großen, dicken Zigarre im Mund ins Zimmer trat.

 

Der Zeitungskönig war untersetzt und etwas korpulent, hatte einen kahlen Kopf und machte auch sonst einen wenig sentimentalen Eindruck. Er ließ sich in einem Armsessel an Jimmys Tisch nieder. Der junge Mann steckte die Hände in die Taschen und richtete sich in seinem Stuhl auf, denn er wußte, was kommen würde.

 

»Jimmy«, begann Mr. Brown, »vor achtzehn Monaten kamen Sie in diese Stadt, um Harry Leman zu interviewen und über ihn zu schreiben. Nachher sind Sie nach New York zurückgefahren und haben alle möglichen Geschichten über ihn mitgebracht, aber darüber, wie es mit seiner Verheiratung steht, haben Sie nichts geschrieben. Achtzehn Monate lang haben Sie nun die Möglichkeit gehabt, eine Geschichte zu schreiben, die alles andere, was in den amerikanischen Zeitungen erschienen ist, in den Schatten gestellt hätte. Und statt dessen schreiben Sie nur, daß Harry Leman mit einem gepumpten Trauring zum Standesamt kam und sich weigerte, seine Braut zu heiraten, weil sie nicht die Hälfte der Trauungskosten zahlen wollte. Ich muß sagen, die Geschichte war ganz nett, obwohl sie erfunden war.«

 

»Natürlich ist die Geschichte erfunden«, entgegnete Jimmy vergnügt. »Ich habe Ihnen doch selbst erzählt, wie ich dazu kam.«

 

Holland Brown ließ die große Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen wandern und nickte bedächtig.

 

»Ich bin ja ganz vernünftig, und ich gebe gern zu, daß das, was Sie sagen, stimmt. Trotzdem hat Ihnen der Berichterstatter der ›New York Post‹ vollkommen den Rang abgelaufen, denn er hat die Neuigkeit von der Hochzeit Lemans gebracht.«

 

»Der Mann schließt das aus irgendwelchen Nebenumständen«, verteidigte sich Jimmy. »Aber er irrt sich. Vor allem stellt es doch Harry Leman selbst in Abrede. Ich habe ihn verschiedentlich deswegen auf Herz und Nieren geprüft, aber er streitet es glatt ab.«

 

»Haben Sie ihn denn jetzt wiedergesehen?«

 

»Ja, heute.«

 

»Und er hat es wieder abgestritten?«

 

Jimmy zögerte.

 

»Heute nicht. Meiner Meinung nach redet er nur von Hochzeit und Trauung, um Miss Leman zu ärgern.«

 

»Ist das seine Nichte?«

 

Jimmy nickte.

 

»Ich gebe ja gern zu, daß der alte Leman seit einem Jahr in der Öffentlichkeit immer behauptet, er sei verheiratet, aber er hat sich niemals mit seiner Frau gezeigt, und wir haben keinen Beweis, daß überhaupt eine Trauung stattgefunden hat.«

 

»Aber der Berichterstatter der ›New York Post‹ hat doch ziemlich handfeste Beweise beigebracht«, beklagte sich Holland Brown. »Er hat steif und fest behauptet, daß die Trauung eine Woche nach Ihrer Abfahrt von England stattfand. Und wenn Sie mir nicht den Gegenbeweis liefern und den Berichterstatter der ›New York Post‹ als Lügner entlarven können, muß ich glauben, was er schreibt. Ich habe Sie hergeschickt, damit Sie Ihren Fehler wieder gutmachen, aber Sie haben mich einfach sitzenlassen. Deshalb bin ich jetzt von Paris gekommen, um mit Ihnen zu sprechen – und um Sie an die Luft zu setzen.«

 

»Dann habe ich also meine Stelle verloren?«

 

»Selbstverständlich. Ich möchte ja nichts gegen Sie sagen, Jimmy, denn Sie sind wirklich ein guter Kerl, aber das erstemal haben Sie schon nichts von der Verheiratung Lemans gewußt, und jetzt haben Sie zum zweitenmal die Sache nicht herausgebracht. Zweimal dürfen Sie solche Böcke nicht schießen. Gehen Sie zu meinem Londoner Vertreter, der soll Ihnen die Rückfahrt nach New York und Ihr Gehalt bis zum Ende des Monats auszahlen. Ich muß mich nach einem wendigeren jungen Mann umsehen, der über Harry Leman berichtet, und ich kann Ihnen nur sagen, in meiner Kartothek steht ›kürzlich verstorben‹ bei Ihrem Namen.«

 

»Ich danke Ihnen«, sagte Cassidy. »Wenn ich nun aber tatsächlich die Sache aufklären kann, nachdem Sie mich an die Luft gesetzt haben, nehmen Sie mich dann wieder in Gnaden auf?«

 

Holland Brown zuckte die breiten Schultern.

 

»Ich weiß nicht, ob es überhaupt einen Zweck hat, eine Nachricht von meinem Konkurrenzblatt zu bestätigen. Nein, das paßt mir nicht. Wenn Sie mir aber eine ganz funkelnagelneue Geschichte bringen können, etwas ganz Hervorragendes, dann werde ich sie kaufen.«

 

Jimmy erhob sich und zog seinen Rock an.

 

»Schön, Mr. Brown, aber das eine kann ich Ihnen nur sagen, Harry Leman ist tatsächlich ein so gutes Thema, daß man eine Millionengeschichte über ihn schreiben kann. Ich habe Ihnen meine Vermutungen und Theorien über ihn ja mehr als einmal erzählt. Ein Reporter muß immer alles mögliche wittern und argwöhnen, bis er eines guten Tages durch die Tatsachen gerechtfertigt wird. Ich will auch nicht eine Million Dollar für meine Geschichte haben, wenn ich soweit bin, nicht einmal einen einzigen Dollar. Wenn ich aber die Wahrheit über die Heirat Harry Lemans herausgebracht habe und eine Geschichte darüber schreibe, komme ich zu Ihnen.«

 

»Jimmy, ich bin nicht gerne so hart zu Ihnen. Sie sind immer ein tüchtiger Mitarbeiter meiner Zeitung gewesen, aber es verdirbt die Moral aller anderen Angestellten, wenn der Star-Reporter nicht auf der Höhe ist. Ich muß Sie einfach an die Luft setzen. Und es ist ja schließlich nicht so schlimm für Sie. Es gibt eine Menge Zeitungen, die Sie gern engagieren werden.«

 

»Meinen Sie, das wüßte ich nicht?«

 

»Und dann noch eins, Jimmy. Ich muß wirklich sagen, daß Sie in letzter Zeit sehr nachgelassen haben.« Brown schüttelte den Kopf. »Ich habe gehört, daß Sie sich nicht mehr genug um Ihre Arbeit kümmern, weil Sie ein Mädel im Kopf haben. Der laufen Sie nach, und aus diesem Grund taugen wahrscheinlich auch Ihre Artikel nicht mehr soviel wie früher.«

 

»Nennen Sie mir den Schuft, der solche gemeinen Lügen verbreitet«, erwiderte Jimmy und grinste übers ganze Gesicht. »Ich sage Ihnen, der bekommt ein paar Faustschläge von mir zwischen die Zähne, daß er in Zukunft sein ungewaschenes Maul hält.«

 

»Regen Sie sich bloß nicht auf. Wir wollen uns doch hier nicht ärgern, Jimmy. Ich habe wirklich sehr große Achtung vor Ihnen – und, verdammt noch mal, ich zahle Ihnen zwei Monate Gehalt!«

 

Jimmy lachte.

 

»Wissen Sie was? Sie werden mir drei Monate Gehalt zahlen, das steht nämlich in meinem Vertrag. Und wenn ich die Millionengeschichte tatsächlich geschrieben habe, Mr. Brown, dann komme ich zu Ihnen. Sie ist wahrscheinlich so gut, daß Sie mich als Teilhaber aufnehmen, denn vermutlich werden Sie nicht genug Geld haben, mich anderweitig zu bezahlen.«

 

Jimmy hatte von Anfang an erwartet, daß ihn Holland Brown auf die Straße setzen würde, als er hörte, daß der Zeitungskönig von Paris nach London kam, um mit ihm zu sprechen. Tatsächlich war es ihm in Journalistenkreisen übel vermerkt worden, daß er die Verheiratung Harry Lemans nicht gemeldet hatte, die man in New York allgemein als Tatsache betrachtete. Aber er hatte sich der allgemeinen Ansicht nicht anschließen können; er mißtraute der Geschichte nach wie vor. Jetzt sah er allerdings ein, daß es ein taktischer Fehler gewesen war, allein gegen den Strom zu schwimmen. Aber er hatte sich immerhin auf sein Urteil verlassen. Er kannte ja Harry Leman besser als irgendein anderer Reporter, und er wußte, wie sehr der Millionär darauf bedacht war, seine Nichte zu ärgern.

 

Nachdem Holland Brown gegangen war, suchte Jimmy sein Manuskript für das große Werk zusammen, das er über Verbrechen und Verbrecher schrieb. Die Welt sollte staunen, wenn es erschien. Er schloß die Blätter in eine Schublade, nachdem er sie geordnet hatte.

 

Dann sah er auf seine Uhr. Für Faith war es noch zu früh; er hatte mit ihr verabredet, daß er sie am Abend im Park treffen wollte.

 

Achtzehn Monate waren vergangen, und er hatte seine Geschichte, die damals durch Harry Leman unterbrochen wurde, noch nicht zu Ende erzählt. Aber das Ende war jetzt bedeutend schwieriger zu erzählen, nachdem er seine Stellung verloren hatte. Trotzdem machte ihm das im Augenblick keine zu großen Kopfschmerzen, denn plötzlich kam ihm ein Gedanke.

 

»John Sands!« rief er. »Den muß ich jetzt sprechen.«

 

Er nahm ein Telefonbuch und suchte Sands‘ Adresse. Zehn Minuten später klingelte er schon an seiner Haustür. Der selbstzufriedene, ruhige junge Mann war allein und legte an einem Tisch in der Nähe des Fensters Patience, als Jimmy ankam.

 

»Kommen Sie herein«, rief er vergnügt. »Ich bin Ihnen zwar noch nicht vorgestellt, aber ich kenne Sie. Ihr Name ist doch Cassidy?«

 

»Ja, so heiße ich, und ich möchte Sie bitten, mir ein paar Minuten Gehör zu schenken. Ich weiß wohl, daß Ihre Zeit sehr wertvoll ist.«

 

Mr. Sands sah auf die Karten, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und lachte.

 

»Sie brauchen deshalb nicht ironisch zu werden«, erwiderte er lächelnd. »Was kann ich für Sie tun?«

 

»Ich will Ihnen alles offen sagen«, erklärte Jimmy. »Ich bin ein Berichterstatter der ›New York Mail‹.«

 

Sands nickte. »Mr. Leman hat mir davon erzählt.«

 

»Nun gut, dann muß Mr. Leman erfahren, daß ich wegen seiner Heiratsgeschichte entlassen worden bin.«

 

»Was hat denn seine Heiratsgeschichte damit zu tun?«

 

»Mein Konkurrent von der ›New York Post‹ hat die Geschichte zuerst veröffentlicht, und ich bin daher jetzt meine Stellung los. Ich frage Sie nun, Mr. Sands: Ist es wahr, daß Harry Leman verheiratet ist?«

 

»Unter diesen Umständen«, entgegnete Mr. Sands, »will ich nicht abstreiten, daß er nicht verheiratet ist.«

 

»Heißt das nun, daß er verheiratet ist oder etwas anderes?« entgegnete Jimmy ungeduldig.

 

»Ich kann Ihnen auch nicht mehr erzählen als das, was Mr. Leman seinen besten Freunden sagt.«

 

Jimmy erhob sich.

 

»Ich sehe, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe. Ich dachte, Sie würden mir eine wirklich brauchbare Auskunft geben. Der Berichterstatter der ›New York Post‹ hat in seinem Blatt geschrieben, daß sich Harry Leman eine Woche nach meiner Abreise von London vor achtzehn Monaten tatsächlich trauen ließ.«

 

»Das ist immerhin möglich«, meinte Mr. Sands und zuckte die Schultern. »Ich bin ein Freund Mr. Lemans und kann wohl sagen, sogar ein sehr guter Freund, aber er bespricht seine Privatangelegenheiten weder mit mir noch mit einem anderen. Ich kann Ihnen daher auch nichts anderes mitteilen, als was der amerikanische Millionär den Presseleuten erzählt hat.«

 

»Und das ist so gut wie gar nichts«, erwiderte Jimmy verzweifelt.

 

»Ja, praktisch läuft es darauf hinaus«, gab Sands gelassen zu.

 

Jimmy hatte ja auch nur wenig Hoffnung darauf gesetzt, daß John Sands die Geheimnisse seines Freundes preisgeben würde. Er hatte eigentlich an Sands noch weitere Fragen stellen wollen, aber er hatte eine Verabredung, die er unter keinen Umständen versäumen durfte, selbst wenn er noch soviel Informationen für seine Zeitung erhalten konnte.

 

*

 

Faith Leman wartete am Eingang eines Londoner Parks auf ihn, und sie gingen zusammen die gutgepflegten Wege entlang. Eine Zeitlang vergaßen sie ihre Sorgen und Schwierigkeiten.

 

Während der vergangenen achtzehn Monate hatten die beiden einen regen Briefwechsel miteinander unterhalten. Nach seiner langen Abwesenheit von London hatten sie sich nun wieder getroffen, und sie fanden, daß sie sich nicht, höchstens zum Besseren, verändert hatten. Faiths reizendes Aussehen fesselte Jimmy mehr denn je, als er sie wiedersah, und er grollte dem Schicksal, daß es ihm neue Hindernisse für die Erreichung seiner Ziele in den Weg legte. Diese achtzehn Monate hatte er von nichts anderem geträumt als von Faith und einem gemeinsamen Lebensglück mit ihr. Und sie sah, daß er gereifter und zielsicherer geworden war, und freute sich, daß sie jemand hatte, dem sie all ihren Kummer anvertrauen konnte. Den großen Entschluß, den Jimmy gefaßt hatte, mußte er ihr noch mitteilen, aber glücklicherweise gab es noch andere Mittel und Wege, als sich durch Worte zu verständigen.

 

Sie gingen zusammen tief in den Park hinein, bevor er an seinen eigenen Kummer dachte.

 

»Ach, ich muß Ihnen noch etwas erzählen, Miss Leman. Ich habe meine Stellung verloren.«

 

»Wieso?« fragte sie überrascht. »Ihre Zeitung hielt doch so große Stücke auf Sie?«

 

»Das ändert an den Tatsachen nichts. Der alte Holland Brown fuhr eigens von Paris hierher, um mich auf die Straße zu setzen. Ich hatte schon eine Ahnung, daß er zu diesem Zweck nach London käme, aber ich hoffte doch, daß er mir noch einen oder zwei Monate Zeit geben würde, bis ich die ganze Geschichte beisammen hätte.«

 

»Sind Sie immer noch davon überzeugt, daß mein Onkel verheiratet ist?«

 

»Ich weiß kaum, was ich dazu sagen soll.«

 

»Ach, ich wünschte nur, es stimmte und er hätte wirklich eine Frau«, sagte sie heftig. »Sie wissen ja nicht, wie entsetzlich es ist! Wenn ich nur irgendeinen Vorwand finden könnte, um von ihm fortzugehen – keinen Tag länger würde ich warten. Er ist ganz unausstehlich zu mir – viel schlimmer als jemals. Er verhöhnt mich dauernd und macht mir Vorwürfe, daß ich es nur auf sein Geld abgesehen hätte und auf seinen Tod warte. Es ist kaum wiederzugeben, was er mir alles sagt. Ich wünschte tatsächlich, er wäre tot, so grausam und abstoßend das auch klingen mag. Ich kann mir nicht helfen, aber mir wäre es nur recht, wenn er sein gräßliches Geld mit sich ins Grab nehmen würde.«

 

Jimmy legte die Hand auf ihre Schulter.

 

»Aber liebe Faith«, sagte er und wunderte sich selbst über seine Kühnheit, »so dürfen Sie nicht sprechen. Sie sind überreizt. Warum gehen Sie nicht nach den Vereinigten Staaten zurück? Schließlich ist es doch nicht ausgeschlossen, daß er Ihre Mutter zur Erbin eingesetzt hat.«

 

Kapitel 11

 

11

 

John Sands hatte einen Abscheu vor Unannehmlichkeiten und Störungen. Aus dem Grunde konnte er auch alle möglichen anderen Leute nicht leiden, die von der gewöhnlichen Norm abwichen. Aber es kam ihm nicht darauf an, ob seine Mitmenschen ehrliche Bürger waren oder Verbrecher. Für ihre moralischen Eigenschaften interessierte er sich nicht im mindesten. Hauptsache war, daß sie ihn nicht in seinem Wohlleben störten. Er beschwerte sich auch nicht darüber, daß Einbrecher in die Häuser eindrangen, sondern nur darüber, daß derartige Leute seinen Frieden und seine Ruhe stören konnten. Solange die Verbrecher bei anderen Leuten ihre Künste versuchten, hatte er nichts dagegen. Der Fleischer, der ihn belieferte, oder der Chauffeur eines Taxis mochten seinetwegen die größten Verbrecher sein, wenn sie nur ihn nicht belästigten. Ein Verbrecher war in seinen Augen nicht schlimmer als ein Wäscher, der seine Hemden durchgerieben hatte oder die Kragen mit dem Plätteisen verbrannte.

 

Am nächsten Morgen ging er um elf Uhr zur Polizeiwache und beklagte sich.

 

»Ich möchte die Polizei nicht unnötig stören«, sagte er, »aber ich muß doch einen Einbruch zur Anzeige bringen, der in meinem Haus verübt wurde. Soviel ich weiß, ist das nötig, um das Eigentum wiederzuerlangen, das mir von den Einbrechern gestohlen wurde. Ich muß allerdings zugeben, daß ich bis jetzt nichts vermißt habe.«

 

»Ganz recht«, bemerkte Blessington, der zufällig zugegen war und Sands‘ Worte durch die offene Tür gehört hatte. »Wann ist denn der Einbruch passiert?« fragte er, als er in den Wachraum trat.

 

»Heute morgen in aller Frühe«, entgegnete John Sands und nickte dem Detektiv zu. »Guten Morgen, Mr. Blessington. Man möchte fast sagen, daß das Sprichwort recht hat: ›Wenn man einmal der Polizei in die Hände fällt, kommt man nicht mehr von ihr los.‹«

 

»Nanu, so schlimm ist es doch nicht! Sie haben doch erst das zweitemal mit uns zu tun.«

 

Blessington war ein großer, hagerer Mann mit einem bronzebraunen Gesicht, der nur sehr selten lächelte. Aber jetzt zwinkerte er John Sands vertraulich zu.

 

»Es war etwa zwei Uhr in der Nacht«, fuhr Sands fort. »Ich kam gerade von einem Spaziergang mit Mr. Cassidy zurück und ging in mein Arbeitszimmer, einen kleinen Raum, in dem ich gewöhnlich meine schriftlichen Arbeiten erledige. Er liegt direkt neben meinem Schlafzimmer. Plötzlich hörte ich unten im Haus ein Geräusch.«

 

Blessington nickte.

 

»Wo liegt denn Ihr Haus?« fragte er unschuldig.

 

»Charles Street Nummer 79. Ein kleines, bescheidenes Gebäude. Ich dachte, Sie würden es kennen.«

 

»Charles Street Nummer 79«, wiederholte der Inspektor und machte sich eine genaue Notiz. »Es tut mir leid, daß Ihnen das passiert ist. Erzählen Sie nur ruhig weiter, Mr. Sands.«

 

»Ich habe keinen Revolver im Haus, so nahm ich einen Bogen und ein paar Pfeile von der Wand. Ich habe nämlich eine Sammlung, die ich von einem Aufenthalt in Borneo mitbrachte, und ich kann ziemlich gut mit diesem Bogen schießen. In dem dunklen Gang sah ich einen der Einbrecher und schoß auf ihn, aber allem Anschein nach habe ich ihn verfehlt. Es müssen zwei Leute gewesen sein; sie flohen in den kleinen Hof, der auf der Rückseite des Hauses liegt, kletterten über die Mauer und entkamen.«

 

»Sind Sie denn den beiden gefolgt?«

 

»Nein.« Mr. Sands lächelte. »Dazu war ich nicht in der Stimmung.«

 

»Aber nun eine wichtige Frage: Vermissen Sie etwas?«

 

»Nein. Ich habe die beiden wohl gestört, bevor sie ihr Vorhaben ausführen konnten.«

 

»Gut. Dann werde ich mir einmal Ihr Haus ansehen, Mr. Sands«, erklärte Blessington sofort.

 

»Aber ich gebe Ihnen doch die Versicherung, daß ich nichts vermisse«, widersprach Sands schnell.

 

»Das ist ganz gleich. Wenn hier auf der Polizei ein Einbruch gemeldet wird, dann gehört es zu unserer Pflicht, das Haus genau zu inspizieren. Fingerabdrücke oder sonstige Spuren an den Fensterscheiben könnten einen Anhaltspunkt dafür geben, wer die Täter waren.«

 

»Nun gut. Es ist mir allerdings sehr unangenehm, wenn die Polizei in mein Haus kommt.« Als Sands dies sagte, lachte er leise. »Aber wenn Sie wollen, können Sie ruhig mitkommen.«

 

Für Blessington war dies eine außerordentlich günstige Gelegenheit. Er hätte niemals gedacht, daß Sands über diesen mitternächtlichen Besuch eine Anzeige bei der Polizei erstatten würde. Nun begleitete er Sands nach dessen Wohnung und unterhielt sich unterwegs mit ihm über die kommende Kricketsaison. Außerdem besprach er die Möglichkeiten und Aussichten, die das Rennpferd des Königs beim nächsten Derby haben würde. Diese beiden Themen interessieren alle guten Engländer aufs höchste, und Mr. Sands schien mit der Gesellschaft des Detektivs sehr zufrieden.

 

Die Durchsuchung des Hauses war bald erledigt.

 

Blessington ging durch das Speisezimmer und die große Diele; er stieg die Treppe hinauf, inspizierte Schlaf-, Bade- und Arbeitszimmer und sah sich schließlich noch den Keller an.

 

In einem großen Gang blieb er stehen.

 

»Was stand denn früher hier?« fragte er und deutete auf die verstaubte Wand.

 

Er wußte aber sehr wohl, was in der vorigen Nacht noch dort gestanden hatte.

 

»Ein Schrank, der hier immer im Weg war.«

 

»Was hatte er denn für eine Farbe?«

 

»Er war weiß gestrichen.«

 

»Haben den etwa die Einbrecher gestohlen?«

 

Mr. Sands glaubte, der Inspektor wolle einen Witz machen.

 

»Nein, das nicht. Ich habe ihn heute morgen fortschaffen lassen. Ich telefonierte einem Spediteur und ließ ihn zu meinem Landhaus bringen.«

 

»Zeigen Sie mir doch einmal Ihre Waffensammlung und auch den Bogen und den Pfeil, den Sie in der vergangenen Nacht benützten.«

 

Sands sah ihn erstaunt an.

 

»Aber was wollen Sie denn damit? Das würde doch nicht den Einbrecher, sondern höchstens mich selbst belasten!«

 

»Trotzdem möchte ich mir die Waffen einmal ansehen. Ich wollte vorhin schon fragen, als wir oben waren.«

 

»Ich hatte allerdings auch die Absicht, sie Ihnen zu zeigen, aber Sie gingen so schnell weiter. Nun, ich werde sie holen.«

 

Die Wände des unteren Ganges waren mit gelber Farbe gestrichen. Durch ein Fenster schien die Sonne herein und erleuchtete die eine Wand hell. Und gerade in der Mitte dieses Sonnenflecks war schwach ein Fingerabdruck zu erkennen. Leute, die nicht gewohnt waren, auf solche Dinge zu achten, hätten ihn sicherlich übersehen.

 

»Das ist Blut«, sagte Blessington zu sich selbst und wartete, bis er Sands die Treppe hinaufgehen hörte. Schnell nahm er dann seine kleine Miniaturkamera aus der Westentasche und stellte genau auf den Fingerabdruck ein. Er machte im ganzen drei Aufnahmen, und als Mr. Sands mit Bogen und einem Pfeil in der Hand zurückkam, war der Fotoapparat längst wieder verschwunden.

 

»Sehr hübsche Waffen«, meinte Blessington. »Der Bogen ist ja reich geschnitzt und verziert. Ich bin noch nicht ganz davon überzeugt, daß wir recht haben, wenn wir Feuerwaffen gebrauchen. Unter manchen Umständen ist so eine lautlose Schußwaffe bei weitem vorzuziehen. Glauben Sie, daß Sie den Mann getroffen haben?«

 

»Hoffentlich habe ich ihn verfehlt. Zuerst war ich allerdings furchtbar ärgerlich, aber es würde mir doch leid tun, wenn ich einen anderen Menschen mit diesen bösen Waffen verletzen sollte. Sehen Sie sich einmal die Pfeilspitzen an, die haben ganz gemeine Widerhaken.«

 

Der Inspektor nahm einen der Pfeile in die Hand, betrachtete die gezackte Spitze und gab ihn Sands zurück.

 

»Haben Sie übrigens etwas von Mrs. Leman gehört?« fragte er auf dem Rückweg zum Wohnzimmer. »Die Verhandlung der Totenschau ist für übermorgen angesetzt.«

 

»Merkwürdigerweise habe ich heute morgen einen Brief von ihr erhalten, und ich muß sagen, ich mache mir jetzt ziemliche Sorgen.«

 

Er öffnete ein kleines Geheimfach im Paneel und nahm einen Brief heraus, der in Paris zur Post gegeben war. Der Stempel war allerdings nicht leserlich.

 

»Es liegt Ihnen natürlich etwas daran, den Inhalt des Schreibens zu erfahren«, sagte Sands und reichte Blessington den Bogen.

 

Oben stand: »Café de Lyon«; das Datum war zwei Tage alt.

 

 

Lieber Mr. Sands! Ich bin des Aufenthalts in Paris so müde, daß ich mich entschlossen habe, von hier fortzugehen. Diese Zeilen schreibe ich in einem Restaurant, eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges. Ich fahre von hier aus nach Marseille; was ich dann unternehme, weiß ich noch nicht. Vielleicht gehe ich nach Narbonne, nach Barcelona; vielleicht ziehe ich aber auch San Remo und später Rom vor. Es hat keinen Zweck, meinem Mann einen Brief zu schreiben, denn er antwortet doch nicht. Würden Sie daher so liebenswürdig sein, ihm von mir auszurichten, welche Reisepläne ich habe. Ich danke Ihnen vielmals für die tausend Pfund, die Sie mir geschickt haben und die ich ordnungsgemäß erhielt. Vielleicht wird es Ihnen schwerfallen, meine Interessen zu vertreten. Ich schicke Ihnen deshalb eine Generalvollmacht, die nach meiner Trauung ausgefertigt wurde. Daraus ersehen Sie, daß Sie alle Schritte in meinem Interesse unternehmen können, die Sie für notwendig halten.

 

Mit verbindlichen Grüßen

Margaret Leman

 

 

»Sehen Sie, hier ist die Vollmacht«, sagte Sands.

 

»Das Schriftstück ist in englischer Sprache aufgesetzt.«

 

»Ja, es wurde noch für Mrs. Leman ausgefertigt, bevor sie das Land verließ. Sie wünschte das ausdrücklich. Es ist das erstemal, daß ich diese Vollmacht ausgeliefert erhalte. Es paßt mir aber wenig, daß sie mir das Schriftstück zugesandt hat, denn es ist eine Menge unangenehmer Arbeit damit verbunden.«

 

Blessington hielt das Dokument gegen das Licht. Die Wassermarke war zwei Jahre alt, und die Vollmacht war von Harry Leman selbst unterzeichnet und bestätigt.

 

»Sie wurde unmittelbar nach der Trauung aufgesetzt«, bemerkte Sands. »Mrs. Leman hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit, sie praktisch zu verwenden, und ich wünschte nur, sie hätte sie auch in Frankreich gelassen.«

 

Blessington reichte wortlos das Schriftstück zurück.

 

»Kann ich Sie in zwei Stunden noch einmal besuchen?«

 

»Es würde mir ein großes Vergnügen bereiten.«

 

»Haben Sie sich an der Hand verletzt?« fragte der Inspektor und zeigte auf den Verband.

 

»Ja. Ich habe gestern schon mit Cassidy darüber gesprochen. Er fragte mich auch, und ich sagte ihm, daß ich von einem Hund gebissen worden bin.«

 

Eine Stunde später kehrte Blessington schon zurück.

 

»Ich möchte einmal Ihre Küche sehen«, sagte er.

 

Mr. Sands führte ihn hin.

 

Blessington hatte gar nicht die Absicht, den Raum zu betreten, aber auf dem Weg kam er durch den gelbgestrichenen Gang mit dem blutigen Fingerabdruck. Er sah wohl die Wand, aber der Abdruck war inzwischen verschwunden. In der Zwischenzeit hatte Sands die Stelle mit Farbe überstrichen.

 

»Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben«, sagte der Hauseigentümer, als sich der Detektiv die Küche angesehen hatte. »Nachdem Sie heute morgen fortgingen, habe ich hier eine Entdeckung gemacht, der ich entnehme; daß ich doch einen der beiden Einbrecher verwundet habe.«

 

Er zeigte auf die Wand.

 

»Ich habe dort einen Blutfleck gefunden und deshalb die Stelle neu gestrichen. Erst später kam mir der Gedanke, daß Sie vielleicht ein Interesse daran hätten. Es schien mir fast so, als ob es ein Fingerabdruck wäre.«

 

»Wenn es nicht ein Fingerabdruck war, ist es unwichtig.«

 

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten«, erwiderte Sands. »Ich verstehe sehr wenig von solchen Dingen. Zuerst hielt ich es nur für einen Flecken.«

 

Blessington kehrte zur Haustür zurück. Draußen wartete in einiger Entfernung ein Taxi. Jimmy war im Wagen geblieben. Als Blessington zu ihm zurückkehrte, runzelte er die Stirn.

 

»Fahren Sie nach Scotland Yard«, sagte er zum Chauffeur, sprang in den Wagen und schlug die Tür laut hinter sich zu.

 

»Jimmy«, sagte er und seufzte, »dieser Kerl ist furchtbar schwierig zu behandeln. Ich weiß nicht, was ich von ihm denken soll. Manchmal macht er sich direkt verdächtig, und dann klärt sich hinterher wieder alles zur Zufriedenheit auf. Sobald ich glaube, ich habe ihn gefaßt, hat er auch schon ein unanfechtbares Alibi bereit.«

 

»Nun, und was ist mit dem weißgestrichenen Schrank?« fragte Jimmy, nachdem er erfahren hatte, was sich bei dem ersten Besuch zugetragen hatte.

 

»Den hat er heute morgen mit einem Lastauto aufs Land schaffen lassen. Übrigens hat er mir das selbst gesagt, und außerdem hat der Detektiv, der das Haus bewacht, es bestätigt. Unglücklicherweise hat er den Namen des Spediteurs nicht festgestellt, aber wir haben immer noch die Möglichkeit, das später nachzuholen.«

 

»Warum legen Sie so großen Wert auf den weißgestrichenen Schrank?«

 

»Ach, das ist weiter nicht wichtig«, erwiderte Blessington.

 

Als sie nach Scotland Yard kamen, entließen sie den Chauffeur und gingen sofort zur fotografischen Abteilung.

 

»Sind die Abzüge fertig?« fragte Blessington den diensttuenden Beamten.

 

»Jawohl, sie sind sehr klar und deutlich ausgefallen.« Bei diesen Worten überreichte er dem Inspektor drei Abzüge, die dieser näher ans Licht hielt.

 

»Ja, sie sind einigermaßen gut ausgefallen. Jimmy, sehen Sie einmal her. Hier sind die Fingerabdrücke. Man kann jede Linie genau sehen. Wenn jetzt meine Vermutung richtig ist, können wir feststellen, ob Mrs. Leman gestern abend spät im Haus von John Sands war. Er versuchte mir ja vorzuschwindeln, daß sie im Süden Frankreichs umherreist.«

 

»Das wäre großartig«, entgegnete Jimmy. »Geben Sie mir doch bitte auch einen Abzug – danke schön.«

 

Er nahm ihn und steckte ihn in seine Brieftasche.

 

»Das ist alles Material für die Millionengeschichte«, sagte er dann. »Enden damit vorläufig unsere Feststellungen?«

 

»Ja, wir können den Abdruck nicht eher gebrauchen, als bis wir Mrs. Leman gefunden haben, und ich weiß auch noch nicht genau, wozu das führen soll. Es ist ja schließlich kein Verbrechen, wenn man sich in London aufhält, während andere Leute behaupten, man wäre in Paris oder in Südfrankreich.«

 

»Zeigen Sie noch einmal her«, bat Jimmy und nahm einen der beiden Abzüge. Er betrachtete ihn nachdenklich und sah dann Blessington an. Es war ihm eine gute Idee gekommen.

 

»Wer mag denn eigentlich diese Mrs. Leman sein? Es wäre doch möglich, daß sie zur Unterwelt gehört und eine Verbrecherin ist. Wir haben doch hier eine große Kartothek von all den Leuten, die einmal verurteilt worden sind oder einmal in Händen der Polizei waren.«

 

Blessington kniff die Augen zusammen. »Das ist ein glänzender Gedanke, Jimmy. Wir wollen sofort einmal nachsehen!«

 

Sie gingen beide zur Registratur und händigten dem Beamten einen Abzug aus. Dieser betrachtete den Fingerabdruck genau, machte ein paar Notizen auf eine Karte, nachdem er durch ein Vergrößerungsglas die einzelnen Merkmale genau herausgesucht hatte, und reichte die Karte dann dem Sergeanten. Nach kaum zehn Minuten kam der Beamte mit einem großen Karton zurück, auf dem eine Anzahl von Fingerabdrücken und Fotografien zu sehen waren. Diese verglich der Beamte mit dem Foto.

 

»Sehen Sie, wir haben sie schon gefunden. Das ist der Zeigefinger. Die Abdrücke sind vollkommen gleich.«

 

»Wer ist es denn?« fragte Blessington begierig.

 

»Margaret Maliko«, sagte der Beamte, »eine Gefangene, die zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, aber im Oktober vorletzten Jahres aus dem Gefängnis von Aylesbury entwich.«

 

Kapitel 12

 

12

 

»Dann ist die Sache ja soweit klar. Margaret Maliko ist niemand anders als Margaret Leman«, erklärte Jimmy.

 

Später saßen die beiden in der Halle des Hotels Magificent.

 

»Diese Margaret Leman ist über acht Millionen Dollar wert, daran läßt sich nichts ändern, ganz gleich, ob sie nun Margaret Leman oder Margaret Maliko heißt. Der alte Mann hat kein Testament hinterlassen. Vielleicht hat er keinen bestimmten Rechtsanwalt und nahm deshalb immer einen anderen, wenn er gerade juristischen Beistand brauchte. Sie war übrigens auch die Frau, die von sieben bis acht Uhr bei ihm war. Und sie hat den Brief in den Postkasten gesteckt. Er ist weiterverfolgt worden, aber nur bis zu einem gewissen Punkt«, fügte er vorsichtig hinzu.

 

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Jimmy erregt. »Dieser Brief, der am Berkeley Square aufgegeben wurde, war unfrankiert und an Mrs. Leman selbst adressiert.«

 

»Da haben Sie vollkommen recht, Jimmy. Ich habe nämlich auf Ihre Vermutung hin, daß keine Marke auf dem Brief war, gehandelt. Dadurch gelang es mir, den Brief weiterzuverfolgen. Es ist nur wenigen Leuten bekannt, daß Briefe, die unfrankiert in den Kasten kommen, einer besonderen Prüfung unterzogen werden. Es wird darüber eine Liste auf dem Hauptpostamt geführt. Ich habe bei der Gelegenheit übrigens feststellen können, daß der Brief die Adresse ›Mrs. Leman, Kennigton House, Hove‹ trug.

 

Nun ist Kennigton House kein großes Gebäude, wie Sie vielleicht nach dem großartigen Namen annehmen könnten, sondern eine kleine Vorstadtvilla in der Nähe von Brighton. Ich habe einen Beamten hingeschickt, um Nachforschungen anzustellen, aber unglücklicherweise ist es ihm nicht gelungen, den Brief in seinen Besitz zu bringen. Es scheint, daß das Postamt in Hove den Auftrag hat, alle Briefe, die dort für Mrs. Leman ankommen, umzuleiten. Und welche Adresse hat sie Ihrer Meinung nach wohl dort angegeben?«

 

»Mr. John Sands‘?« vermutete Jimmy.

 

»Nein, jetzt haben Sie das erstemal unrecht«, erwiderte Blessington. »Nein, Jimmy, die Sache ist nicht so plump arrangiert. Marseille, hauptpostlagernd. Was sagen Sie dazu? Wie kamen Sie übrigens auf die Annahme, daß der Brief nicht frankiert war?«

 

»Ich hatte eine Ahnung, daß er ein wichtiges Dokument enthielt, das die Dame nicht bei sich tragen durfte. Sie steckte es in den Briefumschlag. Sie erinnern sich doch noch, daß wir eine große Menge solcher Kuverts auf dem Tisch sahen, als wir Mr. Leman tot auffanden. Sicher hatte der alte Geizhals keine Briefmarken in der Wohnung, aber sie war ängstlich besorgt, das Schriftstück in Sicherheit zu bringen. Deshalb adressierte sie es an sich selbst und warf es in den ersten Briefkasten, den sie sah. Es ist aber eine sehr einfache Sache, den Brief zu bekommen. Sie brauchen doch nur Ihren Agenten in Marseille zu beauftragen, ihn von der Post abzuholen.«

 

»Das erscheint Ihnen so einfach, Jimmy. Der Brief wurde aber gestern abend aufgegeben und ging heute morgen mit der Post ab. Auf jeden Fall wollen wir einmal den Versuch machen. Vielleicht gelingt es uns. Ich habe an meinen guten Freund Pollot in Marseille telegrafiert, und wenn irgend jemand den Brief aus der Post herausholen kann, dann ist er es. – Ihre Freundin kommt aber spät.«

 

Der Detektiv sah auf die Uhr.

 

»Was wollen Sie übrigens mit Faith Leman machen?«

 

»Sie muß mit dem nächsten Schiff nach Amerika zurückfahren«, erklärte Jimmy. »Sobald Mrs. Leman an die Öffentlichkeit tritt und ihre Erbschaft einkassiert, werde ich Faith einen Heiratsantrag machen.«

 

»Aber warum denn nicht schon früher?« fragte Blessington.

 

»Weil immer noch etwas dazwischenkommen kann und Faith vielleicht doch noch die Erbin wird.«

 

»Aber zum Kuckuck, was macht denn das aus? Sie sind doch nicht so voreingenommen, daß sie sich durch die finanzielle Lage des jungen Mädchens daran hindern lassen, mit ihr glücklich zu werden?«

 

»Aber – aber – wenn sie reich ist – und ich arm bin –«

 

»Ach, das ist pure Eitelkeit, weiter nichts. Ich weiß nicht, warum die jungen Leute von heute so blöd sind! Wenn Sie reich wären und Miss Faith Leman arm, und wenn Sie als Märchenprinz daherkämen, um sie als Aschenbrödel aus dem Staub zu sich zu heben, dann würde Ihnen das so passen. Ich, habe noch niemals verstanden, warum das Vermögen bei der Ehe immer nur auf einer Seite vorhanden sein soll. So arm ich bin, hoffe ich doch immer, daß ich noch einmal die Aufmerksamkeit eines wunderschönen jungen Mädchens mit dunklen, märchenhaften, melancholischen Augen auf mich ziehen werde, die mindestens ein Vermögen von drei Millionen besitzt.«

 

»Nein, Sie verstehen nicht, wie ich es meine«, entgegnete Jimmy nachdenklich.

 

»Ich verstehe Sie nur zu gut. Glauben Sie, daß Sie niemand versteht, weil Sie auch an der Kinderkrankheit leiden, die alle einmal durchgemacht haben? Gehen Sie doch frischweg zu ihr hin und sagen Sie ihr, Sie lieben sie, und Sie können nicht anders, und Sie müssen sie heiraten.«

 

»Um Himmels willen, seien Sie jetzt ruhig«, sagte Jimmy aufgeregt. »Da kommt sie.«

 

Faith Leman ging durch die Hotelhalle, und Jimmy war wieder ganz bezaubert von ihr. Die Unannehmlichkeiten und Aufregungen der letzten vierundzwanzig Stunden hatten sie aber doch mitgenommen. Sie sah müde aus, und dunkle Schatten lägen unter ihren Augen. Selbst der alte, zugeknöpfte, zynische Blessington mußte zugeben, daß sie eine schöne Erscheinung war.

 

Plötzlich blieb sie regungslos stehen, als sie den Polizeibeamten sah, und errötete.

 

»Ich möchte Ihnen einen sehr guten Freund vorstellen, Faith. Mr. Blessington hat Sie zwar zuerst verhaftet, aber dann hat er den größten Teil der Nacht damit zugebracht, entlastendes Material für Sie herbeizuschaffen.«

 

»Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar, Mr. Blessington«, erwiderte sie und reichte ihm die Hand. »Aber es war ein entsetzliches Erlebnis für mich, und die Erinnerung daran …«

 

»Ich weiß es«, erwiderte der Polizeiinspektor. »Sie müssen einen bösen Schock erhalten haben, aber glauben Sie ja nicht, daß es mir Freude macht, hübsche junge Damen festzunehmen und in den Kerker zu werfen. Nein, ganz im Gegenteil.«

 

Sie gingen zusammen in den Speisesaal des Hotels und nahmen an einem reservierten Tisch Platz.

 

»Ich möchte Sie noch etwas fragen«, sagte der Inspektor.

 

Sie sah ihn argwöhnisch an.

 

»Ich hoffe, Sie sind nicht in amtlicher Eigenschaft hierhergekommen, um mich einem intensiven Verhör zu unterziehen?«

 

»Daran läßt sich leider nichts ändern. Sowohl Jimmy wie ich haben nun einmal einen Beruf, der uns zwingt, an alle möglichen Leute alle möglichen Fragen zu richten. Das ist der einzige Weg, Dinge ausfindig zu machen. Aber beruhigen Sie sich nur, ich werde nicht viele Fragen an Sie stellen. Nur drei brauchen Sie mir zu beantworten. Erstens: Hat Ihr Onkel Briefmarken im Hause gehabt?«

 

»Nein, das war auch so eine Eigenheit von ihm. Das Geld für Briefmarken tat ihm immer zu leid. Auf keinen Fall wollte er sich Marken auf Vorrat hinlegen. Wenn er einen Brief absenden wollte, mußte einer aus dem Haushalt zur Post gehen und bekam dann so viel Kleingeld mit, wie das Porto ausmachte.«

 

»Das stimmt ja mit seinem sonstigen Charakter vorzüglich überein. Nun kommt die zweite Frage: Sie haben doch Schreibmaterial für Ihren Onkel auf den Tisch gelegt. Haben Sie auch Briefumschläge dazugetan? Ich sah sie nämlich in seinem Zimmer.«

 

»Ja«, sagte sie und nickte.

 

»Haben Sie auch Tinte und Feder bereitgestellt?«

 

»Nein«, erwiderte sie, nachdem sie kurze Zeit nachgedacht hatte. »Nur einen Bleistift. Onkel hat selten mit Tinte geschrieben.«

 

»Gut. Und doch stand eine kleine Flasche Tinte bei dem Papier, als ich ins Zimmer ging. Und jetzt ergibt sich für uns eine weitere Frage. In dem Zimmer wurde ein Zettel gefunden, auf dem Ihr Onkel mit Bleistift etwas notiert hatte. Darauf stand auch der Name der ›Suevic‹, das ist ein Dampfer der White-Star-Linie. Weiterhin war der Hafen von Plymouth erwähnt, wo die Dampfer dieser Gesellschaft anlegen. Die ›Suevic‹ ist auf der australischen Route eingesetzt. Kennen Sie vielleicht jemand, der etwas mit Australien zu tun hat oder der Ihren Onkel gebeten hat, ihm hundert oder dreihundert Pfund zu leihen, um damit nach Australien reisen zu können? Dann stand auch noch eine Nummer auf dem Papier: 1 – 17941 –«

 

»Jetzt habe ich es!« rief Jimmy, der bis jetzt geschwiegen hatte, aufgeregt. »Sehen Sie den Zusammenhang noch nicht?«

 

Er erhob sich halb von seinem Stuhl. »Erinnern Sie sich nicht an das Aktenstück von Margaret Maliko? Sie haben doch ihre Karte im Archiv gesehen – das ist ihre Nummer im Strafgefängnis! Dahinter stand noch das Wort ›Gift‹ –«

 

Er sah Blessington erwartungsvoll an.

 

»Was hat das Wort ›Gift‹ zu bedeuten?« fragte er dann.

 

»Das ist die kurze Bezeichnung des Verbrechens, das Margaret Maliko begangen hat. Sie wurde zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt, weil sie ihren Mann mit Gift ums Leben gebracht hat.«

 

Jimmy holte tief Atem und sank in seinen Stuhl zurück.

 

»Dann war es also Margaret Maliko, die meinen Onkel besuchte?« fragte Faith entsetzt und starrte den Polizeiinspektor mit weitgeöffneten Augen an. »Und sie hat sich schon einmal einen Giftmord zuschulden kommen lassen! Dann muß sie doch die Täterin sein –«

 

Im Augenblick sprach alles dafür – aber die Annahme Miss Lemans stimmte nicht mit dem überein, was der Inspektor vermutete. Auch Jimmy war anderer Meinung.

 

»Blessington, ich kann es nicht recht glauben, daß diese Frau das Verbrechen begangen haben soll. Es ist wohl ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß sie eine der letzten Personen war, die ihn lebend sahen, aber nach allem, was wir wissen, ist sie doch in bestem Einvernehmen von dem alten Mann geschieden. Verstehen Sie denn noch nicht? Leman wollte sie fortschicken. Er half ihr, nach Australien zu gehen. Sie muß ihm etwas Wichtiges mitgeteilt haben, und dafür verlangte sie eine große Geldsumme. Wenn ich die Zahlen auf dem Papier richtig beurteile, hat sie mit ihm um die Höhe des Betrages gehandelt. Leman hat ihr hundert Pfund geboten und die Summe allmählich auf dreihundert Pfund erhöht. Und auch die Adresse war darauf vermerkt: ›Hauptpostlagernd, Melbourne.‹ Sie muß ihm Einzelheiten aus ihrem Leben erzählt haben – er hat ihre Nummer als Strafgefangene notiert. Die Zahl 20 bedeutet die zwanzigjährige Zuchthausstrafe – jetzt löst sich alles mit einmal spielend auf. Warum sollte sie ihn denn umbringen, wenn er ihr helfen wollte?«

 

Blessington biß sich auf die Lippen.

 

»In allem, was Sie gesagt haben, liegt ein gut Teil Wahrheit, aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. Es bleiben noch mehrere Lücken, die gefüllt werden müssen. Sie wäre nicht zu Leman gegangen, um ihr Geheimnis zu verkaufen, wenn sie nicht allen Grund gehabt hätte, sofort das Land zu verlassen. Vermutlich wollte sie das Geld dringend haben, und es ist sehr unwahrscheinlich, daß sie es sofort bekommen hat, denn Leman hatte niemals größere Summen im Haus. Habe ich recht, Miss Leman?«

 

Das junge Mädchen nickte.

 

»Onkel hat es immer vermieden, auch nur kleinere Beträge in der Wohnung aufzubewahren. Wenn er Geld brauchte, ging er zur Depositenkasse in der Oxford Street.«

 

»Die Unterredung zwischen den beiden fand zu einer so späten Stunde statt, daß die Banken schon geschlossen waren«, fuhr Blessington fort. »Sie konnte das Geld frühestens am nächsten Tag ausgezahlt erhalten. Warum sollte sie ihn also vergiften? Das wäre doch gar nicht in ihrem Interesse gewesen. Und warum sollte sie mit dem Vorsatz in seine Wohnung gekommen sein, ihn zu ermorden? Nein, die Erklärung des Mordes stimmt nicht.«

 

»Ach, das ganze Verbrechen ist entsetzlich und grauenhaft. Ich mag nichts mehr davon hören«, meinte Faith und schauderte zusammen.

 

»Aber es ist doch furchtbar interessant«, sagten Jimmy und Blessington zu gleicher Zeit.

 

Kapitel 13

 

13

 

Für den Rest des Tages stellte Jimmy auf eigene Faust Nachforschungen über den weißen Schrank aus dem Keller von Mr. Sands an. Der Polizei war es nicht gelungen, die Sache aufzuklären; sie hatte die Spur verloren, und man konnte nicht feststellen, auf welche Weise das Möbelstück aus London fortgeschafft worden war. Keiner der Beamten hatte auch nur eine Spur finden können. Selbst eine Umfrage bei den verschiedenen Spediteuren, die Lastautos verwendeten, hatte keinen Erfolg gehabt. Die Anzahl der in Betracht kommenden Firmen war so groß, daß die Polizei unmöglich alle Leute fragen konnte.

 

Die Verhandlung der Totenschau wurde vertagt. Blessington machte sich die günstige Gelegenheit zunutze und stellte während der Verhandlung ein paar Fragen an Mr. Sands.

 

»Sie wollen wissen, wo mein Landhaus liegt? Nun, das hat einen sehr hochtönenden Namen, ist aber nur eine bescheidene Villa in einem nicht allzu großen Garten. Es liegt an der Straße nach Brighton, und man kann es sehr leicht finden.«

 

Er sah den Polizeiinspektor sonderbar an.

 

»Wollen Sie mir vielleicht offen sagen, warum Sie sich so sehr für mein Privateigentum interessieren?«

 

»Ja, ich will ganz offen mit Ihnen sein, Mr. Sands«, erwiderte der Detektiv und lächelte. »Ich möchte noch einmal diesen weißen Schrank sehen, denn ich bin der Ansicht, daß die Einbrecher ihren Namen und ihre Adresse auf der glatten Oberfläche zurückgelassen haben.«

 

»Mit anderen Worten, Sie suchen nach Fingerabdrücken. Es tut mir sehr leid, daß ich den blutigen Flecken von der Wand entfernt habe, aber wenn Sie glauben, die Untersuchung des Schrankes könnte Ihnen weitere Anhaltspunkte geben, dann will ich Ihnen nichts in den Weg legen. Fahren Sie doch zu meinem Landhaus und lassen Sie sich das Möbelstück zeigen. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie hin.«

 

»Ich danke Ihnen für Ihr liebenswürdiges Angebot, aber ich habe selbst einen Wagen und werde damit hinfahren.«

 

Jimmy begleitete Blessington. Als sie ankamen, fanden sie das Haus doch etwas größer und stattlicher, als man nach den Worten von Mr. Sands hätte annehmen können. Es lag in einiger Entfernung von der Straße hinter großen Bäumen versteckt – ein altes, schönes Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, nicht allzu groß, aber sehr bequem und luxuriös eingerichtet. Ein Hausverwalter und seine Frau waren die einzigen Dienstboten, die die Besitzung in Ordnung halten mußten. Der Verwalter bestätigte auch sofort, daß ein weißgestrichener Schrank bei ihm abgeliefert worden sei.

 

»Ja, das Möbelstück wurde ziemlich spät gestern abend hergebracht. Ich hatte mich schon hingelegt und mußte noch einmal aufstehen. Übrigens hat es Mr. Sands persönlich hergeschafft. Ich weiß nicht, was an dem Schrank sein soll, er sieht recht gewöhnlich aus. Aber Mr. Sands machte viel Umstände damit; es lag ihm daran, daß der Schrank hier eingestellt wurde, da er für ihn einen ziemlichen Wert repräsentiere. Ich habe mich schon darüber gewundert, warum er das Stück nicht als Frachtgut hierhergehen ließ. Das habe ich auch zu meiner Frau gesagt.«

 

»Gestern abend spät wurde der Schrank also bei Ihnen abgeliefert?« fragte Jimmy nachdenklich. »Er ist doch in aller Frühe von London fortgeschickt worden. Ein etwas sehr langer Transport! Nun, sehen wir uns dieses seltsame Stück einmal an.«

 

Der Verwalter führte sie zum Arbeitszimmer. Alle Möbel waren mit Bezügen versehen, und in der einen Ecke stand auch der weiße Schrank. Es war ein einfaches Möbelstück, aber Blessington und Jimmy betrachteten es eingehend.

 

»Waren Sie hier in dem Zimmer, als er hereingebracht wurde?«

 

»Ja.«

 

»Haben Sie gesehen, wie der Schrank geöffnet wurde?«

 

»Jawohl«, erwiderte der Verwalter erstaunt.

 

»Was, er wurde in Ihrer Gegenwart aufgemacht?« fragte Jimmy.

 

Das widerlegte allerdings die Annahmen, die sich die beiden unabhängig voneinander gebildet hatten.

 

»Was war denn darin?« fragte der Polizeiinspektor.

 

»Nichts. Es war genauso, wie Sie ihn jetzt vor sich sehen.«

 

Der Verwalter drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür. Das Innere war vollkommen glatt, ohne die geringsten Zeichen von Gebrauch. Wenn Mrs. Leman freiwillig oder unfreiwillig in dem Schrank versteckt gewesen war, konnte man jedenfalls keine Spur davon finden.

 

»Nun, damit sind wir geschlagen«, sagte Jimmy enttäuscht.

 

»Was dachten Sie denn?« fragte Blessington.

 

»Wahrscheinlich dasselbe wie Sie. Schließen Sie die Tür, ich möchte mir das Stück noch einmal genauer ansehen.«

 

Diesmal gab er sich mehr Mühe, und als er fertig war, nahm er Blessington am Arm und verließ mit ihm das Zimmer.

 

»Donnerwetter, beinahe hätte ich mich hinters Licht führen lassen!«

 

»Ja, ich weiß auch nicht, was ich sagen soll«, entgegnete der Detektiv verwundert. »Haben Sie etwas herausbekommen?«

 

»Das ist doch gar nicht der Schrank, der unten im Haus von Mr. Sands stand!«

 

»Woher wollen Sie denn das wissen?«

 

»Aus einem sehr guten Grund. Unser Freund hat doch einen Pfeil auf mich abgeschossen. Der flog dicht an meinem Kopf vorüber und blieb in der Tür des Schrankes stecken. Ich habe nun die Oberfläche genau untersucht, es läßt sich aber keine Stelle finden, an der der Pfeil eingedrungen sein könnte.«

 

»Wissen Sie denn genau, daß der Pfeil ins Holz eindrang?«

 

»Ob er steckenblieb, weiß ich nicht. Jedenfalls muß aber die Metallspitze des Pfeils gegen die Türfläche geprallt sein, und dabei wurde die glatte Farbschicht irgendwie verletzt. Ich hörte doch, daß der Pfeil dagegenschlug.«

 

»Ja, das stimmt, ich habe es auch gehört«, pflichtete der Detektiv bei. »Sie haben recht, der Pfeil muß irgendwo gelandet sein. Und da Sie vor dem Schrank standen, bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn Sands tatsächlich das ist, wofür wir ihn halten, hat er natürlich vorausgeahnt, daß wir nach dem Verbleib des Schrankes forschen würden. Deshalb ist er einfach fortgegangen und hat einen anderen gekauft. Die Tatsache, daß dieses Möbelstück erst spät gestern abend ankam, ist genügend Beweis dafür. Dieser Sands ist ein schlauer Kerl – er beschafft sich immer gleich im voraus ein Alibi. Den Tag haben wir tatsächlich verloren.«

 

»Das würde ich noch nicht sagen«, meinte Jimmy, der sich auf der Rückseite eines Briefes eifrig Notizen machte.

 

»Für Sie mag es allerdings verlorene Zeit gewesen sein, denn Sie wollen ja keine Millionengeschichte darüber schreiben.«

 

*

 

Es war schon spät am Abend, als sie zur Stadt zurückfuhren, aber als sie ankamen, wurde Blessington in Scotland Yard ein Telegramm überreicht. Die beiden hatten sich in der Stadt getrennt; Jimmy war zu seinem Hotel zurückgegangen, wo er noch auf seinem Zimmer arbeitete. Man hörte von draußen das unermüdliche Klappern seiner Schreibmaschine, und als Blessington eintrat, sah er, daß der Boden über und über mit Schreibpapier bedeckt war.

 

»Jimmy, seien Sie jetzt endlich vernünftig und jagen Sie nicht immer so hinter dem schnöden Mammon her! Hören Sie zu, ich habe eine Neuigkeit. Der Brief wurde in Marseille angehalten. Eben erhielt ich ein Telegramm von der dortigen Polizeidirektion, in dem man mir mitteilte, daß der Brief tatsächlich abgefangen worden ist und uns als Einschreiben zugehen wird. Er muß übermorgen in London eintreffen. Ich habe telegrafisch verschiedene Instruktionen nach Marseille durchgegeben, aber ich weiß nicht, ob man sich dort danach gerichtet hat.«

 

Jimmy lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nickte.

 

»Wenn wir den Brief haben, kommen wir sicher ein gutes Stück weiter. Wie steht es aber mit Sands?«

 

»Ich habe Befehl gegeben, ihn ständig zu beobachten. Wir lassen ihn nicht mehr ohne weiteres umherlaufen, bis wir den Fall aufgeklärt haben. Es ist allerdings möglich, daß wir ihm ein großes Unrecht antun. Und wie sieht es denn hier aus? Hat Miss Leman ihre Rechtsanwälte heute aufgesucht?«

 

Jimmy nickte und machte ein trauriges Gesicht.

 

»Sie hat sowohl englische als auch amerikanische Anwälte aufgesucht, aber alle haben übereinstimmend erklärt, daß Lemans ganzes Vermögen an seine Frau ginge, da er verheiratet war und ohne Testament starb. Es ist ganz gleich, welche Verbrechen sie auch begangen haben mag. Es hat auch keinen Zweck, die Rechtmäßigkeit der Ehe anzuzweifeln. Sie hat zwar einen falschen Namen angegeben, und es ist auch möglich, daß die beiden sagten, sie seien in Griddelsea ansässig, um in so kurzer Zeit heiraten zu können. Aber das sind alles Gründe, mit denen man eine Nichtigkeitsklage nicht durchbringen kann. Es bedeutet nur, daß sich einer oder beide schuldig gemacht haben und deshalb bestraft werden können. Der alte Leman ist aber tot, und bei ihr machen ein paar Tage Gefängnis mehr oder weniger nichts aus. Das ist die rechtliche Lage«, erklärte Jimmy gutgelaunt.

 

»Dann steigen also Ihre Chancen, Jimmy«, sagte Blessington ironisch. »Sie scheinen ja sehr vergnügt zu sein.«

 

Warum sollte ich denn nicht vergnügt sein? Natürlich tut es mir furchtbar leid, daß sie das Vermögen verliert, aber dadurch gewinne ich. Und ich weiß wirklich nicht, was ich in ihrem Interesse wünschen soll.«

 

»Verliebtheit«, erklärte Blessington ernst, »ist eine der schlimmsten Krankheiten. Man könnte fast in Versuchung kommen, derartig verliebte Leute ins Irrenhaus zu stecken!«

 

»Machen Sie die Tür von außen zu«, erwiderte Jimmy höflich. »Sie stören mich hier in Ausübung meiner literarischen Tätigkeit.«

 

Nachdem Blessington gegangen war, arbeitete er noch eine halbe Stunde weiter, dann sammelte er die Bogen von der Erde auf und schloß sie in einer Schublade ein. Nachdem er seinen Rock angezogen hatte, ging er den Korridor entlang, bis er zu dem Raum kam, den Faith als Wohnzimmer innehatte. Als er klopfte, kam sie an die Tür.

 

»Ich bin müde von der Arbeit«, sagte er. »Wollen wir noch einen kurzen Spaziergang machen?«

 

Draußen war es warm, und die Sterne funkelten am Himmel. Selbst die kleinen Anlagen mitten in dem großen Steinmeer Londons atmeten Frieden und Ruhe.

 

Lange Zeit gingen die beiden schweigend nebeneinander her, bevor Jimmy zu sprechen begann.

 

»Faith, sind Sie davon überzeugt, daß die Rechtsanwälte sich nicht irren?«

 

»Ja, Jimmy. Aber warum fragen Sie?« entgegnete sie erstaunt. »Die Antwort, die ich erhielt, war so klar und präzise wie nur irgend möglich. Die Bestimmungen im amerikanischen Erbrecht sind fast genau dieselben wie in England. Ich habe überhaupt keine Möglichkeit, auch nur auf einen Teil der Erbschaft zu klagen, und ich möchte von dem Geld auch nichts anrühren. Nur meine Mutter macht mir Sorgen. Wenn mein Onkel ihr wenigstens eine kleine Rente ausgesetzt hätte!«

 

»Also sind Sie wirklich ohne Vermögen?«

 

»Ja, Jimmy. Das habe ich Ihnen doch schon so oft gesagt. Warum fragen Sie mich denn immer wieder?«

 

Jimmy versuchte zu sprechen, aber er war nicht dazu imstande. Erst nach einiger Zeit räusperte er sich umständlich, aber als er sprach, klang seine Stimme immer noch heiser.

 

»Faith, ich glaube, daß ich bald sehr viel Geld verdienen werde. Holland Brown wird mir ja nicht gerade eine Million Dollar für die Aufklärung des Verbrechens zahlen, aber immerhin wird es schon eine runde Summe werden. Abgesehen davon habe ich auch selbst etwas Vermögen, und ich kann bestimmt ein paar hundert Dollar in der Woche verdienen, wenn ich erst richtig in Fahrt bin.«

 

»Ja, Jimmy?« erwiderte sie in einem Ton, als ob sie über eine Sache sprächen, für die sie sich notgedrungen interessieren müßte.

 

»Faith, Sie haben mir neulich einmal gesagt, daß Sie mich nicht liebten, und offen gestanden glaube ich auch, daß Sie mich überhaupt nicht lieben.«

 

»Wie kommen Sie nur auf den Gedanken, daß ich Sie überhaupt nicht liebe?« fragte sie unlogischerweise.

 

»Sie sagten doch … Es scheint einfach nicht möglich zu sein.«

 

»Sie meinen, daß ich Sie liebe?« fragte sie naiv. »Jimmy, es ist nicht nett, daß Sie so etwas sagen.«

 

»Ich wollte es Ihnen doch nur erklären«, erwiderte er und wurde über und über rot. »Es ist doch ganz klar, daß Sie einen Mann wie mich nicht gern haben können.«

 

»Warum nicht? Ich halte Sie für einen lieben und guten Charakter, und wenn ein junges Mädchen einen solchen Mann nicht mag, dann ist das ein großes Armutszeugnis für sie selbst.«

 

Jimmy wurde es heiß; er konnte kaum noch sprechen. Er empfand es als unfair, jetzt die Lage auszunützen, und er war sehr böse auf sich, daß er sich plötzlich selbst in eine Situation gebracht hatte, in der er nicht mehr ein noch aus wußte.

 

»Faith«, brachte er schließlich hervor, »ich meinte vorhin nicht nur gern haben, sondern heiß und aufrichtig lieben. Ich meinte, daß Ihre Liebe stark genug wäre, mich zu heiraten.«

 

»Ja, Jimmy«, sagte sie leise.

 

»Sehen Sie, das meine ich«, fuhr er fort und bekam Mut, als er sah, daß sie verlegen wurde.

 

»Ich meine eine solche Liebe, die zur Ehe führt.«

 

Es folgte eine lange Pause.

 

»Also nehmen wir einmal an, daß sie – ihn liebt«, erwiderte sie schließlich. »Ist sie dann auch verpflichtet, ihm einen Heiratsantrag zu machen?«

 

Jimmy wußte sich im Augenblick nicht zu helfen.

 

»Nein, das nicht«, sagte er endlich. »Wenn Sie mich lieben, dann sagen Sie nur: Jimmy, ich will es versuchen.«

 

»Wann soll ich das sagen?«

 

»Ich meine, wenn ich Sie bäte, mich zu heiraten, weil ich Sie mehr liebe als alles andere auf der Welt, dann müßten Sie sagen –«

 

Sie legte beide Hände auf seine Schultern.

 

»Aber warum sagst du es mir nicht gleich?« flüsterte sie. »Fällt es dir denn so schwer?«

 

Jimmy nahm sie glückstrahlend in die Arme …

 

Eine Stunde später fand der junge Mann wieder zur harten Wirklichkeit zurück, als er beinahe von einem Taxi überfahren worden wäre.

 

»Ach, es ist alles so herrlich!« sagte sie. »Ich weiß immer noch nicht, ob ich wache oder träume … Aber Jimmy, glaubst du nicht, daß ich dich in deinem Beruf stören werde?«

 

»Du sollst mich stören?« erwiderte Jimmy begeistert. »Faith, deine Liebe macht mich glücklicher, als ich jemals war, und ich freue mich ja so sehr – daß du die Erbschaft nicht bekommst, sonst hätte ich niemals den Mut gefunden, dir einen Antrag zu machen.«

 

Sie drückte seinen Arm fest an sich.

 

»Ich habe schon gefürchtet, daß du es nicht tun würdest, und der Gedanke war mir so peinlich, daß ich es dir sagen müßte. Aber wenn nichts übriggeblieben wäre, hätte ich es trotzdem gewagt.«

 

Jimmy sagte nichts mehr. Er war sehr glücklich.

 

Kapitel 14

 

14

 

»Hallo, Jimmy.«

 

Der Journalist saß behaglich auf einer Bank im Hyde Park und nahm eben den Hut ab. Dann sah er sich nach dem Mann um, der ihn anrief. Er sah nur noch eine Hand, die ihm aus einem Auto zuwinkte und einen grauen Filzhut schwenkte, außerdem das Ende einer langen Zigarre. Aus all diesen Anzeichen schloß er, daß es niemand anders sein konnte als Holland Brown. Das Auto bremste, der Zeitungsmagnat lehnte sich über den Rand des Wagens und streckte Jimmy die Hand entgegen.

 

»Es ist ja alles im Fluß«, sagte er. »Ich bin Ihnen äußerst dankbar, daß Sie die ersten Nachrichten vom Selbstmord des alten Leman an mich geschickt haben. Aber was steckt denn dahinter?«

 

Jimmy zwinkerte ihm zu.

 

»Neun Kapitel meiner Millionengeschichte haben sich schon abgespielt, Mr. Brown. Ich weiß nur noch nicht, in welchem Kapitel ich die Enthüllung bringen soll.«

 

Holland Brown war trotz seiner äußeren Ruhe und Behaglichkeit doch ein sehr tüchtiger Zeitungsmann. Er hatte sich von unten emporgearbeitet und kannte das Zeitungsgeschäft. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und sah Jimmy durchdringend an.

 

»Ich habe tatsächlich das Gefühl, daß Sie dabei sind, eine Millionengeschichte zu schreiben. Selbstmord kann das nicht sein.«

 

»Lesen Sie später in Kapitel sechs nach, wenn Sie die Geschichte bekommen.«

 

»Sollte ich in Paris sein, wenn Sie Ihre Geschichte beenden, dann schicken Sie sie mir nicht zu. Senden Sie mir nur ein Telegramm, dann komme ich sofort im Flugzeug nach London, Ich werde Ihnen natürlich nicht eine Million Dollar dafür zahlen, denn ich will nicht haben, daß mich die Leute für verrückt halten, aber auf ein glänzendes Honorar können Sie rechnen.«

 

»Schön, ich werde meine Rechnung danach einrichten, Mr. Brown.«

 

»Kann ich etwas tun, um Ihnen zu helfen?«

 

Jimmy dachte einen Augenblick nach.

 

»Ist Mrs. Brown in Paris?«

 

»Nein, sie ist im Augenblick in London, und zwar mit unseren beiden Töchtern. Aber warum fragen Sie?«

 

»Sehen Sie, es ist eine junge Dame in diesen Fall verwickelt.«

 

»Ach, meinen Sie die Nichte des alten Leman? Aber warum werden Sie denn so furchtbar rot, Jimmy? Sie wollen doch nicht etwa die Millionengeschichte heiraten?«

 

»Nein, selbstverständlich heirate ich nicht die Geschichte«, erwiderte Jimmy. »Aber ich wäre Mrs. Brown sehr zu Dank verpflichtet, wenn sie sich Miss Lemans annehmen würde. Sie steht ganz allein in London und hat kaum Damenbekanntschaften.«

 

»Ich werde das Auto zu ihrer Wohnung schicken. Wo ist sie augenblicklich? Meiner Frau wird es Freude machen, ihr zu helfen.«

 

Plötzlich sah er Jimmy an.

 

»Ist das Mädchen am Ende irgendwie in Gefahr?« fragte er schnell.

 

Jimmy nickte.

 

»Ich weiß nicht, was es ist, und ich kann auch keine Gründe dafür angeben, aber ich habe das Gefühl, daß sie sich in großer Gefahr befindet. Hier ist ihre Adresse.«

 

Er schrieb sie auf ein Blatt seines Notizbuches und gab es seinem früheren Chef.

 

»Heute nachmittag um zwei werde ich den Wagen schicken ist es so recht? Meine Frau oder auch meine Töchter werden sie im Hotel abholen.«

 

Jimmy schüttelte Brown dankbar die Hand und setzte sich beruhigt wieder auf seine Bank. Den Morgen hatte er gut verbracht. Eine der Hauptschwierigkeiten, die ihm Sorge bereiteten, war nun aus der Welt geschafft.

 

Er mußte zu Faith gehen, ihr erzählen-, was er getan hatte, und vor allem ihre Einwilligung einholen. Es gab noch eine Menge zu tun; außerdem hatte er eine Verabredung zum Mittagessen mit Blessington. Und er wußte, daß er viel ruhiger und besser arbeiten konnte, wenn sich Faith in Sicherheit befand. Er fuhr sofort mit einem Taxi zum Hotel und schickte einen Pagen zu ihrem Zimmer. Aber der kam zurück und sagte ihm, die junge Dame sei vor einer halben Stunde ausgegangen. Er wartete, bis es Zeit war, zu Tisch zu gehen, und bat Blessington dann telefonisch, zu ihm ins Hotel zu kommen. Aber als der Inspektor in die Hotelhalle trat, war Faith immer noch nicht angekommen.

 

»Vielleicht speist sie außerhalb?« meinte er.

 

Jimmy schüttelte den Kopf.

 

»Sie hat mir ausdrücklich versprochen, mich vor dem Essen zu treffen, und ich weiß, daß sie ihre Verabredung mit mir unter allen Umständen einhalten wird – besonders unter den jetzigen Umständen«, fügte er hinzu.

 

Blessington fragte nicht, was Jimmy damit meinte, aber er erriet, was es zu bedeuten hatte.

 

»Haben Sie etwas Neues erfahren?« fragte Jimmy.

 

»Ich sammle Material, damit Sie eine schöne Geschichte schreiben können. Der eingeschriebene Brief muß übrigens morgen hier eintreffen. Allem Anschein nach hat jemand von London aus Sands‘ Agenten in Marseille ebenfalls telegrafisch angewiesen, den Brief in Empfang zu nehmen. Die Polizei hat den Betreffenden sofort verhaftet, aber das geschah so spät, daß er die Möglichkeit hatte, vorher noch entsprechend nach London zu telegrafieren. Die französische Polizei ist überhaupt furchtbar langweilig. Es dauert eine Ewigkeit, bis die sich in Bewegung setzt. Als sie dann den Mann schließlich hinter Schloß und Riegel hatten, war das Unglück schon geschehen. Er verweigert jede Aussage darüber, wer sein Auftraggeber hier in London ist. Aber das macht ja weiter keine Schwierigkeiten, denn ich weiß es.«

 

»Ist es bestimmt Sands?«

 

Blessington nickte.

 

»Das unterliegt nicht dem geringsten Zweifel.«

 

»Haben Sie noch etwas Neues von Margaret Leman gehört?«

 

»Nein. Die Polizei in Marseille hat telegrafiert, daß sie dort nicht anwesend sei. Sie ist auch in keinem Hotel an der Riviera als Gast eingetragen. Wir können ohne weiteres annehmen, daß sie England niemals verlassen hat – vielleicht ist sie überhaupt nicht von London fortgekommen.

 

Ich möchte Sie übrigens noch warnen, Jimmy. Ich erzähle Ihnen das nicht etwa, um Sie unnötig zu erschrecken, aber sorgen Sie vor allem dafür, daß Ihre Freundin nicht in Gefahr gerät.«

 

»Was meinen Sie damit?«

 

»Wenn sie von ihren Einkäufen heute vormittag zurückkehrt, darf sie unter keinen Umständen mehr ausgehen, ganz gleich, wer sie einlädt. Auch nicht zu Theater, Konzert oder anderen Veranstaltungen, die junge Damen ohne Begleitung besuchen.«

 

»Sie haben mir noch nicht alles gesagt. Was halten Sie zurück, Blessington?«

 

»Gut, ich werde es Ihnen sagen«, erwiderte der Polizeiinspektor leise. »Ich habe unserem Agenten in Marseille den Auftrag gegeben, den Brief zu öffnen und mir den Inhalt telegrafisch mitzuteilen.«

 

Jimmy fragte nicht, aber sein Herz schlug schneller, und er wußte bereits, daß neue Unannehmlichkeiten und Sorgen für ihn auftauchen würden.

 

»Das Dokument, das der Brief enthielt«, fuhr Blessington fort, »ist ein Testament, das Harry Leman am Abend vor seiner Ermordung ausgefertigt hat. Und er hat darin sein ganzes Vermögen ohne Einschränkung seiner Nichte vermacht.«

 

Jimmy taumelte zurück, als ob er einen Schlag erhalten hätte.

 

»Sie wollen mich doch nur zum besten halten«, sagte er heiser.

 

»Durchaus nicht. Das steht im Testament. Und was noch wichtiger ist, die Urkunde ist von Margaret Leman gegengezeichnet.«

 

»Aber – aber«, stammelte Jimmy.

 

Der Inspektor schüttelte den Kopf.

 

»Was das alles zu bedeuten hat, kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Ich kann es nicht einmal vermuten. Sie sind der einzige, der diese merkwürdige Unterhaltung rekonstruieren kann, die an dem Abend vor Lemans Tod stattfand.«

 

»Ein Testament! Dann wird Faith also doch noch eine reiche Frau?«

 

Jimmy fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

 

Blessington sah, daß die Nachricht den jungen Mann mehr mitnahm, als er ursprünglich geglaubt hatte. Aber schließlich faßte sich Jimmy wieder.

 

»Ich kann natürlich nur Vermutungen aufstellen, aber ich denke mir den Hergang folgendermaßen: Aus Gründen, die wir noch erfahren werden, ging Margaret Maliko zu Lemans Haus. Allem Anschein nach war er nicht ihr Gatte, sonst hätte sie das Testament überhaupt nicht unterschrieben. Wahrscheinlich hat sie ihm alles eingestanden und als Gegenleistung von ihm verlangt, daß er sie in Sicherheit bringen sollte. Vermutlich hat sie Australien vorgeschlagen. Leman hat doch den Namen eines Schiffs aufgeschrieben, ebenso das Abfahrtsdatum und die Summe, die für die Reise notwendig war. Ich nehme an, daß sie ihm den Plan zu seiner Ermordung aufgedeckt hat, und ihre Mitteilung brachte ihn in solche Bestürzung, daß er kurz vor Toresschluß doch noch ein Testament machte, um die Intrigen der Gegenseite zu durchkreuzen und die anderen daran zu hindern, sich sein Geld anzueignen.«

 

»Es hängt alles zusammen«, stimmte Blessington zu. »Glauben Sie, daß die Frau im Haus war, als das Verbrechen begangen wurde? Um ein Verbrechen handelt es sich doch zweifellos.«

 

Jimmy nickte.

 

»Lassen Sie mich die Sache aufschreiben. Ich kann viel klarer denken, wenn ich eine Feder in der Hand habe.«

 

Er trat an einen Schreibtisch und bedeckte einen Bogen nach dem anderen mit seiner großen, klaren Schrift. Aber während er arbeitete, hatte er ständig das ungewisse Gefühl, daß ihm schweres Unglück drohte. Ja, er hatte im Unterbewußtsein die Empfindung, daß Faith in Gefahr war. Aber trotzdem fesselte ihn seine Arbeit so sehr, daß seine Feder geradezu über das Papier flog. Und nach und nach gelang es ihm, die Millionengeschichte zu rekonstruieren. Der Polizeiinspektor hatte auf einem Stuhl neben ihm Platz genommen. Seine Aufmerksamkeit teilte sich zwischen dem eifrig arbeitenden Jimmy und der Schwingtür, die jeden Augenblick in Bewegung gesetzt wurde. Faith Leman war immer noch nicht zurückgekehrt.

 

»So, jetzt habe ich alles ausgearbeitet«, sagte Jimmy schließlich. »Die Trauung war nur eine Schiebung; eine Verheiratung Harry Lemans hat gar nicht stattgefunden, das wurde von John Sands nur so hingestellt. Er hat den ganzen Plan ausgedacht und zur Durchführung gebracht. In der Strafgefangenen, die ihm in den Weg kam, sah er die Frau, die er derartig unter Druck halten konnte, daß sie alles tat, was er wollte. Die konnte nicht zur Polizei gehen und ihn anzeigen! Ob er gleich von Anfang an die Absicht hatte, Leman zu ermorden, oder ob er nur hoffte, daß der Millionär bald eines natürlichen Todes sterben würde, ist im Augenblick gleichgültig. Die Hauptsache ist, daß er eine Frau hatte, die er als Mrs. Leman ausgeben konnte. Ja, und – zum Donnerwetter, jetzt weiß ich es!« rief Jimmy plötzlich. »Sands hat sie geheiratet, nicht Leman!

 

Es ist ihm gelungen, Leman für einen Tag unter irgendeinem Vorwand aus der Stadt zu locken, und von all den Standesbeamten in England hat er sich den ausgesucht, der nicht mehr lange leben konnte. Dazu gehörten natürlich unendlich langwierige Nachforschungen, aber Sands hat eine unheimliche Geduld bei der Sache bewiesen. Margaret Leman ist in Wirklichkeit Margaret Sands!«

 

Der Polizeiinspektor nickte.

 

»Fahren Sie nur fort! Was ist sonst noch passiert?«

 

»Es klappt alles vorzüglich! Leman starb an demselben Tag, an dem ich seine Trauungsurkunde ausfindig gemacht hatte. Sands wußte, daß ich die Absicht hatte, den alten Mann zu besuchen, und damit ging sein Plan in die Brüche. Er hatte den Mord geplant – aber noch viel mehr, er hatte von vornherein für ein Alibi gesorgt und alles so eingerichtet, daß der Verdacht auf einen anderen fallen mußte. Sands hatte Faith die kleine Flasche mit Blausäure geschickt! Ich erinnere mich jetzt, daß sie mir erzählte, sie hätte mit Sands über einen Fleck in ihrem Kleid gesprochen. Jetzt wird alles klar, Blessington. Sands ging mit mir zur Wohnung in der Davis Street, aber er ging zuerst allein –«

 

Blessington sprang auf.

 

»Selbstverständlich haben Sie recht. Ich habe mich auch täuschen lassen. Harry Leman hatte doch die Gewohnheit, zwei Likörgläser voll Kognak einschenken zu lassen, eins für sich selbst, das andere für seinen Freund. Sicherlich würde er nicht einen Kognak für einen Gast haben eingießen lassen, wenn er wußte, daß der ihm nach dem Leben trachtete. Faith hatte natürlich keine Ahnung, um was es sich bei dem Besuch von Sands handeln würde. Sie wußte nur, daß er wie gewöhnlich um acht Uhr ihren Onkel besuchen würde. Deshalb hatte sie beide Gläser eingeschenkt.

 

Sands hat Sie unten allein gelassen und ist die Treppe hinaufgegangen, um mit Leman zu sprechen. Der alte Millionär hat sich zunächst wohl nichts anmerken lassen, um Sands nicht vorzeitig zu warnen. Der ging aber gleich zu dem kleinen Büfett, das an der Wand stand, und es gelang ihm, unbemerkt die Blausäure in Lemans Glas zu schütten. Dieses bot er ihm dann an.«

 

Der Polizeiinspektor hielt einen Augenblick inne und überlegte, ob er in seine Schlußfolgerung alles einbezogen hatte, und Jimmy erzählte weiter.

 

»Es wäre ja möglich gewesen, daß Leman zögerte. Auf jeden Fall hatte er dann aber das Glas geleert und ist ein paar Sekunden darauf zu Boden gestürzt. Entweder war er sofort tot, oder er lag in den letzten Zügen. Sands hat ihn aufgehoben und aufs Sofa gelegt. Um Leman nicht stutzig zu machen, hatte er zuerst auch ausgetrunken. Das hätte ihn natürlich verraten können. Er wußte aber, wo die Kognakflasche aufbewahrt wurde, nahm sie heraus und füllte sein Glas aufs neue. Aber nun kommt der Fehler: Er hat die Flasche auf dem Büfett stehenlassen.«

 

»Meinen Sie, er wußte nicht, daß die Frau zugegen war und sich im anderen Zimmer befand?«

 

»Ja, sie muß in dem kleinen Zimmer gewesen sein, das man durch die Tür hinter dem Sofa erreichen kann«, erwiderte Jimmy schnell. Wahrscheinlich war sie Zeugin der Unterhaltung. Sie muß alles gehört haben, was Sands und Leman vor dessen Tod noch miteinander sprachen.«

 

»Wo mag sie jetzt wohl sein?« fragte der Inspektor. Jimmy schüttelte nur den Kopf, erhob sich ein wenig ungeduldig und sah auf die Uhr.

 

»Blessington, ich habe das Gefühl, daß wir hier unsere Zeit vergeuden. Faith Leman müßte doch längst wieder ins Hotel zurückgekommen sein – es ist halb zwei!«

 

»Vielleicht hat sie in der Stadt jemand getroffen«, versuchte Blessington ihn zu beruhigen, obwohl er das selbst für sehr unwahrscheinlich hielt. »Es hat keinen Zweck, Aufsehen zu erregen. Wir wollen doch vor allem Miss Leman nicht lächerlich machen.«

 

»Besser lächerlich als tot«, entgegnete Jimmy erregt und ging zur Tür.

 

Kapitel 1

 

1

 

John Sands hatte unbegrenztes Vertrauen zu den Sternen, und als gewissenhafter, methodischer Mann wählte er schon frühzeitig Bellatrix zu seinem Schutzstern, den die Gelehrten auch als »Gamma Orionis« bezeichnen.

 

Aber weder das Sternbild des Orion noch Bellatrix waren am Himmel zu sehen, als John in seinem eleganten Wagen die scharfe, gefährliche Kurve bei Whitecross Hill nahm. Seit drei Tagen regnete es, graue Wolken hingen über ihm, und die Straße war glatt und glitschig. Selbst der beste Gleitschutz hätte ihm nicht geholfen, wenn er auch um nur einige Zentimeter vom Fahrdamm abgewichen wäre.

 

Aber John Sands vertraute nicht nur seinem Stern, sondern auch seinem eigenen Können – und er war ein äußerst geschickter Fahrer. Mit der einen Hand hielt er das Steuer, mit der anderen die Handbremse. Er war gewarnt worden; man hatte ihm gesagt, daß dieser kurze Weg den Hügel hinunter bei Regen für einen Wagen unpassierbar wäre. Aber lächelnd hatte er den guten Rat der anderen zurückgewiesen, denn sein Glaube an Bellatrix war unerschütterlich.

 

Er baute gern Luftschlösser und liebte es, von zukünftigen Erfolgen zu träumen. Sogar während dieser gefahrvollen Fahrt hing er seinen sonderbaren Gedanken nach.

 

Vielleicht würde er sie tatsächlich treffen? Es war allerdings eine phantastische Idee, aber in seinen Träumen ereigneten sich manchmal die unglaublichsten Dinge. Und hatte er nicht, nur um der Frau zu begegnen, diesen kurzen, aber äußerst gefährlichen Weg gewählt? Vielleicht würde sich seine Hoffnung erfüllen, und er würde sie sehen. Dann wollte er auf sie zugehen, sie bei der Hand nehmen und sagen: Ich kenne Sie. Sie müssen mit mir kommen, ich will Sie nach London zurückbringen.

 

Er wußte nicht, wie sie aussah, und doch träumte er von ihr. Wahrscheinlich würde sie blaß und furchtsam sein und zurückschrecken, wenn er auf sie zukam. Mit weitgeöffneten Augen würde sie ihn anstarren, und Furcht und Hoffnung würden in ihren Gesichtszügen um die Oberhand kämpfen. Aber wer sagte ihm denn, daß seine Träume sich verwirklichen würden? Vielleicht war sie auch klein und korpulent und unglaublich häßlich und gemein. Aber solche Personen hatten natürlich mit Johns Träumen nichts zu tun. Sie hatten kein Recht, seine Phantasie zu beschäftigen. Die Frauen seiner Träume waren alle schön und zeichneten sich durch Haltung und Charakter aus.

 

Am Fuß des Hügels wurde er etwas unsanft aus seinen Träumen gerissen, denn das Benzin war ausgegangen, und der Wagen stand still. John stieg aus. Bis jetzt hatte er mollig gesessen, aber nun schlugen ihm die Regentropfen ins Gesicht. Er suchte nach einer Kanne Benzin, um den Tank aufzufüllen, setzte sich dann wieder ans Steuer und fuhr nach der Great North Road.

 

Trotz dieser unangenehmen Unterbrechung sang er vergnügt, während er die nächste Anhöhe nahm. Und wieder träumte er von vielen herrlichen Dingen in der Zukunft. Er war davon überzeugt, daß er die Frau finden würde. Vielleicht lag sie erschöpft am Wege. Dann würde er aus dem Wagen springen, sie in die Arme nehmen und in Sicherheit bringen, in eine warme Wohnung, wo sie nicht zu frieren brauchte und nicht den Unbilden des Wetters ausgesetzt war. Allmählich würde sie wieder zu sich kommen, verwirrt um sich sehen und…

 

Plötzlich hielt er seinen Wagen an. Sein Herz schlug auf einmal schneller.

 

Unter einem Baum stand sie, dicht an den Stamm gelehnt, um Schutz vor dem strömenden Regen zu suchen. Vielleicht hätten andere Leute sie nicht gesehen, aber Johns Augen waren scharf, und er entdeckte sie trotz ihres dunklen Kleides, das sich kaum von der Umgebung abhob.

 

Noch bevor er sie ansprach, sagte ihm sein Gefühl, daß sie es sein müsse. Es lag eine gewisse Schönheit über ihrem bleichen Gesicht, so daß seine Träume tatsächlich in Erfüllung gingen. Sie trug weder Schirm noch Mantel, und ihr schwarzes Kleid war vollkommen durchnäßt. Der Filzhut hatte die Form verloren, und ihre schwarzen Glacéhandschuhe zeigten helle Flecken, als ob sie mit dem Lehmboden in Berührung gekommen wären.

 

Sie richtete sich auf und warf den Kopf zurück. Offenbar nahm sie alle ihre Energie zusammen. Ihr Blick war haßerfüllt, ihre Lippen zitterten, aber sie brachte zunächst kein Wort heraus.

 

John Sands hatte den Hut abgenommen. Er war in einer so glücklichen Stimmung über diese unverhoffte Begegnung, daß er all die schönen Worte vergaß, die er sich vorher überlegt hatte.

 

»Ich glaube, ich kenne Sie. Ich habe dort unten von Ihnen gehört«, begann er und wies mit dem Kopf nach dem Hügel.

 

Sie sah hilflos und verzweifelt aus und schien krampfhaft zu überlegen, ob es nicht einen Ausweg für sie gäbe.

 

»Rühren Sie mich nicht an«, sagte sie atemlos und streckte die Hände aus. »Nein, ich will nicht…! Ich gehe unter keinen Umständen zurück – lieber will ich sterben!«

 

Er legte die Hand auf ihren Arm und klopfte ihr freundlich auf die Schultern.

 

»Die Leute unten im Gasthaus haben über Sie gesprochen, und ich habe ihre Unterhaltung gehört«, suchte er sie zu beruhigen. »Ich weiß nichts weiter von Ihnen – und ich will auch nichts weiter wissen«, fügte er schnell und unnatürlich laut hinzu. »Sie brauchen mir nichts zu sagen, ich will Sie durchaus nicht mit Fragen quälen.«

 

Bestürzt sah sie ihn an.

 

»Was wollen Sie denn?«

 

»Steigen Sie in den Wagen ein. In fünf Minuten sind wir auf der North Road, und dann bringe ich Sie nach London. Ich habe ein gemütliches Haus in der Charles Street.«

 

Sie zögerte. »Ja, wissen Sie denn…?«

 

»Natürlich, ich weiß«, erwiderte er bestimmt. »Wenigstens weiß ich alles, was ich wissen will, und mehr brauche ich nicht zu erfahren. Merken Sie sich das bitte – ich – will – weiter – nichts – wissen!«

 

Als sie an ihm vorbeiging, sah er, daß ihre leichten Schuhe schmutzig waren von dem weichen Lehm und daß ihr Kleid tropfte.

 

»Nehmen Sie auf dem hinteren Sitz Platz«, befahl er. »Ich freue mich, daß Sie schön sind«, fügte er dann hinzu.

 

Unwillkürlich mußte sie lachen. Sie machte auch ein freundlicheres Gesicht und gefiel John Sands nun schon bedeutend besser.

 

Er hielt nur noch so lange, bis er eine weitere Kanne Benzin in den Tank gefüllt hatte, dann ließ er den Wagen an.

 

Ohne weiteren Zwischenfall erreichte er die North Road, und nun brauchte er nicht länger ungewissen Träumen nachzuhängen, denn sie waren inzwischen Wirklichkeit geworden. Er fuhr langsamer, als er an einem Geschäft für Damenkleider vorüberkam, und sah sich unentschlossen nach seiner Begleiterin um. Dann murmelte er eine Entschuldigung und setzte die Fahrt fort.

 

Bei ihrer Ankunft in London war die Dunkelheit bereits hereingebrochen, und er brachte den Wagen vor der Tür seines kleinen Hauses in der Charles Street zum Stehen.

 

»Steigen Sie noch nicht aus«, sagte John Sands.

 

Er öffnete die Tür und ging um das Auto herum, dann machte er den Schlag für sie auf und half ihr beim Aussteigen. Vielleicht war diese Vorsichtsmaßnahme überflüssig, aber John Sands überließ gar nichts dem Zufall. Man konnte nie wissen…

 

Gleich darauf stand sie in der hell erleuchteten Diele. Er schloß die Tür und machte dann eine andere vor ihr auf. Dann trat sie in einen großen Raum, von dem aus eine schöngeschnitzte Treppe zum oberen Stockwerk führte. Schon in dem Dämmerlicht konnte sie sehen, daß der Raum mit einem gewissen Luxus ausgestattet war. Aber nachdem Sands die schweren Samtvorhänge heruntergelassen und das elektrische Licht eingeschaltet hatte, staunte sie doch über das geschmackvoll eingerichtete, gemütlich wirkende Wohnzimmer.

 

Er betrachtete sie kritisch und konnte nicht umhin, ihre schönen Züge und ihre fast königliche Haltung zu bewundern.

 

»Ich glaube kaum, daß es in London viele Damen gibt, die unter solchen Umständen so gut wie Sie aussehen und ihre Fassung bewahren können«, meinte er. »Was machen wir nun aber mit Ihren Kleidern? Auf der Herfahrt hatte ich schon die Absicht, vor einem Geschäft in einer der Vorstädte zu halten, aber ich bin dann doch weitergefahren. Es hat schließlich keinen Zweck, sich unnötig einer Gefahr auszusetzen. Aber wir werden die Schwierigkeit schon überwinden und die Kleiderfrage lösen.«

 

Er gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, und sie stiegen beide die mit weichen Teppichen belegte Treppe hinauf. Die Frau mußte stundenlang dem Regen ausgesetzt gewesen sein, denn das Wasser tropfte von ihren Kleidern.

 

»Ich werde Ihnen einen Schlafanzug und einen Bademantel von mir geben. Damit müssen Sie sich vorläufig schon begnügen. Morgen besorge ich dann alles, was Sie brauchen.«

 

Ein neugieriger Blick traf ihn.

 

»Warum tun Sie das alles?« fragte sie. Es waren die ersten Worte, die sie seit langer Zeit äußerte.

 

Plötzlich überkam ihn Furcht. Vielleicht hatte er sich doch geirrt, und sie war gar nicht die Frau, die er suchte? Er hatte doch nur angenommen, daß sie es sein mußte, ein Irrtum war nicht ausgeschlossen.

 

»Zeigen Sie mir bitte Ihre Hand.«

 

Langsam streifte sie die schmutzigen Handschuhe ab, und er betrachtete ihre Hände genau. Sie waren rauh und rot wie die einer Arbeiterin. Dann wanderte sein Blick von ihren harten, schwieligen Fingern zu ihrem schönen, feingeschnittenen Gesicht.

 

»Eben habe ich beinahe einen Schrecken bekommen«, sagte er, »aber es ist alles in Ordnung. Was fragten Sie doch?«

 

»Ich wollte wissen, was all diese Güte und Freundlichkeit zu bedeuten hat.«

 

Er zuckte die Schultern.

 

»Mein liebes Kind, ich habe Ihnen einen sehr großen Dienst erwiesen, ich habe Ihnen gleichsam ein großes Geschenk gemacht, und Sie kennen ja das Sprichwort: ›Einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul!‹ Ich weiß nicht viel von Ihnen, aber ich vermute, daß Sie vom Schicksal hart mitgenommen und in diesem Augenblick wahrscheinlich gern bereit sind, alles Mögliche zu tun, um ein ruhiges, sorgenfreies Leben zu führen. Verstehen Sie mich aber bitte nicht falsch. Ich verlange nichts von Ihnen, was Ihre Selbstachtung als Frau beleidigen könnte.« Die letzten Worte hatte er hastig hinzugefügt.

 

Sie lachte sonderbar.

 

»Es gibt wenig, was ich nicht tun würde, um wieder ruhig und friedlich leben zu können«, erwiderte sie leise. »Wo kann ich Sie treffen, wenn ich mich umgezogen habe?«

 

»Ich bin unten im Wohnzimmer. Ich wohne allein hier im Haus. Inzwischen werde ich mit der Garage telefonieren, daß mein Wagen abgeholt wird. Nachher können wir miteinander reden.«

 

»Kennen Sie meinen Namen?«

 

»Nein, den weiß ich nicht. Und ich will ihn auch nicht wissen. Sagen Sie mir nur den Vornamen.«

 

»Margaret.«

 

»Für mich sind Sie also Margaret Smith«, sagte er bestimmt. »Und Margaret Smith ist doch ein Name, den man leicht behalten kann.«

 

Kapitel 10

 

10

 

Er ließ Sands viel Zeit, denn er brauchte selbst Ruhe, um seinen Plan auszudenken. So kam er zur Charles Street, aber nicht auf dem direkten, geraden Weg, sondern in einem großen Kreis. Er ging in die kleine Hinterstraße, die an der Rückseite der großen Häuser entlangführte. Manche hatten einen direkten Zugang von dort aus, zum Beispiel das Haus von John Sands.

 

Es dauerte einige Zeit, bis Jimmy seinen Plan zur Ausführung bringen konnte, weil plötzlich ein verspätetes Auto in die kleine Nebenstraße einbog, und es verging noch eine halbe Stunde, bis der Chauffeur alles in Ordnung gebracht hatte und die Garage wieder abschloß.

 

Die Mauer, die das Grundstück auf der Hinterseite umgab, war über zweieinhalb Meter hoch und oben mit Glasscherben besetzt. Aber etwas weiter die Straße hinunter schloß sich daran eine andere Mauer an, deren Oberfläche glatt war. Jimmy sprang, so hoch er konnte, und es gelang ihm, die Oberkante mit den Händen zu erreichen. Dann zog er sich hinauf und saß bald rittlings oben. Auf der anderen Seite stand ein niedriger Schuppen für Fahrräder, der allerdings zum Nachbarhaus gehörte. Jimmy ging auf der Trennungsmauer zwischen beiden Häusern entlang und sprang dann herunter. Als er ein paar Schritte gegangen war, befand er sich auf einem mit großen Steinen ausgelegten Hof, von dem aus eine kleine Seitentür ins Innere des Hauses von John Sands führte. Daneben lag ein großes, mit schweren Eisengittern versehenes Fenster. Zu seinen Füßen sah er ein Gitter, das allem Anschein nach die Entlüftungsanlage des Kellers verschloß, Er versuchte vorsichtig, die Tür zu öffnen, und zu seinem größten Erstaunen gab sie dem Druck seiner Hand sofort nach. Entweder hatte Mr. Sands selbst vergessen, sie zu schließen, oder irgendein Dienstbote war nachlässig gewesen. Jimmy befand sich nun in einem Gang. Auf der einen Seite lag die Küche, auf der anderen das Wohnzimmer. Er blieb stehen, zog seine Schuhe aus und überlegte sich, welche Erklärung er geben sollte, wenn Mr. Sands ihn als Einbrecher in seinem Haus vorfand.

 

Er selbst wußte nicht, was er hier zu finden hoffte, aber er war fest davon überzeugt, daß er Anhaltspunkte entdecken würde, durch die er schließlich Faith Leman aus dem Gefängnis befreien konnte. Jimmy hatte bei der Zeitung stets die Berichte über die Kriminalfälle und Kriminalprozesse geschrieben, und es war ihm verschiedene Male gelungen, die Lösung für die verwickeltsten Fälle zu finden. Er kannte die Verbrecher, die in der City von New York tätig waren, und die kühne, unerschrockene Art, mit der er selbst an Verbrecherjagden teilnahm, hatte ihn bis zu einem gewissen Grade berühmt gemacht. Es war nicht das erstemal, daß er ohne weiteres in fremde Häuser eindrang. Einmal war er dabei einem berüchtigten New Yorker Revolverhelden in die Hände gefallen.

 

Im Haus herrschte vollkommene Ruhe. Wenn Sands zurückgekehrt war, mußte er gleich schlafen gegangen sein. Jimmy entdeckte nicht den geringsten Lichtschimmer.

 

Langsam tastete er sich an der Wand entlang, bis er an eine Ecke kam. Ein unheimliches Gefühl erfaßte ihn plötzlich, so daß er zitterte. Grausen packte ihn, als er einen Augenblick später wieder den langgezogenen Schreckenslaut hörte. Wie angewurzelt blieb er stehen. In der nächsten Sekunde hörte er Schritte und versuchte, sich zu verstecken. Es gelang ihm auch, den Seitengang zu erreichen, aber im gleichen Augenblick rannte er gegen ein Tablett, das merkwürdigerweise an die Wand gelehnt stand. Mit furchtbarem Poltern fiel es auf den mit Fliesen ausgelegten Boden, aber nichts rührte sich im Haus. Er drückte sich hart gegen die Wand. Die Schuhe hatte er unter dem Arm, und alle seine Muskeln waren gespannt. Er war bereit, im nächsten Augenblick Hals über Kopf zu fliehen, aber die Schritte, die er eben noch gehört hatte, waren verstummt. Er wartete ein paar Sekunden und wollte eben wieder vorsichtig um die Ecke spähen, als sich eine große schwere Hand auf seine Schulter legte und ihn zurückzog.

 

Plötzlich flog etwas an seinem Gesicht vorbei. Er fühlte es an dem Luftzug. Dann legte sich eine Hand auf seinen Mund, und jemand zischte ihm ins Ohr:

 

»Kommen Sie. Machen Sie keinen Lärm.«

 

Trotz seines Schreckens hatte er das Gefühl, gehorchen zu müssen.

 

Der Fremde führte ihn den Korridor entlang auf den hinteren Hof und schloß die Tür.

 

»Schnell über die Mauer!« flüsterte er.

 

Jimmy folgte der Aufforderung. Kaum stand er schweratmend auf der Straße, als der andere auch schon neben ihm auftauchte.

 

»Ziehen Sie Ihre Schuhe nicht an! Machen Sie, daß Sie ins Freie kommen.«

 

Jimmy lief, so schnell er konnte, zum südlichen Ende der Charles Street. Dort blieb er stehen und zog eilig die Schuhe an.

 

»Ich weiß ja gar nicht, wer Sie sind«, sagte er dann.

 

Der andere lachte, und Jimmy Cassidy sah ihm ins Gesicht.

 

»Donnerwetter, Blessington!«

 

Der Detektiv nickte.

 

»Jimmy, seien Sie froh, daß Sie mit dem Leben davongekommen sind«, erwiderte der Inspektor ernst.

 

»Wie kamen Sie denn ins Haus?«

 

»Ich war in der Speisekammer und beobachtete Sie. Aber in dem Haus konnten Sie nichts finden, ich habe die Zeit gründlich ausgenützt, während Sie mit Mr. Sands spazierengingen. Ich kam gerade an, als Sie durch die Diele zur Haustür gingen.«

 

»Haben Sie diesen schrecklichen Laut gehört? Es muß irgendein Schmerzensschrei gewesen sein.« Jimmy zitterte, als er daran dachte.

 

»Ich hörte ihn. Es war furchtbar.«

 

»Was war denn das eigentlich?«

 

»Das wollte ich ja auch entdecken, während Sie fort waren. Ich hörte es, als ich über die Mauer stieg, und erschrak auch zu Tode. Es klang wie der Schrei einer Katze.«

 

»Die Erklärung gab mir auch Sands. Aber sagen Sie, was tun Sie eigentlich hier? Haben Sie John Sands im Verdacht?«

 

»Ich traue niemand, dafür bin ich schließlich Polizeibeamter. Und ich habe Sie im Verdacht, Jimmy, daß Sie eine große Dummheit begehen. Heute abend sind Sie ja noch einmal mit heiler Haut davongekommen. Haben Sie denn nicht bemerkt, daß in Ihrer Nähe ein weißer Schrank stand, von dem Sie sich scharf abhoben?«

 

Jimmy hatte das wohl bemerkt, der Tatsache aber weiter keine Bedeutung beigelegt.

 

»Man konnte Sie gegen den hellen Hintergrund deutlich sehen. Ich fürchtete, daß unser Freund Sie treffen würde.«

 

»Er hat doch nicht geschossen.«

 

»Nein, er hat keine Pistole gebraucht. Es klang, als ob es ein Pfeil gewesen wäre. Haben Sie nicht gesehen, daß an allen Wänden seines Arbeitszimmers solche Waffen hängen? Ach nein, in seinem Arbeitszimmer sind Sie ja noch nicht gewesen, das können Sie nicht gesehen haben. Wenn Sie aber einmal hinkommen, betrachten Sie sich einmal die Waffensammlung, die er dort untergebracht hat. Darunter befinden sich viele gute Bogen und Pfeile, und Sands versteht es allem Anschein nach, sie zu gebrauchen. Ich möchte fast annehmen, daß er einige Zeit in Ostasien oder im Malaiischen Archipel gelebt hat. Die Holzmasken über seinem Schreibtisch stammen bestimmt von den Papuas.«

 

»Aber konnten Sie denn wenigstens herausfinden, was dieser entsetzliche Schrei zu bedeuten hatte? Es war eigentlich mehr ein Stöhnen, als ob jemand furchtbare Qualen und folternde Schmerzen zu ertragen hätte.«

 

»Nein, das konnte ich nicht herausbringen. Darin habe ich Pech gehabt. Ich hoffte immer, es noch einmal zu hören. Das erstemal hörte ich den Schrei, als ich über die Mauer kletterte, um ins Haus einzudringen, und als ich ihn zum zweitenmal hörte, war es zu spät. Sie hatten ja diesen entsetzlichen Spektakel unten im Gang gemacht. Es war höchste Zeit, daß wir beide das Haus verließen.«

 

»Der Schrei schien aus dem Keller zu kommen«, meinte Jimmy.

 

»Das habe ich zuerst auch geglaubt, aber ich habe den Keller durchsucht und nichts Verdächtiges gefunden. Schließlich nahm ich an, daß es tatsächlich eine Katze gewesen sein müßte.«

 

»Aber es war keine Katze, darauf kann ich einen Eid leisten«, erwiderte Jimmy erregt. »Was suchten Sie eigentlich in dem Haus, Blessington?«

 

»Ich wollte etwas mehr über Mr. Sands erfahren, und ich hielt seine Abwesenheit für eine glänzende Gelegenheit dazu. Dieser Fall ist so kompliziert, daß ich mir irgendwelche anderen Anhaltspunkte verschaffen muß. Übrigens werden Sie sich freuen, wenn ich Ihnen sage, daß wir Miss Leman aus der Haft entlassen haben.«

 

»Sie haben Sie freigelassen?« rief Jim froh und drückte ihm die Hand. »Wo ist sie denn jetzt?«

 

»Sie ist in ihr Hotel zurückgekehrt und liegt jetzt hoffentlich im Bett. Machen Sie keine Dummheiten, Jimmy. Die Lage ist immerhin noch kritisch genug für sie. Ich müßte sie morgen wieder verhaften, wenn weitere Verdachtsmomente gegen sie auftauchten. Jimmy, Sie sind doch noch ein großes Kind!«

 

Jimmy achtete nicht auf diese Bemerkung, er war ganz aufgeregt vor Freude.

 

»Ich bin ganz außer mir. Wenn Sie erst jemand auf freien Fuß lassen, sind Sie auch davon überzeugt, daß er unschuldig ist.«

 

»Ganz unrecht haben Sie nicht. Wir konnten ihre Angaben, daß sie die kleine Flasche mit der Blausäure tatsächlich durch die Post erhalten hat, nachprüfen. Glücklicherweise hat Miss Leman der Aufwartefrau die Flasche gezeigt und sie um Rat gebeten, wie man das Reinigungsmittel benützen könnte. Die beiden überlegten sich dann, daß sie es vorläufig beiseite stellen wollten, bis sie sich genau davon überzeugt hätten, was es wäre. Das war Punkt eins. Punkt zwei: Die verschleierte Dame in Schwarz, die Sie aus Lemans Haus kommen sahen, ist auch von einem unserer Beamten beobachtet worden. Er hat sie ganz deutlich gesehen; ihr Gesicht konnte er allerdings auch nicht erkennen. Sie blieb an der Ecke von Berkeley Square stehen, um einen Brief in einem länglichen Kuvert in den Kasten zu werfen. Der Beamte hat auch bemerkt, daß sie diesen länglichen Brief in der Hand trug, als sie die Wohnung verließ. Nun ist natürlich nichts Auffälliges daran, daß eine Frau aus einem Haus in der Davis Street herauskommt, um einen Brief in einen Postkasten am Berkeley Square einzuwerfen. Unser Mann dachte deshalb auch nicht mehr daran, bis der Mord bekannt wurde. Und drittens habe ich mir überlegt, daß jemand das andere Glas Kognak ausgetrunken haben mußte, das für Mr. Sands eingeschenkt worden war. Der oder die Täterin muß das Glas wieder gefüllt haben, Sie können sich doch noch darauf besinnen, daß die Kognakflasche auf dem Büfett stand?«

 

Jimmy nickte.

 

»Weiterhin konnte ich – zum Glück für Miss Leman – feststellen, daß sie die beiden Likörgläser in Gegenwart der Aufwartefrau eingoß und die Flasche wieder ins Büfett stellte. Unter diesen Umständen war es natürlich vollkommen ausgeschlossen, die junge Dame noch weiter in Haft zu behalten. Da noch kein direkter Haftbefehl gegen sie ergangen war, habe ich es auf meine eigene Kappe genommen, sie freizulassen. Das war um so leichter, als noch keine Anklage gegen sie erhoben war.«

 

»Gott sei Dank!« erwiderte Jimmy erleichtert. »Nun kann ich wenigstens ruhig schlafen. Es wäre leider grausam, sie noch zu stören, und doch möchte ich sie gerade jetzt wiedersehen.«

 

»Hören Sie doch auf mit solchen Dummheiten«, entgegnete Blessington. »Verliebte Leute scheinen tatsächlich alle einen Klaps zu haben. Nehmen Sie sich zusammen, Sie sind doch sonst so ein tüchtiger Kerl! Im andern Fall würde ich ja schließlich nicht Ihre Bekanntschaft pflegen. Sie sind darauf aus, eine große interessante Geschichte für Ihre amerikanischen Blätter zu schreiben, und ich bin darauf aus, große Verbrechen aufzudecken. Sie wissen bedeutend mehr über Verbrechen und Verbrecher als Ihre Kollegen, und ich wäre sehr froh, wenn Sie mir bei der Aufklärung dieses Falles helfen würden.«

 

»Selbstverständlich, soviel ich nur kann. Aber es erscheint mir noch fraglich, ob auch Sie mir helfen wollen«, sagte Jimmy etwas grimmig. »Sie haben ganz recht, ich bin darauf aus, eine Millionengeschichte zu schreiben –«

 

»Den Stoff dazu sollen Sie schon bekommen. Und ich sage Ihnen, Jimmy, es wird eine Sensation geben. Vor allem müssen Sie mir aber dabei helfen, diese Dame in Schwarz wiederzufinden. Und dann müssen wir den Brief erhalten, den sie in den Briefkasten am Berkeley Square geworfen hat.«