Kapitel 8

 

8

 

Mrs. Carawood war ein Rätsel, selbst für die Leute, die geschäftlich mit ihr zu tun hatten. Der Laden in der Penton Street war durchaus nicht ihr bestes Geschäft, obwohl sie von dort aus ihre vielen Niederlassungen leitete. Sie hatte eine Filiale in der Nähe des Hanover Square, eine andere in der Upper Regent Street und einige in den großen Vorstädten Londons.

 

Zuerst hatte sie einen Handel mit gebrauchten Kleidern eröffnet, aber jetzt bestand nur noch in einem Geschäft eine Abteilung mit getragenen Mänteln. Sie hatte hauptsächlich berufstätige junge Mädchen zu Kundinnen, denen sie für billiges Geld die modernsten Modelle verschaffte. Bei ihr kostete die Ware natürlich nur ein Viertel des Preises, den die vornehmen Läden im Westen Londons forderten. Es kam keine Mode auf, die sie nicht auch sofort führte. Sie hatte sich auf diese Kundschaft spezialisiert, und ihr Geschäft warf verhältnismäßig viel ab. Nachdem sie dieses Gebiet einmal entdeckt hatte, blieb sie auch dabei und hütete sich, Experimente zu machen. Die Grossisten kannten sie als eine fleißige, tüchtige Frau; die Geschäftsführer in ihren verschiedenen Filialen wußten, daß sie in kürzester Zeit die Bücher revidieren und daß man ihr nichts vormachen konnte. Aber niemand kannte sie eigentlich genauer. Selbst die Leute, die sich noch darauf besinnen konnten, wie sie ihren ersten Laden aufmachte, und die ihre spätere erfolgreiche Laufbahn verfolgten, wußten nichts von ihrem Privatleben.

 

Sie wohnte über dem Geschäft in der Penton Street, aber bei ihren Einkünften hätte sie leicht eine größere und luxuriösere Wohnung haben können. Sie stellte nur verhältnismäßig einfache Ansprüche; gern las sie Abenteuerromane, wie überhaupt ein romantischer Zug durch ihr Leben ging. Stundenlang konnte sie an ihrem Schreibtisch sitzen und vor sich hinträumen. Und Herman, der sie sehr gut kannte, störte sie niemals dabei.

 

Für diesen hochaufgeschossenen jungen Mann war sie das größte kaufmännische Genie, das jemals gelebt hatte.

 

Jetzt, da Marie zurückgekommen war, hatte sie keine Zeit mehr zum Träumen. Alle ihre geschäftlichen Sorgen, selbst die neuen Herbstmoden, wurden unwichtig.

 

Sie mußte vor allem erklären, warum sie John Morlay engagiert hatte, aber das ging verhältnismäßig leicht.

 

»Eine gute Idee«, sagte Marie ernsthaft. »Ich glaube kaum, daß sich andere Leute soviel Mühe und Sorge um ihre Schutzbefohlenen machen.«

 

»Er ist ein Gentleman, und ich schenke ihm volles Vertrauen«, entgegnete Mrs. Carawood. »Es gibt mir ein gewisses Sicherheitsgefühl, daß ich ihn um Rat fragen kann, wenn …« Sie zögerte.

 

»Woran denkst du, Nanny? Glaubst du, daß Leute, die sich unsterblich in mich verlieben, mich entführen? Oder daß mich Banditen gefangennehmen, um nachher Lösegeld für mich zu fordern?«

 

Sie sah plötzlich den Ausdruck des Schreckens im Gesicht der Frau und änderte sofort ihren scherzhaften Ton.

 

»Niemand wird mir etwas tun, Nanny!«

 

»Nein«, entgegnete Mrs. Carawood kurz.

 

»Ich habe keinen bösen Feind oder einen längst verschollenen Onkel?«

 

Mrs. Carawood wurde dunkelrot.

 

»Nein, das nicht«, sagte sie laut. »Wer hat dir denn solche Gedanken in den Kopf gesetzt?«

 

»Niemand – ich mache nur einen Scherz. Ich habe auch gar nichts gegen Mr. Morlay. Er ist sehr nett, viel netter als Julian. Der ist zwar auch sehr liebenswürdig und freundlich, aber ich weiß nicht – irgend etwas fehlt ihm. In der Schule sagten wir, er hat nicht den richtigen Dreh. Es ist sehr beruhigend, wenn man einen Mann wie John Morlay in der Nähe hat. Er ist ein Mittelding zwischen Vater, Bruder und gutem Onkel.«

 

Eine längere Pause trat ein.

 

»Nanny, wie war denn eigentlich mein Vater?«

 

Mrs. Carawood fuhr zusammen. »Dein Vater, mein Liebling?« fragte sie heiser. »Warum fragst du denn danach?«

 

Marie lachte leise.

 

»Nun, das ist doch nicht unnatürlich. Hast du eigentlich ein Foto von ihm?«

 

Die ältere Frau schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Ich habe ihn niemals gesehen. Er starb vor deiner Geburt, und bevor ich ins Haus deiner Mutter kam.«

 

Marie stützte sich auf die Stuhllehne und sah auf die sonnenbeschienene Straße hinaus.

 

»Wenn ich nur wüßte, wie er aussah«, sagte sie nachdenklich. »Merkwürdig, sich vorzustellen, daß er gar nicht Englisch sprechen konnte! Wohnte er eigentlich in Rom? Ich hoffe es. Ich habe schon versucht, mir einmal vorzustellen, wie er gelebt hat. Bestimmt besaß er eine sehr große, stattliche Villa, die im Innern kühl und dunkel war. Im Winter waren die Zimmer etwas feucht, und überall hingen alte Familienwappen.«

 

»Ja, sein Haus war wahrscheinlich größer als dein kleines Haus in Ascot.«

 

Mrs. Carawood war traurig, und Marie fühlte, daß sie ihre Sorgen unter einem Lächeln verbergen wollte. Nur selten hatte Marie Fioli bisher an ihre alte Familie gedacht. Im großen und ganzen war sie ein Kind ihrer Zeit und hatte nur moderne Interessen.

 

Mrs. Carawood holte die Grundrisse und Pläne der kleinen Villa hervor, ebenso eine Mappe, in der sich die Abbildungen der Möbel von Ascot befanden.

 

Marie wußte sehr wenig über Mrs. Carawood, die in ihrer Gegenwart niemals von geschäftlichen Dingen sprach. Ihr Schreibtisch in dem kleinen Büro war immer sehr gut aufgeräumt, und als Marie einmal nach Briefpapier suchte, entdeckte sie, daß alle Schubladen sorgfältig abgeschlossen waren. Nie hatte sie mit Marie über deren Vermögen gesprochen.

 

Marie bekam alles Geld, das sie brauchte. Mrs. Carawood zahlte jeden Monat eine beträchtliche Summe auf ein besonderes Bankkonto ein.

 

Sie hatte Marie sicher sehr gern. Nur ein einziges Mal wurde sie ärgerlich, und Marie dachte noch mit Schrecken an dieses Erlebnis.

 

Es war am Abend des gleichen Tages. Den ganzen Nachmittag hatte sie mit John Morlay Einkäufe gemacht und war dann zur Penton Street zurückgekehrt, um den Abend mit Mrs. Carawood zusammen zu verbringen. Herman, der auch im Haus schlief, war von seiner Herrin ins Kino geschickt worden, und so waren die beiden allein.

 

Mrs. Carawood war in Maries Zimmer gegangen, um die Koffer auszupacken und Maries Garderobe durchzusehen. Marie schrieb indessen unten im Erdgeschoß Briefe an ihre Freundinnen im College in Cheltenham. Plötzlich hörte sie, daß die Glocke an der Seitentür klingelte. Sie öffnete die Tür, obwohl Mrs. Carawood ihr besonders ans Herz gelegt hatte, dies nicht zu tun, sondern sie zu rufen.

 

In dem kleinen Flur brannte das Licht nicht, und nachdem Marie vergeblich am Schalter gedreht hatte, öffnete sie die Tür.

 

Draußen stand ein Mann.

 

»Sind Sie es, Mrs. Carawood?« fragte er leise. »Heute abend hat er dies hinterlassen und gesagt, daß er morgen eine Antwort wünsche. Ich komme morgen früh um acht wieder.«

 

»Ich bin nicht Mrs. Carawood«, entgegnete Marie, »aber ich werde ihr die Bestellung ausrichten.«

 

Einen Augenblick stutzte er, aber dann beruhigte er sich.

 

»Schon gut. Geben Sie ihr das. Aber bestimmt, Miss, und erzählen Sie ihr auch genau, was ich Ihnen gesagt habe.«

 

Sie schloß die Tür und nahm den Brief ins Wohnzimmer mit. Die Schrift war sehr schlecht und zeigte, daß der Schreiber wenig Bildung besaß. Das Kuvert war an Mrs. Hoad adressiert, und in einer Ecke stand ›Dringend‹.

 

Mrs. Hoad? Der Mann mußte sich geirrt haben. Marie ging wieder zur Tür und sah die Straße entlang, aber er war spurlos verschwunden. Vielleicht konnte sie eine Adresse in dem Brief selbst finden? Unentschlossen betrachtete sie das Kuvert von außen. Als sie es aber gerade öffnen wollte, hörte sie Mrs. Carawood hinter sich und drehte sich um. Ihre Blicke begegneten sich.

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Mrs. Carawood scharf.

 

Sie riß Marie den Brief aus der Hand, warf einen Blick auf die Adresse und steckte dann den Umschlag in ihre Tasche.

 

»Laß es dir niemals einfallen, Briefe aufzumachen, Marie – nie wieder!«

 

Ihre Stimme klang hart, fast drohend.

 

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Mrs. Carawood um und verließ das Zimmer.

 

*

 

Kapitel 9

 

9

 

Inspektor Peas liebte es, Leute unerwartet zu besuchen. Gesellschaftlich war er nicht sehr auf der Höhe; er hielt nie Verabredungen ein, nicht einmal mit seinen Vorgesetzten, und wenn er zufällig in die Nähe eines Freundes kam, den er versprochen hatte zu besuchen, klingelte er einfach, auch wenn der Zeitpunkt denkbar ungeeignet war.

 

Eines Abends kam er auch zu John Morlay und fand seinen Bekannten damit beschäftigt, den Gothaer Adelskalender durchzusehen. Peas schaute verächtlich auf das kleine Buch, das ein vollkommenes Verzeichnis des ganzen Adels Europas enthält, legte den Hut auf den Boden und nahm Platz.

 

»Es hat doch keinen Zweck, das Ding zu lesen«, sagte er. »Wenn Sie wissen wollen, welcher Gaul das Rennen in Ascot macht, kann ich Ihnen einen Tip geben, der todsicher ist.«

 

Peas hatte eine Schwäche: Er schloß gern Rennwetten ab. Allerdings wußte er mit Pferden ziemlich gut Bescheid und verdiente sogar Geld damit, obgleich ihm das als Polizeibeamten eigentlich streng verboten war.

 

John schlug das Buch zu. Unaufgefordert nahm sich Peas eine Zigarette.

 

»Den Kerl hätten wir gestern abend beinahe gefaßt.«

 

»Wen meinen Sie denn?« fragte John und stopfte seine Pfeife.

 

»Ich meine den Einbrecher, dem die Zeitungen den Spitznamen ›Die einsame Hand‹ gegeben haben.«

 

»Ach, den! Es gibt aber sicherlich ein ganzes Dutzend solcher Leute, die keine Komplicen haben.«

 

Der Inspektor schüttelte den Kopf.

 

»Es gibt nur drei, die den Einbruch verübt haben könnten. Einer von ihnen sitzt im Gefängnis, ein anderer liegt im Krankenhaus – also bleibt nur noch der eine übrig. Wir haben alle anderen Möglichkeiten eliminiert.«

 

»Großartig ausgedrückt!« erwiderte John ironisch.

 

Peas blies vier Ringe hintereinander in die Luft.

 

»Es kann auch eine Frau sein. Da hätten die Zeitungen ja wieder etwas zu schreiben.«

 

»Warum glauben Sie denn, daß es eine Frau ist?« fragte John neugierig.

 

»Der Einbrecher wäre beinahe durch den Wachmann in der Bond Street gefangen worden. Der Wächter hatte sich versteckt und beobachtete ihn, und als er unerwartet zusprang und ihn fassen wollte, schrie der Kerl!«

 

»Es kommt auch vor, daß Männer schreien.«

 

Peas nickte.

 

»Das habe ich auch gesagt. Aber der Wachmann schwört, daß der Einbrecher nach Parfüm roch.«

 

»Auch Männer benützen Parfüm«, entgegnete John, und Peas mußte das wieder zugeben.

 

»Na, auf jeden Fall ist der Kerl entkommen – an einer Regenröhre ist er hinuntergeklettert. Zuerst glaubten sie, er wäre so rechtzeitig überrascht worden, daß er nichts hätte stehlen können, aber heute morgen entdeckte man; daß er eine Vitrine geöffnet und einen großen, viereckigen Saphir mitgenommen hat.«

 

»Damit wäre die Sache also erledigt«, sagte John.

 

Peas seufzte schwer.

 

»Die Leute wollen es nicht verstehen«, erklärte er. »Sie wissen, daß ich den Fall bearbeite, und da müßte ihnen doch ganz klar sein, daß ich den Dieb fasse, wenn überhaupt ein Mensch dazu imstande ist. Aber was tun sie? Große Artikel erscheinen in den Zeitungen: ›Was macht die Polizei?‹ Sie behaupten, wir schlafen in Scotland Yard, bringen lange Listen von Einbrüchen, die nicht aufgeklärt worden sind, und sagen, ein großer Prozentsatz von Verbrechen würde überhaupt nicht gesühnt … Aber man muß andererseits doch auch folgendes bedenken: Wenn ein Mann heute in der Bond Street in einen Juwelierladen einbricht und man nichts mehr von ihm hört, wird er doch seine verbrecherischen Neigungen nicht mit einemmal los. Er begeht also weitere Diebstähle und wird vielleicht drei Monate später in Liverpool gefaßt. Dort packt ihn die Polizei, er wird verurteilt, und niemand weiß etwas davon.«

 

»Warum vermuten Sie eigentlich, daß es eine Frau war?« fragte John noch einmal.

 

Peas sah ihn nachdenklich an und spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wolle.

 

»Kennen Sie Mrs. Carawood?« fragte er dann unerwartet.

 

John Morlay sah ihn groß an.

 

»Mrs. Carawood? Ja. Ich habe sogar schon beruflich mit ihr zu tun gehabt.«

 

Der Inspektor nickte.

 

»Sie ist eine ziemlich wohlhabende Frau. Man könnte sie sogar reich nennen.

 

John lachte.

 

»Sie meinen doch nicht etwa, daß sie den Einbruch verübt hat?«

 

Zu seinem Erstaunen stellte Peas das nicht in Abrede.

 

»Sie hat eine Menge Geld – mehr als sie aus ihrem alten Kleiderhandel beziehen kann. Sie muß also sonst noch ein Nebengeschäft haben, und ich möchte herausbringen, was das ist.«

 

»Was könnte das denn sein, wenn Sie sie von dem Einbruch freisprechen?« fragte John ironisch.

 

»Sie fährt zweimal im Jahr nach Antwerpen. Das ist etwas merkwürdig für eine Frau, die ein Kleidergeschäft betreibt. Auf der anderen Seite ist es nicht merkwürdig für jemanden, der Schmuckstücke verkaufen will.«

 

»Ach, das ist doch Unsinn«, unterbrach ihn John ärgerlich. »Ich weiß nicht, ob sie nach Antwerpen fährt oder nicht; aber wenn sie das tut, bin ich ganz sicher, daß sie guten Grund dazu hat.«

 

»Es ist nicht einmal ein Gedanke«, entgegnete Peas diplomatisch. »Es ist nur die vorsichtige Erwägung einer entfernten Möglichkeit. Haben Sie schon einmal überlegt, was ein Fragezeichen ist? Ein Angelhaken, den Sie auswerfen, um etwas zu fangen. Sehen Sie, das ist einer meiner eigenen Geistesblitze. Ich habe schon daran gedacht, einmal in den Zeitungen darüber zu schreiben.«

 

»Nun, die werden sich ja freuen«, erwiderte John spöttisch. Aber das focht Inspektor Peas nicht an.

 

»Ich bin ein Mann von großer Erfahrung. Ich bezweifle, ob es sonst noch jemanden in Scotland Yard gibt, der soviel über die inneren Zusammenhänge der Verbrechen weiß wie ich. Bei dem schlimmsten Fall, den ich einmal bearbeitete, handelte es sich um ein verschüchtertes Mädchen. Wenn man sie verhörte, war sie entsetzlich bescheiden und wurde fast bei jeder Antwort rot. Sie vergiftete ihren Bruder, und niemand konnte ihr etwas nachweisen. Später vergiftete sie ihren Mann und kam damit durch. Wenn ich damals gleich die Sache bearbeitet hätte, wäre es anders ausgegangen, aber unglücklicherweise wurde der Fall meinem Vorgesetzten übertragen, und so ist sie jetzt mit einem reichen Argentinier verheiratet und sitzt im Vorstand aller möglichen Wohltätigkeitsvereine – sehen Sie, so ist das Leben.«

 

»Wozu erzählen Sie mir solche Märchen?« fragte John ärgerlich.

 

Peas war inzwischen aufgestanden und betrachtete ein Bild.

 

»Das ist ein richtiges Ölgemälde, und wahrscheinlich handgemalt«, erklärte er. Denselben dummen Witz hatte er mindestens schon vierzigmal gemacht. Plötzlich wandte er sich um.

 

»Diese Mrs. Carawood hat eine ganze Anzahl von Geschäften in London. Soweit ich herausgebracht habe, lebt sie verhältnismäßig bescheiden. Bei ihr wohnt ein sehr ungebildeter junger Mann, den sie auf ihre Art und Weise adoptiert hat. Ich möchte nur wissen, was sie mit der Gräfin Fioli zu tun hat.«

 

»Was soll das heißen?« entgegnete John gereizt. »Sie ist die Pflegerin der jungen Dame; die alte Gräfin hat bei ihrem Tod das Kind der Obhut von Mrs. Carawood anvertraut.«

 

Wieder verzog Peas ungläubig die Lippen.

 

»Mich geht die Sache ja nichts an, aber es ist alles so merkwürdig und ungewöhnlich. Das junge Mädchen gefällt mir sehr gut, ich habe sie schon mehrmals gesehen. Ich war auch auf dem Bahnsteig in Paddington, als Sie sie abholten – sie hat eine Villa in Ascot, die ziemlich viel Geld kostet. Der Lebensunterhalt dort ist nicht billig.«

 

Er sprach nicht weiter über dieses Thema, sondern kam wieder auf den Einbrecher zurück.

 

»Im allgemeinen kümmern wir uns in Scotland Yard nicht um so einfache Einbrüche, aber natürlich achten wir auf das Auftauchen ungewöhnlicher Verbrecher in London, wenn wir sie nicht mit den bisher bekannten in Verbindung bringen können.

 

Die Polizei hat herausgefunden, daß sich die Verbrechen dieses neuen Mannes ziemlich gleichen. Seine Methoden sind ungewöhnlich. Er hat weder jemanden, der Schmiere steht, noch sonst einen Verbündeten, der ihm hilft. Und jedesmal benützt er einen Schlüssel, um die Geldschränke zu öffnen, wenn andere Leute ein Stemmeisen nehmen würden.«

 

»Haben Sie einen Anhaltspunkt?« fragte John, der sich für diese Sache weniger interessierte.

 

Peas nickte.

 

»Ja. Ich versuche auch damit weiterzukommen, aber ich habe mich wohl gehütet, meinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten. Es besteht nämlich immer Gefahr, daß sich andere Leute das zunutze machen und nachher den Erfolg für sich in Anspruch nehmen.«

 

Peas warf sich in die Brust und lächelte. Es kam selten vor, daß er in so heiterer Stimmung war, und John sah ihn erstaunt an.

 

»Werden Sie übrigens auch an der Gesellschaft teilnehmen?«

 

»An welcher Gesellschaft?«

 

»An der Hauseinweihung in Ascot. Na, Sie werden auf jeden Fall eingeladen.«

 

»Woher wollen Sie denn das wissen?«

 

»Ich weiß alles«, erklärte Peas.

 

John war am nächsten Morgen eifrig tätig. Er hatte eine telefonische Unterredung mit Mrs. Carawood, die ihn bat, sie und Marie nach Ascot zu begleiten. Zu seiner Verwunderung erfuhr er, daß die Hauseinweihung tatsächlich beabsichtigt war und nicht nur in der Phantasie des Polizeiinspektors existierte. Am Sonnabend vor dem Rennen sollte sie stattfinden, und von da ab sollte Marie ihren eigenen Haushalt führen. Er verabredete sich mit ihr und begleitete sie am nächsten Morgen bei ihren Einkäufen. Die beiden kauften Porzellan, Gläser, Silberbestecke und alle möglichen anderen Haushaltsgegenstände.

 

Mrs. Carawood kam es nicht so sehr auf den Preis an. Sie handelte nicht, und er war erstaunt über die großen Summen, die sie bei dieser Gelegenheit ausgab.

 

Zu seinem größten Ärger tauchte auch Julian auf. Er erzählte, daß er bei seinem Verleger gewesen sei. John erinnerte sich nun auch dunkel, daß Julian ein Buch über irgendeine geheimnisvolle Angelegenheit schreiben wollte. Diese Absicht hatte der junge Mann schon, solange er ihn kannte.

 

Für John Morlay waren diese Einkäufe ziemlich langweilig, aber Julian fühlte sich hier in seinem Element. Er wußte mit allen Haushaltsdingen Bescheid, und der Einkauf schöner Gegenstände machte ihm große Freude. John Morlay trat immer mehr in den Hintergrund, und schließlich ärgerte er sich so sehr, daß er sich verabschiedete. Und er fühlte sich zurückgesetzt, als Marie nicht den geringsten Versuch machte, ihn zurückzuhalten.

 

Er aß in einem kleinen Klub in der Nähe der St. James’s Street, und zufällig saß er bei Tisch gerade dem Verleger gegenüber, den Julian am Morgen aufgesucht hatte.

 

»Sagen Sie mir, hat denn dieser Lester heute morgen die Leute getroffen, von denen er soviel erzählte? Er hat mein Telefon eine ganze halbe Stunde lang benutzt. Schließlich hat er sich mit Ihrem Büro in Verbindung gesetzt. Der Mensch ist wirklich ziemlich aufdringlich.«

 

»Bin ganz Ihrer Ansicht«, erwiderte John. Dann fiel ihm das Buch ein, das Julian schreiben wollte.

 

»Sie werden ja sicher ein dickes Manuskript von ihm bekommen?«

 

Der Verleger lächelte. »Das ist noch nicht so ganz sicher. Bis jetzt hat er es noch gar nicht geschrieben. Er hat immer so viele Bedenken, daß er gar nicht vorwärtskommt. Schon seit Jahren sammelt er alle möglichen Daten und Einzelheiten. Er wird nicht ein Zehntel des Geldes zurückbekommen, das er dafür ausgelegt hat.«

 

»Was ist denn der Inhalt? Schreibt er vielleicht darüber, wie man sich kleiden und benehmen soll?«

 

»Ich möchte auch gern wissen, wovon es handelt. Zuerst wollte er eine Geschichte der englischen Flotte verfassen. Das letzte Mal, als ich mit ihm darüber sprach, beschränkte er sich nur auf unterirdische Gewölbe und Gefängnisse in den Adelssitzen. Dann äußerte er auch schon die Absicht, über unsere modernen Strafgefängnisse zu schreiben. Er hat mir das Buch schon vor vier Jahren versprochen – ich habe aber noch keine einzige Seite seines Manuskripts erhalten. Er tut immer so geheimnisvoll damit. Glücklicherweise verlangt er keinen Vorschuß. Schließlich braucht er das ja auch nicht.«

 

»Ich dachte, er wäre nicht sehr vermögend?« fragte John.

 

Zu seinem Erstaunen schüttelte der Verleger den Kopf.

 

»Er ist ziemlich reich, aber geizig. Ich bin fest davon überzeugt, daß er mich heute morgen nur deshalb besucht hat, weil er nichts für das Telefon ausgeben wollte. Übrigens war er vor zwei Monaten auch bei mir, gerade an dem Tag, als die amerikanischen Börsen zusammenbrachen. Daher weiß ich auch, daß er ziemlich wohlhabend sein muß. An dem Tag hat er gegen dreißigtausend Pfund verloren, und doch tut er so, als ob nichts geschehen wäre. Es scheint ihm nichts auszumachen, und das kann doch nur der Fall sein, wenn er ein großes Vermögen hat. Er ist nicht nur reich, er will auch immer noch reicher werden. Er will eine sehr wohlhabende junge Dame heiraten – heute morgen hat er eine Bemerkung darüber gemacht. Wissen Sie vielleicht, um wen es sich handelt?«

 

»Ich kenne eine solche junge Dame, aber ganz bestimmt wird er die nicht heiraten«, erklärte John grimmig.

 

*

 

Auch John Morlay bekam einen Beweis für Julians übertriebene Sparsamkeit, die man schon Geiz nennen konnte. Am nächsten Sonnabend kam Julian elegant gekleidet zu Morlay und bat, ihn im Wagen nach Ascot mitzunehmen. Julian machte aus seinem Herzen keine Mördergrube und erklärte unterwegs, warum er ihn um den Gefallen gebeten habe. Seinem Chauffeur zahlte er nur einen verhältnismäßig geringen Lohn, weil er ihm Sonnabends und sonntags immer freigab. »Wenn er mich am Wochenende nach Ascot fahren sollte, würde mich das fast zwei Pfund kosten, ganz abgesehen vom Benzin.«

 

»Sie sind ein ganz gemeingefährlicher Geizhals!«

 

»Regen Sie sich doch nicht auf, mein lieber Junge. Wenn Sie durchaus etwas zum Fenster hinauswerfen wollen, dann lesen Sie lieber Kieselsteine auf. Aber Sie sollten kein Geld wegwerfen, ein Pfund ist eben ein Pfund. Es kann Ihnen doch gleich sein, ob Sie mich im Auto mitnehmen oder nicht – kostet Sie ja keinen Cent mehr. Sie tun einem anderen damit einen Gefallen, das muß Ihnen doch eine innere Befriedigung geben. Wenn ich in kleinen Dingen nicht sparte, wäre ich auch nicht imstande, Ihnen ein großes Honorar anzubieten, falls ich Ihre Dienste in Anspruch nehme. Und ich könnte auch nicht den Stoff für mein Werk sammeln.«

 

»Ach, das Buch über die unterirdischen Gefängnisse?«

 

Julian lächelte.

 

»Sie haben mit meinem Verleger gesprochen. Auch ein Mann, der niemals den Mund halten kann. Nein, ich schreibe nicht über unterirdische Gefängnisse, aber es wird trotzdem sehr interessant werden. Der Verleger hat mir zwar gesagt, daß ich kein Geld damit verdiene, aber mein Name wird bekannt.«

 

»Nun, das können Sie leichter erreichen, wenn Sie irgendeinen aufsehenerregenden Mord begehen«, entgegnete John ironisch.

 

Julian schüttelte den Kopf. Er nahm die Bemerkung sogar ernst.

 

»Ich kenne niemanden so gut, daß ich ihn umbringen könnte.«

 

Sie mußten einige Zeit warten, bis die Schranken beim Eisenbahnübergang in Sunningdale geöffnet wurden.

 

»Es tut mir furchtbar leid, daß Sie meinen Auftrag nicht angenommen haben. Ich traue Ihnen nämlich vollkommen. Wahrscheinlich gibt es aber auch gar nichts Geheimnisvolles über Mrs. Carawood herauszubringen. Ich hoffe jedenfalls, daß es so ist.«

 

»Aber Sie vermuten doch, daß noch eine große Summe von dem Vermögen der jungen Gräfin Fioli übriggeblieben ist?«

 

Julian nickte, ohne sich im mindesten zu schämen.

 

»Sie dürfen deshalb aber nicht glauben, daß ich Marie nur des Geldes wegen heiraten will.«

 

»Sie werden sie überhaupt nicht heiraten, mein Freund«, erwiderte John kurz. »Erstens mag sie Sie nicht, und zweitens dulde ich es nicht. Es wäre besser, wenn Sie sich darum kümmerten, daß endlich das Manuskript zu Ihrem Buch fertig wird.«

 

Julian lächelte selbstzufrieden.

 

*

 

Das Haus in Ascot war wirklich nicht sehr groß. Die schöne Diele, mit weißer Holztäfelung verkleidet, war allerdings geräumig, aber Wohn- und Speisezimmer waren ziemlich klein.

 

Marie kam ihnen bis zur Haustür entgegen und führte John dann durch das ganze Gebäude. Sie war wie ein Kind, das sich über ein neues Spielzeug freut, fühlte sich als Hausherrin und zeigte ihm sogar Küche und Keller, Speisekammer, den elektrischen Kochherd, den neuen Kühlschrank und all die vielen modernen Einrichtungen, die die Hausarbeit erleichtern. Mrs. Carawood hatte kein Geld gespart. Schließlich führte sie ihn auch noch die Treppe hinauf und zeigte ihm ihr wunderbares Schlafzimmer mit angrenzendem Ankleideraum und Bad. Es war traumhaft schön.

 

»Ach, es ist herrlich!« rief sie. »Ich werde das ganze Jahr hierbleiben. Der Garten wird mit Blumen bepflanzt – es ist wundervoll!«

 

»Und was machen Sie sonst noch?« fragte John ruhig.

 

Sie sah ihn plötzlich ernst an, und er machte sich schon Vorwürfe, daß er ihre fröhliche Stimmung gestört hatte.

 

»Ich weiß es noch nicht – ich habe es mir auch schon überlegt, daß ich etwas tun muß. Heute morgen habe ich mit Nanny darüber gesprochen. Sie will nicht zulassen, daß ich das ganze Jahr hierbleibe, ich soll nur ein paar Monate in Ascot verbringen. Während der anderen Zeit soll ich Reisen ins Ausland machen. Aber ich muß doch etwas arbeiten, John! Ich werde mir eine Schreibmaschine kaufen und stenografieren lernen. Julian hat schon gesagt, daß er mir dann sein Manuskript diktiert. Er zahlt mir ein sehr anständiges Monatsgehalt.«

 

»Nun, das wird nicht so viel sein. Julian zahlt schlecht«, entgegnete John unfreundlich. »Hat Mrs. Carawood nicht einen anderen Plan?«

 

»Nein, sie mag nichts davon hören, daß ich etwas arbeite. Sie sagt immer, das sei ganz unnötig.«

 

Große Glastüren führten vom Schlafzimmer auf den Balkon. Die beiden traten hinaus und sahen den kleinen, gepflegten Garten unter sich und durch eine Öffnung zwischen den Bäumen eine weite Fläche fruchtbarer Felder. Dahinter erhob sich eine Kette von Hügeln, und darüber wölbte sich der strahlende Abendhimmel. Es war ruhig, still und friedlich. Der Wind trug einen Duft von Tannen und frischgeschnittenem Gras herüber.

 

»Sie dürfen sich nicht mit einem ruhigen Leben hier zufriedengeben«, sagte er nach einer langen Pause. »Schön, Sie stehen morgens in dieser schönen Umgebung auf, lesen die Zeitungen, spielen etwas Golf und Tennis, fahren dann zur Stadt, um Einkäufe zu machen, kommen zurück und legen sich schlafen. Wollen Sie sich damit zufriedengeben? Nein, Sie sind zu Besserem als einem so eintönigen Leben bestimmt.«

 

Sie seufzte und nickte dann.

 

»Ich habe mir verschiedenes überlegt –«

 

»Aber fangen Sie ja nicht an, sich in wohltätigen Vereinen oder dergleichen zu betätigen!«

 

»Aber was kann ich denn sonst tun?« fragte sie ungeduldig und vorwurfsvoll.

 

»Sie müssen arbeiten! Sagen Sie doch Mrs. Carawood, daß Sie ihr im Geschäft helfen wollen. Lernen Sie etwas über Kleider!«

 

»Das habe ich ihr ja auch schon gesagt, aber sie war ganz entsetzt, als sie das hörte. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu heiraten …« Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Was sagen Sie dazu?«

 

In diesem Augenblick trat Mrs. Carawood mit Julian auf den Balkon, und dadurch wurde John der Antwort enthoben.

 

Julian paßte vorzüglich in diese Umgebung. Er war ein angenehmer Gesellschafter, konnte unterhaltend sein, wenn man es von ihm verlangte, aber er konnte auch schweigen, wenn es am Platz war. Er verstand es, Mrs. Carawood viel Angenehmes über den schönen Landsitz zu sagen, und ließ sich durch die Abendlandschaft in eine geradezu lyrische Stimmung bringen.

 

Früher hatte sich John Morlay niemals viel um Julian gekümmert. Er wußte eigentlich nur, daß sich der junge Mann sehr elegant kleidete und immer tadellos gebundene Krawatten trug. In Julians Gegenwart fühlte sich John immer etwas unbeholfen und schlecht angezogen. Für gewöhnlich lächelte er nur über diese übertriebene Betonung des Äußeren, aber heute fühlte er sich zum erstenmal in den Schatten gestellt.

 

Julian war wirklich ein ausgezeichneter Unterhalter; alles, was er sagte, klang interessant und paßte gut zu den Brillantknöpfen. Er kannte alle möglichen Leute, auch berühmte Schriftsteller und Maler, und wußte höchst intime Skandalgeschichten aus ihrem Privatleben.

 

John schwieg während des größten Teils der Mahlzeit, aber dann kam doch ein Gespräch mit Mrs. Carawood zustande. Sie selbst trug nicht viel zu der Unterhaltung bei; in dieser Umgebung schien sie mehr denn je durch ihren Mangel an Bildung und Umgangsformen bedrückt zu sein. John übernahm gern die Führung, und in kurzer Zeit hatte er sich in seine Rolle gefunden. Es gelang ihm sogar, Julian in den Schatten zu stellen, so daß selbst Marie ihm zuhörte.

 

Vor allem wollte er feststellen, ob Mrs. Carawood tatsächlich ab und zu nach Antwerpen reiste. Es war ja möglich, daß sich die Sache sehr einfach und harmlos aufklärte. Geschickt brachte er die Unterhaltung auf den Weltkrieg, auf Belgien, Brüssel und die Städte an der Küste.

 

»Kennen Sie auch Antwerpen, Mrs. Carawood?«

 

Sie sah ihn schnell an und zögerte ein wenig.

 

»Ja, ich bin schon dort gewesen.«

 

»Was, du warst in Antwerpen, Nanny?«

 

Marie schien das bisher nicht gewußt zu haben.

 

»Ja, mein Liebling, ich war dort – ich hatte geschäftlich in der Stadt zu tun. Es gibt dort eine Konfektionsfabrik, bei der ich viel einkaufe. Die Leute sind sehr geschickt im Kopieren französischer Modelle und die Preise günstig.«

 

»Merkwürdig, daß gerade in Antwerpen eine solche Firma existiert«, meinte Julian. »Ich habe noch nie gehört, daß gute Modemodelle aus Antwerpen kommen.«

 

»Wieso?« fragte Mrs. Carawood kühl. »Eines der besten Modelle der letzten Saison wurde von einem Fischer in Aberdeen entworfen.«

 

Die Unterhaltung wandte sich wieder anderen Dingen zu, und Julian gelang es aufs neue, Marie in ein angeregtes Gespräch zu verwickeln. Er neigte sich näher zu ihr, und sie schien recht vertraut mit ihm zu sein. Die Unterhaltung mit Mrs. Carawood wurde für John Morlay immer weniger interessant.

 

Plötzlich lehnte sich Marie über den Tisch.

 

»Nanny, kann Julian mir wohl ein Geschenk machen?«

 

»Ein Geburtstagsgeschenk«, sagte Julian bescheiden.

 

Mrs. Carawood schien nicht sehr erfreut zu sein, denn sie runzelte die Stirn.

 

»Es ist ja eigentlich nichts dagegen einzuwenden«, erwiderte sie jedoch, da ihr kaum etwas anderes übrigblieb.

 

Ihre Stimme klang ablehnend. John fühlte, daß die Frau Julian nicht leiden konnte; infolgedessen wuchs seine Zuneigung zu ihr.

 

»Es ist nur ein Ring – ein kleines Schmuckstück«, entschuldigte sich Julian. »Ich sah ihn neulich bei Crather in der Bond Street. Das Geschäft wurde übrigens bestohlen, es ist dort eingebrochen worden.«

 

»Maries Geburtstag liegt aber doch schon drei Monate zurück«, bemerkte Mrs. Carawood.

 

»In der Schule hätte sie den Ring doch nicht tragen können«, protestierte Julian.

 

Sie sah John an, als ob sie erwartete, daß er sich dazu äußern solle.

 

»Das mag stimmen«, gab sie dann zu. »Ich habe es nicht gern, wenn du Schmuck trägst …, aber das ist ja schließlich ein Geschenk, das dir jemand anders auch machen könnte.«

 

Sie zögerte und machte eine kleine Pause. »Ich meine, es bedeutet nichts –«

 

»Nein, es bedeutet durchaus nichts«, entgegnete Marie lachend und wandte sich wieder an Julian. »Also, ich gebe Ihnen die Erlaubnis. Sie können den Umfang meines Fingers messen. Ich habe eine gewisse Schwäche für Smaragde.« Sie streckte den Finger aus.

 

Julian seufzte.

 

»Der Ring, den ich Ihnen schenken wollte, hat gerade keinen so kostbaren Stein. Es ist ein italienischer Siegelring.«

 

»Aus poliertem Aberdeen-Granit«, sagte John hitzig. »Sie können ihn ruhig annehmen, Marie, es ist kein wertvolles Geschenk.«

 

Julian sah ihn verärgert an.

 

*

 

Kapitel 3

 

3

 

Mrs. Carawood ging durch den großen, grauen Steinbogen, der den Eingang zu dem bekannten und berühmten Mädchen-College in Cheltenham bildete, und wandte sich nach links, wo die Steintreppe lag.

 

Die einzelnen Klassen kamen aus den verschiedenen Wohngebäuden zum Haupthaus, lange Reihen junger Mädchen zu zweien und zweien, in dunkelblauen Röcken und weißen Blusen. Dazu trugen sie Krawatten in den Farben der Schule.

 

Der Portier eilte auf Mrs. Carawood zu, als er sie erkannte.

 

»Guten Morgen! Haben Sie Mylady schon gesehen?«

 

»Nein, Mr. Bell«, sagte die untersetzte Frau freundlich. »Ich kam gestern spät mit dem Abendzug. Geht es ihr gut?«

 

Ihre Stimme hatte einen gewissen Anklang an den Londoner Jargon. Dem Portier gefiel sie, wenn er das Äußere und die Manieren dieser Frau auch nicht gerade sehr fein fand. Jedenfalls war sie anders als die Eltern der jungen Damen, die hier erzogen wurden, und er fühlte sich mit ihr eigentlich gesellschaftlich auf einer Stufe.

 

»Es ging ihr sehr gut, als ich sie gestern sah. Wollen Sie sie heute nach Hause mitnehmen?«

 

Mrs. Carawood schüttelte den Kopf.

 

»Nein«, erwiderte sie kurz und ging dann weiter.

 

Am oberen Ende der Treppe wurde sie von einer der Lehrerinnen empfangen, die als Zeichen ihrer Würde eine Art Medaillon um den Hals trug. Diese geleitete sie durch eine große Tür in einen Saal, wo sie ihr einen Platz anwies. Sie befand sich oben auf der Galerie, die die große Halle auf drei Seiten umgab. Unten war auf der einen Seite ein Podium aufgeschlagen und mit schweren, blausamtenen Vorhängen drapiert. Auf dem Tisch standen ein silbernes Lesepult und eine Vase mit prachtvollen Blumen. Im Hintergrund präludierte eine Orgel. Die Mädchen der einzelnen Klassen nahmen ihre Plätze ein, bis der große Raum und die Galerien gefüllt waren.

 

Zuletzt erschienen die Schülerinnen des obersten Jahrgangs, die besondere Sitze hatten. Eins der Mädchen sprach mit einer älteren Dame und entfernte sich dann. Mrs. Carawoods Augen leuchteten auf, als sie bald darauf die schlanke Gestalt auf sich zukommen sah.

 

Es war Marie. Ihr Gesicht hatte sich vor Freude gerötet, und sie kam eilig auf Mrs. Carawood zu. Sie reichte der alten Frau die Hand und drückte einen Augenblick die Wange an die ihre.

 

Nun erschienen unten die Lehrerinnen. Eine trug das große Gebetbuch. Eine große, majestätisch aussehende Dame folgte ihr. Sie hatte ernste, würdevolle Züge, schaute aber etwas müde auf die Versammlung.

 

John Morlay saß auf der gegenüberliegenden Seite der Galerie und beobachtete Mrs. Carawood und Marie Fioli. Er war einer der ersten gewesen, die die Galerie des großen Saals betreten hatten, und wartete nun schon über eine Viertelstunde, während die vielen jungen Mädchen nach und nach den Raum füllten.

 

Jetzt fiel ihm ein, daß er Mrs. Carawood schon in Ascot gesehen hatte, als sie aus dem Auto stieg. Sie mußte etwa fünfzig Jahre alt sein, hatte eine dunkle Gesichtsfarbe und angenehme, freundliche Züge. Sie erinnerte John Morlay in gewisser Weise an eine Zigeunerin, denn sie hatte schwarze Haare, die noch nicht im mindesten ergraut waren. Und auf diese Entfernung hin konnte er auch nicht die kleinen Falten in ihrem Gesicht sehen, so daß es glatter und jugendlicher erschien, als es in Wirklichkeit war.

 

Aufs höchste erstaunt und interessiert betrachtete er Marie Fioli, als sie hereinkam. Er konnte sich zwar noch auf das schlanke junge Mädchen besinnen, das er vor einigen Monaten kennengelernt hatte, aber sie hatte sich inzwischen sehr verändert. Eine Frau konnte man sie noch nicht nennen, aber sie war unter keinen Umständen mehr ein Kind. John war geradezu begeistert von ihrem Aussehen. Als er sie das letztemal gesehen hatte, war sie jungenhaft schlank, etwas ungelenk und befangen gewesen. Aber nun bewegte sie sich harmonisch und natürlich, anmutig und formvollendet.

 

Es wurde eine kurze Andacht abgehalten, aber Morlay hörte die Worte der Direktorin nicht; er konnte den Blick nicht von Maries Gesicht abwenden. Und je länger er zu ihr hinüberblickte, um so verächtlicher und gemeiner erschien ihm die kaltblütige Art, mit der sich Julian Lester in den Besitz ihres Vermögens setzen wollte. Der Auftrag, den ihm der junge Mann erteilt hatte, war häßlich. John Morlay wollte nichts damit zu tun haben.

 

Als die Andacht vorüber war, traten Mrs. Carawood und Marie Fioli aus der Galerie in den Gang. Die alte Frau war immer in einer gewissen Hochstimmung, wenn sie bei der jungen Gräfin weilen durfte. Sie bemerkte den Fremden, der in ihrer Nähe stand und sie beobachtete. Es war ein großgewachsener, schlanker, hübscher Mann, der sie freundlich anlächelte.

 

»Ich habe doch die Ehre, Gräfin Fioli vor mir zu sehen?« fragte er höflich und hielt den Hut in der Hand.

 

Marie sah ihn einen Augenblick überrascht an, dann lachte sie leise.

 

»Ach, ich besinne mich auf Sie – Sie sind doch Mr. Morlay?«

 

Er war erstaunt, daß sie sich noch an ihn erinnerte.

 

»Mr. Lester hat Sie mir doch bei Rumpelmeyer vorgestellt.«

 

Allmählich glättete sich die Stirn der älteren Frau wieder, und John glaubte zu bemerken, daß sie erleichtert aufatmete. Sie gingen zusammen bis zum äußeren Schultor, wo das junge Mädchen unversehens Mrs. Carawood umarmte und küßte. Dann nickte sie John noch einmal lächelnd zu und verschwand im Haus.

 

Einige Sekunden schwiegen die beiden anderen. Mrs. Carawood schaute noch auf die Tür, in der Marie verschwunden war.

 

John staunte, daß diese Frau die junge Gräfin so sehr verehrte. Schon dieses kurze Zusammensein hatte sie in freudige Erregung gebracht.

 

»Sie haben Ihre kleine Freundin sicher sehr gern?« sagte er freundlich.

 

Sie schrak zusammen und wandte sich nach ihm um.

 

»Ja, ich habe sie gern«, erwiderte sie. »Es ist, als ob sie mein eigenes Kind wäre.«

 

»Ich habe gehört, daß sie die Schule bald verlassen wird?«

 

Sie nickte.

 

»Nächste Woche. Sie wird jetzt ihren eigenen Haushalt führen.«

 

Mrs. Carawood erklärte das mit einem gewissen Stolz.

 

»Ist sie nicht noch etwas sehr jung, um schon ihr eigenes Haus in Ascot zu halten? Oder geht sie vielleicht vorher noch nach Italien?«

 

Ihre Blicke trafen sich, und er sah, daß sie argwöhnisch wurde.

 

»Nein«, erklärte sie kurz. Aber als ob sie ihren scharfen Ton bedauerte, fügte sie gleich hinzu: »Ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll. Sie ist wirklich noch sehr jung.«

 

»Zu jung, um zu heiraten«, entgegnete Morlay.

 

Er hätte vor allem gern erfahren, ob sie die Annäherungsversuche dieses eleganten Taugenichts Lester begünstigte, und seine unausgesprochene Frage wurde beantwortet, als er in ihr düsteres Gesicht sah.

 

»Ja, noch viel zu jung«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Außerdem hat Marie auch nicht den Wunsch, von mir fortzugehen.«

 

Er konnte nicht gut noch länger bleiben, zog höflich den Hut und entfernte sich. Sie sah ihm nach, bis er um die nächste Ecke bog, und wandte sich dann an den Portier.

 

»Wer war eigentlich der Herr, Mr. Bell?«

 

»Meinen Sie den Mann, mit dem Sie eben sprachen?«

 

Sie nickte.

 

»Das ist Mr. Morlay. Er kam vor zwei Jahren einmal hierher. Man hatte ihn gerufen, damit er einen Betrug aufdecken sollte. Er ist nämlich so eine Art Privatdetektiv …«

 

Ihre Hand zitterte plötzlich, und ihr Gesicht wurde grau. Der Portier sprach noch weiter über Mr. Morlay, aber sie hörte seine Worte nicht.

 

Ein Privatdetektiv! Ihr Herz schlug wild, während ihre Lippen noch einmal leise das Wort formten. Ein Privatdetektiv!

 

Kapitel 4

 

4

 

John Morlay bog in die breite Hauptstraße ein, die zu beiden Seiten von hohen Bäumen umsäumt wurde. Ab und zu blieb er vor einem der hübschen Läden stehen, aber er sah nichts von den ausgestellten Gegenständen. Nur Maries Bild stand ihm immer vor Augen. Bisher hatte er sich um Frauen sehr wenig gekümmert und sich fast ausschließlich seinem Beruf und dem Sport gewidmet.

 

»Es war nicht richtig, daß ich hierherkam«, sagte er sich.

 

Während der Rückfahrt nach London dachte er über das Problem nach, das durch den Besuch Julian Lesters in sein Leben getreten war. Aufgrund seiner vielfachen Erfahrungen besaß er gute Menschenkenntnis und war deshalb fest davon überzeugt, daß Mrs. Carawood ein durchaus ehrlicher, aufrichtiger Charakter war.

 

Es war schon spät, als er in seiner Wohnung ankam. Er hatte im Zug zu Abend gegessen, schlüpfte nun in Hausjacke und Pantoffeln und setzte sich mit einem Buch in einen Lehnsessel, um sich die Zeit bis zum Schlafengehen zu vertreiben.

 

Aber die Lektüre fesselte ihn nicht. Nach einigen vergeblichen Versuchen legte er den Band beiseite und begann über das Verhalten Mrs. Carawoods nachzudenken.

 

Plötzlich klingelte es an der Haustür, und nach einiger Zeit erschien sein Diener und meldete einen Besucher an, den John um diese Stunde am wenigsten zu sehen wünschte.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie störe, alter Freund«, sagte Julian, als er mit seinem stereotypen Lächeln ins Zimmer trat. Er trug einen Abendanzug. »Ich habe mit der Familie Weirs zu Abend gegessen. Ich rief Sie an, um Sie auch einzuladen, aber Sie waren nicht zu Hause. Geht die Uhr auf dem Kamin richtig? Dann ist es ja schon zehn.«

 

Er hatte den Frackmantel vorsichtig über die Lehne des Sofas gelegt und setzte sich nun in den bequemen Sessel.

 

»Ihr Diener erzählte mir, daß Sie nach Cheltenham gefahren seien. Außerordentlich liebenswürdig von Ihnen. Nach Ihrem Verhalten neulich im Büro dachte ich nicht, daß Sie bereit wären, den Fall zu übernehmen.«

 

»Darin haben Sie sich auch nicht getäuscht. Ich habe nicht die Absicht, Ihren Auftrag auszuführen.«

 

Lester runzelte die Stirn.

 

»Sie wollen mir nicht helfen?«

 

»Ich will Ihnen wenigstens eine Aufklärung geben«, sagte John langsam. »Mrs. Carawood ist meiner vollen Überzeugung nach eine durchaus ehrliche Frau. Wenn Marie Fioli überhaupt ein Vermögen besitzt, dann ist es vollkommen sicher in den Händen ihrer Erzieherin, genauso sicher, als ob es auf der Bank von England läge.«

 

Julian lächelte.

 

»Für einen Mann mit Ihrer großen Erfahrung –«

 

»Bei meiner Menschenkenntnis«, unterbrach ihn John, »fällt es mir leicht, einen Verbrecher zu durchschauen, ganz gleich, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelt. Und ich sage Ihnen, ich habe die größte Achtung vor Mrs. Carawood.«

 

»Haben Sie sie eingehend nach allem gefragt?«

 

John füllte seine Shagpfeife und grinste.

 

»Selbstverständlich. Ich habe sie auf die Folterbank gespannt, und dann hat sie zugegeben, daß sie ehrlich ist! Meinen Sie, ich wäre so blöd, daß ich hinginge und sie geradewegs fragte? Daß ich sie traf, war ein Zufall – allerdings habe ich ihn herbeigeführt.«

 

»Haben Sie auch Marie gesehen?« fragte Julian eifrig.

 

»Ja.«

 

»Was halten Sie von ihr?«

 

»Meiner Meinung nach ist sie« – er zögerte einen Augenblick –, »sehr, sehr lieb. Außerdem bin ich davon überzeugt, daß sie für Sie viel zu jung ist.«

 

Auf Julian machten diese Worte wenig Eindruck. Er war es gewohnt, daß sich die Leute ihm gegenüber unfreundlich und abweisend verhielten.

 

»Möglich«, erwiderte er langsam. »Wenn wir alles mit der Goldwaage wiegen wollten, paßten die Leute überhaupt nicht zusammen, mein Lieber. Ich habe Sie wirklich nicht engagiert, um das zu entdecken.«

 

»Ich möchte vor allem zunächst klarstellen, daß Sie mich nicht engagiert haben. Es war eine Laune von mir, daß ich nach Cheltenham fuhr. Und ich wiederhole noch einmal, daß ich den Fall nicht übernehme.«

 

Julian seufzte.

 

»Dann muß ich zu einem anderen gehen«, sagte er mißmutig. »Sie behandeln mich wirklich nicht liebenswürdig, John. Man sagt, Sie seien so unendlich klug und gewandt und könnten mit Leichtigkeit die Geheimnisse anderer Leute herausbringen. Deshalb dachte ich, dieser Fall müßte für Sie interessant sein. Wenn es sich nur um die Höhe des Honorars handelt, das Sie dafür beanspruchen –«

 

»Nein, darauf kommt es nicht an. Es ist eine Prinzipienfrage. Erstens übernehme ich derartige Aufträge nicht. Zweitens spioniere ich junge Mädchen nicht aus, ebensowenig eine ehrbare Frau, die sich um die Erziehung einer ihr anvertrauten Person bemüht. Wenn Sie etwas wissen wollen, dann gehen Sie doch zu Mrs. Carawood und fragen sie.«

 

»Das tue ich nicht, denn sie lügt mich doch nur an. Außerdem würde ihr Argwohn erregt werden. Das ist der schlechteste Rat, den Sie mir geben können!«

 

»Glauben Sie?« erwiderte John ironisch und strich mit der Hand nachdenklich übers Kinn.

 

»Sie lehnen also die Bearbeitung des Falles definitiv ab?«

 

»Ja. Ich will nichts damit zu tun haben«, erklärte John energisch.

 

»Wenn Sie mehr mit Damen verkehrten, würde ich sagen, daß Sie sich in Marie verliebt haben«, meinte Julian und seufzte tief.

 

»Sie wissen doch, daß ich mir aus Frauen nicht viel mache«, entgegnete John kurz und öffnete dann die Tür, so daß Julian nichts übrigblieb, als fortzugehen.

 

Kapitel 5

 

5

 

Mrs. Carawood wurde Tag und Nacht von dem Gedanken gequält, daß Mr. John Morlay ein Privatdetektiv war. In ihrem kleinen Büro in der Penton Street dachte sie dauernd darüber nach. Diese Entdeckung hatte sie in panischen Schrecken gestürzt, und sie hatte sich von ihrem Entsetzen noch nicht wieder erholen können. Aber sie war jetzt wenigstens fähig, klar und vernünftig zu überlegen. Einen Entschluß hatte sie gefaßt: Sie mußte alles daransetzen, diesen jungen Mann auf ihre Seite zu ziehen. Er mußte ihr Freund werden, er durfte nicht eine unheimliche Drohung für sie bleiben. Aber wie sollte sie dieses Ziel erreichen?

 

Er mochte Marie gern. Einen kurzen Augenblick hatte sie gesehen, wie er das junge Mädchen voll aufrichtiger Bewunderung und Verehrung anschaute. Gefühlsmäßig wußte sie, daß er nur nach Cheltenham gekommen war, um Marie zu sehen. Wer hatte ihm den Auftrag dazu gegeben? Die Familie Fioli war nahezu ausgestorben; es gab keine Mitglieder des alten Adelsgeschlechts, die sich für das Mädchen interessieren konnten. Manchmal war dieser schreckliche Gedanke allerdings schon in ihr aufgetaucht.

 

Aber wenn andere Leute Privatdetektive bezahlen konnten, um die Geheimnisse um Marie zu lüften, konnte sie denn nicht auch derartige Leute engagieren, um sie zu hüten? Am Montag ging sie zu ihrem Rechtsanwalt und fragte ihn nach der Firma Morlay aus. Sie erfuhr, daß John bei seinen Geschäftsfreunden den besten Ruf genoß, und hielt es nun für ausgeschlossen, daß er eine Gefahr für sie bedeutete. Rasch entschied sie sich dafür, geradewegs in die Höhle des Löwen zu gehen.

 

John Morlay war aufs höchste erstaunt, als sie ihm gemeldet wurde. Er schob seine Arbeit zur Seite und erhob sich.

 

»Das ist aber ein unerwartetes Vergnügen, Mrs. Carawood«, begrüßte er sie freundlich.

 

Ihre Lippen und ihr Gaumen waren trocken, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sprechen konnte.

 

»Ich komme in einer geschäftlichen Angelegenheit, Mr. Morlay«, erwiderte sie nervös.

 

»Es tut mir leid, das zu hören«, entgegnete er lächelnd, während er ihr einen Stuhl hinschob. »Alle Leute, die herkommen, haben ihre Sorgen, und sie kommen erst dann zu mir, wenn sie von anderen Leuten rücksichtslos beschwindelt worden sind.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich bin nicht beschwindelt worden – und ich glaube auch nicht, daß mich so leicht jemand betrügen kann.«

 

Aus dieser Bemerkung schloß er, daß sie mit ihren geschäftlichen Erfolgen und ihrer Tüchtigkeit zufrieden sein konnte.

 

»Nein, ich wollte Sie wegen einer anderen Sache fragen –«

 

Sie machte eine Pause, und er sah sie erwartungsvoll an.

 

»Es handelt sich um Mylady.«

 

»Ach, Sie meinen die Gräfin Fioli?«

 

Sein Interesse stieg aufs höchste, als sie nickte.

 

»Sie ist doch nicht in irgendwelche Schwierigkeiten geraten?«

 

»Nein. Mylady versteht nichts von Geschäften. Es ist – es ist etwas anderes.« Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Wie Sie sicher wissen, bin ich die Sachverwalterin für Mylady und kümmere mich auch um ihr Wohl und ihre Erziehung. Als ihre Mutter starb, war Mylady nur ein paar Wochen alt. Die Gräfin übergab mir das Kind, und ich habe ihr versprochen, alles zu tun, was in meinen Kräften steht. Und seit dieser Zeit habe ich für Mylady gesorgt.«

 

»Sie sind wohl Witwe?«

 

»Ja, ich stehe allein; ich habe keinen Menschen, auf den ich mich verlassen kann. Nicht einmal meinem eigenen Rechtsanwalt kann ich sagen, was ich Ihnen mitteilen möchte, Mr. Morlay, und gerade in diesem Augenblick fühle ich so sehr, daß ich die Hilfe eines Mannes brauche.«

 

Sie machte wieder eine Pause. Als sie von zu Hause fortging, war ihr der Plan so überzeugend erschienen, aber nun fiel es ihr schwer, davon zu sprechen.

 

»Ich brauche jemanden, der die Interessen der jungen Gräfin wahrnimmt«, sagte sie schnell, »jemanden, an den ich mich wenden kann, wenn es Schwierigkeiten und Sorgen geben sollte. Und ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen.«

 

Er war erstaunt über ihren Vorschlag, denn ein solches Angebot hatte er am letzten erwartet. Und er wollte auch nicht Beschützer und Schutzengel der Gräfin Fioli spielen.

 

»Ich weiß nicht recht, wie Sie das meinen, Mrs. Carawood.«

 

»Ach, Sie verstehen mich doch ganz gut«, sagte sie hartnäckig. »Wenn andere Leute Sie engagieren können, um Nachforschungen über die Gräfin anzustellen –«

 

»Es hat mich niemand zu diesem Zweck engagiert«, unterbrach er sie. »Ich war nur neugierig, weil ich soviel von ihr gehört hatte.«

 

Sie wußte instinktiv, daß das nur zu einem Teil wahr sein konnte, und vermutete, daß ihm tatsächlich ein Angebot gemacht worden war, das er aber abgelehnt hatte.

 

»Ich habe mich wahrscheinlich nicht gut ausgedrückt, ich habe nicht die Bildung wie Sie«, erwiderte sie ein wenig hilflos. »Aber es ist doch schließlich nichts Besonderes, um was ich Sie bitte. Jeder Gentleman könnte das doch tun. Vielleicht handle ich nicht richtig, aber ich brauche einen Beschützer für das Mädchen. Mr. Morlay, ich kann Sie dafür bezahlen, ich bin nicht arm.«

 

John lehnte sich in seinem Sessel zurück und beobachtete sie.

 

»Ich glaube, ich verstehe Sie jetzt. Es ist Ihr Wunsch, daß ich in gewisser Weise auf die junge Gräfin aufpasse. Es ist nicht ungewöhnlich, daß reiche Leute Privatdetektive für solche Zwecke anstellen. Aber leider ist das nicht mein Fach.«

 

Er sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht.

 

»Es wird mir aber ein Vergnügen sein, wenn ich eine derartige Tätigkeit ehrenhalber übernehmen darf«, fuhr er fort. »Das heißt, wenn Sie es gestatten und wenn es der jungen Dame selbst nicht unangenehm ist.«

 

»Sie wollen mir also helfen, aber keine Bezahlung dafür annehmen?« fragte sie eifrig.

 

»Sie haben mich vollkommen richtig verstanden.«

 

Er lächelte sie an, aber sie schüttelte den Kopf.

 

»Die Sache soll rein geschäftlich zwischen uns geregelt werden. Ich möchte nicht, daß Sie es umsonst tun, sonst würde ich das unangenehme Gefühl nicht los, daß –«

 

Sie zögerte und suchte nach den rechten Worten.

 

»Daß Sie mir verpflichtet sind?« ergänzte er nach einer kurzen Pause. »Aber was würde denn die Gräfin Fioli dazu sagen, wenn sie einen bezahlten Freund hätte?«

 

Der Gedanke war ihr noch nicht gekommen, und sie überlegte.

 

»Marie würde nichts dagegen haben«, erwiderte sie schließlich, »wenn ich es gern sehe. Wollen Sie es für mich tun?«

 

Es war eigentlich ein ziemlich phantastischer Plan. Bei ruhigem Nachdenken hätte er ihn wohl doch noch abgelehnt. Aber Mrs. Carawood bat so dringend und sah ihn so flehentlich an, daß er nicht ruhig nachdenken konnte.

 

»Ich will alles tun, was in meinen Kräften steht«, entgegnete er kurz. »Nun sagen Sie mir aber auch genau, welche Pflichten ich habe.« Das hatte sie sich vorher schon überlegt.

 

»Sie wird ein paar Monate in Ascot wohnen – ich habe dort ein Haus für sie gekauft. Selbstverständlich sollen Sie nicht dauernd in Ascot sein, und auch sie bleibt nicht für immer dort. Wenn sie aber in London ist, möchte ich Sie bitten, sie zu begleiten. Ich weiß nicht, was alles passieren wird, aber ich fühle« – sie drückte die Hand aufs Herz –, »daß Marie Schweres bevorsteht. Und ich möchte jemanden haben, auf den ich mich verlassen kann, der mir hilft, wenn Schwierigkeiten entstehen.«

 

Ein merkwürdiger Vorschlag. Er sollte ein junges Mädchen ausführen und ihren Beschützer spielen. Und dabei kannte er Marie Fioli doch nur ganz oberflächlich. John war über sich selbst erstaunt, daß er auf diesen sonderbaren Plan einging. Im Grund seines Herzens fand er sogar großen Gefallen an diesen Aussichten für die Zukunft.

 

Auf dem Rückweg wiederholte sich Mrs. Carawood noch einmal jedes Wort ihrer Unterhaltung mit Morlay. Es kamen ihr zwar leise Zweifel, aber im Augenblick war sie beruhigt, daß sie die Gefahr sofort erkannt und beseitigt hatte. Nun besaß sie einen Verbündeten statt eines Gegners, der ihr sehr gefährlich hätte werden können.

 

Als sie ihren Laden in der Penton Street erreichte, fand sie dort wie gewöhnlich Mr. Fenner vor, der in ein eifriges Gespräch mit Herman verwickelt war.

 

Mr. Fenner war ein Schreinermeister mit merkwürdigen, anarchistischen Anwandlungen, im übrigen aber ein kluger, tüchtiger Mann. Er sprach wie jemand, der gewohnt ist, als öffentlicher Redner aufzutreten. Meistens war sein Gesicht düster; er haßte den Adel und setzte sich für die Arbeiterklasse ein. Aber Mrs. Carawood nahm ihn in der Beziehung nicht ganz ernst. Jeden Abend, wenn er mit der Arbeit fertig war und zufällig nicht auf einer Versammlung sprach, machte er einen Besuch in der Penton Street. Um eine Entschuldigung für seine Anwesenheit war er nie verlegen. Er hatte den Parkettboden gelegt und die Wände mit Paneel verkleidet, und er war so zuvorkommend, daß er eine Bezahlung für seine Arbeit ablehnte. Aber in diesem Punkt blieb Mrs. Carawood fest; sie ließ sich nichts schenken. Im Lauf der Auseinandersetzung kam es sogar so weit, daß sie ihn aufforderte, den Laden zu verlassen. Dann einigten sie sich aber doch.

 

»Guten Abend, Mrs. Carawood«, sagte Fenner. »Es ist schade, daß Sie nicht schon vorher hier waren, ich habe Herman gerade wieder einmal ein klares Bild der reichen Leute gezeichnet.«

 

»Es wäre besser, wenn Sie ihn in Ruhe ließen. Und machen Sie den Mund nicht so weit auf! Sie haben mir doch erst vorige Woche erzählt, daß Sie selbst sechshundert Pfund auf der Bank haben.«

 

»Das ist eine vollkommen irrige Auffassung, das ist kein Kapital, das sind Ersparnisse!« entgegnete Fenner ruhig.

 

Herman lachte laut auf.

 

Mr. Fenner sah den jungen Mann mitleidig an, sagte aber nichts.

 

Kapitel 6

 

6

 

John Morlay kam am nächsten Tag nach Büroschluß zu dem Laden in der Penton Street. Er wäre wieder fortgegangen, wenn er nicht einen Lichtschimmer durch eine Spalte in den Vorhängen gesehen hätte. Als er klingelte, wurde ihm sofort geöffnet, und in der ersten Überraschung legte Mrs. Carawood das Buch nicht beiseite, in dem sie eben noch gelesen hatte.

 

Die verächtliche Bemerkung Julian Lesters fiel ihm ein, und ein Blick auf den Titel bestätigte, daß sie einen gerade nicht sehr hohen literarischen Geschmack besaß. Als sie entdeckte, daß er auf das Buch sah, stellte sie es hastig zu den anderen Bänden ins Regal.

 

»Sie lesen wohl sehr viel, Mrs. Carawood?«

 

»Ja. Aber andere Bücher als Sie, Mr. Morlay.«

 

»Nun, ich bin aber vielleicht deshalb doch nicht klüger«, entgegnete er lächelnd. »Es gab auch bei mir eine Zeit, in der ich gern aufregende Romane las.«

 

»Ach, jetzt sind Sie zu alt dazu?« fragte sie so naiv, daß er beinahe laut aufgelacht hätte.

 

»Selbst wenn man älter wird, hat man noch einen Hang zum Abenteuer. Diese Geschichten faszinieren immer.«

 

Er war mit keiner besonderen Absicht gekommen. In Wirklichkeit hatte ihn eigentlich nur der Wunsch hergetrieben, mehr von Marie zu hören. Aber das wollte er sich selbst nicht eingestehen. Es fiel ihm schwer, die Sprache auf die junge Dame zu bringen, und sie kam ihm auch in keiner Weise entgegen. Herman verschwand in die Küche, kam bald darauf mit einem Tablett zurück und servierte Tee. Mrs. Carawood sagte entschuldigend, daß das ihr Lieblingsgetränk sei, das sie zu jeder Tageszeit genießen könne. John hatte dieselbe Schwäche. Schließlich blieb ihm nichts übrig, als direkt auf sein Ziel loszusteuern.

 

»Ich möchte Sie fragen, Mrs. Carawood, ob Sie sich schon Pläne über die Zukunft der Gräfin Fioli gemacht haben?«

 

Sie sah ihn besorgt an.

 

»Ich mache mir allerhand Gedanken darüber. Mylady müßte irgend etwas anfangen. Es ist nicht gut, wenn sie nichts zu tun hat. Sie kann sehr gut schreiben und hat einen vorzüglichen Stil; vielleicht könnte sie einen Roman verfassen?«

 

»Ich glaube, das ist nicht das Richtige«, entgegnete er lächelnd.

 

Sie wurde rot und nickte. Er ärgerte sich, daß er sie durch seine Worte verletzt hatte. Sie war ziemlich empfindlich, wenn es sich um ihre mangelnde Bildung handelte. Erst nach einiger Zeit hatte er sie wieder so weit beruhigt, daß sie über Marie mit ihm sprach. Aber dann erfuhr er viel von ihrer Kindheit und von ihrem außergewöhnlichen Verstand. Die Frau erzählte ihm, Marie sei als kleines Kind schon so schön gewesen, daß sich alle Leute nach ihr umgedreht hätten.

 

»Sie hatte einen Kinderwagen, der allein zwanzig Pfund kostete«, erklärte Mrs. Carawood stolz. »Innen war er ganz mit feinem Leder ausgeschlagen, natürlich rosa, wie es sich für ein Mädchen gehört …«

 

So sprach sie dauernd weiter, und John hörte ihr zu, ohne daß sein Interesse erlahmte. Im Gegenteil, er konnte nicht genug von Marie erfahren.

 

»Sind Sie verheiratet?« fragte sie plötzlich.

 

»Nein. Enttäuscht Sie das?«

 

Sie sah ihn offen an.

 

»Sie sind ein Gentleman – und ich habe volles Vertrauen zu Ihnen. Vielleicht können die Leute sagen, es sei ein großer Fehler, Marie der Gesellschaft eines jungen Mannes anzuvertrauen. Aber sie ist ja noch so jung, und Sie sind ein Gentleman.«

 

Ihre Worte hatten ihm plötzlich die Lage klargemacht, in der er sich befand. Bisher hatte er es vermieden, darüber nachzudenken.

 

»Mit anderen Worten, Mrs. Carawood, Sie wollen nicht haben, daß ich mich in die Gräfin Fioli verliebe?«

 

Er wollte die Frage im Scherz stellen, aber das gelang ihm nur halb.

 

»Nun gut«, fuhr er fort, »wenn das doch passieren sollte, verspreche ich Ihnen, mich zuerst an Sie zu wenden, Mrs. Carawood, bevor ich ihr ein Sterbenswörtchen davon sage.«

 

»Es ist ja auch nur zu erklärlich, daß sich die Leute in sie verlieben«, erwiderte sie und nickte. »Dagegen kann man nichts machen. Ich würde auch nichts dazu sagen; nur –«

 

»Ich verstehe Sie sehr gut, Sie haben eine große Verantwortung. Und wenn ich mich Hals über Kopf in sie verlieben sollte, werde ich doch nie vergessen, daß ich beruflich für Sie tätig bin.«

 

Mrs. Carawood seufzte tief. Das hatte sie ihm auch sagen wollen, als sie zu ihm gekommen war, aber sie hatte damals nicht den Mut gefunden, ihre Gedanken in Worte zu kleiden. Sie fürchtete, ihn damit zu beleidigen, und sie brauchte doch einen Freund in der Not.

 

John Morlay ging unruhig zu seiner Wohnung zurück. In wenigen Tagen hatte sich sein ganzes Leben geändert; er sah die Welt jetzt mit anderen Augen an. Das Schicksal hatte ihn gegen seinen Willen in eine sonderbare Lage gebracht, aber eigentlich war er gar nicht böse darüber.

 

Kapitel 7

 

7

 

Wehmütig dachte Marie daran, daß die Tage von Cheltenham nun hinter ihr lagen. Sie mußte sich zusammennehmen, um die Tränen zurückzuhalten, die sich ihr in die Augen drängen wollten, als sie im Zug saß. Sie fühlte sich niedergeschlagen, nicht wegen des Lebens, das sie zurückgelassen hatte, sondern weil sie Angst vor der Zukunft empfand.

 

Sie saß allein in der Ecke eines Abteils erster Klasse. Zeitungen und illustrierte Zeitschriften lagen neben ihr, aber sie hatte keine Lust, darin zu lesen.

 

Als der Zug in Gloucester einlief, nahm sie einen Brief aus ihrer Handtasche und las ihn halb lächelnd, halb stirnrunzelnd, denn der Brief hatte einen ganz merkwürdigen Inhalt. Auf John Morlay konnte sie sich sehr gut besinnen; die Züge dieses interessanten Mannes vergaß ein junges Mädchen nicht so leicht. Sie hatte öfter an ihn denken müssen, nachdem er ihr zum erstenmal vorgestellt worden war. Und dann war er vor ein paar Tagen nach Cheltenham gekommen. Sie hatte sich damals schon gewundert, was er dort zu tun hatte, aber der Brief gab ihr nun eine Erklärung:

 

 

›Meine liebe Contessa, ich muß Ihnen eine große Neuigkeit mitteilen, wenn Mrs. Carawood sie Ihnen nicht schon erzählt hat. Mit großer Genugtuung, aber auch mit leiser Furcht, habe ich eine Anstellung als Schutzengel, Begleiter und offizieller Familienfreund erhalten.

 

Ich werde Sie bei Ihrer Ankunft in Paddington abholen und während Ihres Aufenthaltes in Ascot stets in Ihrer Nähe sein. Vielleicht ist Ihnen diese Aussicht ein wenig unangenehm, aber ich bin sicher ein Schutzengel, der sich nicht zu sehr aufdrängen wird. Hoffentlich langweile ich Sie nicht zu sehr. Ich bitte Sie, es mir ganz frei und offen zu sagen, wenn Sie mich nicht brauchen können. Ich werde Sie zu Gesellschaften begleiten, und wenn es notwendig ist, tanze ich auch mit Ihnen, falls die Herren fehlen. Aber das wird wohl nur selten vorkommen. Um diesen Verpflichtungen in jeder Beziehung gerecht werden zu können, übe ich heimlich in meinem Büro. Als Tanzpartnerin nehme ich meinen Stuhl. Also, stellen Sie sich vor, wie ich hinter verschlossenen Türen mit dem Stuhl im Arm die schönsten Bewegungen und Drehungen mache. Ich möchte die erschreckten und erstaunten Gesichter meiner Angestellten sehen, wenn sie mich durchs Schlüsselloch beobachten.

 

Ich muß Ihnen übrigens noch die schauerliche Mitteilung machen, daß ich ein Detektiv bin. Selbst wenn Sie etwas enttäuscht sein sollten, muß ich aber doch der Wahrheit die Ehre geben und Ihnen erklären, daß es nicht meine Pflicht ist, böse Leute zu verhaften. Ich befasse mich auch nicht mit Morden, Einbrüchen und Gewalttätigkeiten, sondern bin hauptsächlich ein Detektiv für Handelsauskünfte und rechne meistens große Geschäftsbücher nach. Im Grunde habe ich wenig mit dem berühmten Sherlock Holmes gemein.

 

Mrs. Carawood hält es für nötig, daß jemand auf Sie aufpaßt, und deshalb hat sie mich für diesen angenehmen Posten engagiert. Ich bin also in gewisser Weise ein Angestellter. Sie müssen mich daher John nennen, etwa so, als ob ich Ihr Diener wäre. Nennen Sie mich aber bitte nicht Mr. Morlay, denn ich bin kein Butler. Eines verspreche ich Ihnen: Ich werde nicht die Sünden Ihrer Vergangenheit ausspionieren, ich werde auch keine Proben Ihrer Fingerabdrücke nehmen und nicht den Versuch machen, Ihnen irgendwelche Verbrechen in die Schuhe zu schieben, die in der Vergangenheit passiert sind.

 

Mit dem Ausdruck meiner aufrichtigen Verehrung

John Morlay‹.

 

 

Marie hatte den Brief schon mehrmals durchgelesen und amüsierte sich auch jetzt wieder darüber. Zu diesem Zweck hatte er ihn ja auch geschrieben. Diese Mitteilung war ihr in keiner Weise unangenehm; sie wußte ja, daß Mrs. Carawood etwas nervös und ängstlich war, wenn es sich um sie handelte. Und John Morlay war im Grunde genommen ein wirklich netter junger Mann. Marie dachte sogar darüber nach, ob sie sich wohl in ihn verlieben würde. Solche Gedanken waren in ihrem Alter natürlich, und außerdem hatten ihre Freundinnen ihr oft von ihrer Sehnsucht nach romantischen Erlebnissen vorgeschwärmt.

 

Als der Zug im Bahnhof einlief, hielt der Wagen, in dem Marie saß, direkt vor John Morlay.

 

Es hatte geregnet, und er sah in dem Regenmantel, der bis über die Knie reichte, besonders stattlich und groß aus.

 

»Melde mich zur Stelle«, begrüßte er sie, nahm ihre Hand und drückte sie vorsichtig. »Ich bin mir noch nie in meinem Leben so wichtig vorgekommen. Und wenn ich offen sein soll«, fuhr er feierlich fort, obwohl sie ihn freudestrahlend anlachte, »habe ich mich nur dadurch dazu bringen können, meine Pflicht voll und ganz aufzunehmen, daß ich mir vorstellte, Sie wären ein großer Kasten voll Gold, den ich auf die Bank von England bringen muß, damit er unterwegs nicht von bösen Dieben gestohlen wird. Der Wagen zum Transport wartet«, fügte er mit einer würdevollen Handbewegung hinzu. Sie lachte nur noch mehr, so daß seine anfängliche Nervosität vollkommen schwand.

 

»Sie haben einen sehr schönen Anfang gemacht, Mr. Morlay – ach so, ich muß Sie ja John nennen.«

 

»Ja, sagen Sie John. Soll ich Sie sofort nach Pimlico bringen, oder wollen wir erst eine Tasse Tee zusammen trinken?«

 

»Wenn ich es mir überlege, ist eine Einladung zum Tee verlockend. Ich habe immer um elf Uhr morgens gefrühstückt. In unserer Schule war das eine strenge Regel.«

 

Er fuhr mit ihr zum Hyde Park, wo eben ein Erfrischungspavillon geöffnet wurde. Unter einem großen Baum ließen sie sich in bequemen Stühlen nieder und tranken Tee.

 

»Sie sind wohl mit Mrs. Carawood sehr befreundet?«

 

»Ja, wir sind wie Bruder und Schwester«, erklärte John feierlich.

 

»Aber Sie müssen mir wirklich richtig Auskunft geben. Ich glaube ja, daß sie Sie sehr gut kennt, sonst hätte sie mich niemals Ihrer Obhut anvertraut.«

 

»Ich denke, sie hat große Menschenkenntnis«, erwiderte er. »Im Ernst, Contessa –«

 

»Wollen Sie nun auch so gut sein, mich als Zimmermädchen zu betrachten und mich einfach Marie zu nennen?« fragte sie vergnügt. In der Schule hatte ich den Spitznamen Moggy, aber wir kennen uns noch nicht lange genug, daß Sie den schon verwenden dürften.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Gut, dann bleibt es bei Marie. Und ich heiße John.«

 

Morlay war über sich selbst erstaunt. Noch nie hatte er soviel Witze gemacht, niemals war er so aus sich herausgegangen. Er war doch ein gesetzter, ruhiger Geschäftsmann in mittleren Jahren, der sich eigentlich dementsprechend würdevoll benehmen mußte. Einige Zeit scherzte er noch mit ihr, dann wurde sie plötzlich ernst.

 

»Die Welt lag früher für mich so fern, aber jetzt ist alles plötzlich Wirklichkeit geworden; es gibt so viele Dinge, vor denen ich mich fürchte. Ich kann es kaum begreifen – noch vor einer Woche habe ich einen Aufsatz über Wilhelm den Eroberer geschrieben, und jetzt sitze ich hier neben Ihnen im Hyde Park. Es ist alles so sonderbar, so phantastisch – und daß Sie an meiner Seite sitzen, ist das Seltsamste von allem –«

 

»Kennen Sie eigentlich Julian Lester?«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Ja. Warum fragen Sie danach? Selbstverständlich kenne ich ihn«, erwiderte sie fast vorwurfsvoll. »Er hat Sie mir doch vorgestellt. Er ist mit einer meiner Freundinnen entfernt verwandt, und ich finde ihn eigentlich ganz nett. Sie nicht auch?«

 

»Ja, er ist recht nett«, sagte John wenig begeistert. »Schreibt er Ihnen öfter?«

 

Hätte er auch nur einen Augenblick nachgedacht, so hätte er niemals gewagt, eine derartige Frage an sie zu richten. Ein erstaunter Blick aus ihren tiefblauen Augen traf ihn.

 

»Natürlich schreibt er mir«, entgegnete sie etwas kühl und warf den Kopf leicht zurück. »Sprechen Sie jetzt als Detektiv?«

 

»Ach, das war nur eine neugierige Frage. Ich habe mich um Dinge gekümmert, die mich nichts angehen«, erklärte er schnell, um den Fehler wiedergutzumachen. »Sehen Sie, Marie, ich muß doch wissen, wer Ihre Freunde sind und mit wem Sie ???fehlende Zeile im Buch che Ansprüche; gern las sie Abenteuerromane, wie überhaupt aus Versehen dem falschen Mann mit dem großen Gummiknüppel, den ich mir für Ihren Schutz angeschafft habe, auf den Kopf. Von morgen ab werde ich ihn wie ein Gewehr über der Schulter tragen, wenn ich mit Ihnen ausgehe.«

 

Die nächste Viertelstunde saß er neben ihr und schwieg. Sie plauderte über ihre Mitschülerinnen und ihre Lehrerinnen, über Kissenschlachten im Schlafsaal und all die kleinen Ereignisse, die jungen Mädchen wichtig erscheinen.

 

Nur widerwillig zahlte er schließlich die Rechnung und brachte Marie zum Wagen zurück. Je mehr sie sich der Wohnung in der Penton Street näherten, desto ruhiger und ernster wurde sie.

 

»Kennen Sie Nanny wirklich sehr gut?«

 

»Sie meinen Mrs. Carawood? Nein, das nicht. Ich traf sie das erstemal an dem Tag, als ich nach Cheltenham kam.«

 

Marie seufzte.

 

»Ach, sie ist so gut und lieb zu mir gewesen! Wissen Sie, Mr. – John, manchmal kommt mir der Gedanke, daß ich gar nicht so reich bin, wie die Leute immer glauben.«

 

»Wie kommen Sie denn darauf?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie unsicher. »Julian hat schon ein paarmal mit mir darüber gesprochen, das heißt, er hat es eigentlich nur angedeutet, daß ich entsetzlich reich sein soll. Aber ich weiß doch von all den Dingen gar nichts. Schließlich drang er darauf, daß ich Nanny fragen sollte, ob sie einen Teil meines Vermögens in Aktien angelegt habe – ich vergaß den besonderen Namen der Papiere …«

 

»Aber warum glauben Sie denn, daß Sie nicht reich sind?«

 

»Weil mir Nanny das sicher gesagt hätte«, entgegnete sie ruhig. »Ich habe manchmal das Gefühl, daß ich nicht einen Penny besitze und daß sie mich nur auf diese gute Schule geschickt hat, weil sie mich so gern hat.«

 

Ihre Stimme zitterte ein wenig, und John schwieg.

 

»Würde es Sie sehr schmerzen, wenn Sie arm wären?«

 

Sie schüttelte wieder den Kopf.

 

»Nur in einer Beziehung: Ich möchte etwas für sie tun. Sie hat so hart gearbeitet, und diese Villa in Ascot ist eine große Verschwendung. Wenn sie sich nicht um mich sorgen und mir ein so glänzendes Leben verschaffen wollte, könnte sie bestimmt ihre Kleiderläden zumachen und brauchte für den Rest ihres Lebens nicht mehr zu arbeiten.«

 

»Haben Sie ihr nicht schon einmal den Rat gegeben?«

 

»Doch einmal«, gab Marie zu. »Aber das hat sie sehr verletzt. Oh, ich glaube, es würde einen großen Unterschied für mich machen, wenn ich nicht so reich wäre.«

 

»Ja, da haben Sie recht«, sagte er so nachdenklich, daß sie ihn verwundert ansah.

 

Und sie hatte auch allen Grund dazu, denn John Morlay wurde zum erstenmal in seinem Leben rot.

 

Kapitel 25

 

25

 

»Das junge Mädchen, das eben hier war, ist meine Tochter.«

 

Joe Hoad schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Teller tanzten. Er war derselbe wie früher; sie erkannte ihn an diesem unglaublichen Jähzorn.

 

»Das ist unser Kind, und ich werde mit ihr reden. Du hast sie in Luxus erzogen, während ihr Vater im Zuchthaus saß! Und dann noch dieser junge Kerl, der hier im Laden herumtanzte! Ich könnte dir alle Knochen im Leib erschlagen, wenn ich daran denke, wieviel Geld du für das Mädchen verschwendet hast, während du mich hättest unterstützen sollen. Für mich hast du kaum ein Pfund die Woche übrig gehabt!«

 

Er stürmte zur Tür, aber sie eilte ihm nach und hielt ihn am Ärmel fest. Trotz allem fühlte sie Mitleid, als sie sah, daß sein Arm fast nur aus Haut und Knochen bestand. Er mußte schwer krank sein. Vielleicht gelang es ihr, ihn zu beruhigen; vielleicht würde er freundlicher werden, wenn sie ihm zeigte, daß sie sich um ihn sorgte, und wenn sie ihn pflegte. Früher hatte er das nie verstanden und hatte es auch nie gewollt. Er war überrascht, als sie plötzlich in freundlichem Ton zu ihm sprach.

 

»Joe, wenn ich es nun zugebe – was dann?«

 

»Was dann, was dann?« fragte er brutal. »Ist gar nicht nötig, daß du das zugibst. Ich wußte es gleich, als ich ihr Lachen hörte. Laß mich los, du alte Hexe! Ich werde mich jetzt meiner Tochter vorstellen!«

 

»Sie sind doch schon fort!« schrie sie und taumelte zurück. »Ich will dir alles sagen, Joe, du sollst alles wissen, was du willst.«

 

»Das mußt du wohl auch, du Kanaille«, brummte er.

 

»Joe, versuche doch einmal, mich zu verstehen. Ja, es ist unser Kind. Ich habe niemals einen Jungen gehabt, nur die kleine Marie! Und als ich wußte, daß ich niederkommen sollte, fürchtete ich mich vor dem Kind – ich wollte es nicht haben. Ich dachte daran, welch schreckliches Leben ihm bevorstand. Ich hatte mich immer verstecken und fliehen müssen, immer hatten wir schwere Sorgen, nirgends waren wir sicher. Sollte das so weitergehen?«

 

Er brummte, aber sie erkannte, daß sein Interesse geweckt war, obwohl er sie argwöhnisch betrachtete und jedes ihrer Worte prüfte, ob sie ihn auch nicht belog.

 

»Ich haßte in Gedanken das Kind, bevor ich es sah – und als es dann schrie und mich ansah und so klein war, schämte ich mich, daß ich mich so gefürchtet hatte, und ich liebte es ebenso heiß, wie ich es vorher gehaßt hatte. Aber ich gab mir das Versprechen, es anders zu erziehen. Es sollte nichts mit uns beiden zu tun haben.«

 

»Und mit welchem Recht hast du das Kind dem Vater vorenthalten?«

 

Unheimliche Lichter flackerten in seinen Augen, und sie schrak wieder vor ihm zurück.

 

»Ich dachte an die Zeit, als wir heirateten und du versuchtest, ehrlich zu bleiben. Damals sagtest du mir, daß das unmöglich wäre. Erinnerst du dich noch daran? Es zog dich wieder dazu, zu stehlen und einzubrechen. Du kämpftest vergeblich dagegen, weil es dir im Blut lag. Dein Vater war im Gefängnis gestorben, und es blieb dir keine Hoffnung. Aber Joe, jetzt glaubte ich nicht mehr daran. Hättest du nie etwas von deinem Vater gewußt, dann hättest du ein ehrlicher Mensch bleiben können. Ich komme mir so seltsam vor, wenn ich daran denke, aber wir waren die ersten Wochen in unserer Ehe glücklich, als wir noch auf dem Lande lebten und du arbeitetest. Erinnerst du dich nicht mehr an das kleine Haus in Chean, wo du die schönen Blumen den Weg entlang pflanztest, der zu unserem Haus führte?«

 

Er schwieg. Ihre Worte hatten ihn herausgerissen aus der furchtbaren Gegenwart, und plötzlich wachte in ihm etwas auf, was verschüttet und vergessen schien.

 

»Aber dann kam dein Vater aus dem Gefängnis und zog dich wieder mit sich. Und trotzdem habe ich dich geliebt … lange Zeit …«

 

Sie glaubte, daß sie ihn gerührt hatte. Vielleicht tat es ihm leid, daß sie ein so trauriges, hoffnungsloses Leben hatte führen müssen, aber der Eindruck dauerte nicht lange.

 

»Als du fort warst, hatte ich nur noch das Kind, das ich lieben konnte. Du weißt, welch harte Jugend ich im Findelhaus durchlebte. Ich habe nichts von Schönheit und Liebe kennengelernt, und ich war hungrig nach ein wenig Glück, nach ein wenig Romantik –«

 

»Ja, Romantik, das war ja immer deine Verrücktheit. Du hast immer nur geträumt, statt etwas Ordentliches zu tun.«

 

»Glaubst du?« fragte sie und hob stolz den Kopf.

 

Hier in diesem Laden hatte sie sich bewährt; hier hatte sie gezeigt, daß sie nicht nur träumte und romantischen Ideen nachhing. Und hatte sie nicht Marie erzogen? War das nicht der beste Beweis für ihre Tatkraft und Energie?

 

Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Eine ganz andere Frau stand plötzlich vor ihm. Die Jahre hatten sie verändert.

 

»Ich entschloß mich, sie anders zu erziehen. Wenn ich sie bei mir behalten hätte, wäre es doch eines Tages herausgekommen. Es wären Fragen aufgetaucht. Entweder mußte ich dann sagen, daß sie ein uneheliches Kind war oder daß du der Vater seist. Und ich hätte ihr alles erzählen müssen. Sie hätte versucht, ein fehlerloses Leben zu führen, aber jedesmal, wenn diese kleinen Versuchungen an sie herangetreten wären, denen wir ja alle mehr oder weniger ausgesetzt sind, hätte sie gesagt: ›Welchen Zweck hat es? Ich bin ja doch dazu geboren – mein Vater sitzt im Zuchthaus.‹ Und so hätte sie nicht einmal versucht, zu kämpfen –«

 

»Jedenfalls hast du es nicht geschickt genug angestellt. Du konntest mir nicht entgehen«, knurrte er.

 

Verzweifelt erkannte sie, daß es ihr nicht gelungen war, ihn umzustimmen.

 

»Vorher hatte ich nie mit gebildeten Leuten verkehrt«, fuhr sie fort, »obwohl ich im Waisenhaus eine gute Erziehung erhalten hatte. Erst als ich bei der Gräfin Fioli eine Stelle annahm, lernte ich das Leben dieser Leute kennen. Die Schönheit zog mich an, die freundliche Art, wie sie sprachen, aßen und sich bewegten – das alles machte großen Eindruck auf mich. Sie waren ja gut zu uns im Waisenhaus, aber niemals liebevoll. Und wenn ich dann an dich dachte, erinnerte ich mich, daß du niemals zärtlich und freundlich zu mir warst.«

 

Ihre Worte klangen bitter und resigniert. Sie hatte damals im Waisenhaus vom Leben geträumt, das vor ihr lag, und als sie dann später in Stellung war, hatte sie angefangen, billige Romane zu lesen, die ihr eine schöne Welt eröffneten. Sie hatte davon geträumt, daß auch sie einmal einen Grafen oder einen Prinzen heiraten würde, und dann heiratete sie Joe Hoad, den Sohn eines Verbrechers.

 

»Verstehst du denn nicht, daß ich für mein Kind sorgte? Ich wollte es nicht nur von uns und unserem Unglück befreien. Ein Kind schlägt seinen Eltern nach. Wenn es sie vor sich sieht, ahmt es sie nach. Ich habe es doch hier in unserer Gegend zur Genüge gesehen. Gute Eltern haben gute Kinder. Schlechte Eltern haben schwache Kinder, die schließlich doch auf die schiefe Ebene kommen, wie zum Beispiel Herman. Aber sie bleiben auf dem rechten Pfad, wenn man sie von allem Bösen und Schlechten fortnimmt. Ach, und ich wünschte, du hättest einmal die Gräfin Fioli kennengelernt! Wenn du gesehen hättest, wie liebevoll sie zu mir war…«

 

Sie hielt inne, aber er starrte sie nur verständnislos an.

 

»Marie war sieben Monate alt, als ich zu der Gräfin Marie Fioli nach Bournemouth kam. Ich hatte die Kleine in Pflege gegeben, und später erzählte ich der Gräfin von ihr. Ihr eigenes Kind war gestorben, und sie grämte sich deshalb. Nach einiger Zeit erlaubte sie, daß ich Marie für einen Monat zu mir nehmen konnte. Damals lieh sie mir ihren großen, prachtvollen Kinderwagen, mit rotem Glacéleder ausgeschlagen und goldenen Kronen darauf. Ich fuhr das Kind vor dem Haus auf und ab, denn sie war gut zu mir und schickte mich an die frische Luft, obwohl sie doch selbst so krank war. Sie war erst kurze Zeit von Italien fort und kannte in England nur wenig Leute. Man redete viel über sie. Die meisten glaubten, daß die kleine Marie ihr Kind wäre. Die anderen Kindermädchen waren fest davon überzeugt; sie hätten es auch nicht verstehen können, daß eine Frau so gutherzig war, zu gestatten, daß ein Mädchen ihr eigenes Kind bei sich hatte. Dann starb sie. Sie war nicht reich, wie die Leute sagen. Sie hinterließ mir etwa hundert Pfund für die Dienste, die ich ihr geleistet hatte. Dann hatte sie noch ein Legat für die Schule in Rom ausgesetzt, in der sie erzogen worden war. Das war alles. In Bournemouth redeten die Leute damals unheimlich viel. Sie sagten, daß sie ihrem kleinen Kind ein ungeheuer großes Vermögen hinterlassen hatte. Wir zogen dann fort – Marie und ich. Und von da ab hieß das Kind – ›Mylady‹.«

 

*

 

Kapitel 26

 

26

 

Er lachte hart auf.

 

»Das sieht dir wieder ähnlich! Du hast dir den Kopf mit dummen Geschichten vollgekeilt, bis du darüber den Verstand verloren hast. Aber bis jetzt hast du mir immer noch nicht erzählt, woher du das Geld hast.«

 

Sie war müde und erschöpft.

 

»Ich habe das Geld bekommen wie alle ehrlichen Leute – ich habe schwer dafür arbeiten müssen. Zunächst hatte ich ein kleines Kapital, das war ein großer Vorteil. Ich fing bescheiden an; Marie gab ich zu guten Leuten in Pflege, während sie noch ganz klein war. Und nachher hatte ich Glück. Das Geschäft, das ich begann, schlug gut ein, und ich konnte etwas Geld sparen. Zeit zum Ausruhen blieb mir nie. Ich brachte Marie dann auf die Schule, zuerst nach Bexhill, wo sie mit lauter netten und anständigen Kindern zusammenkam, und später nach Cheltenham. Das war das Beste, was ich für sie tun konnte.«

 

Er sah sie unter seinen buschigen Augenbrauen düster an.

 

»Du hast alles Geld, das du mir hättest schicken sollen, für sie verschwendet! Verdammt noch mal, warum hast du mir nicht gesagt, wo du warst? Wenn ich diesen Auftrag nicht angenommen hätte, dann hätte ich dich wahrscheinlich nie wieder gesehen. Deinetwegen hätte ich im Rinnstein verrecken können!«

 

»Ja, ich wollte dich vergessen«, entgegnete sie entschlossen. »Hauptsächlich des Kindes wegen. Ich mußte zwischen dir und ihr wählen. Du hattest all dieses Elend über uns gebracht. Ich will nicht sagen, daß es allein deine Schuld war. Deine Erziehung ist auch daran schuld – die Umgebung, in der du aufgewachsen bist. Aber Marie tat mir so leid. Und so entschied ich mich für sie und ließ dich fallen. Ihr beide hattet nicht zusammen Platz in meinem Leben. Manche Frauen hätten vielleicht anders darüber gedacht, aber ich bin nicht wie die anderen. Ich bin zur Mutter geboren; die Liebe zu Dir hast du in mir erkalten und erstarren lassen. Und das Kind war so lieb«, fuhr sie fort. »Als sie hierherkam, dachten alle Nachbarn, ich wäre die Pflegerin, und ich sagte nichts dagegen. Ohne großes Zutun von meiner Seite entwickelte sich das eigentlich alles von selbst. An ihr wollte ich all das wiedergutmachen, was an mir versäumt worden war. Sie sollte all das Glück genießen, von dem ich nur träumte, ohne es jemals zu erreichen. Und so hatte ich etwas, wofür ich lebte, kämpfte und arbeitete, ein großes Ziel, zu dem ich aufblicken konnte. Es gab Zeiten, in denen es mir fast zu schwer wurde. Ich fühlte mich manchmal namenlos elend und allein…«

 

»Was soll ich dann erst sagen – vollständig von der Welt abgeschlossen? Meinst du denn, ich hätte mich nicht einsam gefühlt? An mich hast du natürlich nicht gedacht!«

 

Sie schüttelte den Kopf. Wie hätte sie auch an ihn denken sollen? Höchstens mit Schaudern und mit Abscheu.

 

»Ich konnte nicht an euch beide denken, das habe ich dir doch schon vorher gesagt«, erwiderte sie leise.

 

Sie sah ihn fragend an. Hatte sie ihn beruhigen können?

 

»Sie wird ja wohl den reichen Kerl heiraten?« fragte er.

 

»Ich weiß es nicht – aber ich hoffe, daß es dazu kommt.«

 

»Hat er denn Geld?«

 

Sie nickte. »Ja, ich glaube.«

 

Er erhob sich und ging mit schlürfenden Schritten im Laden auf und ab.

 

»Wenn er Geld hat, kann er auch für sie zahlen«, sagte er.

 

In diesem Augenblick schien das Gewitter seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Es war, als ob der Himmel über ihnen einstürzte. Verwirrt sah sie ihn an.

 

»Joe, das ist doch ganz unmöglich! Das kannst du ihm doch nicht sagen. Du darfst dich ihm doch nicht aufdrängen!« rief sie.

 

»Natürlich werde ich ihm das sagen!«

 

Als er sah, daß sie unter der Wucht seiner Worte zusammenschrak, freute er sich. Befriedigt sah er, wie sie litt.

 

»Laß mich nur, ich werde schon so viel aus ihm herausholen, als irgend möglich ist – er muß blechen, sonst mache ich ihm die Hölle heiß! Ich weiß, wer er ist – er heißt Morlay. Und dabei ist dieser Lump ein Detektiv! Donnerwetter, er soll meine Tochter heiraten? Lieber würde ich sehen, daß sie verreckt!«

 

»Joe, ich will dir Geld geben«, versprach sie ihm.

 

»Selbstverständlich wirst du mir Geld geben.«

 

Sie feuchtete ihre trockenen Lippen mit der Zunge an.

 

»Du willst ihm alles sagen – daß du Maries Vater bist und daß du einen Polizisten erschossen hast?«

 

»Halt’s Maul!« schrie er wild. Seine Hände zuckten.

 

»Nun ja, das mußt du ihm doch mitteilen, wenn du ihm überhaupt etwas sagst. Glaubst du, er wird dir dann weiterhelfen? Nein, du kannst nicht wieder alles zugrunde richten! Du darfst ihr Leben nicht ruinieren!« rief sie.

 

»Wenn die Göre überhaupt etwas wert ist, wird sie sich gern um mich kümmern. Ich bin ihr Vater.«

 

Sie schaute ihn furchtsam an und erkannte, daß sie ihn nicht weiter reizen durfte.

 

»Joe«, sagte sie nervös, »vielleicht war es nicht recht von mir, daß ich nicht an dich gedacht habe. Du hast jetzt deine Tochter gesehen – habe ich denn keinen Erfolg gehabt? War es nicht richtig, was ich tat? Bist du nicht stolz auf sie?«

 

»Immer kannst du nur von ihr quatschen. Wo bleibe ich?« fuhr er sie wütend an.

 

»Spreche ich denn von mir? Ich habe doch auch auf alles verzichtet!« rief sie leidenschaftlich. »Nein, Joe, du darfst es ihr nicht sagen und alles verderben!«

 

»Doch, gerade das werde ich tun! Ich werde es ihr sagen, denn du sagst ja selbst, daß sie mein Kind ist. Sie muß vor allem für das Gute zahlen, das sie genossen hat!«

 

»Darin irrst du – sie ist uns gar nichts schuldig!« rief sie verzweifelt. »Kinder sind ihren Eltern nichts schuldig, sondern Eltern schulden ihnen etwas!«

 

Aber die beiden redeten aneinander vorbei.

 

»Ich bin ihr Vater«, erklärte er eigensinnig. »Und wenn sie das nicht begreift, werde ich es ihr schon beibringen. Wenn man natürlich so eine dumme Göre Mylady nennt, setzt man ihr Flausen in den Kopf, aber die werde ich ihr schon austreiben! Und dir bringe ich auch noch Vernunft bei! Wenn ich daran denke, was du alles für sie getan hast, und daß du das ebensogut für mich hättest tun können, dann packt mich die Wut! Sie hast du mit allem Luxus umgeben, und ich konnte derweilen im Gefängnis hocken!«

 

Seine Stimme überschlug sich und klang schrill und laut. Einen Augenblick duckte er sich, dann sprang er auf sie zu.

 

»All die vielen Jahre – die vielen Jahre!«

 

Sie glaubte, das Ende all ihrer Leiden wäre gekommen, denn seine Finger packten sie an der Kehle.

 

Es wurde ihr rot vor den Augen, und der Regen draußen wurde in ihren Ohren zum betäubenden Orkan.

 

Sie hatte nur noch den ungewissen Eindruck, daß sich die Tür öffnete. Dann ließ plötzlich der Druck an ihrer Kehle nach.

 

Es war Herman. Er war in sein Zimmer zurückgekehrt und hatte angestrengt auf die Stimmen unten im Laden gelauscht. Das Gewitter hatte etwas nachgelassen; nach einem furchtbaren Donnerschlag hörte Herman draußen nur noch den Regen. Und als der Wind die Regentropfen gegen die Fenster peitschte, so daß die Stimmen von unten kaum noch zu hören waren, hielt er es oben nicht länger aus.

 

Mit eisernem Griff packte er den Mann bei den Schultern und riß ihn zurück. Joe schwankte und starrte Herman an.

 

»Scheren Sie sich zum Teufel!« rief er wild.

 

»Was hat sie Ihnen getan?« schrie ihn Herman an.

 

Mrs. Carawood öffnete die Augen … Es kam ihr selbst in diesem Augenblick zum Bewußtsein, daß Herman nichts von der Wahrheit erfahren durfte.

 

»Es ist schon gut, Herman«, sagte sie mit großer Mühe und richtete sich auf. »Ich bin nur ohnmächtig geworden.«

 

»Aber ich habe doch selbst gesehen, wie dieser Schuft Sie erwürgen wollte!«

 

»Lassen Sie meine Frau in Ruhe!«

 

Herman schaute verstört von einem zum anderen.

 

»Was, das ist Ihre Frau?«

 

Bittend wandte er sich an Mrs. Carawood, aber sie ließ hilflos den Kopf sinken.

 

»Es stimmt, was er sagt, Herman. Mylady – ist meine Tochter. Sie ist keine Gräfin … Ich habe nur für sie gearbeitet, und nun wird er alles ruinieren. Jetzt wird sie mir Vorwürfe machen, Herman, und sie wird mich hassen … Ach, ich wünschte, ich wäre tot!«

 

Joe hatte sich inzwischen gesetzt und sah sich nach einem Kissen um. Als er keines fand, riß er einen Mantel vom Kleiderhaken, knüllte ihn zusammen und legte ihn hinter seinen Rücken. Dann zeigte er mit dem Daumen zur Tür.

 

»’raus mit euch!« befahl er. »Ich werde die Nacht hier schlafen, und ich will nicht länger gestört sein. Ich will auch einmal meine Ruhe haben!«

 

Sie war froh, daß sie entkommen konnte. Wenigstens hatte sie ein paar Stunden Zeit. Mit schweren Schritten ging sie zur Tür. Ihr Gesicht war eingefallen, und sie sah alt aus. Aber ein Gedanke wenigstens war tröstlich: Marie würde heute abend nicht nach Hause zurückkommen. John wollte sie zu einer Schulfreundin bringen.

 

Herman sah ihr besorgt nach, als sie die Treppe hinaufging. Dann hörte er sie in ihrem Zimmer, das über dem Laden lag.

 

Unentschlossen stand er in der Nähe der Tür. Er wollte diesen Eindringling nicht alleinlassen. Mrs. Carawood hatte mit ihm gekämpft und war unterlegen, aber der Kerl hatte auch noch mit ihm zu rechnen!

 

»Was stehen Sie denn noch hier herum – scheren Sie sich zum Teufel!«

 

»Ich geh‘ nicht fort!« sagte Herman ruhig. »Wenn einer hier ‚rausfliegt, dann sind Sie es! Was fällt Ihnen ein, Mrs. Carawood so zuzusetzen! Sie brechen ihr das Herz, und niemand ist so gut zu mir gewesen wie sie …«

 

Die Tränen waren ihm nahe, aber dann ballte er die Fäuste, als sich Joe unsicher erhob.

 

»Also jetzt endlich ‚raus!« sagte Joe und zeigte auf die Tür. »Wenn Sie nicht schnell machen, packe ich Sie beim Kragen und zeige Ihnen mal, was es heißt, sich frech gegen mich zu benehmen. Ich bin Joe Hoad, und mir kommt es nicht auf eine Schlägerei an. Ich habe einmal einem Polizisten das Lebenslicht ausgeblasen! Wenn Sie also jetzt nicht bald verschwinden, dann bekommen Sie es mit mir zu tun!«

 

»Wenn Sie einen Polizisten ermordet hätten, wären Sie ja an den Galgen gekommen. Aber ich weiß, was ich tun werde – ich rufe die Polizei. Sie scheinen ja verrückt zu sein! Wahrscheinlich sind Sie aus irgendeinem Irrenhaus entsprungen!«

 

Joe hatte sich zu sehr aufgeregt. Seine Züge verzerrten sich, die Mundwinkel zuckten, und er rang vergeblich nach Worten.

 

Herman konnte nichts verstehen. Er beobachtete erstaunt, wie der Mann nach dem Herzen griff. Hoads Augen traten aus den Höhlen, als er keine Luft mehr bekam. Er tastete nach dem Gesims über dem Kamin, dann gelang es ihm, ein paar Worte hervorzustoßen.

 

»Schnell … das Fläschchen…!«

 

Herman kam näher.

 

»Schnell … schnell … sonst kratze ich ab!«

 

Mit zwei Schritten hatte Herman den Kamin erreicht.

 

Der Mann starrte auf die Medizin und winkte verzweifelt.

 

»Sie – Sie haben ja auch kein Mitleid und kein Erbarmen mit ihr gehabt«, sagte er und faßte einen schrecklichen Entschluß.

 

Ohne Zögern schraubte er den Verschluß des Fläschchens ab, schüttete den Inhalt in den Kamin und warf die leere Flasche hinterher, daß sie zersplitterte. Im selben Augenblick glitt Joe zu Boden. Herman blieb vollkommen ruhig und lauschte angestrengt. Von oben hörte er kein Geräusch, nur der Regen rauschte draußen auf die Straße. Er drehte das Licht aus, öffnete die Ladentür und schlich dann auf Zehenspitzen zu der Stelle zurück, wo der reglose Körper lag. Mühsam zerrte er ihn zur Tür und schleifte ihn auf den Gehsteig hinaus. Es regnete in Strömen – niemand war zu sehen.

 

*

 

Kapitel 27

 

27

 

Draußen auf der Straße hallten Schritte, die plötzlich anhielten. Ein Polizeibeamter blieb vor der Gestalt stehen, die auf dem Gehsteig lag.

 

»Sie, stehen Sie auf!« sagte er und schüttelte den Mann. »Das ist hier kein Platz zum Schlafen!«

 

Als er den Arm des Mannes losließ, fiel er steif herunter. Der Beamte erschrak, beugte sich über ihn und faßte sein Gesicht an. Es war eiskalt, und als er den Puls fühlen wollte, konnte er nur noch feststellen, daß er nicht mehr schlug.

 

Im nächsten Augenblick schrillte seine Polizeipfeife.

 

Bei der Leichenschau konnte nichts weiter festgestellt werden. Nach den Papieren, die man bei dem Toten gefunden hatte, handelte es sich um einen Joe Hoad, alias Smith, der nach Verbüßung einer langjährigen Strafe aus dem Zuchthaus entlassen worden war. Der Polizeiarzt stellte fest, daß der Mann an einem schweren Herzleiden gelitten hatte, das jeden Augenblick den Tod herbeiführen konnte. Und so stand denn auch auf dem Totenschein, daß der Mann am Herzschlag gestorben war.

 

Mrs. Carawood wurde allgemein für äußerst sentimental und großzügig gehalten, weil sie den Mann mit der Begründung, daß er vor ihrer Haustür gestorben sei, auf ihre Kosten und nicht nach Armenrecht beerdigen ließ.

 

Am Abend nach dem Begräbnis saß sie mit Herman in dem Zimmer hinter dem Laden.

 

»Er ist tot. Das ist das einzige, worauf es ankommt«, sagte Herman.

 

Sie war ganz außer sich, daß er so kaltblütig darüber sprechen konnte. Ihre Augen waren rot vom Weinen.

 

»Es tut mir jetzt doch leid um ihn, Herman.«

 

»Es ist besser, daß er tot ist.«

 

Mrs. Carawood berührte dankbar die Hand des Jungen.

 

»Wir wollen jetzt schlafen gehen«, sagte sie. »Während der letzten Tage haben wir beide wenig Ruhe gehabt. Wie gut, daß Marie in Ascot ist. Wenn ich nur mit Mr. Morlay alles besprechen könnte – er würde mich verstehen!«

 

Mrs. Carawood wollte gerade die Treppe hinaufgehen, als draußen jemand an der Ladentür rüttelte.

 

»Vielleicht will uns ein Nachbar besuchen? Es ist ja noch nicht allzu spät. Gehen Sie hin und sehen Sie nach, wer es ist.«

 

Schnell hatte Herman das Licht wieder angedreht. Seine Finger zitterten aber doch ein wenig, als er die Tür aufschloß.

 

»Kann ich Sie noch sprechen, Mrs. Carawood?« fragte der Herr, der in den Laden trat.

 

Es war John Morlay. Er kam von Ascot – fast jeden Nachmittag brachte er mit Marie draußen zu.

 

»Ist irgend etwas passiert?« fragte sie besorgt.

 

»Nein, nicht das geringste.«

 

Er war in äußerst froher Stimmung. Sie wollte Herman fortschicken, aber er bat, daß der Junge bleiben sollte. Sie hatte eine Ahnung, daß es jetzt zur Aussprache kommen würde.

 

»Ich mußte Sie heute abend noch sehen, und ich bin davon überzeugt, daß auch Sie mich sprechen wollten. Vielleicht haben Sie mir etwas zu sagen?«

 

Es trat eine kleine Pause ein.

 

»Ich weiß alles über Marie«, fuhr er schließlich fort. »Es gibt nur ein überlebendes Mitglied der Familie Fioli – das ist Emilio Benito Fioli, hier in London als Pater Benito bekannt.«

 

»Was, Sie wissen alles?« fragte sie atemlos.

 

John lächelte.

 

»Pater Benito hat mich wegen Marie aufgesucht. Er war in großer Aufregung, denn er wußte, daß seine Schwester kinderlos gestorben war. Und merkwürdigerweise hatte er auch erfahren, daß Sie ein Töchterchen hatten. Das übrige war leicht zu erraten. Nun sagen auch Sie mir alles.«

 

Allmählich faßte sie sich und erzählte ihm ihre Geschichte bis zu dem Augenblick, in dem sie sich von Joe getrennt hatte und nach oben gegangen war. Sie erzählte von dem schweren Kampf, den sie mit Joe Hoad ausgefochten hatte, und sie sagte ihm, wie sehr sie ihr Kind liebte.

 

John Morlay war es gewohnt, von schlechten Leuten zu hören. Er wußte auch, daß die meisten zu schwach waren, sich von ihrer Vergangenheit frei zu machen, und deshalb erschien ihm dieses Erlebnis wie ein Wunder. Als Mrs. Carawood schwieg, wandte er sich an Herman.

 

»Und was geschah dann?«

 

»Ich sagte ihm, daß er das Haus verlassen sollte!« entgegnete Herman heiser.

 

»Und tat er das nicht?«

 

»Nein, im Gegenteil, er wollte mich hinauswerfen … aber dann wurde er so sonderbar, und … und … dann sagte er, ich sollte ihm seine Medizin geben.«

 

John sah den jungen Mann fest an. »Und was machten Sie?«

 

»Ich habe sie ihm nicht gegeben.«

 

Hermans Worte klangen fast wie eine Herausforderung.

 

John zog die Augenbrauen hoch; man hätte das eventuell Herman als Mord auslegen können.

 

»Wenn Sie ihm die Medizin wirklich gegeben hätten, so hätte das vermutlich auch nichts genützt«, sagte er schließlich.

 

»Es ist merkwürdig, daß Sie gerade heute abend gekommen sind«, meinte Mrs. Carawood. »Als Joe Hoad mich hier überfiel, dachte ich an Sie. Ich wußte keinen anderen, der mir helfen könnte, und nun … Ich mache mir solche Sorgen …«

 

»Um Marie?«

 

Sie nickte. »Weiß jemand etwas von der Sache?«

 

»Nur wir beide, Herman und Pater Benito.«

 

»Der Pater wird nichts sagen, Herman wird auch schweigen; es muß unser gemeinsames Geheimnis bleiben. Es ist aber noch jemand da, der dahintergekommen ist – ich habe heute abend mit ihm gesprochen. Es ist Polizeiinspektor Peas. Aber der wird Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Wir sind Ihnen damals abends nach Rotherhithe gefolgt.«

 

Sie schrak zusammen und wurde rot.

 

»Ich wurde gerufen, weil er einen schweren Herzanfall hatte, und ich ließ den besten Doktor für ihn kommen. Er wohnte bei einem Mann, dem ich einmal geholfen habe. Ich hatte nur Angst davor, daß Joe Hoad erfahren würde, daß ich Geld hatte. Als ich damals in Ihrem Büro war, habe ich ihn auch gesehen.«

 

John Morlay nickte.

 

»Ja, das habe ich erfahren. Aber Marie darf nichts davon wissen.«

 

»Ihr Mann muß es aber wissen –«, sagte sie.

 

»Der weiß es bereits«, erwiderte John Morlay, und als sie ihn überrascht ansah, fuhr er fort: »Meiner Meinung nach kann die Sache sehr bald in Ordnung gebracht werden.«

 

»Würden Sie … nach allem, was Sie erfahren haben …? Nein, Mr. Morlay, das können Sie doch nicht!«

 

»Aber ich möchte es doch so gern. Ich bin der glücklichste Mann, wenn Sie Ihre Einwilligung geben.«

 

*

 

Julian Lester gelang es mit Hilfe seiner Kenntnisse mühelos, sich die Beute Harrys des Kammerdieners und dessen Kameraden anzueignen. Zwischen den beiden Dieben, die die Westkanadische Bank beraubt hatten, kam es daraufhin zu einer Schießerei, weil jeder glaubte, der andere hätte ihn betrogen. Sie wurden verwundet ins Krankenhaus eingeliefert, und ihre wirren Reden verrieten der Polizei bald, daß sie die gesuchten Bankräuber waren.

 

Julian Lester aber ging ins Ausland. Bevor er London verließ, schrieb er John Morlay noch einen Brief. Darin drückte er mit gewandten Worten aus, daß er das Beste für Johns Zukunft erhoffe und daß er sich immer gern ihrer freundschaftlichen Beziehungen erinnern würde.

 

Aus seinem Abschiedsbrief an Marie sprach verhaltene Zärtlichkeit. Er machte ihr keine Vorwürfe, sondern erklärte, daß manche Dinge eben einfach nicht zu ändern seien. Er würde in ein fernes Land gehen und sie zu vergessen suchen. Aber er wüßte, daß auch die Zeit niemals die Erinnerung an die eine Frau auslöschen könne, die ihm im Leben wertvoll erschienen sei. All dies schrieb er und noch vieles andere.

 

Und dem Briefpapier, das er benützt hatte, entströmte ein feiner Duft.