Kapitel 2

 

2

 

An einem schönen Frühlingsmorgen ging Mr. Shelton die Lombard Street entlang, in der ausschließlich große Bankhäuser liegen. Er schwang seinen sorgfältig zusammengerollten Schirm und dachte an die Zeiten, als hier noch Pfandleiher und Geldwechsler ihre Geschäfte hatten.

 

Vor einem Gebäude mit einer blendenden Granitfassade hielt er an und betrachtete die monumentale Architektur, als ob er ein Tourist wäre, der sich zum erstenmal London anschaute.

 

»Was ist das für ein Gebäude?«

 

Der Polizist, den er fragte, stand gerade in der Nähe des Gehsteigs.

 

»Die City & Southern Bank.«

 

»Donnerwetter«, sagte Shelton bewundernd. »Wirklich stattlich!«

 

Ein Auto hielt vor dem Gebäude. Der Chauffeur sprang heraus und riß den Wagenschlag auf. Zuerst stieg ein schönes junges Mädchen aus, dann eine ältere Dame mit ernstem Gesicht und schließlich ein hübscher junger Mann mit schwarzem Schnurrbart und Monokel.

 

Die drei gingen in die Bank, und der Polizist trat zu dem Chauffeur.

 

»Wie lange haben sie wohl in der Bank zu tun?«

 

»Vielleicht fünf Minuten«, erwiderte der Mann und streckte sich behaglich auf seinem Sitz aus.

 

»Wenn es aber länger dauern sollte, müssen Sie drüben auf der anderen Seite parken…«

 

Der Polizist gab ihm noch einige Anweisungen und kehrte dann wieder zu dem »Touristen« zurück.

 

»Sie sind wohl fremd in London?«

 

»Ja. Ich bin erst vor kurzem aus Südamerika zurückgekommen. Dreiundzwanzig Jahre war ich dort. Liegt nicht auch das Gebäude der Argentinischen Bank hier in der Nähe?«

 

Der Polizist gab ihm Auskunft, aber Mr. Shelton machte keine Anstalten, dorthin zu gehen.

 

»Es ist schwer, zu glauben, daß in dieser Straße Millionen und aber Millionen von Goldreserven im Depot liegen.«

 

»Ich habe sie auch noch nicht zu sehen bekommen«, meinte der Beamte und lächelte ironisch. »Aber zweifellos – «

 

Plötzlich hob er die Hand halb zum Gruß. Eine Autodroschke war vorgefahren, und ein junger Mann war ausgestiegen. Er sah den Polizisten vorwurfsvoll an und betrachtete Mr. Shelton mit einem prüfenden Blick. Dann verschwand er auch in der Bank.

 

»War das ein Polizeibeamter?« Shelton hatte den unterbrochenen Gruß wohl bemerkt.

 

»Nein, ein Herr aus der City, den ich kenne«, entgegnete der Polizist und ging zu dem Chauffeur der Droschke, um auch ihm Instruktionen zu geben.

 

Als Wetter Long in die Bank kam, sah er das hübsche Gesicht des jungen Mädchens am Schalter und blieb einige Augenblicke stehen, bevor er in das Privatbüro des Direktors trat. Der kleine, untersetzte Herr mit dem kahlen Kopf erhob sich sofort bei seinem Eintritt und schüttelte ihm herzlich die Hand.

 

»Entschuldigen Sie mich, bitte, noch ein paar Minuten – ich muß eben eine Kundin begrüßen.«

 

Mit diesen Worten verschwand er aus dem Büro, kam aber nach kurzer Zeit wieder. Er lächelte und rieb sich die Hände.

 

»Das ist eine charaktervolle Frau«, sagte er. »Haben Sie die Dame gesehen?«

 

»Ja, sie ist wirklich ungewöhnlich hübsch.«

 

»Ach, Sie meinen die Sekretärin. Ich spreche aber von der älteren Dame – Miß Revelstoke. Sie ist schon fast dreißig Jahre meine Kundin. Die sollten Sie eigentlich kennenlernen. Der junge Mann, der sie begleitet, ist ihr Rechtsanwalt. Etwas eitel und stutzerhaft, aber er wird sicher Karriere machen.«

 

Durch ein kleines, viereckiges Fenster konnte man von dem Privatbüro aus die lange Reihe der Schalter beobachten. Die ältere Dame zählte gerade ein Bündel Banknoten, das ihr der Kassierer ausgehändigt hatte. Ihre Sekretärin schien sich zu langweilen, denn sie betrachtete die schöngeschnitzte Decke des prachtvollen Raums. Ihr anziehendes Gesicht verriet Lebhaftigkeit und Intelligenz. Den freundlich lächelnden jungen Mann neben Miß Revelstoke beachtete er kaum. Plötzlich sah die junge Dame zu dem Fenster hinüber und begegnete Longs Blick. Eine Sekunde schauten sie einander wie gebannt an, dann wandte sich der Wetter schnell ab. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß der Bankdirektor dauernd zu ihm gesprochen hatte.

 

»… ich bin ja nicht der Ansicht, daß es Ihnen gelingt, den Mann zu fassen. Dazu ist wahrscheinlich niemand imstande. Der Mensch ist glatt wie ein Aal und wahrscheinlich der Führer einer sehr gerissenen Bande –«

 

»Ich wünschte von Herzen, es wäre so«, entgegnete Long lächelnd. »Aber den Gedanken können Sie aufgeben, Mr. Monkford. Unter Verbrechern und Dieben gibt es keine Ehrlichkeit, höchstens unter den ganz Großen. Dieser Shelton arbeitet ganz auf eigene Faust, und darin besteht seine größte Stärke.«

 

Der Bankdirektor nahm eine dicke Mappe aus seinem Schreibtisch und legte sie auf die Platte.

 

»Hier finden Sie alle Tatsachen, nicht nur von der City & Southern Bank, sondern auch von allen anderen Banken, die von Shelton betrogen wurden. Alle Originalunterschriften sind in Photographie vorhanden. Aber ich glaube nicht, daß es Ihnen viel helfen wird.«

 

Long brachte eine halbe Stunde damit zu, den Inhalt der Mappe zu prüfen, aber am Ende war er auch nicht klüger als vorher.

 

Als er wieder auf die Straße trat, sah er sich nach links und nach rechts um, als ob er nicht entschlossen wäre, nach welcher Richtung er gehen sollte. Schließlich wandte er sich nach der Grace Church Street. An der Ecke dieser Straße und der Lombard Street sah er einen schlanken, älteren Herrn stehen, der offenbar den lebhaften Verkehr beobachtete. Er schaute ihn an, als er an ihm vorüberging, und die Blicke der beiden trafen sich. Die argwöhnisch forschenden Augen des Fremden verrieten Long sofort, daß der Mann den Detektiv in ihm erkannt hatte.

 

Ein eigentümliches Gefühl überkam den Wetter, ohne daß er sich über die Ursache klar werden konnte. Er überquerte die Straße, ging auf einen Zeitungsjungen zu und kaufte ihm ein Blatt ab. Der Fremde stand immer noch an seinem Platz. Er war elegant gekleidet und sah wie ein Oberst in Zivil aus. Absichtlich gab der Wetter dem Zeitungsjungen einen Schilling, um den Mann noch während des Wechselns beobachten zu können. Es mußte irgendein Schwindler aus der City sein, einer der vielen, die hier ihre dunklen Geschäfte trieben. Der mißtrauische Blick hatte Long genug verraten. Es schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, umzukehren und den Fremden unter irgendeinem Vorwand anzusprechen. Aber er gehörte zu Scotland Yard und befand sich in der City. Und die City hatte ihre eigenen Detektive, die eifersüchtig darüber wachten, daß nicht andere Beamte in ihre Rechte eingriffen.

 

Während er sich noch überlegte, was er tun sollte, rief der Mann ein Auto an, das die Straße herunterkam, und fuhr davon. Kaum war er außer Sicht, als der Wetter einem plötzlichen Impuls folgte und sich ebenfalls einen Wagen nahm.

 

»Fahren Sie die Lombard Street entlang«, sagte er schnell, »und sehen Sie zu, daß Sie den gelben Wagen einholen.«

 

Bald darauf sah er das Auto wieder. Er hielt die Zeitung schützend vor das Gesicht und beobachtete über den Rand des Blattes hinweg, daß der Fremde durch das hintere Fenster nach rückwärts schaute.

 

Als Colonel Macfarlane an diesem Abend das Büro verlassen wollte, hielt ihn Inspektor Long freudestrahlend an.

 

»Sie können mir gratulieren – ich habe Shelton ausfindig gemacht!«

 

»Das ist doch nicht möglich!«

 

»Wetten, daß?« entgegnete Mr. Long prompt.

 

Kapitel 20

 

20

 

Die schön ausgestatteten Büroräume des Rechtsanwalts Francis Henry lagen in Lincoln’s Inn Fields, und zwar im Erdgeschoß des Hauses Nr. 642.

 

Der Rechtsanwalt stand am Fenster und schaute auf die schönen Gärten hinaus, als ein Schreiber ihm die Ankunft des Inspektors Long meldete. Mr. Henry sah lächelnd auf die Karte.

 

»Bitten Sie ihn, näherzutreten.«

 

Er ging dem Detektiv entgegen, um ihn zu begrüßen.

 

»Sie kommen natürlich wegen Monkfords. Ich schrieb Ihnen gestern abend noch, aber ich telephonierte dann Heartsease an und hörte, daß Sie schon fortgefahren seien.«

 

Er schob seinem Besucher einen Stuhl hin und nahm selbst an seinem Schreibtisch Platz.

 

»Also, Mr. Long, was wünschen Sie zu wissen?«

 

Der Wetter hatte ein solches Entgegenkommen nicht erwartet und war durch die Freundlichkeit des Mannes ein wenig verblüfft.

 

»Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Mr. Henry«, erwiderte er. »Ein paar Stunden vor seinem Tode unterhielt sich Monkford mit Jackson Crayley und mit Ihnen. Sie gingen auf dem Rasen unter meinem Fenster auf und ab. Als ich dann kurz darauf Monkford selbst sah, war seine Haltung gegen mich entschieden verändert und in gewisser Weise feindlich. Ich möchte nun von Ihnen erfahren, worüber Sie mit Monkford gesprochen haben.«

 

»Das kann ich Ihnen sagen. Ich habe Mr. Monkford mitgeteilt, daß Sie Miß Nora Sanders verehren und ihr einen kostbaren Ring geschenkt haben.«

 

Long war im ersten Augenblick betroffen. Er hatte unter keinen Umständen erwartet, daß dieses kleine Betrugsmanöver Monkford derartig gegen ihn aufbringen könnte.

 

»Ich verstehe aber nicht, daß diese Mitteilung solchen Eindruck auf Mr. Monkford machen konnte. Selbst wenn ich wirklich Nora Sanders verehrte und ihr ein Geschenk machte – warum hätte er sich denn darüber ärgern sollen?«

 

Henry sah ihn merkwürdig lächelnd an.

 

»Weil er selbst Miß Nora Sanders liebte.« Henry war äußerst zufrieden mit dem Eindruck, den seine Worte machten.

 

»Hat er die junge Dame tatsächlich verehrt?« fragte der Wetter ungläubig.

 

»Ja. Seine Liebe zu ihr ging sogar so weit, daß er am Nachmittag vor seinem Tode ein Testament zu ihren Gunsten machte und ihr sein ganzes Vermögen hinterließ.«

 

Long erhob sich.

 

»Donnerwetter, das ist ja kaum zu glauben!« sagte er langsam.

 

Der Rechtsanwalt zuckte die Schultern, um anzuzeigen, daß ihn die Schrullen des verstorbenen Monkford nicht interessierten.

 

»Das Testament ist in meinem Besitz. Es wurde auf Monkfords dringendes Verlangen aufgesetzt und von mir und Crayley als Zeugen unterschrieben.«

 

»Wer sind denn die Testamentsvollstrecker?« fragte der Wetter nach einer kurzen Überlegung.

 

»Miß Sanders selbst. Ich riet ihm natürlich davon ab, ein solches Testament zu machen, und schlug ihm vor, seinem eigenen Rechtsanwalt die Sache zu übergeben. Ich war vor allem sehr dagegen, daß Miß Sanders ihre eigene Testamentsvollstreckerin sein sollte. Aber er ließ sich in diesem Punkt nichts dreinreden. Er erwähnte auch, daß er nach dem Abendessen mit Ihnen sprechen und Ihnen alles erklären wollte. Er muß seinen Tod vorausgeahnt haben, da er so sehr darauf bestand, das Testament sofort aufzustellen. Ich war entschieden dagegen.«

 

»Das haben Sie schon vorher gesagt«, entgegnete der Wetter kühl. Seine ganze Haltung drückte aus, daß er an den Worten des Rechtsanwalts zweifelte, aber Mr. Henry war nicht allzu empfindlich.

 

Longs Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er rekapitulierte kurz alle Tatsachen von der Verhaftung Clay Sheltons bis zu dem gegenwärtigen Augenblick.

 

»Ich muß sehr schnell arbeiten«, sagte er langsam. »Schneller als alle anderen. Und es wird mir gelingen. Wetten, daß?«

 

Kapitel 21

 

21

 

Der Tod Mr. Monkfords deprimierte Nora Sanders stark. Sie konnte sich des düsteren Eindrucks nicht erwehren, daß die Bande des Schreckens ihre Hand im Spiel hatte. Das wurde ihr mehr und mehr zur Gewißheit, obwohl sie mit Long nicht mehr über die Verbrecherorganisation gesprochen hatte. Sie versuchte aber vergeblich, Miß Revelstoke auch davon zu überzeugen.

 

»Das ist der größte Unsinn«, entgegnete die alte Dame energisch. »Ich weiß nicht, was Sie immer mit der Bande des Schreckens wollen. In Scotland Yard scheint man ja vollkommen die Nerven verloren zu haben, wenn derartige Dummheiten geglaubt werden.«

 

Sie sah gerade zum Fenster hinaus, als ein Mietauto vor der Haustür hielt.

 

»Ach, da kommt ja Ihr Ihnen so ergebener Mr. Henry. Er scheint es sehr eilig zu haben.«

 

Erst nachdem sich der Rechtsanwalt zwanzig Minuten lang allein mit Miß Revelstoke unterhalten hatte, ließ sie Nora kommen, und das junge Mädchen war aufs äußerste bestürzt, als sie von der Erbschaft hörte.

 

»Zwei Millionen soll ich erben?« sagte sie atemlos. »Das kann doch nicht wahr sein!«

 

Bleich und verstört sank sie in einen Stuhl und sah ratlos von einem zum andern. Mr. Henry strahlte sie wohlwollend an und weidete sich an ihrer Verwirrung.

 

»Sie haben nun auch die Verantwortung für das ganze Vermögen und den Grundbesitz, Nora. Es wäre gut, wenn Sie meine Hilfe in Anspruch nähmen und mir die Führung Ihrer Geschäfte anvertrauten. Ich würde dann vor allem die Erklärung der Rechtsgültigkeit des Testaments durchsetzen. Die meisten Werte sind flüssig, und nach dem Wortlaut des Testaments können Sie sofort über ein Bankguthaben von einer Million zweihunderttausend Pfund verfügen.«

 

»Der schlaue alte Fuchs war also doch in Sie verliebt!« sagte Miß Revelstoke und sah Nora mit ihren dunklen Augen durchdringend an.

 

»Aber – ich verstehe den Zusammenhang wirklich nicht«, erwiderte Nora mit stockender Stimme.

 

Die alte Dame legte den Arm um die Schulter des jungen Mädchens.

 

»Gehen Sie in Ihr Zimmer, mein Kind. Ich werde noch wegen der Erbschaft mit Henry sprechen. Man kann auch nicht verlangen, daß sie sich sofort mit ihrem großen Glück abfindet«, wandte sie sich an den Rechtsanwalt.

 

Willig ließ sich Nora von ihr zur Tür begleiten. Aber ihre Gedanken wirbelten immer noch durcheinander, als sie auf ihrem Zimmer angelangt war.

 

Es war doch unmöglich! Sie sollte zwei Millionen Pfund besitzen? Natürlich träumte sie. Aber nach und nach kam ihr zum Bewußtsein, daß es Wirklichkeit war. Sie sah sich im Zimmer um und betrachtete jedes Möbelstück, dann trat sie an das offene Fenster und schaute hinaus. Drüben, auf der anderen Seite der Straße, stand ein Mann. Ihr Herz schlug plötzlich wild, als er sie grüßte.

 

Es war Wetter Long. Er legte den Finger auf die Lippen, dann winkte er ihr zur Straße herunter und hob drei Finger in die Höhe. Also um drei! Sie sah nach der Uhr auf dem Kamin, die halb eins zeigte. Dann nickte sie ihm zu. Aber wo sollte sie ihn nur treffen? Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, entfaltete er eine Zeitung und deutete auf eine Annonce, die in sämtlichen Morgenzeitungen an derselben Stelle stand. Das Warenhaus Cloche kündigte darin den Beginn einer billigen Woche an. Sie erkannte das charakteristische Reklamebild und nickte wieder.

 

Aufs neue hob er den Finger und legte ihn auf die Lippen. Miß Revelstoke sollte also nichts davon erfahren. Sie gab ihr Einverständnis zu erkennen. Er winkte ihr noch einmal zu und ging dann fort. Warum hatte er nicht telephoniert? Es waren doch zwei Apparate im Hause, einer in der Diele im Erdgeschoß und einer in Miß Revelstokes Arbeitszimmer. Ohne Wissen der alten Dame hätte sie allerdings kein Gespräch führen können.

 

Als der Gong zum Mittagessen rief, ging sie wieder nach unten und traf die beiden im Wohnzimmer.

 

»Ich habe mit Mr. Henry über Ihr außerordentliches Glück gesprochen«, sagte Miß Revelstoke, »und ich halte es auch für das beste, daß Sie vernünftig sind und ihn zu Ihrem Generalbevollmächtigten ernennen.«

 

Nora mußte lachen. Welch große Bedeutung hatte sie doch plötzlich erlangt, daß sie sogar einen Bevollmächtigten brauchte.

 

»Ich bin allerdings in einer Gemütsverfassung, daß ich lieber alle anderen Leute für mich handeln lasse, als selbst etwas unternehme«, gestand sie. »Ich kann immer noch nicht verstehen, warum Mr. Monkford mir das große Vermögen vermacht hat.«

 

»Er hätte es auch schlechteren Menschen hinterlassen können«, meinte Miß Revelstoke. »Der arme Joshua war wirklich ein merkwürdiger Mann, aber in diesem Fall hat er ganz guten Geschmack bewiesen. Er hat Sie eben geliebt, wirklich, er hat Sie verehrt«, sagte sie eindringlich, als Nora den Kopf schüttelte.

 

Auf dem Tisch lagen zwei Schriftstücke.

 

»Sie müssen hier an dieser Stelle unterzeichnen«, erklärte, ihr Mr. Henry liebenswürdig. »Durch das erste Dokument bestätigen Sie die Annahme der Erbschaft, und das zweite ist eine Vollmacht, die Sie mir ausstellen. All Ihre Sorgen in Vermögensangelegenheiten wälzen Sie dadurch auf meine Schultern ab.«

 

Nora setzte sich und griff zu dem Federhalter. Aber plötzlich zögerte sie. Man verlangte von ihr, daß sie einen bestimmten Schritt unternehmen sollte, und durch ihre Unterschrift beanspruchte sie den Besitz eines Vermögens, das ihr eigentlich nicht zustand.

 

»Muß ich denn jetzt schon unterzeichnen? Ich bin wirklich noch kaum in der Lage, die Situation richtig zu beurteilen. Hat es nicht Zeit bis zum Abend? Bis ich die erste Aufregung überwunden habe?« Sie sah den Rechtsanwalt an.

 

Miß Revelstoke stand hinter ihr und gab Mr. Henry ein warnendes Zeichen.

 

»Aber gewiß«, beruhigte er sie. »Heute kann ich doch sowieso nichts mehr unternehmen. Es ist besser, Miß Revelstoke erklärt Ihnen erst alles genau, bevor Sie Ihre Unterschrift geben. Wenn ich die Papiere nur morgen früh mit der ersten Post bekomme, dann haben wir keine Zeit verloren.«

 

Die ältere Dame nahm die beiden Schriftstücke und legte sie beiseite.

 

»So, nun wollen wir aber zum Essen gehen«, sagte sie dann in vergnügter Stimmung.

 

Henry verließ das Haus um halb drei, und Nora ging gleich darauf in das Arbeitszimmer, in das sich Miß Revelstoke begeben hatte.

 

»Ich möchte eine Stunde ausgehen«, sagte sie. »Ich hoffe, daß mir die Luft gut tut, damit ich wieder klar denken kann.«

 

»Kein schlechter Gedanke. Ich möchte Ihnen nur raten, mit keinem Menschen über das Testament zu sprechen, bis Henry die nötigen gesetzlichen Schritte ergriffen hat. Der letzte, mit dem Sie sich darüber unterhalten dürften, wäre Mr. Long. Es ist ja möglich, daß ich ein Vorurteil gegen diesen Herrn habe, aber ich kann seinen Vater durchaus nicht leiden. Wohin wollen Sie denn gehen?«

 

»Ich möchte etwas im Park spazieren gehen und mich dann vielleicht einmal bei Cloche umsehen. Es ist eine billige Woche dort.«

 

Miß Revelstoke lächelte nachsichtig.

 

»Aber mein Liebling, Sie brauchen doch jetzt wirklich nicht mehr zu einer billigen Woche ins Warenhaus zu laufen. Aber Sie haben vielleicht ganz recht. Es ist eine Ablenkung. Kommen Sie, bitte, bis fünf Uhr wieder zurück.«

 

Kapitel 22

 

22

 

Das Warenhaus Cloche ist groß, und da es Wetter Long nicht möglich war, Nora einen bestimmten Treffpunkt anzugeben, hielt sie sich einige Zeit am Haupteingang auf. Als sie ihn aber nicht entdecken konnte, betrat sie schließlich das Geschäft. Im Erdgeschoß wimmelte es von Menschen. Sie schaute nach rechts und nach links, aber sie sah ihn nicht. Hatte sie ihn doch falsch verstanden? Oder war er am Ende verhindert?

 

Plötzlich trat ein Aufsichtsbeamter mit langem, blondem Schnurrbart auf sie zu und begrüßte sie mit einem Kopfnicken.

 

»Wir haben Ihre Handtasche gefunden, sie liegt im Fundbüro. Wollen Sie, bitte, mitkommen?«

 

Bevor sie erwidern konnte, daß sie nichts verloren hätte, drehte er sich um und ging ihr voran. Vergeblich versuchte sie, ihn zu überholen und ihm klar zu machen, daß er sich täuschen müßte. Er ging in ein kleines Büro und hier wandte er sich erst wieder nach ihr um.

 

»Sie müssen sich unbedingt irren, ich habe keine Tasche verloren –« begann sie.

 

Er öffnete eine andere Tür, die zu einem kleinen Salon führte.

 

»Würden Sie einen Augenblick Platz nehmen?« fragte er freundlich.

 

»Ich sage Ihnen aber doch, daß ich nichts verloren habe«, wiederholte sie, etwas erregt über seine Unzugänglichkeit.

 

Er schob sie in das kleine Zimmer und schloß die Tür hinter ihr.

 

»Entschuldigen Sie, daß ich wie ein Detektiv im Theater erscheine«, sagte der Wetter und nahm den Schnurrbart ab. »Sie verstehen jetzt wohl, warum Sie Ihre Handtasche verloren haben müssen.«

 

Sie starrte ihn erstaunt an.

 

»Mir sind derartige Dinge auch zuwider«, fuhr er fort, »aber der alte Cloche ist ein großer Freund von Scotland Yard, und ich hatte keinen anderen Weg, um mich Ihnen zu nähern, ohne die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, der Ihnen dauernd folgt.«

 

»Der mir dauernd folgt?« fragte sie ungläubig. »Da irren Sie sich aber.«

 

»Durchaus nicht. Ich kenne den Mann, seinen Namen, seine Adresse. Sogar über seine früheren Gefängnisstrafen bin ich orientiert«, erklärte der Wetter mit breitem Lächeln. »Haben Sie schon von Ihrem großen Glück erfahren?«

 

Sie nickte.

 

»Ist es denn wirklich wahr? Ich kann es noch nicht glauben.«

 

»Es ist schon wahr. Das Testament ist über jeden Zweifel erhaben – wenigstens unter diesen Umständen. Monkford soll es an dem Nachmittag vor seinem Tod unterzeichnet haben. Das war der erste August – kommt Ihnen das Datum nicht bekannt vor?«

 

Sie erinnerte sich und wurde bleich.

 

»Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Welche Schriftstücke sollen Sie denn für Mr. Henry unterzeichnen?«

 

Sie setzte sich plötzlich.

 

»Woher wissen Sie denn davon etwas?« fragte sie verblüfft.

 

»Haben Sie Ihre Unterschrift schon gegeben?« fragte er schnell.

 

»Noch nicht.«

 

»Sie haben Sie also tatsächlich gebeten, etwas zu unterzeichnen? Um was handelt es sich denn?«

 

»Das verstehe ich noch nicht ganz. Aber anscheinend ist alles in Ordnung. Mr. Henry zeigte mir zwei Papiere: eine Vollmacht, die ich ihm ausstellen sollte, und eine Bestätigung, daß ich das Testament annehme –«

 

»Sie werden keins der beiden Schriftstücke unterzeichnen.«

 

»Aber Mr. Henry ist doch ein Rechtsanwalt, und er handelt in meinem Interesse.«

 

»Nein, das tut er eben nicht. Sie unterzeichnen nichts – haben Sie mich verstanden?« fragte er etwas unhöflich. Dann nahm er ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche, glättete es und legte es auf den Tisch. »Ich bin im Begriff, Ihr Vertrauen auf eine harte Probe zu stellen«, sagte er sehr ernst. »Dieses Schriftstück ist eine Vollmacht für Wilkins, Harding & Bayne, die Rechtsanwälte meines Vaters, und ich bitte Sie, es zu unterzeichnen. Ich werde dafür sorgen, daß es noch heute nachmittag in die Hände der betreffenden Herren kommt.«

 

»Was besagt es denn?« fragte sie und schaute zu ihm auf.

 

»Es hat vermutlich denselben Inhalt wie das Schriftstück, das Sie für Mr. Henry unterzeichnen sollten. Es ist eine Art Generalvollmacht, und Sie legen dadurch die Verwaltung Ihrer Angelegenheiten in die Hände einer Rechtsanwaltsfirma, die über jeden Zweifel erhaben ist.«

 

»Wollen Sie denn sagen, daß Mr. Henry –«

 

»Mr. Henry ist nicht über jeden Zweifel erhaben, und zwar aus vielen Gründen, die ich Ihnen jetzt im Moment nicht erklären kann. Ich bitte Sie, Nora, schenken Sie mir Vertrauen und unterzeichnen Sie das Schriftstück.«

 

Sie nahm die Feder, die auf dem Schreibtisch lag, und unterschrieb, ohne den Inhalt durchzulesen.

 

»Es wird allerdings eine böse Auseinandersetzung geben, wenn ich Miß Revelstoke erzähle, was ich getan habe.«

 

»Sie brauchen es ihr erst morgen früh mitzuteilen. Wann sollten Sie denn die Schriftstücke für Mr. Henry unterzeichnen – etwa schon heute abend? Zweifellos arbeitet die Gegenseite sehr schnell. Glauben Sie, daß Sie imstande sind, Miß Revelstoke ein wenig zu belügen?«

 

Sie lächelte.

 

»Ich möchte es nicht gerne tun, aber wenn Sie es wollen –«

 

»Gut. Dann sagen Sie, daß Sie sich entschlossen haben, die Vertretung Ihrer Angelegenheiten den Rechtsanwälten Ihres verstorbenen Vaters zu übergeben, die sich mit Mr. Henry in Verbindung setzen würden. Um Ihre Handlungsweise zu rechtfertigen, können Sie auch noch angeben, daß Mr. Henry das Testament als Zeuge unterschrieben hat, und daß Sie es für das beste halten, einen Unbeteiligten mit der Wahrung Ihrer Interessen zu betrauen.«

 

Er nahm eine kleine Handtasche vom Tisch auf und überreichte sie ihr lächelnd.

 

»Sie haben also Ihr verlorenes Eigentum wiedererhalten. Der Herr, der draußen auf Sie wartet, ist sicher schon ungeduldig geworden.«

 

»Wann kann ich Sie wieder treffen, Mr. Long? Diese ganze Geschichte beunruhigt mich wirklich sehr.«

 

»In fünf Minuten sehe ich Sie wieder, und wahrscheinlich bin ich die ganze nächste Woche in Ihrer unmittelbaren Nähe.« Bei diesen Worten nahm er ihre Hand in die seine. »Es wird Ihnen in nächster Zeit nicht sehr gut gehen, aber Sie haben einen festen Charakter, und Sie werden über alle Schwierigkeiten hinwegkommen. Und wenn es Sie irgendwie tröstet, möchte ich Ihnen sagen, daß achtzehntausend Polizisten in London alles für Ihre Sicherheit tun, und daß ich in den nächsten Tagen graue Haare Ihretwegen bekomme. Aber lassen Sie den Mut nicht sinken.«

 

Gleich darauf trat sie aus dem kleinen Salon auf die Straße. Unterwegs sah sie sich mehrmals verstohlen um und bemerkte tatsächlich einen Mann, der sie beobachtete. Aber obwohl darin eine Gefahr für sie liegen mußte, und obwohl Long sie gewarnt hatte, fühlte sie sich im Augenblick stark und mutig.

 

Sie wartete nicht erst, bis die alte Dame sie an die Unterzeichnung der Schriftstücke erinnerte, sondern ging nach ihrer Rückkehr sofort zu ihr. Sie fand sie im Wohnzimmer, mit einer feinen Handarbeit beschäftigt.

 

Kapitel 23

 

23

 

»Ich habe mich entschlossen, die Erledigung meiner Angelegenheiten den Rechtsanwälten meines Vaters zu übergeben«, sagte sie ohne weitere Einleitung. »Ich habe ihnen bereits geschrieben.«

 

»So?« fragte Miß Revelstoke, die nur kurz von ihrer Stickerei aufgesehen hatte. »Das ist allerdings sehr unangenehm. Ich dachte, Sie würden in diesem Fall meinem Rat folgen. Aber da Sie den entscheidenden Schritt schon getan haben, läßt sich wohl nichts mehr ändern. Sagen Sie, bitte, Jennings, daß ich das Auto in einer halben Stunde brauche.«

 

Miß Revelstoke hatte die Mitteilung sehr ruhig hingenommen, aber Nora kannte sie zu gut, um sich täuschen zu lassen. Sie wußte, daß die alte Dame wütend über sie war, obwohl die Hand der Frau, die die Nadel führte, nicht im mindesten zitterte, und obwohl ihre Stimme so ruhig wie immer klang. Aber die beiden roten Flecken auf ihren Wangen verrieten ihre Erregung.

 

Nora sah von ihrem Zimmer aus, wie der Wagen fortfuhr, und ging wieder nach unten. Sie fühlte sich erleichtert, da sie im Moment von der Gegenwart der alten Dame befreit war.

 

Ihre Stellung hier wurde allmählich unhaltbar. Schon auf dem Rückweg von dem Kaufhaus hatte sie sich das klargemacht. Und doch fand sie keinen vernünftigen Grund dafür, das Haus von Miß Revelstoke zu verlassen. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie ihr doch in vieler Hinsicht recht dankbar sein mußte. Miß Revelstoke hatte sie immer menschenfreundlich und liebenswürdig behandelt und niemals unangenehme Forderungen an sie gestellt.

 

Erst kurz vor sechs kehrte sie zurück. Ihr Ärger schien während der Spazierfahrt verflogen zu sein, denn sie war in der besten Stimmung.

 

»Ich war bei Mr. Henry«, erzählte sie Nora. »Er ist natürlich ein wenig betreten, aber er versteht Ihre Ansicht, und er glaubt, daß Sie im großen und ganzen richtig gehandelt haben. Vielleicht sind Sie so liebenswürdig und schreiben ihm einen Brief. Darin können Sie ihm ja auch den Namen Ihrer Rechtsanwälte mitteilen. Vergessen Sie es nicht, er hat mich dringend darum gebeten.«

 

Nora erinnerte sich plötzlich mit Schrecken daran, daß sie den Namen vergessen hatte. Miß Revelstoke bemerkte ihre Verwirrung, drang jedoch nicht weiter in sie.

 

»Glücklicherweise hat Mr. Henry noch nicht viel unternommen. Mit Mr. Monkfords Rechtsanwälten hat er sich allerdings schon in Verbindung gesetzt, und die sind natürlich auch etwas enttäuscht. Das Testament wird aber jedenfalls nicht angefochten werden, diese beruhigende Mitteilung kann ich Ihnen machen. Monkford hatte keine Verwandten, und in einem früheren Testament hatte er fast sein ganzes Vermögen wohltätigen Zwecken zugewiesen.«

 

Sie erhob sich und lächelte.

 

»Ich komme mir jetzt gegen Sie mit Ihrem kolossalen Reichtum recht unbedeutend vor. Gestern waren Sie noch meine Sekretärin, zwar sehr hübsch, aber – verzeihen Sie, daß ich es sage – doch nicht von großer Bedeutung. Und heute darf ich es kaum wagen, Ihnen einen Auftrag zu geben.«

 

Nora atmete erleichtert auf, als Miß Revelstoke sie so freundlich behandelte.

 

»Sie haben mir aber doch schon verschiedene gegeben«, erwiderte sie vergnügt.

 

»Dann will ich Ihnen noch einen weiteren geben. Telephonieren Sie an Henry, daß ich meine Meinung geändert habe und mit ihm zu Abend speisen werde. Ich habe übrigens den etwas unangenehmen Mr. Crayley in der Stadt getroffen. Er fragte mich, ob er mich heute abend besuchen könnte. Er wollte mir etwas Wichtiges und Interessantes erzählen. Würden Sie so liebenswürdig sein und ihn empfangen, wenn er kommen sollte? Versuchen Sie, ihn so schnell als möglich los zu werden. Sagen Sie, daß ich unerwarteterweise nach auswärts gerufen wurde. Ich kann tatsächlich die langweilige Unterhaltung mit ihm nicht vertragen!«

 

Nora aß allein und in Muße zu Abend und dachte dabei über die Ereignisse des Tages nach.

 

Als die Uhr auf dem Kamin acht schlug, trat das Dienstmädchen herein.

 

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Miß.«

 

»Mr. Crayley?«

 

»Nein, ein fremder Herr. Ich habe ihn noch nicht gesehen.«

 

Nora eilte in das Wohnzimmer und fand einen Mann dort, den auch sie nicht kannte. Er sah wie ein besserer Handwerker aus.

 

»Sind Sie Miß Sanders?« fragte er in einem offiziellen Ton.

 

»Ja«, entgegnete sie erstaunt.

 

»Inspektor Long schickt mich. Ich bin Sergeant Smith von der Kriminalabteilung.«

 

»Ein Detektiv?«

 

»Ja.« Er warf einen Seitenblick auf das silberne Tablett und die Kaffeekanne. »Ich will solange warten, bis Sie Kaffee getrunken haben. Ich habe Zeit.«

 

Sie zögerte und schaute auf die Uhr. Mr. Crayley konnte jeden Augenblick kommen, und die Anwesenheit eines Detektivs von Scotland Yard würde etwas peinlich sein. Der Mann schien ihre Gedanken zu erraten.

 

»Wenn Besuch kommt, gehe ich ins Nebenzimmer.«

 

»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« fragte sie, während sie schon eingoß.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, danke schön, Miß.«

 

Sie stellte die Tasse vor sich hin, nahm Zucker und Milch und wartete, daß er beginnen sollte.

 

»Der Inspektor hat mir den Auftrag gegeben, Sie nach Scotland Yard zu bringen. Er muß Sie in einer dringenden Angelegenheit heute abend noch sprechen.«

 

»Ich kann aber das Haus nicht verlassen. Es kommt noch ein Freund von Miß Revelstoke.«

 

Er lächelte.

 

»Wegen Mr. Crayleys brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, der kommt heute abend nicht«, erklärte er zu ihrer Überraschung. »Er ist bei Mr. Long.«

 

Sie sah ihn nur verwundert an.

 

»Ja, er hatte einige Fragen an ihn zu stellen. Sonst ist nichts Besonderes, Miß. Und Sie sollen seine Aussage in einem Punkt bestätigen. Haben Sie die beiden Schriftstücke, die Sie für Mr. Henry unterzeichnen sollten?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Soviel ich weiß, liegen sie in Miß Revelstokes Arbeitszimmer.«

 

Sie ging hinaus, um die Dokumente zu holen, fand sie auf dem Schreibtisch unter einem Briefbeschwerer und kehrte gleich darauf zurück.

 

»Braucht Mr. Long die Papiere?«

 

»Er hätte sie gern gesehen. Lange bleiben Sie nicht fort, höchstens eine Stunde. Wenn Sie Ihren Kaffee getrunken haben, wollen wir gehen.«

 

Sie trank ihre Tasse aus und erhob sich.

 

»Ich bin in einem Augenblick fertig«, sagte sie.

 

Zwei Schritte machte sie zur Tür hin, dann wurde es ihr dunkel vor den Augen. Der Mann fing sie in seinen Armen auf, als sie bewußtlos umsank.

 

Kapitel 14

 

14

 

Miß Revelstoke öffnete gewöhnlich den Briefkasten an der Haustür selbst, um ihre eigene Korrespondenz auszusuchen. Beim Frühstück reichte sie Nora ein eingeschriebenes Päckchen über den Tisch hinüber.

 

»Für mich?« fragte das junge Mädchen erstaunt.

 

»Der Adresse nach wenigstens«, entgegnete die ältere Dame, die am Morgen gewöhnlich etwas kurz angebunden war. »Haben Sie am Ende Geburtstag?«

 

»Nein.«

 

Nora öffnete das kleine Paket und nahm ein Lederetui von winzigen Abmessungen heraus.

 

»Ein Ring?« fragte Miß Revelstoke, die interessiert zugesehen hatte.

 

Nora betrachtete das Schmuckstück in höchster Verwunderung. Sie hatte noch nie einen so großen Brillanten gesehen wie den in diesem Goldreif.

 

»Das muß ein Irrtum sein«, erklärte sie und faltete den kleinen Bogen auseinander, der dabeilag.

 

Es standen nur ein paar Worte in Maschinenschrift darauf:

 

»In Verehrung von einem Freund«.

 

Miß Revelstoke nahm den Ring und betrachtete ihn aufmerksam. Sie kannte den Wert von Juwelen sehr gut.

 

»Ein Diamant von bläulicher Färbung – er ist mindestens dreihundertfünfzig Pfund wert. Aber Nora, wer ist denn dieser unbekannte Verehrer?«

 

»Ich bin sicher, daß der Ring nicht für mich bestimmt ist.«

 

Aber die Adresse war richtig. Das Päckchen trug den Stempel eines Postamtes im Westen.

 

»Wirklich ein merkwürdiger Mensch!« sagte Miß Revelstoke ein wenig belustigt.

 

»Wissen Sie denn, wer es ist?« fragte Nora betroffen.

 

»Monkford – wer denn sonst? Der Mann ist so leicht entflammt wie ein Jüngling von zwanzig Jahren. Ich kenne das bei ihm.«

 

»Aber das ist unmöglich! Ich habe ihn doch kaum gesehen!«

 

»Dann kommt der Ring von Mr. Henry«, erklärte die alte Dame entschieden und bestrich eine Toastschnitte mit Butter. »Ich werde die beiden einmal anläuten und hören, wer ihn geschickt hat.«

 

»Ach, bitte, tun Sie das nicht«, rief Nora erschreckt. »Das wäre mir sehr peinlich. Wenn ich wüßte, daß Mr. Monkford –«

 

»Würden Sie den Ring dann zurückschicken? Das wäre sehr töricht von Ihnen«, entgegnete Miß Revelstoke ruhig. »Während meines langen Lebens bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß eine Frau von einem Verehrer alles annehmen sollte, was er ihr geben will. Wenn man älter ist, erhält man nicht mehr derartige Geschenke. Könnte übrigens nicht der Detektiv, den Sie kennenlernten, so aufmerksam gewesen sein?«

 

»Nein!« Nora fühlte, daß sie errötete, und ihre Verlegenheit wuchs. »Warum sollte denn gerade Mr. Long mir den Ring schicken? Polizeibeamte haben doch gewöhnlich kein Geld für derartig kostbare Geschenke.«

 

»Aber Mr. Long macht eine Ausnahme. Sein Vater ist ein Millionär.«

 

Nora schwieg. Sie glaubte keinen Augenblick, daß dieses wundervolle Schmuckstück von Wetter Long kommen könnte. Er war nicht der Mann, der sich ihr nach derartig kurzer Bekanntschaft so aufdringlich näherte. Sie betrachtete den Ring aufs neue und war etwas bestürzt.

 

»Was soll ich nur damit anfangen?«

 

»Behalten Sie ihn doch. Sie brauchen ihn ja nicht zu tragen. Legen Sie ihn solange beiseite, bis Sie sich an seinen Besitz gewöhnt haben. Er ist immerhin dreihundertfünfzig Pfund wert, und das sind dreihundertfünfzig stichhaltige Gründe, weswegen Sie ihn nicht zurückgeben sollten, selbst wenn Sie wüßten, von wem er stammt. Es ist doch eigentlich ganz gut, daß Sie den Absender nicht kennen.«

 

Nora ging später aus, um Einkäufe zu machen. Als sie zurückkehrte, fand sie den jungen Rechtsanwalt im Wohnzimmer.

 

»Henry hat Ihnen den Ring nicht geschickt«, erklärte Miß Revelstoke, als sie das junge Mädchen begrüßte.

 

»Hatten Sie etwa Geburtstag?« fragte Mr. Henry etwas verlegen.

 

»Alter schützt vor Torheit nicht«, sagte die alte Dame. »Ich bin fest davon überzeugt, daß der Ring von Monkford kommt.«

 

»Aber er kennt mich doch gar nicht!« protestierte Nora.

 

»Er ist ein Idealist«, entgegnete Miß Revelstoke so bestimmt, daß Nora nichts mehr darauf erwiderte.

 

»Telephonieren Sie jetzt einmal nach Heartsease und fragen Sie Cravel, ob ich für Mittwoch noch ein Extrazimmer haben kann. Henry kommt auch dorthin.«

 

Nora ging zur Bibliothek und führte den Auftrag aus.

 

Als das erledigt war, stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf und nahm das kleine Lederkästchen mit sich. Sie betrachtete den Ring wieder, und sie wäre keine Frau gewesen, wenn sie sich nicht sehr über das Geschenk gefreut hätte. Sie hätte allerdings gern mit Long über die Sache gesprochen. Sicher hätte er einen Ausweg gewußt. Aber am Ende würde er ihr auch den sehr materiellen Rat geben, das Schmuckstück einfach anzunehmen.

 

Am Abend speiste Miß Revelstoke auswärts, und Nora saß allein im Eßzimmer. Sie war gerade fertig und las in der Abendzeitung, als das Mädchen hereinkam.

 

»Würden Sie Mr. Long empfangen?«

 

Nora erhob sich und errötete leicht.

 

»Ja – bitte, führen Sie ihn ins Wohnzimmer.«

 

Als sie hinüberging, betrachtete der Wetter gerade ein großes Ölgemälde über dem Kamin, das ein hübsches Mädchen darstellte.

 

»Hallo, wer ist denn das? Wahrscheinlich Miß Revelstoke? Damals muß ihr Leben sehr rosig und heiter gewesen sein.«

 

Nora starrte auf das Bild, und es kam ihr zum erstenmal zum Bewußtsein, wessen Porträt es war.

 

»Hoffentlich hat sie nichts dagegen, daß ich Sie besuche? Ist sie zu Hause?«

 

»Nein, sie ist ausgegangen.«

 

»Ich dachte es mir. Ich traf ihren Wagen in Piccadilly. Gehen Sie eigentlich oft ins Theater, Miß Sanders?«

 

»Nicht zu häufig«, entgegnete sie schnell. »Natürlich, wenn Miß Revelstoke ausgegangen ist –«

 

»Ich lade Sie nicht ein«, erwiderte er ruhig und blinzelte verschmitzt mit den Augen. »Ich wollte nur wissen, ob Sie öfter abends spät in der Gegend von Berkeley Square spazierengehen. Aber ich sehe schon an Ihrer jungfräulichen Entrüstung, daß das nicht der Fall ist.«

 

Sie mußte lachen.

 

»Meine jungfräuliche Entrüstung nehmen Sie allerdings nur an. Aber ich kenne die Gegend kaum und bin dort noch nicht spazierengegangen.«

 

»Aber nächste Woche gehen Sie nach Heartsease. Sind Sie eigentlich eine Golfspielerin?«

 

»Ja, aber ich würde mich schämen, mich unter all den guten Spielern in Heartsease sehen zu lassen. Nein, ich begleite nur Miß Revelstoke. Warum fragen Sie eigentlich danach? Gibt es etwas Neues von der Bande des Schreckens?«

 

Er seufzte.

 

»Ich hoffte, Sie hätten alles vergessen, was ich Ihnen darüber erzählt habe. Ich bin leider viel zu mitteilsam, und das ist nicht gut. Ich weiß auch gar nicht, warum ich Ihnen solche Gedanken in den Kopf gesetzt habe.«

 

Er wandte sich wieder um und sah auf das Bild von Miß Revelstoke.

 

»Eine wirklich hübsche Erscheinung. Ich wundere mich nur, daß sie nicht geheiratet hat.«

 

Nora überlegte, ob sie ihm von dem Ring erzählen sollte. Vorher hatte sie die Gelegenheit herbeigesehnt, aber jetzt kamen ihr wieder Zweifel. Ob er ihn nicht doch selbst geschickt hatte?

 

»Senden Sie eigentlich Geschenke an andere Leute?« fragte sie, indem sie ihren ganzen Mut zusammennahm.

 

Erstaunt hob er die Augenbrauen.

 

»Nein. Diese Angewohnheit habe ich im allgemeinen nicht, weil ich das für eine Verschwendung von Zeit und Geld halte. Meinen Sie Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten? Nein. Gewöhnlich können die Leute nicht brauchen, was man ihnen schenkt. Wer hat Ihnen denn etwas geschickt?« forschte er und runzelte die Stirne leicht.

 

»Niemand.« Sie fühlte, daß das eine kindische Antwort war.

 

»Zeigen Sie es mir doch, bitte.«

 

»Aber warum denn?« fragte sie und erkannte zu spät, daß das bereits ein halbes Zugeständnis war.

 

»Ich interessiere mich sehr für Geschenke, besonders wenn sie jungen Damen geschickt werden, die ich schätze.«

 

Nach einem kurzen Zögern ging sie in ihr Zimmer. Sie sagte sich selbst, daß ihre Nachgiebigkeit Schwäche war, und daß sie sich von einem Mann beherrschen ließ, der ihr doch vollkommen fremd war. Aber als sie zurückkam, hatte sie bereits die Feder des Kästchens gedrückt, und der Deckel sprang auf. Er nahm das Schmuckstück in die Hand und ging damit zum Fenster.

 

»Wer hat Ihnen das geschenkt?«

 

»Ich weiß es nicht. Es kam heute morgen als eingeschriebenes Päckchen. Miß Revelstoke dachte, daß es mir jemand geschickt haben müßte, der mich sehr gern hätte.«

 

»Hat sie eine Andeutung gemacht, wer dieser Mann sein könnte?«

 

Wieder zögerte sie.

 

»Sie dachte, es wäre einer ihrer Bekannten, ein Herr, den ich kaum kenne.«

 

»Mr. Monkford?«

 

Sie errötete.

 

»Wir wollen uns nicht den Kopf darüber zerbrechen. Ich möchte es nur gern wissen, damit ich den Ring sofort zurückschicken könnte.«

 

Er betrachtete ihn nochmals eingehend.

 

»Haben Sie ihn schon angehabt?«

 

»Nein«, entgegnete sie erstaunt.

 

Er nahm ihre Hand und streifte ihn über ihren Finger.

 

»Er ist ursprünglich für eine größere Hand angefertigt und später verkleinert worden. Sehen Sie, auf Ihren Ringfinger paßt er. Ich möchte nur wissen, woher der unbekannte Geber Ihre Ringgröße kannte.«

 

»Meinen Sie Monkford?«

 

»Nein. Monkford hat Ihnen den Ring nicht geschickt. Wenigstens glaube ich das nicht. Er ist ein merkwürdiger Mann. Selbst ein Detektiv, der ihn längere Zeit beobachtet hat, kann sich nicht rühmen, seine Herzensgeheimnisse ausgekundschaftet zu haben.«

 

Er überlegte angestrengt.

 

»Wissen Sie eigentlich, wo Ihr Zimmer in ›Little Heartsease‹ liegt?«

 

»Nein«, erwiderte sie verwundert. »Aber Miß Revelstoke nimmt gewöhnlich eins der besten Appartements.«

 

»Ich hätte mich darum kümmern sollen«, meinte er nachdenklich. »Aber ich habe ja noch genug Zeit dazu. Wer begleitet außer Ihnen Miß Revelstoke noch dorthin?«

 

»Niemand – doch, Mr. Henry, ihr Rechtsanwalt, kommt auch für einen Tag.«

 

»Ist Crayley eigentlich ein Freund von ihr?«

 

Sie runzelte die Stirne.

 

»Ja. Geht er auch hin?«

 

»Er kommt zur Golfwoche, und ich bin auch dort. Ich wünschte nur – nein, ich wünschte es nicht. Es wird harte Arbeit geben und viel Aufregung.«

 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und zu Noras Verwunderung trat Miß Revelstoke ins Zimmer. Sie lächelte ihr zu, und ihre Blicke ruhten einen Augenblick auf dem Ring, den Nora noch in der Hand hielt. Dann sah sie den Detektiv an.

 

»Ach, das ist Mr. Long? Sind Sie etwa der Schuldige? Hat er Ihnen gestanden, daß er Ihnen den Ring geschickt hat?«

 

Nora wollte gerade antworten, als der Wetter zu ihrem größten Erstaunen nickte.

 

»Ja, Miß Revelstoke, ich habe eben mein Gewissen durch eine Beichte erleichtert. Der Ring war lange Zeit im Besitz unserer Familie – mein Onkel kaufte ihn in Kopenhagen im Jahr 1862!«

 

Miß Revelstokes dunkle Augen blickten ruhig und fest, aber ihr Gesicht wurde plötzlich grau und alt.

 

Kapitel 15

 

15

 

Einen Augenblick glaubte Nora, Miß Revelstoke würde ohnmächtig umsinken, aber die alte Dame überwand die Schwäche mit Aufbietung aller Energie.

 

»Außerordentlich interessant«, bemerkte sie.

 

Arnold Long sah sie neugierig an.

 

»Äußerst interessant«, wiederholte sie langsam. Er wußte, daß sie die Erregung niederzukämpfen versuchte, die sie befallen hatte, als er ihr Kopenhagen und das Jahr 1862 nannte. »Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie Nora den Ring geschickt haben.«

 

Das junge Mädchen sah bestürzt von einem zum andern. Was sollte das bedeuten? Sie war davon überzeugt, daß Long ihr den Ring nicht gesandt hatte. Er hatte es ja auch schon selbst zugegeben. Wie kam er nun dazu, Miß Revelstoke ein derartiges Märchen zu erzählen? Aber noch merkwürdiger war die Wirkung seiner Worte auf die alte Dame, die ihre Fassung niemals verloren hatte, solange Nora sie kannte.

 

»Würden Sie in mein Arbeitszimmer mitkommen, Mr. Long? Ich hätte verschiedenes mit Ihnen zu besprechen«, sagte Miß Revelstoke nach einer kleinen Pause. Noras Gegenwart schien sie vollkommen vergessen zu haben.

 

»Selbstverständlich«, entgegnete er. »Auch ich würde es begrüßen, mich ein wenig mit Ihnen unterhalten zu können. Ich möchte nur eben noch Miß Sanders fragen, ob sie tatsächlich etwas dagegen hat, daß ich ihr den Ring schenke?«

 

Miß Revelstoke warf Nora einen Blick zu.

 

»Nun, was meinen Sie dazu?« fragte sie beinahe barsch.

 

»Ich glaube, daß ich ein so kostbares Geschenk nicht ohne weiteres annehmen kann«, erklärte Nora.

 

Zu ihrer größten Verwunderung nahm er ihr den kleinen Kasten sofort aus der Hand.

 

»Ich fürchtete schon, daß es so wäre«, erwiderte er kurz und steckte den Ring in die Tasche. »Miß Revelstoke, ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

 

Einige Zeit rührte sich die alte Dame nicht, aber schließlich wandte sie sich um, und er folgte ihr in das kleine Büro, das hinter dem Wohnzimmer lag. Sie schloß die Tür hinter ihm.

 

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

 

Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, und ließ sich dann auch in einem großen, bequemen Sessel nieder. Er merkte, wie schwer es ihr fiel, einen Anfang zu finden.

 

»Ich bin in gewisser Weise für Miß Sanders verantwortlich«, begann sie. »Und wenn unbekannte Leute ihr kostbare Geschenke schicken, fühle ich mich verpflichtet, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich bin noch von der alten Schule, und ich möchte Sie deshalb fragen –«

 

Sie wußte nicht, wie sie fortfahren sollte.

 

»Sie wollen mich fragen, welche Absichten ich habe«, ergänzte er lächelnd. »Nun, ich kann Ihnen versichern, daß sie vollkommen ehrenhaft sind. Nora ist ein sehr schönes Mädchen, und sie gefällt mir außerordentlich. Aber es war vielleicht etwas voreilig, ihr den Ring zu schicken.«

 

»Sie sind ein Gentleman, und soviel ich weiß, haben Sie auch studiert. Ich wüßte nicht, warum Sie Miß Sanders nicht verehren sollten. Aber es scheint mir doch etwas merkwürdig –« Wieder stockte sie.

 

»Daß ich ihr schon zu Beginn unserer Freundschaft so kostbare Geschenke mache. Das ist allerdings etwas merkwürdig, wie ich zugeben muß. Es ist eins der unerklärlichsten Dinge, die ich in meinem Leben getan habe. Mein Onkel –«

 

»Ich interessiere mich wenig für Ihre Familiengeschichte.« Miß Revelstoke hatte ihre Fassung wiedergefunden, aber es brannten noch zwei abgezirkelte rote Flecken auf ihren Backen. »Ich möchte nur wissen, wie Sie Miß Sanders gegenüber stehen. Lieben Sie die Dame?«

 

Er lächelte.

 

»Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ich liebe Ihre Sekretärin nicht, und es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß ich mich in sie verlieben werde. Sie ist nicht mein Typ, und nichts liegt mir ferner als der Gedanke an eine Heirat.«

 

»Dann war die Schenkung eines Ringes allerdings ein sehr voreiliger Entschluß.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann Ihren Worten nicht ganz glauben. Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, daß Sie Miß Nora sehr verehren. Wollen Sie so liebenswürdig sein und mir den Ring noch einmal zeigen?«

 

Er nahm ihn aus der Tasche und reichte ihn ihr. Ohne Warnung erhob sie sich und ging zu dem Safe, der in der anderen Ecke des Raumes stand. Sie öffnete ihn, legte den Kasten hinein und schloß wieder ab. »Ich halte es für besser, das Schmuckstück aufzubewahren, bis Sie näher miteinander bekannt sind. Vielleicht ändert Nora ihre Meinung auch noch.«

 

Sie reichte ihm kühl die Hand.

 

»Gute Nacht, Mr. Long, und viel Glück!«

 

Er sah sie voll Bewunderung an, als er ihre Hand nahm.

 

»Sie gehen doch auch nach Heartsease, Miß Revelstoke?« fragte er liebenswürdig. »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich es unterlassen.«

 

»Denselben Rat könnte ich Ihnen auch geben«, erwiderte sie mit einem ironischen Lächeln.

 

Kapitel 1

 

1

 

Ulanen-Harry kam zur Polizeistation in der Burton Street, um seine Papiere vorzuzeigen. Düster und verbissen trat er näher und reichte dem diensttuenden Sergeanten seinen Entlassungsschein.

 

»Henry Beneford, auf Bewährung entlassen – ich soll mich hier melden.«

 

Dann sah er sich um und bemerkte Detektivinspektor Long, den man auch den »Wetter« nannte. Seine Augen blitzten unheimlich auf.

 

»Morgen, Inspektor – leben Sie auch noch?«

 

»Wie Sie sehen, bin ich immer noch im Amt«, entgegnete Long vergnügt.

 

Ulanen-Harry grinste häßlich.

 

»Wunder mich nur, daß Sie bei Ihrem verdammt schlechten Gewissen noch schlafen können. Die letzten fünf Jahre hab ich durch Ihre Lügen auf den Buckel gekriegt!«

 

»Hoffentlich gelingt es mir bald, Ihnen weitere fünf Jahre aufzupacken«, erwiderte der Wetter in guter Laune. »Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie an den Galgen bringen, dann gäbe es einen schlechten Menschen weniger auf der Welt.«

 

Harry hatte tatsächlich früher eineinhalb Jahre lang bei den Ulanen gedient, war aber dann mit drei Jahren Festung bestraft worden, weil er seinen Unteroffizier mißhandelt hatte. Er war ein vielfach vorbestrafter, brutaler, gefährlicher Mensch. Aber auch der Wetter war auf seine Art gefährlich.

 

»Hören Sie zu, Inspektor. Ich will Ihnen nicht drohen. Sie sollen keine Gelegenheit haben, mich wieder ins Kittchen zu stecken. Aber eins sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich in acht!«

 

»Sie reden zuviel«, meinte der Wetter gutmütig. »Am Ende kommen Sie noch ins Parlament.«

 

Harry kochte vor Zorn und konnte vor Aufregung nicht sprechen. Er wandte sich kurz zu dem Sergeanten um und legte mit zitternder Hand seine Papiere auf das Pult.

 

»Gerissen sind Sie … wirklich gerissen«, stieß er schließlich wütend hervor. »Leute wie mich können Sie ja leicht fangen – aber warum machen Sie sich denn nicht hinter Shelton? Warum fangen Sie den nicht? Das kriegt kein Polizist in England fertig! Nicht einmal die Amateure!«

 

Der Wetter antwortete nicht darauf. Er interessierte sich im Augenblick nicht für Clay Shelton. Die Bemerkung über Amateurdetektive war natürlich auf ihn gemünzt, aber er kümmerte sich nicht weiter darum.

 

Aber als er nach Scotland Yard zurückkehrte, erfuhr er, daß er sich in Zukunft doch eingehend mit Mr. Shelton befassen mußte.

 

Einen Mann wie Shelton gab es auf der ganzen Welt nicht wieder. Fünfzehn Jahre lang war es ihm bisher gelungen, unter den verschiedensten Namen Kreditbriefe, Schecks, Tratten und andere Wertpapiere zu fälschen. Und fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit.

 

Inspektor Vansitter saß niedergeschlagen und mit düsterem Gesichtsausdruck im Büro seines Vorgesetzten.

 

»Es tut mir außerordentlich leid, Vansitter, aber es geht Ihnen ebenso wie allen anderen Beamten«, sagte Colonel Macfarlane. »Es ist noch das Beste, was Ihnen passieren kann, daß ich Ihnen die Bearbeitung des Falles nehme und sie einem anderen übertrage. Wirklich ein Glück für Sie, daß alle Leute, die sich bisher mit Sheltons Fälschungen befaßt haben, auch nur Mißerfolg hatten.«

 

»Wir können ihn nicht fangen, weil wir seine Person ja gar nicht kennen«, entgegnete Vansitter, »und vor allem, weil er vollkommen allein arbeitet. Nur ein glücklicher Zufall könnte uns helfen. Wenn eine Frau in die Sache verwickelt, wenn er verheiratet wäre oder sonstige Helfershelfer hätte, wäre er nicht fünfzehn Jahre lang unentdeckt geblieben. Ich glaube kaum, daß es jemandem gelingen wird, Shelton zu fassen, wenn er nicht einen groben Schnitzer machen sollte. Höchstens –«

 

Der Inspektor wollte nicht weitersprechen, bevor er nicht von seinem Vorgesetzten dazu ermutigt wurde. Colonel Macfarlane wußte sehr wohl, wen er meinte, sagte aber nichts, da er die Verantwortung nicht allein tragen wollte.

 

»Der Wetter«, sagte Vansitter schließlich.

 

Der Colonel runzelte die Stirne.

 

»Der Wetter!« Er schüttelte mißbilligend den Kopf.

 

»Wetter« Long hatte studiert und war Polizeibeamter, obwohl er sich den Sohn eines Millionärs nennen konnte. Er wandte sich diesem Beruf zu, weil er von Cambridge relegiert wurde. Mit Schimpf und Schande schickte man ihn nach Hause zurück, weil er einen Universitätspedell verprügelt hatte. Sein Vater war sehr böse darüber und sagte seinem Sohn Arnold, daß er in die weite Welt gehen und sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen sollte. Der Wetter tat das auch und erschien einen Monat später wieder im Hause seines Vaters, und zwar in der Uniform eines Polizisten. Und alle Bitten und Drohungen Sir Godleys konnten ihn nicht dazu bewegen, von seinem Entschluß abzulassen.

 

Wegen Arnolds einflußreicher Beziehungen hätten es seine Vorgesetzten gern gesehen, daß er nicht so schnell avancierte. Sie fürchteten den Vorwurf der Bevorzugung. Sicher würden im Parlament Anfragen kommen, wenn man ihn außer der Reihe beförderte. Trotzdem war er aber nach zwei Jahren Sergeant, denn es gelang seinem klugen Vorgehen, einige berüchtigte Verbrecher zu fassen.

 

»Reines Glück«, sagten seine Kollegen und Vorgesetzten von Scotland Yard. Und als er sich weiter auszeichnete, konnte man nicht umhin, ihm die Stelle eines Polizeiinspektors zu geben, weil ihn der Minister des Innern selbst zu dieser Beförderung vorschlug. Den »Wetter« nannten sie ihn, weil er gern herausfordernd sagte: »Wetten, daß?«

 

Aber er war kein Mann nach dem Herzen der Beamten von Scotland Yard, und sie hielten ihn den jüngeren Leuten auch nicht als leuchtendes Beispiel vor.

 

Wetter Long war groß, schlank und hübsch und verfügte über die Kraft eines trainierten, geschulten Körpers. Er zeichnete sich besonders im Laufen aus und hatte als Boxer seit zwei Jahren den Meistertitel für Amateure im Mittelgewicht. Klettern konnte er wie eine Katze, und er besaß auch etwas von der Zähigkeit und dem Instinkt dieses Tieres.

 

Auf seinem langen, schmalen Gesicht lag gewöhnlich ein Lächeln, denn er betrachtete Leben und Welt als einen großen Scherz.

 

»Meinen Sie wirklich, der Wetter wäre dieser Aufgabe gewachsen?« fragte Colonel Macfarlane und biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Das kann ich eigentlich nicht riskieren. Er stellt sicher irgend etwas Unmögliches an, und wir müssen nachher wieder die Vorwürfe hören … und doch, man müßte es überlegen…«

 

Er dachte den ganzen Tag darüber nach, und um fünf Uhr abends ließ er Arnold Long in sein Büro kommen.

 

Mit einem vergnügten Grinsen hörte der Wetter, was ihm sein Vorgesetzter zu sagen hatte.

 

»Nein, ich brauche die Akten nicht einzusehen, ich weiß alles auswendig, was über Shelton berichtet worden ist. Geben Sie mir drei Monate Zeit, dann sitzt der Mann hinter Schloß und Riegel.«

 

»Nehmen Sie die Sache nur nicht zu leicht«, warnte Colonel Macfarlane.

 

»Wetten, daß?«

 

Kapitel 10

 

10

 

Miß Revelstoke ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Sie gehörte zu den selbstsicheren Menschen, die auch ein Erdbeben nur als eine interessante Naturerscheinung betrachten.

 

Deshalb lauschte sie auch dem Bericht Noras ziemlich interesselos.

 

»Gefürchtet haben Sie sich in der Kabine des Motorboots?« fragte sie ironisch. »Mr. Long interessiert mich allerdings. Wir müssen ihn einmal abends zum Essen einladen. Aber im Augenblick ist unsere eigene Mahlzeit aufgetragen, und der arme Mr. Henry ist schon sehr ungeduldig.«

 

Der Rechtsanwalt war eine landläufig hübsche Erscheinung, aber Nora blieb er gleichgültig. Sie fühlte sich weder von ihm abgestoßen noch zu ihm hingezogen.

 

Bei Tisch kam das Gespräch schließlich wieder auf Marlow.

 

»Sie haben entschieden Eindruck gemacht«, sagte Miß Revelstoke. »Ich habe vorhin kurz mit Monkford telephoniert. Er war ganz begeistert von Ihnen und lobte Sie über alle Maßen.«

 

»Mich?« fragte Nora verwundert. »Er hat mich doch kaum angesehen. Das muß ein Mißverständnis sein. Wahrscheinlich hat er über die kleine Figur gesprochen, die ich ihm gebracht habe.«

 

»Und Mr. Jackson Crayley haben Sie auch kennen gelernt? Was halten Sie denn von ihm?«

 

»Ach, er ist etwas merkwürdig«, erwiderte sie zögernd.

 

»Das stimmt«, entgegnete Henry geringschätzig. »Ich kenne keinen Menschen, der langweiliger ist als Jackson.«

 

»Er beschäftigt sich eben nur mit sich selbst«, meinte Miß Revelstoke. »Ich kenne ihn sehr gut.«

 

Anscheinend hatten weder sie noch der Rechtsanwalt eine große Meinung von Mr. Crayley.

 

Als die Unterhaltung etwas ins Stocken geriet, erzählte Nora von der Bande des Schreckens. Aber sie bereute es sofort, denn sie hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, daß sie Longs Vertrauen mißbrauchte. Sie machte Anstrengung, das Gespräch wieder auf Mr. Monkford zu bringen, aber Miß Revelstokes dunkle Augen sahen sie forschend an.

 

»Ich fürchte, dieser Detektiv hat zu großen Eindruck auf Sie gemacht, Nora«, sagte sie freundlich. »Es scheint, als ob Sie uns nichts mehr von der Bande des Schreckens erzählen wollen.«

 

Diese merkwürdige Frau hatte die außerordentliche Gabe, Gedanken lesen zu können, und hatte Nora dadurch schon mehrmals in Verwirrung gebracht. Auch jetzt errötete das junge Mädchen wieder. Henry lachte leicht auf.

 

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, weil Sie uns davon erzählt haben«, sagte er. »Ich habe auch davon gehört. Aber diese Gerüchte sind einfach abgeschmackt und unmöglich. Ich kenne Sheltons Leben genau, nur in Scotland Yard weiß man vielleicht etwas mehr davon. Er hat immer nur auf eigene Faust gearbeitet, er hatte keine Freunde, keine Verwandten und keine Verbündeten. Nur deshalb konnte er sich so viele Jahre vor den Verfolgungen der Polizei schützen. Und von langer Hand vorbereitete Racheakte gibt es in unserem Lande nicht. Warum sollte sich denn auch jemand an dem Richter, dem Staatsanwalt und dem Henker rächen wollen, die doch schließlich nur Werkzeuge des Staats sind? Die einzigen Leute, die derartige Pläne hegen könnten, müßten doch sehr eng mit Shelton verbunden gewesen sein. Es kämen also nur Verwandte in Betracht, und soweit bekannt ist, hatte er keine.«

 

»Und dafür konnte er recht froh sein«, meinte Miß Revelstoke mit einem Seufzer. »Hat Ihnen Mr. Long noch etwas erzählt, was sich in letzter Zeit zugetragen hat – ich meine, was besonders mit der Bande des Schreckens zu tun hätte?«

 

»Nein, er fürchtet nur –« Wieder ertappte sie sich dabei, daß sie zuviel sagte.

 

Aber Henry kam ihr zu Hilfe.

 

»Er fürchtet für Monkford. Das ist auch ein offenes Geheimnis«, erwiderte er lächelnd.

 

»Aber Monkford hat doch nur seine Pflicht getan«, sagte Miß Revelstoke ungeduldig. »Es ist direkt absurd, daß er bedroht werden sollte. Nora, ich muß Ihren Detektiv tatsächlich einmal kennenlernen. Er scheint Ihnen das Gruseln beigebracht zu haben!«

 

»Nein, er ist sehr nett und liebenswürdig«, verteidigte sie ihn. »Und er hat durchaus keine übertriebenen Ansichten.«

 

Henry betrachtete sie nachdenklich und strich seinen Schnurrbart.

 

»Das kann ich eigentlich auch bestätigen. Der Wetter ist zwar exzentrisch, und seine Methoden sind nach Ansicht der Behörden etwas ungewöhnlich. Aber er hält sich streng an gegebene Tatsachen.«

 

»Wer ist er eigentlich?« fragte Miß Revelstoke, und Nora hörte zum erstenmal von Arnold Longs Wohlhabenheit.

 

»Eines Tages wird er Baronet und erbt ein Vermögen von zwei Millionen«, entgegnete Henry. »Deshalb ist er ja auch bei seinen Kollegen in Scotland Yard so unbeliebt.«

 

Miß Revelstoke hatte ausgedehnten Grundbesitz in London, und nach dem Essen ging Henry mit ihr in das kleine Büro, das hinter dem Wohnzimmer lag, um verschiedene Angelegenheiten mit ihr zu besprechen.

 

»Das wird ja wieder ein interessanter Abend«, flüsterte er Nora halblaut zu, als er mit seiner großen Mappe an ihr vorbeiging.

 

Sie lächelte mitleidig. Miß Revelstoke war eine tüchtige Geschäftsfrau, und der Rechtsanwalt würde keinen leichten Stand haben.

 

Kapitel 11

 

11

 

»Die Bande des Schreckens« war nur ein Name, eine ungewisse Bezeichnung für allerhand Verbrecher und schemenhafte Gestalten, die man nicht fassen konnte. Colonel Macfarlane machte ein ärgerliches Gesicht, als Long an diesem Abend zu ihm kam und wieder über sein Lieblingsthema zu sprechen begann.

 

»Immer wieder diese Bande des Schreckens! Sie machen mich noch ganz krank mit Ihren Geschichten. Wenn Sie mir wenigstens sagen wollten, wer diese Leute sind! Aber Sie wissen doch tatsächlich nichts von ihnen!«

 

»Ich nenne sie so, und ich habe recht mit meiner Behauptung, wenn ich auch nichts Näheres über sie weiß«, entgegnete der Wetter vertrauensvoll. »Man kann sie nicht Sheltons Bande nennen, denn er arbeitete niemals mit anderen Leuten zusammen, soweit wir wissen. Einen Eid will ich allerdings darauf nicht leisten. Er hat sich doch nur sehr selten in der Öffentlichkeit gezeigt, vielleicht fünf Tage im Jahr. Was er an den anderen dreihundertsechzig Tagen getrieben hat, können wir nur vermuten. Er hatte Hunderte von Agenten und Helfershelfern, aber sie waren nur Handlanger, die eine bestimmte Aufgabe zu lösen hatten und dafür bezahlt wurden. Diese kleinen Leute haben nicht den Richter, den Staatsanwalt und den Henker umgebracht. Sie haben auch nichts gegen mich unternommen. Wie erklären Sie sich denn diese drei plötzlichen Todesfälle?«

 

»Es waren Unglücksfälle«, erwiderte der Colonel mißmutig.

 

»War es tatsächlich auch ein Unglücksfall, daß Ulanen-Harry auf mich geschossen hat und die Tat mit dem Leben bezahlen mußte?«

 

»Harry konnte Sie nicht leiden und wollte Sie eben aus dem Weg schaffen. Und als ihm das nicht gelang, hat er Selbstmord begangen.«

 

Der Wetter warf unwillkürlich den Kopf in den Nacken.

 

In Scotland Yard hatte man seine Theorie über die Bande des Schreckens äußerst skeptisch aufgenommen. Die Bezeichnung wurde zwar in den Akten erwähnt, aber im allgemeinen glaubte man, daß diese Leute nur in Arnold Longs Einbildung existierten.

 

Und doch sprachen gewisse Anzeichen für seine Ansicht.

 

Der ältere Bruder Mr. Monkfords war tot aufgefunden worden; der Richter, der Shelton verurteilt hatte, der Staatsanwalt und der Henker waren auf geheimnisvolle Weise ermordet worden. Die breite Öffentlichkeit wußte nichts von den seltsamen Vorgängen, die sich abgespielt hatten und sah in dem Ableben der Beamten nur natürliche Ereignisse. Der Tod des Henkers Wallis hatte allerdings einige Sensation hervorgerufen, aber niemand dachte an einen Racheakt.

 

Macfarlane strich seinen grauen Schnurrbart und runzelte die Stirne. Schon zum drittenmal in dieser Woche erwähnte der Wetter das Schicksal dieser drei Leute, die in gewisser Weise für Clay Sheltons Tod verantwortlich waren.

 

»Ich will die Möglichkeit, daß Sie recht haben, nicht ganz und gar bestreiten«, sagte er schließlich. »Wenn Joshua Monkford wirklich ermordet wird, sind alle meine Zweifel beseitigt.«

 

Long sah ihn vorwurfsvoll an.

 

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Monkford erst sterben muß, um Scotland Yard von der Existenz der Bande des Schreckens zu überzeugen?«

 

Derartige Bemerkungen machten den Wetter so unbeliebt bei seinen Vorgesetzten.

 

»Natürlich nicht«, erwiderte der Colonel kurz. »Es ist doch Ihre Aufgabe, ihn zu schützen. Hoffentlich haben Sie alle Vorsichtsmaßregeln getroffen.«

 

»Ich habe zwei Beamte in Marlow stationiert. Die beiden Privatdetektive von der Bankiervereinigung sind auch dort. Aber die Gefahr liegt nicht in Marlow.«

 

»Wo denn?«

 

»In Little Heartsease. Das ist ein luxuriöses, komfortables Hotel. Ein gewisser Cravel ist der Eigentümer.«

 

Der Colonel kannte den Namen.

 

»Wird dort nicht auch jedes Jahr ein Golfturnier ausgetragen?«

 

»Ja, das vornehmste und bekannteste von ganz England. Was Ascot für die Rennen ist, das ist Heartsease für das Golfspiel. Monkford versteht nicht mehr davon wie hundert andere Menschen. Die meisten Leute kommen nur hin, weil es ein gesellschaftliches Ereignis ist. Aber in Heartsease wartet eine große Gefahr auf Monkford. Ich kann es Ihnen nicht genauer erklären, weil es nur eine innere Überzeugung ist. Aber solche Vorahnungen sind wichtiger als genaue Kenntnisse.«

 

Colonel Macfarlane sah einige Zeit vor sich hin.

 

»Etwas ist mir an Clay Shelton aufgefallen – ich weiß nicht, ob Sie schon darüber nachgedacht haben.«

 

»Was ist es denn?«

 

»Er hat niemals Ihren Vater betrogen.«

 

Long starrte ihn erstaunt an.

 

»Ja, da haben Sie recht. Das hat er nicht getan.«

 

Sein Vater war der Direktor der größten Privatbank in der City und hielt streng an alten Geschäftsprinzipien fest. Seine Bank zu berauben, wäre ein großes Kunststück gewesen.

 

»Es ist wirklich sonderbar«, meinte der Wetter nachdenklich.