Kapitel 2

 

2

 

An einem schönen Frühlingsmorgen ging Mr. Shelton die Lombard Street entlang, in der ausschließlich große Bankhäuser liegen. Er schwang seinen sorgfältig zusammengerollten Schirm und dachte an die Zeiten, als hier noch Pfandleiher und Geldwechsler ihre Geschäfte hatten.

 

Vor einem Gebäude mit einer blendenden Granitfassade hielt er an und betrachtete die monumentale Architektur, als ob er ein Tourist wäre, der sich zum erstenmal London anschaute.

 

»Was ist das für ein Gebäude?«

 

Der Polizist, den er fragte, stand gerade in der Nähe des Gehsteigs.

 

»Die City & Southern Bank.«

 

»Donnerwetter«, sagte Shelton bewundernd. »Wirklich stattlich!«

 

Ein Auto hielt vor dem Gebäude. Der Chauffeur sprang heraus und riß den Wagenschlag auf. Zuerst stieg ein schönes junges Mädchen aus, dann eine ältere Dame mit ernstem Gesicht und schließlich ein hübscher junger Mann mit schwarzem Schnurrbart und Monokel.

 

Die drei gingen in die Bank, und der Polizist trat zu dem Chauffeur.

 

»Wie lange haben sie wohl in der Bank zu tun?«

 

»Vielleicht fünf Minuten«, erwiderte der Mann und streckte sich behaglich auf seinem Sitz aus.

 

»Wenn es aber länger dauern sollte, müssen Sie drüben auf der anderen Seite parken…«

 

Der Polizist gab ihm noch einige Anweisungen und kehrte dann wieder zu dem »Touristen« zurück.

 

»Sie sind wohl fremd in London?«

 

»Ja. Ich bin erst vor kurzem aus Südamerika zurückgekommen. Dreiundzwanzig Jahre war ich dort. Liegt nicht auch das Gebäude der Argentinischen Bank hier in der Nähe?«

 

Der Polizist gab ihm Auskunft, aber Mr. Shelton machte keine Anstalten, dorthin zu gehen.

 

»Es ist schwer, zu glauben, daß in dieser Straße Millionen und aber Millionen von Goldreserven im Depot liegen.«

 

»Ich habe sie auch noch nicht zu sehen bekommen«, meinte der Beamte und lächelte ironisch. »Aber zweifellos – «

 

Plötzlich hob er die Hand halb zum Gruß. Eine Autodroschke war vorgefahren, und ein junger Mann war ausgestiegen. Er sah den Polizisten vorwurfsvoll an und betrachtete Mr. Shelton mit einem prüfenden Blick. Dann verschwand er auch in der Bank.

 

»War das ein Polizeibeamter?« Shelton hatte den unterbrochenen Gruß wohl bemerkt.

 

»Nein, ein Herr aus der City, den ich kenne«, entgegnete der Polizist und ging zu dem Chauffeur der Droschke, um auch ihm Instruktionen zu geben.

 

Als Wetter Long in die Bank kam, sah er das hübsche Gesicht des jungen Mädchens am Schalter und blieb einige Augenblicke stehen, bevor er in das Privatbüro des Direktors trat. Der kleine, untersetzte Herr mit dem kahlen Kopf erhob sich sofort bei seinem Eintritt und schüttelte ihm herzlich die Hand.

 

»Entschuldigen Sie mich, bitte, noch ein paar Minuten – ich muß eben eine Kundin begrüßen.«

 

Mit diesen Worten verschwand er aus dem Büro, kam aber nach kurzer Zeit wieder. Er lächelte und rieb sich die Hände.

 

»Das ist eine charaktervolle Frau«, sagte er. »Haben Sie die Dame gesehen?«

 

»Ja, sie ist wirklich ungewöhnlich hübsch.«

 

»Ach, Sie meinen die Sekretärin. Ich spreche aber von der älteren Dame – Miß Revelstoke. Sie ist schon fast dreißig Jahre meine Kundin. Die sollten Sie eigentlich kennenlernen. Der junge Mann, der sie begleitet, ist ihr Rechtsanwalt. Etwas eitel und stutzerhaft, aber er wird sicher Karriere machen.«

 

Durch ein kleines, viereckiges Fenster konnte man von dem Privatbüro aus die lange Reihe der Schalter beobachten. Die ältere Dame zählte gerade ein Bündel Banknoten, das ihr der Kassierer ausgehändigt hatte. Ihre Sekretärin schien sich zu langweilen, denn sie betrachtete die schöngeschnitzte Decke des prachtvollen Raums. Ihr anziehendes Gesicht verriet Lebhaftigkeit und Intelligenz. Den freundlich lächelnden jungen Mann neben Miß Revelstoke beachtete er kaum. Plötzlich sah die junge Dame zu dem Fenster hinüber und begegnete Longs Blick. Eine Sekunde schauten sie einander wie gebannt an, dann wandte sich der Wetter schnell ab. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß der Bankdirektor dauernd zu ihm gesprochen hatte.

 

»… ich bin ja nicht der Ansicht, daß es Ihnen gelingt, den Mann zu fassen. Dazu ist wahrscheinlich niemand imstande. Der Mensch ist glatt wie ein Aal und wahrscheinlich der Führer einer sehr gerissenen Bande –«

 

»Ich wünschte von Herzen, es wäre so«, entgegnete Long lächelnd. »Aber den Gedanken können Sie aufgeben, Mr. Monkford. Unter Verbrechern und Dieben gibt es keine Ehrlichkeit, höchstens unter den ganz Großen. Dieser Shelton arbeitet ganz auf eigene Faust, und darin besteht seine größte Stärke.«

 

Der Bankdirektor nahm eine dicke Mappe aus seinem Schreibtisch und legte sie auf die Platte.

 

»Hier finden Sie alle Tatsachen, nicht nur von der City & Southern Bank, sondern auch von allen anderen Banken, die von Shelton betrogen wurden. Alle Originalunterschriften sind in Photographie vorhanden. Aber ich glaube nicht, daß es Ihnen viel helfen wird.«

 

Long brachte eine halbe Stunde damit zu, den Inhalt der Mappe zu prüfen, aber am Ende war er auch nicht klüger als vorher.

 

Als er wieder auf die Straße trat, sah er sich nach links und nach rechts um, als ob er nicht entschlossen wäre, nach welcher Richtung er gehen sollte. Schließlich wandte er sich nach der Grace Church Street. An der Ecke dieser Straße und der Lombard Street sah er einen schlanken, älteren Herrn stehen, der offenbar den lebhaften Verkehr beobachtete. Er schaute ihn an, als er an ihm vorüberging, und die Blicke der beiden trafen sich. Die argwöhnisch forschenden Augen des Fremden verrieten Long sofort, daß der Mann den Detektiv in ihm erkannt hatte.

 

Ein eigentümliches Gefühl überkam den Wetter, ohne daß er sich über die Ursache klar werden konnte. Er überquerte die Straße, ging auf einen Zeitungsjungen zu und kaufte ihm ein Blatt ab. Der Fremde stand immer noch an seinem Platz. Er war elegant gekleidet und sah wie ein Oberst in Zivil aus. Absichtlich gab der Wetter dem Zeitungsjungen einen Schilling, um den Mann noch während des Wechselns beobachten zu können. Es mußte irgendein Schwindler aus der City sein, einer der vielen, die hier ihre dunklen Geschäfte trieben. Der mißtrauische Blick hatte Long genug verraten. Es schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, umzukehren und den Fremden unter irgendeinem Vorwand anzusprechen. Aber er gehörte zu Scotland Yard und befand sich in der City. Und die City hatte ihre eigenen Detektive, die eifersüchtig darüber wachten, daß nicht andere Beamte in ihre Rechte eingriffen.

 

Während er sich noch überlegte, was er tun sollte, rief der Mann ein Auto an, das die Straße herunterkam, und fuhr davon. Kaum war er außer Sicht, als der Wetter einem plötzlichen Impuls folgte und sich ebenfalls einen Wagen nahm.

 

»Fahren Sie die Lombard Street entlang«, sagte er schnell, »und sehen Sie zu, daß Sie den gelben Wagen einholen.«

 

Bald darauf sah er das Auto wieder. Er hielt die Zeitung schützend vor das Gesicht und beobachtete über den Rand des Blattes hinweg, daß der Fremde durch das hintere Fenster nach rückwärts schaute.

 

Als Colonel Macfarlane an diesem Abend das Büro verlassen wollte, hielt ihn Inspektor Long freudestrahlend an.

 

»Sie können mir gratulieren – ich habe Shelton ausfindig gemacht!«

 

»Das ist doch nicht möglich!«

 

»Wetten, daß?« entgegnete Mr. Long prompt.

 

Kapitel 20

 

20

 

Die schön ausgestatteten Büroräume des Rechtsanwalts Francis Henry lagen in Lincoln’s Inn Fields, und zwar im Erdgeschoß des Hauses Nr. 642.

 

Der Rechtsanwalt stand am Fenster und schaute auf die schönen Gärten hinaus, als ein Schreiber ihm die Ankunft des Inspektors Long meldete. Mr. Henry sah lächelnd auf die Karte.

 

»Bitten Sie ihn, näherzutreten.«

 

Er ging dem Detektiv entgegen, um ihn zu begrüßen.

 

»Sie kommen natürlich wegen Monkfords. Ich schrieb Ihnen gestern abend noch, aber ich telephonierte dann Heartsease an und hörte, daß Sie schon fortgefahren seien.«

 

Er schob seinem Besucher einen Stuhl hin und nahm selbst an seinem Schreibtisch Platz.

 

»Also, Mr. Long, was wünschen Sie zu wissen?«

 

Der Wetter hatte ein solches Entgegenkommen nicht erwartet und war durch die Freundlichkeit des Mannes ein wenig verblüfft.

 

»Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Mr. Henry«, erwiderte er. »Ein paar Stunden vor seinem Tode unterhielt sich Monkford mit Jackson Crayley und mit Ihnen. Sie gingen auf dem Rasen unter meinem Fenster auf und ab. Als ich dann kurz darauf Monkford selbst sah, war seine Haltung gegen mich entschieden verändert und in gewisser Weise feindlich. Ich möchte nun von Ihnen erfahren, worüber Sie mit Monkford gesprochen haben.«

 

»Das kann ich Ihnen sagen. Ich habe Mr. Monkford mitgeteilt, daß Sie Miß Nora Sanders verehren und ihr einen kostbaren Ring geschenkt haben.«

 

Long war im ersten Augenblick betroffen. Er hatte unter keinen Umständen erwartet, daß dieses kleine Betrugsmanöver Monkford derartig gegen ihn aufbringen könnte.

 

»Ich verstehe aber nicht, daß diese Mitteilung solchen Eindruck auf Mr. Monkford machen konnte. Selbst wenn ich wirklich Nora Sanders verehrte und ihr ein Geschenk machte – warum hätte er sich denn darüber ärgern sollen?«

 

Henry sah ihn merkwürdig lächelnd an.

 

»Weil er selbst Miß Nora Sanders liebte.« Henry war äußerst zufrieden mit dem Eindruck, den seine Worte machten.

 

»Hat er die junge Dame tatsächlich verehrt?« fragte der Wetter ungläubig.

 

»Ja. Seine Liebe zu ihr ging sogar so weit, daß er am Nachmittag vor seinem Tode ein Testament zu ihren Gunsten machte und ihr sein ganzes Vermögen hinterließ.«

 

Long erhob sich.

 

»Donnerwetter, das ist ja kaum zu glauben!« sagte er langsam.

 

Der Rechtsanwalt zuckte die Schultern, um anzuzeigen, daß ihn die Schrullen des verstorbenen Monkford nicht interessierten.

 

»Das Testament ist in meinem Besitz. Es wurde auf Monkfords dringendes Verlangen aufgesetzt und von mir und Crayley als Zeugen unterschrieben.«

 

»Wer sind denn die Testamentsvollstrecker?« fragte der Wetter nach einer kurzen Überlegung.

 

»Miß Sanders selbst. Ich riet ihm natürlich davon ab, ein solches Testament zu machen, und schlug ihm vor, seinem eigenen Rechtsanwalt die Sache zu übergeben. Ich war vor allem sehr dagegen, daß Miß Sanders ihre eigene Testamentsvollstreckerin sein sollte. Aber er ließ sich in diesem Punkt nichts dreinreden. Er erwähnte auch, daß er nach dem Abendessen mit Ihnen sprechen und Ihnen alles erklären wollte. Er muß seinen Tod vorausgeahnt haben, da er so sehr darauf bestand, das Testament sofort aufzustellen. Ich war entschieden dagegen.«

 

»Das haben Sie schon vorher gesagt«, entgegnete der Wetter kühl. Seine ganze Haltung drückte aus, daß er an den Worten des Rechtsanwalts zweifelte, aber Mr. Henry war nicht allzu empfindlich.

 

Longs Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er rekapitulierte kurz alle Tatsachen von der Verhaftung Clay Sheltons bis zu dem gegenwärtigen Augenblick.

 

»Ich muß sehr schnell arbeiten«, sagte er langsam. »Schneller als alle anderen. Und es wird mir gelingen. Wetten, daß?«

 

Kapitel 21

 

21

 

Der Tod Mr. Monkfords deprimierte Nora Sanders stark. Sie konnte sich des düsteren Eindrucks nicht erwehren, daß die Bande des Schreckens ihre Hand im Spiel hatte. Das wurde ihr mehr und mehr zur Gewißheit, obwohl sie mit Long nicht mehr über die Verbrecherorganisation gesprochen hatte. Sie versuchte aber vergeblich, Miß Revelstoke auch davon zu überzeugen.

 

»Das ist der größte Unsinn«, entgegnete die alte Dame energisch. »Ich weiß nicht, was Sie immer mit der Bande des Schreckens wollen. In Scotland Yard scheint man ja vollkommen die Nerven verloren zu haben, wenn derartige Dummheiten geglaubt werden.«

 

Sie sah gerade zum Fenster hinaus, als ein Mietauto vor der Haustür hielt.

 

»Ach, da kommt ja Ihr Ihnen so ergebener Mr. Henry. Er scheint es sehr eilig zu haben.«

 

Erst nachdem sich der Rechtsanwalt zwanzig Minuten lang allein mit Miß Revelstoke unterhalten hatte, ließ sie Nora kommen, und das junge Mädchen war aufs äußerste bestürzt, als sie von der Erbschaft hörte.

 

»Zwei Millionen soll ich erben?« sagte sie atemlos. »Das kann doch nicht wahr sein!«

 

Bleich und verstört sank sie in einen Stuhl und sah ratlos von einem zum andern. Mr. Henry strahlte sie wohlwollend an und weidete sich an ihrer Verwirrung.

 

»Sie haben nun auch die Verantwortung für das ganze Vermögen und den Grundbesitz, Nora. Es wäre gut, wenn Sie meine Hilfe in Anspruch nähmen und mir die Führung Ihrer Geschäfte anvertrauten. Ich würde dann vor allem die Erklärung der Rechtsgültigkeit des Testaments durchsetzen. Die meisten Werte sind flüssig, und nach dem Wortlaut des Testaments können Sie sofort über ein Bankguthaben von einer Million zweihunderttausend Pfund verfügen.«

 

»Der schlaue alte Fuchs war also doch in Sie verliebt!« sagte Miß Revelstoke und sah Nora mit ihren dunklen Augen durchdringend an.

 

»Aber – ich verstehe den Zusammenhang wirklich nicht«, erwiderte Nora mit stockender Stimme.

 

Die alte Dame legte den Arm um die Schulter des jungen Mädchens.

 

»Gehen Sie in Ihr Zimmer, mein Kind. Ich werde noch wegen der Erbschaft mit Henry sprechen. Man kann auch nicht verlangen, daß sie sich sofort mit ihrem großen Glück abfindet«, wandte sie sich an den Rechtsanwalt.

 

Willig ließ sich Nora von ihr zur Tür begleiten. Aber ihre Gedanken wirbelten immer noch durcheinander, als sie auf ihrem Zimmer angelangt war.

 

Es war doch unmöglich! Sie sollte zwei Millionen Pfund besitzen? Natürlich träumte sie. Aber nach und nach kam ihr zum Bewußtsein, daß es Wirklichkeit war. Sie sah sich im Zimmer um und betrachtete jedes Möbelstück, dann trat sie an das offene Fenster und schaute hinaus. Drüben, auf der anderen Seite der Straße, stand ein Mann. Ihr Herz schlug plötzlich wild, als er sie grüßte.

 

Es war Wetter Long. Er legte den Finger auf die Lippen, dann winkte er ihr zur Straße herunter und hob drei Finger in die Höhe. Also um drei! Sie sah nach der Uhr auf dem Kamin, die halb eins zeigte. Dann nickte sie ihm zu. Aber wo sollte sie ihn nur treffen? Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, entfaltete er eine Zeitung und deutete auf eine Annonce, die in sämtlichen Morgenzeitungen an derselben Stelle stand. Das Warenhaus Cloche kündigte darin den Beginn einer billigen Woche an. Sie erkannte das charakteristische Reklamebild und nickte wieder.

 

Aufs neue hob er den Finger und legte ihn auf die Lippen. Miß Revelstoke sollte also nichts davon erfahren. Sie gab ihr Einverständnis zu erkennen. Er winkte ihr noch einmal zu und ging dann fort. Warum hatte er nicht telephoniert? Es waren doch zwei Apparate im Hause, einer in der Diele im Erdgeschoß und einer in Miß Revelstokes Arbeitszimmer. Ohne Wissen der alten Dame hätte sie allerdings kein Gespräch führen können.

 

Als der Gong zum Mittagessen rief, ging sie wieder nach unten und traf die beiden im Wohnzimmer.

 

»Ich habe mit Mr. Henry über Ihr außerordentliches Glück gesprochen«, sagte Miß Revelstoke, »und ich halte es auch für das beste, daß Sie vernünftig sind und ihn zu Ihrem Generalbevollmächtigten ernennen.«

 

Nora mußte lachen. Welch große Bedeutung hatte sie doch plötzlich erlangt, daß sie sogar einen Bevollmächtigten brauchte.

 

»Ich bin allerdings in einer Gemütsverfassung, daß ich lieber alle anderen Leute für mich handeln lasse, als selbst etwas unternehme«, gestand sie. »Ich kann immer noch nicht verstehen, warum Mr. Monkford mir das große Vermögen vermacht hat.«

 

»Er hätte es auch schlechteren Menschen hinterlassen können«, meinte Miß Revelstoke. »Der arme Joshua war wirklich ein merkwürdiger Mann, aber in diesem Fall hat er ganz guten Geschmack bewiesen. Er hat Sie eben geliebt, wirklich, er hat Sie verehrt«, sagte sie eindringlich, als Nora den Kopf schüttelte.

 

Auf dem Tisch lagen zwei Schriftstücke.

 

»Sie müssen hier an dieser Stelle unterzeichnen«, erklärte, ihr Mr. Henry liebenswürdig. »Durch das erste Dokument bestätigen Sie die Annahme der Erbschaft, und das zweite ist eine Vollmacht, die Sie mir ausstellen. All Ihre Sorgen in Vermögensangelegenheiten wälzen Sie dadurch auf meine Schultern ab.«

 

Nora setzte sich und griff zu dem Federhalter. Aber plötzlich zögerte sie. Man verlangte von ihr, daß sie einen bestimmten Schritt unternehmen sollte, und durch ihre Unterschrift beanspruchte sie den Besitz eines Vermögens, das ihr eigentlich nicht zustand.

 

»Muß ich denn jetzt schon unterzeichnen? Ich bin wirklich noch kaum in der Lage, die Situation richtig zu beurteilen. Hat es nicht Zeit bis zum Abend? Bis ich die erste Aufregung überwunden habe?« Sie sah den Rechtsanwalt an.

 

Miß Revelstoke stand hinter ihr und gab Mr. Henry ein warnendes Zeichen.

 

»Aber gewiß«, beruhigte er sie. »Heute kann ich doch sowieso nichts mehr unternehmen. Es ist besser, Miß Revelstoke erklärt Ihnen erst alles genau, bevor Sie Ihre Unterschrift geben. Wenn ich die Papiere nur morgen früh mit der ersten Post bekomme, dann haben wir keine Zeit verloren.«

 

Die ältere Dame nahm die beiden Schriftstücke und legte sie beiseite.

 

»So, nun wollen wir aber zum Essen gehen«, sagte sie dann in vergnügter Stimmung.

 

Henry verließ das Haus um halb drei, und Nora ging gleich darauf in das Arbeitszimmer, in das sich Miß Revelstoke begeben hatte.

 

»Ich möchte eine Stunde ausgehen«, sagte sie. »Ich hoffe, daß mir die Luft gut tut, damit ich wieder klar denken kann.«

 

»Kein schlechter Gedanke. Ich möchte Ihnen nur raten, mit keinem Menschen über das Testament zu sprechen, bis Henry die nötigen gesetzlichen Schritte ergriffen hat. Der letzte, mit dem Sie sich darüber unterhalten dürften, wäre Mr. Long. Es ist ja möglich, daß ich ein Vorurteil gegen diesen Herrn habe, aber ich kann seinen Vater durchaus nicht leiden. Wohin wollen Sie denn gehen?«

 

»Ich möchte etwas im Park spazieren gehen und mich dann vielleicht einmal bei Cloche umsehen. Es ist eine billige Woche dort.«

 

Miß Revelstoke lächelte nachsichtig.

 

»Aber mein Liebling, Sie brauchen doch jetzt wirklich nicht mehr zu einer billigen Woche ins Warenhaus zu laufen. Aber Sie haben vielleicht ganz recht. Es ist eine Ablenkung. Kommen Sie, bitte, bis fünf Uhr wieder zurück.«

 

Kapitel 22

 

22

 

Das Warenhaus Cloche ist groß, und da es Wetter Long nicht möglich war, Nora einen bestimmten Treffpunkt anzugeben, hielt sie sich einige Zeit am Haupteingang auf. Als sie ihn aber nicht entdecken konnte, betrat sie schließlich das Geschäft. Im Erdgeschoß wimmelte es von Menschen. Sie schaute nach rechts und nach links, aber sie sah ihn nicht. Hatte sie ihn doch falsch verstanden? Oder war er am Ende verhindert?

 

Plötzlich trat ein Aufsichtsbeamter mit langem, blondem Schnurrbart auf sie zu und begrüßte sie mit einem Kopfnicken.

 

»Wir haben Ihre Handtasche gefunden, sie liegt im Fundbüro. Wollen Sie, bitte, mitkommen?«

 

Bevor sie erwidern konnte, daß sie nichts verloren hätte, drehte er sich um und ging ihr voran. Vergeblich versuchte sie, ihn zu überholen und ihm klar zu machen, daß er sich täuschen müßte. Er ging in ein kleines Büro und hier wandte er sich erst wieder nach ihr um.

 

»Sie müssen sich unbedingt irren, ich habe keine Tasche verloren –« begann sie.

 

Er öffnete eine andere Tür, die zu einem kleinen Salon führte.

 

»Würden Sie einen Augenblick Platz nehmen?« fragte er freundlich.

 

»Ich sage Ihnen aber doch, daß ich nichts verloren habe«, wiederholte sie, etwas erregt über seine Unzugänglichkeit.

 

Er schob sie in das kleine Zimmer und schloß die Tür hinter ihr.

 

»Entschuldigen Sie, daß ich wie ein Detektiv im Theater erscheine«, sagte der Wetter und nahm den Schnurrbart ab. »Sie verstehen jetzt wohl, warum Sie Ihre Handtasche verloren haben müssen.«

 

Sie starrte ihn erstaunt an.

 

»Mir sind derartige Dinge auch zuwider«, fuhr er fort, »aber der alte Cloche ist ein großer Freund von Scotland Yard, und ich hatte keinen anderen Weg, um mich Ihnen zu nähern, ohne die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, der Ihnen dauernd folgt.«

 

»Der mir dauernd folgt?« fragte sie ungläubig. »Da irren Sie sich aber.«

 

»Durchaus nicht. Ich kenne den Mann, seinen Namen, seine Adresse. Sogar über seine früheren Gefängnisstrafen bin ich orientiert«, erklärte der Wetter mit breitem Lächeln. »Haben Sie schon von Ihrem großen Glück erfahren?«

 

Sie nickte.

 

»Ist es denn wirklich wahr? Ich kann es noch nicht glauben.«

 

»Es ist schon wahr. Das Testament ist über jeden Zweifel erhaben – wenigstens unter diesen Umständen. Monkford soll es an dem Nachmittag vor seinem Tod unterzeichnet haben. Das war der erste August – kommt Ihnen das Datum nicht bekannt vor?«

 

Sie erinnerte sich und wurde bleich.

 

»Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Welche Schriftstücke sollen Sie denn für Mr. Henry unterzeichnen?«

 

Sie setzte sich plötzlich.

 

»Woher wissen Sie denn davon etwas?« fragte sie verblüfft.

 

»Haben Sie Ihre Unterschrift schon gegeben?« fragte er schnell.

 

»Noch nicht.«

 

»Sie haben Sie also tatsächlich gebeten, etwas zu unterzeichnen? Um was handelt es sich denn?«

 

»Das verstehe ich noch nicht ganz. Aber anscheinend ist alles in Ordnung. Mr. Henry zeigte mir zwei Papiere: eine Vollmacht, die ich ihm ausstellen sollte, und eine Bestätigung, daß ich das Testament annehme –«

 

»Sie werden keins der beiden Schriftstücke unterzeichnen.«

 

»Aber Mr. Henry ist doch ein Rechtsanwalt, und er handelt in meinem Interesse.«

 

»Nein, das tut er eben nicht. Sie unterzeichnen nichts – haben Sie mich verstanden?« fragte er etwas unhöflich. Dann nahm er ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche, glättete es und legte es auf den Tisch. »Ich bin im Begriff, Ihr Vertrauen auf eine harte Probe zu stellen«, sagte er sehr ernst. »Dieses Schriftstück ist eine Vollmacht für Wilkins, Harding & Bayne, die Rechtsanwälte meines Vaters, und ich bitte Sie, es zu unterzeichnen. Ich werde dafür sorgen, daß es noch heute nachmittag in die Hände der betreffenden Herren kommt.«

 

»Was besagt es denn?« fragte sie und schaute zu ihm auf.

 

»Es hat vermutlich denselben Inhalt wie das Schriftstück, das Sie für Mr. Henry unterzeichnen sollten. Es ist eine Art Generalvollmacht, und Sie legen dadurch die Verwaltung Ihrer Angelegenheiten in die Hände einer Rechtsanwaltsfirma, die über jeden Zweifel erhaben ist.«

 

»Wollen Sie denn sagen, daß Mr. Henry –«

 

»Mr. Henry ist nicht über jeden Zweifel erhaben, und zwar aus vielen Gründen, die ich Ihnen jetzt im Moment nicht erklären kann. Ich bitte Sie, Nora, schenken Sie mir Vertrauen und unterzeichnen Sie das Schriftstück.«

 

Sie nahm die Feder, die auf dem Schreibtisch lag, und unterschrieb, ohne den Inhalt durchzulesen.

 

»Es wird allerdings eine böse Auseinandersetzung geben, wenn ich Miß Revelstoke erzähle, was ich getan habe.«

 

»Sie brauchen es ihr erst morgen früh mitzuteilen. Wann sollten Sie denn die Schriftstücke für Mr. Henry unterzeichnen – etwa schon heute abend? Zweifellos arbeitet die Gegenseite sehr schnell. Glauben Sie, daß Sie imstande sind, Miß Revelstoke ein wenig zu belügen?«

 

Sie lächelte.

 

»Ich möchte es nicht gerne tun, aber wenn Sie es wollen –«

 

»Gut. Dann sagen Sie, daß Sie sich entschlossen haben, die Vertretung Ihrer Angelegenheiten den Rechtsanwälten Ihres verstorbenen Vaters zu übergeben, die sich mit Mr. Henry in Verbindung setzen würden. Um Ihre Handlungsweise zu rechtfertigen, können Sie auch noch angeben, daß Mr. Henry das Testament als Zeuge unterschrieben hat, und daß Sie es für das beste halten, einen Unbeteiligten mit der Wahrung Ihrer Interessen zu betrauen.«

 

Er nahm eine kleine Handtasche vom Tisch auf und überreichte sie ihr lächelnd.

 

»Sie haben also Ihr verlorenes Eigentum wiedererhalten. Der Herr, der draußen auf Sie wartet, ist sicher schon ungeduldig geworden.«

 

»Wann kann ich Sie wieder treffen, Mr. Long? Diese ganze Geschichte beunruhigt mich wirklich sehr.«

 

»In fünf Minuten sehe ich Sie wieder, und wahrscheinlich bin ich die ganze nächste Woche in Ihrer unmittelbaren Nähe.« Bei diesen Worten nahm er ihre Hand in die seine. »Es wird Ihnen in nächster Zeit nicht sehr gut gehen, aber Sie haben einen festen Charakter, und Sie werden über alle Schwierigkeiten hinwegkommen. Und wenn es Sie irgendwie tröstet, möchte ich Ihnen sagen, daß achtzehntausend Polizisten in London alles für Ihre Sicherheit tun, und daß ich in den nächsten Tagen graue Haare Ihretwegen bekomme. Aber lassen Sie den Mut nicht sinken.«

 

Gleich darauf trat sie aus dem kleinen Salon auf die Straße. Unterwegs sah sie sich mehrmals verstohlen um und bemerkte tatsächlich einen Mann, der sie beobachtete. Aber obwohl darin eine Gefahr für sie liegen mußte, und obwohl Long sie gewarnt hatte, fühlte sie sich im Augenblick stark und mutig.

 

Sie wartete nicht erst, bis die alte Dame sie an die Unterzeichnung der Schriftstücke erinnerte, sondern ging nach ihrer Rückkehr sofort zu ihr. Sie fand sie im Wohnzimmer, mit einer feinen Handarbeit beschäftigt.

 

Kapitel 23

 

23

 

»Ich habe mich entschlossen, die Erledigung meiner Angelegenheiten den Rechtsanwälten meines Vaters zu übergeben«, sagte sie ohne weitere Einleitung. »Ich habe ihnen bereits geschrieben.«

 

»So?« fragte Miß Revelstoke, die nur kurz von ihrer Stickerei aufgesehen hatte. »Das ist allerdings sehr unangenehm. Ich dachte, Sie würden in diesem Fall meinem Rat folgen. Aber da Sie den entscheidenden Schritt schon getan haben, läßt sich wohl nichts mehr ändern. Sagen Sie, bitte, Jennings, daß ich das Auto in einer halben Stunde brauche.«

 

Miß Revelstoke hatte die Mitteilung sehr ruhig hingenommen, aber Nora kannte sie zu gut, um sich täuschen zu lassen. Sie wußte, daß die alte Dame wütend über sie war, obwohl die Hand der Frau, die die Nadel führte, nicht im mindesten zitterte, und obwohl ihre Stimme so ruhig wie immer klang. Aber die beiden roten Flecken auf ihren Wangen verrieten ihre Erregung.

 

Nora sah von ihrem Zimmer aus, wie der Wagen fortfuhr, und ging wieder nach unten. Sie fühlte sich erleichtert, da sie im Moment von der Gegenwart der alten Dame befreit war.

 

Ihre Stellung hier wurde allmählich unhaltbar. Schon auf dem Rückweg von dem Kaufhaus hatte sie sich das klargemacht. Und doch fand sie keinen vernünftigen Grund dafür, das Haus von Miß Revelstoke zu verlassen. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie ihr doch in vieler Hinsicht recht dankbar sein mußte. Miß Revelstoke hatte sie immer menschenfreundlich und liebenswürdig behandelt und niemals unangenehme Forderungen an sie gestellt.

 

Erst kurz vor sechs kehrte sie zurück. Ihr Ärger schien während der Spazierfahrt verflogen zu sein, denn sie war in der besten Stimmung.

 

»Ich war bei Mr. Henry«, erzählte sie Nora. »Er ist natürlich ein wenig betreten, aber er versteht Ihre Ansicht, und er glaubt, daß Sie im großen und ganzen richtig gehandelt haben. Vielleicht sind Sie so liebenswürdig und schreiben ihm einen Brief. Darin können Sie ihm ja auch den Namen Ihrer Rechtsanwälte mitteilen. Vergessen Sie es nicht, er hat mich dringend darum gebeten.«

 

Nora erinnerte sich plötzlich mit Schrecken daran, daß sie den Namen vergessen hatte. Miß Revelstoke bemerkte ihre Verwirrung, drang jedoch nicht weiter in sie.

 

»Glücklicherweise hat Mr. Henry noch nicht viel unternommen. Mit Mr. Monkfords Rechtsanwälten hat er sich allerdings schon in Verbindung gesetzt, und die sind natürlich auch etwas enttäuscht. Das Testament wird aber jedenfalls nicht angefochten werden, diese beruhigende Mitteilung kann ich Ihnen machen. Monkford hatte keine Verwandten, und in einem früheren Testament hatte er fast sein ganzes Vermögen wohltätigen Zwecken zugewiesen.«

 

Sie erhob sich und lächelte.

 

»Ich komme mir jetzt gegen Sie mit Ihrem kolossalen Reichtum recht unbedeutend vor. Gestern waren Sie noch meine Sekretärin, zwar sehr hübsch, aber – verzeihen Sie, daß ich es sage – doch nicht von großer Bedeutung. Und heute darf ich es kaum wagen, Ihnen einen Auftrag zu geben.«

 

Nora atmete erleichtert auf, als Miß Revelstoke sie so freundlich behandelte.

 

»Sie haben mir aber doch schon verschiedene gegeben«, erwiderte sie vergnügt.

 

»Dann will ich Ihnen noch einen weiteren geben. Telephonieren Sie an Henry, daß ich meine Meinung geändert habe und mit ihm zu Abend speisen werde. Ich habe übrigens den etwas unangenehmen Mr. Crayley in der Stadt getroffen. Er fragte mich, ob er mich heute abend besuchen könnte. Er wollte mir etwas Wichtiges und Interessantes erzählen. Würden Sie so liebenswürdig sein und ihn empfangen, wenn er kommen sollte? Versuchen Sie, ihn so schnell als möglich los zu werden. Sagen Sie, daß ich unerwarteterweise nach auswärts gerufen wurde. Ich kann tatsächlich die langweilige Unterhaltung mit ihm nicht vertragen!«

 

Nora aß allein und in Muße zu Abend und dachte dabei über die Ereignisse des Tages nach.

 

Als die Uhr auf dem Kamin acht schlug, trat das Dienstmädchen herein.

 

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Miß.«

 

»Mr. Crayley?«

 

»Nein, ein fremder Herr. Ich habe ihn noch nicht gesehen.«

 

Nora eilte in das Wohnzimmer und fand einen Mann dort, den auch sie nicht kannte. Er sah wie ein besserer Handwerker aus.

 

»Sind Sie Miß Sanders?« fragte er in einem offiziellen Ton.

 

»Ja«, entgegnete sie erstaunt.

 

»Inspektor Long schickt mich. Ich bin Sergeant Smith von der Kriminalabteilung.«

 

»Ein Detektiv?«

 

»Ja.« Er warf einen Seitenblick auf das silberne Tablett und die Kaffeekanne. »Ich will solange warten, bis Sie Kaffee getrunken haben. Ich habe Zeit.«

 

Sie zögerte und schaute auf die Uhr. Mr. Crayley konnte jeden Augenblick kommen, und die Anwesenheit eines Detektivs von Scotland Yard würde etwas peinlich sein. Der Mann schien ihre Gedanken zu erraten.

 

»Wenn Besuch kommt, gehe ich ins Nebenzimmer.«

 

»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« fragte sie, während sie schon eingoß.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, danke schön, Miß.«

 

Sie stellte die Tasse vor sich hin, nahm Zucker und Milch und wartete, daß er beginnen sollte.

 

»Der Inspektor hat mir den Auftrag gegeben, Sie nach Scotland Yard zu bringen. Er muß Sie in einer dringenden Angelegenheit heute abend noch sprechen.«

 

»Ich kann aber das Haus nicht verlassen. Es kommt noch ein Freund von Miß Revelstoke.«

 

Er lächelte.

 

»Wegen Mr. Crayleys brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, der kommt heute abend nicht«, erklärte er zu ihrer Überraschung. »Er ist bei Mr. Long.«

 

Sie sah ihn nur verwundert an.

 

»Ja, er hatte einige Fragen an ihn zu stellen. Sonst ist nichts Besonderes, Miß. Und Sie sollen seine Aussage in einem Punkt bestätigen. Haben Sie die beiden Schriftstücke, die Sie für Mr. Henry unterzeichnen sollten?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Soviel ich weiß, liegen sie in Miß Revelstokes Arbeitszimmer.«

 

Sie ging hinaus, um die Dokumente zu holen, fand sie auf dem Schreibtisch unter einem Briefbeschwerer und kehrte gleich darauf zurück.

 

»Braucht Mr. Long die Papiere?«

 

»Er hätte sie gern gesehen. Lange bleiben Sie nicht fort, höchstens eine Stunde. Wenn Sie Ihren Kaffee getrunken haben, wollen wir gehen.«

 

Sie trank ihre Tasse aus und erhob sich.

 

»Ich bin in einem Augenblick fertig«, sagte sie.

 

Zwei Schritte machte sie zur Tür hin, dann wurde es ihr dunkel vor den Augen. Der Mann fing sie in seinen Armen auf, als sie bewußtlos umsank.

 

Kapitel 1

 

1

 

Ulanen-Harry kam zur Polizeistation in der Burton Street, um seine Papiere vorzuzeigen. Düster und verbissen trat er näher und reichte dem diensttuenden Sergeanten seinen Entlassungsschein.

 

»Henry Beneford, auf Bewährung entlassen – ich soll mich hier melden.«

 

Dann sah er sich um und bemerkte Detektivinspektor Long, den man auch den »Wetter« nannte. Seine Augen blitzten unheimlich auf.

 

»Morgen, Inspektor – leben Sie auch noch?«

 

»Wie Sie sehen, bin ich immer noch im Amt«, entgegnete Long vergnügt.

 

Ulanen-Harry grinste häßlich.

 

»Wunder mich nur, daß Sie bei Ihrem verdammt schlechten Gewissen noch schlafen können. Die letzten fünf Jahre hab ich durch Ihre Lügen auf den Buckel gekriegt!«

 

»Hoffentlich gelingt es mir bald, Ihnen weitere fünf Jahre aufzupacken«, erwiderte der Wetter in guter Laune. »Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie an den Galgen bringen, dann gäbe es einen schlechten Menschen weniger auf der Welt.«

 

Harry hatte tatsächlich früher eineinhalb Jahre lang bei den Ulanen gedient, war aber dann mit drei Jahren Festung bestraft worden, weil er seinen Unteroffizier mißhandelt hatte. Er war ein vielfach vorbestrafter, brutaler, gefährlicher Mensch. Aber auch der Wetter war auf seine Art gefährlich.

 

»Hören Sie zu, Inspektor. Ich will Ihnen nicht drohen. Sie sollen keine Gelegenheit haben, mich wieder ins Kittchen zu stecken. Aber eins sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich in acht!«

 

»Sie reden zuviel«, meinte der Wetter gutmütig. »Am Ende kommen Sie noch ins Parlament.«

 

Harry kochte vor Zorn und konnte vor Aufregung nicht sprechen. Er wandte sich kurz zu dem Sergeanten um und legte mit zitternder Hand seine Papiere auf das Pult.

 

»Gerissen sind Sie … wirklich gerissen«, stieß er schließlich wütend hervor. »Leute wie mich können Sie ja leicht fangen – aber warum machen Sie sich denn nicht hinter Shelton? Warum fangen Sie den nicht? Das kriegt kein Polizist in England fertig! Nicht einmal die Amateure!«

 

Der Wetter antwortete nicht darauf. Er interessierte sich im Augenblick nicht für Clay Shelton. Die Bemerkung über Amateurdetektive war natürlich auf ihn gemünzt, aber er kümmerte sich nicht weiter darum.

 

Aber als er nach Scotland Yard zurückkehrte, erfuhr er, daß er sich in Zukunft doch eingehend mit Mr. Shelton befassen mußte.

 

Einen Mann wie Shelton gab es auf der ganzen Welt nicht wieder. Fünfzehn Jahre lang war es ihm bisher gelungen, unter den verschiedensten Namen Kreditbriefe, Schecks, Tratten und andere Wertpapiere zu fälschen. Und fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit.

 

Inspektor Vansitter saß niedergeschlagen und mit düsterem Gesichtsausdruck im Büro seines Vorgesetzten.

 

»Es tut mir außerordentlich leid, Vansitter, aber es geht Ihnen ebenso wie allen anderen Beamten«, sagte Colonel Macfarlane. »Es ist noch das Beste, was Ihnen passieren kann, daß ich Ihnen die Bearbeitung des Falles nehme und sie einem anderen übertrage. Wirklich ein Glück für Sie, daß alle Leute, die sich bisher mit Sheltons Fälschungen befaßt haben, auch nur Mißerfolg hatten.«

 

»Wir können ihn nicht fangen, weil wir seine Person ja gar nicht kennen«, entgegnete Vansitter, »und vor allem, weil er vollkommen allein arbeitet. Nur ein glücklicher Zufall könnte uns helfen. Wenn eine Frau in die Sache verwickelt, wenn er verheiratet wäre oder sonstige Helfershelfer hätte, wäre er nicht fünfzehn Jahre lang unentdeckt geblieben. Ich glaube kaum, daß es jemandem gelingen wird, Shelton zu fassen, wenn er nicht einen groben Schnitzer machen sollte. Höchstens –«

 

Der Inspektor wollte nicht weitersprechen, bevor er nicht von seinem Vorgesetzten dazu ermutigt wurde. Colonel Macfarlane wußte sehr wohl, wen er meinte, sagte aber nichts, da er die Verantwortung nicht allein tragen wollte.

 

»Der Wetter«, sagte Vansitter schließlich.

 

Der Colonel runzelte die Stirne.

 

»Der Wetter!« Er schüttelte mißbilligend den Kopf.

 

»Wetter« Long hatte studiert und war Polizeibeamter, obwohl er sich den Sohn eines Millionärs nennen konnte. Er wandte sich diesem Beruf zu, weil er von Cambridge relegiert wurde. Mit Schimpf und Schande schickte man ihn nach Hause zurück, weil er einen Universitätspedell verprügelt hatte. Sein Vater war sehr böse darüber und sagte seinem Sohn Arnold, daß er in die weite Welt gehen und sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen sollte. Der Wetter tat das auch und erschien einen Monat später wieder im Hause seines Vaters, und zwar in der Uniform eines Polizisten. Und alle Bitten und Drohungen Sir Godleys konnten ihn nicht dazu bewegen, von seinem Entschluß abzulassen.

 

Wegen Arnolds einflußreicher Beziehungen hätten es seine Vorgesetzten gern gesehen, daß er nicht so schnell avancierte. Sie fürchteten den Vorwurf der Bevorzugung. Sicher würden im Parlament Anfragen kommen, wenn man ihn außer der Reihe beförderte. Trotzdem war er aber nach zwei Jahren Sergeant, denn es gelang seinem klugen Vorgehen, einige berüchtigte Verbrecher zu fassen.

 

»Reines Glück«, sagten seine Kollegen und Vorgesetzten von Scotland Yard. Und als er sich weiter auszeichnete, konnte man nicht umhin, ihm die Stelle eines Polizeiinspektors zu geben, weil ihn der Minister des Innern selbst zu dieser Beförderung vorschlug. Den »Wetter« nannten sie ihn, weil er gern herausfordernd sagte: »Wetten, daß?«

 

Aber er war kein Mann nach dem Herzen der Beamten von Scotland Yard, und sie hielten ihn den jüngeren Leuten auch nicht als leuchtendes Beispiel vor.

 

Wetter Long war groß, schlank und hübsch und verfügte über die Kraft eines trainierten, geschulten Körpers. Er zeichnete sich besonders im Laufen aus und hatte als Boxer seit zwei Jahren den Meistertitel für Amateure im Mittelgewicht. Klettern konnte er wie eine Katze, und er besaß auch etwas von der Zähigkeit und dem Instinkt dieses Tieres.

 

Auf seinem langen, schmalen Gesicht lag gewöhnlich ein Lächeln, denn er betrachtete Leben und Welt als einen großen Scherz.

 

»Meinen Sie wirklich, der Wetter wäre dieser Aufgabe gewachsen?« fragte Colonel Macfarlane und biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Das kann ich eigentlich nicht riskieren. Er stellt sicher irgend etwas Unmögliches an, und wir müssen nachher wieder die Vorwürfe hören … und doch, man müßte es überlegen…«

 

Er dachte den ganzen Tag darüber nach, und um fünf Uhr abends ließ er Arnold Long in sein Büro kommen.

 

Mit einem vergnügten Grinsen hörte der Wetter, was ihm sein Vorgesetzter zu sagen hatte.

 

»Nein, ich brauche die Akten nicht einzusehen, ich weiß alles auswendig, was über Shelton berichtet worden ist. Geben Sie mir drei Monate Zeit, dann sitzt der Mann hinter Schloß und Riegel.«

 

»Nehmen Sie die Sache nur nicht zu leicht«, warnte Colonel Macfarlane.

 

»Wetten, daß?«

 

Kapitel 10

 

10

 

Miß Revelstoke ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Sie gehörte zu den selbstsicheren Menschen, die auch ein Erdbeben nur als eine interessante Naturerscheinung betrachten.

 

Deshalb lauschte sie auch dem Bericht Noras ziemlich interesselos.

 

»Gefürchtet haben Sie sich in der Kabine des Motorboots?« fragte sie ironisch. »Mr. Long interessiert mich allerdings. Wir müssen ihn einmal abends zum Essen einladen. Aber im Augenblick ist unsere eigene Mahlzeit aufgetragen, und der arme Mr. Henry ist schon sehr ungeduldig.«

 

Der Rechtsanwalt war eine landläufig hübsche Erscheinung, aber Nora blieb er gleichgültig. Sie fühlte sich weder von ihm abgestoßen noch zu ihm hingezogen.

 

Bei Tisch kam das Gespräch schließlich wieder auf Marlow.

 

»Sie haben entschieden Eindruck gemacht«, sagte Miß Revelstoke. »Ich habe vorhin kurz mit Monkford telephoniert. Er war ganz begeistert von Ihnen und lobte Sie über alle Maßen.«

 

»Mich?« fragte Nora verwundert. »Er hat mich doch kaum angesehen. Das muß ein Mißverständnis sein. Wahrscheinlich hat er über die kleine Figur gesprochen, die ich ihm gebracht habe.«

 

»Und Mr. Jackson Crayley haben Sie auch kennen gelernt? Was halten Sie denn von ihm?«

 

»Ach, er ist etwas merkwürdig«, erwiderte sie zögernd.

 

»Das stimmt«, entgegnete Henry geringschätzig. »Ich kenne keinen Menschen, der langweiliger ist als Jackson.«

 

»Er beschäftigt sich eben nur mit sich selbst«, meinte Miß Revelstoke. »Ich kenne ihn sehr gut.«

 

Anscheinend hatten weder sie noch der Rechtsanwalt eine große Meinung von Mr. Crayley.

 

Als die Unterhaltung etwas ins Stocken geriet, erzählte Nora von der Bande des Schreckens. Aber sie bereute es sofort, denn sie hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, daß sie Longs Vertrauen mißbrauchte. Sie machte Anstrengung, das Gespräch wieder auf Mr. Monkford zu bringen, aber Miß Revelstokes dunkle Augen sahen sie forschend an.

 

»Ich fürchte, dieser Detektiv hat zu großen Eindruck auf Sie gemacht, Nora«, sagte sie freundlich. »Es scheint, als ob Sie uns nichts mehr von der Bande des Schreckens erzählen wollen.«

 

Diese merkwürdige Frau hatte die außerordentliche Gabe, Gedanken lesen zu können, und hatte Nora dadurch schon mehrmals in Verwirrung gebracht. Auch jetzt errötete das junge Mädchen wieder. Henry lachte leicht auf.

 

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, weil Sie uns davon erzählt haben«, sagte er. »Ich habe auch davon gehört. Aber diese Gerüchte sind einfach abgeschmackt und unmöglich. Ich kenne Sheltons Leben genau, nur in Scotland Yard weiß man vielleicht etwas mehr davon. Er hat immer nur auf eigene Faust gearbeitet, er hatte keine Freunde, keine Verwandten und keine Verbündeten. Nur deshalb konnte er sich so viele Jahre vor den Verfolgungen der Polizei schützen. Und von langer Hand vorbereitete Racheakte gibt es in unserem Lande nicht. Warum sollte sich denn auch jemand an dem Richter, dem Staatsanwalt und dem Henker rächen wollen, die doch schließlich nur Werkzeuge des Staats sind? Die einzigen Leute, die derartige Pläne hegen könnten, müßten doch sehr eng mit Shelton verbunden gewesen sein. Es kämen also nur Verwandte in Betracht, und soweit bekannt ist, hatte er keine.«

 

»Und dafür konnte er recht froh sein«, meinte Miß Revelstoke mit einem Seufzer. »Hat Ihnen Mr. Long noch etwas erzählt, was sich in letzter Zeit zugetragen hat – ich meine, was besonders mit der Bande des Schreckens zu tun hätte?«

 

»Nein, er fürchtet nur –« Wieder ertappte sie sich dabei, daß sie zuviel sagte.

 

Aber Henry kam ihr zu Hilfe.

 

»Er fürchtet für Monkford. Das ist auch ein offenes Geheimnis«, erwiderte er lächelnd.

 

»Aber Monkford hat doch nur seine Pflicht getan«, sagte Miß Revelstoke ungeduldig. »Es ist direkt absurd, daß er bedroht werden sollte. Nora, ich muß Ihren Detektiv tatsächlich einmal kennenlernen. Er scheint Ihnen das Gruseln beigebracht zu haben!«

 

»Nein, er ist sehr nett und liebenswürdig«, verteidigte sie ihn. »Und er hat durchaus keine übertriebenen Ansichten.«

 

Henry betrachtete sie nachdenklich und strich seinen Schnurrbart.

 

»Das kann ich eigentlich auch bestätigen. Der Wetter ist zwar exzentrisch, und seine Methoden sind nach Ansicht der Behörden etwas ungewöhnlich. Aber er hält sich streng an gegebene Tatsachen.«

 

»Wer ist er eigentlich?« fragte Miß Revelstoke, und Nora hörte zum erstenmal von Arnold Longs Wohlhabenheit.

 

»Eines Tages wird er Baronet und erbt ein Vermögen von zwei Millionen«, entgegnete Henry. »Deshalb ist er ja auch bei seinen Kollegen in Scotland Yard so unbeliebt.«

 

Miß Revelstoke hatte ausgedehnten Grundbesitz in London, und nach dem Essen ging Henry mit ihr in das kleine Büro, das hinter dem Wohnzimmer lag, um verschiedene Angelegenheiten mit ihr zu besprechen.

 

»Das wird ja wieder ein interessanter Abend«, flüsterte er Nora halblaut zu, als er mit seiner großen Mappe an ihr vorbeiging.

 

Sie lächelte mitleidig. Miß Revelstoke war eine tüchtige Geschäftsfrau, und der Rechtsanwalt würde keinen leichten Stand haben.

 

Kapitel 11

 

11

 

»Die Bande des Schreckens« war nur ein Name, eine ungewisse Bezeichnung für allerhand Verbrecher und schemenhafte Gestalten, die man nicht fassen konnte. Colonel Macfarlane machte ein ärgerliches Gesicht, als Long an diesem Abend zu ihm kam und wieder über sein Lieblingsthema zu sprechen begann.

 

»Immer wieder diese Bande des Schreckens! Sie machen mich noch ganz krank mit Ihren Geschichten. Wenn Sie mir wenigstens sagen wollten, wer diese Leute sind! Aber Sie wissen doch tatsächlich nichts von ihnen!«

 

»Ich nenne sie so, und ich habe recht mit meiner Behauptung, wenn ich auch nichts Näheres über sie weiß«, entgegnete der Wetter vertrauensvoll. »Man kann sie nicht Sheltons Bande nennen, denn er arbeitete niemals mit anderen Leuten zusammen, soweit wir wissen. Einen Eid will ich allerdings darauf nicht leisten. Er hat sich doch nur sehr selten in der Öffentlichkeit gezeigt, vielleicht fünf Tage im Jahr. Was er an den anderen dreihundertsechzig Tagen getrieben hat, können wir nur vermuten. Er hatte Hunderte von Agenten und Helfershelfern, aber sie waren nur Handlanger, die eine bestimmte Aufgabe zu lösen hatten und dafür bezahlt wurden. Diese kleinen Leute haben nicht den Richter, den Staatsanwalt und den Henker umgebracht. Sie haben auch nichts gegen mich unternommen. Wie erklären Sie sich denn diese drei plötzlichen Todesfälle?«

 

»Es waren Unglücksfälle«, erwiderte der Colonel mißmutig.

 

»War es tatsächlich auch ein Unglücksfall, daß Ulanen-Harry auf mich geschossen hat und die Tat mit dem Leben bezahlen mußte?«

 

»Harry konnte Sie nicht leiden und wollte Sie eben aus dem Weg schaffen. Und als ihm das nicht gelang, hat er Selbstmord begangen.«

 

Der Wetter warf unwillkürlich den Kopf in den Nacken.

 

In Scotland Yard hatte man seine Theorie über die Bande des Schreckens äußerst skeptisch aufgenommen. Die Bezeichnung wurde zwar in den Akten erwähnt, aber im allgemeinen glaubte man, daß diese Leute nur in Arnold Longs Einbildung existierten.

 

Und doch sprachen gewisse Anzeichen für seine Ansicht.

 

Der ältere Bruder Mr. Monkfords war tot aufgefunden worden; der Richter, der Shelton verurteilt hatte, der Staatsanwalt und der Henker waren auf geheimnisvolle Weise ermordet worden. Die breite Öffentlichkeit wußte nichts von den seltsamen Vorgängen, die sich abgespielt hatten und sah in dem Ableben der Beamten nur natürliche Ereignisse. Der Tod des Henkers Wallis hatte allerdings einige Sensation hervorgerufen, aber niemand dachte an einen Racheakt.

 

Macfarlane strich seinen grauen Schnurrbart und runzelte die Stirne. Schon zum drittenmal in dieser Woche erwähnte der Wetter das Schicksal dieser drei Leute, die in gewisser Weise für Clay Sheltons Tod verantwortlich waren.

 

»Ich will die Möglichkeit, daß Sie recht haben, nicht ganz und gar bestreiten«, sagte er schließlich. »Wenn Joshua Monkford wirklich ermordet wird, sind alle meine Zweifel beseitigt.«

 

Long sah ihn vorwurfsvoll an.

 

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Monkford erst sterben muß, um Scotland Yard von der Existenz der Bande des Schreckens zu überzeugen?«

 

Derartige Bemerkungen machten den Wetter so unbeliebt bei seinen Vorgesetzten.

 

»Natürlich nicht«, erwiderte der Colonel kurz. »Es ist doch Ihre Aufgabe, ihn zu schützen. Hoffentlich haben Sie alle Vorsichtsmaßregeln getroffen.«

 

»Ich habe zwei Beamte in Marlow stationiert. Die beiden Privatdetektive von der Bankiervereinigung sind auch dort. Aber die Gefahr liegt nicht in Marlow.«

 

»Wo denn?«

 

»In Little Heartsease. Das ist ein luxuriöses, komfortables Hotel. Ein gewisser Cravel ist der Eigentümer.«

 

Der Colonel kannte den Namen.

 

»Wird dort nicht auch jedes Jahr ein Golfturnier ausgetragen?«

 

»Ja, das vornehmste und bekannteste von ganz England. Was Ascot für die Rennen ist, das ist Heartsease für das Golfspiel. Monkford versteht nicht mehr davon wie hundert andere Menschen. Die meisten Leute kommen nur hin, weil es ein gesellschaftliches Ereignis ist. Aber in Heartsease wartet eine große Gefahr auf Monkford. Ich kann es Ihnen nicht genauer erklären, weil es nur eine innere Überzeugung ist. Aber solche Vorahnungen sind wichtiger als genaue Kenntnisse.«

 

Colonel Macfarlane sah einige Zeit vor sich hin.

 

»Etwas ist mir an Clay Shelton aufgefallen – ich weiß nicht, ob Sie schon darüber nachgedacht haben.«

 

»Was ist es denn?«

 

»Er hat niemals Ihren Vater betrogen.«

 

Long starrte ihn erstaunt an.

 

»Ja, da haben Sie recht. Das hat er nicht getan.«

 

Sein Vater war der Direktor der größten Privatbank in der City und hielt streng an alten Geschäftsprinzipien fest. Seine Bank zu berauben, wäre ein großes Kunststück gewesen.

 

»Es ist wirklich sonderbar«, meinte der Wetter nachdenklich.

 

Kapitel 12

 

12

 

Arnold Long verließ nach dieser Unterredung Scotland Yard und fuhr nach Berkeley Square. Im letzten Jahr hatte er seinen Vater kaum zwölfmal besucht. Sir Godley las gerade die Druckkorrektur eines Buches über Kunstgeschichte, das er selbst verfaßt hatte. Er nahm die Brille ab und sah Arnold interessiert an.

 

»Kommst du als Beamter oder als mein Sohn?«

 

»In keiner der beiden Eigenschaften. Bist du eigentlich Mitglied der Bankiervereinigung?« fragte er etwas abrupt, als er sich einen Stuhl an den Schreibtisch zog.

 

»Warum willst du das wissen?«

 

»Beantworte, bitte, meine Frage«, sagte der Wetter ernst.

 

»Die Bank ist natürlich Mitglied der Vereinigung, aber ich habe keine offizielle Stellung darin. Welton vertritt uns immer bei den Versammlungen. Ich könnte es nicht aushalten, mit Monkford dauernd in Sitzungen zusammenzusein. Er spricht mir zuviel.«

 

»Hast du jemals etwas von der Bande des Schreckens gehört?«

 

»Meinst du etwa die Bande, über die du selbst in der Zeitung geschrieben hast?«

 

Der Wetter nickte.

 

»Nein, von der habe ich noch nicht gehört. Shelton kenne ich natürlich dem Namen nach, aber er hat niemals einen Penny von meiner Bank bekommen. Glaubst du wirklich, daß Monkford in Gefahr ist?«

 

»Sein Schicksal ist besiegelt«, entgegnete Arnold so entschieden, daß der alte Herr erstaunt aufsah. »Willst du ganz offen mit mir reden?«

 

»Soweit es möglich ist.«

 

»Warum hat Clay Shelton niemals versucht, deine Bank zu berauben?«

 

»Das weiß ich nicht.« Die Worte Sir Godleys klangen nicht sehr sicher. »Ich glaube, unsere Bank war nicht groß genug für ihn.« Er wechselte das Thema plötzlich. »Arnold, wenn du tatsächlich von der Gefährlichkeit der Bande des Schreckens überzeugt bist, warum verläßt du dann nicht den Polizeidienst? Es gibt doch wahrhaftig keinen Grund, warum du noch länger in Scotland Yard tätig sein solltest. Ich könnte dir einen guten Posten in unserer Bank anbieten.«

 

»Dieses Angebot machst du mir schon zum zweitenmal. Als ich dir seinerzeit erklärte, daß ich Clay Shelton fangen wollte, hast du mir ein Jahresgehalt von zehntausend Pfund aussetzen wollen, falls ich die Filiale deiner Bank in Südamerika übernehmen würde. Warum legst du so großen Wert darauf, daß ich den Polizeidienst quittiere?«

 

Sir Godley sah ihm nicht in die Augen. Er lachte nur, als ob ihn diese Antwort belustigte. Aber es klang gezwungen.

 

»Was bist du doch für ein argwöhnischer Mensch geworden! Die Tätigkeit bei der Polizei hat den Glauben an deine Mitmenschen anscheinend vollständig erschüttert. Klingle bitte, ich möchte etwas zu trinken haben.«

 

Sie sprachen dann noch über weniger wichtige Dinge, und Clay Shelton und die Bande des Schreckens wurden nicht mehr erwähnt.

 

Es war fast Mitternacht, als der Wetter das Haus verließ. Es lag an der Westseite des Platzes, und der Hauptverkehr wickelte sich an der Ostseite ab. Sir Godley begleitete ihn bis zur Türe.

 

»Ich will lieber ein Auto für dich holen lassen«, sagte der alte Herr, als seine Blicke über die einsame Straße schweiften.

 

Aber der Wetter lachte nur.

 

»Du scheinst in letzter Zeit sehr nervös geworden zu sein.«

 

Er wartete, bis sich die Haustür geschlossen hatte, dann ging er zu Fuß nach der Oxford Street. Der Teil der Straße, den er benützte, war vollkommen leer. Long war kaum fünfzig Schritte gegangen, als eine Gestalt auf ihn zueilte. Im Schein einer Straßenlaterne sah er, daß es eine Frau war, und er war neugierig, was das bedeuten sollte.

 

Plop!

 

Ein Geschoß flog dicht an seinem Kopf vorbei. Jemand feuerte mit einem Schalldämpfer. Als er näher hinschaute, entdeckte er weiter unten auf der Straße einen Mann. Sicher schoß dieser auf die Frau. Das nächste Geschoß prallte dicht neben Long an der Bordschwelle ab und surrte wie eine ärgerliche Wespe. Er zog sofort seine Pistole, die er in diesen Tagen stets bei sich trug. Aber bevor er feuern konnte, war die Frau nahe an ihn herangekommen und warf sich ihm atemlos in die Arme.

 

»Retten Sie mich, retten Sie mich!« stieß sie keuchend hervor. »Die Bande des Schreckens …«

 

Kapitel 13

 

13

 

Der verdächtige Mann auf der Straße war plötzlich verschwunden. Der Wetter steckte seine Waffe wieder ein und hielt das halbohnmächtige junge Mädchen in den Armen. Er hörte, daß ihn jemand rief, und als er sich umwandte, sah er, daß sein Vater und ein Diener auf ihn zukamen.

 

»Was ist denn geschehen?«

 

»Ach, es war nur eine kleine Schießerei. Hilf mir, das Mädchen ins Haus zu bringen.«

 

Sie führten sie in das Arbeitszimmer Sir Godleys. Sie war sehr hübsch, nur hatten ihre Züge einen etwas strengen, männlichen Charakter. Wetter Long betrachtete sie erstaunt, denn er hatte sie schon irgendwo gesehen. Er wußte allerdings nicht, wer sie war.

 

Plötzlich schlug sie die Augen auf und blickte wild um sich.

 

»Wo bin ich?« fragte sie. Ihre Wangen hatten sich wieder gerötet, aber sie zitterte noch.

 

Plötzlich erinnerte sich der Detektiv: Sie hatte sich in dem kleinen Boot gerade von Jackson Crayley verabschiedet, als er mit Nora Sanders zu ihm zurückkehrte. Sie trug ein kostbares Abendkleid. Eine große Diamantnadel glitzerte an ihrem Gürtel, und sie hatte wertvolle Ringe an den Händen.

 

»Ich weiß nicht, was geschehen ist«, erwiderte sie noch ganz verstört auf seine Frage. »Ich sah nur diese schrecklichen –« Sie schwieg schaudernd.

 

Erst als sie ihr ein Glas Wein gegeben hatten, faßte sie sich soweit, daß sie erzählen konnte. Sie und ihr Bruder waren die Inhaber eines Hotels auf dem Lande. In London hatten sie eine kleine Wohnung in der John Street. An diesem Abend hatte sie das Theater besucht und sich entschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen, weil das Wetter gut war. Als sie nach Berkeley Square kam, sah sie einen Wagen, der an der Straßenseite hielt. Als sie ihn erreichte, wurde plötzlich die Tür aufgerissen, und zwei Leute sprangen heraus.

 

»Sie trugen weiße Stoffmasken, und ich war so erschrocken, daß ich ihnen keinen Widerstand leisten konnte. Sie versuchten, mich in den Wagen zu zerren, aber im gleichen Augenblick erschien ein dritter Mann und rief: ›Das ist ja gar nicht Nora Sanders!‹«

 

»Nora Sanders?« fragte der Wetter schnell. »Haben Sie sich in dem Namen auch nicht getäuscht?«

 

»Nein, ich irre mich nicht. Der Mann, der mich festhielt, war so überrascht, daß er mich plötzlich losließ, und dann lief ich davon. Einer von ihnen sagte: ›Die muß erledigt werden‹. Ich hörte dann noch einen Schuß. Das ist alles, was ich weiß.«

 

Die beiden hatten ihrem Bericht gespannt gelauscht.

 

»Ich habe Sie schon einmal gesehen. Sie sind Miß –«

 

»Alice Cravel. Mein Bruder und ich sind die Besitzer von Little Heartsease.«

 

Der Wetter starrte sie erstaunt an.

 

»Kennen Sie denn Nora Sanders?«

 

Zu seiner größten Verwunderung nickte sie.

 

»Ich kenne sie vom Sehen. Sie ist die Sekretärin von Miß Revelstoke, die gewöhnlich während des großen Golfturniers eine Woche bei uns logiert. Nächsten Montag kommt sie auch wieder. Voriges Jahr war sie schon bei uns. Sie ist sehr schön.«

 

Der Wetter biß sich nachdenklich auf die Lippe.

 

»In welchem Theater waren Sie denn heute abend?«

 

Sie nannte ohne Zögern eine bekannte Bühne.

 

Little Heartsease! Nicht nur Nora Sanders würde nächste Woche dort sein. Auch Monkford hatte seine Zimmer schon bestellt und gleichfalls einen Raum für Arnold reservieren lassen. Dort sollte der Bankier den Tod finden. Arnold war dessen ganz sicher. Und er glaubte auch nicht, daß diese Schießerei heute abend ein Zufall war. Er ließ ein Auto rufen, begleitete Miß Cravel zu ihrer Wohnung und ging dann zu Fuß nach Scotland Yard. Unterwegs dachte er über den Vorfall nach. Warum wollte man wohl die Eigentümerin des Hotels gefangennehmen, in dem John Monkford nächste Woche logieren würde? Man konnte sie doch gar nicht mit Nora Sanders verwechseln, denn Alice Cravel war bedeutend kleiner und hatte auch eine ganz andere Gesichtsfarbe. Und was sollte Nora Sanders um Mitternacht am Berkeley Square suchen?

 

Am nächsten Morgen fuhr er nach Berkshire und kam schon sehr frühzeitig in Little Heartsease an.

 

Das Hotel befand sich in einem schönen, alten Gebäude, das in einem großen Park stand. Sein Golfplatz war in der ganzen Welt berühmt, und das Hotel selbst war wegen seiner guten Küche und seiner luxuriösen Ausstattung bekannt.

 

Long fragte sofort nach dem Eigentümer und stand kurz darauf einem großen, schlanken jungen Mann gegenüber, der ihn ernst begrüßte.

 

Mr. Cravel war sehr elegant und nach der neuesten Mode gekleidet. Trotzdem machte er mehr den Eindruck eines Angestellten als eines Chefs.

 

»Ich habe schon von dem unangenehmen Erlebnis meiner Schwester gehört. Sie hat mich noch in der Nacht antelephoniert.«

 

Sein Auftreten war äußerst ruhig und sicher. Die Gefahr, in der seine Schwester geschwebt hatte, schien wenig Eindruck auf ihn gemacht zu haben.

 

»Meine Schwester und ich haben keine Feinde, und dieser nächtliche Überfall ist sicher ein Irrtum gewesen. Sind die Leute eigentlich verhaftet worden? Nein? Nun, das überrascht mich nicht. Wollen Sie sich vielleicht Ihr Zimmer ansehen? Es liegt direkt neben Mr. Monkfords Räumen.«

 

»Es würde mich vor allem interessieren, die Gästeliste für nächste Woche einmal einzusehen.«

 

»Die kann ich Ihnen zeigen.« Mr. Cravel nahm einen großen Bogen aus einer Mappe und reichte ihn dem Detektiv, der die langen Reihen schnell überflog.

 

»Miß Revelstoke kommt alle Jahre hierher?« Cravel nickte.

 

»Sie interessiert sich nicht für das Golfspiel, aber sie liebt Gesellschaft. Nora Sanders, die gestern abend von den Verbrechern gesucht wurde, ist ihre Sekretärin.«

 

Der Wetter entgegnete nichts, sondern las die Liste bis zu Ende durch.

 

»Ist Jackson Crayley auch ein Stammgast von Ihnen?«

 

»Ja, letztes Jahr war er hier. Er ist einer unserer besten Freunde, soweit man das von Hotelgästen sagen kann. Mit meiner Schwester ist er besonders befreundet. Wir haben ihn auch schon öfter in Marlow besucht.«

 

Long ging dann nach oben, um sein Quartier zu sehen. Es gehörte zu einer Flucht von drei Räumen, die aus zwei Schlafzimmern und einem Salon bestand. Sie waren bis zur halben Höhe mit schwerem Eichenpaneel getäfelt, nur das Wohnzimmer war in heller schwedischer Birke gehalten. In jedem Zimmer befand sich ein Telephon. Die Schlafzimmer besaßen außerdem noch je einen Baderaum.

 

»Hier schläft Mr. Monkford«, erklärte Cravel und öffnete die Tür zu dem prachtvoll ausgestatteten Raum. »Das Zimmer ist etwas größer als das Ihrige und hat auch eine bessere Aussicht.«

 

Die Räume lagen im zweiten Stock. Long machte ein Fenster auf und schaute hinaus. Unter sich sah er das vorspringende Glasdach des Speisesaals. Die Lage war günstig. Von draußen drohte dem Bankier kaum eine Gefahr, denn das Glasdach machte es unmöglich, eine Leiter an die Wand zu lehnen.

 

Drei Türen führten in das Zimmer. Sie bestanden aus starkem Eichenholz und waren durch Schlösser und Riegel gesichert. Die eine führte zu dem Badezimmer, die andere zum Korridor, die dritte in den Salon.

 

Der Wetter ging an den Wänden entlang und klopfte das Paneel ab.

 

Mr. Cravel lächelte, als er es bemerkte.

 

»Wir haben weder geheime Falltüren noch unterirdische Gänge hier. Ich glaube, Detektive bilden sich immer ein, daß man in alten Häusern dergleichen finden müßte. Aber es stehen nur noch die Außenwände des alten Gebäudes, die innere Einrichtung habe ich vollständig erneuert. Kommen Sie eigentlich aus einem besonderen Grund hierher? Entschuldigen Sie die Frage, aber ich möchte es gern wissen.«

 

»Was für ein Grund sollte denn vorliegen?«

 

»Ich weiß es nicht. Aber man hört so merkwürdige Gerüchte über Mr. Monkford. Mr. Jackson Crayley ist doch sein Nachbar, und er erzählte, daß er große Angst hat. Er fürchtet, daß man ihn ermordet. Stimmt das?«

 

»Mr. Jackson Crayley scheint ja sehr viel von seinem Nachbar zu wissen«, entgegnete der Wetter trocken.

 

Mr. Cravel lachte.

 

»Ich glaube, er weiß viel mehr, als die Leute im allgemeinen annehmen.«