Kapitel 26

 

26

 

Noras Kopf schmerzte noch heftig, als das Telephon klingelte. Der Mann, der die letzte Stunde schweigend neben ihr gesessen hatte, erhob sich geräuschvoll.

 

»Versuchen Sie bloß nicht, durch das Fenster zu verschwinden«, warnte er sie. »Sonst geht es Ihnen schlecht.«

 

Sie hörte, wie seine Schritte in den Nebenräumen auf dem bloßen Fußboden schallten, und sie vermutete, daß er in die Diele gegangen war.

 

Er nahm den Hörer vom Apparat und sprach leise hinein. Offenbar beschwerte er sich über etwas, aber schließlich willigte er widerwillig ein. Dann machte er eine unvorsichtige Bemerkung.

 

»Marlow – gut, ich fahre hin.«

 

Gleich darauf kam er zu Nora zurück.

 

»Machen Sie sich fertig, wir müssen fort.«

 

»Wohin?«

 

»Fragen Sie nicht. Das kann Ihnen gleich sein. Wir haben mindestens eine Meile zu Fuß zu gehen, dann holen sie uns mit dem Wagen ab. Wissen Sie, Ihr Freund ist ein bißchen zu eifrig. Er hat uns schon aufgespürt und ist bis zum Ende der Straße gefahren.«

 

Ihr Herz schlug schneller. Mit dem Freund konnte er nur einen Mann meinen, und sie hatte das Vertrauen, daß der Wetter früher oder später dieses Haus finden würde. Konnte sie ihm nicht eine Nachricht zukommen lassen? Sie hatte weder Bleistift noch Papier, aber als sie mit der Hand über die frischgeputzte Wand fuhr, kam ihr ein Gedanke, und sie kratzte mit dem Fingernagel rasch das Wort »Marlow« ein.

 

»Was machen Sie denn da?« fragte er argwöhnisch und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf sie.

 

»Nichts«, entgegnete sie mit schwacher Stimme. »Ich kann aber wahrscheinlich nicht gehen. Ich bin noch so müde, und mein Kopf schmerzt entsetzlich.«

 

Er öffnete die Tür.

 

»Das Gehen bekommt Ihnen sicher gut.«

 

Er faßte sie fest am Arm und führte sie ins Freie.

 

Gehorsam ging Nora neben dem Mann her. Die frische Abendluft tat ihr wirklich wohl. Durch ein kleines Tor im Zaun verließen sie das Grundstück und kamen auf das freie Feld.

 

Der Mann schien nicht sehr mit der Gegend vertraut zu sein, denn einmal wären sie beinahe in einen kleinen Teich geraten. Schließlich kamen sie auf einen Feldweg und gingen dann durch hohes, taubedecktes Gras, so daß ihre Schuhe und Strümpfe durchnäßt wurden.

 

Nach einer Viertelstunde kamen sie zu einer Hecke und gingen dort entlang, bis sie eine Öffnung fanden. Eine unebene Fahrstraße lag vor ihnen.

 

»Hier ist die Stelle«, sagte er und atmete erleichtert auf.

 

Sie wanderten dann noch zwanzig Minuten weiter, bis sie in die Nähe der Hauptstraße kamen. Dort machten sie halt.

 

»Wenn Sie wollen, können Sie sich setzen. Wir müssen hier ein wenig warten.«

 

Sie war froh, daß sie etwas ausruhen konnte, denn ihre Füße und ihre Beine schmerzten. Müde ließ sie sich auf dem Erdboden nieder.

 

Erst jetzt kam ihr die Gefahr, in der sie schwebte, vollkommen zum Bewußtsein. Sie hatte das ungewisse Gefühl, daß diese Entführung mit der Erbschaft von Monkford zu tun haben mußte, aber sie wunderte sich über den Mut, mit dem sie den Tatsachen gegenübertrat. Der Glaube an Arnold Long gab ihr so große Zuversicht. Er würde ihr sicher helfen.

 

»Stehen Sie auf«, sagte der Mann plötzlich. »Hier ist der Wagen.«

 

Ein Auto war nähergekommen. Die Lampen brannten so düster, daß man sie kaum erkennen konnte. Die Bremsen knirschten, und gleich darauf hielt der Wagen. Der Mann riß schnell die Tür auf, schob Nora ins Innere und stieg dann auch ein.

 

Sie fuhren auf der Bath Road. Bald darauf kamen sie durch eine kleine Stadt, die sie als Slough erkannte, dann durch Maidenhead. Schließlich wandten sie sich nach rechts und fuhren den Hügel hinauf, der nach Quarry Wood und Marlow führte.

 

Nora überlegte, wohin man sie wohl bringen würde. Doch nicht nach Monkfords Haus? Plötzlich dachte sie an Jackson Crayleys schönes Anwesen. Offenbar war das das Ziel ihrer Fahrt, denn der Wagen bog von der Hauptstraße ab, bevor sie die Marlow-Brücke erreichten. Durch das Fenster sah sie das Haus von Mr. Monkford, und das nächste Grundstück gehörte ja Mr. Crayley. Aber zu ihrem Erstaunen fuhr der Wagen weiter und hielt erst am Ende einer Wiese. Der Mann packte sie wieder am Arm und eilte mit ihr durch das Gras, bis sie an den Fluß kamen. Dicht neben dem Ufer lag ein großes Motorboot. Er half ihr an Deck, und der Chauffeur machte das Fahrzeug los.

 

»Wir fahren durch die Temple-Schleuse, aber denken Sie an das, was ich Ihnen schon zu Anfang sagte. Nur Sie und ich sind an Bord. Sie wissen, daß ich fünfzehn Jahre Zuchthaus bekomme, wenn man mich fängt, und da ist mir schließlich alles gleich, selbst wenn es ein Menschenleben kostet. Wenn Sie schreien, drehe ich Ihnen das Genick um und werfe Sie ins Wasser, bevor der Schleusenwärter erfährt, was los ist.«

 

Nora schauderte, drückte sich in eine Ecke und schwieg. Nach einiger Zeit rief der Mann:

 

»Schleuse, ahoi!«

 

Dann verlangsamte das Motorboot die Geschwindigkeit und hielt an. Erst nach einer Weile setzte es die Fahrt vorsichtig fort. Nora hörte das Rasseln der Schleusentore. Das Motorboot stieg mit dem einströmenden Wasser höher und höher, bis es das Niveau des Schleusenrandes erreicht hatte. Der Mann am Steuer wechselte einige gleichgültige Bemerkungen mit dem Wärter, dann fuhren sie weiter stromauf.

 

Westlich von Temple machte der Strom eine Biegung, und das linke Ufer wurde durch überhängende Bäume beschattet. Dorthin steuerte der Mann das Boot, und sie näherten sich einem Holzhaus. Das Gebäude stand so dicht am Wasser, daß die Veranda von Pfählen getragen wurde, die ins Wasser gerammt waren.

 

»Steigen Sie aus«, befahl der Mann mit rauher Stimme, und sie gehorchte.

 

Er folgte ihr, nahm einen Schlüssel aus der Tasche, und nach einigen Anstrengungen gelang es ihm, die Haustür zu öffnen. Nachdem sie hineingegangen waren, riegelte er die Tür von innen zu. Dann steckte er ein Streichholz an, schaute sich um und fand eine Kerze.

 

Der Raum war vornehm ausgestattet, aber überall lag dicker Staub. Verschiedene Reproduktionen von Gemälden aus der italienischen Frührenaissance schmückten die Wände, und vor den Fenstern hingen schwersamtene Vorhänge.

 

»Sie kennen das Haus wohl?« fragte der Mann. »Früher wohnte Mr. Shelton hier.«

 

»Shelton!« rief Nora, und eine unaussprechliche Furcht packte sie. Es war ihr, als ob der Geist dieses Verbrechers immer noch in dem Hause weilte.

 

Der Mann sah auf seine Armbanduhr, ging im Zimmer auf und ab und schaute zum Fenster hinaus. Als er einen der Vorhänge beiseitezog, bemerkte sie, daß die Fenster vergittert waren. Das war also die unheimliche Stätte, an der Clay Shelton seine dunklen Pläne vorbereitet hatte. An diesem selben Tisch, auf dem man jetzt die Spuren der Mäuse sehen konnte, hatte er wichtige Dokumente so hervorragend gefälscht, daß man sie nicht von den Originalen unterscheiden konnte.

 

»Ich gehe hinaus, um nach dem Boot zu sehen«, sagte der Mann, »bleiben Sie hier.«

 

Er schloß die Tür leise hinter sich, und sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Der Bootsmotor wurde angelassen, aber sie vernahm es kaum, denn ihre Gedanken beschäftigten sich noch zu stark mit Clay Shelton.

 

Sie stand direkt der Tür gegenüber, die wahrscheinlich in ein Schlafzimmer führte, und als sie zufällig auf die Klinke sah, bemerkte sie, daß diese langsam heruntergedrückt wurde. Langsam, langsam … dann öffnete sich die Tür nach innen, und eine lange, blasse Hand schob sich um die Kante.

 

Kapitel 27

 

27

 

Nora schrak zurück und starrte entsetzt auf die Türöffnung. Sie sah eine weiße Manschette, einen dunkelblauen Manschettenknopf und einen schwarzen Ärmel.

 

»Erschrecken Sie nicht.«

 

Der Fremde kam jetzt ganz zum Vorschein. Es war Jackson Crayley.

 

Sein ovales Gesicht war von Furchen durchzogen. Er trug Abendkleidung, und seine äußere Erscheinung stand in krassem Gegensatz zu diesem verstaubten, verlassenen Zimmer. Er hatte das Monokel ins Auge geklemmt und sah sich fast ängstlich im Raum um.

 

»Wo ist denn der Mann geblieben?« fragte er.

 

»Der ist fortgegangen«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Mr. Crayley, warum bin ich in diesem Haus?«

 

Er rieb sich das Kinn, und sie glaubte zu bemerken, daß seine Hände zitterten. Aber bei dem ungewissen Licht der Kerze konnte sie sich auch täuschen.

 

»Ich weiß es nicht«, sagte er betreten. »Aber Sie sind hier sicher, Miß Sanders.«

 

Es entstand eine Pause, und er betrachtete Nora. Seine düsteren Züge hellten sich aber nicht auf, und es kam ihr zum Bewußtsein, daß er sich mehr fürchtete als sie. Von Zeit zu Zeit schaute er sich nervös um, und einmal zuckte er vor dem unruhigen Schatten zusammen, den die flackernde Kerze auf die Wand warf.

 

»Ist er wirklich fortgegangen? Verflucht unangenehm.« Er räusperte sich. »Ich fürchte, Sie befinden sich in einer sehr peinlichen Lage, Miß Nora.«

 

Er machte eine Pause, als ob er seine Gedanken sammeln wollte.

 

»Ich glaube, es ist selten jemand in einer so unangenehmen Lage gewesen wie Sie«, fügte er dann hinzu.

 

Nora mußte trotz aller Gefahr über seine Unbeholfenheit lächeln.

 

»Ich kann wirklich nicht glauben, daß es so schlimm steht, Mr. Crayley. Sie sind doch hier bei mir und können für mich sorgen.«

 

Er konnte sie nicht ansehen.

 

»Nehmen Sie doch, bitte, Platz.«

 

Mit einem seidenen Taschentuch wischte er den Staub von einem Stuhl.

 

»Ich muß mit Ihnen sprechen, aber ich fürchte, Sie halten mich für einen sehr schlechten Menschen, wenn ich Ihnen alles gesagt habe, was ich Ihnen sagen muß.«

 

Sie setzte sich und wunderte sich, was kommen sollte.

 

»Der einzige Weg, der Sie aus all Ihren Schwierigkeiten befreit, ist eine Heirat«, begann er plötzlich, »und wenn Sie schließlich einmal darüber nachdenken, ist doch ein netter Kerl ebenso gut wie ein anderer – ich meine als Ehemann …«

 

»Ich verstehe Sie wirklich nicht, Mr. Crayley. Ich denke gar nicht daran, mich zu verheiraten, und wenn ich wirklich wählen sollte –«

 

»Sie haben vollkommen recht.« Er nickte, als ob er schon von vornherein gewußt hätte, was sie erwidern würde. »Wenn ich Sie bitte, mich zu heiraten, sind Sie natürlich sehr beleidigt.«

 

»Was, ich sollte Sie heiraten?« Sie war nicht im mindesten verletzt, nur sehr überrascht.

 

»Ja, darum handelt es sich«, entgegnete er verbissen. »Sie heiraten mich morgen, und dann ist alles in bester Ordnung. Sie müssen doch sowieso einen Menschen haben, der sich um Sie kümmert.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich könnte Sie niemals heiraten, Mr. Crayley«, sagte sie.

 

Der unglückliche Ausdruck seines Gesichts wirkte in diesem Augenblick fast komisch.

 

»Aber es wäre besser, wenn Sie es doch täten – tatsächlich, es wäre besser für Sie«, drängte er. »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Nora. Ich habe ebensowenig den Wunsch, Sie zu heiraten, wie Sie mich heiraten wollen, aber ich wäre trotzdem sehr dankbar und erleichtert, wenn Sie sich zu diesem Schritt entschließen würden.«

 

Er hob die Hand mit dem Taschentuch, um sich die Stirne zu trocknen. Dann sah er sich wieder nach allen Seiten um und sprach ganz leise.

 

»Folgen Sie doch, bitte, meinem Rat«, sagte er aufgeregt. »Sie versprechen mir auf Ihr Ehrenwort, mich morgen zu heiraten. Ich sorge dann für Sie – das schwöre ich Ihnen. Wenn Sie es nicht tun –« Er tupfte sich wieder die Stirne ab – »dann weiß ich nicht, was passieren wird.«

 

In ihren Zügen verriet sich jetzt Bestürzung, und seine zusammenhanglosen Erklärungsversuche verwirrten sie nur immer mehr.

 

»Ich bin vollständig unschuldig an der Sache«, fuhr er fort. »Ich bin einfach eine Null! Ach, wie ich diese ganze verfluchte Geschichte hasse! Wenn ich doch nur davon loskommen und das Land verlassen könnte! In Italien war ich schon einmal nahe daran. Die Fahrkarte von Genua nach Amerika war in meiner Tasche, aber dann hatte ich doch nicht den Mut, meinen Plan auszuführen.« Sein Kopf sank auf die Brust. »Nein, ich hatte nicht den Mut«, murmelte er. »Was bin ich doch für ein feiger Mensch!«

 

Sie wartete einige Zeit, aber er sprach nicht weiter.

 

»Was das alles zu bedeuten hat, verstehe ich nicht, Mr. Crayley. Ich fühle, daß Sie freundlich zu mir sind, aber eine Heirat mit Ihnen ist mir unmöglich. Wollen Sie mir nicht helfen, von hier fortzukommen? Warum hat man mich denn eigentlich hierher gebracht?«

 

Plötzlich sah er sie wieder an und hob warnend den Finger.

 

»Bleiben Sie hier«, flüsterte er, ging leise zur Tür und versuchte, sie zu öffnen. Sie war aber geschlossen. Mit langen Schritten durchquerte er das Zimmer und verschwand in dem anderen Raum, aus dem er vorhin gekommen war und schloß hinter sich ab. Sie hörte leise Stimmen, konnte aber kein Wort verstehen, obgleich sie sich nahe an die Tür heranschlich. Soweit sie zu unterscheiden vermochte, sprachen drei Leute miteinander.

 

»Nein, das kann ich nicht tun! Das ist ganz unmöglich! Das tue ich nicht!« sagte Crayley plötzlich laut.

 

Ein anderer erwiderte ihm ärgerlich. Dann hörte Nora Schritte und schlich auf Zehenspitzen zu ihrem Stuhl zurück. Wenn sie nur durch eins der Fenster entkommen könnte! Der Fluß hatte keine Schrecken für sie, denn sie konnte schwimmen wie ein Fisch. Wenn sie vor Furcht nicht vollständig gelähmt gewesen wäre, hätte sie schon auf dem Wege hierher ins Wasser springen können.

 

Die Türklinke senkte sich langsam, und Crayley kam wieder ins Zimmer. Er sah noch furchtsamer und verstörter aus als vorher. Wieder gab er ein Zeichen, daß sie schweigen sollte und lauschte aufmerksam. Schließlich schien er davon überzeugt zu sein, daß die beiden anderen gegangen waren.

 

In seinem geisterhaft bleichen, eingefallenen Gesicht zeigte sich plötzlich ein energischer Zug, als ob er einen Entschluß gefaßt hätte.

 

»Nehmen Sie doch, bitte, wieder Platz«, sagte er und rückte auch für sich einen staubigen Stuhl an den Tisch. »Sie haben zwei Stunden Zeit, sich zu entscheiden, dann kommen die Beiden zurück.«

 

»Wer sind sie denn?«

 

»Sie gehören der Bande des Schreckens an, aber Sie kennen sie nicht.«

 

»Sind Sie auch in ihrer Gewalt?«

 

»Ja!« Das Sprechen schien ihn anzustrengen, denn er atmete schwer. »Wollen Sie mich heiraten, um Ihr Leben zu retten?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich möchte Sie nicht beleidigen –« begann sie.

 

»Sie beleidigen mich durchaus nicht«, erwiderte er mit heiserer Stimme. »Um Gottes willen, nehmen Sie auf meine Gefühle keine Rücksicht. Aber ich frage Sie noch einmal, wollen Sie mich heiraten, um Ihr Leben zu retten?«

 

Sie hörte seine Worte und schauderte.

 

»Ich würde Sie unter keinen Umständen heiraten.«

 

»Lieben Sie denn einen anderen Mann?«

 

»Ich glaube ja. Und ich hoffe, daß ich ihn eines Tages heiraten kann.«

 

Er sah sie einen Augenblick ernst und nachdenklich an, dann erhob er sich unerwartet und ging auf Zehenspitzen in das andere Zimmer. Nach fünf Minuten kam er mit einem Armeerevolver zurück. Er untersuchte die Kammer und fand, daß sie geladen war.

 

»Kommen Sie mit«, sagte er.

 

Sie folgte ihm in den nächsten Raum, ohne eine Frage zu stellen. Durch einen engen Gang kamen sie dann zu einer offenen Tür. Die abnehmende Mondsichel stand am Himmel. Sie sah einen Fußweg vor sich, der durch eine endlose Wiese zu führen schien, aber sie erreichten doch bald eine enge Straße, die parallel zu dem Hause lief.

 

»Warten Sie hier einen Moment«, sagte er, als sie an einer kleinen Gartenpforte anlangten.

 

Sie sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwand. Nach einiger Zeit rief er sie, und sie stolperte über die verwucherten Wege, bis sie zu einem Kiespfad kam.

 

Er stand gebückt am Ufer, und sie hörte das Rasseln einer Kette.

 

»Können Sie die Umrisse des Bootes sehen? Ich habe keine Taschenlaterne, und es wäre auch nicht gut, wenn wir jetzt Licht machten.«

 

Es war stockfinster unter den Büschen, aber sie tastete sich vorwärts, bis sie die Spitze des Bootes berührte. Vorsichtig stieg sie ein.

 

»Gehen Sie nach hinten«, flüsterte er ihr zu, und sie gehorchte.

 

Das Boot schaukelte leicht, dann bewegte es sich.

 

»Können Sie ein Ruder gebrauchen? Neben Ihrem Sitz liegt eins.«

 

Sie nickte, fand es und senkte es sofort ins Wasser. In wenigen Sekunden waren sie in der Mitte des Stromes.

 

»Flußabwärts«, sagte er ganz leise. »Und möglichst wenig Geräusch.«

 

Zu ihrer Rechten sah sie die dunklen Umrisse des Hauses. Eifrig ruderte sie und gab sich die größte Mühe, das Holz so lautlos als möglich zu bewegen. Eine Strecke lang sahen sie weder Häuser noch Boote am Ufer.

 

Ein kleines Motorboot fuhr den Strom hinunter, und sie kamen gerade noch zu rechter Zeit, um in die Schleuse einzufahren. Crayley sprach erst wieder, als sie sie verlassen hatten und nach Marlow zu ruderten.

 

»Gefahr besteht immer noch«, sagte er. »Wenn sie uns vermissen, verfolgen sie uns mit dem Motorboot. Es liegt in der Nähe der Temple-Schleuse –«

 

Im gleichen Augenblick schoß ein langes, weißes Boot vom Ufer zu ihrer rechten Seite auf das Wasser hinaus.

 

»Rudern Sie! Nach dem Ufer zu … wir müssen laufen!«

 

Das weiße Boot kam aber mit ungeheurer Geschwindigkeit näher und erreichte sie, als sie noch fünf Meter vom Land entfernt waren. Jemand lehnte sich heraus und packte Nora am Arm, so daß sie laut aufschrie. Eine Sekunde später wurde sie trotz ihres Widerstrebens in das andere Fahrzeug gezogen. Ihre Füße schleiften durch das Wasser, und sie kämpfte verzweifelt, aber sie konnte gegen den starken Mann, der sie hielt, nichts ausrichten. In ihrer höchsten Not erinnerte sie sich an einen Jiu-Jitsugriff und schlug den Angreifer mit der flachen Hand unter das Kinn. Sein Kopf wurde nach hinten gestoßen, und er ließ sie einen Augenblick los. Sie fiel ins Wasser, tauchte unter dem Boot durch und schwamm zur Mitte des Stromes.

 

Als sie wieder an die Oberfläche kam, sah sie den Schein einer elektrischen Lampe, aber sie bemerkte auch die roten und grünen Lichter eines Fahrzeugs, das von Marlow heraufkam. Ein Motorboot! Mit lauter Stimme schrie sie um Hilfe, und als sich das Boot der Verbrecher ihr wieder näherte, schrie sie aufs neue. Sie tauchte und kam an der anderen Seite des Fahrzeugs wieder an die Oberfläche. Das weiße Boot machte eine Wendung, aber jetzt waren auch das grüne und rote Licht in unmittelbarer Nähe. Sie hörte die Rufe eines Mannes und sah den Lichtstrahl, den der Scheinwerfer des großen Motorbootes aussandte. Ein Schuß fiel – dann noch einer – sie hörte das Pfeifen der Kugeln.

 

Ein Geschoß schlug dicht bei ihr im Wasser ein, und der Gischt spritzte ihr ins Gesicht.

 

Sie befand sich jetzt im Kegel des Scheinwerfers, und eine Hand packte ihren Arm.

 

Mit einem Schrei suchte sie sich loszumachen, aber dann schaute sie auf und blickte in das Gesicht des Wetters.

 

Kapitel 28

 

28

 

Die beiden Detektive kamen um halb elf bei Mr. Jackson Crayleys Haus an und gaben sich dem etwas phlegmatischen Hausmeister zu erkennen. Er führte sie ins Wohnzimmer. Ein halb ausgetrunkenes Glas Whisky-Soda stand auf dem Tisch, und eine halb aufgerauchte Zigarre lag daneben.

 

»Ich werde Mr. Crayley melden, daß Sie hier sind«, sagte der Mann.

 

Nach ein paar Minuten kam er aber zurück und erklärte, daß sein Herr nicht anwesend sei.

 

»Ich habe ihn seit ungefähr einer Stunde nicht mehr gesehen. Aber er geht öfter abends in den Garten. Manchmal fährt er auch mit seinem Motorboot auf den Strom hinaus.«

 

»Wo ist es denn verankert?« fragte der Wetter.

 

Der Hausmeister brachte sie zu der Stelle.

 

»Das Boot ist aber hier. Er muß also mit seinem Auto fortgefahren sein.«

 

Tatsächlich fanden sie auch die Garage leer.

 

»War heute abend jemand hier?«

 

»Nein. Wir haben überhaupt wenig Besuch. Um diese Jahreszeit sind wir ja auch meistens nicht in Marlow. Nur der Unglücksfall in Heartsease hat alle Pläne über den Haufen geworfen.«

 

»Sind Sie wirklich sicher, daß heute abend niemand hier war?«

 

Der Wetter sah den Mann scharf an.

 

»Ja, natürlich.«

 

Long dachte einen Augenblick nach.

 

»Wie oft sind Sie heute abend antelephoniert worden?«

 

»Ich glaube, zweimal.«

 

»Wo ist Ihr Apparat?«

 

Das Telephon befand sich im Wohnzimmer. Der Wetter nahm den Hörer ab und rief die Vermittlungsstelle an. Er hatte einen Überwachungsbeamten in der Zentrale sitzen, seitdem Jackson Crayley unter Verdacht stand. Aber da er niemand finden konnte, der genügende dänische Kenntnisse besaß, hatte er ihn wieder abberufen müssen.

 

»Zweimal ist angerufen worden, Mr. Long«, lautete die Auskunft. »Beidemal von London. Ich habe mich eingeschaltet, aber die Gespräche wurden wie gewöhnlich in Dänisch geführt.«

 

»Können Sie mir nicht genaue Zeitangaben machen?«

 

»Eins der beiden Gespräche kam ungefähr vor einer halben Stunde, das andere früher am Abend.«

 

Der Wetter war davon überzeugt, daß Jackson Crayley auf den zweiten Anruf hin das Haus verlassen hatte.

 

Hierher hatten sie Nora also nicht gebracht – wo mochte sie nur sein? Er wußte, daß Shelton am Flußufer mehr als das eine Versteck unterhalten hatte, das sie ausgehoben hatten. Er schickte Sergeant Rouch zu einem nahen Bootshaus, um ein Motorboot zu mieten, und ging auf dem Rasen auf und ab, bis es um die Biegung kam und vor dem Landungssteg hielt.

 

Die Uhr auf dem Kirchturm von Marlow schlug elf, als sie den Strom hinauffuhren.

 

Halbwegs zwischen Marlow und der Temple-Schleuse hörte der Wetter einen Schrei und steuerte sofort darauf los.

 

»Ach, da macht sich jemand am Ufer einen Scherz«, meinte Rouch.

 

Aber der Schrei wiederholte sich in nächster Nähe, und nun sah der Wetter auch das weiße Motorboot. Er stellte den Scheinwerfer an und suchte das Wasser ab. Plötzlich entdeckte er den Kopf einer Frau im Wasser.

 

In diesem Augenblick pfiff das erste Geschoß an ihm vorbei. Jemand feuerte auf ihn, aber er schaltete den Scheinwerfer nicht aus. Immer näher kam er zu der Schwimmerin. Nun konnte er sie erkennen und rief ihren Namen.

 

Sie hatte das Bewußtsein verloren, als er sie aus dem Wasser zog. Mit Hilfe des Sergeanten trug er sie in die Kabine des Motorbootes. Als er wieder herauskam, war das andere Fahrzeug verschwunden. Wenn er sich nicht mit Nora hätte beschäftigen müssen, hätte er gesehen, daß es in die Nähe des Ufers fuhr und im Schatten der überhängenden Baumäste verschwand.

 

»Wir wollen zu Crayleys Haus fahren«, sagte er.

 

Der Steuermann wandte das Boot.

 

Nora war wieder zu sich gekommen, als sie an dem Bootssteg des Rosengartens anlegten. Mit Longs Beistand ging sie zum Hause hinauf. Aber es dauerte lange, bis sie ihm von ihren Erlebnissen erzählen konnte.

 

Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Bezirken von Buckinghamshire und Berkshire führten zu einer Verzögerung. Es dauerte eine Stunde, bis die ersten Polizeimannschaften von Maidenhead in einem Motorboot ankamen und die Nachforschungen aufnahmen. Das unbesetzte Motorboot der Verbrecher fanden sie mitten im Strom treibend. Den Kahn hatten sie schon vorher entdeckt. Von Crayley selbst bemerkten sie jedoch nichts, obgleich sie die Ufer sorgfältig absuchten.

 

Der Schleusenwärter berichtete, daß keine anderen Boote durch die Schleuse gefahren seien, und daß er nichts gesehen hätte.

 

Jenseits der Schleuse kamen sie zu dem alten Haus Clay Sheltons. Wetter Long öffnete die Tür mit einem Stemmeisen. Die Kerze war vollkommen niedergebrannt. Menschen schienen nicht in dem Raum zu sein. Inspektor Long ging in das Schlafzimmer und fand es ebenfalls verlassen. Die Tür am Ende des kleinen Ganges war geschlossen.

 

»Es ist niemand hier, und es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß sie zurückkommen. Machen Sie doch einmal Licht.«

 

»In einer Stunde wird es Tag, Mr. Long«, sagte der Inspektor der Berkshirepolizei. »Ich glaube, wir verschieben unsere weiteren Nachforschungen besser, bis es hell wird.«

 

Es war aber schon hell genug, um die Wagenspuren auf der Straße zu erkennen, und nach einiger Zeit entdeckten sie den kleinen Zweisitzer, der Jackson Crayley zu diesem einsamen, verlassenen Haus gebracht hatte. Der Wagen stand in einem kleinen Gebüsch, etwa hundert Meter vom Hause entfernt.

 

»Ich wundere mich nur, wie er hierher gekommen ist«, meinte der Wetter. »Und noch mehr, wie er wieder von hier fortkam.«

 

»Sie lassen wahrscheinlich einen Verhaftungsbefehl gegen ihn ausstellen?« fragte der Inspektor.

 

»Ja.« Die Stimme des Wetters klang nicht sehr überzeugt. »Das hätte ich schon längst tun können, aber ich glaube nicht, daß uns seine Verhaftung weiterbringt.«

 

Er kannte Jackson Crayleys Gewohnheiten gut genug, um zu wissen, wie sehr dieser Mann einer Fahrt in der Nacht abgeneigt war.

 

Aber wo mochte Jackson Crayley sein? Wenn man seiner habhaft werden könnte, würde sich wahrscheinlich das Geheimnis aufklären lassen. Er war das schwächste Glied in der Bande des Schreckens.

 

Später am Morgen fanden sie ihn. Jackson Crayley war an einem Baum aufgehängt, und quer über sein weißes Frackhemd war mit Blut das Wort »Sorroeder« geschrieben.

 

»Zum Teufel, was soll das bedeuten?« fragte der Inspektor der Berkshire-Polizei verwundert.

 

Wetter Long antwortete nicht. Seine Kenntnisse im Dänischen waren nicht groß, aber er wußte, daß Sorroeder »Verräter« hieß.

 

Kapitel 29

 

29

 

»Es war nur eine rein theatralische Aufmachung«, berichtete der Wetter Colonel Macfarlane. »Der arme Kerl war längst tot, als sie ihn aufhängten. Er hatte einen Schuß mitten durchs Herz.«

 

»Glauben Sie, daß Dänen das Verbrechen begangen haben?«

 

»Nein. Welcher Nationalität die Leute angehören, weiß ich nicht genau. Einige von ihnen sind sicher in Dänemark erzogen worden. Habe ich Ihnen diese Liste übrigens schon gezeigt?«

 

Er hatte eine kleine Karte aus der Tasche genommen, auf der eine Reihe von Daten stand.

 

1. Juni 1854 J.X.T.L.

6. September 1862

9. Februar 1886

11. März 1892

4. September 1896

12. September 1898

30. August 1901

14. Juni 1923

1. August 1924

16. August

 

»Ja, ich habe sie schon gesehen.« Der Colonel war ein methodischer Mann und hatte die Zeilen gezählt. »Es ist aber noch ein neues Datum hinzugefügt.«

 

Long lächelte vergnügt.

 

»Das ist erst vor zwei Tagen dazugekommen.«

 

»Der erste August bezeichnete natürlich Monkfords Todestag«, meinte Macfarlane nachdenklich. »Soll nun der sechzehnte bedeuten, daß –«

 

»Der sechzehnte geht mich selbst an. Sie haben beschlossen, mich an diesem Tag ins bessere Jenseits zu befördern. Ich hätte also noch ungefähr eine Woche zu leben. In gewisser Weise bin ich sogar froh darüber.«

 

Macfarlane sah ihn erstaunt an.

 

»Sind Sie denn lebensmüde?«

 

»Ja, diese Art Leben habe ich wirklich satt!« –

 

Von Scotland Yard aus ging der Wetter nach Berkeley Square, um seinen Vater zu besuchen.

 

Sir Godley war gerade im Begriff, sich zu einem Gartenfest umzukleiden und ließ seinen Sohn in sein Ankleidezimmer kommen.

 

»Hast du meinen Brief erhalten und dir meinen Vorschlag überlegt?« fragte er.

 

»Deine Briefe machen mich direkt krank.« Der Wetter setzte sich in den bequemsten Sessel.

 

Sir Godley antwortete nicht, weil er gerade seine Krawatte umband.

 

»Ich habe früher einmal davon gesprochen, daß Clay Shelton dir niemals Verluste beigebracht hat. Erinnerst du dich noch daran?«

 

»Ja, auf so etwas Ähnliches kann ich mich besinnen.

 

»Und doch hat er dich einmal um achtzigtausend Pfund betrogen – ich habe diese Tatsache erst vor kurzem entdeckt.«

 

Sir Godley wandte sich nicht um.

 

»Du hast entschieden Veranlagung zu deinem Beruf«, entgegnete er.

 

»Mit Ironie erreichst du bei mir gar nichts«, erwiderte der Wetter ruhig. »Aber ich habe dein Geheimnis herausbekommen, sogar schon vor einigen Tagen. Ich hatte nur bisher noch keine Zeit, die Bombe platzen zu lassen. Wer wurde denn am 1. Juni 1854 geboren?«

 

»Das mag der liebe Himmel wissen.« Sir Godley betrachtete sich eingehend im Spiegel.

 

»Wer war J.X.T.L.? Niemand anders als John Xavier Towler Long, und damit du mir nichts vorzuschwindeln brauchst, werde ich dir gleich alles sagen. John Xavier Towler Long war identisch mit Clay Shelton!«

 

»Tatsächlich?« Der alte Herr steckte gleichgültig eine Nadel in seine seidene Krawatte.

 

»Und Clay Shelton, für dessen Hinrichtung ich verantwortlich bin, war dein Bruder!«

 

Sir Godley verriet seine Erregung nicht durch das geringste Zeichen.

 

»Wie hast du denn das herausgebracht?«

 

»Auf Sheltons Motorboot fand ich eine Anzahl von Daten in die Wand eingeschnitzt, und ich vermutete, daß jedes eine besondere Bedeutung haben müßte. Der 1. Juni 1854 konnte nur ein Geburtstag sein. Dahinter standen die Initialen J.X.T.L. X ist als Anfangsbuchstabe eines Namens sehr selten. In Somerset House habe ich die Namen aller Kinder durchgesehen, die am 1. Juni 1854 geboren wurden, und ich entdeckte schon nach kurzer Zeit, daß John Xavier Towler Long als einziger in Frage kam. Towler war unser Familienname. So hieß meine Urgroßmutter, wenn ich mich recht besinne.«

 

Sir Godley nickte.

 

»Schon diese Übereinstimmung hätte mir auffallen müssen, aber ich fand auch den Namen meines Großvaters, der zweimal heiratete. Du warst der einzige Sohn aus der zweiten Ehe. Warum hast du mir das niemals gesagt?«

 

Der alte Herr lachte leise.

 

»Man rühmt sich gerade nicht mit der Verwandtschaft eines Mannes von Johns Charakter, und tatsächlich habe ich ihn auch kaum gekannt. Er war zehn Jahre älter als ich, und ich weiß nur noch, daß er stets in Schwierigkeiten war, meinen Vater betrog und nach einer üblen Skandalgeschichte verschwand.«

 

»Weißt du wirklich nicht mehr von ihm?«

 

»Nein. Bis ich das Bild in den Zeitungen sah, hatte ich keine Ahnung, daß er mit mir verwandt war; und auch dann hätte ich ihn kaum erkannt.«

 

»Und du hast die ganze Zeit gewußt, wer Clay Shelton war?«

 

»Ich habe immer gewußt, daß er der größte Schuft war und meinen Vater ruiniert und ins Grab gebracht hat. Beinahe hätte er mich und unsere Familie auch zugrunde gerichtet. Deshalb wollte ich auch nicht haben, daß du dich mit dieser Sache befassen solltest. Ich hatte selbstverständlich nicht den Wunsch, daß du ihn zu Tode hetzen solltest, da er doch schließlich der Sohn meines Vaters war. Und ich wollte dich um so mehr davon abhalten, als ich erfuhr, daß nach seinem Tode eine ganze Bande seine Verbrechen fortsetzte.«

 

»Meinst du die Urkundenfälschungen? Ich dachte, das hätte aufgehört.«

 

»Es hat aufgehört und auch nicht. Clay, wie ich ihn jetzt nennen will, muß unermüdlich tätig gewesen sein. Bei seinem Tod hinterließ er wahrscheinlich eine große Anzahl gefälschter Dokumente, von denen bereits einige in die Öffentlichkeit gekommen sind. Die Bande besitzt aber augenblicklich keine Mittel mehr. Clay war nicht sparsam veranlagt, er verbrauchte alles. Glaube mir, die Bande des Schreckens ist in einer sehr schlechten finanziellen Lage, und deshalb wirst du noch große Schwierigkeiten mit den Leuten haben.«

 

»Weißt du etwas Genaueres?«

 

Sir Godley zuckte die Schultern.

 

»Monkford wurde ermordet, und du kannst sicher sein, daß die Sache einen finanziellen Hintergrund hatte. Aber du weißt ja mehr als ich. Erzähle mir doch alles.«

 

Er hörte schweigend zu, bis der Wetter seinen Bericht beendet hatte. Dann nickte er langsam.

 

»Sie sind natürlich hinter Monkfords Vermögen her, und das Mädchen ist nur Mittel zum Zweck für sie – der arme, alte Crayley!«

 

»Kanntest du ihn denn?«

 

»Ja, ich kannte ihn – alle Welt kannte Jackson Crayley. Und du sagtest eben, daß du ihn auch im Verdacht hattest? Wann fing denn eigentlich diese ganze Geschichte mit der Bande des Schreckens an?«

 

»An dem Tage, an dem ich Clay Shelton in Colchester verhaftete, war Crayley auch in dem Kassenraum der Bank. Und er war nur dort, um den Verbrecher zu schützen, davon bin ich fest überzeugt. Clay Shelton hatte niemals eine Schußwaffe bei sich. Ich habe seine Kleider nach seiner Verhaftung untersucht, und ich sah, daß er keinen Browning in seiner Hüfttasche getragen hatte. Es war immer nur der Begleitmann, der die Pistole bei sich hatte, und der Begleitmann war in diesem Falle Crayley. Aber er hat die ganze Sache natürlich verkehrt angefangen. Als es zum Handgemenge kam, und er sich einmischte, tat er es nur in der Absicht, Shelton eine Pistole zuzustecken. Das gelang ihm auch. Ich habe die Herkunft der Waffe weiter verfolgt. Sie wurde vor sechs Monaten in Belgien gekauft, und gerade um die Zeit war Jackson Crayley zur Wintersaison in Spa. Von da ab habe ich Crayley stets beobachten lassen. Kennst du eigentlich Miß Revelstoke?«

 

Sir Godley schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe noch nie gehört, daß sie irgendwie mit Clay Shelton in Verbindung gestanden hat. Du hältst sie für ein Mitglied der Bande des Schreckens? Das klingt mir doch ziemlich unwahrscheinlich. Nach den Auskünften, die die Banken über sie eingezogen haben, ist sie eine Dame von tadellosem Charakter.«

 

»So? Glaubst du das wirklich?« fragte der Wetter erregt. »Soll ich dir sagen, wer sie ist und welche Rolle sie gespielt hat? Sie war der Kassierer und Geldverwalter von Clay Sheltons Bande. Monkford hat mir selbst erzählt, daß sie einmal dreiviertel Millionen auf seiner Bank hatte. Es sollte die Verkaufssumme für das Gut eines sagenhaften Bruders sein. Und soweit meine Nachforschungen reichen, hat sie niemals einen Bruder gehabt. Sie mag allerdings nur ein Werkzeug sein und keine Ahnung davon haben, um was es geht.«

 

»Frauen in ihrem Alter sind natürlich unberechenbar. Vielleicht ist sie in der Gewalt eines Mannes wie Henry. Aber was diesen angesehenen Rechtsanwalt zu derartigen Verbrechen bringen konnte, verstehe ich nicht. Du verdächtigst ihn ja direkt des Mordes. Es ist wahrscheinlich, daß Clay die Bande des Schreckens organisiert hat, denn er war ein geborener Führer und Intrigant. Aber warum die Bande nach seinem Tode –«

 

»Du hast ja vorhin selbst den Grund genannt. Die Leute haben eben kein Geld mehr. Sie besitzen noch gefälschte Dokumente und verwenden sie unter dem Vorwand, für den Tod Clay Sheltons Rache nehmen zu wollen.«

 

»Sie haben Monkford ermordet, damit sie sein Vermögen auf Nora Sanders übertragen können – du interessierst dich sehr für diese junge Dame? Ich würde gern eine Schwiegertochter in Kauf nehmen, wenn du dich einem anständigen, nutzbringenden Beruf zuwenden wolltest.«

 

»Du meinst, wenn ich auch Bankier würde?« erwiderte der Wetter verächtlich. »Geld verdienen durch Geldausleihen in großem Maßstabe? Nein, ich bin viel lieber ein tüchtiger Detektiv –«

 

»Das bezweifle ich ja gerade. Du wirst niemals allererste Leistungen erzielen, und ich bin sehr besorgt um dein Leben.«

 

Kapitel 3

 

3

 

Eine Woche später lenkte Shelton seinen Wagen dicht vor Colchester auf einen Seitenweg und brachte ihn zum Stehen. Aus einer Schublade unter dem Sitz nahm er einen Koffer heraus, der einen Anzug, Schere, Rasiermesser und Creme enthielt, und kurze Zeit darauf hatte er sich vollkommen verwandelt. Er sah jetzt aus wie ein ehrbarer älterer Herr. Nachdem er einen Blick nach rechts und links geworfen hatte, ging er zur nächsten Haltestelle der Straßenbahn und fuhr von dort zum Zentrum der Stadt.

 

Es schlug zehn Uhr, als er den großen Kassenraum der Eastern Counties Bank betrat. Er legte ein Bankbuch und ein ausgefülltes Formular auf den Schaltertisch. Der Beamte prüfte beides sorgfältig und ging dann damit in das Büro des Direktors. Als er zurückkam, lächelte er respektvoll, als ob er sich für seine schlimmen Befürchtungen entschuldigen müßte.

 

»Siebentausendsechshundert«, sagte er liebenswürdig. »Wie wollen Sie das Geld haben, Colonel Weatherby?«

 

»In Hundertpfundnoten.«

 

Gleich darauf zählte der Kassierer ein Paket Banknoten mit außerordentlicher Geschwindigkeit ab und notierte dann die Nummern der Scheine in sein Buch…

 

»Danke schön.« Shelton wandte sich ab und steckte das Päckchen in seine Brusttasche.

 

Außer ihm befanden sich noch zwei andere Herren im Kassenraum, und ein dritter kam gerade durch die Drehtür herein. Der eine sah etwas müde aus und lehnte sich an den Schalter. Shelton würdigte ihn keines Blickes, wohl aber schaute er sich den anderen genau an, der vor dem Ausgang stand und ihn anlächelte.

 

»Guten Morgen, Shelton.«

 

Der Wetter Long! Höchste Gefahr! Shelton blieb stehen und schob trotzig das Kinn vor.

 

»Wollen Sie mit mir sprechen? Ich heiße allerdings nicht Shelton.«

 

Arnold Long nahm den Hut ab und fuhr mit der Hand durch sein dichtes, schwarzes Haar.

 

»Ja, ich wollte mit Ihnen sprechen.«

 

Im nächsten Augenblick sprang Shelton auf ihn zu.

 

Eine Sekunde später wälzten sich drei Männer auf dem Boden. Shelton gelang es, wieder auf die Füße zu kommen. Der Polizist war eifrig bei dem Handgemenge, stand aber dem Wetter immer im Wege. Plötzlich mischte sich auch noch der müde Herr ein, der vorher am Schalter gelehnt hatte.

 

»Hier! Verdammt…«

 

Ein betäubender Knall ertönte, und der Polizist stürzte blutend auf die Marmorfliesen nieder.

 

»Geben Sie die Pistole her, oder ich schieße sofort!«

 

Shelton wandte den Kopf. Der Bankbeamte mit der Brille hatte mit einem schweren Armeerevolver auf ihn angelegt. Der Mann hatte den Krieg auch mitgemacht, in dem selbst Bankbeamte mit Brillen lernten, kaltblütig andere Menschen über den Haufen zu schießen.

 

Long legte Shelton Handschellen an. Zwei Polizisten in Uniform kamen in den Schalterraum, während der Bankbeamte bereits an das Hospital telephonierte.

 

»Ich verhafte Sie wegen Betrugs«, sagte Arnold und schaute dann ernst auf den Toten, der in einer großen Blutlache lag. »Ich dachte, Sie trügen niemals eine Pistole bei sich?«

 

Shelton erwiderte nichts, und der Wetter wandte sich an den fremden Herrn, der sich am Handgemenge beteiligt hatte.

 

»Ich danke Ihnen … ich bin Ihnen wirklich sehr verpflichtet.« Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Ach, Sie sind ja Mr. Crayley.«

 

Der Mann sah totenbleich aus.

 

»Beinahe hätte er mich selbst getroffen«, sagte er heiser. »Nun, ich habe mein Bestes getan. Sagen Sie es nur, wenn ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann. Ist er tot?«

 

»Ja.« Der Wetter starrte düster auf den Polizisten. »Ich wünschte, das hätten Sie nicht getan, Shelton. Aber diesen Mord können wir wenigstens leichter beweisen als die anderen, die Sie begangen haben. Wir wollen ihn schnell zur Polizeistation bringen, bevor ein zu großer Auflauf entsteht. Zeigen Sie mir, bitte, den Nebenausgang«, wandte er sich an den Bankbeamten.

 

Kapitel 30

 

30

 

Nora Sanders protestierte heftig, als Arnold Long sie in ein Krankenhaus bringen wollte. Aber er blieb in diesem Punkt hart und unnachgiebig.

 

»Ich bin nicht krank, und ich habe keinen Nervenzusammenbruch«, sagte sie. »Es ist ganz unnötig.«

 

»Der Doktor sagt –« begann er.

 

»Der Doktor!« entgegnete sie geringschätzig. »Als ich ins Wasser sprang, fühlte ich mich sofort wohler. Wenn man mir bloß nicht dieses entsetzliche Mittel beigebracht hätte. Was war es nur?«

 

»Butylchlorid. Es hat eine katastrophale Wirkung. Daß es Ihnen nicht mehr geschadet hat, spricht für Ihre gute Gesundheit. Trotzdem muß ich aber dem Arzt recht geben, und ich bestehe darauf, daß Sie in das Krankenhaus gehen. Sie dürfen mindestens eine Woche lang keine Besuche empfangen.«

 

»Aber ich muß doch Miß Revelstoke sehen.«

 

»Vielleicht ist das notwendig – aber sie darf nur in meiner Gegenwart vorgelassen werden. Ich bewundere die alte Dame unendlich, aber ich hatte niemals den Eindruck, daß viel Gutes von ihr kommt. Und Ihre Gesundheit darf auf keinen Fall leiden –«

 

»Sie wollen mich vor Gefahr beschützen und glauben, Sie müssen mich zu diesem Zweck einsperren. Schließlich postieren Sie noch einen Detektiv vor die Tür und geben einem Polizisten den Befehl, vor dem Haus auf- und abzupatrouillieren.«

 

»Sie haben die Situation vollkommen richtig erfaßt.«

 

Sie war erstaunt, daß er ihren Vorwurf so ruhig hinnahm.

 

Als er einige Stunden später ihr Zimmer verließ, von dem aus man eine schöne Aussicht auf Dorset Square hatte, nahm er die Vorsteherin beiseite und gab ihr besondere Instruktionen. Tatsächlich wurde Nora so gut wie eine Gefangene gehalten.

 

»Geben Sie ihr keine Zeitungen. Magazine und Bücher kann sie haben, soviel sie will, aber keine Zeitungen. Und achten Sie auch darauf, daß die Krankenschwestern ihr nichts erzählen.«

 

Nachdem die alte Dame versprochen hatte, seine Anweisungen genau zu befolgen, fühlte er sich etwas erleichtert und verabschiedete sich.

 

Später erfuhr er per Telephon, daß Miß Revelstoke Nora um sechs Uhr aufsuchen wollte. Fünf Minuten vor der angesetzten Zeit erschien er im Empfangsraum des Krankenhauses. Die alte Dame schien durchaus nicht erstaunt zu sein, ihn dort zu treffen, und begegnete ihm mit großer Liebenswürdigkeit.

 

»Sie wollte ich gerade sprechen, Mr. Long. Was ist bloß dem armen Mädchen passiert? Ihr Sergeant Rouch ist gerade nicht sehr mitteilsam. Er erzählte mir nur, daß man versuchte, sie zu entführen und daß sie dabei fast ertrunken wäre. Aber das kann ich doch kaum glauben.«

 

Er sah sie forschend an. In der letzten Zeit war sie stark gealtert, und ihr fast noch jugendlich glattes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Nur der lebhafte Blick ihrer feurigen Augen erinnerte noch an ihr früheres Aussehen. Durch ihr temperamentvolles Auftreten gelang es ihr aber, ihn in gewisser Weise zu täuschen.

 

»Crayley soll auch tot sein, wie ich hörte?«

 

Er nickte.

 

»Sagen Sie ihr, bitte, nichts davon.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Es ist wirklich schrecklich. Erst Monkford und nun auch noch Crayley. Es ist mir wirklich sehr auf die Nerven gefallen.«

 

»In diesem Zusammenhang müßten wir eigentlich auch noch Clay Shelton nennen«, sagte er harmlos, beobachtete sie aber scharf. »Mein unglücklicher Onkel –«

 

Diese Worte trafen. Ihre Gesichtszüge wurden plötzlich finster und hart. Sie kniff die Augenlider zusammen und sah ihn feindselig an.

 

»Ich habe nicht recht verstanden. Was sagten Sie? Ihr –«

 

»Clay Shelton war mein Onkel, der Halbbruder meines Vaters. Ich dachte, das wäre Ihnen bekannt. Sein wirklicher Name war John Xavier Towler Long. Aber vielleicht wußten Sie das nicht? Ich weiß sehr viel von meinem Onkel John.« Er lachte zynisch. »Er heiratete im Jahr 1883 die junge Miß Paynter und ließ sie schmählich im Stich. Mein Vater hat mir gesagt, daß sie erst vor ein paar Jahren gestorben ist.«

 

Miß Revelstoke hatte sich wieder gefaßt.

 

»Ich habe nicht gewußt, daß Sie aus einer so heruntergekommenen Familie stammen, Mr. Long.« Sie schaute auf die Uhr. »Glauben Sie, daß ich jetzt Nora sprechen kann?«

 

»Wir werden beide zu ihr gehen.«

 

Dieser Schachzug kam ihr überraschend.

 

»Ich wollte aber verschiedene Dinge mit ihr allein besprechen.«

 

»Gut. Während dieser Zeit kann ich mir ja die Ohren zuhalten«, entgegnete der Wetter.

 

Sie begleitete ihn widerwillig zu Noras Zimmer.

 

Miß Sanders lag zu Bett und las in einem Buch, als sie eintraten.

 

»Sie armes Kind«, sagte Miß Revelstoke freundlich. »Nora, Sie sind wirklich ebenso schlimm wie Mr. Long. Dauernd sind Sie in Unglücksfälle verwickelt. Wie geht es Ihnen denn? Wie fühlen Sie sich?«

 

Nora schüttelte den Kopf und sah vorwurfsvoll zum Wetter hinüber.

 

»Ich habe mich niemals wohler gefühlt«, erklärte sie, »aber man besteht darauf, daß ich hier im Krankenhaus bleibe.«

 

»Sie meinen wohl, Mr. Long besteht darauf. Es ist doch ein Glück, daß Sie einen so guten Freund haben, der sich wie ein Bruder um Sie kümmert.«

 

»Wie eine Mutter«, sagte der Wetter halblaut.

 

Miß Revelstoke schaute ihn an.

 

»Kann ich einen Augenblick allein mit Nora sprechen?«

 

Er ging zur anderen Seite des Zimmers und sah nach Dorset Square hinaus. Sein Gehör war ausgezeichnet, und als ob Miß Revelstoke das ahnte, sprach sie beinahe im Flüsterton.

 

»Kann Henry Sie hier besuchen und sprechen?«

 

Nora zögerte mit der Antwort und sah zu Mr. Long hinüber.

 

»Fragen Sie ihn nicht, denn er haßt Henry. Ich möchte, daß Sie ihn allein sprechen. Ist das möglich?«

 

Nora war unentschieden.

 

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, der Arzt hat Instruktion gegeben, daß mich niemand besuchen darf. Können Sie mir denn nicht sagen, was er will?«

 

»Er wollte Ihnen etwas mitteilen – etwas, was Monkford sagte, bevor er das Testament unterzeichnete.«

 

Als sie sah, daß Noras Blicke wieder zu Mr. Long wanderten, lächelte sie.

 

»Nun, ich will Sie nicht dazu zwingen. Sagen Sie ihm, bitte, nichts davon, daß ich Sie bat, mit Mr. Henry zu sprechen.«

 

Kapitel 19

 

19

 

Miß Revelstoke hatte nicht übertrieben, als sie behauptete, daß die meisten Gäste abreisen würden. Arnold Long, der von einem kurzen Besuch der Hauptstadt nach Heartsease zurückkehrte, fand nur noch ein halb Dutzend Leute in dem großen Speisesaal.

 

Auf Cravels dringende Vorstellungen hin waren bereits drei Zimmerleute damit beschäftigt, das Paneel von den Wänden des Zimmers zu reißen, in dem das Verbrechen begangen worden war. Sergeant Rouch beaufsichtigte die Leute.

 

Der Wetter ging nach oben, um sich von dem Fortschritt der Arbeit zu überzeugen. Die Wände waren schon bis auf das Mauerwerk bloßgelegt, und ein Teil des Fußbodens war aufgerissen. Long brauchte kein Bausachverständiger zu sein, um zu sehen, daß sich niemand in dem Zimmer hatte verbergen können.

 

Sergeant Rouch war ein untersetzter Mann von mittleren Jahren mit blonden Haaren und blauen Augen, der sich durch großen Optimismus auszeichnete. Er glaubte mit Bestimmtheit daran, daß sich auch die kompliziertesten Fälle von selbst lösen müßten.

 

Der Wetter nahm ein beschmutztes und verbranntes Papier aus der Tasche, das er in Noras Zimmer aufgelesen hatte.

 

»Was ist das?« fragte Rouch neugierig.

 

»Die Überbleibsel eines Crackers – Sie können ein ganzes Paket für einen Schilling kaufen.«

 

»Was – Feuerwerk?« fragte der Sergeant überrascht.

 

»Ja. Es wurde durch ein offenes Fenster in Miß Sanders‘ Zimmer geworfen und hatte natürlich nur den Zweck, mich im geeigneten Augenblick aus Monkfords Zimmer zu entfernen. Ich ließ mich tatsächlich hinters Licht führen, und in meiner Abwesenheit geschah etwas Entscheidendes an dem Tatort.«

 

»Ja, der Mörder ist entkommen«, meinte Rouch selbstzufrieden.

 

»Der Mörder brauchte gar nicht zu entkommen, weil er überhaupt nicht zugegen war!«

 

»Aber wie wurde der Mann denn getötet?« fragte Rouch triumphierend. »Ein Mann wurde in einem vollständig abgeschlossenen Zimmer ermordet. Nur Sie waren in der Nähe –«

 

»So, haben Sie sich diese Theorie auch schon zu eigen gemacht?« fragte der Wetter lachend. »Setzen Sie sich einmal hin, Rouch. Wer hat Ihnen denn die Geschichte beigebracht, daß nur ich in der Nähe war?«

 

»Ich –« Sergeant Rouch fühlte sich gerade nicht sehr wohl. Er wischte sich den Schweiß von der Stirne und zuckte die Schultern. »Ich wollte nur sagen –« begann er.

 

»Wo haben Sie diesen Unsinn her? Ihnen selbst ist doch niemals ein solcher Gedanke gekommen? Also, wer hat Ihnen das erzählt?«

 

»Mr. Cravel denkt es. Er sagte, es war doch merkwürdig, daß Sie der einzige in der Nähe waren, als der Schuß fiel.«

 

»Bringen Sie Mr. Cravel her. Ich muß einmal ein ernstes Wort mit ihm reden.«

 

Gleich darauf erschien der Sergeant mit dem Hotelbesitzer. Der Mann hatte sich anscheinend schon mit dem unvermeidlichen Verlust abgefunden, der ihm durch die Tragödie entstanden war. Ja, er lächelte sogar, als er sich in dem Zimmer umsah.

 

»Nun, Mr. Long, haben Sie geheime Falltüren oder Hohlräume entdeckt?«

 

Der Wetter antwortete darauf nicht.

 

»Sie entsinnen sich, Mr. Cravel, daß ich an der Tür stand und versuchte, sie zu öffnen, als Sie nach oben kamen?«

 

»Sie nehmen doch nicht etwa ernst, was ich zu Rouch gesagt habe? Ich machte nur eine Bemerkung, daß Sie, soweit wir wissen, allein in der Nähe waren, als Monkford ermordet wurde. Sie glauben doch nicht, daß ich behaupten wollte –«

 

»Es kommt gar nicht darauf an, was Sie behaupten wollten. Sie sollen nur meine Fragen klar und deutlich beantworten. Erinnern Sie sich daran, daß ich mich sofort an Sie wandte und Sie nach dem Schlüssel für die Tür fragte?«

 

Cravel nickte.

 

»Und Sie besinnen sich auch darauf, daß Sie nach unten gingen und mit dem Paßschlüssel zurückkehrten?«

 

»Ja.«

 

»Wer hat Ihnen den gegeben?«

 

»Der Flurkellner.«

 

»Holen Sie den Mann«, sagte der Wetter zu Rouch und schwieg, bis der Auftrag ausgeführt war.

 

»Haben Sie einen Paßschlüssel für diesen Stock?« fragte Long.

 

Der Mann warf einen schnellen Blick auf Mr. Cravel.

 

»Ja.«

 

»Zeigen Sie ihn.«

 

Widerwillig zog der Kellner den Schlüssel aus der Tasche und reichte ihn dem Detektiv, der ihn in das Schloß steckte und umzudrehen versuchte.

 

»Das ist nicht der Paßschlüssel zu diesem Stockwerk.«

 

Der Mann antwortete nichts, sondern sah wieder verstohlen zu seinem Chef hinüber. Long bemerkte es.

 

»Wer hat den richtigen Paßschlüssel?«

 

Der Kellner bewegte sich unruhig.

 

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich das Zimmermädchen.«

 

»Rufen Sie sie«, wandte sich der Wetter wieder an Rouch und entließ den Kellner mit einem Kopfnicken.

 

»Worauf wollen Sie denn hinaus?« fragte Cravel, als die beiden allein waren.

 

»Ich will es Ihnen im Vertrauen mitteilen«, entgegnete Long ruhig. »Als Monkford in sein Zimmer ging, nachdem er mich vorher aufgefordert hatte, ihm zu folgen, hat er sich doch selbstverständlich nicht eingeschlossen. Warum hätte er das denn tun sollen? Außerdem konnte er es ja auch nicht, da er keinen Schlüssel hatte. Es ist also eine logische Schlußfolgerung, daß jemand anders von draußen oder drinnen abgeschlossen haben muß. Ich hörte selbst, daß Mr. Monkford die Telephonzentrale anrief, und ich bin davon überzeugt, daß er sich erkundigen wollte, wer ihn eingeschlossen hätte. Ich hörte deutlich die Worte: ›Wer hat‹, dann fiel der Schuß. Er wollte natürlich sagen: ›Wer hat meine Tür verschlossen?‹«

 

Cravel war kreidebleich geworden.

 

»Ich bin der Ansicht, daß Sie die Tür zugeschlossen haben, und daß Sie den Paßschlüssel dieses Stockwerks in der Tasche hatten. Sie sind nur nach unten geeilt, um diese Tatsache vor mir zu verbergen.«

 

In diesem Augenblick kam Rouch zurück und meldete, daß das Zimmermädchen, das an dem Mordtage im zweiten Stock Dienst tat, auf Urlaub sei.

 

»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte der Wetter langsam.

 

»Zum Teufel, worauf wollen Sie denn hinaus?« Mr. Cravel war wütend, aber er fürchtete sich auch. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß ich in Ihrer Anwesenheit die Tür aufgeschlossen und Monkford erschossen habe?«

 

»Nein, ich bin der Ansicht, daß Sie die Tür verschlossen haben, bevor er tot war. Sie wußten nämlich, was passieren würde. Was haben Sie dazu zu sagen, Cravel?«

 

»Das ist eine verdammte Lüge«, brauste der Direktor auf. »Ich bin überhaupt nicht in die Nähe der Tür gekommen. Warum sollte ich sie denn verschließen? Sie können den Fall nicht lösen, Long, und deshalb erfinden Sie die unglaublichsten Theorien, um Ihre Niederlage zu bemänteln.«

 

Der Wetter trat ganz dicht an ihn heran.

 

»Ich weiß genug, um Sie an den Galgen zu bringen, Cravel! Auf jeden Fall könnte ich Sie sofort wegen des Mordes an Monkford verhaften. Aber ich lasse Ihnen noch eine Galgenfrist. Früher oder später werden Sie sich selbst bloßstellen. Wenn Sie nicht selbst Joshua Monkford erschossen haben, so gehören Sie doch zu den Leuten, die seinen Tod planten und vorbereiteten. Wenn sich alle meine Vermutungen bewahrheiten, kommen Sie ebenso an den Galgen wie Shelton.«

 

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Cravels Augen blitzten in tödlichem Haß auf, und er konnte vor Erregung kaum sprechen.

 

»Eine unerhörte Frechheit!« stieß er wild hervor.

 

Der Wetter sprang zur Seite und entging dem Faustschlag, den der Mann gegen ihn richtete. Blitzschnell packte er dann Cravel am Genick und riß ihm den Kopf zurück. Der Direktor verlor das Gleichgewicht und fiel dröhnend zu Boden.

 

»Habe ich Sie endlich?« sagte der Wetter und lachte triumphierend. »Das ist wohl der wunde Punkt, den man nicht berühren darf? Ihr Wutanfall hat mich ein ganzes Stück weitergebracht!«

 

Cravel erhob sich langsam. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Augen schienen tiefer in den Höhlen zu liegen, aber er hatte sich wieder in der Gewalt.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie angegriffen habe. Sie haben mich aber auch zu sehr gereizt. Kein Mensch kann vertragen, daß man ihn einen Mörder nennt. Ich werde die Sache Scotland Yard melden.«

 

»Schön, gehen Sie nur zu meinem Vorgesetzten. Er wird sich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wie alt sind Sie eigentlich, Cravel?«

 

Der Direktor antwortete nicht, drehte sich um und verließ das Zimmer.

 

»Donnerwetter«,sagte Rouch und sah seinen Chef mit unverhohlener Bewunderung an. »Das wird aber einen bösen Spektakel geben, wenn der die Sache meldet.«

 

»Der meldet nichts – wetten, daß?«

 

Kapitel 2

 

2

 

An einem schönen Frühlingsmorgen ging Mr. Shelton die Lombard Street entlang, in der ausschließlich große Bankhäuser liegen. Er schwang seinen sorgfältig zusammengerollten Schirm und dachte an die Zeiten, als hier noch Pfandleiher und Geldwechsler ihre Geschäfte hatten.

 

Vor einem Gebäude mit einer blendenden Granitfassade hielt er an und betrachtete die monumentale Architektur, als ob er ein Tourist wäre, der sich zum erstenmal London anschaute.

 

»Was ist das für ein Gebäude?«

 

Der Polizist, den er fragte, stand gerade in der Nähe des Gehsteigs.

 

»Die City & Southern Bank.«

 

»Donnerwetter«, sagte Shelton bewundernd. »Wirklich stattlich!«

 

Ein Auto hielt vor dem Gebäude. Der Chauffeur sprang heraus und riß den Wagenschlag auf. Zuerst stieg ein schönes junges Mädchen aus, dann eine ältere Dame mit ernstem Gesicht und schließlich ein hübscher junger Mann mit schwarzem Schnurrbart und Monokel.

 

Die drei gingen in die Bank, und der Polizist trat zu dem Chauffeur.

 

»Wie lange haben sie wohl in der Bank zu tun?«

 

»Vielleicht fünf Minuten«, erwiderte der Mann und streckte sich behaglich auf seinem Sitz aus.

 

»Wenn es aber länger dauern sollte, müssen Sie drüben auf der anderen Seite parken…«

 

Der Polizist gab ihm noch einige Anweisungen und kehrte dann wieder zu dem »Touristen« zurück.

 

»Sie sind wohl fremd in London?«

 

»Ja. Ich bin erst vor kurzem aus Südamerika zurückgekommen. Dreiundzwanzig Jahre war ich dort. Liegt nicht auch das Gebäude der Argentinischen Bank hier in der Nähe?«

 

Der Polizist gab ihm Auskunft, aber Mr. Shelton machte keine Anstalten, dorthin zu gehen.

 

»Es ist schwer, zu glauben, daß in dieser Straße Millionen und aber Millionen von Goldreserven im Depot liegen.«

 

»Ich habe sie auch noch nicht zu sehen bekommen«, meinte der Beamte und lächelte ironisch. »Aber zweifellos – «

 

Plötzlich hob er die Hand halb zum Gruß. Eine Autodroschke war vorgefahren, und ein junger Mann war ausgestiegen. Er sah den Polizisten vorwurfsvoll an und betrachtete Mr. Shelton mit einem prüfenden Blick. Dann verschwand er auch in der Bank.

 

»War das ein Polizeibeamter?« Shelton hatte den unterbrochenen Gruß wohl bemerkt.

 

»Nein, ein Herr aus der City, den ich kenne«, entgegnete der Polizist und ging zu dem Chauffeur der Droschke, um auch ihm Instruktionen zu geben.

 

Als Wetter Long in die Bank kam, sah er das hübsche Gesicht des jungen Mädchens am Schalter und blieb einige Augenblicke stehen, bevor er in das Privatbüro des Direktors trat. Der kleine, untersetzte Herr mit dem kahlen Kopf erhob sich sofort bei seinem Eintritt und schüttelte ihm herzlich die Hand.

 

»Entschuldigen Sie mich, bitte, noch ein paar Minuten – ich muß eben eine Kundin begrüßen.«

 

Mit diesen Worten verschwand er aus dem Büro, kam aber nach kurzer Zeit wieder. Er lächelte und rieb sich die Hände.

 

»Das ist eine charaktervolle Frau«, sagte er. »Haben Sie die Dame gesehen?«

 

»Ja, sie ist wirklich ungewöhnlich hübsch.«

 

»Ach, Sie meinen die Sekretärin. Ich spreche aber von der älteren Dame – Miß Revelstoke. Sie ist schon fast dreißig Jahre meine Kundin. Die sollten Sie eigentlich kennenlernen. Der junge Mann, der sie begleitet, ist ihr Rechtsanwalt. Etwas eitel und stutzerhaft, aber er wird sicher Karriere machen.«

 

Durch ein kleines, viereckiges Fenster konnte man von dem Privatbüro aus die lange Reihe der Schalter beobachten. Die ältere Dame zählte gerade ein Bündel Banknoten, das ihr der Kassierer ausgehändigt hatte. Ihre Sekretärin schien sich zu langweilen, denn sie betrachtete die schöngeschnitzte Decke des prachtvollen Raums. Ihr anziehendes Gesicht verriet Lebhaftigkeit und Intelligenz. Den freundlich lächelnden jungen Mann neben Miß Revelstoke beachtete er kaum. Plötzlich sah die junge Dame zu dem Fenster hinüber und begegnete Longs Blick. Eine Sekunde schauten sie einander wie gebannt an, dann wandte sich der Wetter schnell ab. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß der Bankdirektor dauernd zu ihm gesprochen hatte.

 

»… ich bin ja nicht der Ansicht, daß es Ihnen gelingt, den Mann zu fassen. Dazu ist wahrscheinlich niemand imstande. Der Mensch ist glatt wie ein Aal und wahrscheinlich der Führer einer sehr gerissenen Bande –«

 

»Ich wünschte von Herzen, es wäre so«, entgegnete Long lächelnd. »Aber den Gedanken können Sie aufgeben, Mr. Monkford. Unter Verbrechern und Dieben gibt es keine Ehrlichkeit, höchstens unter den ganz Großen. Dieser Shelton arbeitet ganz auf eigene Faust, und darin besteht seine größte Stärke.«

 

Der Bankdirektor nahm eine dicke Mappe aus seinem Schreibtisch und legte sie auf die Platte.

 

»Hier finden Sie alle Tatsachen, nicht nur von der City & Southern Bank, sondern auch von allen anderen Banken, die von Shelton betrogen wurden. Alle Originalunterschriften sind in Photographie vorhanden. Aber ich glaube nicht, daß es Ihnen viel helfen wird.«

 

Long brachte eine halbe Stunde damit zu, den Inhalt der Mappe zu prüfen, aber am Ende war er auch nicht klüger als vorher.

 

Als er wieder auf die Straße trat, sah er sich nach links und nach rechts um, als ob er nicht entschlossen wäre, nach welcher Richtung er gehen sollte. Schließlich wandte er sich nach der Grace Church Street. An der Ecke dieser Straße und der Lombard Street sah er einen schlanken, älteren Herrn stehen, der offenbar den lebhaften Verkehr beobachtete. Er schaute ihn an, als er an ihm vorüberging, und die Blicke der beiden trafen sich. Die argwöhnisch forschenden Augen des Fremden verrieten Long sofort, daß der Mann den Detektiv in ihm erkannt hatte.

 

Ein eigentümliches Gefühl überkam den Wetter, ohne daß er sich über die Ursache klar werden konnte. Er überquerte die Straße, ging auf einen Zeitungsjungen zu und kaufte ihm ein Blatt ab. Der Fremde stand immer noch an seinem Platz. Er war elegant gekleidet und sah wie ein Oberst in Zivil aus. Absichtlich gab der Wetter dem Zeitungsjungen einen Schilling, um den Mann noch während des Wechselns beobachten zu können. Es mußte irgendein Schwindler aus der City sein, einer der vielen, die hier ihre dunklen Geschäfte trieben. Der mißtrauische Blick hatte Long genug verraten. Es schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, umzukehren und den Fremden unter irgendeinem Vorwand anzusprechen. Aber er gehörte zu Scotland Yard und befand sich in der City. Und die City hatte ihre eigenen Detektive, die eifersüchtig darüber wachten, daß nicht andere Beamte in ihre Rechte eingriffen.

 

Während er sich noch überlegte, was er tun sollte, rief der Mann ein Auto an, das die Straße herunterkam, und fuhr davon. Kaum war er außer Sicht, als der Wetter einem plötzlichen Impuls folgte und sich ebenfalls einen Wagen nahm.

 

»Fahren Sie die Lombard Street entlang«, sagte er schnell, »und sehen Sie zu, daß Sie den gelben Wagen einholen.«

 

Bald darauf sah er das Auto wieder. Er hielt die Zeitung schützend vor das Gesicht und beobachtete über den Rand des Blattes hinweg, daß der Fremde durch das hintere Fenster nach rückwärts schaute.

 

Als Colonel Macfarlane an diesem Abend das Büro verlassen wollte, hielt ihn Inspektor Long freudestrahlend an.

 

»Sie können mir gratulieren – ich habe Shelton ausfindig gemacht!«

 

»Das ist doch nicht möglich!«

 

»Wetten, daß?« entgegnete Mr. Long prompt.

 

Kapitel 20

 

20

 

Die schön ausgestatteten Büroräume des Rechtsanwalts Francis Henry lagen in Lincoln’s Inn Fields, und zwar im Erdgeschoß des Hauses Nr. 642.

 

Der Rechtsanwalt stand am Fenster und schaute auf die schönen Gärten hinaus, als ein Schreiber ihm die Ankunft des Inspektors Long meldete. Mr. Henry sah lächelnd auf die Karte.

 

»Bitten Sie ihn, näherzutreten.«

 

Er ging dem Detektiv entgegen, um ihn zu begrüßen.

 

»Sie kommen natürlich wegen Monkfords. Ich schrieb Ihnen gestern abend noch, aber ich telephonierte dann Heartsease an und hörte, daß Sie schon fortgefahren seien.«

 

Er schob seinem Besucher einen Stuhl hin und nahm selbst an seinem Schreibtisch Platz.

 

»Also, Mr. Long, was wünschen Sie zu wissen?«

 

Der Wetter hatte ein solches Entgegenkommen nicht erwartet und war durch die Freundlichkeit des Mannes ein wenig verblüfft.

 

»Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Mr. Henry«, erwiderte er. »Ein paar Stunden vor seinem Tode unterhielt sich Monkford mit Jackson Crayley und mit Ihnen. Sie gingen auf dem Rasen unter meinem Fenster auf und ab. Als ich dann kurz darauf Monkford selbst sah, war seine Haltung gegen mich entschieden verändert und in gewisser Weise feindlich. Ich möchte nun von Ihnen erfahren, worüber Sie mit Monkford gesprochen haben.«

 

»Das kann ich Ihnen sagen. Ich habe Mr. Monkford mitgeteilt, daß Sie Miß Nora Sanders verehren und ihr einen kostbaren Ring geschenkt haben.«

 

Long war im ersten Augenblick betroffen. Er hatte unter keinen Umständen erwartet, daß dieses kleine Betrugsmanöver Monkford derartig gegen ihn aufbringen könnte.

 

»Ich verstehe aber nicht, daß diese Mitteilung solchen Eindruck auf Mr. Monkford machen konnte. Selbst wenn ich wirklich Nora Sanders verehrte und ihr ein Geschenk machte – warum hätte er sich denn darüber ärgern sollen?«

 

Henry sah ihn merkwürdig lächelnd an.

 

»Weil er selbst Miß Nora Sanders liebte.« Henry war äußerst zufrieden mit dem Eindruck, den seine Worte machten.

 

»Hat er die junge Dame tatsächlich verehrt?« fragte der Wetter ungläubig.

 

»Ja. Seine Liebe zu ihr ging sogar so weit, daß er am Nachmittag vor seinem Tode ein Testament zu ihren Gunsten machte und ihr sein ganzes Vermögen hinterließ.«

 

Long erhob sich.

 

»Donnerwetter, das ist ja kaum zu glauben!« sagte er langsam.

 

Der Rechtsanwalt zuckte die Schultern, um anzuzeigen, daß ihn die Schrullen des verstorbenen Monkford nicht interessierten.

 

»Das Testament ist in meinem Besitz. Es wurde auf Monkfords dringendes Verlangen aufgesetzt und von mir und Crayley als Zeugen unterschrieben.«

 

»Wer sind denn die Testamentsvollstrecker?« fragte der Wetter nach einer kurzen Überlegung.

 

»Miß Sanders selbst. Ich riet ihm natürlich davon ab, ein solches Testament zu machen, und schlug ihm vor, seinem eigenen Rechtsanwalt die Sache zu übergeben. Ich war vor allem sehr dagegen, daß Miß Sanders ihre eigene Testamentsvollstreckerin sein sollte. Aber er ließ sich in diesem Punkt nichts dreinreden. Er erwähnte auch, daß er nach dem Abendessen mit Ihnen sprechen und Ihnen alles erklären wollte. Er muß seinen Tod vorausgeahnt haben, da er so sehr darauf bestand, das Testament sofort aufzustellen. Ich war entschieden dagegen.«

 

»Das haben Sie schon vorher gesagt«, entgegnete der Wetter kühl. Seine ganze Haltung drückte aus, daß er an den Worten des Rechtsanwalts zweifelte, aber Mr. Henry war nicht allzu empfindlich.

 

Longs Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er rekapitulierte kurz alle Tatsachen von der Verhaftung Clay Sheltons bis zu dem gegenwärtigen Augenblick.

 

»Ich muß sehr schnell arbeiten«, sagte er langsam. »Schneller als alle anderen. Und es wird mir gelingen. Wetten, daß?«

 

Kapitel 21

 

21

 

Der Tod Mr. Monkfords deprimierte Nora Sanders stark. Sie konnte sich des düsteren Eindrucks nicht erwehren, daß die Bande des Schreckens ihre Hand im Spiel hatte. Das wurde ihr mehr und mehr zur Gewißheit, obwohl sie mit Long nicht mehr über die Verbrecherorganisation gesprochen hatte. Sie versuchte aber vergeblich, Miß Revelstoke auch davon zu überzeugen.

 

»Das ist der größte Unsinn«, entgegnete die alte Dame energisch. »Ich weiß nicht, was Sie immer mit der Bande des Schreckens wollen. In Scotland Yard scheint man ja vollkommen die Nerven verloren zu haben, wenn derartige Dummheiten geglaubt werden.«

 

Sie sah gerade zum Fenster hinaus, als ein Mietauto vor der Haustür hielt.

 

»Ach, da kommt ja Ihr Ihnen so ergebener Mr. Henry. Er scheint es sehr eilig zu haben.«

 

Erst nachdem sich der Rechtsanwalt zwanzig Minuten lang allein mit Miß Revelstoke unterhalten hatte, ließ sie Nora kommen, und das junge Mädchen war aufs äußerste bestürzt, als sie von der Erbschaft hörte.

 

»Zwei Millionen soll ich erben?« sagte sie atemlos. »Das kann doch nicht wahr sein!«

 

Bleich und verstört sank sie in einen Stuhl und sah ratlos von einem zum andern. Mr. Henry strahlte sie wohlwollend an und weidete sich an ihrer Verwirrung.

 

»Sie haben nun auch die Verantwortung für das ganze Vermögen und den Grundbesitz, Nora. Es wäre gut, wenn Sie meine Hilfe in Anspruch nähmen und mir die Führung Ihrer Geschäfte anvertrauten. Ich würde dann vor allem die Erklärung der Rechtsgültigkeit des Testaments durchsetzen. Die meisten Werte sind flüssig, und nach dem Wortlaut des Testaments können Sie sofort über ein Bankguthaben von einer Million zweihunderttausend Pfund verfügen.«

 

»Der schlaue alte Fuchs war also doch in Sie verliebt!« sagte Miß Revelstoke und sah Nora mit ihren dunklen Augen durchdringend an.

 

»Aber – ich verstehe den Zusammenhang wirklich nicht«, erwiderte Nora mit stockender Stimme.

 

Die alte Dame legte den Arm um die Schulter des jungen Mädchens.

 

»Gehen Sie in Ihr Zimmer, mein Kind. Ich werde noch wegen der Erbschaft mit Henry sprechen. Man kann auch nicht verlangen, daß sie sich sofort mit ihrem großen Glück abfindet«, wandte sie sich an den Rechtsanwalt.

 

Willig ließ sich Nora von ihr zur Tür begleiten. Aber ihre Gedanken wirbelten immer noch durcheinander, als sie auf ihrem Zimmer angelangt war.

 

Es war doch unmöglich! Sie sollte zwei Millionen Pfund besitzen? Natürlich träumte sie. Aber nach und nach kam ihr zum Bewußtsein, daß es Wirklichkeit war. Sie sah sich im Zimmer um und betrachtete jedes Möbelstück, dann trat sie an das offene Fenster und schaute hinaus. Drüben, auf der anderen Seite der Straße, stand ein Mann. Ihr Herz schlug plötzlich wild, als er sie grüßte.

 

Es war Wetter Long. Er legte den Finger auf die Lippen, dann winkte er ihr zur Straße herunter und hob drei Finger in die Höhe. Also um drei! Sie sah nach der Uhr auf dem Kamin, die halb eins zeigte. Dann nickte sie ihm zu. Aber wo sollte sie ihn nur treffen? Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, entfaltete er eine Zeitung und deutete auf eine Annonce, die in sämtlichen Morgenzeitungen an derselben Stelle stand. Das Warenhaus Cloche kündigte darin den Beginn einer billigen Woche an. Sie erkannte das charakteristische Reklamebild und nickte wieder.

 

Aufs neue hob er den Finger und legte ihn auf die Lippen. Miß Revelstoke sollte also nichts davon erfahren. Sie gab ihr Einverständnis zu erkennen. Er winkte ihr noch einmal zu und ging dann fort. Warum hatte er nicht telephoniert? Es waren doch zwei Apparate im Hause, einer in der Diele im Erdgeschoß und einer in Miß Revelstokes Arbeitszimmer. Ohne Wissen der alten Dame hätte sie allerdings kein Gespräch führen können.

 

Als der Gong zum Mittagessen rief, ging sie wieder nach unten und traf die beiden im Wohnzimmer.

 

»Ich habe mit Mr. Henry über Ihr außerordentliches Glück gesprochen«, sagte Miß Revelstoke, »und ich halte es auch für das beste, daß Sie vernünftig sind und ihn zu Ihrem Generalbevollmächtigten ernennen.«

 

Nora mußte lachen. Welch große Bedeutung hatte sie doch plötzlich erlangt, daß sie sogar einen Bevollmächtigten brauchte.

 

»Ich bin allerdings in einer Gemütsverfassung, daß ich lieber alle anderen Leute für mich handeln lasse, als selbst etwas unternehme«, gestand sie. »Ich kann immer noch nicht verstehen, warum Mr. Monkford mir das große Vermögen vermacht hat.«

 

»Er hätte es auch schlechteren Menschen hinterlassen können«, meinte Miß Revelstoke. »Der arme Joshua war wirklich ein merkwürdiger Mann, aber in diesem Fall hat er ganz guten Geschmack bewiesen. Er hat Sie eben geliebt, wirklich, er hat Sie verehrt«, sagte sie eindringlich, als Nora den Kopf schüttelte.

 

Auf dem Tisch lagen zwei Schriftstücke.

 

»Sie müssen hier an dieser Stelle unterzeichnen«, erklärte, ihr Mr. Henry liebenswürdig. »Durch das erste Dokument bestätigen Sie die Annahme der Erbschaft, und das zweite ist eine Vollmacht, die Sie mir ausstellen. All Ihre Sorgen in Vermögensangelegenheiten wälzen Sie dadurch auf meine Schultern ab.«

 

Nora setzte sich und griff zu dem Federhalter. Aber plötzlich zögerte sie. Man verlangte von ihr, daß sie einen bestimmten Schritt unternehmen sollte, und durch ihre Unterschrift beanspruchte sie den Besitz eines Vermögens, das ihr eigentlich nicht zustand.

 

»Muß ich denn jetzt schon unterzeichnen? Ich bin wirklich noch kaum in der Lage, die Situation richtig zu beurteilen. Hat es nicht Zeit bis zum Abend? Bis ich die erste Aufregung überwunden habe?« Sie sah den Rechtsanwalt an.

 

Miß Revelstoke stand hinter ihr und gab Mr. Henry ein warnendes Zeichen.

 

»Aber gewiß«, beruhigte er sie. »Heute kann ich doch sowieso nichts mehr unternehmen. Es ist besser, Miß Revelstoke erklärt Ihnen erst alles genau, bevor Sie Ihre Unterschrift geben. Wenn ich die Papiere nur morgen früh mit der ersten Post bekomme, dann haben wir keine Zeit verloren.«

 

Die ältere Dame nahm die beiden Schriftstücke und legte sie beiseite.

 

»So, nun wollen wir aber zum Essen gehen«, sagte sie dann in vergnügter Stimmung.

 

Henry verließ das Haus um halb drei, und Nora ging gleich darauf in das Arbeitszimmer, in das sich Miß Revelstoke begeben hatte.

 

»Ich möchte eine Stunde ausgehen«, sagte sie. »Ich hoffe, daß mir die Luft gut tut, damit ich wieder klar denken kann.«

 

»Kein schlechter Gedanke. Ich möchte Ihnen nur raten, mit keinem Menschen über das Testament zu sprechen, bis Henry die nötigen gesetzlichen Schritte ergriffen hat. Der letzte, mit dem Sie sich darüber unterhalten dürften, wäre Mr. Long. Es ist ja möglich, daß ich ein Vorurteil gegen diesen Herrn habe, aber ich kann seinen Vater durchaus nicht leiden. Wohin wollen Sie denn gehen?«

 

»Ich möchte etwas im Park spazieren gehen und mich dann vielleicht einmal bei Cloche umsehen. Es ist eine billige Woche dort.«

 

Miß Revelstoke lächelte nachsichtig.

 

»Aber mein Liebling, Sie brauchen doch jetzt wirklich nicht mehr zu einer billigen Woche ins Warenhaus zu laufen. Aber Sie haben vielleicht ganz recht. Es ist eine Ablenkung. Kommen Sie, bitte, bis fünf Uhr wieder zurück.«