Kapitel 3

 

3

 

Eine Woche später lenkte Shelton seinen Wagen dicht vor Colchester auf einen Seitenweg und brachte ihn zum Stehen. Aus einer Schublade unter dem Sitz nahm er einen Koffer heraus, der einen Anzug, Schere, Rasiermesser und Creme enthielt, und kurze Zeit darauf hatte er sich vollkommen verwandelt. Er sah jetzt aus wie ein ehrbarer älterer Herr. Nachdem er einen Blick nach rechts und links geworfen hatte, ging er zur nächsten Haltestelle der Straßenbahn und fuhr von dort zum Zentrum der Stadt.

 

Es schlug zehn Uhr, als er den großen Kassenraum der Eastern Counties Bank betrat. Er legte ein Bankbuch und ein ausgefülltes Formular auf den Schaltertisch. Der Beamte prüfte beides sorgfältig und ging dann damit in das Büro des Direktors. Als er zurückkam, lächelte er respektvoll, als ob er sich für seine schlimmen Befürchtungen entschuldigen müßte.

 

»Siebentausendsechshundert«, sagte er liebenswürdig. »Wie wollen Sie das Geld haben, Colonel Weatherby?«

 

»In Hundertpfundnoten.«

 

Gleich darauf zählte der Kassierer ein Paket Banknoten mit außerordentlicher Geschwindigkeit ab und notierte dann die Nummern der Scheine in sein Buch…

 

»Danke schön.« Shelton wandte sich ab und steckte das Päckchen in seine Brusttasche.

 

Außer ihm befanden sich noch zwei andere Herren im Kassenraum, und ein dritter kam gerade durch die Drehtür herein. Der eine sah etwas müde aus und lehnte sich an den Schalter. Shelton würdigte ihn keines Blickes, wohl aber schaute er sich den anderen genau an, der vor dem Ausgang stand und ihn anlächelte.

 

»Guten Morgen, Shelton.«

 

Der Wetter Long! Höchste Gefahr! Shelton blieb stehen und schob trotzig das Kinn vor.

 

»Wollen Sie mit mir sprechen? Ich heiße allerdings nicht Shelton.«

 

Arnold Long nahm den Hut ab und fuhr mit der Hand durch sein dichtes, schwarzes Haar.

 

»Ja, ich wollte mit Ihnen sprechen.«

 

Im nächsten Augenblick sprang Shelton auf ihn zu.

 

Eine Sekunde später wälzten sich drei Männer auf dem Boden. Shelton gelang es, wieder auf die Füße zu kommen. Der Polizist war eifrig bei dem Handgemenge, stand aber dem Wetter immer im Wege. Plötzlich mischte sich auch noch der müde Herr ein, der vorher am Schalter gelehnt hatte.

 

»Hier! Verdammt…«

 

Ein betäubender Knall ertönte, und der Polizist stürzte blutend auf die Marmorfliesen nieder.

 

»Geben Sie die Pistole her, oder ich schieße sofort!«

 

Shelton wandte den Kopf. Der Bankbeamte mit der Brille hatte mit einem schweren Armeerevolver auf ihn angelegt. Der Mann hatte den Krieg auch mitgemacht, in dem selbst Bankbeamte mit Brillen lernten, kaltblütig andere Menschen über den Haufen zu schießen.

 

Long legte Shelton Handschellen an. Zwei Polizisten in Uniform kamen in den Schalterraum, während der Bankbeamte bereits an das Hospital telephonierte.

 

»Ich verhafte Sie wegen Betrugs«, sagte Arnold und schaute dann ernst auf den Toten, der in einer großen Blutlache lag. »Ich dachte, Sie trügen niemals eine Pistole bei sich?«

 

Shelton erwiderte nichts, und der Wetter wandte sich an den fremden Herrn, der sich am Handgemenge beteiligt hatte.

 

»Ich danke Ihnen … ich bin Ihnen wirklich sehr verpflichtet.« Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Ach, Sie sind ja Mr. Crayley.«

 

Der Mann sah totenbleich aus.

 

»Beinahe hätte er mich selbst getroffen«, sagte er heiser. »Nun, ich habe mein Bestes getan. Sagen Sie es nur, wenn ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann. Ist er tot?«

 

»Ja.« Der Wetter starrte düster auf den Polizisten. »Ich wünschte, das hätten Sie nicht getan, Shelton. Aber diesen Mord können wir wenigstens leichter beweisen als die anderen, die Sie begangen haben. Wir wollen ihn schnell zur Polizeistation bringen, bevor ein zu großer Auflauf entsteht. Zeigen Sie mir, bitte, den Nebenausgang«, wandte er sich an den Bankbeamten.

 

Kapitel 30

 

30

 

Nora Sanders protestierte heftig, als Arnold Long sie in ein Krankenhaus bringen wollte. Aber er blieb in diesem Punkt hart und unnachgiebig.

 

»Ich bin nicht krank, und ich habe keinen Nervenzusammenbruch«, sagte sie. »Es ist ganz unnötig.«

 

»Der Doktor sagt –« begann er.

 

»Der Doktor!« entgegnete sie geringschätzig. »Als ich ins Wasser sprang, fühlte ich mich sofort wohler. Wenn man mir bloß nicht dieses entsetzliche Mittel beigebracht hätte. Was war es nur?«

 

»Butylchlorid. Es hat eine katastrophale Wirkung. Daß es Ihnen nicht mehr geschadet hat, spricht für Ihre gute Gesundheit. Trotzdem muß ich aber dem Arzt recht geben, und ich bestehe darauf, daß Sie in das Krankenhaus gehen. Sie dürfen mindestens eine Woche lang keine Besuche empfangen.«

 

»Aber ich muß doch Miß Revelstoke sehen.«

 

»Vielleicht ist das notwendig – aber sie darf nur in meiner Gegenwart vorgelassen werden. Ich bewundere die alte Dame unendlich, aber ich hatte niemals den Eindruck, daß viel Gutes von ihr kommt. Und Ihre Gesundheit darf auf keinen Fall leiden –«

 

»Sie wollen mich vor Gefahr beschützen und glauben, Sie müssen mich zu diesem Zweck einsperren. Schließlich postieren Sie noch einen Detektiv vor die Tür und geben einem Polizisten den Befehl, vor dem Haus auf- und abzupatrouillieren.«

 

»Sie haben die Situation vollkommen richtig erfaßt.«

 

Sie war erstaunt, daß er ihren Vorwurf so ruhig hinnahm.

 

Als er einige Stunden später ihr Zimmer verließ, von dem aus man eine schöne Aussicht auf Dorset Square hatte, nahm er die Vorsteherin beiseite und gab ihr besondere Instruktionen. Tatsächlich wurde Nora so gut wie eine Gefangene gehalten.

 

»Geben Sie ihr keine Zeitungen. Magazine und Bücher kann sie haben, soviel sie will, aber keine Zeitungen. Und achten Sie auch darauf, daß die Krankenschwestern ihr nichts erzählen.«

 

Nachdem die alte Dame versprochen hatte, seine Anweisungen genau zu befolgen, fühlte er sich etwas erleichtert und verabschiedete sich.

 

Später erfuhr er per Telephon, daß Miß Revelstoke Nora um sechs Uhr aufsuchen wollte. Fünf Minuten vor der angesetzten Zeit erschien er im Empfangsraum des Krankenhauses. Die alte Dame schien durchaus nicht erstaunt zu sein, ihn dort zu treffen, und begegnete ihm mit großer Liebenswürdigkeit.

 

»Sie wollte ich gerade sprechen, Mr. Long. Was ist bloß dem armen Mädchen passiert? Ihr Sergeant Rouch ist gerade nicht sehr mitteilsam. Er erzählte mir nur, daß man versuchte, sie zu entführen und daß sie dabei fast ertrunken wäre. Aber das kann ich doch kaum glauben.«

 

Er sah sie forschend an. In der letzten Zeit war sie stark gealtert, und ihr fast noch jugendlich glattes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Nur der lebhafte Blick ihrer feurigen Augen erinnerte noch an ihr früheres Aussehen. Durch ihr temperamentvolles Auftreten gelang es ihr aber, ihn in gewisser Weise zu täuschen.

 

»Crayley soll auch tot sein, wie ich hörte?«

 

Er nickte.

 

»Sagen Sie ihr, bitte, nichts davon.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Es ist wirklich schrecklich. Erst Monkford und nun auch noch Crayley. Es ist mir wirklich sehr auf die Nerven gefallen.«

 

»In diesem Zusammenhang müßten wir eigentlich auch noch Clay Shelton nennen«, sagte er harmlos, beobachtete sie aber scharf. »Mein unglücklicher Onkel –«

 

Diese Worte trafen. Ihre Gesichtszüge wurden plötzlich finster und hart. Sie kniff die Augenlider zusammen und sah ihn feindselig an.

 

»Ich habe nicht recht verstanden. Was sagten Sie? Ihr –«

 

»Clay Shelton war mein Onkel, der Halbbruder meines Vaters. Ich dachte, das wäre Ihnen bekannt. Sein wirklicher Name war John Xavier Towler Long. Aber vielleicht wußten Sie das nicht? Ich weiß sehr viel von meinem Onkel John.« Er lachte zynisch. »Er heiratete im Jahr 1883 die junge Miß Paynter und ließ sie schmählich im Stich. Mein Vater hat mir gesagt, daß sie erst vor ein paar Jahren gestorben ist.«

 

Miß Revelstoke hatte sich wieder gefaßt.

 

»Ich habe nicht gewußt, daß Sie aus einer so heruntergekommenen Familie stammen, Mr. Long.« Sie schaute auf die Uhr. »Glauben Sie, daß ich jetzt Nora sprechen kann?«

 

»Wir werden beide zu ihr gehen.«

 

Dieser Schachzug kam ihr überraschend.

 

»Ich wollte aber verschiedene Dinge mit ihr allein besprechen.«

 

»Gut. Während dieser Zeit kann ich mir ja die Ohren zuhalten«, entgegnete der Wetter.

 

Sie begleitete ihn widerwillig zu Noras Zimmer.

 

Miß Sanders lag zu Bett und las in einem Buch, als sie eintraten.

 

»Sie armes Kind«, sagte Miß Revelstoke freundlich. »Nora, Sie sind wirklich ebenso schlimm wie Mr. Long. Dauernd sind Sie in Unglücksfälle verwickelt. Wie geht es Ihnen denn? Wie fühlen Sie sich?«

 

Nora schüttelte den Kopf und sah vorwurfsvoll zum Wetter hinüber.

 

»Ich habe mich niemals wohler gefühlt«, erklärte sie, »aber man besteht darauf, daß ich hier im Krankenhaus bleibe.«

 

»Sie meinen wohl, Mr. Long besteht darauf. Es ist doch ein Glück, daß Sie einen so guten Freund haben, der sich wie ein Bruder um Sie kümmert.«

 

»Wie eine Mutter«, sagte der Wetter halblaut.

 

Miß Revelstoke schaute ihn an.

 

»Kann ich einen Augenblick allein mit Nora sprechen?«

 

Er ging zur anderen Seite des Zimmers und sah nach Dorset Square hinaus. Sein Gehör war ausgezeichnet, und als ob Miß Revelstoke das ahnte, sprach sie beinahe im Flüsterton.

 

»Kann Henry Sie hier besuchen und sprechen?«

 

Nora zögerte mit der Antwort und sah zu Mr. Long hinüber.

 

»Fragen Sie ihn nicht, denn er haßt Henry. Ich möchte, daß Sie ihn allein sprechen. Ist das möglich?«

 

Nora war unentschieden.

 

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, der Arzt hat Instruktion gegeben, daß mich niemand besuchen darf. Können Sie mir denn nicht sagen, was er will?«

 

»Er wollte Ihnen etwas mitteilen – etwas, was Monkford sagte, bevor er das Testament unterzeichnete.«

 

Als sie sah, daß Noras Blicke wieder zu Mr. Long wanderten, lächelte sie.

 

»Nun, ich will Sie nicht dazu zwingen. Sagen Sie ihm, bitte, nichts davon, daß ich Sie bat, mit Mr. Henry zu sprechen.«

 

Kapitel 24

 

24

 

Wetter Long rühmte sich, daß er nicht sentimental sei und sich im allgemeinen nicht für Frauen interessiere. Aber kaum hatte er Nora Sanders verlassen, so suchte er schon wieder nach einem Vorwand, um wieder mit ihr zusammenzukommen. Er sagte sich, daß er ein berufliches Interesse an ihr habe. Aber sein Gewissen ließ ihm keinen Zweifel darüber, daß er sich damit nur selbst belügen wollte.

 

Er hatte in seinem Büro in Scotland Yard zu tun, das augenblicklich einer Sammelstelle für Nachrichten glich. Alle seine Untergebenen mußten über ihre Beobachtungen halbstündlich hierher berichten. Kurz nach acht meldete der Beamte, der das Haus von Miß Revelstoke beobachtete, daß ein Fremder in die Wohnung gegangen sei. Um acht Uhr dreißig kam eine Mitteilung, daß der Besucher noch nicht wieder auf die Straße gekommen sei. Um neun und um halb zehn wurde dieselbe Meldung wiederholt. Die Personalbeschreibung des Mannes enthielt nichts Auffälliges.

 

Wetter Long wußte, daß Miß Revelstoke mit Mr. Henry zu Abend speiste. Er hätte nur bei dem Beamten, der die beiden beobachtete, anzufragen brauchen, wie weit sie mit dem Essen seien, denn auch von dort erhielt er fortlaufend Bericht. Er hing den Hörer ein und ließ Sergeant Rouch kommen.

 

»Begleiten Sie mich auf eine Spazierfahrt nach Colville Gardens«, sagte der Inspektor und erklärte ihm die Situation.

 

Kapitel 25

 

25

 

»Miß Sanders ist vor einer Stunde fortgegangen«, sagte das Dienstmädchen. »Ich habe es allerdings nicht gesehen.«

 

Der Wetter wandte sich an Rouch, und dieser gab dem Detektiv ein Zeichen, der auf der anderen Seite der Straße auf Posten stand. Die Drei hielten eine kurze Beratung ab, und der Beamte, der das Haus beobachtet hatte, behauptete bestimmt, daß niemand herausgekommen sei.

 

Long fragte das Mädchen weiter aus.

 

»Als ich herunterkam, war Miß Sanders fort«, erwiderte sie. »Ich habe aber nicht gehört, daß sie die Haustür schloß.«

 

Der Wetter ging in das Wohnzimmer. Das Silbertablett stand noch auf dem Tisch. Er nahm die halbleere Kaffeekanne, roch daran und reichte sie dann Rouch.

 

Auch der Sergeant überzeugte sich von dem Geruch.

 

»Das genügt, um ihr die Besinnung zu nehmen.«

 

Long trat wieder hinaus in die Diele.

 

»Gibt es noch einen anderen Ausgang?« fragte er das erschreckte Dienstmädchen.

 

»Ja, von Miß Revelstokes Arbeitszimmer aus kommt man direkt zur Garage«, entgegnete sie und führte die Beamten dorthin.

 

Die Tür war nur angelehnt. Sie gingen die Treppe hinunter bis zur Garage, deren großes Tor offenstand. Der Wetter untersuchte mit seiner Taschenlampe das kleine Gebäude, konnte aber keine Anhaltspunkte finden. Erst als er auf die hintere Straße hinaustrat, hatte er mehr Glück. Die Frau eines Chauffeurs, der über der nebenanliegenden Garage wohnte, hatte gesehen, daß das Auto herausgefahren war. Da sie sich für den Beruf ihres Mannes interessierte, konnte sie die einzelnen Wagentypen unterscheiden und angeben, daß es sich um einen alten Daimler handelte.

 

Der Detektiv, der draußen vor der Tür gewartet hatte, erinnerte sich auch daran, daß er ungefähr eine Viertelstunde nach der Ankunft des Mannes einen alten Daimler hatte vorüberfahren sehen.

 

»Die Vorhänge an den Fenstern waren vorgezogen, und ich dachte, es wäre ein Reisewagen«, sagte er.

 

Das Auto war Elgin Crescent entlanggefahren und dann außer Sicht gekommen. Ein Polizist, der in Ladbroke Grove auf Posten stand, hatte es auch bemerkt, wie der Wetter später feststellen konnte. Der Wagen hatte sich in westlicher Richtung entfernt. Er war aufgefallen, weil das Nummernschild auf der Rückseite beschädigt war. Der Beamte hatte versucht, den Chauffeur anzuhalten und ihn darauf aufmerksam zu machen.

 

Es blieb nur noch eine Hoffnung. In der vergangenen Woche hatte eine ganze Serie von Autodiebstählen stattgefunden, und es waren besondere Polizeistreifen ausgeschickt worden, um die Hauptstraßen zu beobachten. Sie fahndeten hauptsächlich nach einem kostbaren Rolls Royce, der vom Hof des Parlamentsgebäudes gestohlen worden war. Der Wetter rechnete damit, daß er einen dieser besonderen Posten auf Great West Road finden würde, und er erreichte den Mann auch gerade noch, bevor er abgelöst wurde.

 

»Ja, ich besinne mich auf einen alten Daimler«, sagte der Beamte. »Ich weiß noch ganz genau, daß er blaue Vorhänge hatte. Sie waren alle zugezogen.«

 

Auch er hatte den Eindruck gehabt, daß es ein Reisewagen war.

 

Der Wetter fuhr die breite Straße entlang und hielt bei jedem Polizeiposten an, um seine Nachforschungen fortzusetzen. In der Bath Road kam er dem Wagen wieder auf die Spur, und auch halbwegs zwischen der Staines und der Bath Road war der Daimler beobachtet worden, aber als sie das Ende der neuen Straße erreichten und den Posten dort ausfragten, erhielten sie keine befriedigende Auskunft.

 

Die Beamten blieben fest bei ihrer Behauptung, daß der Wagen nicht vorbeigefahren sei, denn sie hatten bereits telephonische Anweisung bekommen, ihn wegen des beschädigten Nummernschildes anzuhalten.

 

Der Wetter fuhr mit seinem Dienstwagen wieder zurück. Es gab zwei Nebenstraßen, in die der Daimler abgebogen sein konnte. Es standen auch verschiedene Neubauten hier, ein größerer Block und ein Einzelhaus, das etwas abseits lag und offenbar noch unbewohnt war. Inspektor Long ging zunächst zu dem bewohnten Häuserblock und erkundigte sich bei den Leuten, aber er kam dadurch nicht weiter. Schließlich fuhr er zu der Einzelvilla.

 

Es schien allerdings kaum der Mühe zu lohnen, dort weitere Nachforschungen anzustellen, aber er sah eine Fahrstraße auf dem Grundstück und vermutete, daß sie zu einer Garage führte. Er öffnete daher die Tür in der Umfassungsmauer und trat ein.

 

Die Bauhandwerker waren noch nicht mit ihren Arbeiten fertig. Überall zeigten sich noch Spuren ihrer Tätigkeit. Neben dem Wege lag ein Kieshaufen, und die Fahrstraße war noch nicht geschottert. In dem weichen Erdboden entdeckte Long Räderspuren und folgte ihnen bis zur Hinterseite des Hauses. Sein Herz schlug schneller, als er dort im Licht seiner Taschenlampe ein staubbedecktes Auto sah.

 

Es war der alte Daimler!

 

Er öffnete die Tür und schaute hinein. Der Wagen war leer und der Motor kalt. Long versuchte dann, die hintere Tür des Hauses zu öffnen, aber sie war verschlossen. Auch die Fenster waren von innen gesichert.

 

Die beiden Detektive leuchteten mit ihren Lampen in das Innere, aber sie entdeckten kein Lebenszeichen. Ohne Zögern nahm der Wetter seinen Browning aus der Tasche, schlug mit dem Handgriff ein Fenster ein und öffnete im nächsten Augenblick den Riegel. Niemand war zu sehen, aber vor kurzem mußten noch Leute hier gewesen sein. Eine halb aufgezehrte Butterschnitte lag auf dem Fensterbrett, und das Brot war ganz frisch.

 

Rouch suchte mit seiner Taschenlampe die Wände ab.

 

»Was ist das?« fragte er plötzlich.

 

Wetter Long bückte sich und las das eine Wort, das in den feuchten Putz eingekratzt war:

 

»Marlow!«

 

Sie untersuchten die Räume in aller Eile. Nirgends war ein Möbelstück zu sehen. Das Haus war wahrscheinlich nur als Zwischenstation gedacht. Aber unerwarteterweise fanden sie einen erst kürzlich angebrachten Telephonapparat. Long läutete sofort das Amt an und nannte seinen Namen und seine Stellung.

 

»Ist diese Nummer heute abend angerufen worden?«

 

Nach einer kurzen Pause erhielt er Bescheid.

 

»Ja, sie ist zweimal von London verlangt worden. Einmal um acht Uhr dreißig und einmal kurz vor zehn. Um acht Uhr dreißig wurde der Anruf nicht beantwortet.«

 

Long telephonierte daraufhin mit der lokalen Polizeistation und ging dann zu Rouch zurück, der vergeblich nach weiteren Anhaltspunkten gesucht hatte. »Ich habe einen Beamten kommen lassen, der den Wagen während der Nacht bewachen soll. Er hat den Auftrag, jeden sofort zu verhaften, der ihn holen will. Aber ich glaube kaum, daß die Kerle sich noch einmal hierher wagen.«

 

»Wohin fahren wir jetzt?« fragte Rouch, als sie den Polizeiwagen wieder bestiegen.

 

»Nach Marlow«, erklärte der Wetter kurz, »zu Mr. Jackson Crayley – und Gott steh ihm bei, wenn Miß Sanders etwas zugestoßen ist!«

 

Kapitel 26

 

26

 

Noras Kopf schmerzte noch heftig, als das Telephon klingelte. Der Mann, der die letzte Stunde schweigend neben ihr gesessen hatte, erhob sich geräuschvoll.

 

»Versuchen Sie bloß nicht, durch das Fenster zu verschwinden«, warnte er sie. »Sonst geht es Ihnen schlecht.«

 

Sie hörte, wie seine Schritte in den Nebenräumen auf dem bloßen Fußboden schallten, und sie vermutete, daß er in die Diele gegangen war.

 

Er nahm den Hörer vom Apparat und sprach leise hinein. Offenbar beschwerte er sich über etwas, aber schließlich willigte er widerwillig ein. Dann machte er eine unvorsichtige Bemerkung.

 

»Marlow – gut, ich fahre hin.«

 

Gleich darauf kam er zu Nora zurück.

 

»Machen Sie sich fertig, wir müssen fort.«

 

»Wohin?«

 

»Fragen Sie nicht. Das kann Ihnen gleich sein. Wir haben mindestens eine Meile zu Fuß zu gehen, dann holen sie uns mit dem Wagen ab. Wissen Sie, Ihr Freund ist ein bißchen zu eifrig. Er hat uns schon aufgespürt und ist bis zum Ende der Straße gefahren.«

 

Ihr Herz schlug schneller. Mit dem Freund konnte er nur einen Mann meinen, und sie hatte das Vertrauen, daß der Wetter früher oder später dieses Haus finden würde. Konnte sie ihm nicht eine Nachricht zukommen lassen? Sie hatte weder Bleistift noch Papier, aber als sie mit der Hand über die frischgeputzte Wand fuhr, kam ihr ein Gedanke, und sie kratzte mit dem Fingernagel rasch das Wort »Marlow« ein.

 

»Was machen Sie denn da?« fragte er argwöhnisch und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf sie.

 

»Nichts«, entgegnete sie mit schwacher Stimme. »Ich kann aber wahrscheinlich nicht gehen. Ich bin noch so müde, und mein Kopf schmerzt entsetzlich.«

 

Er öffnete die Tür.

 

»Das Gehen bekommt Ihnen sicher gut.«

 

Er faßte sie fest am Arm und führte sie ins Freie.

 

Gehorsam ging Nora neben dem Mann her. Die frische Abendluft tat ihr wirklich wohl. Durch ein kleines Tor im Zaun verließen sie das Grundstück und kamen auf das freie Feld.

 

Der Mann schien nicht sehr mit der Gegend vertraut zu sein, denn einmal wären sie beinahe in einen kleinen Teich geraten. Schließlich kamen sie auf einen Feldweg und gingen dann durch hohes, taubedecktes Gras, so daß ihre Schuhe und Strümpfe durchnäßt wurden.

 

Nach einer Viertelstunde kamen sie zu einer Hecke und gingen dort entlang, bis sie eine Öffnung fanden. Eine unebene Fahrstraße lag vor ihnen.

 

»Hier ist die Stelle«, sagte er und atmete erleichtert auf.

 

Sie wanderten dann noch zwanzig Minuten weiter, bis sie in die Nähe der Hauptstraße kamen. Dort machten sie halt.

 

»Wenn Sie wollen, können Sie sich setzen. Wir müssen hier ein wenig warten.«

 

Sie war froh, daß sie etwas ausruhen konnte, denn ihre Füße und ihre Beine schmerzten. Müde ließ sie sich auf dem Erdboden nieder.

 

Erst jetzt kam ihr die Gefahr, in der sie schwebte, vollkommen zum Bewußtsein. Sie hatte das ungewisse Gefühl, daß diese Entführung mit der Erbschaft von Monkford zu tun haben mußte, aber sie wunderte sich über den Mut, mit dem sie den Tatsachen gegenübertrat. Der Glaube an Arnold Long gab ihr so große Zuversicht. Er würde ihr sicher helfen.

 

»Stehen Sie auf«, sagte der Mann plötzlich. »Hier ist der Wagen.«

 

Ein Auto war nähergekommen. Die Lampen brannten so düster, daß man sie kaum erkennen konnte. Die Bremsen knirschten, und gleich darauf hielt der Wagen. Der Mann riß schnell die Tür auf, schob Nora ins Innere und stieg dann auch ein.

 

Sie fuhren auf der Bath Road. Bald darauf kamen sie durch eine kleine Stadt, die sie als Slough erkannte, dann durch Maidenhead. Schließlich wandten sie sich nach rechts und fuhren den Hügel hinauf, der nach Quarry Wood und Marlow führte.

 

Nora überlegte, wohin man sie wohl bringen würde. Doch nicht nach Monkfords Haus? Plötzlich dachte sie an Jackson Crayleys schönes Anwesen. Offenbar war das das Ziel ihrer Fahrt, denn der Wagen bog von der Hauptstraße ab, bevor sie die Marlow-Brücke erreichten. Durch das Fenster sah sie das Haus von Mr. Monkford, und das nächste Grundstück gehörte ja Mr. Crayley. Aber zu ihrem Erstaunen fuhr der Wagen weiter und hielt erst am Ende einer Wiese. Der Mann packte sie wieder am Arm und eilte mit ihr durch das Gras, bis sie an den Fluß kamen. Dicht neben dem Ufer lag ein großes Motorboot. Er half ihr an Deck, und der Chauffeur machte das Fahrzeug los.

 

»Wir fahren durch die Temple-Schleuse, aber denken Sie an das, was ich Ihnen schon zu Anfang sagte. Nur Sie und ich sind an Bord. Sie wissen, daß ich fünfzehn Jahre Zuchthaus bekomme, wenn man mich fängt, und da ist mir schließlich alles gleich, selbst wenn es ein Menschenleben kostet. Wenn Sie schreien, drehe ich Ihnen das Genick um und werfe Sie ins Wasser, bevor der Schleusenwärter erfährt, was los ist.«

 

Nora schauderte, drückte sich in eine Ecke und schwieg. Nach einiger Zeit rief der Mann:

 

»Schleuse, ahoi!«

 

Dann verlangsamte das Motorboot die Geschwindigkeit und hielt an. Erst nach einer Weile setzte es die Fahrt vorsichtig fort. Nora hörte das Rasseln der Schleusentore. Das Motorboot stieg mit dem einströmenden Wasser höher und höher, bis es das Niveau des Schleusenrandes erreicht hatte. Der Mann am Steuer wechselte einige gleichgültige Bemerkungen mit dem Wärter, dann fuhren sie weiter stromauf.

 

Westlich von Temple machte der Strom eine Biegung, und das linke Ufer wurde durch überhängende Bäume beschattet. Dorthin steuerte der Mann das Boot, und sie näherten sich einem Holzhaus. Das Gebäude stand so dicht am Wasser, daß die Veranda von Pfählen getragen wurde, die ins Wasser gerammt waren.

 

»Steigen Sie aus«, befahl der Mann mit rauher Stimme, und sie gehorchte.

 

Er folgte ihr, nahm einen Schlüssel aus der Tasche, und nach einigen Anstrengungen gelang es ihm, die Haustür zu öffnen. Nachdem sie hineingegangen waren, riegelte er die Tür von innen zu. Dann steckte er ein Streichholz an, schaute sich um und fand eine Kerze.

 

Der Raum war vornehm ausgestattet, aber überall lag dicker Staub. Verschiedene Reproduktionen von Gemälden aus der italienischen Frührenaissance schmückten die Wände, und vor den Fenstern hingen schwersamtene Vorhänge.

 

»Sie kennen das Haus wohl?« fragte der Mann. »Früher wohnte Mr. Shelton hier.«

 

»Shelton!« rief Nora, und eine unaussprechliche Furcht packte sie. Es war ihr, als ob der Geist dieses Verbrechers immer noch in dem Hause weilte.

 

Der Mann sah auf seine Armbanduhr, ging im Zimmer auf und ab und schaute zum Fenster hinaus. Als er einen der Vorhänge beiseitezog, bemerkte sie, daß die Fenster vergittert waren. Das war also die unheimliche Stätte, an der Clay Shelton seine dunklen Pläne vorbereitet hatte. An diesem selben Tisch, auf dem man jetzt die Spuren der Mäuse sehen konnte, hatte er wichtige Dokumente so hervorragend gefälscht, daß man sie nicht von den Originalen unterscheiden konnte.

 

»Ich gehe hinaus, um nach dem Boot zu sehen«, sagte der Mann, »bleiben Sie hier.«

 

Er schloß die Tür leise hinter sich, und sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Der Bootsmotor wurde angelassen, aber sie vernahm es kaum, denn ihre Gedanken beschäftigten sich noch zu stark mit Clay Shelton.

 

Sie stand direkt der Tür gegenüber, die wahrscheinlich in ein Schlafzimmer führte, und als sie zufällig auf die Klinke sah, bemerkte sie, daß diese langsam heruntergedrückt wurde. Langsam, langsam … dann öffnete sich die Tür nach innen, und eine lange, blasse Hand schob sich um die Kante.

 

Kapitel 27

 

27

 

Nora schrak zurück und starrte entsetzt auf die Türöffnung. Sie sah eine weiße Manschette, einen dunkelblauen Manschettenknopf und einen schwarzen Ärmel.

 

»Erschrecken Sie nicht.«

 

Der Fremde kam jetzt ganz zum Vorschein. Es war Jackson Crayley.

 

Sein ovales Gesicht war von Furchen durchzogen. Er trug Abendkleidung, und seine äußere Erscheinung stand in krassem Gegensatz zu diesem verstaubten, verlassenen Zimmer. Er hatte das Monokel ins Auge geklemmt und sah sich fast ängstlich im Raum um.

 

»Wo ist denn der Mann geblieben?« fragte er.

 

»Der ist fortgegangen«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Mr. Crayley, warum bin ich in diesem Haus?«

 

Er rieb sich das Kinn, und sie glaubte zu bemerken, daß seine Hände zitterten. Aber bei dem ungewissen Licht der Kerze konnte sie sich auch täuschen.

 

»Ich weiß es nicht«, sagte er betreten. »Aber Sie sind hier sicher, Miß Sanders.«

 

Es entstand eine Pause, und er betrachtete Nora. Seine düsteren Züge hellten sich aber nicht auf, und es kam ihr zum Bewußtsein, daß er sich mehr fürchtete als sie. Von Zeit zu Zeit schaute er sich nervös um, und einmal zuckte er vor dem unruhigen Schatten zusammen, den die flackernde Kerze auf die Wand warf.

 

»Ist er wirklich fortgegangen? Verflucht unangenehm.« Er räusperte sich. »Ich fürchte, Sie befinden sich in einer sehr peinlichen Lage, Miß Nora.«

 

Er machte eine Pause, als ob er seine Gedanken sammeln wollte.

 

»Ich glaube, es ist selten jemand in einer so unangenehmen Lage gewesen wie Sie«, fügte er dann hinzu.

 

Nora mußte trotz aller Gefahr über seine Unbeholfenheit lächeln.

 

»Ich kann wirklich nicht glauben, daß es so schlimm steht, Mr. Crayley. Sie sind doch hier bei mir und können für mich sorgen.«

 

Er konnte sie nicht ansehen.

 

»Nehmen Sie doch, bitte, Platz.«

 

Mit einem seidenen Taschentuch wischte er den Staub von einem Stuhl.

 

»Ich muß mit Ihnen sprechen, aber ich fürchte, Sie halten mich für einen sehr schlechten Menschen, wenn ich Ihnen alles gesagt habe, was ich Ihnen sagen muß.«

 

Sie setzte sich und wunderte sich, was kommen sollte.

 

»Der einzige Weg, der Sie aus all Ihren Schwierigkeiten befreit, ist eine Heirat«, begann er plötzlich, »und wenn Sie schließlich einmal darüber nachdenken, ist doch ein netter Kerl ebenso gut wie ein anderer – ich meine als Ehemann …«

 

»Ich verstehe Sie wirklich nicht, Mr. Crayley. Ich denke gar nicht daran, mich zu verheiraten, und wenn ich wirklich wählen sollte –«

 

»Sie haben vollkommen recht.« Er nickte, als ob er schon von vornherein gewußt hätte, was sie erwidern würde. »Wenn ich Sie bitte, mich zu heiraten, sind Sie natürlich sehr beleidigt.«

 

»Was, ich sollte Sie heiraten?« Sie war nicht im mindesten verletzt, nur sehr überrascht.

 

»Ja, darum handelt es sich«, entgegnete er verbissen. »Sie heiraten mich morgen, und dann ist alles in bester Ordnung. Sie müssen doch sowieso einen Menschen haben, der sich um Sie kümmert.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich könnte Sie niemals heiraten, Mr. Crayley«, sagte sie.

 

Der unglückliche Ausdruck seines Gesichts wirkte in diesem Augenblick fast komisch.

 

»Aber es wäre besser, wenn Sie es doch täten – tatsächlich, es wäre besser für Sie«, drängte er. »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Nora. Ich habe ebensowenig den Wunsch, Sie zu heiraten, wie Sie mich heiraten wollen, aber ich wäre trotzdem sehr dankbar und erleichtert, wenn Sie sich zu diesem Schritt entschließen würden.«

 

Er hob die Hand mit dem Taschentuch, um sich die Stirne zu trocknen. Dann sah er sich wieder nach allen Seiten um und sprach ganz leise.

 

»Folgen Sie doch, bitte, meinem Rat«, sagte er aufgeregt. »Sie versprechen mir auf Ihr Ehrenwort, mich morgen zu heiraten. Ich sorge dann für Sie – das schwöre ich Ihnen. Wenn Sie es nicht tun –« Er tupfte sich wieder die Stirne ab – »dann weiß ich nicht, was passieren wird.«

 

In ihren Zügen verriet sich jetzt Bestürzung, und seine zusammenhanglosen Erklärungsversuche verwirrten sie nur immer mehr.

 

»Ich bin vollständig unschuldig an der Sache«, fuhr er fort. »Ich bin einfach eine Null! Ach, wie ich diese ganze verfluchte Geschichte hasse! Wenn ich doch nur davon loskommen und das Land verlassen könnte! In Italien war ich schon einmal nahe daran. Die Fahrkarte von Genua nach Amerika war in meiner Tasche, aber dann hatte ich doch nicht den Mut, meinen Plan auszuführen.« Sein Kopf sank auf die Brust. »Nein, ich hatte nicht den Mut«, murmelte er. »Was bin ich doch für ein feiger Mensch!«

 

Sie wartete einige Zeit, aber er sprach nicht weiter.

 

»Was das alles zu bedeuten hat, verstehe ich nicht, Mr. Crayley. Ich fühle, daß Sie freundlich zu mir sind, aber eine Heirat mit Ihnen ist mir unmöglich. Wollen Sie mir nicht helfen, von hier fortzukommen? Warum hat man mich denn eigentlich hierher gebracht?«

 

Plötzlich sah er sie wieder an und hob warnend den Finger.

 

»Bleiben Sie hier«, flüsterte er, ging leise zur Tür und versuchte, sie zu öffnen. Sie war aber geschlossen. Mit langen Schritten durchquerte er das Zimmer und verschwand in dem anderen Raum, aus dem er vorhin gekommen war und schloß hinter sich ab. Sie hörte leise Stimmen, konnte aber kein Wort verstehen, obgleich sie sich nahe an die Tür heranschlich. Soweit sie zu unterscheiden vermochte, sprachen drei Leute miteinander.

 

»Nein, das kann ich nicht tun! Das ist ganz unmöglich! Das tue ich nicht!« sagte Crayley plötzlich laut.

 

Ein anderer erwiderte ihm ärgerlich. Dann hörte Nora Schritte und schlich auf Zehenspitzen zu ihrem Stuhl zurück. Wenn sie nur durch eins der Fenster entkommen könnte! Der Fluß hatte keine Schrecken für sie, denn sie konnte schwimmen wie ein Fisch. Wenn sie vor Furcht nicht vollständig gelähmt gewesen wäre, hätte sie schon auf dem Wege hierher ins Wasser springen können.

 

Die Türklinke senkte sich langsam, und Crayley kam wieder ins Zimmer. Er sah noch furchtsamer und verstörter aus als vorher. Wieder gab er ein Zeichen, daß sie schweigen sollte und lauschte aufmerksam. Schließlich schien er davon überzeugt zu sein, daß die beiden anderen gegangen waren.

 

In seinem geisterhaft bleichen, eingefallenen Gesicht zeigte sich plötzlich ein energischer Zug, als ob er einen Entschluß gefaßt hätte.

 

»Nehmen Sie doch, bitte, wieder Platz«, sagte er und rückte auch für sich einen staubigen Stuhl an den Tisch. »Sie haben zwei Stunden Zeit, sich zu entscheiden, dann kommen die Beiden zurück.«

 

»Wer sind sie denn?«

 

»Sie gehören der Bande des Schreckens an, aber Sie kennen sie nicht.«

 

»Sind Sie auch in ihrer Gewalt?«

 

»Ja!« Das Sprechen schien ihn anzustrengen, denn er atmete schwer. »Wollen Sie mich heiraten, um Ihr Leben zu retten?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich möchte Sie nicht beleidigen –« begann sie.

 

»Sie beleidigen mich durchaus nicht«, erwiderte er mit heiserer Stimme. »Um Gottes willen, nehmen Sie auf meine Gefühle keine Rücksicht. Aber ich frage Sie noch einmal, wollen Sie mich heiraten, um Ihr Leben zu retten?«

 

Sie hörte seine Worte und schauderte.

 

»Ich würde Sie unter keinen Umständen heiraten.«

 

»Lieben Sie denn einen anderen Mann?«

 

»Ich glaube ja. Und ich hoffe, daß ich ihn eines Tages heiraten kann.«

 

Er sah sie einen Augenblick ernst und nachdenklich an, dann erhob er sich unerwartet und ging auf Zehenspitzen in das andere Zimmer. Nach fünf Minuten kam er mit einem Armeerevolver zurück. Er untersuchte die Kammer und fand, daß sie geladen war.

 

»Kommen Sie mit«, sagte er.

 

Sie folgte ihm in den nächsten Raum, ohne eine Frage zu stellen. Durch einen engen Gang kamen sie dann zu einer offenen Tür. Die abnehmende Mondsichel stand am Himmel. Sie sah einen Fußweg vor sich, der durch eine endlose Wiese zu führen schien, aber sie erreichten doch bald eine enge Straße, die parallel zu dem Hause lief.

 

»Warten Sie hier einen Moment«, sagte er, als sie an einer kleinen Gartenpforte anlangten.

 

Sie sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwand. Nach einiger Zeit rief er sie, und sie stolperte über die verwucherten Wege, bis sie zu einem Kiespfad kam.

 

Er stand gebückt am Ufer, und sie hörte das Rasseln einer Kette.

 

»Können Sie die Umrisse des Bootes sehen? Ich habe keine Taschenlaterne, und es wäre auch nicht gut, wenn wir jetzt Licht machten.«

 

Es war stockfinster unter den Büschen, aber sie tastete sich vorwärts, bis sie die Spitze des Bootes berührte. Vorsichtig stieg sie ein.

 

»Gehen Sie nach hinten«, flüsterte er ihr zu, und sie gehorchte.

 

Das Boot schaukelte leicht, dann bewegte es sich.

 

»Können Sie ein Ruder gebrauchen? Neben Ihrem Sitz liegt eins.«

 

Sie nickte, fand es und senkte es sofort ins Wasser. In wenigen Sekunden waren sie in der Mitte des Stromes.

 

»Flußabwärts«, sagte er ganz leise. »Und möglichst wenig Geräusch.«

 

Zu ihrer Rechten sah sie die dunklen Umrisse des Hauses. Eifrig ruderte sie und gab sich die größte Mühe, das Holz so lautlos als möglich zu bewegen. Eine Strecke lang sahen sie weder Häuser noch Boote am Ufer.

 

Ein kleines Motorboot fuhr den Strom hinunter, und sie kamen gerade noch zu rechter Zeit, um in die Schleuse einzufahren. Crayley sprach erst wieder, als sie sie verlassen hatten und nach Marlow zu ruderten.

 

»Gefahr besteht immer noch«, sagte er. »Wenn sie uns vermissen, verfolgen sie uns mit dem Motorboot. Es liegt in der Nähe der Temple-Schleuse –«

 

Im gleichen Augenblick schoß ein langes, weißes Boot vom Ufer zu ihrer rechten Seite auf das Wasser hinaus.

 

»Rudern Sie! Nach dem Ufer zu … wir müssen laufen!«

 

Das weiße Boot kam aber mit ungeheurer Geschwindigkeit näher und erreichte sie, als sie noch fünf Meter vom Land entfernt waren. Jemand lehnte sich heraus und packte Nora am Arm, so daß sie laut aufschrie. Eine Sekunde später wurde sie trotz ihres Widerstrebens in das andere Fahrzeug gezogen. Ihre Füße schleiften durch das Wasser, und sie kämpfte verzweifelt, aber sie konnte gegen den starken Mann, der sie hielt, nichts ausrichten. In ihrer höchsten Not erinnerte sie sich an einen Jiu-Jitsugriff und schlug den Angreifer mit der flachen Hand unter das Kinn. Sein Kopf wurde nach hinten gestoßen, und er ließ sie einen Augenblick los. Sie fiel ins Wasser, tauchte unter dem Boot durch und schwamm zur Mitte des Stromes.

 

Als sie wieder an die Oberfläche kam, sah sie den Schein einer elektrischen Lampe, aber sie bemerkte auch die roten und grünen Lichter eines Fahrzeugs, das von Marlow heraufkam. Ein Motorboot! Mit lauter Stimme schrie sie um Hilfe, und als sich das Boot der Verbrecher ihr wieder näherte, schrie sie aufs neue. Sie tauchte und kam an der anderen Seite des Fahrzeugs wieder an die Oberfläche. Das weiße Boot machte eine Wendung, aber jetzt waren auch das grüne und rote Licht in unmittelbarer Nähe. Sie hörte die Rufe eines Mannes und sah den Lichtstrahl, den der Scheinwerfer des großen Motorbootes aussandte. Ein Schuß fiel – dann noch einer – sie hörte das Pfeifen der Kugeln.

 

Ein Geschoß schlug dicht bei ihr im Wasser ein, und der Gischt spritzte ihr ins Gesicht.

 

Sie befand sich jetzt im Kegel des Scheinwerfers, und eine Hand packte ihren Arm.

 

Mit einem Schrei suchte sie sich loszumachen, aber dann schaute sie auf und blickte in das Gesicht des Wetters.

 

Kapitel 16

 

16

 

Als Long wieder in seinem Büro in Scotland Yard saß, erhielt er von einem Beamten Nachrichten, die ihn in Erstaunen setzten. Der Mann war den ganzen Morgen in Somerset House gewesen und hatte die Heiratsregister durchgesehen. Nachdem er Bericht erstattet hatte, wurde er zu weiteren Nachforschungen ausgeschickt.

 

Der Wetter ging später zu seiner Wohnung nach der James Street, wo er seinen Koffer gepackt vorfand. Er telephonierte nach Marlow und erfuhr, daß Monkford in Begleitung des Detektivsergeanten Rouch bereits abgereist war.

 

Um neun Uhr abends traf Long selbst in Heartsease ein. Er übergab seinen Wagen dem Garagenmeister und trat in die große, altertümliche Halle des Hotels. Obgleich die Golfspiele noch nicht begonnen hatten, war das Haus bereits ziemlich besetzt.

 

Monkford hatte schon zu Abend gegessen und war in verhältnismäßig guter Stimmung. Er begrüßte Long und unterhielt sich eine Weile mit ihm.

 

»Ist Miß Revelstoke eigentlich sehr reich?« fragte der Wetter im Lauf des Gesprächs.

 

»Ja.« Monkford gab nur widerwillig Antwort, denn Bankiers lieben es nicht, über die Finanzlage ihrer Kunden zu sprechen. »Sie ist verhältnismäßig wohlhabend. Ich kann sogar sagen, daß sie reich ist. Sie lebt sehr einfach, aber sie hat ein großes Einkommen. Ihr Depot wurde übrigens früher einmal Ihrem Vater angeboten, aber aus irgendwelchen Gründen lehnte er es ab. Damals hatte sie fast dreiviertel Millionen auf der Bank.«

 

Das war eine neue Nachricht für Wetter Long. Er wußte, daß sein Vater ein sehr tüchtiger Geschäftsmann war, der die größten Anstrengungen gemacht haben würde, um eine so gute Kundin zu bekommen.

 

»Das kann ich eigentlich kaum glauben.«

 

»Ja, es war auch wirklich eigentümlich. Die meisten Bankiers hätten viel darum gegeben, die Verwaltung in die Hand zu bekommen. Und Sir Godley lehnte keineswegs aus Rücksicht auf mich ab. Aber, bitte, sprechen Sie nicht mit ihm darüber.«

 

Mr. Monkford war nervös geworden. Bei dem geringsten Geräusch fuhr er zusammen.

 

»Ob wohl Miß Revelstoke die junge Dame mitbringt?« fragte er, bevor der Wetter ging. »Ein wirklich charmantes Mädchen«, sagte er dann halb zu sich selbst. Aber plötzlich wechselte er das Thema wieder sprunghaft. »Mr. Crayley kommt doch morgen auch? Sie scheinen ihn nicht gerade sehr zu schätzen?«

 

»Das ist schwer, wenn jemand weiter keinen Lebenszweck hat als blöde auszusehen und Rosen zu züchten.«

 

Monkford lachte.

 

»Der alte Crayley ist ein ganz netter Kerl. Wirklich nicht so schlecht, wie Sie ihn machen. Vor allem hat er Mut. Erinnern Sie sich noch, wie er sich damals voll Kampfeifer auf Shelton stürzte?«

 

»Ich möchte nur wissen, was er gerade damals in Colchester gesucht hat.«

 

»Er hat ein Gut in der Gegend. Ich habe ihn schon zweimal dort besucht. Manchmal spielt er nämlich auch den Landwirt, allerdings nur selten.«

 

Long hatte während der Unterhaltung unauffällig die Riegel und Schlösser der Zimmer geprüft. Er ging jetzt in sein eigenes Zimmer und untersuchte auch dort alles genau. Schließlich stieg er noch einmal die Treppe hinunter und nahm Mr. Cravel in der Halle beiseite.

 

»Wäre es nicht möglich, daß Sie mir eins Ihrer Luxusappartements zeigten?« fragte er.

 

»Die sind alle schon bestellt.«

 

»Ich will es auch nicht für jetzt haben. Aber im nächsten Jahr würde ich vielleicht eins mieten.«

 

»Kommen Sie mit nach oben.« Cravel nahm einen Schlüssel vom Pult des Empfangsbüros und führte Mr. Long in den ersten Stock. »Sehen, Sie, hier sind Miß Revelstokes Zimmer. Sie hat das beste Appartement im ganzen Haus.«

 

Mr. Long betrachtete die Räume genau und wanderte von einem Zimmer in das andere.

 

Wahrscheinlich hat Miß Sanders das kleinere der beiden Schlafzimmer, dachte der Wetter für sich.

 

»Mr. Long, ich glaube, es hat Sie nicht nur äußere Neugierde hergetrieben. Sie sind sicher dienstlich hier.«

 

»Im Dienst bin ich immer«, wich Long aus.

 

»Glauben Sie wirklich, daß etwas passieren wird? Das wäre ja schrecklich! Das Hotel würde den Skandal nicht überleben, wenn nächste Woche das Golfturnier gestört würde!«

 

Der Wetter lächelte ironisch.

 

»Das Haus hat schon so manchen Skandal miterlebt, wenn ich mich nicht sehr irre.«

 

»Diese Art von Skandalen meine ich nicht. Dergleichen passiert überall, davor kann man sich nicht schützen. Solche Sachen nimmt auch niemand tragisch. Aber wenn hier jemand ermordet würde, wäre es der Ruin für mich!«

 

»Nicht nur für Sie, vor allem auch für den Mann, der ermordet wird. Aber Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Mr. Cravel. Ich werde alles tun, um einen Mord zu verhindern.«

 

Am nächsten Tag war Sonntag, und als der Wetter gegen Abend durch die Halle schlenderte, entdeckte er ein bekanntes Gesicht. Er ging auf Jack Crayley zu und gab ihm die Hand.

 

»Entsetzliches Wetter«, beklagte sich der lange, hagere Herr und strich seinen Schnurrbart. »Ich hätte entschieden nach Deauville gehen sollen. Golf ist überhaupt ein langweiliges Spiel.«

 

Er lächelte Miß Alice Cravel zu, die gerade durch die Halle zu ihrem Büro ging.

 

»Eine hübsche Dame«, meinte er. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen«; wandte er sich vertraulich an Long, »ich wäre überhaupt nicht hergekommen, wenn sie nicht hier wäre.«

 

»Ist sie mit Ihnen befreundet?«

 

»O ja.« Crayley nahm sein Monokel aus der Tasche, putzte es und klemmte es ins Auge.

 

»Sie ist wirklich eins der charmantesten Mädchen, die ich jemals kennen gelernt habe. Aber ich habe dieses Jahr keine guten Zimmer. Diese unverschämte Miß Revelstoke hat die Räume gemietet, in denen ich gewöhnlich wohne. Das ist mir sehr unangenehm.«

 

»Sie können Miß Revelstoke wohl nicht besonders leiden?«

 

»Ich hasse sie direkt«, entgegnete Mr. Crayley mit unerwarteter Heftigkeit. »Sie ist sehr unliebenswürdig und macht immer bissige Bemerkungen. Aber jetzt will ich einmal nach oben gehen und Monkford begrüßen.«

 

*

 

Am Montag hatte sich das Wetter gebessert, und die Sonne schien vom klaren, blauen Himmel, als Miß Revelstokes schneller, eleganter Wagen vor dem Hotel hielt. Mr. Cravel begrüßte seine Gäste, und Inspektor Long, der auch anwesend war, scherzte mit Nora.

 

Der Dienstag kam heran und brachte den Beginn des großen Turniers. Am Mittwoch erschien Mr. Henry, und der Wetter grinste, als er das Auto des Rechtsanwalts vor dem Eingang sah. Er stand oben an Mr. Monkfords Fenster.

 

»Wonach schauen Sie aus?« fragte der Bankier.

 

»Der Rechtsanwalt Henry kommt eben. Kennen Sie ihn?«

 

»Natürlich. Er ist der Anwalt von Miß Revelstoke.«

 

Nur am ersten Abend hatte er auf seinem Zimmer gespeist. Später nahm er die Mahlzeiten in dem großen Speisesaal ein und hielt sich auch vielfach nach dem Essen in der Hotelhalle auf. Ein Tag verging nach dem anderen, und als sich keine Gefahr zeigte, vergaß er allmählich seine Furcht.

 

Am Mittwochabend sah der Wetter aus dem Fenster und beobachtete, daß der Bankier auf dem Rasen unten spazierenging und sich eifrig mit Henry und Crayley unterhielt. Offenbar sprachen sie über ernste Dinge. Einmal sah Monkford zum Fenster hinauf, aber er winkte Long nicht freundlich zu, wie es sonst seine Gewohnheit war. Kurz darauf gingen sie ins Hotel zurück, und fünf Minuten später hörte der Detektiv die drei im Salon sprechen, der neben Arnolds Schlafzimmer lag. Sie blieben ungefähr eine Viertelstunde dort, dann schloß sich die Tür nach dem Korridor. Long trat ein und fand Mr. Monkford allein. Es mußte etwas geschehen sein, was ihn in größte Aufregung versetzt hatte.

 

»Stimmt etwas nicht?« fragte der Wetter.

 

»Ach, es ist nichts«, erwiderte der Bankier kurz und unliebenswürdig. »Aber nach dem Essen möchte ich einmal mit Ihnen sprechen.«

 

»Warum denn nicht jetzt?«

 

»Es hat Zeit.«

 

»Betrifft es Sie?«

 

»In gewisser Weise, ja. Aber es handelt sich eigentlich mehr um eine mir befreundete junge Dame. Im Augenblick wollen wir uns nicht darüber unterhalten. Aber ich muß sagen, daß ich sehr enttäuscht bin.«

 

Mehr war nicht aus ihm herauszubringen, und der Wetter verließ das Zimmer. Er war höchst erstaunt über Monkfords Verhalten und suchte Crayley auf, den er in der Halle traf.

 

»Was haben Sie denn mit Monkford besprochen, daß er so deprimiert ist?«

 

Crayley sah ihn erstaunt an.

 

»Wir haben uns über eine rein persönliche Sache unterhalten. Wenn er Ihnen nichts erzählt hat, kann ich es auch nicht tun. Ich bin zum Schweigen verpflichtet.«

 

Der Wetter musterte ihn mit einem schnellen Blick. Crayley sah merkwürdig gedrückt aus, und die Haltung des Mannes beunruhigte ihn. Rechtsanwalt Henry kannte er nicht gut genug, um ihn um Aufklärung fragen zu können. Monkfords Benehmen war um so auffallender, als er am Morgen noch in sehr guter Stimmung gewesen war und Long vorgeschlagen hatte, am nächsten Tag den Golfplatz zu besuchen und den Spielen zuzusehen.

 

Gewöhnlich speiste er mit Monkford zusammen, aber als er sich ankleidete, kam der Diener des Bankiers und brachte ihm eine kurze schriftliche Mitteilung.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein, heute abend an einem anderen Tisch zu essen? Ich möchte mich noch mit Crayley und Rechtsanwalt Henry unterhalten.«

 

Der Wetter war über diese Wendung äußerst betroffen. Was hatte Monkford nur gegen ihn? Er suchte nach einem Grund, aber er konnte nichts finden, so sehr er sich auch abmühte.

 

Beim Abendessen beobachtete er Monkford mit den beiden Herren. Am Nebentisch saß Miß Revelstoke mit ihrer Sekretärin, und es fiel ihm plötzlich ein, daß er Nora noch eine Erklärung wegen des Ringes schuldig war.

 

Miß Revelstoke verneigte sich leicht und liebenswürdig, als er sie grüßte, aber in ihren Augen leuchtete es triumphierend auf.

 

Nach dem Essen nahm er den Kaffee in der Hotelhalle. Monkford blieb im Vorbeigehen einen Augenblick bei ihm stehen.

 

»Kommen Sie in fünf Minuten in mein Zimmer, Long.«

 

Die Worte klangen kalt und fast drohend. Der Wetter war sprachlos. Er sah genau nach der Uhr, und als fünf Minuten vergangen waren, erhob er sich und ging zum Lift.

 

Der Salon war leer, als er eintrat, aber er hörte Monkfords Stimme aus seinem eigenen Schlafzimmer. Offenbar war er am Telephon.

 

»Hallo … hallo … wer hat –«

 

Long hörte plötzlich einen Schuß und dann einen Fall. Entsetzt sprang er zur Tür, aber er fand sie verschlossen. Er eilte auf den Korridor hinaus und drückte auf die Klinke der äußeren Tür. Aber sie gab nicht nach.

 

Mit voller Wucht warf er sich dagegen, aber das starke Holz widerstand all seinen Anstrengungen. Als er sich umschaute, bemerkte er Cravel, der gerade die Treppe heraufeilte. Er sah bleich und bestürzt aus.

 

»War das ein Schuß?« fragte er entsetzt.

 

»Öffnen Sie die Tür!«

 

Cravel fühlte mit der Hand in der Tasche.

 

»Ich habe den Schlüssel nicht – warten Sie einen Augenblick.«

 

Er eilte die Treppe hinunter. In einer Minute war er wieder oben und schloß mit zitternden Fingern auf.

 

Joshua Monkford lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Den Telephonhörer hatte er noch in der Hand, und in dem Raum roch es nach Schießpulver.

 

Kapitel 17

 

17

 

Der Bankier war tot; der Wetter sah es auf den ersten Blick.

 

»Holen Sie einen Arzt!« rief er über die Schulter.

 

»Ist er tot?« fragte Mr. Cravel heiser.

 

»Holen Sie einen Arzt!« entgegnete Long wütend. »Tun Sie doch das, was ich Ihnen sage.«

 

Als der Hotelbesitzer gegangen war, schloß Arnold die Tür. Der Schlüssel steckte noch draußen im Schloß. Er ging zu dem Badezimmer und fand auch diese Tür verschlossen, ebenso den Eingang nach dem Salon. Die Fenster waren ebenfalls dicht, denn die Nacht war kühl. Er riß eins der Fenster auf und sah hinaus. Das Glasdach des Speisesaals war hell erleuchtet, und nirgends konnte er etwas von einer Leiter entdecken.

 

Auch der große Kleiderschrank war leer.

 

Die Schußwaffe, mit der Joshua Monkford getötet worden war, mußte sich im Augenblick des Abfeuerns in unmittelbarer Nähe seines Kopfes befunden haben. Arnold nahm Monkfords Schirm und stellte einige oberflächliche Messungen damit an. Es war unmöglich, daß der Mörder aus so naher Entfernung geschossen haben konnte.

 

Die gegenüberliegende Wand grenzte an eine Reihe von Zimmern, die von zwei jungen Damen bewohnt wurden.

 

Der Wetter atmete schwer, denn er stand vor einem Rätsel. Ein Mann war in einem Raum erschossen worden, in den niemand hatte eindringen können.

 

Als er in den Gang hinaustrat, wäre er beinahe mit Cravel zusammengestoßen, der nervös auf ein Dienstmädchen einsprach.

 

»Mr. Long«, sagte er dringend, »in dem Zimmer von Miß Sanders muß etwas passiert sein.«

 

Der Wetter starrte ihn an.

 

»Was denn?« fragte er erregt.

 

»Ich weiß nicht«, antwortete das zitternde Mädchen. »Ich hörte eine Explosion.«

 

Long eilte die Treppe hinunter. Die genaue Lage des Zimmers war ihm bekannt. Er fand es verschlossen, und als er durch das Schlüsselloch schaute, bemerkte er Rauch.

 

»Was wünschen Sie, Mr. Long?«

 

Er drehte sich um und sah Nora Sanders vor sich.

 

»Geben Sie mir, bitte, den Schlüssel«, sagte er heiser.

 

Er riß ihn aus ihrer Hand, öffnete und trat ein. Es hatte tatsächlich eine Art Explosion hier stattgefunden, denn er konnte noch den Pulverdampf riechen. Er entdeckte ein rotglimmendes Papier vor dem Ofen, nahm es auf und steckte es ohne weiteres in ein Glas Wasser, das auf dem Waschtisch stand.

 

»Was ist denn geschehen?« fragte sie bestürzt.

 

»Nichts Besonderes. Wollen Sie hier bleiben?«

 

Im nächsten Augenblick war er schon wieder auf dem Gang und eilte die Treppe hinauf. Er hatte Mr. Cravel in Monkfords Zimmer allein zurückgelassen, und jetzt begegnete er ihm draußen auf dem Gang. Die Tür war verschlossen.

 

»Ich hielt es für gut, abzusperren, bis Sie wiederkamen.«

 

Der Wetter nickte.

 

Der Telephonhörer lag jetzt auf dem Boden in einer Blutlache. Monkford war aus allernächster Nähe durch die Stirne geschossen worden. Der Anblick erinnerte Long an den Ulanen-Harry.

 

Die Detektive, die den Hoteldienst versahen, waren inzwischen auch herbeigekommen. Sie führten Mr. Cravel aus dem Zimmer, verschlossen die Tür und nahmen dann eine sorgfältige Durchsuchung des Zimmers vor.

 

Niemand befand sich in dem Raum, als Long die Tür zuerst geöffnet hatte. Diese Tatsache stand fest. Und es war auch kein Platz in dem Zimmer, wo sich ein Mann hätte verbergen können. Zoll für Zoll klopfte der Wetter das Paneel an den Wänden ab. Die Decke war geputzt. Er nahm das Telephon, wischte es mit einem Handtuch ab und rief die Zentrale an. Miß Cravel meldete sich, und er hörte an dem Klang ihrer Stimme, daß sie die schreckliche Nachricht bereits kannte.

 

»Sind Sie es, Mr. Long?« fragte sie. »Ist es wahr?« Sie sprach leise, wahrscheinlich wollte sie andere Hotelgäste nicht beunruhigen.

 

»Wer hat Mr. Monkford vor fünf Minuten angerufen?«

 

»Niemand – er selbst hat telephoniert. Ich sah, wie seine Nummer am Klappenschrank herunterfiel, und dann hörte ich am Telephon einen Schuß.«

 

Der Wetter legte den Hörer hin, als jemand an der Tür klopfte. Es war ein Arzt, einer von den Gästen, den man eilig herbeigerufen hatte. Er sah auf die Gestalt, die leblos auf dem Boden lag, und schüttelte den Kopf.

 

»Ich kann Ihnen auch weiter nichts sagen, als daß er tot ist.«

 

Er beugte sich nieder, um eine oberflächliche Untersuchung vorzunehmen.

 

»Mitten durch den Kopf geschossen, und zwar aus unmittelbarer Nähe. Sie sehen es an dem Pulverschleim und an der verbrannten Haut. Der Tod ist wohl sofort eingetreten.«

 

Der Wetter nickte.

 

»Die Leute haben augenscheinlich mit einer automatischen Pistole gearbeitet.«

 

»Haben Sie den Täter gefaßt?«

 

»Nein, wir haben ihn nicht, denn es ist niemand hier gewesen. Als wir in das Zimmer kamen, war es vollkommen leer.«

 

»Sollte es sich vielleicht um einen Selbstmord handeln?« fragte der Doktor erstaunt.

 

Der Gedanke war Wetter Long auch schon gekommen, aber er hatte keine Waffe irgendwelcher Art finden können. Mr. Monkford trug zwar sonst zu seinem eigenen Schutz eine Browningpistole bei sich, aber die lag in einer Schublade seines Waschtisches, war vollständig sauber und nicht einmal geladen.

 

Nachdem er seine Untersuchung beendet hatte, suchte er Crayley auf. Er brauchte kein großer Psychologe zu sein, um sofort zu erkennen, daß der Mann bereits über den Vorfall unterrichtet war.

 

»Oh, es ist entsetzlich, einfach entsetzlich. Warum hat sich Monkford nur erschossen? Er war doch heute nachmittag noch in der besten Stimmung, als wir mit ihm sprachen –«

 

»Hören Sie, Crayley, ich muß einige Fragen an Sie richten. Rechtsanwalt Henry und Sie waren heute nachmittag mit Monkford zusammen, und Sie haben ihm etwas erzählt, das ihn sehr deprimiert haben muß –«

 

»Im Gegenteil, er hat mir etwas gesagt, was mich sehr verstimmte«, erklärte Crayley unnötig laut. »Und ich lasse mich von Ihnen nicht irgendwie ausfragen oder belästigen, Long. Ich bin durch den Unglücksfall schon nervös und aufgeregt genug.«

 

»Dann ziehen Sie es wohl vor, daß der Vorsitzende der Mordkommission Sie morgen ausfragt?«

 

Crayley kniff die Augen zusammen.

 

»Was, Sie wollen mir drohen? Und ich habe Ihnen das Leben in Colchester gerettet!«

 

»Seien Sie doch vernünftig, Crayley. Ich bedrohe Sie durchaus nicht. Ich stelle nur ein paar Fragen an Sie, die jeder Polizeibeamte an einen anständigen Mann stellen, und die jeder anständige Mann auch sofort beantworten würde. Worüber haben Sie sich heute abend mit Monkford unterhalten?«

 

Crayley zuckte die Schultern.

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Fragen Sie doch Henry. Es betraf ihn mehr als mich. Außerdem müßte ich erst mit meinem Rechtsanwalt sprechen, bevor ich irgendeine Äußerung tue nach dieser entsetzlichen Tragödie.«

 

Long suchte den Rechtsanwalt, erfuhr aber, daß er das Hotel sofort nach dem Abendessen verlassen hatte und bereits auf dem Wege nach London sein mußte.

 

Kapitel 18

 

18

 

Miß Revelstoke teilte Nora die schreckliche Neuigkeit mit, und das junge Mädchen war starr vor Schrecken.

 

»Aber das ist doch nicht möglich! Hat er denn –«

 

»Ich weiß es nicht, und der Doktor nimmt an, daß es Selbstmord ist. Aber warum der arme Monkford so etwas tun sollte, kann ich mir wahrhaftig nicht denken.« Sie war ungewöhnlich erregt und ging nervös im Zimmer auf und ab. »Schon seit einiger Zeit wurde er mit dem Tode bedroht, wie mir Crayley erzählte, aber ich habe das natürlich nicht geglaubt. Deswegen scheint auch der Detektiv im Hotel anwesend zu sein – Ihr Mr. Long. Wirklich ein guter Detektiv, das muß ich sagen!«

 

»Sie meinten doch vorhin, daß es Selbstmord wäre, Miß Revelstoke –«

 

»Nein, es war nicht Selbstmord. Simpkins sagt, daß man keine Waffe gefunden hat.«

 

»Aber wer soll ihn denn erschossen haben?«

 

»Fragen Sie doch nicht so einfältig, mein Kind«, erwiderte die alte Dame unwillig. »Er ist tot, und das genügt. Hoffentlich hat es nichts mit seiner Bank zu tun. Das wäre entsetzlich. Was ich Ihnen noch von Mr. Long sagen wollte – er scheint gerade keinen guten Ruf in Scotland Yard zu besitzen, soviel ich von Henry gehört habe, und diese Geschichte bricht ihm wahrscheinlich das Genick.«

 

Ihre Stimme klang haßerfüllt, und Nora sah die Frau betroffen an.

 

»Können Sie ihn nicht leiden?«

 

»Natürlich wird er der Bande des Schreckens wieder die Schuld geben. Diese Geschichte hat er doch nur erfunden, um seine vielen Fehlschläge zu decken. Ich wüßte nicht, warum ich ihn gern haben sollte. Nora, jede Frau hat irgendeinen Punkt in ihrer Vergangenheit, den sie totgeschwiegen wissen will. Durch einen Zufall hat Ihr Mr. Long eine alte Torheit von mir herausgebracht. Ich glaubte, die Sache wäre längst vergessen und begraben. Um was es sich handelt, möchte ich Ihnen nicht sagen. Sie würden sich dabei wahrscheinlich nur langweilen und mich für verrückt halten. Die Geschichte passierte in Kopenhagen, als ich noch ein ganz junges Mädchen war –« Sie atmete schwer. »Damit will ich es bewenden lassen. Nein, Mr. Long besitzt meine Sympathie keineswegs.«

 

Das Mädchen schwieg. Unter diesen Umständen wäre es töricht gewesen, einen Mann zu verteidigen, der ihrer Meinung nach nur seine Pflicht getan hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Arnold Long sich etwas hätte zuschulden kommen lassen können.

 

»Ich habe gehört, daß in Ihrem Zimmer eine Explosion gewesen ist?« fragte Miß Revelstoke plötzlich.

 

Nora berichtete kurz, was sich ereignet hatte.

 

»Ich wußte von nichts, bis ich sah, daß Mr. Long meine Tür öffnen wollte. Eins der Mädchen sagte mir, sie hätte gehört, daß drei oder vier Schüsse gefallen wären. Als wir in das Zimmer kamen, fanden wir etwas Rauchendes vor dem Kamin. Es muß ein Stück Papier gewesen sein.«

 

»Was ist daraus geworden?«

 

Nora erzählte es ihr. Die Sache schien aber die ältere Dame kaum aufzuregen, denn sie erwähnte die Geschichte nicht weiter.

 

»Cravel ist wahrscheinlich ruiniert. Wenigstens ist diese Saison vollkommen verdorben. Nur die versessensten Golfspieler werden bleiben. Der Rest der Gäste reist wohl morgen ab. Einige sind schon fort. Übrigens sah ich Mr. Long eben in der Halle. Er fragte mich, ob er heraufkommen könnte, um mit Ihnen zu sprechen. Haben Sie etwas dagegen?«

 

Nora schüttelte den Kopf.

 

»Ich kann mir nicht denken, was Sie ihm sagen könnten«, erklärte Miß Revelstoke. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie mit ihm allein lasse? Ich kann seine Gegenwart nicht vertragen.«

 

Kurz darauf erschien der Wetter. Er sah sehr müde und abgespannt aus, und Nora hatte großes Mitleid mit ihm.

 

Miß Revelstoke blieb im Gegensatz zu ihren eben geäußerten Worten ruhig im Zimmer.

 

»Mr. Long, haben Sie irgendeine Entdeckung gemacht?« fragte sie ihn verbindlich.

 

»Nein. Ich weiß nur, daß Monkford ermordet worden ist.«

 

»Aber wie ist denn das möglich? Der Hoteldirektor erklärte mir, daß sich niemand in dem Zimmer befand, als Sie hineingingen. Sie waren doch allein in der Nähe, als Monkford erschossen wurde. Stimmt das nicht?«

 

Der Wetter warf ihr einen schnellen Blick zu. »So? Mir ist das noch nicht aufgefallen«, erwiderte er ironisch.

 

»Aber andere werden es sicher bemerken. Mr. Cravel sagte mir, daß er im ersten Stock war, als er den Schuß hörte. Er eilte sofort hinauf und fand Sie an der Tür. Offenbar machten Sie den Versuch, in das Zimmer zu kommen. Ich möchte nur wissen, warum die Tür verschlossen war.«

 

»Ich habe mich auch darüber gewundert. Aber es bleibt eben eine Tatsache, daß sie verschlossen war.«

 

Miß Revelstoke zuckte die Schultern und lächelte sarkastisch.

 

»Offenbar war kein Schlüssel da. Mr. Cravel meinte, daß die Tür nicht von innen verschlossen sein konnte, sonst hätte er sie doch nicht mit seinem Paßschlüssel öffnen können. Aber vielleicht haben Sie den Schlüssel abgezogen?«

 

»Die Möglichkeit würde allerdings bestehen«, entgegnete der Detektiv eisig. »Aber dem widerspricht die Tatsache, daß der Schlüssel in Monkfords Tasche gefunden wurde.«

 

Miß Revelstoke runzelte die Stirne.

 

»Cravel hat mir aber doch gesagt, daß der Schlüssel unten im Empfangsbüro hing, und daß er auch jetzt noch dort hängt! Wenn Sie einen Schlüssel in Monkfords Tasche gefunden haben, so war das ein Duplikat, von dem Cravel nichts wußte.«

 

Wetter Long blickte rasch auf, und ein Lächeln spielte plötzlich um seinen Mund.

 

»Ach, so ist es!«

 

Sein Gesichtsausdruck hatte sich vollkommen verändert, und seine Augen glänzten.

 

»Also so verhielt sich die Sache! Natürlich! Daß ich das nicht vorher eingesehen habe!«

 

Sein verwandeltes Wesen machte Eindruck auf Miß Revelstoke. Ihr Gesicht wurde lang und länger, und ihre Züge verdüsterten sich.

 

»Was meinen Sie denn?« fragte sie schließlich.

 

»Sie haben mir zu einer teilweisen Lösung dieses Geheimnisses verholfen. Ich will Ihnen ein Geständnis machen. Ich log absichtlich, als ich Ihnen vorhin sagte, daß ich den Schlüssel in der Tasche des Toten gefunden hätte. Das war keineswegs der Fall. Aber solche Lügen sind für uns Kriegslisten, und sie reizen gewisse Leute auf, unsere Behauptungen zu widerlegen.«

 

Miß Revelstoke sagte nichts darauf, und er wandte sich an Nora.

 

»Ich wollte noch viele Fragen an Sie richten wegen der Explosion in Ihrem Zimmer. Aber das ist jetzt nicht mehr nötig, weil ich die Zusammenhänge einigermaßen durchschaue. Nur eins muß ich noch herausbringen, und zwar, wie der Täter nach dem Mord das Zimmer verlassen konnte.«

 

»Das scheint mir allerdings die wichtigste Frage zu sein«, entgegnete Miß Revelstoke mit einem bissigen Lächeln.

 

»Ja und nein. Vor allem möchte ich auch noch klären, warum Mr. Henry, dieser kluge Rechtsanwalt, um Viertel vor neun bei der Polizeistation in Staines vorgesprochen und den Verlust einer Armbanduhr gemeldet hat, die er in seinem Zimmer liegen ließ.«

 

Miß Revelstoke sah ihn mit großen Augen an, und sie lächelte nicht mehr.

 

»Sie sprechen direkt geheimnisvoll, Mr. Long –«

 

»Und noch geheimnisvoller ist es, daß Henry gerade in dem Augenblick auf die Polizeistation kam, in dem Monkford erschossen wurde. Ich habe noch niemals von einem besseren Alibi gehört.«

 

Kapitel 19

 

19

 

Miß Revelstoke hatte nicht übertrieben, als sie behauptete, daß die meisten Gäste abreisen würden. Arnold Long, der von einem kurzen Besuch der Hauptstadt nach Heartsease zurückkehrte, fand nur noch ein halb Dutzend Leute in dem großen Speisesaal.

 

Auf Cravels dringende Vorstellungen hin waren bereits drei Zimmerleute damit beschäftigt, das Paneel von den Wänden des Zimmers zu reißen, in dem das Verbrechen begangen worden war. Sergeant Rouch beaufsichtigte die Leute.

 

Der Wetter ging nach oben, um sich von dem Fortschritt der Arbeit zu überzeugen. Die Wände waren schon bis auf das Mauerwerk bloßgelegt, und ein Teil des Fußbodens war aufgerissen. Long brauchte kein Bausachverständiger zu sein, um zu sehen, daß sich niemand in dem Zimmer hatte verbergen können.

 

Sergeant Rouch war ein untersetzter Mann von mittleren Jahren mit blonden Haaren und blauen Augen, der sich durch großen Optimismus auszeichnete. Er glaubte mit Bestimmtheit daran, daß sich auch die kompliziertesten Fälle von selbst lösen müßten.

 

Der Wetter nahm ein beschmutztes und verbranntes Papier aus der Tasche, das er in Noras Zimmer aufgelesen hatte.

 

»Was ist das?« fragte Rouch neugierig.

 

»Die Überbleibsel eines Crackers – Sie können ein ganzes Paket für einen Schilling kaufen.«

 

»Was – Feuerwerk?« fragte der Sergeant überrascht.

 

»Ja. Es wurde durch ein offenes Fenster in Miß Sanders‘ Zimmer geworfen und hatte natürlich nur den Zweck, mich im geeigneten Augenblick aus Monkfords Zimmer zu entfernen. Ich ließ mich tatsächlich hinters Licht führen, und in meiner Abwesenheit geschah etwas Entscheidendes an dem Tatort.«

 

»Ja, der Mörder ist entkommen«, meinte Rouch selbstzufrieden.

 

»Der Mörder brauchte gar nicht zu entkommen, weil er überhaupt nicht zugegen war!«

 

»Aber wie wurde der Mann denn getötet?« fragte Rouch triumphierend. »Ein Mann wurde in einem vollständig abgeschlossenen Zimmer ermordet. Nur Sie waren in der Nähe –«

 

»So, haben Sie sich diese Theorie auch schon zu eigen gemacht?« fragte der Wetter lachend. »Setzen Sie sich einmal hin, Rouch. Wer hat Ihnen denn die Geschichte beigebracht, daß nur ich in der Nähe war?«

 

»Ich –« Sergeant Rouch fühlte sich gerade nicht sehr wohl. Er wischte sich den Schweiß von der Stirne und zuckte die Schultern. »Ich wollte nur sagen –« begann er.

 

»Wo haben Sie diesen Unsinn her? Ihnen selbst ist doch niemals ein solcher Gedanke gekommen? Also, wer hat Ihnen das erzählt?«

 

»Mr. Cravel denkt es. Er sagte, es war doch merkwürdig, daß Sie der einzige in der Nähe waren, als der Schuß fiel.«

 

»Bringen Sie Mr. Cravel her. Ich muß einmal ein ernstes Wort mit ihm reden.«

 

Gleich darauf erschien der Sergeant mit dem Hotelbesitzer. Der Mann hatte sich anscheinend schon mit dem unvermeidlichen Verlust abgefunden, der ihm durch die Tragödie entstanden war. Ja, er lächelte sogar, als er sich in dem Zimmer umsah.

 

»Nun, Mr. Long, haben Sie geheime Falltüren oder Hohlräume entdeckt?«

 

Der Wetter antwortete darauf nicht.

 

»Sie entsinnen sich, Mr. Cravel, daß ich an der Tür stand und versuchte, sie zu öffnen, als Sie nach oben kamen?«

 

»Sie nehmen doch nicht etwa ernst, was ich zu Rouch gesagt habe? Ich machte nur eine Bemerkung, daß Sie, soweit wir wissen, allein in der Nähe waren, als Monkford ermordet wurde. Sie glauben doch nicht, daß ich behaupten wollte –«

 

»Es kommt gar nicht darauf an, was Sie behaupten wollten. Sie sollen nur meine Fragen klar und deutlich beantworten. Erinnern Sie sich daran, daß ich mich sofort an Sie wandte und Sie nach dem Schlüssel für die Tür fragte?«

 

Cravel nickte.

 

»Und Sie besinnen sich auch darauf, daß Sie nach unten gingen und mit dem Paßschlüssel zurückkehrten?«

 

»Ja.«

 

»Wer hat Ihnen den gegeben?«

 

»Der Flurkellner.«

 

»Holen Sie den Mann«, sagte der Wetter zu Rouch und schwieg, bis der Auftrag ausgeführt war.

 

»Haben Sie einen Paßschlüssel für diesen Stock?« fragte Long.

 

Der Mann warf einen schnellen Blick auf Mr. Cravel.

 

»Ja.«

 

»Zeigen Sie ihn.«

 

Widerwillig zog der Kellner den Schlüssel aus der Tasche und reichte ihn dem Detektiv, der ihn in das Schloß steckte und umzudrehen versuchte.

 

»Das ist nicht der Paßschlüssel zu diesem Stockwerk.«

 

Der Mann antwortete nichts, sondern sah wieder verstohlen zu seinem Chef hinüber. Long bemerkte es.

 

»Wer hat den richtigen Paßschlüssel?«

 

Der Kellner bewegte sich unruhig.

 

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich das Zimmermädchen.«

 

»Rufen Sie sie«, wandte sich der Wetter wieder an Rouch und entließ den Kellner mit einem Kopfnicken.

 

»Worauf wollen Sie denn hinaus?« fragte Cravel, als die beiden allein waren.

 

»Ich will es Ihnen im Vertrauen mitteilen«, entgegnete Long ruhig. »Als Monkford in sein Zimmer ging, nachdem er mich vorher aufgefordert hatte, ihm zu folgen, hat er sich doch selbstverständlich nicht eingeschlossen. Warum hätte er das denn tun sollen? Außerdem konnte er es ja auch nicht, da er keinen Schlüssel hatte. Es ist also eine logische Schlußfolgerung, daß jemand anders von draußen oder drinnen abgeschlossen haben muß. Ich hörte selbst, daß Mr. Monkford die Telephonzentrale anrief, und ich bin davon überzeugt, daß er sich erkundigen wollte, wer ihn eingeschlossen hätte. Ich hörte deutlich die Worte: ›Wer hat‹, dann fiel der Schuß. Er wollte natürlich sagen: ›Wer hat meine Tür verschlossen?‹«

 

Cravel war kreidebleich geworden.

 

»Ich bin der Ansicht, daß Sie die Tür zugeschlossen haben, und daß Sie den Paßschlüssel dieses Stockwerks in der Tasche hatten. Sie sind nur nach unten geeilt, um diese Tatsache vor mir zu verbergen.«

 

In diesem Augenblick kam Rouch zurück und meldete, daß das Zimmermädchen, das an dem Mordtage im zweiten Stock Dienst tat, auf Urlaub sei.

 

»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte der Wetter langsam.

 

»Zum Teufel, worauf wollen Sie denn hinaus?« Mr. Cravel war wütend, aber er fürchtete sich auch. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß ich in Ihrer Anwesenheit die Tür aufgeschlossen und Monkford erschossen habe?«

 

»Nein, ich bin der Ansicht, daß Sie die Tür verschlossen haben, bevor er tot war. Sie wußten nämlich, was passieren würde. Was haben Sie dazu zu sagen, Cravel?«

 

»Das ist eine verdammte Lüge«, brauste der Direktor auf. »Ich bin überhaupt nicht in die Nähe der Tür gekommen. Warum sollte ich sie denn verschließen? Sie können den Fall nicht lösen, Long, und deshalb erfinden Sie die unglaublichsten Theorien, um Ihre Niederlage zu bemänteln.«

 

Der Wetter trat ganz dicht an ihn heran.

 

»Ich weiß genug, um Sie an den Galgen zu bringen, Cravel! Auf jeden Fall könnte ich Sie sofort wegen des Mordes an Monkford verhaften. Aber ich lasse Ihnen noch eine Galgenfrist. Früher oder später werden Sie sich selbst bloßstellen. Wenn Sie nicht selbst Joshua Monkford erschossen haben, so gehören Sie doch zu den Leuten, die seinen Tod planten und vorbereiteten. Wenn sich alle meine Vermutungen bewahrheiten, kommen Sie ebenso an den Galgen wie Shelton.«

 

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Cravels Augen blitzten in tödlichem Haß auf, und er konnte vor Erregung kaum sprechen.

 

»Eine unerhörte Frechheit!« stieß er wild hervor.

 

Der Wetter sprang zur Seite und entging dem Faustschlag, den der Mann gegen ihn richtete. Blitzschnell packte er dann Cravel am Genick und riß ihm den Kopf zurück. Der Direktor verlor das Gleichgewicht und fiel dröhnend zu Boden.

 

»Habe ich Sie endlich?« sagte der Wetter und lachte triumphierend. »Das ist wohl der wunde Punkt, den man nicht berühren darf? Ihr Wutanfall hat mich ein ganzes Stück weitergebracht!«

 

Cravel erhob sich langsam. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Augen schienen tiefer in den Höhlen zu liegen, aber er hatte sich wieder in der Gewalt.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie angegriffen habe. Sie haben mich aber auch zu sehr gereizt. Kein Mensch kann vertragen, daß man ihn einen Mörder nennt. Ich werde die Sache Scotland Yard melden.«

 

»Schön, gehen Sie nur zu meinem Vorgesetzten. Er wird sich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wie alt sind Sie eigentlich, Cravel?«

 

Der Direktor antwortete nicht, drehte sich um und verließ das Zimmer.

 

»Donnerwetter«,sagte Rouch und sah seinen Chef mit unverhohlener Bewunderung an. »Das wird aber einen bösen Spektakel geben, wenn der die Sache meldet.«

 

»Der meldet nichts – wetten, daß?«