Kapitel 37

 

37

 

Helen hastete den Fahrweg entlang. Sie hatte nur den einen Gedanken, diesem schrecklichen Haus zu entkommen. Das Tor war geschlossen und die Pförtnerloge dunkel. Sie versuchte verzweifelt, die eisernen Riegel zu öffnen, aber sie waren zu schwer. Als sie rückwärts blickte, sah sie in dem Schein des Lichtes, das aus der offenen Halle drang, eine Gestalt, die heimlich auf einem der Grasstreifen entlangschlich, die den Fahrweg einsäumten. Einen Augenblick dachte sie, es sei Gregory Penne. Aber dann erkannte sie die scheußliche Gestalt. Sie war beinahe vor Schrecken gelähmt. Es war Bhag!

 

Sie bewegte sich so ruhig wie nur möglich die Mauer entlang, indem sie von Strauch zu Strauch kroch, aber er hatte sie schon gesehen und kam hinter ihr her. Er bewegte sich langsam und vorsichtig, als ob er nicht ganz sicher wäre, daß er sie verfolgen dürfe. Vielleicht gab es noch ein anderes Tor in der Mauer, dachte sie sich und schlich weiter. Von Zeit zu Zeit blickte sie zurück. Die Pistole hatte sie in der Hand. Angstschweiß trat auf ihre Stirn.

 

Jetzt verließ sie die schützende Wand und ging quer über die Wiese. Im ersten Augenblick glaubte sie, ihrem Verfolger entkommen zu sein, denn Bhag mied freie Plätze, aber jetzt sah sie ihn wieder. Er war auf gleicher Höhe mit ihr und trabte an der Wand entlang. Aber er eilte sich nicht. Sie hoffte, daß er am Ende die Verfolgung aufgäbe, wenn sie ruhig ihren Weg fortsetzte. Vielleicht war er ihr nur aus Neugierde gefolgt. Aber diese Hoffnung wurde bald zerstört. Sie stieg über einen niedrigen Zaun und kam auf einen Weg, der sie näher und näher zur Mauer brachte. Als sie dies merkte, wandte sie sich plötzlich von dem Weg ab und eilte durch hohes, taufeuchtes Gras. Nach den ersten Schritten war sie schon bis zu den Knien durchnäßt, aber in ihrer Aufregung bemerkte sie es nicht einmal. Bhag hatte die Mauer verlassen und folgte ihr jetzt ins Freie. Sie hätte gern gewußt, ob die Mauer das ganze Grundstück umgab, und war froh, als sie an einen niedrigen Zaun kam. Sie stolperte fast über eine Böschung, die offensichtlich die östliche Grenze des Geländes bildete. Sie lief, so schnell sie konnte, obgleich sie nicht wußte, wohin sie kam. Als sie sich umschaute, merkte sie zu ihrem Schrecken, daß Bhag immer noch hinter ihr war, doch blieb er immer gleich weit von ihr entfernt. In der Ferne sah sie die Lichter eines Hofes. Er schien gar nicht sehr weit abzuliegen, aber in Wirklichkeit waren es mehr als zwei Kilometer. Mit einem Seufzer der Erleichterung bog sie von der Straße ab und lief eine kleine Böschung hinauf, aber als sie die höchste Stelle erreicht hatte, sah sie zu ihrer Enttäuschung, daß die Lichter sehr weit entfernt waren. Sie wandte sich um und entdeckte Bhag. Sie konnte seine grünen Augen in der Dunkelheit funkeln sehen.

 

Wo mochte sie eigentlich sein? Sie blickte umher und erkannte die Gegend wieder. Vor ihr links erhob sich die massige Silhouette des alten Griff Tower. Plötzlich gab Bhag seine Rolle als Beobachter auf und sprang mit einem hundeähnlichen Knurren auf sie zu. Sie floh in der Richtung des Turmes. Ihr Herz klopfte so schnell, daß sie jeden Augenblick zusammenzubrechen drohte. Eine Hand faßte ihre Jacke und riß sie ihr herunter. Das brachte sie zur Besinnung. Sie mußte ihrem Feind entgegentreten, wenn sie nicht zugrunde gehen wollte.

 

Mit einer plötzlichen Bewegung wandte sie sich um und hob die Pistole. Sie stand jetzt Bhag Auge in Auge gegenüber. Er brummte und zerrte an der Jacke in seiner Hand. Wieder duckte er sich zum Sprung. Sie drückte ab. Der unerwartet laute Knall erschreckte sie so, daß sie beinahe die Pistole fallen ließ. Mit einem ängstlichen Heulen fiel Bhag hin und griff nach seiner verwundeten Schulter. Aber er richtete sich gleich wieder auf und zog sich langsam zurück. Trotzdem behielt er sie immer noch im Auge.

 

Was sollte sie tun? Der Affe konnte sich im Gebüsch wieder an sie heranschleichen und jeden Augenblick auf sie losgehen. Sie blickte nach dem Turm. Wenn sie nur oben auf die Mauer klettern könnte. Da erinnerte sie sich an die Leiter, die Jack Knebworth zurückgelassen hatte. Aber wahrscheinlich war sie inzwischen schon abgeholt worden. Sie schlich sich heimlich an den Turm und beobachtete dabei immer den Affen. Obgleich er ganz still dasaß, wußte sie doch, daß er ihr mit den Augen folgte. Als sie in der Nähe des Turmes in dem Gras suchte, fühlte sie eine Sprosse der Leiter. Sie konnte sie ohne viel Mühe aufrichten und gegen die Mauer lehnen.

 

Bhag war immer noch da. Der düstere Glanz seiner Augen war schrecklich anzusehen. In großer Hast stieg sie die Leiter hinauf und zog sie in die Höhe. Bhag kroch näher und näher, heran, bis er den Fuß der Mauer erreicht hatte. Dreimal machte er Anstrengungen, die Wand emporzuklettern, aber es gelang ihm nicht. Sie hörte, wie er vor Wut keuchte. Dann ließ sie die Leiter an der Innenseite des Turmes hinunter. Lange Zeit beobachteten die beiden einander. Schließlich entfernte sich Bhag. Sie verfolgte seine häßliche Gestalt mit den Augen, solange sie ihn sehen konnte. Als sie sicher war, daß er nicht wiederkehren würde, beschäftigte sie sich wieder mit der Leiter. Das untere Ende mußte sich in einem der Büsche verfangen haben. Sie zog dauernd, und als sie sich zum drittenmal mühte, die Leiter freizubekommen, gelang es ihr. Aber sie verlor dabei das Gleichgewicht. Einen Augenblick hielt sie sich noch mit der Hand oben an der Mauer fest, dann fiel sie halb gleitend nach unten. Atemlos richtete sie sich wieder auf. Sie hätte über ihr Mißgeschick lachen können, wenn sie sich nicht so entsetzlich einsam in ihrer neuen Umgebung gefühlt hätte. Sie versuchte, die Leiter aufs neue aufzustellen, aber im Dunkeln war es unmöglich, einen festen Standpunkt zu finden. Sie erinnerte sich, daß sie damals kleine Steine und Felsen hier unten gesehen hatte, und begann danach zu suchen. Sie erreichte den Boden der kreisförmigen Senkung und zog einen Zweig beiseite – mit den Füßen fühlte sie nach einem sicheren Halt und versuchte weiterzugehen. Plötzlich kam sie ins Gleiten und fiel durch einen schrägen Schacht in die Tiefe der Erde!

 

Kapitel 38

 

38

 

Immer tiefer rutschte sie hinab. Mit einer Hand versuchte sie, sich in der weichen Erde festzuhalten, mit der anderen hielt sie krampfhaft die kleine Pistole. Einmal stießen ihre Füße heftig gegen einen vorspringenden Felsen, und der Stoß verursachte ihr große Schmerzen. Sie durfte nicht daran denken, wohin sie kam. Nach einer Ewigkeit wurde der Boden endlich waagerecht. Sie überschlug sich noch ein paarmal und blieb an einer Felswand liegen, gegen die sie unsanft anprallte. Der Atem verging ihr fast. Obwohl es ihr endlos lang erschienen war, konnten es doch nur ein paar Sekunden gewesen sein. Ein paar Minuten lag sie bewegungslos, dann erholte sie sich langsam wieder. Mit einem Seufzer erhob sie sich. Sie fühlte an ihren schmerzenden Fuß und bewegte ihn, um zu sehen, ob sie irgend etwas gebrochen hätte. Als sie in die Höhe schaute, sah sie oben einen bleichen Stern und entdeckte die Öffnung, durch die sie heruntergefallen war. Sie machte sofort Anstrengungen, wieder emporzukommen, aber die weiche Erde gab unter ihren Füßen immer wieder nach, und sie sank jedesmal zurück.

 

Sie bemerkte, daß sie einen Schuh verloren hatte, tastete rings umher und fand ihn nach einiger Zeit, halb mit Erde bedeckt. Sie klopfte ihn aus, wischte die Sohle ihres Strumpfes ab, und zog ihn wieder an. Dann setzte sie sich hin und überlegte, was sie tun könnte. Mit Tagesanbruch würde es möglich sein, ihre Umgebung genauer zu durchsuchen. Soviel sie auch nachdachte, sie mußte bis zur Morgendämmerung warten.

 

Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie immer noch die mit Erde beschmutzte Browningpistole in der Hand hielt. Sie lächelte und reinigte sie, so gut sie konnte. Dann sicherte sie die Waffe wieder und steckte sie in ihre Bluse.

 

Das Rätsel von Bhags Erscheinen auf dem Turm war nun gelöst. Er hatte sich damals in der Höhle verborgen!

 

Wie weit mochte sich wohl die Höhle ausdehnen? Sie schaute sich links und rechts um, aber sie konnte nichts sehen. Vorsichtig tastete sie sich weiter, indem sie jeden Fußtritt ihres Weges vorher untersuchte. Ihre Hand berührte einen steinernen Pfeiler, aber sie zog sie schnell zurück, denn er war naß und kalt.

 

Dann machte sie eine wichtige Entdeckung. Sie ging langsam die Wand entlang und fühlte mit ihrer Hand eine Nische. An der glatten Oberfläche erkannte sie, daß sie von Menschen angelegt sein mußte. Als sie weiter hineinfaßte, fühlte sie einen Gegenstand. Ihr Herz schlug vor Erregung. Er kam ihr so vertraut vor, und als sie ihn näher untersuchte, war es wirklich eine Laterne. Sie nahm sie heraus und öffnete das Glastürchen. Eine Kerze steckte darin, und auf dem Boden der Laterne fand sie eine Schachtel Streichhölzer.

 

Es war kein Wunder, wie sie noch erfahren sollte, aber im Augenblick erschien ihr die Möglichkeit, Licht zu machen, wie eine Antwort auf ihre unausgesprochenen Gebete. Sie entzündete mit so zitternder Hand ein Streichholz, daß es wieder ausging. Das zweitemal gelang es ihr, den Docht der Kerze anzustecken. Das Licht war noch ganz neu und leuchtete zuerst nur schwach. Aber als das Wachs zu schmelzen begann und sie die Laterne wieder schloß, tauchte nach und nach ihre Umgebung aus dem Dunkel.

 

Sie war in einer engen Höhle. Von der Decke hingen unzählige Tropfsteingebilde herunter. Am Eingang der Höhle hatte sie nichts von dem herabsickernden Wasser bemerkt, das nun einmal untrennbar mit diesen Formationen verbunden ist. Aber weiter hinten war der Boden der Höhle naß, und ein dünner Wasserstrom rann in einem ausgehöhlten Bett an einer Seite des Weges entlang. Sie schritt vorwärts. Die Höhle erweiterte sich, und sie sah viele Stalaktiten zur Rechten und zur Linken. Sie standen in so regelmäßigen Zwischenräumen und waren von so gleichmäßiger Gestalt, daß es aussah, als ob sie von Menschenhand geformt worden wären. Kleinere Nebenhöhlen taten sich zu beiden Seiten auf. In dem Licht der Laterne glänzten die verborgenen Schätze der Erde. Sie sah feenhafte Grotten aus steinernem Spitzenwerk, und das Licht der Kerze spiegelte sich in kleinen Seen und Teichen. Die Höhle wurde immer breiter, bis sie in einem großen, weiten Saal stand, der mit Eisspitzen verziert zu sein schien. Hier lagen auf dem Boden merkwürdige weiße Stöcke umher, Hunderte in jeder möglichen Größe und Form. Im Glanz der Laterne hatten sie ein weißliches Aussehen. Sie bückte sich und nahm einen davon auf, ließ ihn aber sofort entsetzt wieder fallen. Es waren Menschenknochen!

 

Schwer atmend eilte sie durch die große Höhle, die wieder enger und dem Teil ähnlicher wurde, in den sie hineingefallen war. In einer anderen Nische fand sie eine zweite Laterne mit einem neuen Licht und Streichhölzern. Wer mochte sie hierhergebracht haben? Über die erste Lampe hatte sie nicht weiter nachgedacht, die gehörte für sie in das Reich der Wunder. Aber diese zweite Laterne machte sie doch unruhig. Wer hatte die Lichter in Zwischenräumen in der Höhle verteilt? Es sah fast so aus, als ob jemand seine Flucht hätte vorbereiten wollen. Es mußte also hier unten jemand wohnen. Bei diesem Gedanken atmete sie schneller.

 

Langsam ging sie vorwärts und prüfte wieder den Weg. Die zweite Laterne hängte sie über ihren Arm, ohne sie anzuzünden. An einer Stelle war der Boden der Höhle von fließendem Wasser bedeckt, an einer anderen mußte sie durch einen kleinen unterirdischen Teich waten, wobei ihr das Wasser bis über die Knöchel ging. Dann wandte sich die Höhle mit einer jähen Wendung nach rechts. Von Zeit zu Zeit stand sie still und horchte. Sie hoffte den Klang einer menschlichen Stimme zu hören und fürchtete sich doch wieder bei diesem Gedanken. Die Decke der Höhle senkte sich tiefer. Hier und da sah sie, daß Stalaktiten abgeschlagen waren, um Raum für den Durchgang zu schaffen. Das konnte nur der Geheimnisvolle getan haben, der hier hauste.

 

Sie wehrte sich gegen die schrecklichen Gedanken, die in ihr aufstiegen, und ging weiter. Sie brauchte mehr Kraft und Mut als jemals zuvor in ihrem Leben.

 

Der Weg durch die Höhle machte abermals eine scharfe Biegung. Wieder sah sie, daß sich kleine Nischen in den Wänden öffneten. Plötzlich hielt sie an, also sie in eine der Grotten hineinleuchtete. Zu Tode erschrocken stand sie still. Zwei Menschen lagen nebeneinander ausgestreckt – sie unterdrückte den Schrei, der sich auf ihre Lippen drängte, und preßte die Hände auf den Mund. Sie schloß die Augen, um das Gräßliche nicht zu sehen, Die beiden Toten hatten keine Köpfe mehr! Sie lagen in flachen Löchern, und das Wasser tropfte unaufhörlich auf sie nieder.

 

Lange Zeit konnte sie sich nicht bewegen oder die Augen öffnen, aber schließlich siegte ihr Wille, und sie hielt mit eisiger Ruhe den Anblick aus, der sie bis ins Innerste erstarren ließ. Auch in der nächsten Grotte lag eine Leiche. Sie war dem Zusammenbruch nahe, als sie einen dünnen Lichtschein in der düsteren Ferne auftauchen sah. Er bewegte sich und schwankte. Dann hörte sie ein schauerliches Lachen.

 

Sofort löschte sie ihre Laterne aus. Sie lehnte sich eng an die Wand der Höhle. Alle die greulichen Spuren um sie herum versanken, sie war sich nur der Gefahr bewußt, die ihr jetzt drohte. Plötzlich entzündete sich ein größeres Licht, dann noch eins, bis die entfernten Höhlenräume taghell erleuchtet waren. Als sie noch starr vor Entsetzen stand, drang ein Schrei durch die Stille.

 

»Hilfe, um Himmels willen, Hilfe! Brixan, ich will noch nicht sterben!«

 

Sie erkannte die krächzende Stimme Sir Gregory Pennes.

 

Kapitel 39

 

39

 

Es war dieselbe schrille Stimme, die auch Mike in Griff Towers hörte. Er rannte quer durch den Park zum hinteren Tor, wo ein Wagen mit abgeblendetem Licht stand. Daneben wartete ein erschrockener brauner Diener.

 

»Wo ist dein Herr?« fragte Mike schnell.

 

Der Mann zeigte in die Richtung der Felder.

 

»Er ging diesen Weg«, sagte er mit zitternder Stimme. »In der großen Maschine war ein böser« Geist, sie bewegte sich nicht, als er anfahren wollte.«

 

Mike sah, was geschehen war. Im letzten Moment hatte der Motor versagt. Das war eins von den Mißgeschicken, die sowohl den Gerechten wie den Ungerechten ereilen konnten. Penne war zu Fuß geflohen.

 

»Welchen Weg ging er?«

 

Wieder zeigte der Mann in dieselbe Richtung.

 

»Er lief«, sagte er schlicht.

 

Mike wandte sich an den Detektiv, der ihn begleitete.

 

»Bleiben Sie hier, es ist möglich, daß er zurückkehrt. Nehmen Sie ihn sofort fest, und legen Sie ihn in Eisen. Wahrscheinlich hat er Waffen bei sich, vielleicht will er auch Selbstmord begehen.«

 

Er war nun schon so oft über diese Felder gegangen, daß er den Weg mit verbundenen Augen gefunden hätte. Er lief, so schnell er konnte, bis er auf die Chaussee kam. Aber nirgends konnte er Sir Gregory sehen. In fünfzig Meter Entfernung sah er Licht in einem Fenster des Obergeschosses von Mr. Longvales Haus. Er wandte sich dorthin.

 

Noch hatte er‘ nichts von dem Baron gesehen. Schnell ging er durch das Gartentor und klopfte an die Haustür, die gleich darauf von dem alten Herrn selbst geöffnet wurde. Er trug einen seidenen Hausmantel, der durch einen Gürtel zusammengehalten wurde. Ein Bild behaglichen Friedens, dachte Mike für sich.

 

»Wer ist da?« fragte Mr. Sampson Longvale, indem er in die Dunkelheit hinausschaute. »Beim Himmel, das ist Mr. Brixan, der Diener des Gesetzes. Kommen Sie herein!«

 

Er öffnete die Tür weit, und Mike ging in das Wohnzimmer, in dem die beiden unvermeidlichen Leuchter brannten. Heute wurde der Raum außerdem noch durch eine kleine silberne Petroleumlampe erhellt.

 

»Ist in Griff Towers ein Unglück passiert?« fragte Mr. Longvale ängstlich.

 

»Ja«, sagte Mike vorsichtig. »Haben Sie irgendwo Sir Gregory Penne gesehen?«

 

Der alte Herr schüttelte den Kopf. »Ich fand die Nacht zu kühl, um meinen gewöhnlichen Spaziergang im Garten zu machen«, sagte er. »So habe ich nichts von den aufregenden Ereignissen bemerkt, die sich anscheinend unvermeidlicherweise immer in dieser finsteren Zeit zutragen. Ist Sir Gregory etwas zugestoßen?«

 

»Ich hoffe im Interesse aller, daß ihm nichts zugestoßen ist«, sagte Mike ruhig, ging durch den Raum, stützte den Ellenbogen auf den Kamin und schaute auf das Gemälde, das darüber hing.

 

»Bewundern Sie meinen Verwandten?« fragte Mr. Longvale.

 

»Ich will nicht gerade sagen, daß ich ihn bewundere, aber er war sicher ein schöner, alter Herr.«

 

Mr. Longvale neigte den Kopf.

 

»Haben Sie seine Memoiren gelesen?«

 

Mike nickte, und Longvale schien durchaus nicht überrascht zu sein.

 

»Ja, ich habe etwas über den Inhalt seiner Memoiren gelesen«, sagte Mike ruhig. »Aber neuerdings hält man sie nicht mehr für authentisch.«

 

Mr. Longvale zuckte die Achseln.

 

»Ich persönlich glaube jedes Wort«, sagte er.

 

»Mein Onkel war ein Mann von hervorragender Bildung.«

 

Es war erstaunlich, daß der Detektiv, der eben Hals über Kopf von Griff Towers fortgestürzt war, um womöglich einen Mörder zu fassen, so ruhig dastand und sich über Memoiren unterhielt.

 

»Manchmal kommt mir der Gedanke, daß Sie sich zuviel mit Ihrem Onkel beschäftigen, Mr. Longvale«, sagte Mike höflich.

 

Der alte Herr runzelte die Stirn.

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Ich meine, daß das zu einer Versuchung, ja zu einer unheilvollen Manie werden kann. Solche Heldenverehrung bringt manchmal einen Mann dazu, Taten zu begehen, die kein vernünftiger Mensch ausführen würde.«

 

Longvale blickte erstaunt zu ihm hin.

 

»Kann man denn etwas Besseres tun, als die Taten eines großen Mannes nachzuahmen?«

 

»Nein, aber Ihre Urteilskraft ist ganz und gar in Verwirrung geraten. Sie legen ihm Tugenden bei, die in Wirklichkeit keine sind. Man kann ja schließlich auch Pflichterfüllung für eine Tugend halten – und man kann auch das, was schrecklich ist, mit dem Begriff ›groß‹ verwechseln.«

 

Mike drehte sich um, legte seine Hände flach auf die Tischplatte und sah den alten Herrn an, der seinen Blick frei erwiderte.

 

»Ich möchte, daß Sie heute abend mit mir nach Chichester kommen.« »Warum?«

 

»Weil ich davon überzeugt bin, daß Sie ein kranker Mann sind, der der Pflege bedarf.«

 

Longvale lachte und richtete sich kerzengerade auf.

 

»Krank? Ich war niemals gesünder in meinem Leben, niemals mehr auf der Höhe und niemals stärker.«

 

Und er sah auch wirklich so aus, wie er sagte. Seine Größe, seine breiten Schultern, seine gesunde Gesichtsfarbe, alles sprach für sein körperliches Wohlergehen.

 

Es entstand eine lange Pause.

 

»Wo ist Gregory Penne?« fragte Mike, indem er jedes Wort betonte.

 

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Der alte Mann sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wir sprachen soeben über meinen Großonkel – Sie kennen ihn natürlich?« fragte er.

 

»Ich erkannte dieses Bild auf den ersten Blick wieder. Ich dachte, ich hätte mein Wissen verraten, aber anscheinend habe ich das doch nicht getan. Ihr Großonkel« – Mike sprach jedes Wort mit Bedacht aus – »war Samson, mit anderem Namen Longvale, der oberste Scharfrichter von Frankreich!«

 

Ein tiefes Schweigen folgte diesen Worten.

 

»Er hat verschiedene Heldentaten ausgeführt … Er hängte drei Mann an einem Galgen von sechzig Fuß Höhe, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt – und enthauptete Ludwig XVI. von Frankreich und seine Gemahlin Marie Antoinette.«

 

Die Augen des alten Herrn glänzten vor Genugtuung und Stolz. Er schien noch mehr zu wachsen.

 

»Durch welch phantastische Laune des Schicksals Sie dazu getrieben wurden, sich gerade in England niederzulassen und welcher verrückte Einfall Sie dazu brachte, heimlich den Beruf Samsons auszuüben und weit und breit arme, hilflose, verzweifelte Menschen umzubringen, weiß ich nicht.«

 

Mike sprach mit gewöhnlicher Stimme und in ruhigem Unterhaltungston. Longvale antwortete ebenso.

 

»Ist es denn nicht besser«, erwiderte er höflich, »daß ein Mann nicht selbst Hand an sich legt und das unverzeihliche Verbrechen des Selbstmordes begeht? Bin ich nicht ein Wohltäter für die Menschen gewesen, die nicht wagten, sich selbst das Leben zu nehmen?«

 

»Zum Beispiel für Lawley Foß«, sagte Mike, indem er Longvale keinen Augenblick aus den Augen ließ.

 

»Er war ein Verräter, ein ganz gemeiner Erpresser, der glaubte, daß er Dinge, die zufällig zu seiner Kenntnis kamen, dazu gebrauchen könnte, Geld aus anderen herauszuholen.«

 

»Wo ist Gregory Penne?«

 

Der alte Herr lächelte ruhig.

 

»Wollen Sie mir denn nicht glauben – das ist sehr unhöflich von Ihnen –, ich habe Sir Gregory nicht gesehen.«

 

Mike zeigte auf den Kamin, wo der Rest einer Zigarette noch glomm.

 

»Da ist seine Zigarette«, sagte er. »Und hier sind seine schmutzigen Fußspuren auf dem Teppich – dann habe ich einen Schrei gehört … Wo ist er?«

 

Mike fühlte nach seiner schweren Browningpistole in der Tasche. Eine Bewegung Longvales hätte jetzt genügt, daß Mike ihn über den Haufen geschossen hätte. Er stand einem Irrsinnigen der gefährlichsten Art gegenüber. Er hätte keinen Augenblick gezögert, abzudrücken.

 

Aber Longvale zeigte gar keinen Widerstand, aus seiner Stimme sprach die Höflichkeit selbst, und er schien stolz auf seine Verbrechen zu sein, die in seinen Augen Heldentaten waren.

 

»Wenn Sie tatsächlich wünschen, daß ich heute abend nach Chichester gehen soll, dann will ich es tun. Ihrer Meinung nach haben Sie ja recht, ebenso nach der Meinung Ihrer Vorgesetzten. Aber wenn Sie meiner Tätigkeit ein Ziel setzen, fügen Sie der leidenden Menschheit grausamen Schaden zu. Meine gute Absicht, ihr zu dienen, hat mich viele tausend Pfund gekostet. Aber ich bedaure es nicht.«

 

Er nahm eine Flasche aus dem großen Eichenbüfett, das an der Wand stand, wählte mit größter Sorgfalt zwei Gläser aus und füllte sie.

 

»Wir wollen auf unsere gegenseitige gute Gesundheit trinken«, sagte er mit seiner alten Höflichkeit, hob sein Glas an die Lippen und trank es mit demselben Genuß aus, mit dem alte Weinkenner einen guten Jahrgang kosten.

 

»Sie trinken nicht, Mr. Brixan? Jemand anders hat schon getrunken.«

 

Auf dem Büfett stand ein halbleeres Glas, Mike bemerkte es erst jetzt.

 

»Der Wein hat ihm anscheinend nicht geschmeckt.«

 

Mr. Longvale seufzte.

 

»Nur wenig Leute können den Wein richtig schätzen«, sagte er, indem er ein Stäubchen von seinem Rock abstreifte. Er zog ein seidenes Taschentuch aus der Tasche, bückte sich und entfernte elegant den Staub von seinen Schuhen.

 

Mike stand auf einem schmalen Teppich, der vor dem Kamin lag. Er hatte die Hand an der Pistole, seine Nerven waren gespannt. Er wartete nur auf den Moment, in dem Longvale versuchen wollte, etwas gegen ihn zu unternehmen. Wann und woher die Gefahr kommen würde, konnte er nicht ahnen, aber es war höchste Gefahr im Verzug. Er war durch das sanfte Betragen Longvales eher beunruhigt als erleichtert. Eine Gänsehaut überlief ihn.

 

»Sie sehen, mein lieber …«, begann Longvale zu sprechen.

 

Plötzlich, bevor Mike merkte, was geschah, hatte Longvale das Ende des Teppichs, auf dem der Detektiv stand, gefaßt und es mit einem schnellen Ruck zu sich hingezogen. Mike verlor das Gleichgewicht und fiel schwer zu Boden. Sein Kopf schlug gegen die eichene Täfelung, die Pistole glitt über den glatten Fußboden. Wie ein Blitz warf sich der Alte auf ihn. Mike fühlte die Berührung kalten Stahls an seinen Handgelenken.

 

Draußen hörte man Schritte. Longvale erhob sich, zog hastig seinen Hausmantel aus und band ihn um den Kopf des Detektivs – es wurde an der Tür geklopft. Durch einen Blick überzeugte er sich, daß er vor seinem Gefangenen sicher sein konnte, dann löschte er die Lampe und einen der beiden Leuchter. Mit dem anderen ging er auf den Gang. Er war in Hemdsärmeln, und der Beamte von Scotland Yard, der draußen wartete, entschuldigte sich, daß er den alten Herrn gestört hatte.

 

»Haben Sie Mr. Brixan gesehen?«

 

»Mr. Brixan? Ja, er war vor einigen Minuten hier und ging dann nach Chichester weiter.«

 

Mike hörte Stimmen, aber er konnte nicht unterscheiden, was gesagt wurde. Die seidene Hülle um seinen Kopf drohte ihn zu ersticken. Er war nahe daran, ohnmächtig zu werden, als Longvale allein zurückkam, den Hausmantel wieder abwickelte und sich anzog.

 

»Wenn Sie Lärm machen, werde ich Ihre Lippen zusammennähen«, sagte er so ruhig und gutmütig, daß es unmöglich erschien, daß er seine Drohung auch ausführen würde. Aber Mike wußte nur zu gut, daß er nach dem Beispiel seines Großonkels verfuhr und nur das androhte, was jener oft in die Tat umgesetzt hatte.

 

»Es tut mir in vieler Beziehung leid, daß Sie daran glauben müssen«, sagte der alte Herr mit aufrichtigem Bedauern. »Sie sind ein junger Mann, vor dem ich den größten Respekt habe. Das Gesetz ist mir heilig, und ich achte seine Diener besonders hoch.«

 

Er zog eine Schublade im Büfett auf, nahm eine große Serviette heraus, faltete sie sorgfältig und knüpfte sie fest um Mikes Mund. Dann hob er ihn auf und setzte ihn auf einen Stuhl.

 

»Wenn ich noch jung und beweglich wäre, würde ich mir einen Scherz erlauben, den mein Onkel Charles Henry auch fertiggebracht hätte – ich würde nämlich über Nacht Ihren Kopf auf die Spitze des Tores von Scotland Yard aufspießen.«

 

Mike konnte nicht antworten, aber er hatte seine ruhige Selbstüberlegung wiedergewonnen, und obwohl sein Kopf noch heftig schmerzte, waren seine Gedanken wieder klar. Er war gespannt auf die nächsten Ereignisse und vermutete, daß er nicht lange zu warten brauchte.

 

Hier hatte auch Bhag bewußtlos gelegen – Mike ahnte, daß Longvale seine Opfer mit vergiftetem Wein betäubte, mit Butylchlorid, mit dem der Mörder arbeitete, wie er ja wußte.

 

Mike sollte bald erfahren, was nun kommen würde. Der alte Herr öffnete eine Tür des Büfetts und nahm einen großen Stahlhaken heraus, an dessen Ende sich ein Flaschenzug befand. Er langte zur Decke hinauf und hing die Öse des Hakens an einen eisernen Bolzen, der in einen überhängenden Balken eingeschlagen war. Mike hatte ihn schon vorher gesehen und sich überlegt, welchen Zweck er wohl haben mochte. Jetzt lernte er seine Bedeutung kennen. Von der Anrichte holte Longvale ein langes Tau. Das eine Ende befestigte er an der Rolle, das andere legte er geschickt und flink um die Brust Mikes und zog es unter seinen Armen durch. Jetzt bückte sich Longvale und rollte den Teppich auf. Mike sah, daß sich darunter eine Falltür befand. Diese hob er hoch und legte sie um. Ein großes Loch gähnte dem Detektiv entgegen. Er konnte nichts sehen. Nur das Stöhnen eines Menschen drang zu ihm herauf.

 

»Ich denke, wir können das jetzt entbehren«, sagte Longvale und löste die Serviette.

 

Hierauf zog er das Tau an – wie es schien, ohne sich dabei anzustrengen, und Mike schwebte in der Luft. Es war sehr unangenehm für ihn, und er hatte die absurde Vorstellung, daß er lächerlich aussehen mußte. Longvale steckte seine Füße durch die Öffnung und ließ nach und nach das Tau herunter.

 

»Wollen Sie so liebenswürdig sein und mir sagen, wann Sie den Boden berühren?« sagte er. »Ich will dann zu Ihnen hinunterkommen.«

 

Als Mike nach oben sah, bemerkte er, wie das lichte Viereck in der Decke über ihm kleiner und kleiner wurde. Er wußte nicht, wie lange er so in der Luft schwebte und hin und her schaukelte. Er konnte nicht wahrnehmen, daß er sich bewegte, und plötzlich, ehe er sich versah, berührten seine Füße den Boden, und er stieß einen Schrei aus.

 

»Sind Sie gut angekommen?« fragte Mr. Longvale höflich. »Bitte treten Sie ein paar Schritte zur Seite. Ich will jetzt das Tau hinunterwerfen, es könnte Sie sonst verletzen.«

 

Mike keuchte, aber er führte trotzdem die Anweisung aus und hörte gleich darauf, wie das Tau herunterfiel und auf dem Boden aufschlug. Oben wurde die Falltür geschlossen. Neben sich hörte er ein wildes Stöhnen.

 

»Sind Sie das, Penne?«

 

»Wer ist da?« fragte eine furchtsame Stimme. »Sind Sie es, Brixan? Wo sind wir? Was ist hier vorgegangen.«

 

»Haben Sie geschrien, als Sie aus Dower House fortliefen?«

 

»Ja, das tat ich. Ich fühlte, wie dieses tödliche Gift mich betäubte, und rannte hinaus. Aber mehr weiß ich nicht. Wo sind Sie, Brixan? Die Polizei wird uns doch hier befreien?«

 

»Hoffentlich noch lebend!« antwortete Mike wütend.

 

»Wer ist eigentlich dieser Mann? Sind dies die Höhlen? Ich habe von ihnen gehört. Es riecht furchtbar erdig hier. Sehen Sie etwas?«

 

»Ich glaubte eben ein Licht zu sehen«, sagte Mike. »Aber meine Phantasie spiegelt mir wohl etwas vor.« Plötzlich fragte er: »Wo ist Helen Leamington?«

 

»Das mag der Himmel wissen!« Penne zitterte.

 

Mike versuchte seine Handgelenke aus den Fesseln zu lösen, aber selbst wenn ihm das gelungen wäre, konnte er mit seinen Händen allein wenig gegen den alten Mann ausrichten. Er hatte seine Pistole verloren, aber in seiner Hosentasche trug er das lange, haarscharfe Messer, das ihm schon aus manchem Handgemenge herausgeholfen hatte. Es war die einzige unfehlbare Waffe, wenn die Pistole versagte. Aber er wußte, daß er keine Gelegenheit haben würde, dieses Messer zu gebrauchen.

 

Er setzte sich auf den Boden und versuchte ein Kunststück, das er auf einer Bühne in Berlin gesehen hatte – er wollte mit seinen Beinen durch die gefesselten Hände steigen, so daß er sie nach vorn bekam. Aber er bemühte sich umsonst. Dann hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde und Mr. Longvale etwas sagte.

 

»Ich möchte Sie nicht lange warten lassen.« Er trug eine Laterne in seiner Hand, die beim Gehen hin und her schaukelte. Dies schien die Finsternis um sie her nur noch schwärzer zu machen. »Ich liebe es nicht, daß meine Patienten sich erkälten!«

 

Die fernen Wände der Höhle warfen das Echo seines schaurigen Lachens zurück. Er stand still, steckte ein Streichholz an, und gleich darauf brannte eine Petroleumlampe, die auf einem vorspringenden Felsen befestigt war. Er entzündete noch eine andere, dann eine dritte und eine vierte. In dem grellen Licht sah man jeden Gegenstand in der Höhle mit erschreckender Deutlichkeit. Mikes Blick fiel auf ein rotes Gerüst in der Mitte der Höhle, und obgleich er mutig und auf diesen schrecklichen Anblick vorbereitet war, begann er zu zittern.

 

Es war eine Guillotine!

 

Kapitel 35

 

35

 

Für Helen Leamington gab es Augenblicke, in denen sie nicht mehr an ihre Begabung als Filmschauspielerin glaubte. Niemals waren diese Zweifel größer, als wenn sie versuchte, die schriftlichen Anweisungen des Filmmanuskriptes zu studieren. Sie gab Mike die Schuld, um ihn sofort wieder zu entschuldigen. Sie tadelte sich selbst ganz offen, und schließlich gab sie ihre Bemühungen auf, rollte das Manuskript zusammen und legte ein Gummiband darum. Dann steckte sie es unter ihr Kopfkissen und wollte zu Bett gehen. Sie hatte schon Rock und Bluse ausgezogen, als es draußen klopfte.

 

»Von Mr. Knebworth?« fragte sie erstaunt. »So spät abends?«

 

»Ja, Miss Leamington. Er beabsichtigt morgen eine große Änderung vorzunehmen und muß Sie gleich sprechen. Er hat seinen Wagen geschickt. Miss Mendoza soll wieder mitspielen.«

 

»Ach«, seufzte sie etwas enttäuscht.

 

Dann war es also doch nichts mit ihrem Spiel. Sie hatte sich täuschen lassen und war in den letzten Tagen in einem Paradies umhergewandelt.

 

»Ich werde sofort kommen«, sagte sie.

 

Ihre Finger zitterten, sie konnte sich kaum ankleiden. Sie war auf sich selbst böse, daß sie sich so aus der Ruhe bringen ließ. Vielleicht sollte Stella gar nicht ihre alte Rolle weiterspielen. Möglicherweise war eine neue für sie vorgesehen. Es konnte auch sein, daß sie gar nicht in dem Film »Roselle« spielen sollte. Diese und andere Gedanken stürmten auf sie ein. Als sie in den Gang hinaustrat, wurde unten die Tür geöffnet. Plötzlich fiel ihr ein, daß doch Jack Knebworth sicher das Manuskript bei der Unterhaltung brauchen würde. Sie eilte wieder in ihr Zimmer, hatte aber in der Aufregung vergessen, wo das Schriftstück lag. Schließlich lief sie verzweifelt zu ihrer Wirtin.

 

»Ich habe das Manuskript irgendwo hingelegt – würden Sie so gut sein, es Mr. Knebworth zu bringen, wenn Sie es finden? Es ist in einem braunen Umschlag.«Sie beschrieb das Manuskript, so gut sie konnte.

 

Sie erkannte Stella Mendozas Wagen sofort wieder. Das war ja Beweis genug, daß sie sich mit Jack wieder ausgesöhnt hatte.

 

Schnell stieg sie ein, die Tür schloß sich hinter ihr, und sie saß neben dem Fahrer, der absolutes Stillschweigen bewahrte.

 

»Ist Mr. Brixan bei Mr. Knebworth?« fragte sie.

 

Der Mann neben ihr antwortete nicht. Sie dachte, daß er sie nicht verstanden hätte und schwieg.

 

Plötzlich merkte sie, daß er den Wagen in eine Kurve steuerte und in entgegengesetzter Richtung davonfuhr.

 

»Das ist nicht der Weg zu Mr. Knebworth«, sagte sie beunruhigt. »Kennen Sie den Weg nicht?«

 

Der Fahrer antwortete immer noch nicht. Der Wagen sauste mit großer Geschwindigkeit durch eine lange, dunkle Straße und bog auf die Chaussee ab.

 

»Halten Sie sofort«, sagte sie erschreckt, die Hand am Türgriff.

 

Plötzlich wurde ihr Arm weggerissen.

 

»Mein liebes Fräulein, Sie werden sich verletzen und womöglich Ihr schönes Gesicht zerschinden, wenn Sie versuchen, aus dem Wagen zu springen.«

 

»Sir Gregory!« stieß sie hervor.

 

»Machen Sie keinen Unsinn!« sagte Penne. »Sie werden jetzt ein kleines Souper mit mir einnehmen.« Sie konnte deutlich die Erregung in seiner Stimme hören. »Ich habe Sie oft genug eingeladen, und jetzt kommen Sie eben mit oder ohne Ihre Zustimmung zu mir. Stella ist auch da, Sie brauchen sich also gar nicht zu fürchten.«

 

Sie bekämpfte ihre Angst mit aller Kraft, die ihr zu Gebote stand.

 

»Sir Gregory, bringen Sie mich sofort zu meiner Wohnung zurück«, sagte sie. »Das ist ja abscheulich von Ihnen!«

 

Er lachte lauf auf.

 

»Es passiert Ihnen nichts. Niemand will Ihnen etwas tun, und Sie werden sicher und gesund wieder zu Hause abgeliefert. Aber vorher werden Sie mit mir zu Abend essen, mein kleiner Liebling. Und wenn Sie Unsinn machen, renne ich meinen Wagen gegen den nächsten Baum, der uns in den Weg kommt, und dann sind wir beide kaputt!«

 

Er war trunken – nicht nur vom Wein, er war auch vom Gefühl der Macht berauscht. Endlich hatte er Helen in seiner Gewalt und hätte vor nichts mehr zurückgescheut.

 

Ob Stella wirklich da war? Sie konnte es nicht glauben, und doch mochte es wahr sein. Sie griff in ihrer Verzweiflung nach diesem Strohhalm.

 

»Wir sind da«, sagte Gregory laut, als er den Wagen plötzlich vor dem Tor von Griff Towers anhielt. Er sprang heraus. ‚

 

Bevor ihr klar wurde, was geschah, hob er sie mit seinen Armen auf, obgleich sie sich heftig wehrte.

 

»Wenn du jetzt schreist, küsse ich dich«, hörte sie seine heisere Stimme dicht an ihrem Öhr.

 

Sie verhielt sich ganz still.

 

Sofort öffnete sich die Tür. Sie schaute auf den Diener, der schweigend in der Eingangshalle stand, als Gregory sie die breite Treppe hinauftrug. Vergeblich schaute sie sich nach Hilfe um. Plötzlich stellte Penne sie auf die Füße, öffnete eine Tür und schob sie hinein.

 

»Hier ist deine Freundin, Stella«, sagte er. »Lege du mal ein gutes Wort für mich ein und bringe ihr eine andere Meinung über mich bei. In zehn Minuten bin ich wieder hier, und wir werden das schönste Hochzeitsmahl einnehmen, das je abgehalten wurde.«

 

Die Tür wurde zugeschlagen und hinter ihr geschlossen, bevor sie wahrnehmen konnte, daß noch eine andere Frau im Zimmer war. Es war Stella, die bei dem Anblick des bleichen Mädchens heftig erschrak.

 

»Ach, Miss Mendoza«, sagte Helen außer Atem. »Gott sei Dank, daß Sie hier sind!«

 

Kapitel 3

 

3

 

Helen Leamington bewohnte ein gerade nicht sehr geräumiges Zimmer in einem kleinen Haus. Aber manchmal wünschte sie sogar, daß es noch kleiner sei. Sie hätte dann den Mut gefunden, die unbeugsame, starke Frau Watson zu bitten, die Miete herunterzusetzen. Die Statistinnen in Jack Knebworths Filmgesellschaft wurden gut bezahlt, aber sie waren nur mäßig beschäftigt, denn Jack war einer der klugen Direktoren, die sich auf einheimische Milieufilme spezialisierten, für die kein großer Apparat notwendig war.

 

Sie zog sich gerade an, als Mrs. Watson ihr den Frühstückstee brachte.

 

»Draußen spioniert schon den ganzen Morgen ein junger Mann herum«, sagte sie. »Bereits als ich die Milch holte, habe ich ihn gesehen. Er war sehr höflich, aber ich sagte ihm, Sie wären noch nicht aufgestanden.«

 

»Wollte er denn mich aufsuchen?« fragte das Mädchen erstaunt.

 

»Ja, so sagte er«, entgegnete Mrs. Watson ärgerlich. »Ich fragte ihn, ob er von Knebworth käme, aber das verneinte er. Wenn Sie ihn sprechen wollen, können Sie in den Salon gehen, aber ich habe es nicht gerne, wenn junge Herren junge Mädchen besuchen. Vorher habe ich niemals an Theaterleute vermietet, und Sie können in diesem Punkt nicht vorsichtig genug sein. Ich halte seit jeher auf einen ehrenwerten Namen, und ich möchte das auch in Zukunft tun.«

 

Helen lächelte.

 

»Aber ich kann mir wirklich nichts Unschuldigeres vorstellen als einen Besuch zu so früher Morgenstunde, Mrs. Watson.«

 

Sie ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Der junge Mann stand in einem Seitengang und kehrte ihr den Rücken zu. Als er hörte, daß die Tür geöffnet wurde, drehte er sich um. Er sah sehr gut aus und war tadellos gekleidet. Er blickte sie mit einem Lächeln an, in dem eine Bitte lag.

 

»Ich hoffe, daß Ihre Wirtin Sie nicht meinetwegen aufgeweckt hat. Ich hätte warten können. Sie sind Miss Helen Leamington?«

 

Sie nickte.

 

»Treten Sie bitte näher«, sagte sie und führte ihn in den kleinen, dumpfen Salon. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wartete sie, bis er sprach.

 

»Ich bin Reporter«, sagte er zu seiner Einführung.

 

Sie war unangenehm berührt.

 

»Kommen Sie, um Erkundigungen wegen Onkel Francis anzustellen? Ist denn wirklich etwas Schlimmes passiert? Schon vor einer Woche war einmal ein Detektiv bei mir. Hat man ihn aufgefunden?«

 

»Nein, bis jetzt wurde er nicht gefunden. Sie kennen ihn doch sehr gut, Miss Leamington?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich bin ihm nur zweimal in meinem Leben begegnet. Mein verstorbener Vater und er lagen in Streit, schon bevor ich geboren wurde. Ich habe ihn nur ein einziges Mal nach dem Tode meines Vaters gesehen, und dann, bevor meine Mutter so schwer krank wurde.«

 

Sie hörte, wie er seufzte, und fühlte seine Erleichterung. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, warum es ihm angenehm war, daß ihr Onkel ihr fremd war.

 

»Aber Sie haben ihn doch in Chichester getroffen?« fragte er.

 

Sie nickte.

 

»Ja, das stimmt. Ich habe ihn einen Augenblick lang gesehen, als ich mit einer ganzen Gesellschaft in einem Wagen nach Good Wood-Park unterwegs war. Er ging den Fußweg entlang und sah krank und vergrämt aus. Er kam gerade aus einem Papierladen. Er trug eine Zeitung unter dem Arm und einen Brief in der Hand.«

 

»Wo war der Laden?« fragte er schnell.

 

Sie nannte ihm die genaue Adresse, die er notierte.

 

»Haben Sie ihn nicht wiedergesehen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ist denn irgend etwas Schlimmes passiert?« fragte sie ängstlich. »Ich habe oft gehört, wie meine Mutter sagte, daß Onkel Francis etwas ausschweifend und gewissenlos sei. War er in einer schwierigen Lage?«

 

»Ja«, gab Mike zu. »Aber es war nichts, weswegen Sie sich aufregen müßten. – Sie sind eine große Filmschauspielerin?«

 

Trotz ihrer Angst mußte sie lachen.

 

»Wenn Sie in Ihrer Zeitung schreiben, daß ich es bin, kann ich Sie nicht daran hindern. In Wirklichkeit bin ich es nicht.«

 

»Wenn ich was …?« fragte er, im Moment etwas verdutzt.

 

»Ach ja, Sie meinen, wenn ich das in meiner Zeitung schreibe natürlich!«

 

»Ich vermute, daß Sie gar kein Reporter sind«, sagte sie mit einem plötzlichen Verdacht.

 

»Aber natürlich bin ich einer«, beruhigte er sie rasch und nannte den Namen eines wenig verbreiteten Blattes.

 

»Nun gut. Obgleich ich keine große Schauspielerin bin und sogar fürchte, niemals eine zu werden, glaube ich bestimmt, daß es nur daran liegt, daß ich niemals Gelegenheit hatte – auf der anderen Seite jedoch habe ich schrecklichen Argwohn, daß Mr. Knebworth gefühlsmäßig weiß, daß ich doch keinen Erfolg haben werde.«

 

Mike Brixan war nun aufs neue an dem Fall interessiert. Er gestand sich ehrlich ein, daß die Nichte von Francis Elmer schuld daran war. Er hatte noch kein junges Mädchen getroffen, das so schön war und sich so ungekünstelt und natürlich gab.

 

»Ich vermute, daß Sie jetzt zum Atelier gehen wollen?«

 

Sie nickte.

 

»Würde Mr. Knebworth etwas dagegen haben, wenn ich Sie einmal im Atelier besuchte?«

 

Sie zögerte.

 

»Mr. Knebworth liebt das gar nicht.«

 

»Dann werde ich vielleicht ihn besuchen«, sagte Mike, indem er ihr zunickte. »Es ist ja schließlich gleich, wen ich besuche. Nicht wahr?«

 

»Mir macht es gewiß nichts aus«, sagte das Mädchen kühl.

 

Man könnte sagen, ich habe den Vogel in der Schlinge, dachte Mike, als er die Straße hinunterging.

 

Seine Nachforschungen dauerten nicht lange. Er fand den kleinen Zeitungsladen und hatte das Glück, daß der Inhaber sich auf Mr. Francis Elmer gut besinnen konnte.

 

»Er holte sich einen Brief ab, aber der war nicht an ihn adressiert«, sagte er. »Viele Leute holen sich ihre Briefe bei mir ab – ich habe dadurch einen guten Nebenverdienst.«

 

»Hat er sich eine Zeitung gekauft?«

 

»Nein, Sir. Er hatte eine unter dem Arm. Ich konnte den Namen lesen. Es war das ›Morgen-Telegramm‹. Ich kann mich deutlich daran erinnern, weil er auf der ersten Seite eine von den persönlichen Anzeigen blau umrandet hatte. Das fiel mir auf. Ich habe hinten noch ein Exemplar von der Nummer.«

 

Er ging in den kleinen anstoßenden Wohnraum hinter dem Laden, kam mit einer unsauberen Zeitung zurück und legte sie vor Mike auf den Ladentisch.

 

»Auf der Vorderseite sind sechs solche Anzeigen, aber ich weiß nicht mehr, welche es war.«

 

Mike überflog sie. Zuerst las er den Aufruf einer untröstlichen Mutter an ihren Sohn. Sie bat ihn, zurückzukehren, es sei ihm alles verziehen. Dann folgte ein Inserat in Geheimschrift, aber er hatte jetzt nicht Zeit, das zu entziffern. Das dritte betraf ein Stelldichein, das vierte gehörte eigentlich nicht in diese Spalte, es war die Ankündigung eines neuen Haarwassers. Als er das fünfte Inserat las, stutzte er.

 

In Sorge. Endgültige Instruktionen brieflich unter der bekannten Adresse. Nur Mut. Wohltäter.

 

»Ein Wohltäter?« wiederholte Mike Brixan. »In welcher Verfassung war denn der Mann, der den Brief abholte? War er sehr verstört?«

 

»Ja, Sir, er sah sehr verwirrt aus und war mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Es schien mir fast, als ob er den Kopf verloren hätte.«

 

»Die Beschreibung stimmt«, sagte Mike.

 

Kapitel 32

 

32

 

Stella hatte eine Nachricht mit demselben Inhalt auf ihrem Tisch zurückgelassen. Wenn sie zu einer gewissen Stunde nicht zurückgekehrt sei, solle die Polizei den Brief lesen, der auf ihrem Schreibtisch lag. Sie hatte jedoch nicht daran gedacht, daß der Brief nicht vor dem nächsten Morgen gefunden werden konnte. Für Stella Mendoza war die Unterredung, zu der sie fuhr, äußerst wichtig, ja sie konnte ausschlaggebend für ihr ganzes späteres Leben werden. Ihre Abreise verschob sie in der Hoffnung, daß Gregory Penne sich besser auf seine Verpflichtungen ihr gegenüber besinnen würde, obgleich sie nur wenig daran glaubte, daß er seine Meinung über den äußerst wichtigen Geldpunkt ändern würde. Und das war doch für sie die Hauptsache«.

 

Aber jetzt war er wie durch ein Wunder umgestimmt, sprach mit ihr am Telefon so liebenswürdig wie möglich und lachte herzlich, als sie sagte, unter welchen Vorsichtsmaßnahmen sie zu ihm kommen wollte. Erst als sie sich dann auf den Weg machte, stiegen doch wieder bange Gefühle in ihr auf.

 

Als sie in Griff Towers ankam, empfing der Baron sie nicht in der Bibliothek, sondern in dem großen Raum, der unmittelbar darüber lag. Er war viel länger, denn er zog sich nicht nur über die Bibliothek, sondern auch über den kleinen Salon hin. Er war ganz anders ausgestattet als alle anderen Räume im Haus. Nur einmal war Stella früher in dieser »Festhalle«, wie er sie nannte, gewesen. Der große leere Raum und die Dunkelheit, die darin herrschte, hatten ihr damals schon Furcht eingejagt. Nur sehr ungern erinnerte sie sich an die Orgie, die er damals für sie hatte aufführen lassen.

 

Der große Raum war mit einem dicken, weichen, schwarzen Teppich bedeckt. Nirgends sah man Möbel, nur an den Wänden standen niedrige, breite Diwans. Die Wände waren mit Dingen geschmückt, die er im Malaiischen Archipel gesammelt hatte. Die Decke wurde von zwei Reihen scharlachroter Pfeiler getragen. Drei mit gelber Seide verhangene Laternen verbreiteten gedämpftes Licht, machten den Raum aber nicht freundlicher.

 

Penne saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem seidenbedeckten Diwan und betrachtete den Tanz eines braunen Mädchens, das sich nach den seltsamen Melodien, die drei ernst aussehende Eingeborene ihren Gitarren entlockten, bewegte. Die Musikanten saßen in einer dunklen Ecke. Gregory trug einen feuerroten Pyjama. Der starre Blick seiner gläsernen Augen und der brutale Zug um seinen Mund sagten Stella genug über seinen Zustand.

 

Sir Gregory Penne war ganz der Sklave seiner Leidenschaften. Er war als Sohn eines reichen Mannes geboren und hatte sich niemals die Erfüllung seiner Wünsche versagen müssen. Sein Vermögen war automatisch gewachsen, und als die Freuden des Lebens keinen Reiz mehr für ihn hatten und er von Genüssen übersättigt war, suchte er Zerstreuung und wandte sich verbotenen Dingen zu. Die Plünderzüge, die seine Leute von Zeit zu Zeit in den Dschungeln von Borneo unternahmen, lieferten ihm Beute an Menschen und Dingen, die aber ihren Wert für ihn verloren, sobald er sie besaß.

 

Stella hatte einst Aussicht gehabt, die Herrin von Griff Towers zu werden. Aber da sie allzu schnell seinen Wünschen erlag, hatte sie bald alle Anziehungskraft für ihn verloren. Sie war ihm so gleichgültig geworden wie der Tisch, an dem er saß.

 

Der Arzt hatte ihm gesagt, daß ihn sein vieles Trinken unter die Erde bringen würde. Aber er trank um so mehr. Im Rausch hatte er herrliche Visionen. In seinen Phantasien begehrte er dann immer ein Mädchen, das ihn haßte. Übermäßig sinnlich und im Grunde feig, dachte er niemals an die unausbleiblichen unangenehmen Folgen seiner Abenteuer. Schließlich konnte er immer wieder durch Zahlung größerer oder kleinerer Summen alle Klagen, die sich gegen ihn erhoben, zum Schweigen bringen.

 

Der Eingeborene, der Stella in den Raum geführt hatte, verschwand, und sie ließ sich auf einem großen Diwan nieder. Lange blickte sie auf Gregory, bevor er sich bemüßigt fühlte, von ihr Notiz zu nehmen. Plötzlich drehte er sich zu ihr um und schaute sie mit seinen stupiden, leeren Augen an.

 

»Nimm Platz, Stella«, sagte er mit belegter Stimme. »Setz dich hin. Kannst du auch so tanzen wie die da? Keine von euch Europäerinnen kann das. Ihr habt alle nicht die Grazie und die Geschmeidigkeit. Sieh sie dir nur an!«

 

Das tanzende Mädchen drehte sich mit rasender Geschwindigkeit. Die Schleier, in die sie gehüllt war, umgaben sie wie eine Wolke. Plötzlich sank sie bei einem scharf abgerissenen Akkord der Gitarre mit dem Gesicht nach unten auf den Teppich. Gregory sagte etwas auf Malaiisch. Das Mädchen lächelte und zeigte seine weißen Zähne. Stella kannte sie schon von früher her. Damals traten immer zwei Tanzmädchen zusammen auf. Als die eine eines Tages an Scharlach erkrankte, wurde sie schnell wegtransportiert.

 

»Setz dich hierhin!« befahl er Stella. Dabei zeigte er mit seiner Hand auf den Platz neben sich. Alle Diener waren plötzlich wie durch einen Zauber aus dem Zimmer verschwunden. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter.

 

»Ich habe meinen Chauffeur draußen gelassen und ihm den Auftrag gegeben, sofort zur Polizei zu gehen, wenn ich in einer halben Stunde nicht wiederkomme«, sagte sie laut.

 

Er lachte nur.

 

»Stella, du hättest besser dein Kindermädchen mitbringen müssen. Was ist überhaupt mit dir los in der letzten Zeit? Kannst du denn von nichts anderem als von der Polizei schwätzen? Ich will einmal mit dir reden«, sagte er in einem sanfteren Ton.

 

»Und ich muß mit dir sprechen, Gregory. Ich bin im Begriff, Chichester zu verlassen und ich werde nicht mehr hierher zurückkehren.«

 

»Willst du damit sagen, daß du mich nicht wiedersehen willst? Das macht gar nichts. Ich habe wirklich genug von dir und werde dir keine Träne nachweinen.« – »Meine neue Gesellschaft –«

 

Er brachte sie durch einen Wink zum Schweigen.

 

»Wenn die Gründung einer neuen Filmgesellschaft mit meinem Geld erfolgen soll, so ist es besser, daß du die ganze Geschichte vergißt«, sagte er brüsk. »Ich habe erst kürzlich meinet Rechtsanwalt gesprochen – wenigstens jemand, der die Sache genau kennt. Er sagte mir, daß du dich in ebenso große Gefahr bringst und mit dem Gericht schwer in Konflikt gerätst, wenn du eine Erpressung versuchst und mir drohst, die Geschichte mit Tjarji zu verraten. Ich will dir ja Geld geben«, fuhr er fort, »nicht mein ganzes Vermögen, aber immerhin genug. Du bist doch auch keine Bettlerin, ich habe dir schon so viel. geschenkt, daß du drei Filmgesellschaften damit gründen könntest. Stella, nun höre mal zu, ich möchte gern das Mädchen haben.«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Was für ein Mädchen?« fragte sie ahnungslos.

 

»Helen – heißt sie nicht so – Helen Leamington?«

 

»Ach, du meinst die Statistin, die mir meine Rolle weggenommen hat?« stieß sie hervor.

 

Er nickte und sah sie mit seinen schläfrigen Augen an.

 

»Ja, die meine ich. Das ist mein Typ, und die gefällt mir besser, als du mir jemals gefallen hast. Deswegen brauchst du dich aber nicht beleidigt fühlen.«

 

Sie hörte ihm sprachlos zu.

 

»Es wird sehr schwer sein, sie zu bekommen«, fuhr er fort, »das weiß ich. Ich würde sie sogar heiraten, wenn sie das haben will – sowieso Zeit, daß ich daran denke. Du bist doch eine gute Freundin von ihr –«

 

»Eine Freundin?« rief Stella höhnisch, die plötzlich ihre Stimme wiederfand. »Wie kann ich denn ihre Freundin sein, wenn sie mir meine Position genommen hat! Und wenn ich es wäre, was würde das ausmachen? Bilde dir bloß nicht ein, daß ich ein Mädchen in diese Hölle auf Erden bringen würde!«

 

Er drehte den Kopf langsam zu ihr und schaute sie mit einem kalten, bösen und drohenden Blick an.

 

»Diese Hölle auf Erden war dein Himmel! Hier hast du erst Flügel bekommen, um dich zu entwickeln – geh nicht nach London zurück, Stella. Bleib noch ein oder zwei Wochen hier. Geh doch hin, lerne mal das Mädel kennen. Du hast dazu Gelegenheit wie kein anderer. Bring sie hierher, es soll nicht zu deinem Schaden sein. Du mußt ihr erzählen, was ich für ein netter Kerl bin und welche große Aussichten sie hat. Von der Heirat brauchst du noch nichts zu sagen, aber wenn es schließlich gar nicht anders geht, kannst du auch versuchen, ob sie darauf anbeißt. Zeig ihr den Schmuck, den ich dir geschenkt habe. Du weißt doch, das große Kollier –«

 

Und so schwatzte er weiter. Ihre Bestürzung wandelte sich allmählich in maßlosen Zorn.

 

»Du Schuft!« rief sie schließlich aus. »Daß du mir zumutest, dieses Mädchen nach Griff zu bringen! Ich kann sie gewiß nicht ausstehen, aber ich würde sie auf den Knien beschwören, nicht hierher zu gehen. Du denkst, ich bin eifersüchtig?« Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sein Grinsen sah. »Da täuschst du dich aber sehr, Gregory. Ich bin eifersüchtig, weil sie meine Stelle in dem Atelier eingenommen hat, aber soweit du in Frage kommst« – sie zuckte nur verächtlich die Schultern –, »du läßt mich überhaupt ganz kalt. Ich glaube nicht, daß du jemals etwas anderes für mich bedeutet hast als eine gewisse Einnahmequelle. Was sagst du nun?«

 

Sie sprang auf und begann ihre Handschuhe anzuziehen.

 

»Da du mir ja doch nicht helfen willst, Gregory, werde ich schon einen Weg finden, dich zu zwingen, dein Versprechen zu halten. Denn du hast mir die Gründung einer Gesellschaft versprochen, Gregory. Ich glaube, das hast du vergessen?«

 

»Damals hatte ich größeres Interesse an dir«, sagte er. »Wo willst du hingehen?«

 

»Ich gehe in meine Wohnung zurück, und morgen ziehe ich in die Stadt.«

 

Er sah zuerst nach dem einen Ende des Saales, dann nach dem anderen, und schließlich faßte er sie ins Auge.

 

»Du wirst nicht heimgehen, du bleibst hier«, sagte er kurz.

 

Sie lachte.

 

»Sprachst du nicht eben davon, daß dein Chauffeur zur Polizei gehen würde? Ich werde dir etwas sagen! Im Augenblick sitzt er in meiner Küche und ißt zu Abend. Wenn du glaubst, daß er dieses Haus eher verläßt als du, dann kennst du mich nicht, Stella!«

 

Er zog langsam seinen Hausmantel an, der auf dem Diwan lag. Stella blickte ihn an, er sah schrecklich aus. Etwas Gemeines und Niederträchtiges lag in seiner Haltung. Der feuerrote Pyjama gab seinem Gesicht obendrein noch einen dämonischen Zug, und sie fühlte tiefen Ekel und Abscheu vor ihm. Er hatte ihren Blick aufgefangen, merkte, was in ihr vorging und grinste schadenfroh.

 

»Bhag ist unten«, sagte er mit Nachdruck. »Er geht nicht gerade zart mit Leuten um, das ist dir bekannt. Neulich hat er einem Mädchen Räson beigebracht, aber gleich hinterher mußte ich den Arzt rufen. Du wirst mit mir kommen, ohne daß ich nachhelfen muß, wie?«

 

Sie nickte stumm. Ihre Knie schwankten, als sie mit ihm ging. Sie hatte Bhag in seinem Käfig oft gereizt.

 

Als sie den halben Gang hinter sich hatten, schloß er eine Tür auf.

 

»Geh da hinein und bleibe dort«, sagte er. »Morgen will ich mit dir sprechen – wenn ich nüchtern bin. Augenblicklich habe ich zuviel getrunken. Vielleicht schicke ich dir noch jemand zur Gesellschaft – das weiß ich jetzt noch nicht.« Er strich über sein wirres Haar und schien tatsächlich völlig betrunken. »Ich muß erst ganz nüchtern sein, wenn ich mit dir verhandle.«

 

Die Tür fiel ins Schloß, und sie hörte, wie der Schlüssel von außen umgedreht wurde. Sie stand in einem vollkommen dunklen Raum, der ihr unbekannt war. Einen Augenblick war sie starr vor Schrecken, denn sie wußte nicht, ob sie allein war.

 

Es dauerte einige Zeit, bis sie den Schalter fand. Sie machte Licht, und eine Glühbirne leuchtete hinter einer runden Kristallschale auf. Sie stand in einem kleinen Schlafzimmer. Es war keine Bettstelle da, nur eine Matratze und ein Kissen waren in einer Ecke als Lager zurechtgemacht. Schwere Eisengitter lagen vor dem einzigen Fenster des Raumes. Außer der Tür gab es keinen anderen Ausgang. Sie drückte die Klinke nieder. Von innen war kein Schloß vorhanden, und so konnte sie nicht einmal ihren eigenen Schlüssel versuchen.

 

Langsam ging sie ans Fenster und öffnete einen Flügel, denn die Luft in dem Raum war muffig. Als sie hinausschaute, sah sie, daß das Zimmer an der Rückseite des Hauses lag. Sie blickte über einen großen Rasenplatz auf eine Baumgruppe, die sie noch im Dunkeln erkennen konnte. Die Straße lief parallel mit der Vorderfront, und seihst wenn sie noch so laut geschrien hätte, niemand auf der Straße hätte sie hören können.

 

Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen und überdachte ihre Lage. Ihre Furcht hatte sie nun überwunden. Wenn es zu einem Kampf kommen würde, so hatte sie eine Waffe bei sich. Sie zog ihren Rock hoch und schnallte einen weichen Ledergürtel ab, den sie um die Taille gelegt hatte. Aus der Ledertasche zog sie eine Browningpistole, die wie ein Spielzeug aussah, in Wirklichkeit aber eine gefährliche Waffe war. Sie nahm einen Rahmen Patronen aus ihrer Jackentasche und steckte ihn in die Kammer. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß alles in Ordnung war, verbarg sie den Revolver wieder.

 

»Nun kannst du kommen, Gregory!« sagte sie laut. In dem Augenblick drehte sie sich nach dem Fenster um und stieß einen Schrei aus. Sie sah zwei starke Hände an den Eisenstangen und das schreckliche Gesicht eines Strolches. Ihre zitternde Hand suchte nach der Pistole, aber bevor sie die Waffe entsichern konnte, war das Gesicht wieder verschwunden. Obgleich sie sofort zum Fenster eilte, konnte sie nichts mehr sehen. Die Eisengitter hinderten den Ausblick.

 

Kapitel 33

 

33

 

Die Turmuhr von der Kirche in Chichester schlug zehn, als der Strolch, der vor einer halben Stunde in die Geheimnisse von Griff Towers eindringen wollte, über den Marktplatz schlenderte. Seine Kleider waren noch schmutziger und staubiger als zuvor. Der wachhabende Polizist, der ihn sah, stellte sich ihm quer in den Weg.

 

»Na, wieder auf der Walze?« fragte er.

 

»Ja«, sagte der Mann mit weinerlicher Stimme.

 

»Machen Sie, daß Sie so schnell wie möglich aus Chichester fortkommen. Oder wollen Sie ein Nachtquartier haben?«

 

»Ja, Herr Wachtmeister. Alles ist schon recht voll.«

 

»Das ist eine dicke Lüge«, sagte der Polizist. »Warum versuchen Sie denn nicht, in der Herberge für Heimatlose unterzukommen? Jetzt hüten Sie sich aber – wenn ich Sie noch einmal hier in der Stadt treffe, nehme ich Sie fest.«

 

Der abgerissene Mensch murmelte etwas vor sich hin und ging dann in der Richtung der Arundel Road weiter. Seine Schultern hingen herunter, und die Hände hatte er in den Taschen verborgen.

 

Als der Polizist ihn nicht mehr sehen konnte, bog er plötzlich nach rechts ab und beschleunigte seine Schritte, bis er an das Haus von Jack Knebworth kam. Der Direktor hörte ein Klopfen draußen, öffnete die Tür und schaute verwundert auf den Besuch.

 

»Was wollen Sie denn schon wieder?« fragte er.

 

»Ist Brixan gekommen?«

 

»Nein, er ist noch nicht hier. Es wäre besser, wenn Sie mir den Brief geben, er wird mich wahrscheinlich anrufen.«

 

Der Strolch grinste und schüttelte den Kopf. »Nein, das wird er nicht tun. Ich warte; bis ich ihn persönlich sehe.«

 

»Nun gut, heute abend werden Sie ihn hier nicht mehr treffen.« Dann fuhr er argwöhnisch fort: »Ich glaube, Sie wollen ihn überhaupt gar nicht sehen – Sie führen etwas ganz anderes im Schilde, wenn Sie hier herumlungern.«

 

Der abgerissene Mann antwortete nicht. Er pfiff den Refrain eines Gassenhauers und bewegte die Füße im Takt.

 

»Dem alten Brixan geht es nicht besonders«, sagte er.

 

Knebworth schien es fast, als ob die Stimme belustigt klänge.

 

»Was wissen Sie denn von ihm?«

 

»Er hat Krach mit seinen Vorgesetzten, das weiß ich«, sagte der Strolch. »Er konnte nicht ausfindig machen, wohin die Briefe gingen, daran liegt die ganze Geschichte. Aber ich weiß es.«

 

»Wollen Sie ihn deswegen sprechen?«

 

Der Mann nickte heftig.

 

»Ich weiß es«, sagte er wieder. »Ich könnte ihm etwas Wichtiges erzählen, wenn er hier wäre. Aber leider …«

 

»Wenn Sie wissen, daß er nicht hier ist – warum, zum Donnerwetter, kommen Sie denn dann her?«

 

»Weil mir die Polizei auf den Fersen ist. Der Posten auf dem Marktplatz will mich festnehmen, wenn er mich das nächstemal sieht. Da dachte ich mir, es wäre besser, wenn ich hierherkäme und mir die Zeit etwas vertriebe. Deswegen bin ich da.«

 

Jack sah ihn groß an.

 

»Na, Sie haben Nerven«, sagte er verblüfft. »Und da Sie sich nun die Zeit mit meiner Unterhaltung vertrieben haben, ist Ihr Ziel ja erreicht. Wollen Sie etwas essen?«

 

»O nein, ich führe ein recht angenehmes Leben.«

 

Sein schriller Londoner Dialekt fiel Jack auf die Nerven.

 

»Dann ist es ja gut. Gute Nacht!« sagte er kurz und schloß die Tür vor seinem merkwürdigen Besucher.

 

Der Vagabund stand eine Weile still, dann nahm er seine Mütze ab, zog eine Zigarette daraus hervor, steckte sie an und ging den Weg wieder zurück, den er gekommen war. Er machte aber einen großen Bogen um den Marktplatz, wo der unfreundliche Polizist Wache hielt.

 

Die Kirchturmuhr schlug Viertel nach zehn, als er an der Ecke der Arundel Road ankam. Er warf die Zigarette weg, trat in den Schatten einer Hecke und wartete.

 

Fünf Minuten verflossen – es wurden zehn Minuten – dann sah er einen Mann, der schnell denselben Weg entlangging, den er gekommen war. Er grinste im Dunkeln, denn er erkannte Knebworth. Jack war durch die Unterhaltung, die er eben mit ihm gehabt hatte, ängstlich geworden und wollte zur Polizei, um Erkundigungen über Mike Brixan einzuziehen. Das vermutete der Landstreicher, aber er hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, was der Direktor vorhatte, denn im selben Augenblick kam geräuschlos ein Auto um die Ecke und hielt in seiner Nähe.

 

Eine Stimme fragt durch das halboffene Fenster: »Sind Sie es, mein Freund?«

 

»Jawohl«, sagte der Strolch verdrießlich.

 

»Kommen Sie in den Wagen.«

 

Der Strolch schlich vorwärts und schaute in das dunkle Auto. Mit einem plötzlichen Griff riß er dann die Tür auf, stemmte einen Fuß gegen die Schwelle und stürzte sich auf den Fahrer.

 

»Jetzt habe ich Sie erwischt, Kopfjäger!« zischte er.

 

Er hatte diese Worte noch nicht ausgesprochen, als ihm etwas Weiches, Klebriges ins Gesicht spritzte. Er konnte nicht mehr sehen. Heftiger Schmerz durchzuckte ihn, so daß er die Tür losließ und wie ein zu Tode Getroffener Halt suchend in die Luft griff. Ein derber Fußtritt des Mannes im Auto traf ihn, er flog außer Atem auf den Bürgersteig, und das Auto verschwand in schnellster Fahrt.

 

Jack Knebworth hatte die Szene beobachtet, soweit das in dem Halbdunkel möglich war und kam herbei. Ein Polizist tauchte aus dem Dunkel auf, und die beiden hoben den abgerissenen Mann auf.

 

»Den habe ich heute schon einmal gesehen«, sagte der Polizist. »Ich habe ihn doch gewarnt.«

 

Der Mann auf dem Boden seufzte tief und lang und faßte mit seinen Händen nach den Augen.

 

»Das durfte nicht passieren – jetzt kann ich meine Entlassung einreichen!« sagte er langsam.

 

Knebworth traute seinen Ohren nicht, denn es war Mike Brixans Stimme, die da sprach!

 

Kapitel 34

 

34

 

»Ja, ich bin es«, sagte Mike bitter. »Es ist schon gut, Wachtmeister. Sie brauchen nicht zu warten. Jack, ich will mit Ihnen nach Hause gehen, um diese Maskerade loszuwerden.«

 

»Aber um Gottes willen«, stieß Jack atemlos hervor, indem er den Detektiv anstarrte. »Ich habe noch niemals jemand in einer so guten Verkleidung gesehen. Sonst lasse ich mich doch nicht so leicht täuschen.«

 

»Ich habe alle Leute hinters Licht geführt, mich selbst sogar«, sagte Mike wütend. »Ich bildete mir ein, daß ich ihn mit einem Brief in die Falle locken könnte. Statt dessen hat der Teufel mich geschnappt.« – »Womit denn?«

 

»Er hat mir eine konzentrierte Ammoniaklösung ins Gesicht gespritzt, vermute ich«, sagte Mike.

 

Nach zwanzig Minuten kam er aus dem Badezimmer wieder in seiner alten Gestalt zurück. Nur seine Augen waren schwer entzündet.

 

»Ich wollte ihn in die Falle locken, aber er war doch zu schlau.«

 

»Wissen Sie denn, wer es ist?«

 

Mike nickte.

 

»Ja, ich weiß es sehr genau. Ich habe eine besondere Polizeiabteilung hier, die nur wartet, ihn festzunehmen. Ich wollte kein großes Aufsehen erregen und vor allem kein Blutvergießen. Jetzt vermute ich, daß es nicht ohne Kampf abgehen wird.«

 

»Ich konnte den Wagen nicht erkennen, obwohl mir alle Autos hier in der Stadt bekannt sind«, sagte Jack.

 

»Es ist ein ganz neuer Wagen, den der Kopfjäger nur für seine nächtlichen Abenteuer benutzt. Wahrscheinlich stellt er ihn nicht in seiner eigenen Garage unter. – Eben haben Sie mich doch gefragt, ob ich etwas essen wollte. Da log ich und sagte, daß ich mit allem versehen sei. Geben Sie mir um Himmels willen etwas zu essen, ich bin hungriger als ein Wolf.«

 

Jack ging in die Speisekammer, brachte kaltes Fleisch, machte Kaffee und wartete schweigend, bis der ausgehungerte Detektiv gegessen hatte.

 

»Jetzt fühle ich mich wieder als Mensch«, sagte Mike. »Ich habe seit heute morgen um elf außer einigen Keksen nichts gegessen. Denken Sie sich, unsere Freundin Stella Mendoza befindet sich in Griff Towers, und ich glaube, daß ich sie erschreckt habe. Etwa vor einer Stunde habe ich dort herumspioniert, um sicher zu sein, daß mein Vogel auch im Netz sitzt. Als ich so herumschaute, sah ich sie. Sie hat furchtbar geschrien.«

 

Es klopfte laut an der Tür, und Jack Knebworth schaute auf.

 

»Wer kommt denn jetzt noch zu so später Stunde?« fragte er.

 

»Wahrscheinlich ein Polizist«, meinte Mike.

 

Knebworth öffnete die Tür, und draußen stand eine untersetzte, behäbige Frau in mittleren Jahren auf der Türschwelle und hielt eine Rolle Papier in der Hand.

 

»Sind Sie Mr. Knebworth?« fragte sie.

 

»Ja«, antwortete Jack.

 

»Ich bringe Ihnen das Manuskript, das Miss Leamington zu Hause ließ. Sie bat mich, es Ihnen zu geben.«

 

Knebworth nahm ihr die Rolle ab und streifte das Gummiband herunter, das sie zusammenhielt. Es war das Manuskript von Roselle.

 

»Warum bringen Sie das?« fragte er.

 

»Sie sagte mir, daß ich es zu Ihnen tragen sollte, wenn ich es finden würde«, entgegnete die Frau.

 

»Es ist schon gut«, sagte Jack arglos. »Ich danke schön.«

 

Er schloß die Tür hinter der Frau und ging in das Speisezimmer zurück.

 

»Helen hat ihr Manuskript gesandt, ich weiß nicht, was da los ist.«

 

»Wer brachte es denn?« fragte Mike interessiert.

 

»Soviel ich vermute, ihre Wirtin«, sagte Jack und beschrieb die Frau.

 

»Ja, das ist die Wirtin. Will Helen denn ihre Rolle nicht weiterspielen?«

 

»Es sieht fast so aus.« Jack schüttelte den Kopf.

 

Mike war erstaunt.

 

»Was soll das bedeuten? Was sagte denn die Frau?«

 

»Miss Leamington hätte sie gebeten, das Manuskript zu bringen, wenn sie es gefunden hätte.«

 

Im Augenblick war Mike aus dem Haus, lief so schnell er konnte und holte die Frau ein.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein, noch einmal mitzukommen?« fragte er und ging mit ihr zu Jacks Wohnung zurück.

 

»Bitte, sagen Sie doch Mr. Knebworth noch einmal, warum Miss Leamington das Manuskript gesandt hat und warum Sie es bringen sollten, wenn Sie es gefunden hätten.«

 

»Nämlich – das ist deshalb – als sie zu Ihnen ging«, begann die Frau.

 

»Zu mir ging?« rief Knebworth schnell.

 

»Ein Herr vom Atelier kam und sagte, daß Sie sie sofort sprechen wollten«, berichtete die Wirtin. »Miss Leamington wollte sich gerade zur Ruhe legen, aber ich habe ihr die Botschaft noch gebracht. Sie sagte mir schnell, daß Sie sie wegen der Aufnahmen morgen sehen wollten und daß Sie das Manuskript brauchten. Sie hatte es wohl verlegt und war sehr unruhig deshalb. Ich sagte ihr aber, daß sie schon gehen solle, da die Sache eilig war und versprach ihr, es nachzubringen. Schließlich bat sie mich, es so zu machen.«

 

»Was war denn das für ein Herr, der sie abholte?«

 

»Ein dicker Mann, wahrscheinlich ein Chauffeur. Er kam mir etwas angetrunken vor, aber ich wollte Miss Leamington nicht erschrecken und sagte ihr nichts davon.«

 

»Und was ereignete sich dann?« fragte Mike schnell.

 

»Sie ging auf die Straße und stieg in den Wagen ein. Der Chauffeur war schon auf seinem Sitz.«

 

»War es ein geschlossener Wagen?«

 

Die Frau nickte.

 

»Und sind sie dann abgefahren? Wann war das?«

 

»Es muß kurz nach halb elf gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich die Kirchturmuhr schlagen hörte, kurz bevor das Auto abfuhr.

 

Mike überlief es eiskalt. Er konnte kaum sprechen.

 

»Es ist jetzt elf Uhr fünfundzwanzig. Es hat lange gedauert, bis Sie gekommen sind.«

 

»Ich habe lange nach dem Schriftstück gesucht. Schließlich habe ich es unter dem Kopfkissen von Miss Leamington gefunden. Ist sie nicht hier?«

 

»Nein, sie ist nicht hier«, sagte Mike ruhig. »Ich danke Ihnen sehr, ich will Sie nicht aufhalten. Würden Sie so liebenswürdig sein und bei der Polizeistation auf mich warten?«

 

Er eilte die Treppe hinauf und zog seinen Rock an.

 

»Wo glauben Sie denn, daß sie jetzt ist?«

 

»Sie ist in Griff Towers«, antwortete Mike schnell. »Und ob Gregory Penne in dieser Nacht am Leben bleibt oder nicht, das hängt davon ab, ob er Helen etwas zuleide getan hat!«

 

Auf der Polizeistation fand er die Wirtin. Die arme Frau war sehr verwirrt und erschrocken.

 

»Was trug Miss Leamington, als sie ausging?«

 

»Sie hatte ihr blaues Kostüm an«, jammerte die Frau. »Das schöne blaue Kostüm, das sie immer trägt.«

 

Eine Truppe von Scotland-Yard-Polizisten wartete auf der Station. Ein vollbesetzter Wagen fuhr von Chichester weg. Mike dauerte es viel zu lange. Er war in fieberhafter Ungeduld. Der Wagen fuhr ihm zu langsam, jede Sekunde war kostbar. Schließlich, nach einer endlosen Zeit, wie ihm schien, bog das Auto auf den Fahrweg nach Griff Towers ein. Mike hielt nicht an, um den Pförtner zu wecken, sondern stieß das Tor auf, indem er den Wagen dagegenfahren ließ.

 

Er brauchte nicht zu klingeln, die Tür stand sperrangelweit offen, und an der Spitze der Mannschaft eilte Mike Brixan durch die die leere Eingangshalle. Schnell lief er den Gang entlang und kam in Gregorys Bibliothek. Es brannte nur ein Licht dort, das den Raum schwach erhellte. Aber das Zimmer war leer. Mit schnellen Schritten war er am Schreibtisch und drehte den Hebel. Bhags Käfig öffnete sich, aber auch der Affe war nicht da.

 

Er drückte den Klingelknopf auf der Seite des Kamins, und gleich darauf kam der braune Diener, den er von früher her kannte, zitternd herein.

 

»Wo ist dein Herr?« fragte Mike auf holländisch.

 

Der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht«, antwortete er, aber schaute nach oben zur Decke.

 

»Zeige mir den Weg!«

 

Sie gingen zur Eingangshalle zurück, eilten die breite Treppe zum oberen Geschoß empor, kamen wieder durch einen langen Korridor, der voller Schwerter hing, genau wie der untere. Dann fänden sie eine offene Tür – es war der große Tanzsaal, in dem Gregory Penne den Abend verbracht hatte. Aber es war niemand zu sehen; und Mike ging wieder hinaus. Plötzlich hörte er ein heftiges Klopfen an einer der Türen des Ganges. Der Schlüssel steckte im Schloß. Er drehte ihn um, und die Tür flog weit auf. Stella Mendoza, bleich wie der Tod, wankte heraus.

 

»Wo ist Helen?« keuchte sie.

 

»Das wollte ich gerade Sie fragen!« sagte Mike streng. »Wo ist sie?«

 

Stella schüttelte hilflos den Kopf. Sie war nicht mehr fähig zu sprechen und sank ohnmächtig um.

 

Er wartete nicht, bis sie wieder zu sich gekommen war, sondern suchte weiter. Er eilte von Zimmer zu Zimmer, aber er fand weder eine Spur von Helen, noch von dem brutalen Gregory. Er durchsuchte die Bibliothek noch einmal und ging auch zu dem kleinen Salon. Dort war ein Tisch für zwei Personen gedeckt. Das Tischtuch war feucht von vergossenem Wein. Ein halbleeres Glas stand da – aber die beiden, für die die Tafel gedeckt war, konnte man nicht entdecken. Sie mußten durch die Haupttür verschwunden sein … Aber wohin?

 

Alle seine Muskeln waren angespannt, und seine Gedanken waren nur auf die eine Frage gerichtet, deren Beantwortung ihm im Augenblick wichtiger als sein Leben war. Plötzlich hörte er ein Geräusch, das aus Bhags Raum kam. Er drehte sich um, und in der Tür erschien der fürchterliche Affe selbst. Er blutete aus einer Schulterwunde. Das Blut tropfte herunter. In seinen großen Händen hatte er etwas, das wie ein Bündel Lumpen aussah. Als Mike näher hinschaute, schien sich der Raum vor seinen Augen zu drehen.

 

Das zerrissene, mit Blut beschmutzte Kleidungsstück, das Bhag hielt, war die blaue Jacke Helen Leamingtons!

 

Einen Augenblick starrte Bhag den Mann an, den er als seinen Feind erkannte. Er ließ die Jacke fallen und eilte zähnefletschend in sein Quartier zurück. Dreimal hörte man den scharfen Knall von Mikes Browning, Und Bhag verschwand plötzlich. Die Tür seines Raumes schloß sich geräuschvoll.

 

Knebworth hatte die Szene mit angesehen. Er lief hinzu und hob die Jacke auf, die der Affe hatte fallen lassen.

 

»Das ist ihre Jacke«, sagte er heiser, und ein schrecklicher Gedanke ließ ihn erschauern.

 

Mike hatte die Tür zu dem Käfig geöffnet. Mit der Pistole in der Hand eilte er durch die Öffnung. Knebworth wagte nicht zu folgen. Er stand wie zu Stein erstarrt und wartete, bis Mike wieder erschien.

 

»Es ist nichts drinnen«, sagte er.

 

»Nichts?« fragte Knebworth flüsternd. »Gott sein Dank!«

 

»Bhag ist fort, ich denke, daß ich getroffen habe. Hier ist eine Blutspur, aber es ist möglich, daß sie nicht von meinem Schuß herrührt. Er muß kürzlich verwundet worden sein«, dabei zeigte er auf Blutspuren auf dem Fußboden. »Als ich ihn das letztemal sah, hatte er diese Wunde noch nicht.«

 

»Haben Sie ihn denn schon vor heute abend gesehen?«

 

Mike nickte. Wo mochte Helen sein? Das war die wichtigste Frage, und dieser Gedanke ließ alles andere für Mike Brixan in den Hintergrund treten. Und wo war der Baron? Warum hatten sie die Haustür offen gefunden? Keiner der Dienstboten konnte ihm darüber Auskunft geben, und er fühlte, daß sie die Wahrheit sprachen. Nur Penne und das Mädchen und der große Affe wußten darum Bescheid, wenn nicht –

 

Er eilte nach oben, wo er einen Detektiv bei Stella Mendoza zurückgelassen hatte, um die Bewußtlose wieder zu sich zu bringen.

 

»Sie ist von einer Ohnmacht in die andere gefallen«, berichtete der Beamte. »Sie sagte nur einmal: ›Schieß ihn nieder, Helen!‹«

 

»Dann muß sie sie doch gesehen haben!« stieß Mike hervor.

 

Einer der Polizisten, der draußen geblieben war, um das Gebäude zu bewachen, kam mit einer Meldung. Er hatte gesehen, wie eine dunkle Gestalt die Wand hinaufkletterte und durch eine Öffnung in der Mauer verschwand. Einige Minuten später war sie wieder erschienen.

 

»Das war Bhag«, bemerkte Mike. »Ich wußte, daß er nicht hier war, als wir ankamen. Er muß durch das Loch in der Mauer hereingekommen sein, während wir oben waren.«

 

Der Wagen, der Helen hierhergebracht hatte, wurde aufgefunden. Er gehörte Stella. Zuerst vermutete Mike, daß sie bei der Entführung ihre Hand im Spiel hatte. Er erfuhr aber später, daß ihr Chauffeur tatsächlich in der Küche gefangengehalten wurde, und Penne selbst bei Helen vorgefahren war. Er konnte sich durch eigenen Augenschein davon überzeugen, daß der Wagen Stella gehörte. Nun wurde ihm auch klar, warum Helen, ohne Verdacht zu schöpfen, eingestiegen und mitgefahren war.

 

Mike war nahe daran, wahnsinnig zu werden. Die Gefangennahme des Kopfjägers war ihm vollständig unwichtig geworden. Er dachte nur noch daran, wie er Helen retten könne.

 

»Wenn ich sie nicht finden kann, werde ich verrückt«, rief er.

 

Jack Knebworth wollte etwas erwidern, als eine plötzliche Unterbrechung eintrat. Ein furchtbarer Schrei gellte durch die Nacht, der allen durch Mark und Bein ging.

 

»Hilfe! Hilfe!«

 

Der Ruf klang schauerlich. Mike erkannte die Stimme eines Mannes – und dieser Mann war Gregory Penne.

 

Kapitel 25

 

25

 

Das Leben setzt sich hauptsächlich aus Kleinigkeiten zusammen. Aber die Dinge von einer höheren Warte aus zu betrachten, ist der Jugend gewöhnlich nicht gegeben. Es hatte Helen Leamington große Überwindung gekostet, einen Herrn zum Tee zu bitten, aber nachdem sie es nun einmal getan hatte, erwartete sie ihn ungeduldig.

 

Sie besuchte Jack Knebworth in seinem Büro, während Mike gerade im Auto nach London raste.

 

»Sicher, meine Liebe, Sie können diesen Nachmittag freinehmen. Ich weiß nicht mehr genau, was wir eigentlich vorhatten.«

 

Er nahm das Programm mit der Zeittafel, aber sie konnte ihm den nötigen Aufschluß geben.

 

»Sie wollten im Atelier einige Porträtaufnahmen von mir machen lassen«, sagte sie.

 

»Das hat Zeit, das kann auch an einem anderen Tag geschehen. Nun, haben Sie Zutrauen, daß der Film gut wird?« fragte der Direktor.

 

»Ich? Nein, leider nicht viel, Mr. Knebworth. Ich bin sehr unruhig darüber. Es ist doch ziemlich unmöglich, daß ich gleich von Anfang an alles richtig mache. Man träumt wohl von Erfolg, aber im Traum ist es leicht, Hindernisse und Gefahren zu überwinden und über Schwierigkeiten hinwegzukommen. Jedesmal, wenn Sie ›Aufnahme!‹ rufen, erschrecke ich und habe ein schlechtes Gewissen. Immer denke ich, du bewegst deine Hände ungeschickt, du wirfst deinen Kopf zu schnell herum.«

 

»Aber das dauerte doch nicht lange?« fragte er so eindringlich, daß sie lächeln mußte.

 

»Nein, in dem Moment, in dem ich die Kamera surren höre, fühle ich, daß ich die bin, die ich darstellen soll.«

 

Er klopfte ihr auf die Schulter.

 

»Das ist auch das, was Sie fühlen müssen.« Dann fuhr er fort: »Haben Sie nichts von der Mendoza gesehen? Hat sie Sie belästigt, oder ist Foß bei Ihnen gewesen?«

 

»Ich habe Miss Mendoza seit zwei Tagen nicht gesehen, aber Mr. Foß sah ich noch gestern abend.«

 

Sie erklärte ihm die näheren Umstände nicht, und Jack Knebworth fragte auch nicht weiter nach. Und so erfuhr er nichts von allem, was Helen gestern abend erlebt hatte. Als sie gestern die Hauptstraße entlanggegangen war, sah sie Lawley Foß an der Ecke der Arundel Road neben einem geschlossenen Auto stehen. Er unterhielt sich mit jemandem, der in dem Wagen saß. Später beobachtete sie, wie ihm eine weiße Hand, die wie eine Frauenhand aussah, einen Gruß zuwinkte. Deutlich erkannte sie an dem kleinen Finger der Hand einen großen Diamant. Die Person selbst aber hatte sie nicht gesehen.

 

Als Helen nach Hause ging, machte sie bei dem Konditor und dem Blumenhändler halt. Sie kaufte Blumen und Kuchen, um damit den Tisch im Salon der Mrs. Watson zu richten. Erstaunt fragte sie sich, welche Anziehung sie wohl auf diesen weltgewandten Mann ausüben könne. Sie neigte stark zur Selbstkritik und kam sich durch ihre Selbstverkleinerung wie ein etwas farblos junges Mädchen ohne besonderen Charakter vor. Daß sie schön war, wußte sie. Aber Schönheit allein lockt nur oberflächliche Leute an. Wertvolle Menschen verlangen etwas mehr als das. Mike Brixan wollte sicher nicht mit ihr tändeln, er wollte sie wahrscheinlich als Freundin gewinnen.

 

Der Zeiger der Uhr rückte auf halb fünf, und sie wartete. Um Viertel vor fünf lief sie zur Tür und schaute die Straße entlang. Als es aber fünf Uhr schlug, wurde sie ärgerlich und setzte sich mit philosophischer Ruhe über ihre Einladung hinweg. Sie trank ihren Tee allein, und als sie fertig war, ließ sie abräumen.

 

Mike hatte es vergessen!

 

Sie erfand Entschuldigungen für ihn, verwarf sie und suchte doch wieder nach neuen. Erst war sie beleidigt, dann faßte sie die Sache von der humoristischen Seite auf, fühlte sich aber doch verletzt. Schließlich ging sie auf ihr Zimmer, drehte das Licht an, zog ihr Manuskript aus der Tasche und versuchte, die Szenen durchzuarbeiten, die am nächsten Tag gedreht werden sollten. Aber alles lenkte sie von ihrer Arbeit ab. Sie mußte viel an Mike denken, dann an das geschlossene Auto und an Lawley Foß. Sie sah die weiße Hand mit dem Diamantring vor sich, die zum Abschied winkte, als der Wagen davonfuhr. Merkwürdigerweise kam sie in ihren Gedanken immer wieder auf das geschlossene Auto zurück …

 

Schließlich legte sie das Manuskript hin und stand auf. Sie schaute unschlüssig zu ihrem Bett hinüber. Es war erst neun, und sie fühlte sich noch nicht müde. Chichester bot wenig Zerstreuungen zur Abendzeit. Es gab zwei Kinos, aber sie war jetzt nicht in Stimmung, sich einen Film anzusehen. Sie setzte aber doch ihren Hut auf und ging nach unten. Als sie an der Küche vorbeikam, sagte sie zu ihrer Wirtin:

 

»Ich gehe jetzt noch eine Viertelstunde spazieren.«

 

Das Haus, in dem sie wohnte, lag in einer kleinen Villenstraße, die nicht sehr hell erleuchtet war. Es gab manche dunkle Stellen, zu denen das Licht der Laternen nur spärlich drang. An einem solchen Ort wartete ein Auto. Sie sah schwache Umrisse, bevor sie es richtig erkennen konnte und wunderte sich, daß das Schlußlicht nicht brannte. Als sie näher kam, erkannte sie denselben Wagen, den sie in der vorigen Nacht gesehen, und mit dessen Insassen Foß gesprochen hatte.

 

Ins Wageninnere konnte sie nicht sehen. Die Vorhänge waren an der Straßenseite heruntergezogen. Sie glaubte schon, der Wagen sei leer, aber plötzlich hörte sie eine Stimme flüstern:

 

»Fräulein – kommen Sie mit mir …?« Wieder kam die weiße Hand durch den Spalt des halbgeschlossenen Fensters, und ein großer Diamant blitzte auf. In einer Anwandlung von unerklärlicher Furcht eilte sie weiter.

 

Sie hörte, wie der Motor ansprang. Der Wagen folgte ihr. Sie lief, so schnell sie konnte. An der Ecke der Straße sah sie einen Mann stehen. Es war ein Polizist, und sie lief zu ihm hin.

 

»Was ist Ihnen denn passiert, mein Fräulein?«

 

Als sie sprach, fuhr der Wagen an ihr vorbei, bog um die Ecke und kam außer Sicht.

 

»Ein Mann aus jenem Wagen hat mich angesprochen«, sagte sie atemlos.

 

Der Polizist schaute dem Wagen nach. Vergebens. Er war fort.

 

»Er hatte keine Schlußlichter«, sagte er dann verdutzt. »Ich hätte sonst seine Nummer feststellen können. Hat er Sie belästigt?«

 

Sie schüttelte den Kopf, da sie sich ihrer Furcht schämte.

 

»Ich bin etwas nervös«, lächelte sie, »ich werde wieder nach Hause gehen.«

 

Sie machte kehrt und eilte zu ihrer Wohnung.

 

Wenn man Diva war, hatte man eben auch Unannehmlichkeiten – selbst bei der bescheidenen Filmgesellschaft von Jack Knebworth. Man wurde nervös dabei.

 

Sie schlief ein und träumte, daß der Mann in dem Auto Mike Brixan war und sie einlud, zu ihm zu kommen, um mit ihm Tee zu trinken.

 

Es war schon nach Mitternacht, als Mike Jack Knebworth anläutete und ihm die letzte Neuigkeit durchgab.

 

»Foß?« rief er entsetzt. »Sie meinen das doch nicht etwa wirklich, Brixan? Soll ich zu Ihnen kommen?«

 

»Ich werde Sie aufsuchen«, sagte Mike. »Ich muß noch verschiedenes von Ihnen über Foß erfahren, und es wird weniger Aufsehen erregen, als wenn Sie mich hier im Hotel besuchen.«

 

Jack Knebworth hatte ein Haus in der Arundel Road gemietet und wartete am Gartentor, um seinen Besucher einzulassen.

 

Mike erzählte ihm von der Entdeckung des Kopfes, und er glaubte Jack Knebworth so weit einweihen zu dürfen, daß er ihm über seinen Besuch bei Sir Gregory Penne ausführlich berichtete.

 

»Das übersteigt doch alles«, sagte Jack mit heiserer Stimme. »Der arme Foß! Glauben Sie, daß Penne es getan hat? Ich könnte mir nicht denken, warum. Man schneidet doch nicht jemandem den Kopf ab, der nur Geld leihen will.«

 

»Meine Ansicht hat sich etwas gewandelt«, sagte Mike. »Sie erinnern sich doch noch an das Blatt, das ich in dem Manuskript von Miss Leamington fand. Ich deutete Ihnen damals an, daß es vom Kopfjäger geschrieben sein müßte.«

 

Jack nickte.

 

»Ich bin dessen jetzt ganz sicher«, fuhr Mike fort, »besonders seitdem ich in Ihrem Büro gesehen habe, daß die Eintragung des betreffenden Manuskriptes vernichtet wurde. Foß wußte genau, wer der Autor war, und ich nehme sicher an, daß er den verzweifelten Entschluß faßte, den Schreiber zu denunzieren. Wenn das der Fall ist, und Sir Gregory war der Verfasser des Manuskripts – aber in diesem Punkt bin ich noch sehr unsicher –, dann ist es ja ganz klar, warum er aus dem Wege geräumt werden mußte. Eine Person könnte uns helfen, und das ist –«

 

»Stella Mendoza«, sagte Jack, und die Blicke der beiden Männer trafen sich verständnisvoll.

 

Kapitel 26

 

26

 

Jack sah nach seiner Uhr.

 

»Ich vermute, daß sie schon zu Bett gegangen ist, aber es käme auf einen Versuch an. Würden Sie sie gern noch sprechen?«

 

Mike zögerte. Stella Mendoza war eine Freundin Gregory Pennes, und er war nicht geneigt, sich ohne weiteres zu der Ansicht zu bekennen, den Baron für den Mörder zu halten.

 

»Ja, ich glaube, es ist gut, wenn wir sie noch aufsuchen. Nach allem, was vorgefallen ist, weiß Penne doch, daß er verdächtigt wird.«

 

Jack Knebworth wartete zehn Minuten lang am Apparat, bevor eine Antwort vom Hause Stellas kam.

 

»Knebworth ist am Apparat, Miss Mendoza«, sagte er. »Ist es möglich, Sie heute abend noch zu sehen? Mr. Brixan möchte Sie sprechen.«

 

»Zu dieser Zeit?« sagte sie schläfrig und erstaunt. »Ich war schon zu Bett. Kann es nicht morgen sein?«

 

»Nein, er muß Sie unbedingt heute abend noch sehen. Ich will mitkommen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

 

»Was ist denn los?« fragte sie schnell. »Handelt es sich um – Gregory?«

 

Jack sprach leise mit Mike, der neben ihm stand. Dieser nickte.

 

»Ja, es handelt sich um Gregory.«

 

»Wollen Sie dann, bitte, kommen. Ich werde mich sofort anziehen.«

 

Als sie ankamen, hatte sich Stella angekleidet. Sie war zu neugierig geworden, als daß sie sich noch über die späte Stunde beschwert hätte.

 

»Worum handelt es sich?«

 

»Mr. Foß ist tot.«

 

»Tot?« Sie sah Mike entsetzt an. »Wie kam das? Ich habe ihn gestern noch gesehen.«

 

»Er ist ermordet worden«, sagte Mike ruhig. »Sein Kopf wurde in der Nähe von Chobham Common gefunden.«

 

Sie wäre umgesunken, wenn nicht Mikes Arm sie gehalten hätte. Es dauerte einige Zeit, bevor sie sich so weit erholt hatte, daß sie die Fragen, die er ihr stellte, beantworten konnte.

 

»Nein, ich habe Mr. Foß nur ein paar Sekunden lang gesehen, bevor er Griff Towers verließ. Nachher nicht wieder.«

 

»Sagte er, daß er später wiederkommen wollte?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sagte Sir Gregory zu Ihnen, daß Foß wiederkommen würde?«

 

»Nein, er erklärte, daß er froh wäre, ihn endlich los zu sein. Auch erwähnte er, daß er ihm fünfzig Pfund bis zur nächsten Woche geliehen habe. Das ist so richtig Gregorys Art. Er wird immer Dinge weitererzählen, selbst wenn ihn die Leute gebeten haben, sie für sich zu behalten. Er ist sehr stolz auf seinen Reichtum und prahlt gern damit, daß er anderen Leuten hilft.«

 

»Hatten Sie sich nicht heute mit ihm zum Essen verabredet?« fragte Mike und beobachtete sie scharf.

 

Sie biß sich auf die Lippe.

 

»Sie haben wohl unsere Unterhaltung gehört, als ich fortging? Nein, ich wollte nicht zum Essen zu ihm kommen. Das war nur eine List, um einen eventuellen Lauscher zu täuschen, der draußen umherschlich. Wir wußten, daß jemand an diesem Abend im Haus war. Waren Sie das?«

 

Mike nickte.

 

»So – dann bin ich beruhigt.« Sie seufzte tief auf. »Die paar Minuten in dem dunklen Raum waren fürchterlich für mich. Ich dachte, es wäre …« Sie zögerte.

 

»Bhag!« ergänzte Mike, und sie nickte.

 

»Ja. Sie vermuten doch nicht, daß Gregory Mr. Foß getötet hat?«

 

»Ich habe im allgemeinen jeden und keinen im Verdacht«, sagte Mike. »Haben Sie Bhag gesehen?«

 

»Nein, gestern abend nicht, früher natürlich. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur an ihn denke. Ich habe noch kein Tier gesehen, das soviel menschlichen Verstand hat. Manchmal, wenn Gregory ein wenig zuviel getrunken hatte, holte er den Affen heraus und ließ ihn allerhand Kunststücke machen. Wissen Sie, daß Bhag alle Schwertgriffe der Malaien ausführen kann? Gregory hat ihm das Fechten beigebracht. Er hatte ein hölzernes Schwert, das extra für ihn angefertigt war. Es hat mich immer erschreckt, wenn ich sah, daß er mit seinem Säbel hantierte.«

 

Mike sah sie mit großen Augen an.

 

»Also konnte Bhag wirklich fechten? Penne erzählte mir das, aber ich dachte, daß er übertrieben hätte.«

 

»Sicher konnte er das, Gregory hat ihm noch viel mehr beigebracht.«

 

»Wie stehen Sie zu Penne?« fragte Mike leichthin.

 

Sie wurde rot.

 

»Er war mein Freund«, sagte sie verlegen. »Ein sehr guter Freund – in finanziellen Dingen, meine ich. Früher hatte er mich einmal sehr gern. Wir waren – sehr gute Freunde.«

 

Mike nickte. »Ist das noch so?«

 

»Nein«, antwortete sie kurz. »Ich habe mit Gregory Schluß gemacht und will Chichester morgen verlassen. Ein Agent ist beauftragt, mein Haus zu vermieten. – Der arme Mr. Foß«, sagte sie, und Tränen standen in ihren Augen. »Der arme Mensch! Gregory hat das nicht getan, Mr. Brixan, darauf kann ich schwören. Vieles, was von Gregory erzählt wird, ist nicht wahr. Er ist ein Feigling, und obgleich er schon viel gefährliche Dinge ausführte, hat er doch immer Leute, die die schmutzige Arbeit für ihn tun.«

 

»Was verstehen Sie unter gefährlichen Dingen?«

 

Sie zögerte. Aber er wurde dringlicher.

 

»Er hat mir erzählt, daß er öfter in den Dschungel gezogen ist und Dörfer überfallen hat, um hübsche Mädchen zu rauben. Es soll einen Stamm geben, der besonders hübsche Frauen hat. Vielleicht hat er mir das auch alles nur vorgelogen, aber ich glaube doch, daß er in diesem Punkt die Wahrheit sprach. Er sagte mir, daß er gerade vor einem Jahr, als er in Borneo war, ein Mädchen von einem wilden Stamm im Inneren des Landes gestohlen habe. Kein Europäer würde von dort allein lebendig zurückkommen.«

 

»Machten diese Geständnisse denn gar keinen Eindruck auf Sie?« fragte Mike und sah sie scharf an.

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Das war so seine Art«, war alles, was sie antwortete, und hieraus konnte Mike die weitesten Schlüsse ziehen, daß er ihr »guter Freund« war.

 

Sie gingen zu Jack Knebworths Haus zurück.

 

»Die Geschichte, die Penne berichtet; scheint mit dem vollkommen übereinzustimmen, was die Mendoza sagt. Es besteht jetzt kein Zweifel mehr, daß die Frau in dem obersten Turmzimmer das Mädchen war, das er gestohlen hat. Ebenso sicher ist, daß der braune Mann ihr Gatte war. Wenn sie von Griff Towers entkommen sind, wird es keine großen Schwierigkeiten machen, sie aufzufinden. Ich werde noch diese Nacht alle Polizeistationen im Umkreis von fünfundzwanzig Kilometer darüber informieren, und morgen früh werden wir wohl Nachricht bekommen.«

 

»Es ist ja schon Morgen«, sagte Jack, als er nach Osten sah, wo der Himmel bereits heller wurde. »Kommen Sie doch noch zu mir. Ich werde Kaffee machen. Die Nachricht von Foß‘ Tod hat mich sehr erregt. Ich hatte mir für heute eigentlich viel vorgenommen, aber vermutlich müssen wir die Arbeit um einen Tag verschieben. Die Schauspieler und die anderen Angestellten der Gesellschaft werden durch diese Nachricht auch nicht bei der Sache sein. Alle kennen Foß, obgleich er nicht sehr beliebt bei ihnen war. Es fehlt nur noch, daß Helen nervös wird – um das Unglück voll zu machen. Aber eben kommt mir ein Gedanke, Brixan, warum ziehen Sie nicht ganz zu mir? Ich bin Junggeselle, Sie haben einen Telefonanschluß und sind hier vollkommen unbeobachtet und können viel ungestörter arbeiten als im Hotel.

 

Der Vorschlag gefiel dem Detektiv, und er schlief schon diese Nacht in Jack Knebworths Haus. Zuvor hatte er aber noch ein eingehendes Telefongespräch mit Scotland Yard.

 

In der Frühe des nächsten Morgens war er bereits wieder in Griff Towers, und bei Tageslicht konnte er seine Untersuchungen genau durchführen. Aber es kam nichts Besonderes mehr zum Vorschein. Er befand sich in einer eigentümlichen Lage. Scotland Yard hatte besonders betont, daß Gregory Penne aus einer guten Familie stamme. Er war reich und angesehen, bekleidete das Ehrenamt eines Friedensrichters, und da seine Extravaganzen bisher nicht gegen das Gesetz verstoßen hatten, »können Sie einen Mann nicht henken, weil er ein Sonderling ist«, hatte ihm der Chefinspektor am Telefon gesagt.

 

Die Tatsache, daß Bhag ebenso wie der braune Mann mit seiner Frau verschwunden war, erregte Mikes Verdacht.

 

»Er ist die ganze Nacht nicht zurückgekommen«, sagte Sir Gregory. »Ich habe nichts von ihm gesehen. Es ist nicht das erstemal, daß er auf eigene Faust längere Zeit fortbleibt. Er findet dann einen Unterschlupf, wo man es nicht vermuten sollte. Auch jetzt hat er sich sicher irgendwo versteckt. Aber das macht nichts, er kommt bestimmt wieder.«

 

Als Mike durch Chichester fuhr, sah er jemanden und bremste seinen Wagen mit aller Gewalt. Es war ein Wunder, daß seine Reifen nicht platzten. Im Nu war er aus dem Wagen gesprungen und stand vor Helen.

 

»Es kommt mir vor, als ob ich Sie zehntausend Jahre nicht gesehen hätte«, sagte er scherzend. Zu jeder anderen Zeit hätte seine Bemerkung Helen zum Lächeln gebracht.

 

»Ich fürchte, Sie müssen mich entschuldigen, ich habe keine Zeit. Ich bin auf dem Weg zum Atelier«, sagte sie ein wenig kühl. »Ich versprach Mr. Knebworth, daß ich heute morgen frühzeitig kommen würde. Gestern nachmittag bat ich ihn, mir freizugeben.«

 

»Hat er das getan?« fragte Mike unschuldig.

 

»Ich hatte jemanden zum Tee eingeladen.«

 

Plötzlich erinnerte sich Mike und war wie vom Blitz erschlagen.

 

»Ist das möglich!« sagte er betroffen. »Ich bin wirklich ein unmöglicher Mensch!«

 

Sie wollte weitergehen, aber er hielt sie zurück.

 

»Ich wollte Sie wirklich nicht kränken oder verletzen, Helen«, sagte er leise. »Es hat sich eine neue Tragödie abgespielt, die Ihnen meine Vergeßlichkeit erklären wird!«

 

Sie stand still und schaute ihn an.

 

»Eine neue Tragödie?«

 

»Mr. Foß ist ermordet worden«, sagte er.

 

Sie wurde leichenblaß.

 

»Wann?« Ihre Stimme war ruhig, aber tonlos.

 

»In der letzten Nacht.«

 

»Es war nach neun!« sagte sie.

 

Er zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe.

 

»Wie kommen Sie darauf?«

 

»Weil ich um neun Uhr« – sie sprach langsam – »die Hand des Mannes sah, der ihn ermordete!«

 

»Am vorletzten Abend«, fuhr sie fort, »ging ich aus, um etwas Wolle zu kaufen, die ich brauchte. Es war kurz bevor die Läden geschlossen wurden … In der Stadt traf ich Mr. Foß und sprach mit ihm. Er war sehr nervös und unruhig. Er machte mir wieder denselben Vorschlag wie damals, als er mich besuchte. Sein Benehmen war so sonderbar, daß ich ihn fragte, ob ihn etwas bedrücke. Er sagte nein, aber er hätte eine Ahnung, daß sich etwas Furchtbares ereignen würde. Er fragte mich, ob ich schon länger in Chichester lebte und etwas über die Höhlen wüßte.«

 

»Die Höhlen?« fragte Mike schnell.

 

Sie nickte.

 

»Ich war sehr überrascht, ich hatte noch nie davon gehört. Er erzählte mir, daß sie in einer alten Chronik von Chichester erwähnt seien. Er hatte in den Führern nachgeschlagen, ohne irgend etwas darüber zu finden. Anscheinend gab es zu dieser oder einer anderen Zeit in der Nähe von Chellerton Höhlen, aber durch eine schwere Erdsenkung wurden sie verschüttet. Er war so verstört und sprach so abgerissen, daß ich annehmen mußte, er sei betrunken. Ich war froh, als ich mich verabschieden konnte. Ich ging zu meinem Geschäft und traf dort eine Statistin, die ich kannte. Sie fragte mich, ob ich mit ihr nach Hause gehen wollte. Ich hatte gar keine Lust dazu, konnte es aber nicht gut ablehnen, und so begleitete ich sie eben. Sobald ich konnte, machte ich mich los und ging geradewegs nach Hause.

 

Es war neun Uhr geworden, und die Straßen waren schon leer. Die Beleuchtung in Chichester ist nicht besonders gut. Aber ich konnte doch Mr. Foß erkennen. Er stand an der Ecke der Arundel Road und wartete auf jemanden. Ich hielt an, weil mir nichts daran lag, ihm noch einmal zu begegnen. Aber gerade, als ich mich umdrehen wollte, fuhr ein Auto in die Straße und hielt bei Mr. Foß.«

 

»Was war es für ein Wagen?« fragte Mike.

 

»Es war eine Limousine … Als sie um die Ecke bog, gingen ihre Scheinwerfer aus, was mich sehr überraschte. Mr. Foß wartete wohl nur darauf, denn er ging hinüber, lehnte sich zum Fenster und sprach mit jemandem in dem Wagen. Ich weiß nicht, warum – aber ich wurde plötzlich neugierig und wollte sehen, wer in dem Wagen saß und ging darauf zu. Ich war bloß noch vier oder fünf Schritte entfernt, als Mr. Foß zurücktrat und das Auto anfuhr. Der Fahrer streckte seine Hand aus dem Fenster, als ob er zum Abschied winken wollte, und als der Wagen an mir vorbeifuhr, winkte er noch. Das Innere war ganz dunkel.«

 

»War etwas Besonderes an der Hand?«

 

»Nein. Sie war nur etwas klein und frauenhaft weiß. An dem kleinen Finger saß ein großer Diamantring. Sein Feuer war außergewöhnlich schön, und ich wunderte mich, daß ein Mann solchen Schmuck trug. Sie mögen denken, daß ich einfältig bin, aber der Anblick dieser Hand jagte mir ein schreckliches Angstgefühl ein – ich weiß jetzt noch nicht, warum. Es war etwas Unnatürliches und Sonderbares an ihr. Als ich mich umblickte, entfernte sich Mr. Foß schnell in der anderen Richtung, und ich machte keinen Versuch, ihn einzuholen.«

 

»Sie sahen keine Nummer an dem Wagen?«

 

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war nicht so neugierig.«

 

»Sie sahen auch die Silhouette des Mannes im Wagen nicht?«

 

»Nein, ich sah nichts. Sein Arm war erhoben.«

 

»Wie groß war der Diamant Ihrer Meinung nach?«

 

Sie zog die Lippen gedankenvoll zusammen.

 

»Er kam so schnell an mir vorüber, daß ich Ihnen nichts Genaues darüber sagen kann, Mr. Brixan. Es mag sein, daß ich mich irre, aber ich glaube, daß er ungefähr so groß wie meine Fingerspitze war. Ich konnte keinerlei Einzelheiten erkennen, obwohl ich den Wagen vorige Nacht wieder sah.«

 

Sie erzählte ihm nun, was sich in der letzten Nacht ereignet hatte, und er hörte gespannt zu.

 

»Der Mann sprach zu Ihnen – haben Sie seine Stimme erkannt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, er flüsterte nur. Ich sah sein Gesicht nicht, aber ich glaube, daß er eine Mütze trug. Der Polizist sagte, daß er die Nummer des Wagens hätte aufschreiben wollen.«

 

»So, sagte er das?« bemerkte Mike sarkastisch. »Nun gut, dann hat wenigstens er eine Hoffnung.«

 

Eine Minute schwieg er in Gedanken, dann sagte er: »Ich möchte Sie zum Atelier begleiten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

 

Er ließ sie in ihr Ankleidezimmer gehen, wo sie erfuhr, daß heute nicht gearbeitet wurde. Er selbst suchte Jack auf.

 

»Sie kennen doch alle Leute in dieser Gegend«, sagte er. »Ist Ihnen jemand bekannt, der eine große Limousine fährt und einen Diamantring am kleinen Finger der rechten Hand trägt?«

 

»Die einzige, die diese Schwäche hatte, war Stella Mendoza.«

 

Mike pfiff.

 

»An die hätte ich niemals gedacht«, murmelte er. »Und Helen beschrieb die Hand als klein und frauenhaft.«

 

»Die Hand der Mendoza ist nicht klein, aber sie könnte bei einem Mann natürlich so aussehen«, sagte Jack nachdenklich. »Und ihr Wagen ist keine Limousine. Aber das bedeutet ja nichts … Ich habe gerade Anweisung gegeben, daß heute gearbeitet werden soll. Wenn wir die Leute herumstehen lassen, kommen sie ganz außer Fassung.«

 

»Das dachte ich auch, ich wagte nur nicht, diesen Vorschlag zu machen«, sagte Mike lächelnd.

 

Ein Telegramm rief Mike am Mittag nach London, wo er eine Konferenz mit den obersten Fünf von Scotland Yard hatte. Das Resultat der zweistündigen Unterredung war der Beschluß, daß Sir Gregory Penne in Freiheit bleiben, aber beobachtet werden sollte.

 

»Wir glauben die Geschichte mit dem Mädchen von Borneo«, sagte der Chef ruhig. »Und alle Tatsachen stimmen zusammen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß Penne der Verbrecher ist. Aber wir müssen sehr vorsichtig vorgehen. In Ihrem Ministerium, Captain Brixan, können Sie sicher einiges riskieren. Aber die Polizei in diesem Land darf wegen Mordes keine Verhaftung vornehmen, wenn sie nicht ganz gewiß ist, daß eine Verurteilung folgen kann. Es mag etwas an Ihrer Theorie sein, und ich bin der letzte, der sie herabsetzen will, aber Sie müssen erst noch Paralleluntersuchungen anstellen.«

 

Mike fuhr am selben Tag nach Sussex. Er befand sich ungefähr vier Kilometer nördlich Chichester und war in größter Eile, als er eine Gestalt gewahrte, die mit ausgebreiteten Armen in der Mitte der Straße stand. Er fuhr langsamer. Es war Mr. Sampson Longvale, wie er zu seiner Verwunderung sah. Fast bevor der Wagen anhielt, sprang Mr. Longvale mit außerordentlicher Geschicklichkeit auf das Trittbrett.

 

»Ich habe die letzten zwei Stunden auf Sie gewartet, Mr. Brixan«, sagte er. »Haben Sie etwas dagegen, daß ich mich zu Ihnen setze?«

 

»Kommen Sie herein!« sagte Mike freundlich.

 

»Sie sind auf dem Weg nach Chichester, ich weiß. Wollen Sie bitte nach Dower House kommen? Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«

 

Der Platz, an dem er den Wagen gestoppt hatte, lag gerade dem Ende der Straße gegenüber, die nach Dower House und zu der Besitzung Mr. Gregorys führte. Der alte Herr erzählte ihm, daß er von Chichester zurückgegangen sei und auf seinen Wagen gewartet habe.

 

»Ich erfuhr jetzt erst, Mr. Brixan, daß Sie Staatsbeamter sind«, sagte er mit einem würdevollen Kopfnicken. »Ich brauche Ihnen kaum zu sagen, wie hoch ich einen Menschen schätze, der der Sache der Gerechtigkeit dient.«

 

»Mr. Knebworth verriet Ihnen das wohl?« fragte Mike lächelnd.

 

»Ja, er sagte es mir«, stimmte Longvale bei. »Ich ging zu ihm, um Sie zu suchen, da ich das Gefühl hatte, daß Sie eine gewichtige Stellung im Leben einnehmen. Ich gestehe, daß ich zuerst annahm, Sie wären einer jener eitlen jungen Leute, die weiter nichts zu tun haben, als sich zu amüsieren. Ich habe mich sehr gefreut, zu erfahren, daß das ein Irrtum war. Es ist wirklich sehr befriedigend,« – Mike lächelte innerlich über den Wortschwall des alten Herrn – »weil ich Rat in einer bestimmten Sache brauche, den mir ein Rechtsanwalt nicht geben kann. Meine Lage ist ganz eigenartig, beinahe verwirrend. Ich bin ein Mann, der vor der Öffentlichkeit zurückschreckt, und bin fremder Einmischung in meine Angelegenheiten sehr abgeneigt.«

 

Sie hielten vor Dower House. Mr. Longvale stieg aus und öffnete das Tor. Als Mike durchgegangen war, schloß er es wieder. Anstatt direkt in sein Wohnzimmer zu gehen, stieg er die Treppe hinauf und bat Mike, mitzukommen. Er hielt vor dem Zimmer an, in dem Helen in jener Nacht ein so fürchterliches Erlebnis hatte.

 

»Ich möchte, daß Sie die Leute betrachten«, sagte Mr. Longvale ernst, »und mir sagen, ob ich in Übereinstimmung mit dem Gesetz gehandelt habe.«

 

Er öffnete die Tür, und Mike sah, daß jetzt zwei Betten in dem Raum standen. In dem einen lag, dick verbunden und anscheinend bewußtlos, der braune Fremde. In dem anderen schlief die Frau, die Mike in dem Turm gesehen hatte! Auch sie schien schwer verwundet. Ihr Arm war verbunden und geschient.

 

Mike holte tief Atem.

 

»Damit ist ein Rätsel gelöst«, sagte er. »Wo haben Sie diese Menschen gefunden?« fragte er.

 

Bei dem Klang seiner Stimme öffnete die Frau die Augen und blickte furchtsam zu ihm hinüber.

 

»Du bist verwundet worden?« fragte Mike auf holländisch. Aber sie gab keine Antwort. Sie wurde so aufgeregt bei seinem Anblick, daß Mike froh war, als er aus dem Zimmer kam. Erst unten im Wohnzimmer erzählte Mr. Longvale die Geschichte.

 

»Ich sah sie die letzte Nacht ungefähr um halb elf. Sie schwankten auf der Straße, und ich dachte, die wären betrunken. Aber glücklicherweise sprach die Frau, und da ich noch niemals eine Stimme vergessen habe, selbst wenn sie in einer mir fremden Sprache redete, erkannte ich sofort, daß es meine Patientin war, und ging auf sie zu. Dann sah ich auch, in welchem Zustand ihr Begleiter war. Als sie mich erkannte, begann sie aufgeregt zu sprechen. Ich konnte sie nicht verstehen, obwohl ich ahnte, was sie wollte. Der Mann war dem Zusammenbruch nahe. Ich brachte ihn mit Hilfe seiner Frau in dieses Haus und in das Zimmer, wo er nun liegt. Zum Glück hatte ich mir in der Erwartung, wieder zu ihr gerufen zu werden, einige Instrumente und Medikamente angeschafft, und konnte so den Mann pflegen.«

 

»Ist er schwer verletzt?« fragte Mike.

 

»Er hat sehr viel Blut verloren, und obwohl keine Arterien verletzt oder Knochen gebrochen zu sein scheinen, sehen die Wunden recht bös aus. Nun kam mir der Gedanke«, fuhr er in seiner umständlichen Art fort, »daß dieser Eingeborene die Wunden nur als Folge irgendeiner schlechten Handlung empfangen haben kann. Ich dachte, es sei das beste, die Polizei zu benachrichtigen, daß die beiden unter meiner Obhut sind. Ich besuchte aber zuerst meinen besonderen Freund, Mr. Knebworth, und erzählte ihm meine Lage. Er sprach mir dann von Ihnen, und ich beschloß, Ihre Rückkehr abzuwarten, ehe ich weitere Schritte unternahm.«

 

»Sie haben ein Geheimnis gelöst, das mich quälte und haben zufälligerweise eine Sache bestätigt, die ich sehr skeptisch betrachtete«, sagte Mike. »Ich denke, es wäre sehr gut, die Polizei zu informieren – ich werde die Zentrale benachrichtigen und Ihnen einen Krankenwagen schicken, der die beiden Leute ins Krankenhaus bringt. Ist der Mann transportfähig?«

 

»Ich glaube, ja«, nickte der alte Herr. »Er liegt jetzt in tiefem Schlaf und scheint bewußtlos zu sein, aber das ist nicht der Fall. Die Leute können gerne hier bleiben, obwohl ich keine Bequemlichkeiten habe und mich allein versorgen muß, und es mich daher eher belästigt, denn ich bin nicht an solche Anstrengungen gewöhnt. Glücklicherweise kann die Frau viel für ihn tun.«

 

»Hatte er ein Schwert, als er ankam?«

 

Mr. Longvale biß sich ungeduldig auf die Lippen.

 

»Wie konnte ich das vergessen! Ja, hier ist es.«

 

Er wandte sich zu einer altertümlichen Kommode, zog ein Schubfach auf und nahm das Schwert heraus, das Mike über dem Kamin in Griff Towers gesehen hatte. Es war fleckenlos und war auch so, als Mr. Longvale es aus den Händen des braunen Mannes nahm. Er erwartete auch nicht, es anders zu sehen, denn für den Krieger des Ostens ist sein Schwert wie ein Kind, und wahrscheinlich war es die erste Sorge des Mannes, es zu reinigen.

 

Mike verabschiedete sich, fragte dann aber noch plötzlich:

 

»Würde es Sie sehr bemühen, mir ein Glas Wasser zu bringen, Mr. Longvale? Meine Kehle ist ganz ausgetrocknet.«

 

Mit einer Entschuldigung eilte der alte Herr weg und ließ Mike allein in dem Raum.

 

An einem Haken hing der lange Überrock des Herrn von Dower House und daneben ein gekräuselter Biberpelz und ein sehr alter Filzhut, den Mike herabnahm, als Longvale ihm den Rücken gewandt hatte. Die Bitte um ein Glas Wasser war keine Kriegslist, denn er war wirklich durstig. Aber Wißbegierde gehörte nun einmal zu seinem Beruf.

 

Der alte Herr kehrte schnell zurück und fand Mike bei der Untersuchung des Hutes.

 

»Woher stammt er?« fragte der Detektiv.

 

»Der Eingeborene trug ihn, als er kam«, sagte Mr. Longvale.

 

»Ich möchte ihn mitnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Mike nach langem Schweigen.

 

»Aber mit dem größten Vergnügen. Unser Freund oben wird für lange Zeit keinen Hut brauchen«, meinte er mit einem seltsamen Lächeln.

 

Mike ging zu seinem Wagen zurück, legte den Hut sorgfältig neben sich und fuhr nach Chichester. Den ganzen Weg über war er verwundert. Denn in dem Hut sah er die Initialen »L. F.« Wie kam der Hut von Lawley Foß auf den Kopf des braunen Mannes aus Borneo?