Kapitel 36

 

36

 

»Danken Sie Gott noch nicht«, sagte Stella, mit einer Ruhe, die nichts Gutes verhieß. »Oh, Sie kleines Schaf, warum sind Sie denn hierhergekommen?«

 

»Er brachte mich hierher, ich ging nicht freiwillig«, sagte Helen. Sie war krank vor Furcht. Trotzdem versuchte sie ebenso ruhig zu sein wie Stella. Sie biß auf ihre zitternden Lippen, um sich zu sammeln. Nach kurzer Zeit hatte sie ihre Fassung wiedergefunden und konnte erzählen, wie sich alles ereignet hatte. Stellas Gesicht verdüsterte sich.

 

»Das ist doch stark – er hat meinen Wagen genommen«, sagte sie zu sich selbst. »Er hat wirklich die Fahrer gefangengesetzt, wie er es mir androhte. Was soll noch daraus werden!«

 

»Was will er tun?« fragte Helen leise.

 

Stella blickte das Mädchen an.

 

»Was glauben Sie denn, was er tun wird?« fragte sie nachdenklich. »Er ist ein Vieh, Sie werden selten solch einen gemeinen Kerl finden, es sei denn in Schauergeschichten … Er hat uns eingeschlossen. Er wird nicht mehr Mitleid mit Ihnen haben als Bhag!«

 

»Wenn das Mike erfährt, wird er ihn umbringen!«

 

»Mike? Ach so, Sie meinen Brixan«, sagte Stella mit neu erwachtem Interesse. »Liebt er Sie? Spioniert er deswegen hier herum? Daran habe ich doch vorher noch nie gedacht. Aber was kümmert ihn Mike Brixan oder irgend jemand anders! Er kann fort – seine Jacht liegt in Southampton. Und sein Reichtum macht ihn unabhängig. Er kann all diesen Scherereien hier aus dem Wege gehen. Dann rechnet er auch damit, daß eine anständige Frau davor zurückschreckt, vor dem Kriminalgericht zu erscheinen. Ach, er ist ein ausgekochter Schuft!«

 

»Was soll ich machen?«

 

Stella ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. Sie hatte ihre Hände ineinandergelegt, die Furcht wollte sie wieder überwältigen.

 

»Ich glaube nicht, daß er mir etwas zuleide tut«, sagte Stella. Dann fing sie plötzlich von etwas anderem an zu sprechen. »Ich sah vor etwa zwei Stunden einen Landstreicher am Fenster.«

 

»Einen Landstreicher?« fragte Helen verwirrt.

 

Stella nickte.

 

»Er hat mich furchtbar erschreckt, bis ich seine Augen sah. Da wußte ich, daß es Brixan war. Aber Sie hätten ihn niemals erkannt, so gut hatte er sich maskiert.«

 

»Mike Brixan ist hier?« fragte Helen gespannt.

 

»Er muß irgendwo in der Umgebung sein. Das kann Rettung sein und hier ist noch etwas anderes.«

 

Sie nahm die kleine Browningpistole und gab sie ihr.

 

»Haben Sie jemals mit einer Pistole geschossen?«

 

Helen nickte. »Ich habe es schon getan. Es kam neulich in einer Szene vor«, sagte sie ein wenig verlegen.

 

»Nun, das ist gut. Die Pistole ist geladen. Hier ist die Sicherung. Sie müssen sie zuerst mit dem Daumen herunterdrücken, bevor Sie schießen können. Es ist besser, wenn Sie Penne töten – besser für Sie und besser für ihn.«

 

Helen schrak zurück.

 

»Nein, nein – das kann ich nicht!«

 

»Stecken Sie schnell die Waffe in Ihre Tasche! Haben Sie eine Tasche?«

 

In der Jacke, die Helen trug, fand sich eine innere Tasche, und Stella steckte die Pistole schnell hinein.

 

»Sie glauben gar nicht, was ich Ihnen für ein Opfer bringe, wenn ich sie Ihnen gebe«, sagte sie offen. »Dabei bringe ich dieses Opfer noch nicht einmal für jemand, den ich gern habe. Sie können sich wohl denken, Helen Leamington, daß ich Sie nicht gerade liebe. Aber ich würde es mir nie verzeihen können, wenn ich Sie diesem Schurken ohne Kampf überlassen hätte.«

 

Plötzlich beugte sie sich vor und küßte das Mädchen. Helen legte den Arm um ihren Nacken und umarmte sie einen Augenblick.

 

»Er kommt«, flüsterte Stella Mendoza und trat zurück. Es war wirklich Gregory. Er trug seinen feuerroten Pyjama und einen dunkelroten Hausmantel. Sein Gesicht war gerötet, und seine Augen glänzten vor Erregung.

 

»Komm mit!« Er winkte mit dem Finger. »Nicht du, Mendoza, du bleibst hier, du kannst sie später sehen, vielleicht nach dem Abendessen.«

 

Er schaute begehrlich auf das erschrockene Mädchen.

 

»Niemand wird dir etwas tun, laß deine Jacke hier.«

 

»Nein, ich will sie anbehalten!« sagte sie.

 

Instinktiv faßte ihre Hand an die Pistole, und sie legte ihren Daumen auf die Sicherung.

 

»Na gut, dann komm, wie du bist, es macht mir nichts aus.«

 

Er hielt sie fest an der Hand und ging neben ihr her, erstaunt und gut gelaunt, daß sie so wenig Widerstand leistete. Sie gingen in die Bibliothek und von da in den kleinen Salon, der dicht daneben lag. Er stieß die Tür auf und zeigte ihr die festlich geschmückte Tafel. Dann ließ er sie vor sich eintreten.

 

»Wein und Küsse«, rief er laut, als er den Korken einer Champagnerflasche an die Decke knallen ließ. »Wein und Küsse!« Er schwenkte das Glas so zu ihr hin, daß der Schaumwein an ihre Jacke spritzte und daran herunterfloß.

 

Sie schüttelte stumm den Kopf.

 

»Trink aus«, rief er, und sie berührte das Glas mit ihren Lippen.

 

Dann nahm er sie, bevor sie wußte, was vorging, in seine Arme, sein großes Gesicht preßte sich an ihre Wangen.

 

Sie versuchte der Umarmung zu entkommen, konnte aber nur den Mund abwenden und fühlte seine heißen Lippen auf ihrer Wange.

 

Plötzlich ließ er sie los, schwankte zur Tür und schloß sie ab. Er hatte aber den Schlüssel noch nicht losgelassen, als er ihre Stimme hörte:

 

»Wenn Sie nicht sofort aufschließen, werde ich Sie niederschießen!«

 

Belustigt und überrascht schaute er auf. Als er aber die Pistole in der Hand des Mädchens sah, hielt er seine zitternde Hand vor das Gesicht.

 

»Willst du wohl die Pistole nach unten richten, du dummes Mädchen«, schrie er. »Herunter damit! Du weißt gar nicht, was du tust! Das verfluchte Ding könnte doch durch einen Zufall losgehen!«

 

»Es wird nicht zufällig losgehen«, sagte sie. »öffnen Sie sofort die Tür.«

 

Er zögerte einen Augenblick. Ihr Daumen drückte die Sicherung herunter. Er hatte die Bewegung bemerkt.

 

»Schieß nicht, schieß nicht!« brüllte er laut und riß die Tür weit auf. »Warte, geh nicht hinaus. Bhag wird dich fassen! Komm zu mir, ich will –«

 

Sie lief den Gang entlang. In der Halle glitt sie auf einem Teppich aus, richtete sich aber sofort wieder auf. Mit zitternden Händen öffnete sie die Ketten und Riegel, dann stieß sie das Tor weit auf und war im Freien.

 

Sir Gregory folgte ihr. Der Schrecken über ihre plötzliche Flucht machte ihn nüchtern, und er wurde sich all der schlimmen Folgen bewußt, die die Sache haben konnte. Er eilte bestürzt in sein Arbeitszimmer und öffnete den Geldschrank, zog einen großen Stoß Banknoten heraus, nahm eine pelzgefütterte Jacke von einem Haken und schlüpfte hinein. Er zog sich eben starke Schuhe an, als er plötzlich an Bhag dachte. Er öffnete seinen Raum, aber der Affe war nicht da. Ein schrecklicher Gedanke kam ihm. Wenn Bhag das Mädchen erwischte! Ein Rest menschlichen Gefühls tauchte dumpf in seinem Gemüt auf. Zuerst mußte er wissen, wo Bhag war. Er ging in die Dunkelheit hinaus, um seinen schrecklichen Diener zu suchen. Er legte beide Hände an den Mund und stieß einen langen, klagenden Schrei aus. Diesem Ruf war Bhag bisher immer gefolgt. Er wartete, aber er hörte nichts. Wieder ließ er den melancholischen Ruf ertönen, aber wenn Bhag ihn gehört hatte, wurde er ihm zum erstenmal in seinem Leben untreu.

 

Kalter Angstschweiß trat auf Gregory Pennes Stirn. Und als er wartend stand, kam er wieder zu sich. Er mußte irgend etwas unternehmen. Er ging in sein Schlafzimmer, zog den Pyjama aus, und kurze Zeit darauf war er wieder in dem dunklen Garten, um den Affen zu suchen. Als er jetzt richtig angezogen war, fühlte er sich mutiger. Vorher hatte er noch ein großes Glas Whisky getrunken, um seinen Mut zu stärken.

 

Er klingelte nach dem Diener, der gleichzeitig Chauffeur war. »Bring das Auto zur hinteren Tür«, sagte er, »und zwar sofort. Sieh auch zu, daß das Tor offen ist. Es ist möglich, daß ich heute noch fort muß.«

 

Er zweifelte nicht daran, daß man ihn festnehmen würde. Weder sein Reichtum noch seine Stellung, noch sein Einfluß, den er im ganzen Land hatte, konnten ihn davor retten. Diese letzte Dummheit, die er begangen hatte, war denn doch zu stark.

 

Plötzlich erinnerte er sich, daß Stella Mendoza noch im Haus war, und rannte nach oben, um nach ihr zu sehen. Als sie in sein Gesicht schaute, war ihr klar, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorgegangen war.

 

»Wo ist Helen?« fragte sie ihn heftig.

 

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Sie ist entflohen. Sie hatte eine Pistole. Bhag ist hinter ihr her. Mag der Himmel wissen, was noch geschieht, wenn er sie erwischt. Er wird sie in Stücke zerreißen. Was ist das?«

 

Man hörte von fern her einen Pistolenschuß, und zwar aus der Richtung hinter dem Haus.

 

»Wahrscheinlich Wilderer«, sagte Gregory unsicher. »Also, nun höre zu, ich gehe jetzt.«

 

»Wohin gehst du?« fragte sie.

 

»Das geht dich nichts an«, sagte er rauh. »Hier ist Geld.« Er nahm einige Banknoten und gab sie ihr.

 

»Was hast du gemacht?« fragte sie starr vor Schrecken.

 

»Ich habe gar nichts gemacht, sage ich dir«, fuhr er sie an. »Aber sie werden mich deswegen festsetzen. Ich gehe jetzt zu meiner Jacht. Du würdest auch besser tun, das Haus zu verlassen, bevor sie kommen!«

 

Sie nahm schnell Hut und Handschuhe. Plötzlich hörte sie, wie die Tür zufiel und sich der Schlüssel wieder umdrehte. Ohne es zu wollen, hatte er sie wieder eingeschlossen, und in seiner Aufregung achtete er nicht mehr auf ihr Klopfen.

 

Griff Towers stand auf einer Erhöhung, und man konnte von hier aus die Straße nach Chichester übersehen. Als er vor seinem Haus stand und immer noch hoffte, den Affen zu finden, sah er plötzlich zwei Lichter, die sich mit größer Geschwindigkeit näherten.

 

»Die Polizei«, stöhnte er und eilte Hals über Kopf durch den Küchengarten zur Hintertür.

 

Kapitel 37

 

37

 

Helen hastete den Fahrweg entlang. Sie hatte nur den einen Gedanken, diesem schrecklichen Haus zu entkommen. Das Tor war geschlossen und die Pförtnerloge dunkel. Sie versuchte verzweifelt, die eisernen Riegel zu öffnen, aber sie waren zu schwer. Als sie rückwärts blickte, sah sie in dem Schein des Lichtes, das aus der offenen Halle drang, eine Gestalt, die heimlich auf einem der Grasstreifen entlangschlich, die den Fahrweg einsäumten. Einen Augenblick dachte sie, es sei Gregory Penne. Aber dann erkannte sie die scheußliche Gestalt. Sie war beinahe vor Schrecken gelähmt. Es war Bhag!

 

Sie bewegte sich so ruhig wie nur möglich die Mauer entlang, indem sie von Strauch zu Strauch kroch, aber er hatte sie schon gesehen und kam hinter ihr her. Er bewegte sich langsam und vorsichtig, als ob er nicht ganz sicher wäre, daß er sie verfolgen dürfe. Vielleicht gab es noch ein anderes Tor in der Mauer, dachte sie sich und schlich weiter. Von Zeit zu Zeit blickte sie zurück. Die Pistole hatte sie in der Hand. Angstschweiß trat auf ihre Stirn.

 

Jetzt verließ sie die schützende Wand und ging quer über die Wiese. Im ersten Augenblick glaubte sie, ihrem Verfolger entkommen zu sein, denn Bhag mied freie Plätze, aber jetzt sah sie ihn wieder. Er war auf gleicher Höhe mit ihr und trabte an der Wand entlang. Aber er eilte sich nicht. Sie hoffte, daß er am Ende die Verfolgung aufgäbe, wenn sie ruhig ihren Weg fortsetzte. Vielleicht war er ihr nur aus Neugierde gefolgt. Aber diese Hoffnung wurde bald zerstört. Sie stieg über einen niedrigen Zaun und kam auf einen Weg, der sie näher und näher zur Mauer brachte. Als sie dies merkte, wandte sie sich plötzlich von dem Weg ab und eilte durch hohes, taufeuchtes Gras. Nach den ersten Schritten war sie schon bis zu den Knien durchnäßt, aber in ihrer Aufregung bemerkte sie es nicht einmal. Bhag hatte die Mauer verlassen und folgte ihr jetzt ins Freie. Sie hätte gern gewußt, ob die Mauer das ganze Grundstück umgab, und war froh, als sie an einen niedrigen Zaun kam. Sie stolperte fast über eine Böschung, die offensichtlich die östliche Grenze des Geländes bildete. Sie lief, so schnell sie konnte, obgleich sie nicht wußte, wohin sie kam. Als sie sich umschaute, merkte sie zu ihrem Schrecken, daß Bhag immer noch hinter ihr war, doch blieb er immer gleich weit von ihr entfernt. In der Ferne sah sie die Lichter eines Hofes. Er schien gar nicht sehr weit abzuliegen, aber in Wirklichkeit waren es mehr als zwei Kilometer. Mit einem Seufzer der Erleichterung bog sie von der Straße ab und lief eine kleine Böschung hinauf, aber als sie die höchste Stelle erreicht hatte, sah sie zu ihrer Enttäuschung, daß die Lichter sehr weit entfernt waren. Sie wandte sich um und entdeckte Bhag. Sie konnte seine grünen Augen in der Dunkelheit funkeln sehen.

 

Wo mochte sie eigentlich sein? Sie blickte umher und erkannte die Gegend wieder. Vor ihr links erhob sich die massige Silhouette des alten Griff Tower. Plötzlich gab Bhag seine Rolle als Beobachter auf und sprang mit einem hundeähnlichen Knurren auf sie zu. Sie floh in der Richtung des Turmes. Ihr Herz klopfte so schnell, daß sie jeden Augenblick zusammenzubrechen drohte. Eine Hand faßte ihre Jacke und riß sie ihr herunter. Das brachte sie zur Besinnung. Sie mußte ihrem Feind entgegentreten, wenn sie nicht zugrunde gehen wollte.

 

Mit einer plötzlichen Bewegung wandte sie sich um und hob die Pistole. Sie stand jetzt Bhag Auge in Auge gegenüber. Er brummte und zerrte an der Jacke in seiner Hand. Wieder duckte er sich zum Sprung. Sie drückte ab. Der unerwartet laute Knall erschreckte sie so, daß sie beinahe die Pistole fallen ließ. Mit einem ängstlichen Heulen fiel Bhag hin und griff nach seiner verwundeten Schulter. Aber er richtete sich gleich wieder auf und zog sich langsam zurück. Trotzdem behielt er sie immer noch im Auge.

 

Was sollte sie tun? Der Affe konnte sich im Gebüsch wieder an sie heranschleichen und jeden Augenblick auf sie losgehen. Sie blickte nach dem Turm. Wenn sie nur oben auf die Mauer klettern könnte. Da erinnerte sie sich an die Leiter, die Jack Knebworth zurückgelassen hatte. Aber wahrscheinlich war sie inzwischen schon abgeholt worden. Sie schlich sich heimlich an den Turm und beobachtete dabei immer den Affen. Obgleich er ganz still dasaß, wußte sie doch, daß er ihr mit den Augen folgte. Als sie in der Nähe des Turmes in dem Gras suchte, fühlte sie eine Sprosse der Leiter. Sie konnte sie ohne viel Mühe aufrichten und gegen die Mauer lehnen.

 

Bhag war immer noch da. Der düstere Glanz seiner Augen war schrecklich anzusehen. In großer Hast stieg sie die Leiter hinauf und zog sie in die Höhe. Bhag kroch näher und näher, heran, bis er den Fuß der Mauer erreicht hatte. Dreimal machte er Anstrengungen, die Wand emporzuklettern, aber es gelang ihm nicht. Sie hörte, wie er vor Wut keuchte. Dann ließ sie die Leiter an der Innenseite des Turmes hinunter. Lange Zeit beobachteten die beiden einander. Schließlich entfernte sich Bhag. Sie verfolgte seine häßliche Gestalt mit den Augen, solange sie ihn sehen konnte. Als sie sicher war, daß er nicht wiederkehren würde, beschäftigte sie sich wieder mit der Leiter. Das untere Ende mußte sich in einem der Büsche verfangen haben. Sie zog dauernd, und als sie sich zum drittenmal mühte, die Leiter freizubekommen, gelang es ihr. Aber sie verlor dabei das Gleichgewicht. Einen Augenblick hielt sie sich noch mit der Hand oben an der Mauer fest, dann fiel sie halb gleitend nach unten. Atemlos richtete sie sich wieder auf. Sie hätte über ihr Mißgeschick lachen können, wenn sie sich nicht so entsetzlich einsam in ihrer neuen Umgebung gefühlt hätte. Sie versuchte, die Leiter aufs neue aufzustellen, aber im Dunkeln war es unmöglich, einen festen Standpunkt zu finden. Sie erinnerte sich, daß sie damals kleine Steine und Felsen hier unten gesehen hatte, und begann danach zu suchen. Sie erreichte den Boden der kreisförmigen Senkung und zog einen Zweig beiseite – mit den Füßen fühlte sie nach einem sicheren Halt und versuchte weiterzugehen. Plötzlich kam sie ins Gleiten und fiel durch einen schrägen Schacht in die Tiefe der Erde!

 

Kapitel 38

 

38

 

Immer tiefer rutschte sie hinab. Mit einer Hand versuchte sie, sich in der weichen Erde festzuhalten, mit der anderen hielt sie krampfhaft die kleine Pistole. Einmal stießen ihre Füße heftig gegen einen vorspringenden Felsen, und der Stoß verursachte ihr große Schmerzen. Sie durfte nicht daran denken, wohin sie kam. Nach einer Ewigkeit wurde der Boden endlich waagerecht. Sie überschlug sich noch ein paarmal und blieb an einer Felswand liegen, gegen die sie unsanft anprallte. Der Atem verging ihr fast. Obwohl es ihr endlos lang erschienen war, konnten es doch nur ein paar Sekunden gewesen sein. Ein paar Minuten lag sie bewegungslos, dann erholte sie sich langsam wieder. Mit einem Seufzer erhob sie sich. Sie fühlte an ihren schmerzenden Fuß und bewegte ihn, um zu sehen, ob sie irgend etwas gebrochen hätte. Als sie in die Höhe schaute, sah sie oben einen bleichen Stern und entdeckte die Öffnung, durch die sie heruntergefallen war. Sie machte sofort Anstrengungen, wieder emporzukommen, aber die weiche Erde gab unter ihren Füßen immer wieder nach, und sie sank jedesmal zurück.

 

Sie bemerkte, daß sie einen Schuh verloren hatte, tastete rings umher und fand ihn nach einiger Zeit, halb mit Erde bedeckt. Sie klopfte ihn aus, wischte die Sohle ihres Strumpfes ab, und zog ihn wieder an. Dann setzte sie sich hin und überlegte, was sie tun könnte. Mit Tagesanbruch würde es möglich sein, ihre Umgebung genauer zu durchsuchen. Soviel sie auch nachdachte, sie mußte bis zur Morgendämmerung warten.

 

Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie immer noch die mit Erde beschmutzte Browningpistole in der Hand hielt. Sie lächelte und reinigte sie, so gut sie konnte. Dann sicherte sie die Waffe wieder und steckte sie in ihre Bluse.

 

Das Rätsel von Bhags Erscheinen auf dem Turm war nun gelöst. Er hatte sich damals in der Höhle verborgen!

 

Wie weit mochte sich wohl die Höhle ausdehnen? Sie schaute sich links und rechts um, aber sie konnte nichts sehen. Vorsichtig tastete sie sich weiter, indem sie jeden Fußtritt ihres Weges vorher untersuchte. Ihre Hand berührte einen steinernen Pfeiler, aber sie zog sie schnell zurück, denn er war naß und kalt.

 

Dann machte sie eine wichtige Entdeckung. Sie ging langsam die Wand entlang und fühlte mit ihrer Hand eine Nische. An der glatten Oberfläche erkannte sie, daß sie von Menschen angelegt sein mußte. Als sie weiter hineinfaßte, fühlte sie einen Gegenstand. Ihr Herz schlug vor Erregung. Er kam ihr so vertraut vor, und als sie ihn näher untersuchte, war es wirklich eine Laterne. Sie nahm sie heraus und öffnete das Glastürchen. Eine Kerze steckte darin, und auf dem Boden der Laterne fand sie eine Schachtel Streichhölzer.

 

Es war kein Wunder, wie sie noch erfahren sollte, aber im Augenblick erschien ihr die Möglichkeit, Licht zu machen, wie eine Antwort auf ihre unausgesprochenen Gebete. Sie entzündete mit so zitternder Hand ein Streichholz, daß es wieder ausging. Das zweitemal gelang es ihr, den Docht der Kerze anzustecken. Das Licht war noch ganz neu und leuchtete zuerst nur schwach. Aber als das Wachs zu schmelzen begann und sie die Laterne wieder schloß, tauchte nach und nach ihre Umgebung aus dem Dunkel.

 

Sie war in einer engen Höhle. Von der Decke hingen unzählige Tropfsteingebilde herunter. Am Eingang der Höhle hatte sie nichts von dem herabsickernden Wasser bemerkt, das nun einmal untrennbar mit diesen Formationen verbunden ist. Aber weiter hinten war der Boden der Höhle naß, und ein dünner Wasserstrom rann in einem ausgehöhlten Bett an einer Seite des Weges entlang. Sie schritt vorwärts. Die Höhle erweiterte sich, und sie sah viele Stalaktiten zur Rechten und zur Linken. Sie standen in so regelmäßigen Zwischenräumen und waren von so gleichmäßiger Gestalt, daß es aussah, als ob sie von Menschenhand geformt worden wären. Kleinere Nebenhöhlen taten sich zu beiden Seiten auf. In dem Licht der Laterne glänzten die verborgenen Schätze der Erde. Sie sah feenhafte Grotten aus steinernem Spitzenwerk, und das Licht der Kerze spiegelte sich in kleinen Seen und Teichen. Die Höhle wurde immer breiter, bis sie in einem großen, weiten Saal stand, der mit Eisspitzen verziert zu sein schien. Hier lagen auf dem Boden merkwürdige weiße Stöcke umher, Hunderte in jeder möglichen Größe und Form. Im Glanz der Laterne hatten sie ein weißliches Aussehen. Sie bückte sich und nahm einen davon auf, ließ ihn aber sofort entsetzt wieder fallen. Es waren Menschenknochen!

 

Schwer atmend eilte sie durch die große Höhle, die wieder enger und dem Teil ähnlicher wurde, in den sie hineingefallen war. In einer anderen Nische fand sie eine zweite Laterne mit einem neuen Licht und Streichhölzern. Wer mochte sie hierhergebracht haben? Über die erste Lampe hatte sie nicht weiter nachgedacht, die gehörte für sie in das Reich der Wunder. Aber diese zweite Laterne machte sie doch unruhig. Wer hatte die Lichter in Zwischenräumen in der Höhle verteilt? Es sah fast so aus, als ob jemand seine Flucht hätte vorbereiten wollen. Es mußte also hier unten jemand wohnen. Bei diesem Gedanken atmete sie schneller.

 

Langsam ging sie vorwärts und prüfte wieder den Weg. Die zweite Laterne hängte sie über ihren Arm, ohne sie anzuzünden. An einer Stelle war der Boden der Höhle von fließendem Wasser bedeckt, an einer anderen mußte sie durch einen kleinen unterirdischen Teich waten, wobei ihr das Wasser bis über die Knöchel ging. Dann wandte sich die Höhle mit einer jähen Wendung nach rechts. Von Zeit zu Zeit stand sie still und horchte. Sie hoffte den Klang einer menschlichen Stimme zu hören und fürchtete sich doch wieder bei diesem Gedanken. Die Decke der Höhle senkte sich tiefer. Hier und da sah sie, daß Stalaktiten abgeschlagen waren, um Raum für den Durchgang zu schaffen. Das konnte nur der Geheimnisvolle getan haben, der hier hauste.

 

Sie wehrte sich gegen die schrecklichen Gedanken, die in ihr aufstiegen, und ging weiter. Sie brauchte mehr Kraft und Mut als jemals zuvor in ihrem Leben.

 

Der Weg durch die Höhle machte abermals eine scharfe Biegung. Wieder sah sie, daß sich kleine Nischen in den Wänden öffneten. Plötzlich hielt sie an, also sie in eine der Grotten hineinleuchtete. Zu Tode erschrocken stand sie still. Zwei Menschen lagen nebeneinander ausgestreckt – sie unterdrückte den Schrei, der sich auf ihre Lippen drängte, und preßte die Hände auf den Mund. Sie schloß die Augen, um das Gräßliche nicht zu sehen, Die beiden Toten hatten keine Köpfe mehr! Sie lagen in flachen Löchern, und das Wasser tropfte unaufhörlich auf sie nieder.

 

Lange Zeit konnte sie sich nicht bewegen oder die Augen öffnen, aber schließlich siegte ihr Wille, und sie hielt mit eisiger Ruhe den Anblick aus, der sie bis ins Innerste erstarren ließ. Auch in der nächsten Grotte lag eine Leiche. Sie war dem Zusammenbruch nahe, als sie einen dünnen Lichtschein in der düsteren Ferne auftauchen sah. Er bewegte sich und schwankte. Dann hörte sie ein schauerliches Lachen.

 

Sofort löschte sie ihre Laterne aus. Sie lehnte sich eng an die Wand der Höhle. Alle die greulichen Spuren um sie herum versanken, sie war sich nur der Gefahr bewußt, die ihr jetzt drohte. Plötzlich entzündete sich ein größeres Licht, dann noch eins, bis die entfernten Höhlenräume taghell erleuchtet waren. Als sie noch starr vor Entsetzen stand, drang ein Schrei durch die Stille.

 

»Hilfe, um Himmels willen, Hilfe! Brixan, ich will noch nicht sterben!«

 

Sie erkannte die krächzende Stimme Sir Gregory Pennes.

 

Kapitel 39

 

39

 

Es war dieselbe schrille Stimme, die auch Mike in Griff Towers hörte. Er rannte quer durch den Park zum hinteren Tor, wo ein Wagen mit abgeblendetem Licht stand. Daneben wartete ein erschrockener brauner Diener.

 

»Wo ist dein Herr?« fragte Mike schnell.

 

Der Mann zeigte in die Richtung der Felder.

 

»Er ging diesen Weg«, sagte er mit zitternder Stimme. »In der großen Maschine war ein böser« Geist, sie bewegte sich nicht, als er anfahren wollte.«

 

Mike sah, was geschehen war. Im letzten Moment hatte der Motor versagt. Das war eins von den Mißgeschicken, die sowohl den Gerechten wie den Ungerechten ereilen konnten. Penne war zu Fuß geflohen.

 

»Welchen Weg ging er?«

 

Wieder zeigte der Mann in dieselbe Richtung.

 

»Er lief«, sagte er schlicht.

 

Mike wandte sich an den Detektiv, der ihn begleitete.

 

»Bleiben Sie hier, es ist möglich, daß er zurückkehrt. Nehmen Sie ihn sofort fest, und legen Sie ihn in Eisen. Wahrscheinlich hat er Waffen bei sich, vielleicht will er auch Selbstmord begehen.«

 

Er war nun schon so oft über diese Felder gegangen, daß er den Weg mit verbundenen Augen gefunden hätte. Er lief, so schnell er konnte, bis er auf die Chaussee kam. Aber nirgends konnte er Sir Gregory sehen. In fünfzig Meter Entfernung sah er Licht in einem Fenster des Obergeschosses von Mr. Longvales Haus. Er wandte sich dorthin.

 

Noch hatte er‘ nichts von dem Baron gesehen. Schnell ging er durch das Gartentor und klopfte an die Haustür, die gleich darauf von dem alten Herrn selbst geöffnet wurde. Er trug einen seidenen Hausmantel, der durch einen Gürtel zusammengehalten wurde. Ein Bild behaglichen Friedens, dachte Mike für sich.

 

»Wer ist da?« fragte Mr. Sampson Longvale, indem er in die Dunkelheit hinausschaute. »Beim Himmel, das ist Mr. Brixan, der Diener des Gesetzes. Kommen Sie herein!«

 

Er öffnete die Tür weit, und Mike ging in das Wohnzimmer, in dem die beiden unvermeidlichen Leuchter brannten. Heute wurde der Raum außerdem noch durch eine kleine silberne Petroleumlampe erhellt.

 

»Ist in Griff Towers ein Unglück passiert?« fragte Mr. Longvale ängstlich.

 

»Ja«, sagte Mike vorsichtig. »Haben Sie irgendwo Sir Gregory Penne gesehen?«

 

Der alte Herr schüttelte den Kopf. »Ich fand die Nacht zu kühl, um meinen gewöhnlichen Spaziergang im Garten zu machen«, sagte er. »So habe ich nichts von den aufregenden Ereignissen bemerkt, die sich anscheinend unvermeidlicherweise immer in dieser finsteren Zeit zutragen. Ist Sir Gregory etwas zugestoßen?«

 

»Ich hoffe im Interesse aller, daß ihm nichts zugestoßen ist«, sagte Mike ruhig, ging durch den Raum, stützte den Ellenbogen auf den Kamin und schaute auf das Gemälde, das darüber hing.

 

»Bewundern Sie meinen Verwandten?« fragte Mr. Longvale.

 

»Ich will nicht gerade sagen, daß ich ihn bewundere, aber er war sicher ein schöner, alter Herr.«

 

Mr. Longvale neigte den Kopf.

 

»Haben Sie seine Memoiren gelesen?«

 

Mike nickte, und Longvale schien durchaus nicht überrascht zu sein.

 

»Ja, ich habe etwas über den Inhalt seiner Memoiren gelesen«, sagte Mike ruhig. »Aber neuerdings hält man sie nicht mehr für authentisch.«

 

Mr. Longvale zuckte die Achseln.

 

»Ich persönlich glaube jedes Wort«, sagte er.

 

»Mein Onkel war ein Mann von hervorragender Bildung.«

 

Es war erstaunlich, daß der Detektiv, der eben Hals über Kopf von Griff Towers fortgestürzt war, um womöglich einen Mörder zu fassen, so ruhig dastand und sich über Memoiren unterhielt.

 

»Manchmal kommt mir der Gedanke, daß Sie sich zuviel mit Ihrem Onkel beschäftigen, Mr. Longvale«, sagte Mike höflich.

 

Der alte Herr runzelte die Stirn.

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Ich meine, daß das zu einer Versuchung, ja zu einer unheilvollen Manie werden kann. Solche Heldenverehrung bringt manchmal einen Mann dazu, Taten zu begehen, die kein vernünftiger Mensch ausführen würde.«

 

Longvale blickte erstaunt zu ihm hin.

 

»Kann man denn etwas Besseres tun, als die Taten eines großen Mannes nachzuahmen?«

 

»Nein, aber Ihre Urteilskraft ist ganz und gar in Verwirrung geraten. Sie legen ihm Tugenden bei, die in Wirklichkeit keine sind. Man kann ja schließlich auch Pflichterfüllung für eine Tugend halten – und man kann auch das, was schrecklich ist, mit dem Begriff ›groß‹ verwechseln.«

 

Mike drehte sich um, legte seine Hände flach auf die Tischplatte und sah den alten Herrn an, der seinen Blick frei erwiderte.

 

»Ich möchte, daß Sie heute abend mit mir nach Chichester kommen.« »Warum?«

 

»Weil ich davon überzeugt bin, daß Sie ein kranker Mann sind, der der Pflege bedarf.«

 

Longvale lachte und richtete sich kerzengerade auf.

 

»Krank? Ich war niemals gesünder in meinem Leben, niemals mehr auf der Höhe und niemals stärker.«

 

Und er sah auch wirklich so aus, wie er sagte. Seine Größe, seine breiten Schultern, seine gesunde Gesichtsfarbe, alles sprach für sein körperliches Wohlergehen.

 

Es entstand eine lange Pause.

 

»Wo ist Gregory Penne?« fragte Mike, indem er jedes Wort betonte.

 

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Der alte Mann sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wir sprachen soeben über meinen Großonkel – Sie kennen ihn natürlich?« fragte er.

 

»Ich erkannte dieses Bild auf den ersten Blick wieder. Ich dachte, ich hätte mein Wissen verraten, aber anscheinend habe ich das doch nicht getan. Ihr Großonkel« – Mike sprach jedes Wort mit Bedacht aus – »war Samson, mit anderem Namen Longvale, der oberste Scharfrichter von Frankreich!«

 

Ein tiefes Schweigen folgte diesen Worten.

 

»Er hat verschiedene Heldentaten ausgeführt … Er hängte drei Mann an einem Galgen von sechzig Fuß Höhe, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt – und enthauptete Ludwig XVI. von Frankreich und seine Gemahlin Marie Antoinette.«

 

Die Augen des alten Herrn glänzten vor Genugtuung und Stolz. Er schien noch mehr zu wachsen.

 

»Durch welch phantastische Laune des Schicksals Sie dazu getrieben wurden, sich gerade in England niederzulassen und welcher verrückte Einfall Sie dazu brachte, heimlich den Beruf Samsons auszuüben und weit und breit arme, hilflose, verzweifelte Menschen umzubringen, weiß ich nicht.«

 

Mike sprach mit gewöhnlicher Stimme und in ruhigem Unterhaltungston. Longvale antwortete ebenso.

 

»Ist es denn nicht besser«, erwiderte er höflich, »daß ein Mann nicht selbst Hand an sich legt und das unverzeihliche Verbrechen des Selbstmordes begeht? Bin ich nicht ein Wohltäter für die Menschen gewesen, die nicht wagten, sich selbst das Leben zu nehmen?«

 

»Zum Beispiel für Lawley Foß«, sagte Mike, indem er Longvale keinen Augenblick aus den Augen ließ.

 

»Er war ein Verräter, ein ganz gemeiner Erpresser, der glaubte, daß er Dinge, die zufällig zu seiner Kenntnis kamen, dazu gebrauchen könnte, Geld aus anderen herauszuholen.«

 

»Wo ist Gregory Penne?«

 

Der alte Herr lächelte ruhig.

 

»Wollen Sie mir denn nicht glauben – das ist sehr unhöflich von Ihnen –, ich habe Sir Gregory nicht gesehen.«

 

Mike zeigte auf den Kamin, wo der Rest einer Zigarette noch glomm.

 

»Da ist seine Zigarette«, sagte er. »Und hier sind seine schmutzigen Fußspuren auf dem Teppich – dann habe ich einen Schrei gehört … Wo ist er?«

 

Mike fühlte nach seiner schweren Browningpistole in der Tasche. Eine Bewegung Longvales hätte jetzt genügt, daß Mike ihn über den Haufen geschossen hätte. Er stand einem Irrsinnigen der gefährlichsten Art gegenüber. Er hätte keinen Augenblick gezögert, abzudrücken.

 

Aber Longvale zeigte gar keinen Widerstand, aus seiner Stimme sprach die Höflichkeit selbst, und er schien stolz auf seine Verbrechen zu sein, die in seinen Augen Heldentaten waren.

 

»Wenn Sie tatsächlich wünschen, daß ich heute abend nach Chichester gehen soll, dann will ich es tun. Ihrer Meinung nach haben Sie ja recht, ebenso nach der Meinung Ihrer Vorgesetzten. Aber wenn Sie meiner Tätigkeit ein Ziel setzen, fügen Sie der leidenden Menschheit grausamen Schaden zu. Meine gute Absicht, ihr zu dienen, hat mich viele tausend Pfund gekostet. Aber ich bedaure es nicht.«

 

Er nahm eine Flasche aus dem großen Eichenbüfett, das an der Wand stand, wählte mit größter Sorgfalt zwei Gläser aus und füllte sie.

 

»Wir wollen auf unsere gegenseitige gute Gesundheit trinken«, sagte er mit seiner alten Höflichkeit, hob sein Glas an die Lippen und trank es mit demselben Genuß aus, mit dem alte Weinkenner einen guten Jahrgang kosten.

 

»Sie trinken nicht, Mr. Brixan? Jemand anders hat schon getrunken.«

 

Auf dem Büfett stand ein halbleeres Glas, Mike bemerkte es erst jetzt.

 

»Der Wein hat ihm anscheinend nicht geschmeckt.«

 

Mr. Longvale seufzte.

 

»Nur wenig Leute können den Wein richtig schätzen«, sagte er, indem er ein Stäubchen von seinem Rock abstreifte. Er zog ein seidenes Taschentuch aus der Tasche, bückte sich und entfernte elegant den Staub von seinen Schuhen.

 

Mike stand auf einem schmalen Teppich, der vor dem Kamin lag. Er hatte die Hand an der Pistole, seine Nerven waren gespannt. Er wartete nur auf den Moment, in dem Longvale versuchen wollte, etwas gegen ihn zu unternehmen. Wann und woher die Gefahr kommen würde, konnte er nicht ahnen, aber es war höchste Gefahr im Verzug. Er war durch das sanfte Betragen Longvales eher beunruhigt als erleichtert. Eine Gänsehaut überlief ihn.

 

»Sie sehen, mein lieber …«, begann Longvale zu sprechen.

 

Plötzlich, bevor Mike merkte, was geschah, hatte Longvale das Ende des Teppichs, auf dem der Detektiv stand, gefaßt und es mit einem schnellen Ruck zu sich hingezogen. Mike verlor das Gleichgewicht und fiel schwer zu Boden. Sein Kopf schlug gegen die eichene Täfelung, die Pistole glitt über den glatten Fußboden. Wie ein Blitz warf sich der Alte auf ihn. Mike fühlte die Berührung kalten Stahls an seinen Handgelenken.

 

Draußen hörte man Schritte. Longvale erhob sich, zog hastig seinen Hausmantel aus und band ihn um den Kopf des Detektivs – es wurde an der Tür geklopft. Durch einen Blick überzeugte er sich, daß er vor seinem Gefangenen sicher sein konnte, dann löschte er die Lampe und einen der beiden Leuchter. Mit dem anderen ging er auf den Gang. Er war in Hemdsärmeln, und der Beamte von Scotland Yard, der draußen wartete, entschuldigte sich, daß er den alten Herrn gestört hatte.

 

»Haben Sie Mr. Brixan gesehen?«

 

»Mr. Brixan? Ja, er war vor einigen Minuten hier und ging dann nach Chichester weiter.«

 

Mike hörte Stimmen, aber er konnte nicht unterscheiden, was gesagt wurde. Die seidene Hülle um seinen Kopf drohte ihn zu ersticken. Er war nahe daran, ohnmächtig zu werden, als Longvale allein zurückkam, den Hausmantel wieder abwickelte und sich anzog.

 

»Wenn Sie Lärm machen, werde ich Ihre Lippen zusammennähen«, sagte er so ruhig und gutmütig, daß es unmöglich erschien, daß er seine Drohung auch ausführen würde. Aber Mike wußte nur zu gut, daß er nach dem Beispiel seines Großonkels verfuhr und nur das androhte, was jener oft in die Tat umgesetzt hatte.

 

»Es tut mir in vieler Beziehung leid, daß Sie daran glauben müssen«, sagte der alte Herr mit aufrichtigem Bedauern. »Sie sind ein junger Mann, vor dem ich den größten Respekt habe. Das Gesetz ist mir heilig, und ich achte seine Diener besonders hoch.«

 

Er zog eine Schublade im Büfett auf, nahm eine große Serviette heraus, faltete sie sorgfältig und knüpfte sie fest um Mikes Mund. Dann hob er ihn auf und setzte ihn auf einen Stuhl.

 

»Wenn ich noch jung und beweglich wäre, würde ich mir einen Scherz erlauben, den mein Onkel Charles Henry auch fertiggebracht hätte – ich würde nämlich über Nacht Ihren Kopf auf die Spitze des Tores von Scotland Yard aufspießen.«

 

Mike konnte nicht antworten, aber er hatte seine ruhige Selbstüberlegung wiedergewonnen, und obwohl sein Kopf noch heftig schmerzte, waren seine Gedanken wieder klar. Er war gespannt auf die nächsten Ereignisse und vermutete, daß er nicht lange zu warten brauchte.

 

Hier hatte auch Bhag bewußtlos gelegen – Mike ahnte, daß Longvale seine Opfer mit vergiftetem Wein betäubte, mit Butylchlorid, mit dem der Mörder arbeitete, wie er ja wußte.

 

Mike sollte bald erfahren, was nun kommen würde. Der alte Herr öffnete eine Tür des Büfetts und nahm einen großen Stahlhaken heraus, an dessen Ende sich ein Flaschenzug befand. Er langte zur Decke hinauf und hing die Öse des Hakens an einen eisernen Bolzen, der in einen überhängenden Balken eingeschlagen war. Mike hatte ihn schon vorher gesehen und sich überlegt, welchen Zweck er wohl haben mochte. Jetzt lernte er seine Bedeutung kennen. Von der Anrichte holte Longvale ein langes Tau. Das eine Ende befestigte er an der Rolle, das andere legte er geschickt und flink um die Brust Mikes und zog es unter seinen Armen durch. Jetzt bückte sich Longvale und rollte den Teppich auf. Mike sah, daß sich darunter eine Falltür befand. Diese hob er hoch und legte sie um. Ein großes Loch gähnte dem Detektiv entgegen. Er konnte nichts sehen. Nur das Stöhnen eines Menschen drang zu ihm herauf.

 

»Ich denke, wir können das jetzt entbehren«, sagte Longvale und löste die Serviette.

 

Hierauf zog er das Tau an – wie es schien, ohne sich dabei anzustrengen, und Mike schwebte in der Luft. Es war sehr unangenehm für ihn, und er hatte die absurde Vorstellung, daß er lächerlich aussehen mußte. Longvale steckte seine Füße durch die Öffnung und ließ nach und nach das Tau herunter.

 

»Wollen Sie so liebenswürdig sein und mir sagen, wann Sie den Boden berühren?« sagte er. »Ich will dann zu Ihnen hinunterkommen.«

 

Als Mike nach oben sah, bemerkte er, wie das lichte Viereck in der Decke über ihm kleiner und kleiner wurde. Er wußte nicht, wie lange er so in der Luft schwebte und hin und her schaukelte. Er konnte nicht wahrnehmen, daß er sich bewegte, und plötzlich, ehe er sich versah, berührten seine Füße den Boden, und er stieß einen Schrei aus.

 

»Sind Sie gut angekommen?« fragte Mr. Longvale höflich. »Bitte treten Sie ein paar Schritte zur Seite. Ich will jetzt das Tau hinunterwerfen, es könnte Sie sonst verletzen.«

 

Mike keuchte, aber er führte trotzdem die Anweisung aus und hörte gleich darauf, wie das Tau herunterfiel und auf dem Boden aufschlug. Oben wurde die Falltür geschlossen. Neben sich hörte er ein wildes Stöhnen.

 

»Sind Sie das, Penne?«

 

»Wer ist da?« fragte eine furchtsame Stimme. »Sind Sie es, Brixan? Wo sind wir? Was ist hier vorgegangen.«

 

»Haben Sie geschrien, als Sie aus Dower House fortliefen?«

 

»Ja, das tat ich. Ich fühlte, wie dieses tödliche Gift mich betäubte, und rannte hinaus. Aber mehr weiß ich nicht. Wo sind Sie, Brixan? Die Polizei wird uns doch hier befreien?«

 

»Hoffentlich noch lebend!« antwortete Mike wütend.

 

»Wer ist eigentlich dieser Mann? Sind dies die Höhlen? Ich habe von ihnen gehört. Es riecht furchtbar erdig hier. Sehen Sie etwas?«

 

»Ich glaubte eben ein Licht zu sehen«, sagte Mike. »Aber meine Phantasie spiegelt mir wohl etwas vor.« Plötzlich fragte er: »Wo ist Helen Leamington?«

 

»Das mag der Himmel wissen!« Penne zitterte.

 

Mike versuchte seine Handgelenke aus den Fesseln zu lösen, aber selbst wenn ihm das gelungen wäre, konnte er mit seinen Händen allein wenig gegen den alten Mann ausrichten. Er hatte seine Pistole verloren, aber in seiner Hosentasche trug er das lange, haarscharfe Messer, das ihm schon aus manchem Handgemenge herausgeholfen hatte. Es war die einzige unfehlbare Waffe, wenn die Pistole versagte. Aber er wußte, daß er keine Gelegenheit haben würde, dieses Messer zu gebrauchen.

 

Er setzte sich auf den Boden und versuchte ein Kunststück, das er auf einer Bühne in Berlin gesehen hatte – er wollte mit seinen Beinen durch die gefesselten Hände steigen, so daß er sie nach vorn bekam. Aber er bemühte sich umsonst. Dann hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde und Mr. Longvale etwas sagte.

 

»Ich möchte Sie nicht lange warten lassen.« Er trug eine Laterne in seiner Hand, die beim Gehen hin und her schaukelte. Dies schien die Finsternis um sie her nur noch schwärzer zu machen. »Ich liebe es nicht, daß meine Patienten sich erkälten!«

 

Die fernen Wände der Höhle warfen das Echo seines schaurigen Lachens zurück. Er stand still, steckte ein Streichholz an, und gleich darauf brannte eine Petroleumlampe, die auf einem vorspringenden Felsen befestigt war. Er entzündete noch eine andere, dann eine dritte und eine vierte. In dem grellen Licht sah man jeden Gegenstand in der Höhle mit erschreckender Deutlichkeit. Mikes Blick fiel auf ein rotes Gerüst in der Mitte der Höhle, und obgleich er mutig und auf diesen schrecklichen Anblick vorbereitet war, begann er zu zittern.

 

Es war eine Guillotine!

 

Kapitel 3

 

3

 

Helen Leamington bewohnte ein gerade nicht sehr geräumiges Zimmer in einem kleinen Haus. Aber manchmal wünschte sie sogar, daß es noch kleiner sei. Sie hätte dann den Mut gefunden, die unbeugsame, starke Frau Watson zu bitten, die Miete herunterzusetzen. Die Statistinnen in Jack Knebworths Filmgesellschaft wurden gut bezahlt, aber sie waren nur mäßig beschäftigt, denn Jack war einer der klugen Direktoren, die sich auf einheimische Milieufilme spezialisierten, für die kein großer Apparat notwendig war.

 

Sie zog sich gerade an, als Mrs. Watson ihr den Frühstückstee brachte.

 

»Draußen spioniert schon den ganzen Morgen ein junger Mann herum«, sagte sie. »Bereits als ich die Milch holte, habe ich ihn gesehen. Er war sehr höflich, aber ich sagte ihm, Sie wären noch nicht aufgestanden.«

 

»Wollte er denn mich aufsuchen?« fragte das Mädchen erstaunt.

 

»Ja, so sagte er«, entgegnete Mrs. Watson ärgerlich. »Ich fragte ihn, ob er von Knebworth käme, aber das verneinte er. Wenn Sie ihn sprechen wollen, können Sie in den Salon gehen, aber ich habe es nicht gerne, wenn junge Herren junge Mädchen besuchen. Vorher habe ich niemals an Theaterleute vermietet, und Sie können in diesem Punkt nicht vorsichtig genug sein. Ich halte seit jeher auf einen ehrenwerten Namen, und ich möchte das auch in Zukunft tun.«

 

Helen lächelte.

 

»Aber ich kann mir wirklich nichts Unschuldigeres vorstellen als einen Besuch zu so früher Morgenstunde, Mrs. Watson.«

 

Sie ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Der junge Mann stand in einem Seitengang und kehrte ihr den Rücken zu. Als er hörte, daß die Tür geöffnet wurde, drehte er sich um. Er sah sehr gut aus und war tadellos gekleidet. Er blickte sie mit einem Lächeln an, in dem eine Bitte lag.

 

»Ich hoffe, daß Ihre Wirtin Sie nicht meinetwegen aufgeweckt hat. Ich hätte warten können. Sie sind Miss Helen Leamington?«

 

Sie nickte.

 

»Treten Sie bitte näher«, sagte sie und führte ihn in den kleinen, dumpfen Salon. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wartete sie, bis er sprach.

 

»Ich bin Reporter«, sagte er zu seiner Einführung.

 

Sie war unangenehm berührt.

 

»Kommen Sie, um Erkundigungen wegen Onkel Francis anzustellen? Ist denn wirklich etwas Schlimmes passiert? Schon vor einer Woche war einmal ein Detektiv bei mir. Hat man ihn aufgefunden?«

 

»Nein, bis jetzt wurde er nicht gefunden. Sie kennen ihn doch sehr gut, Miss Leamington?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich bin ihm nur zweimal in meinem Leben begegnet. Mein verstorbener Vater und er lagen in Streit, schon bevor ich geboren wurde. Ich habe ihn nur ein einziges Mal nach dem Tode meines Vaters gesehen, und dann, bevor meine Mutter so schwer krank wurde.«

 

Sie hörte, wie er seufzte, und fühlte seine Erleichterung. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, warum es ihm angenehm war, daß ihr Onkel ihr fremd war.

 

»Aber Sie haben ihn doch in Chichester getroffen?« fragte er.

 

Sie nickte.

 

»Ja, das stimmt. Ich habe ihn einen Augenblick lang gesehen, als ich mit einer ganzen Gesellschaft in einem Wagen nach Good Wood-Park unterwegs war. Er ging den Fußweg entlang und sah krank und vergrämt aus. Er kam gerade aus einem Papierladen. Er trug eine Zeitung unter dem Arm und einen Brief in der Hand.«

 

»Wo war der Laden?« fragte er schnell.

 

Sie nannte ihm die genaue Adresse, die er notierte.

 

»Haben Sie ihn nicht wiedergesehen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ist denn irgend etwas Schlimmes passiert?« fragte sie ängstlich. »Ich habe oft gehört, wie meine Mutter sagte, daß Onkel Francis etwas ausschweifend und gewissenlos sei. War er in einer schwierigen Lage?«

 

»Ja«, gab Mike zu. »Aber es war nichts, weswegen Sie sich aufregen müßten. – Sie sind eine große Filmschauspielerin?«

 

Trotz ihrer Angst mußte sie lachen.

 

»Wenn Sie in Ihrer Zeitung schreiben, daß ich es bin, kann ich Sie nicht daran hindern. In Wirklichkeit bin ich es nicht.«

 

»Wenn ich was …?« fragte er, im Moment etwas verdutzt.

 

»Ach ja, Sie meinen, wenn ich das in meiner Zeitung schreibe natürlich!«

 

»Ich vermute, daß Sie gar kein Reporter sind«, sagte sie mit einem plötzlichen Verdacht.

 

»Aber natürlich bin ich einer«, beruhigte er sie rasch und nannte den Namen eines wenig verbreiteten Blattes.

 

»Nun gut. Obgleich ich keine große Schauspielerin bin und sogar fürchte, niemals eine zu werden, glaube ich bestimmt, daß es nur daran liegt, daß ich niemals Gelegenheit hatte – auf der anderen Seite jedoch habe ich schrecklichen Argwohn, daß Mr. Knebworth gefühlsmäßig weiß, daß ich doch keinen Erfolg haben werde.«

 

Mike Brixan war nun aufs neue an dem Fall interessiert. Er gestand sich ehrlich ein, daß die Nichte von Francis Elmer schuld daran war. Er hatte noch kein junges Mädchen getroffen, das so schön war und sich so ungekünstelt und natürlich gab.

 

»Ich vermute, daß Sie jetzt zum Atelier gehen wollen?«

 

Sie nickte.

 

»Würde Mr. Knebworth etwas dagegen haben, wenn ich Sie einmal im Atelier besuchte?«

 

Sie zögerte.

 

»Mr. Knebworth liebt das gar nicht.«

 

»Dann werde ich vielleicht ihn besuchen«, sagte Mike, indem er ihr zunickte. »Es ist ja schließlich gleich, wen ich besuche. Nicht wahr?«

 

»Mir macht es gewiß nichts aus«, sagte das Mädchen kühl.

 

Man könnte sagen, ich habe den Vogel in der Schlinge, dachte Mike, als er die Straße hinunterging.

 

Seine Nachforschungen dauerten nicht lange. Er fand den kleinen Zeitungsladen und hatte das Glück, daß der Inhaber sich auf Mr. Francis Elmer gut besinnen konnte.

 

»Er holte sich einen Brief ab, aber der war nicht an ihn adressiert«, sagte er. »Viele Leute holen sich ihre Briefe bei mir ab – ich habe dadurch einen guten Nebenverdienst.«

 

»Hat er sich eine Zeitung gekauft?«

 

»Nein, Sir. Er hatte eine unter dem Arm. Ich konnte den Namen lesen. Es war das ›Morgen-Telegramm‹. Ich kann mich deutlich daran erinnern, weil er auf der ersten Seite eine von den persönlichen Anzeigen blau umrandet hatte. Das fiel mir auf. Ich habe hinten noch ein Exemplar von der Nummer.«

 

Er ging in den kleinen anstoßenden Wohnraum hinter dem Laden, kam mit einer unsauberen Zeitung zurück und legte sie vor Mike auf den Ladentisch.

 

»Auf der Vorderseite sind sechs solche Anzeigen, aber ich weiß nicht mehr, welche es war.«

 

Mike überflog sie. Zuerst las er den Aufruf einer untröstlichen Mutter an ihren Sohn. Sie bat ihn, zurückzukehren, es sei ihm alles verziehen. Dann folgte ein Inserat in Geheimschrift, aber er hatte jetzt nicht Zeit, das zu entziffern. Das dritte betraf ein Stelldichein, das vierte gehörte eigentlich nicht in diese Spalte, es war die Ankündigung eines neuen Haarwassers. Als er das fünfte Inserat las, stutzte er.

 

In Sorge. Endgültige Instruktionen brieflich unter der bekannten Adresse. Nur Mut. Wohltäter.

 

»Ein Wohltäter?« wiederholte Mike Brixan. »In welcher Verfassung war denn der Mann, der den Brief abholte? War er sehr verstört?«

 

»Ja, Sir, er sah sehr verwirrt aus und war mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Es schien mir fast, als ob er den Kopf verloren hätte.«

 

»Die Beschreibung stimmt«, sagte Mike.

 

Kapitel 32

 

32

 

Stella hatte eine Nachricht mit demselben Inhalt auf ihrem Tisch zurückgelassen. Wenn sie zu einer gewissen Stunde nicht zurückgekehrt sei, solle die Polizei den Brief lesen, der auf ihrem Schreibtisch lag. Sie hatte jedoch nicht daran gedacht, daß der Brief nicht vor dem nächsten Morgen gefunden werden konnte. Für Stella Mendoza war die Unterredung, zu der sie fuhr, äußerst wichtig, ja sie konnte ausschlaggebend für ihr ganzes späteres Leben werden. Ihre Abreise verschob sie in der Hoffnung, daß Gregory Penne sich besser auf seine Verpflichtungen ihr gegenüber besinnen würde, obgleich sie nur wenig daran glaubte, daß er seine Meinung über den äußerst wichtigen Geldpunkt ändern würde. Und das war doch für sie die Hauptsache«.

 

Aber jetzt war er wie durch ein Wunder umgestimmt, sprach mit ihr am Telefon so liebenswürdig wie möglich und lachte herzlich, als sie sagte, unter welchen Vorsichtsmaßnahmen sie zu ihm kommen wollte. Erst als sie sich dann auf den Weg machte, stiegen doch wieder bange Gefühle in ihr auf.

 

Als sie in Griff Towers ankam, empfing der Baron sie nicht in der Bibliothek, sondern in dem großen Raum, der unmittelbar darüber lag. Er war viel länger, denn er zog sich nicht nur über die Bibliothek, sondern auch über den kleinen Salon hin. Er war ganz anders ausgestattet als alle anderen Räume im Haus. Nur einmal war Stella früher in dieser »Festhalle«, wie er sie nannte, gewesen. Der große leere Raum und die Dunkelheit, die darin herrschte, hatten ihr damals schon Furcht eingejagt. Nur sehr ungern erinnerte sie sich an die Orgie, die er damals für sie hatte aufführen lassen.

 

Der große Raum war mit einem dicken, weichen, schwarzen Teppich bedeckt. Nirgends sah man Möbel, nur an den Wänden standen niedrige, breite Diwans. Die Wände waren mit Dingen geschmückt, die er im Malaiischen Archipel gesammelt hatte. Die Decke wurde von zwei Reihen scharlachroter Pfeiler getragen. Drei mit gelber Seide verhangene Laternen verbreiteten gedämpftes Licht, machten den Raum aber nicht freundlicher.

 

Penne saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem seidenbedeckten Diwan und betrachtete den Tanz eines braunen Mädchens, das sich nach den seltsamen Melodien, die drei ernst aussehende Eingeborene ihren Gitarren entlockten, bewegte. Die Musikanten saßen in einer dunklen Ecke. Gregory trug einen feuerroten Pyjama. Der starre Blick seiner gläsernen Augen und der brutale Zug um seinen Mund sagten Stella genug über seinen Zustand.

 

Sir Gregory Penne war ganz der Sklave seiner Leidenschaften. Er war als Sohn eines reichen Mannes geboren und hatte sich niemals die Erfüllung seiner Wünsche versagen müssen. Sein Vermögen war automatisch gewachsen, und als die Freuden des Lebens keinen Reiz mehr für ihn hatten und er von Genüssen übersättigt war, suchte er Zerstreuung und wandte sich verbotenen Dingen zu. Die Plünderzüge, die seine Leute von Zeit zu Zeit in den Dschungeln von Borneo unternahmen, lieferten ihm Beute an Menschen und Dingen, die aber ihren Wert für ihn verloren, sobald er sie besaß.

 

Stella hatte einst Aussicht gehabt, die Herrin von Griff Towers zu werden. Aber da sie allzu schnell seinen Wünschen erlag, hatte sie bald alle Anziehungskraft für ihn verloren. Sie war ihm so gleichgültig geworden wie der Tisch, an dem er saß.

 

Der Arzt hatte ihm gesagt, daß ihn sein vieles Trinken unter die Erde bringen würde. Aber er trank um so mehr. Im Rausch hatte er herrliche Visionen. In seinen Phantasien begehrte er dann immer ein Mädchen, das ihn haßte. Übermäßig sinnlich und im Grunde feig, dachte er niemals an die unausbleiblichen unangenehmen Folgen seiner Abenteuer. Schließlich konnte er immer wieder durch Zahlung größerer oder kleinerer Summen alle Klagen, die sich gegen ihn erhoben, zum Schweigen bringen.

 

Der Eingeborene, der Stella in den Raum geführt hatte, verschwand, und sie ließ sich auf einem großen Diwan nieder. Lange blickte sie auf Gregory, bevor er sich bemüßigt fühlte, von ihr Notiz zu nehmen. Plötzlich drehte er sich zu ihr um und schaute sie mit seinen stupiden, leeren Augen an.

 

»Nimm Platz, Stella«, sagte er mit belegter Stimme. »Setz dich hin. Kannst du auch so tanzen wie die da? Keine von euch Europäerinnen kann das. Ihr habt alle nicht die Grazie und die Geschmeidigkeit. Sieh sie dir nur an!«

 

Das tanzende Mädchen drehte sich mit rasender Geschwindigkeit. Die Schleier, in die sie gehüllt war, umgaben sie wie eine Wolke. Plötzlich sank sie bei einem scharf abgerissenen Akkord der Gitarre mit dem Gesicht nach unten auf den Teppich. Gregory sagte etwas auf Malaiisch. Das Mädchen lächelte und zeigte seine weißen Zähne. Stella kannte sie schon von früher her. Damals traten immer zwei Tanzmädchen zusammen auf. Als die eine eines Tages an Scharlach erkrankte, wurde sie schnell wegtransportiert.

 

»Setz dich hierhin!« befahl er Stella. Dabei zeigte er mit seiner Hand auf den Platz neben sich. Alle Diener waren plötzlich wie durch einen Zauber aus dem Zimmer verschwunden. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter.

 

»Ich habe meinen Chauffeur draußen gelassen und ihm den Auftrag gegeben, sofort zur Polizei zu gehen, wenn ich in einer halben Stunde nicht wiederkomme«, sagte sie laut.

 

Er lachte nur.

 

»Stella, du hättest besser dein Kindermädchen mitbringen müssen. Was ist überhaupt mit dir los in der letzten Zeit? Kannst du denn von nichts anderem als von der Polizei schwätzen? Ich will einmal mit dir reden«, sagte er in einem sanfteren Ton.

 

»Und ich muß mit dir sprechen, Gregory. Ich bin im Begriff, Chichester zu verlassen und ich werde nicht mehr hierher zurückkehren.«

 

»Willst du damit sagen, daß du mich nicht wiedersehen willst? Das macht gar nichts. Ich habe wirklich genug von dir und werde dir keine Träne nachweinen.« – »Meine neue Gesellschaft –«

 

Er brachte sie durch einen Wink zum Schweigen.

 

»Wenn die Gründung einer neuen Filmgesellschaft mit meinem Geld erfolgen soll, so ist es besser, daß du die ganze Geschichte vergißt«, sagte er brüsk. »Ich habe erst kürzlich meinet Rechtsanwalt gesprochen – wenigstens jemand, der die Sache genau kennt. Er sagte mir, daß du dich in ebenso große Gefahr bringst und mit dem Gericht schwer in Konflikt gerätst, wenn du eine Erpressung versuchst und mir drohst, die Geschichte mit Tjarji zu verraten. Ich will dir ja Geld geben«, fuhr er fort, »nicht mein ganzes Vermögen, aber immerhin genug. Du bist doch auch keine Bettlerin, ich habe dir schon so viel. geschenkt, daß du drei Filmgesellschaften damit gründen könntest. Stella, nun höre mal zu, ich möchte gern das Mädchen haben.«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Was für ein Mädchen?« fragte sie ahnungslos.

 

»Helen – heißt sie nicht so – Helen Leamington?«

 

»Ach, du meinst die Statistin, die mir meine Rolle weggenommen hat?« stieß sie hervor.

 

Er nickte und sah sie mit seinen schläfrigen Augen an.

 

»Ja, die meine ich. Das ist mein Typ, und die gefällt mir besser, als du mir jemals gefallen hast. Deswegen brauchst du dich aber nicht beleidigt fühlen.«

 

Sie hörte ihm sprachlos zu.

 

»Es wird sehr schwer sein, sie zu bekommen«, fuhr er fort, »das weiß ich. Ich würde sie sogar heiraten, wenn sie das haben will – sowieso Zeit, daß ich daran denke. Du bist doch eine gute Freundin von ihr –«

 

»Eine Freundin?« rief Stella höhnisch, die plötzlich ihre Stimme wiederfand. »Wie kann ich denn ihre Freundin sein, wenn sie mir meine Position genommen hat! Und wenn ich es wäre, was würde das ausmachen? Bilde dir bloß nicht ein, daß ich ein Mädchen in diese Hölle auf Erden bringen würde!«

 

Er drehte den Kopf langsam zu ihr und schaute sie mit einem kalten, bösen und drohenden Blick an.

 

»Diese Hölle auf Erden war dein Himmel! Hier hast du erst Flügel bekommen, um dich zu entwickeln – geh nicht nach London zurück, Stella. Bleib noch ein oder zwei Wochen hier. Geh doch hin, lerne mal das Mädel kennen. Du hast dazu Gelegenheit wie kein anderer. Bring sie hierher, es soll nicht zu deinem Schaden sein. Du mußt ihr erzählen, was ich für ein netter Kerl bin und welche große Aussichten sie hat. Von der Heirat brauchst du noch nichts zu sagen, aber wenn es schließlich gar nicht anders geht, kannst du auch versuchen, ob sie darauf anbeißt. Zeig ihr den Schmuck, den ich dir geschenkt habe. Du weißt doch, das große Kollier –«

 

Und so schwatzte er weiter. Ihre Bestürzung wandelte sich allmählich in maßlosen Zorn.

 

»Du Schuft!« rief sie schließlich aus. »Daß du mir zumutest, dieses Mädchen nach Griff zu bringen! Ich kann sie gewiß nicht ausstehen, aber ich würde sie auf den Knien beschwören, nicht hierher zu gehen. Du denkst, ich bin eifersüchtig?« Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sein Grinsen sah. »Da täuschst du dich aber sehr, Gregory. Ich bin eifersüchtig, weil sie meine Stelle in dem Atelier eingenommen hat, aber soweit du in Frage kommst« – sie zuckte nur verächtlich die Schultern –, »du läßt mich überhaupt ganz kalt. Ich glaube nicht, daß du jemals etwas anderes für mich bedeutet hast als eine gewisse Einnahmequelle. Was sagst du nun?«

 

Sie sprang auf und begann ihre Handschuhe anzuziehen.

 

»Da du mir ja doch nicht helfen willst, Gregory, werde ich schon einen Weg finden, dich zu zwingen, dein Versprechen zu halten. Denn du hast mir die Gründung einer Gesellschaft versprochen, Gregory. Ich glaube, das hast du vergessen?«

 

»Damals hatte ich größeres Interesse an dir«, sagte er. »Wo willst du hingehen?«

 

»Ich gehe in meine Wohnung zurück, und morgen ziehe ich in die Stadt.«

 

Er sah zuerst nach dem einen Ende des Saales, dann nach dem anderen, und schließlich faßte er sie ins Auge.

 

»Du wirst nicht heimgehen, du bleibst hier«, sagte er kurz.

 

Sie lachte.

 

»Sprachst du nicht eben davon, daß dein Chauffeur zur Polizei gehen würde? Ich werde dir etwas sagen! Im Augenblick sitzt er in meiner Küche und ißt zu Abend. Wenn du glaubst, daß er dieses Haus eher verläßt als du, dann kennst du mich nicht, Stella!«

 

Er zog langsam seinen Hausmantel an, der auf dem Diwan lag. Stella blickte ihn an, er sah schrecklich aus. Etwas Gemeines und Niederträchtiges lag in seiner Haltung. Der feuerrote Pyjama gab seinem Gesicht obendrein noch einen dämonischen Zug, und sie fühlte tiefen Ekel und Abscheu vor ihm. Er hatte ihren Blick aufgefangen, merkte, was in ihr vorging und grinste schadenfroh.

 

»Bhag ist unten«, sagte er mit Nachdruck. »Er geht nicht gerade zart mit Leuten um, das ist dir bekannt. Neulich hat er einem Mädchen Räson beigebracht, aber gleich hinterher mußte ich den Arzt rufen. Du wirst mit mir kommen, ohne daß ich nachhelfen muß, wie?«

 

Sie nickte stumm. Ihre Knie schwankten, als sie mit ihm ging. Sie hatte Bhag in seinem Käfig oft gereizt.

 

Als sie den halben Gang hinter sich hatten, schloß er eine Tür auf.

 

»Geh da hinein und bleibe dort«, sagte er. »Morgen will ich mit dir sprechen – wenn ich nüchtern bin. Augenblicklich habe ich zuviel getrunken. Vielleicht schicke ich dir noch jemand zur Gesellschaft – das weiß ich jetzt noch nicht.« Er strich über sein wirres Haar und schien tatsächlich völlig betrunken. »Ich muß erst ganz nüchtern sein, wenn ich mit dir verhandle.«

 

Die Tür fiel ins Schloß, und sie hörte, wie der Schlüssel von außen umgedreht wurde. Sie stand in einem vollkommen dunklen Raum, der ihr unbekannt war. Einen Augenblick war sie starr vor Schrecken, denn sie wußte nicht, ob sie allein war.

 

Es dauerte einige Zeit, bis sie den Schalter fand. Sie machte Licht, und eine Glühbirne leuchtete hinter einer runden Kristallschale auf. Sie stand in einem kleinen Schlafzimmer. Es war keine Bettstelle da, nur eine Matratze und ein Kissen waren in einer Ecke als Lager zurechtgemacht. Schwere Eisengitter lagen vor dem einzigen Fenster des Raumes. Außer der Tür gab es keinen anderen Ausgang. Sie drückte die Klinke nieder. Von innen war kein Schloß vorhanden, und so konnte sie nicht einmal ihren eigenen Schlüssel versuchen.

 

Langsam ging sie ans Fenster und öffnete einen Flügel, denn die Luft in dem Raum war muffig. Als sie hinausschaute, sah sie, daß das Zimmer an der Rückseite des Hauses lag. Sie blickte über einen großen Rasenplatz auf eine Baumgruppe, die sie noch im Dunkeln erkennen konnte. Die Straße lief parallel mit der Vorderfront, und seihst wenn sie noch so laut geschrien hätte, niemand auf der Straße hätte sie hören können.

 

Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen und überdachte ihre Lage. Ihre Furcht hatte sie nun überwunden. Wenn es zu einem Kampf kommen würde, so hatte sie eine Waffe bei sich. Sie zog ihren Rock hoch und schnallte einen weichen Ledergürtel ab, den sie um die Taille gelegt hatte. Aus der Ledertasche zog sie eine Browningpistole, die wie ein Spielzeug aussah, in Wirklichkeit aber eine gefährliche Waffe war. Sie nahm einen Rahmen Patronen aus ihrer Jackentasche und steckte ihn in die Kammer. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß alles in Ordnung war, verbarg sie den Revolver wieder.

 

»Nun kannst du kommen, Gregory!« sagte sie laut. In dem Augenblick drehte sie sich nach dem Fenster um und stieß einen Schrei aus. Sie sah zwei starke Hände an den Eisenstangen und das schreckliche Gesicht eines Strolches. Ihre zitternde Hand suchte nach der Pistole, aber bevor sie die Waffe entsichern konnte, war das Gesicht wieder verschwunden. Obgleich sie sofort zum Fenster eilte, konnte sie nichts mehr sehen. Die Eisengitter hinderten den Ausblick.

 

Kapitel 33

 

33

 

Die Turmuhr von der Kirche in Chichester schlug zehn, als der Strolch, der vor einer halben Stunde in die Geheimnisse von Griff Towers eindringen wollte, über den Marktplatz schlenderte. Seine Kleider waren noch schmutziger und staubiger als zuvor. Der wachhabende Polizist, der ihn sah, stellte sich ihm quer in den Weg.

 

»Na, wieder auf der Walze?« fragte er.

 

»Ja«, sagte der Mann mit weinerlicher Stimme.

 

»Machen Sie, daß Sie so schnell wie möglich aus Chichester fortkommen. Oder wollen Sie ein Nachtquartier haben?«

 

»Ja, Herr Wachtmeister. Alles ist schon recht voll.«

 

»Das ist eine dicke Lüge«, sagte der Polizist. »Warum versuchen Sie denn nicht, in der Herberge für Heimatlose unterzukommen? Jetzt hüten Sie sich aber – wenn ich Sie noch einmal hier in der Stadt treffe, nehme ich Sie fest.«

 

Der abgerissene Mensch murmelte etwas vor sich hin und ging dann in der Richtung der Arundel Road weiter. Seine Schultern hingen herunter, und die Hände hatte er in den Taschen verborgen.

 

Als der Polizist ihn nicht mehr sehen konnte, bog er plötzlich nach rechts ab und beschleunigte seine Schritte, bis er an das Haus von Jack Knebworth kam. Der Direktor hörte ein Klopfen draußen, öffnete die Tür und schaute verwundert auf den Besuch.

 

»Was wollen Sie denn schon wieder?« fragte er.

 

»Ist Brixan gekommen?«

 

»Nein, er ist noch nicht hier. Es wäre besser, wenn Sie mir den Brief geben, er wird mich wahrscheinlich anrufen.«

 

Der Strolch grinste und schüttelte den Kopf. »Nein, das wird er nicht tun. Ich warte; bis ich ihn persönlich sehe.«

 

»Nun gut, heute abend werden Sie ihn hier nicht mehr treffen.« Dann fuhr er argwöhnisch fort: »Ich glaube, Sie wollen ihn überhaupt gar nicht sehen – Sie führen etwas ganz anderes im Schilde, wenn Sie hier herumlungern.«

 

Der abgerissene Mann antwortete nicht. Er pfiff den Refrain eines Gassenhauers und bewegte die Füße im Takt.

 

»Dem alten Brixan geht es nicht besonders«, sagte er.

 

Knebworth schien es fast, als ob die Stimme belustigt klänge.

 

»Was wissen Sie denn von ihm?«

 

»Er hat Krach mit seinen Vorgesetzten, das weiß ich«, sagte der Strolch. »Er konnte nicht ausfindig machen, wohin die Briefe gingen, daran liegt die ganze Geschichte. Aber ich weiß es.«

 

»Wollen Sie ihn deswegen sprechen?«

 

Der Mann nickte heftig.

 

»Ich weiß es«, sagte er wieder. »Ich könnte ihm etwas Wichtiges erzählen, wenn er hier wäre. Aber leider …«

 

»Wenn Sie wissen, daß er nicht hier ist – warum, zum Donnerwetter, kommen Sie denn dann her?«

 

»Weil mir die Polizei auf den Fersen ist. Der Posten auf dem Marktplatz will mich festnehmen, wenn er mich das nächstemal sieht. Da dachte ich mir, es wäre besser, wenn ich hierherkäme und mir die Zeit etwas vertriebe. Deswegen bin ich da.«

 

Jack sah ihn groß an.

 

»Na, Sie haben Nerven«, sagte er verblüfft. »Und da Sie sich nun die Zeit mit meiner Unterhaltung vertrieben haben, ist Ihr Ziel ja erreicht. Wollen Sie etwas essen?«

 

»O nein, ich führe ein recht angenehmes Leben.«

 

Sein schriller Londoner Dialekt fiel Jack auf die Nerven.

 

»Dann ist es ja gut. Gute Nacht!« sagte er kurz und schloß die Tür vor seinem merkwürdigen Besucher.

 

Der Vagabund stand eine Weile still, dann nahm er seine Mütze ab, zog eine Zigarette daraus hervor, steckte sie an und ging den Weg wieder zurück, den er gekommen war. Er machte aber einen großen Bogen um den Marktplatz, wo der unfreundliche Polizist Wache hielt.

 

Die Kirchturmuhr schlug Viertel nach zehn, als er an der Ecke der Arundel Road ankam. Er warf die Zigarette weg, trat in den Schatten einer Hecke und wartete.

 

Fünf Minuten verflossen – es wurden zehn Minuten – dann sah er einen Mann, der schnell denselben Weg entlangging, den er gekommen war. Er grinste im Dunkeln, denn er erkannte Knebworth. Jack war durch die Unterhaltung, die er eben mit ihm gehabt hatte, ängstlich geworden und wollte zur Polizei, um Erkundigungen über Mike Brixan einzuziehen. Das vermutete der Landstreicher, aber er hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, was der Direktor vorhatte, denn im selben Augenblick kam geräuschlos ein Auto um die Ecke und hielt in seiner Nähe.

 

Eine Stimme fragt durch das halboffene Fenster: »Sind Sie es, mein Freund?«

 

»Jawohl«, sagte der Strolch verdrießlich.

 

»Kommen Sie in den Wagen.«

 

Der Strolch schlich vorwärts und schaute in das dunkle Auto. Mit einem plötzlichen Griff riß er dann die Tür auf, stemmte einen Fuß gegen die Schwelle und stürzte sich auf den Fahrer.

 

»Jetzt habe ich Sie erwischt, Kopfjäger!« zischte er.

 

Er hatte diese Worte noch nicht ausgesprochen, als ihm etwas Weiches, Klebriges ins Gesicht spritzte. Er konnte nicht mehr sehen. Heftiger Schmerz durchzuckte ihn, so daß er die Tür losließ und wie ein zu Tode Getroffener Halt suchend in die Luft griff. Ein derber Fußtritt des Mannes im Auto traf ihn, er flog außer Atem auf den Bürgersteig, und das Auto verschwand in schnellster Fahrt.

 

Jack Knebworth hatte die Szene beobachtet, soweit das in dem Halbdunkel möglich war und kam herbei. Ein Polizist tauchte aus dem Dunkel auf, und die beiden hoben den abgerissenen Mann auf.

 

»Den habe ich heute schon einmal gesehen«, sagte der Polizist. »Ich habe ihn doch gewarnt.«

 

Der Mann auf dem Boden seufzte tief und lang und faßte mit seinen Händen nach den Augen.

 

»Das durfte nicht passieren – jetzt kann ich meine Entlassung einreichen!« sagte er langsam.

 

Knebworth traute seinen Ohren nicht, denn es war Mike Brixans Stimme, die da sprach!

 

Kapitel 34

 

34

 

»Ja, ich bin es«, sagte Mike bitter. »Es ist schon gut, Wachtmeister. Sie brauchen nicht zu warten. Jack, ich will mit Ihnen nach Hause gehen, um diese Maskerade loszuwerden.«

 

»Aber um Gottes willen«, stieß Jack atemlos hervor, indem er den Detektiv anstarrte. »Ich habe noch niemals jemand in einer so guten Verkleidung gesehen. Sonst lasse ich mich doch nicht so leicht täuschen.«

 

»Ich habe alle Leute hinters Licht geführt, mich selbst sogar«, sagte Mike wütend. »Ich bildete mir ein, daß ich ihn mit einem Brief in die Falle locken könnte. Statt dessen hat der Teufel mich geschnappt.« – »Womit denn?«

 

»Er hat mir eine konzentrierte Ammoniaklösung ins Gesicht gespritzt, vermute ich«, sagte Mike.

 

Nach zwanzig Minuten kam er aus dem Badezimmer wieder in seiner alten Gestalt zurück. Nur seine Augen waren schwer entzündet.

 

»Ich wollte ihn in die Falle locken, aber er war doch zu schlau.«

 

»Wissen Sie denn, wer es ist?«

 

Mike nickte.

 

»Ja, ich weiß es sehr genau. Ich habe eine besondere Polizeiabteilung hier, die nur wartet, ihn festzunehmen. Ich wollte kein großes Aufsehen erregen und vor allem kein Blutvergießen. Jetzt vermute ich, daß es nicht ohne Kampf abgehen wird.«

 

»Ich konnte den Wagen nicht erkennen, obwohl mir alle Autos hier in der Stadt bekannt sind«, sagte Jack.

 

»Es ist ein ganz neuer Wagen, den der Kopfjäger nur für seine nächtlichen Abenteuer benutzt. Wahrscheinlich stellt er ihn nicht in seiner eigenen Garage unter. – Eben haben Sie mich doch gefragt, ob ich etwas essen wollte. Da log ich und sagte, daß ich mit allem versehen sei. Geben Sie mir um Himmels willen etwas zu essen, ich bin hungriger als ein Wolf.«

 

Jack ging in die Speisekammer, brachte kaltes Fleisch, machte Kaffee und wartete schweigend, bis der ausgehungerte Detektiv gegessen hatte.

 

»Jetzt fühle ich mich wieder als Mensch«, sagte Mike. »Ich habe seit heute morgen um elf außer einigen Keksen nichts gegessen. Denken Sie sich, unsere Freundin Stella Mendoza befindet sich in Griff Towers, und ich glaube, daß ich sie erschreckt habe. Etwa vor einer Stunde habe ich dort herumspioniert, um sicher zu sein, daß mein Vogel auch im Netz sitzt. Als ich so herumschaute, sah ich sie. Sie hat furchtbar geschrien.«

 

Es klopfte laut an der Tür, und Jack Knebworth schaute auf.

 

»Wer kommt denn jetzt noch zu so später Stunde?« fragte er.

 

»Wahrscheinlich ein Polizist«, meinte Mike.

 

Knebworth öffnete die Tür, und draußen stand eine untersetzte, behäbige Frau in mittleren Jahren auf der Türschwelle und hielt eine Rolle Papier in der Hand.

 

»Sind Sie Mr. Knebworth?« fragte sie.

 

»Ja«, antwortete Jack.

 

»Ich bringe Ihnen das Manuskript, das Miss Leamington zu Hause ließ. Sie bat mich, es Ihnen zu geben.«

 

Knebworth nahm ihr die Rolle ab und streifte das Gummiband herunter, das sie zusammenhielt. Es war das Manuskript von Roselle.

 

»Warum bringen Sie das?« fragte er.

 

»Sie sagte mir, daß ich es zu Ihnen tragen sollte, wenn ich es finden würde«, entgegnete die Frau.

 

»Es ist schon gut«, sagte Jack arglos. »Ich danke schön.«

 

Er schloß die Tür hinter der Frau und ging in das Speisezimmer zurück.

 

»Helen hat ihr Manuskript gesandt, ich weiß nicht, was da los ist.«

 

»Wer brachte es denn?« fragte Mike interessiert.

 

»Soviel ich vermute, ihre Wirtin«, sagte Jack und beschrieb die Frau.

 

»Ja, das ist die Wirtin. Will Helen denn ihre Rolle nicht weiterspielen?«

 

»Es sieht fast so aus.« Jack schüttelte den Kopf.

 

Mike war erstaunt.

 

»Was soll das bedeuten? Was sagte denn die Frau?«

 

»Miss Leamington hätte sie gebeten, das Manuskript zu bringen, wenn sie es gefunden hätte.«

 

Im Augenblick war Mike aus dem Haus, lief so schnell er konnte und holte die Frau ein.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein, noch einmal mitzukommen?« fragte er und ging mit ihr zu Jacks Wohnung zurück.

 

»Bitte, sagen Sie doch Mr. Knebworth noch einmal, warum Miss Leamington das Manuskript gesandt hat und warum Sie es bringen sollten, wenn Sie es gefunden hätten.«

 

»Nämlich – das ist deshalb – als sie zu Ihnen ging«, begann die Frau.

 

»Zu mir ging?« rief Knebworth schnell.

 

»Ein Herr vom Atelier kam und sagte, daß Sie sie sofort sprechen wollten«, berichtete die Wirtin. »Miss Leamington wollte sich gerade zur Ruhe legen, aber ich habe ihr die Botschaft noch gebracht. Sie sagte mir schnell, daß Sie sie wegen der Aufnahmen morgen sehen wollten und daß Sie das Manuskript brauchten. Sie hatte es wohl verlegt und war sehr unruhig deshalb. Ich sagte ihr aber, daß sie schon gehen solle, da die Sache eilig war und versprach ihr, es nachzubringen. Schließlich bat sie mich, es so zu machen.«

 

»Was war denn das für ein Herr, der sie abholte?«

 

»Ein dicker Mann, wahrscheinlich ein Chauffeur. Er kam mir etwas angetrunken vor, aber ich wollte Miss Leamington nicht erschrecken und sagte ihr nichts davon.«

 

»Und was ereignete sich dann?« fragte Mike schnell.

 

»Sie ging auf die Straße und stieg in den Wagen ein. Der Chauffeur war schon auf seinem Sitz.«

 

»War es ein geschlossener Wagen?«

 

Die Frau nickte.

 

»Und sind sie dann abgefahren? Wann war das?«

 

»Es muß kurz nach halb elf gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich die Kirchturmuhr schlagen hörte, kurz bevor das Auto abfuhr.

 

Mike überlief es eiskalt. Er konnte kaum sprechen.

 

»Es ist jetzt elf Uhr fünfundzwanzig. Es hat lange gedauert, bis Sie gekommen sind.«

 

»Ich habe lange nach dem Schriftstück gesucht. Schließlich habe ich es unter dem Kopfkissen von Miss Leamington gefunden. Ist sie nicht hier?«

 

»Nein, sie ist nicht hier«, sagte Mike ruhig. »Ich danke Ihnen sehr, ich will Sie nicht aufhalten. Würden Sie so liebenswürdig sein und bei der Polizeistation auf mich warten?«

 

Er eilte die Treppe hinauf und zog seinen Rock an.

 

»Wo glauben Sie denn, daß sie jetzt ist?«

 

»Sie ist in Griff Towers«, antwortete Mike schnell. »Und ob Gregory Penne in dieser Nacht am Leben bleibt oder nicht, das hängt davon ab, ob er Helen etwas zuleide getan hat!«

 

Auf der Polizeistation fand er die Wirtin. Die arme Frau war sehr verwirrt und erschrocken.

 

»Was trug Miss Leamington, als sie ausging?«

 

»Sie hatte ihr blaues Kostüm an«, jammerte die Frau. »Das schöne blaue Kostüm, das sie immer trägt.«

 

Eine Truppe von Scotland-Yard-Polizisten wartete auf der Station. Ein vollbesetzter Wagen fuhr von Chichester weg. Mike dauerte es viel zu lange. Er war in fieberhafter Ungeduld. Der Wagen fuhr ihm zu langsam, jede Sekunde war kostbar. Schließlich, nach einer endlosen Zeit, wie ihm schien, bog das Auto auf den Fahrweg nach Griff Towers ein. Mike hielt nicht an, um den Pförtner zu wecken, sondern stieß das Tor auf, indem er den Wagen dagegenfahren ließ.

 

Er brauchte nicht zu klingeln, die Tür stand sperrangelweit offen, und an der Spitze der Mannschaft eilte Mike Brixan durch die die leere Eingangshalle. Schnell lief er den Gang entlang und kam in Gregorys Bibliothek. Es brannte nur ein Licht dort, das den Raum schwach erhellte. Aber das Zimmer war leer. Mit schnellen Schritten war er am Schreibtisch und drehte den Hebel. Bhags Käfig öffnete sich, aber auch der Affe war nicht da.

 

Er drückte den Klingelknopf auf der Seite des Kamins, und gleich darauf kam der braune Diener, den er von früher her kannte, zitternd herein.

 

»Wo ist dein Herr?« fragte Mike auf holländisch.

 

Der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht«, antwortete er, aber schaute nach oben zur Decke.

 

»Zeige mir den Weg!«

 

Sie gingen zur Eingangshalle zurück, eilten die breite Treppe zum oberen Geschoß empor, kamen wieder durch einen langen Korridor, der voller Schwerter hing, genau wie der untere. Dann fänden sie eine offene Tür – es war der große Tanzsaal, in dem Gregory Penne den Abend verbracht hatte. Aber es war niemand zu sehen; und Mike ging wieder hinaus. Plötzlich hörte er ein heftiges Klopfen an einer der Türen des Ganges. Der Schlüssel steckte im Schloß. Er drehte ihn um, und die Tür flog weit auf. Stella Mendoza, bleich wie der Tod, wankte heraus.

 

»Wo ist Helen?« keuchte sie.

 

»Das wollte ich gerade Sie fragen!« sagte Mike streng. »Wo ist sie?«

 

Stella schüttelte hilflos den Kopf. Sie war nicht mehr fähig zu sprechen und sank ohnmächtig um.

 

Er wartete nicht, bis sie wieder zu sich gekommen war, sondern suchte weiter. Er eilte von Zimmer zu Zimmer, aber er fand weder eine Spur von Helen, noch von dem brutalen Gregory. Er durchsuchte die Bibliothek noch einmal und ging auch zu dem kleinen Salon. Dort war ein Tisch für zwei Personen gedeckt. Das Tischtuch war feucht von vergossenem Wein. Ein halbleeres Glas stand da – aber die beiden, für die die Tafel gedeckt war, konnte man nicht entdecken. Sie mußten durch die Haupttür verschwunden sein … Aber wohin?

 

Alle seine Muskeln waren angespannt, und seine Gedanken waren nur auf die eine Frage gerichtet, deren Beantwortung ihm im Augenblick wichtiger als sein Leben war. Plötzlich hörte er ein Geräusch, das aus Bhags Raum kam. Er drehte sich um, und in der Tür erschien der fürchterliche Affe selbst. Er blutete aus einer Schulterwunde. Das Blut tropfte herunter. In seinen großen Händen hatte er etwas, das wie ein Bündel Lumpen aussah. Als Mike näher hinschaute, schien sich der Raum vor seinen Augen zu drehen.

 

Das zerrissene, mit Blut beschmutzte Kleidungsstück, das Bhag hielt, war die blaue Jacke Helen Leamingtons!

 

Einen Augenblick starrte Bhag den Mann an, den er als seinen Feind erkannte. Er ließ die Jacke fallen und eilte zähnefletschend in sein Quartier zurück. Dreimal hörte man den scharfen Knall von Mikes Browning, Und Bhag verschwand plötzlich. Die Tür seines Raumes schloß sich geräuschvoll.

 

Knebworth hatte die Szene mit angesehen. Er lief hinzu und hob die Jacke auf, die der Affe hatte fallen lassen.

 

»Das ist ihre Jacke«, sagte er heiser, und ein schrecklicher Gedanke ließ ihn erschauern.

 

Mike hatte die Tür zu dem Käfig geöffnet. Mit der Pistole in der Hand eilte er durch die Öffnung. Knebworth wagte nicht zu folgen. Er stand wie zu Stein erstarrt und wartete, bis Mike wieder erschien.

 

»Es ist nichts drinnen«, sagte er.

 

»Nichts?« fragte Knebworth flüsternd. »Gott sein Dank!«

 

»Bhag ist fort, ich denke, daß ich getroffen habe. Hier ist eine Blutspur, aber es ist möglich, daß sie nicht von meinem Schuß herrührt. Er muß kürzlich verwundet worden sein«, dabei zeigte er auf Blutspuren auf dem Fußboden. »Als ich ihn das letztemal sah, hatte er diese Wunde noch nicht.«

 

»Haben Sie ihn denn schon vor heute abend gesehen?«

 

Mike nickte. Wo mochte Helen sein? Das war die wichtigste Frage, und dieser Gedanke ließ alles andere für Mike Brixan in den Hintergrund treten. Und wo war der Baron? Warum hatten sie die Haustür offen gefunden? Keiner der Dienstboten konnte ihm darüber Auskunft geben, und er fühlte, daß sie die Wahrheit sprachen. Nur Penne und das Mädchen und der große Affe wußten darum Bescheid, wenn nicht –

 

Er eilte nach oben, wo er einen Detektiv bei Stella Mendoza zurückgelassen hatte, um die Bewußtlose wieder zu sich zu bringen.

 

»Sie ist von einer Ohnmacht in die andere gefallen«, berichtete der Beamte. »Sie sagte nur einmal: ›Schieß ihn nieder, Helen!‹«

 

»Dann muß sie sie doch gesehen haben!« stieß Mike hervor.

 

Einer der Polizisten, der draußen geblieben war, um das Gebäude zu bewachen, kam mit einer Meldung. Er hatte gesehen, wie eine dunkle Gestalt die Wand hinaufkletterte und durch eine Öffnung in der Mauer verschwand. Einige Minuten später war sie wieder erschienen.

 

»Das war Bhag«, bemerkte Mike. »Ich wußte, daß er nicht hier war, als wir ankamen. Er muß durch das Loch in der Mauer hereingekommen sein, während wir oben waren.«

 

Der Wagen, der Helen hierhergebracht hatte, wurde aufgefunden. Er gehörte Stella. Zuerst vermutete Mike, daß sie bei der Entführung ihre Hand im Spiel hatte. Er erfuhr aber später, daß ihr Chauffeur tatsächlich in der Küche gefangengehalten wurde, und Penne selbst bei Helen vorgefahren war. Er konnte sich durch eigenen Augenschein davon überzeugen, daß der Wagen Stella gehörte. Nun wurde ihm auch klar, warum Helen, ohne Verdacht zu schöpfen, eingestiegen und mitgefahren war.

 

Mike war nahe daran, wahnsinnig zu werden. Die Gefangennahme des Kopfjägers war ihm vollständig unwichtig geworden. Er dachte nur noch daran, wie er Helen retten könne.

 

»Wenn ich sie nicht finden kann, werde ich verrückt«, rief er.

 

Jack Knebworth wollte etwas erwidern, als eine plötzliche Unterbrechung eintrat. Ein furchtbarer Schrei gellte durch die Nacht, der allen durch Mark und Bein ging.

 

»Hilfe! Hilfe!«

 

Der Ruf klang schauerlich. Mike erkannte die Stimme eines Mannes – und dieser Mann war Gregory Penne.

 

Kapitel 27

 

27

 

Mr. Longvales beide Patienten wurden in dieser Nacht ins Krankenhaus gebracht, und als von den Ärzten ein günstiger Bericht über das Befinden des Mannes kam, hatte sich das Rätsel für Mike gelöst.

 

Er besuchte seinen alten Lehrer an diesem Abend. »Wieder wißbegierig?« fragte er gutgelaunt, als Mike eintrat.

 

»Sehr wißbegierig, Sie haben recht!« sagte Mike. »Obwohl ich bezweifle, daß Sie mir heute helfen können. Ich bin auf eine alte Chronik von Chichester aus.«

 

»Ich besitze eine aus dem Jahre 1600. Sie sind der zweite seit kurzer Zeit, der sie sehen möchte.«

 

»Wer war der andere?« fragte Mike schnell.

 

»Ein Mann namens Foß –« begann Mr. Scott. Mike nickte, als ob er das wüßte. »Er wollte etwas über die Höhlen wissen. Ich hatte niemals gehört, daß es hier Höhlen von Bedeutung gäbe. Wenn es Cheddar gewesen wäre, hätte ich ihm genügend Aufschluß geben können. Auf dem Gebiet bin ich eine Autorität.«

 

Er führte Mike in die Bibliothek, nahm einen alten Band herunter und legte ihn auf den Tisch.

 

»Nachdem Foß gegangen war, sah ich auch nach. Sie sind nur auf Seite 385 erwähnt. Der Bericht steht in Zusammenhang mit dem Verschwinden einer Reitertruppe unter Sir John Dudley, Earl von Newport, während einer lokalen Fehde, die sich in der Zeit Stephans in dieser Gegend abspielte. Hier ist die Stelle.« Er deutete darauf.

 

Mike las die altertümliche Schrift:

 

 

›Der edle Earl beschloß, seine Ankunft zu erwarten, und führte zwei Compagnien Reiterei nachts in die großen Höhlen, die zu jener Zeit vorhanden waren. Nach dem unergründlichen Willen Gottes, in dessen Hand wir alle stehen, ereignete sich um acht Uhr in der Frühe ein großer Erdrutsch, der alle diese Ritter und Herren und Sir John Dudley, Earl von Newport, unter sich begrub und ihr Leben vernichtete, so daß sie nie wieder gesehen wurden. Dies ereignete sich neun Meilen von dieser Stadt an einem Ort, der von den Römern Regnum genannt wurde oder Ciffanceaster von den Angelsachsen.‹

 

 

»Sind die Höhlen jemals gefunden worden?«

 

Mr. Scott schüttelte den Kopf.

 

»Es gehen Gerüchte in der Gegend um, daß sie vor anderthalb Jahrhunderten von Alkoholschmugglern benutzt wurden, aber solche Gerüchte finden Sie ja überall.«

 

Mike nahm eine Karte von Chichester aus seiner Mappe, maß neun Meilen ab und umzirkelte die Stadt. Die Linie ging nahe an der Besitzung Sir Gregorys vorbei. »Es gibt zwei Griff Towers?« sagte er plötzlich, als er die Karte prüfte.

 

»Ja. Außer Pennes Besitzung gibt es noch einen Turm, der nach der berühmten Grenzmarke – dem wirklichen Griff in Towers, wie er ursprünglich hieß – genannt ist. Ich glaube, er steht entweder in oder in der Nähe von Pennes Besitztum – ein sehr alter, runder Turm, ungefähr sechseinhalb Meter hoch. Sein Alter wird auf nicht ganz zweitausend Jahre geschätzt. Da ich mich sehr für archäologische Dinge interessiere, habe ich die Ruine genau untersucht. Der untere Teil ist zweifellos römisches Mauerwerk – die Römer hatten hier ein großes Lager. Und in der Tat war Regnum einer ihrer Hauptstützpunkte. Es gibt allerhand Erklärungen für seine Entstehung. Wahrscheinlich war er zuerst eine Schanze oder ein Blockhaus. Meiner Meinung nach war der ursprüngliche römische Turm nur einige Fuß hoch und überhaupt nicht als Festungsbau gedacht. In späteren Zeiten wurden die Umfassungsmauern erhöht, ohne daß man eigentlich recht wußte, warum.«

 

Mike lachte in sich hinein.

 

»Wenn meine Annahme richtig ist, werde ich in dieser Nacht noch mehr von diesem römischen Kastell erfahren«, sagte er.

 

Er ließ seine Koffer vom Hotel in sein neues Quartier bringen. Als er zurückkam, sah er, daß der Abendtisch für drei Personen gedeckt war.

 

»Erwarten Sie Besuch?« fragte Mike. Er beobachtete Jack Knebworth, der mit den letzten Vorbereitungen für die Ausstattung des Tisches beschäftigt war. Er hatte als Junggeselle ausgesprochenen Sinn für hübsche Anordnung und setzte die Bestecke, Teller, Gläser und Servietten ganz genau auf ihren Platz.

 

»Ja. Eine Freundin von Ihnen.«

 

»Von mir?«

 

Jack nickte.

 

»Ich habe Miss Leamington zu Tisch gebeten. – Wenn ich aber sehe, daß ein Mann in Ihrem Alter rot wird, wenn der Name einer jungen Dame erwähnt wird, so kann ich ihn nur bemitleiden. Sie kommt teils aus geschäftlichen Gründen, teils um einmal außerhalb der Geschäftszeit mit mir zusammen zu sein. Heute hat sie nicht so gut gespielt, wie ich erwartete, aber vermutlich waren wir alle heute nicht auf der Höhe.«

 

Bald darauf kam Helen Leamington. An diesem Abend sah sie wirklich entzückend aus. Mike konnte sie nicht genug ansehen, und obgleich er es sich noch nicht eingestand, hatte er sie doch in sein Herz geschlossen.

 

Jack Knebworth half ihr beim Ablegen des Mantels.

 

»Als ich hierher kam«, sagte sie, »dachte ich, wie sich doch alles so schnell ändern kann. Früher hätte ich im Traum nicht daran gedacht, daß ich einmal bei Ihnen eingeladen sein würde, Mr. Knebworth.«

 

»Und mir ist es auch niemals im Traum eingefallen, daß Sie sich einmal so in die Höhe arbeiten würden, daß ich Sie so auszeichnen kann. Und in fünf Jahren werden Sie zu sich sagen: Warum in aller Welt war es mir damals so wichtig, bei dem simplen Knebworth ein einfaches Mahl einzunehmen?«

 

Er legte seine Hand auf ihre Schulter und führte sie in das Zimmer. Jetzt erst sah sie Mike. Der junge Mann fühlte mit Unbehagen, daß sie etwas enttäuscht schien. Aber nur eine Sekunde, dann erklärte sie ihm den Wechsel ihres Mienenspiels, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

 

»Ich dachte, wir würden nur über Filme sprechen«, sagte sie lächelnd.

 

»Das sollen Sie auch«, erwiderte Mike. »Ich bin der beste Zuhörer auf der Welt. Der erste, der heute das Wort Mord erwähnt, wird zum Fenster hinausgeworfen.«

 

»Dann muß ich mich zur Flucht vorbereiten«, sagte sie gutgelaunt. »Denn ich möchte gern von Mord und Geheimnissen sprechen – später!«

 

Unter dem ermunternden Einfluß einer harmonischen Umgebung erschien das Mädchen in einem ganz neuen Licht. Alle Eigenschaften, die Mike ihr heimlich zugelegt hatte, erwiesen sich als wahr. Ihre Scheu und ihre fast kühle Reserve schmolzen in der Gesellschaft dieser beiden Menschen. Sie nahm an, daß der eine ihr zugetan war und der andere – nun ja, Mike war schließlich ein Freund.

 

»Ich habe heute nachmittag Detektiv gespielt«, sagte sie, nachdem der Kaffee serviert war, »und dabei habe ich interessante Entdeckungen gemacht. Ich erzählte Ihnen, daß ich gestern abend wieder das geheimnisvolle Auto sah. Zufällig konnte ich im Vorbeigehen das Muster sehen, das auf den Reifen der Hinterräder als Profil angebracht war. Als ich heute durch meine Straße ging, sah ich die Spur dieser Räder mitten auf dem schmutzigen Fahrdamm. Ich folgte ihr, und meine Vermutung bestätigte sich, daß sie nach dem Feldweg führte, der die Straße am Ende kreuzt. Es war die einzige Reifenspur auf diesem Weg. Zweifellos rührt sie von dem Wagen her, den der Fahrer mit der weißen Frauenhand lenkte. Ich sah in der Mitte der Straße Öl. Dort mußte der Wagen länger gehalten haben. Dies fand ich dort.« Sie öffnete ihre Handtasche und zog eine kleine dunkelgrüne Flasche daraus hervor. Sie trug kein Etikett und war nicht verschlossen. Mike nahm sie in die Hand, betrachtete sie aufmerksam und stellte einen starken, unangenehmen Geruch fest.

 

»Wissen Sie, was darin war?« fragte sie.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Lassen Sie mich auch einmal sehen«, sagte Jack Knebworth, nahm die Flasche aus Mikes Hand und führte sie an seine Nase. »Butylchlorid«, sagte er, und das Mädchen nickte.

 

»Ich dachte es mir gleich. Mein Vater war nämlich Apotheker, und als ich einmal in der Apotheke spielte, stand ein Schrank offen. Ich sah eine schöne Flasche darin, nahm sie und öffnete sie. Wer weiß, was mir zugestoßen wäre, wenn mein Vater mich nicht bemerkt hätte. Ich war damals noch ein Kind, aber ich habe den eigentümlichen Geruch nicht vergessen.«

 

»Butylchlorid.« Mike runzelte die Stirn. »Es ist bekannt unter den Namen ›Todestropfen‹. Dieses Mittel wird von Gaunern benützt, um Matrosen auszuplündern. Ein paar Tropfen in ein Weinglas genügen, um sie für lange Zeit bewußtlos zu machen.«

 

Mike nahm die Flasche wieder. Es war ein gewöhnliches Glas, wie es zur Aufbewahrung von Giften gebraucht wird, und als er näher hinsah, fand er auch das Wort »Gift« eingepreßt.

 

»Es ist keine Spur von einer Aufschrift zu finden«, sagte er.

 

»In Wirklichkeit besteht vielleicht gar kein Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Auto«, fügte Helen hinzu. »Es ist ja alles nur Vermutung von mir – ich habe eins ans andere gereiht.«

 

»Wo haben Sie die Flasche gefunden?«

 

»In einem Graben, der dort sehr tief und augenblicklich überflutet ist. Aber die Flasche fiel nicht so weit. Das war Entdeckung Nummer eins – hier ist Nummer zwei.«

 

Sie nahm einen sonderbar geformten, metallenen Gegenstand aus ihrer Tasche, der an beiden Seiten Bruchstellen zeigte.

 

»Wissen Sie, was das ist?« fragte sie.

 

»Nein«, sagte Jack und übergab Mike den Fund.

 

»Aber ich weiß es, weil ich es im Atelier gesehen habe«, sagte Helen. »Und Sie wissen es auch, nicht wahr; Mr. Brixan?«

 

Mike nickte.

 

»Es ist das Hauptgelenk einer Handschelle«, sagte er. »Das Gelenk, das beim Fesseln einschnappt.«

 

Es war mit rostigen Stellen bedeckt, die gereinigt worden waren. Helen sagte, daß sie das getan hätte.

 

»Das sind meine beiden Funde. Ich kann Ihnen meine Schlußfolgerungen nicht verraten, weil ich keine habe!«

 

»Diese Dinge brauchen überhaupt nicht aus dem Wagen geworfen worden zu sein«, sagte Mike. »Aber wie Sie sagen, besteht die Möglichkeit, daß der Besitzer des Autos die Gelegenheit wahrnahm, sie an dem einsamen Platz fortzuwerfen. Auf seinem eigenen Grund und Boden hätte er sie nicht brauchen können. Sicherer wäre es ja gewesen, wenn er sie ins Meer versenkt hätte. Aber so war es vermutlich leichter für ihn. Ich will sie aufheben.«

 

Er packte sie in Papier und steckte sie in die Tasche. Dann wandte sich die Unterhaltung wieder dem Film zu.

 

»Morgen werden wir Aufnahmen bei dem richtigen Griff Tower machen«, sagte Jeck Knebworth. »Er ist ein Wahrzeichen der ganzen Gegend – was belustigt Sie daran?« fragte er Mike.

 

»Nichts Besonderes. Ich hatte mir nur gleich gedacht, daß es so käme. Es war mein Gefühl, daß ich noch von dem verwünschten alten Turm hören würde!«

 

Kapitel 28

 

28

 

Mike war bedrückt. Er nahm die Geschichte mit der Limousine viel schwerer als das junge Mädchen, und besonders der Versuch, Helen in den Wagen zu locken, hatte ihn nervös werden lassen. Die Ereignisse der letzten Tage hatten es notwendig gemacht, den Detektiv, der ihr Haus bewachte, abzurufen. Bei dem Ernst der Lage entschied er sich aber, durch einen Ortspolizisten die Überwachung wieder aufnehmen zu lassen.

 

Nachdem er Helen in seinem Auto nach Hause gebracht hatte, fuhr er zur Polizeistation und bat um einen Mann. Aber es war zu spät, um den Inspektor selbst zu sprechen. Der Beamte, der die Aufsicht führte, wollte die Verantwortung nicht auf sich nehmen, den Befehl zu erteilen, und erst als Mike sich anschickte, an den Inspektor zu telefonieren, gab er widerwillig nach und entsandte einen uniformierten Polizisten, der in der Straße, in der Helen wohnte, auf und ab patrouillieren sollte.

 

Als Mike nach Hause kam, unterzog er die beiden Gegenstände, die Helen gefunden hatte, einer genauen Untersuchung. Butylchlorid war ein sehr schweres Gift …

 

Er prüfte das Gelenk der Handschelle noch einmal. Unheimliche Kraft hatte dazu gehört, das Verbindungsglied herauszubrechen. Dieses Geheimnis konnte er nicht enträtseln, und nachdem er sich lange vergeblich den Kopf darüber zerbrochen hatte, gab er es auf.

 

Bevor er sich zur Ruhe legte, erhielt er noch einen Anruf von Inspektor Lyle, der Griff Towers überwachte. Es hatte sich nichts Neues ereignet, und das Leben ging dort anscheinend seinen gewohnten Gang. Sir Gregory hatte den Inspektor ins Haus gebeten und ihm mitgeteilt, daß Bhag immer noch vermißt wurde.

 

»Diese Nacht müssen Sie noch dort bleiben«, sagte Mike. »Morgen werden wir den Posten aufheben. Scotland Yard ist der Ansicht, daß Sir Gregory nichts mit dem Tod von Foß zu tun hat.«

 

Ein Brummen auf der anderen Seite des Telefons drückte die Unzufriedenheit mit dieser Ansicht aus.

 

»Und ich behaupte, daß er trotzdem etwas damit zu tun hat«, sagte er. »Ich habe einen blutbefleckten, steifen Filzhut in den Feldern außerhalb der Mauer gefunden. Innen steht die Firma gedruckt: Chi Li Stores, Tjandi.«

 

Das war allerdings eine Neuigkeit.

 

»Schicken Sie ihn mir morgen früh her«, sagte Mike nach längerer Überlegung.

 

Gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen kam der Hut und wurde besichtigt. Knebworth, der das meiste von Mike gehört hatte, betrachtete das Fundstück neugierig.

 

»Wenn der Eingeborene Lawleys Hut trug, als er bei Mr. Longvale ankam, wo um alles in der Welt hat dann der Wechsel stattgefunden – es hätte doch nur zwischen Griff Towers und dem Haus des alten Herrn passieren können, es sei denn –«

 

»Es sei denn – was?« fragte Mike. Er hatte große Achtung vor Knebworths scharfem Verstand.

 

»Es sei denn,, daß der Wechsel im Hause von Sir Gregory stattfand. Sie sehen, daß keine Schnitte in dem Hut sind, obgleich er mit Blut befleckt ist. Da stimmt etwas nicht.«

 

»Es ist sehr sonderbar«, gab Mike zu. »Und trotzdem ist die Erklärung sehr einfach, wenn meine Theorie stimmt.« Er erzählte Knebworth nicht, welche Theorie er sich gebildet hatte.

 

Dann begleitete er Jack zum Atelier und sah den großen Autobus abfahren. Zu gerne wäre er aus irgendeinem Grund mitgekommen. Bei dieser lustigen, sorglosen Gesellschaft hätte er seine Unruhe und Sorge für einige Zeit vergessen.

 

Wie gewöhnlich jeden Morgen ließ er sich mit London verbinden, aber auch dort war nichts Neues vorgefallen. Es gab also wirklich keinen Grund, sich abhalten zu lassen. Sobald er sich entschieden hatte, stieg er in seinen Wagen und folgte der fröhlichen Schar.

 

Schon eine Viertelstunde, bevor er an Ort und Stelle war, sah er den alten Turm. Es war eine alte, verfallene Ruine, die den Eindruck einer ungewöhnlich hohen Schafhürde machte. Als er ankam, war der Autobus bereits von der Straße abgebogen und seitlich auf eine Wiese gefahren.

 

Die Schauspieler beendeten eben ihre Toilette und waren mit Schminken und Pudern gerade fertig geworden. Helen war im Augenblick nicht zu sehen. Sie kleidete sich in einem kleinen Zelt um. Jack Knebworth und der Operateur sprachen lebhaft über Tageslicht, Scheinwerfer und den Stand der Kamera.

 

Mike war zu vernünftig, um jetzt zu stören. Er ging zu dem Turm und beschaute sich das verschiedenartige Mauerwerk, das Generationen auf die ursprünglichen Fundamente getürmt hatten. Er verstand nicht viel von Mauerwerk, aber er konnte erkennen, bis zu welcher Höhe die Römer gebaut hatten. Er glaubte, dann auch noch den Teil zu unterscheiden, der in der Sachsenzeit aufgeführt worden war.

 

Einer der Hilfsarbeiter stellte eine Leiter auf, die Roselle gebrauchen sollte. Die Geschichte, die gefilmt wurde, handelte von einem Mädchen, das zuerst Choristin war und später die Frau eines hohen Adeligen wurde, der sich mit Archäologie befaßte. Der arme junge Mann, den sie in ihrer Jugend geliebt hatte – Mike vermutete mit Recht, daß Reggie Conolly diese traurige Rolle zu spielen hatte –, war immer zur Hand, um ihr zu helfen. Auch jetzt, wo sie in einem Verlies der Zitadelle eingeschlossen war, befreite er sie.

 

Der eigentliche Turm war in Arundel aufgenommen worden, in dem alten Griff Tower sollte nur gezeigt werden, wie das Mädchen an einem Tau aus ihrem Gefängnis entkam.

 

»Es ist verteufelt schwer, da herunterzukommen«, sagte Reggie düster. »Wenn auch im Innern der weißen Leinentücher ein festes Tau angebracht ist, damit die Geschichte nicht reißen kann, so ist doch Miss Leamington entsetzlich schwer. Versuchen Sie es doch selbst einmal, sie aufzuheben, Mr. Knebworth. Ich möchte gerne wissen, ob Sie sich dabei amüsieren würden!«

 

Mike stand dabei. Er hätte am liebsten diese Aufforderung gleich in die Tat umgesetzt.

 

»Was von mir in dieser Rolle verlangt wird, ist denn doch zu viel«, wehrte sich Reggie. »Ich bin kein Höhlenmensch, ich habe Knebworth auch gesagt, daß das keine Rolle für mich ist! Warum muß dann ausgerechnet hiervon eine Großaufnahme gemacht werden? Man könnte doch irgendeine Puppe dazu nehmen. Das würde auch genügen. Oder das einfachste wäre, wenn Miss Leamington allein herunterkletterte.«

 

»Das ist doch ganz einfach«, sagte Knebworth, der herbeigekommen war und die letzten Sätze gehört hatte. »Miss Leamington wird sich am Tau halten, so daß Sie nicht ihr ganzes Gewicht zu tragen haben. Sie brauchen nur sehr mutig und hübsch auszusehen.«

 

»Das ist alles gut und schön«, grollte Reggie. »Aber in meinem Kontrakt steht nichts davon, daß ich Taue hinauf- und hinunterklettern muß. Jeder von uns hat seine Zuneigungen und seine Abneigungen – aber derartige Dinge hasse ich.«

 

»Versuchen Sie es«, sagte Jack kurz.

 

Ein Requisitenarbeiter hing das Tau an einem Nagel auf, den er an der Innenseite des Turmes eingeschlagen hatte. Das obere Ende der Mauer kam nicht mit auf die Aufnahme. Die eigentliche Flucht war in Arundel schon festgehalten. Hier sollte nur die Großaufnahme gemacht werden. Die erste Probe hätte beinahe mit einem Unglücksfall geendet. Mit einem Schrei ließ Connolly seine Last fallen, und Helen wäre abgestürzt, wenn sie sich nicht selbst schnell am Tau gehalten hätte.

 

»Noch einmal versuchen!« rief Jack wütend. »Denken Sie doch daran, daß Sie eine Männerrolle spielen! Jackie Googan hätte seine Sache besser gemacht als Sie!«

 

Die Szene wurde noch einmal mit größerem Erfolg wiederholt, und als nach der dritten Probe Reggie ganz erschöpft war, rief Knebworth plötzlich: Kamera! und die Aufnahme begann.

 

Soviel Schattenseiten Connolly auch haben mochte, und wie schwer es auch war, mit ihm fertig zu werden, zweifellos war er ein Künstler. Obwohl diese ungewöhnliche Anstrengung ihn sehr mitgenommen hatte, schwebte ein holdes Lächeln auf seinen Lippen, und er schaute das Mädchen liebreich an, während die Kamera auf einer beweglichen Plattform sich langsam nach unten bewegte, um mit dem abwärts gleitenden Liebespaar gleichen Schritt zu halten. Jetzt waren sie auf dem Erdboden angekommen, und Connolly schaute Helen noch mit einem letzten, sprechenden Blick an.

 

»Das genügt«, sagte Jack.

 

Reggie ließ sich erschöpft niedersinken.

 

»Alle Wetter!« stöhnte er, indem er seine schmerzenden Armmuskeln betastete. »So etwas mache ich nie wieder, ich habe genug von der Rolle, Mr. Knebworth. Es war furchtbar! Ich dachte, ich würde sterben.«

 

»Nun, Sie sind aber nicht gestorben«, sagte Jack gutmütig lächelnd. »Ruhen Sie sich aus, dann wollen wir die Flucht filmen.«

 

Der Standpunkt der Kamera wurde etwa zwanzig bis dreißig Meter seitlich verlegt, und während Reggie Connolly sich auf dem Rasen ausruhte, ging Helen zu Mike.

 

»Ich bin sehr froh, daß die Aufnahme vorbei ist«, sagte sie erleichtert. »Mir tut der arme Connolly leid. Während der Aufnahme hat er so geschimpft, daß ich beinahe laut lachen mußte. Dann hätten wir die Sache noch einmal aufnehmen können.«

 

Ihr eigener Arm war braun und blau gestoßen, und das Tau hatte ihr die Haut am Handgelenk abgeschürft. Mike hatte plötzlich den verrückten Wunsch, diese kleine Wunde zu küssen, aber er beherrschte sich.

 

»Wie habe ich mich benommen? Sah ich einigermaßen annehmbar aus? Ich fühlte mich wie ein Bündel Stroh.«

 

»Sie sahen wundervoll aus«, sagte er begeistert. Sie blickte ihn von unten herauf schelmisch an, aber dann senkte sie die Augen.

 

»Wahrscheinlich sind Sie voreingenommen«, sagte sie und gab sich Mühe, unbeteiligt zu erscheinen.

 

»Das ist möglich«, sagte Mike. »Was gibt es innerhalb des Gemäuers zu sehen?« fragte er.

 

»Innerhalb des Turmes? Nichts außer einer Menge Felsen und wildem Gestrüpp und einem wundervollen Zwergbaum. Es war ganz hübsch.«

 

Er lachte. »Eben haben Sie doch gesagt, daß Sie froh wären, daß es vorüber ist. Ich vermute, daß Sie von der Aufnahme sprachen und nicht vom Inneren des Turmes.«

 

Sie nickte schalkhaft und zwinkerte mit den Augen.

 

»Mr. Knebworth hat gesagt, daß er die Sache noch einmal bei Nacht aufnehmen wird, wenn er mit der Tagaufnahme nicht zufrieden ist. Der arme Mr. Connolly! Dann wird er wohl seine Rolle im Stich lassen.«

 

In dem Augenblick hörte man die Stimme von Jack Knebworth.

 

»Nehmen Sie die Leiter nicht weg, Collins!« rief er. »Legen Sie sie ins Gras hinter dem Turm. Es ist möglich, daß wir heute abend wieder hierher kommen. Lassen Sie alles hier, was durch das Wetter nicht leidet. Sie können es morgen früh abholen.«

 

Helen sah enttäuscht aus.

 

»Ich fürchte, daß er seinen Vorsatz ausführt«, sagte sie. »Mir macht es nicht viel aus, aber die Nervosität Connollys macht mich auch unsicher. Ich wünschte, Sie spielten die Rolle.«

 

»Das wäre ganz nach meinem Sinn«, sagte Mike mit solcher Begeisterung, daß sie rot wurde.

 

Jack Knebworth trat zu ihnen.

 

»Haben Sie oben auf der Mauer etwas liegenlassen, Helen?« fragte er und zeigte auf den Turm.

 

»Nein, Mr. Knebworth«, sagte sie erstaunt.

 

»Sehen Sie nur, was hat das zu bedeuten?«

 

Er zeigte auf ein Etwas, das sich über der höchsten Stelle des Turmes erhob. »Es bewegt sich!« rief er bestürzt.

 

Während er sprach, zeigte sich langsam ein Kopf, ein Paar übermäßig starke, haarige Schultern folgten, dann schob sich ein Bein über die Mauer – es war Bhag!

 

Sein buschiger Pelz war grauweiß von Staub, und sein Gesicht sah mit diesem Puder ganz grotesk aus. Mike schaute scharf hin. Als das Tier beide Hände ausstreckte, sah er, daß jedes seiner Handgelenke von einer zerbrochenen Fessel umschlossen war.

 

Mit einem Schrei klammerte sich Helen an Mikes Arm.

 

»Was ist das?« fragte sie. »Ist das nicht das Ungetüm, das in mein Zimmer kam?«

 

Mike machte sich vorsichtig von ihr los und lief zum Turm. Bhag sprang und fiel auf den Boden. Er richtete sich einen Augenblick auf, wandte sein wütendes Gesicht Mike zu, nahm Witterung, und mit einem seltsamen, zwitschernden Geräusch lief er auf Händen und Füßen quer durch die Felder und verschwand dann hinter dem nahen Hügel.

 

Mike eilte ihm nach. Aber als er den großen Affen wieder zu Gesicht bekam, hatte der schon einen Vorsprung von etwa fünfhundert Metern. Bhag lief, so schnell er konnte, und hielt sich immer in der Nähe der Hecken, die die Felder abteilten. Es hatte keinen Zweck, ihn zu verfolgen, und der Detektiv ging langsam zu der erstaunten Gesellschaft zurück.

 

»Es ist nur ein Orang-Utan, der Sir Gregory gehört. Er ist vollkommen harmlos«, sagte er. »Er wurde seit drei Tagen vermißt.«

 

»Er muß sich im Turm verborgen haben«, sagte Knebworth.

 

Mike nickte.

 

»Ich bin sehr froh, daß er nicht gerade in dem Moment herauskam, als ich die Aufnahme machte«, sagte der Direktor, indem er die Stirn runzelte. »Haben Sie denn nichts gesehen, Helen, als Sie da oben waren?«

 

Mike sah, daß sie blaß war. Ihre Hand zitterte.

 

»Jetzt haben wir auch die Aufklärung für das abgebrochene Glied der Handschelle«, sagte Knebworth plötzlich.

 

»Haben Sie das bemerkt?« fragte Mike schnell. »Das erklärt wohl das Bruchstück, das Helen gefunden hat, aber noch lange nicht die Flasche mit Butylchlorid.«

 

Er hielt bei diesen Worten Helens Arm, und sie fühlte an dem Druck seiner Hand, daß er erregt war.

 

»Fürchten Sie sich?«

 

»Ja, ich fürchte mich sehr«, gestand sie. »Wie schrecklich sah das Vieh aus! War es Bhag?«

 

Er nickte. »Das war Bhag. Ich vermute, daß er sich in dem Turm verborgen gehalten hat … Haben Sie wirklich nichts gesehen, als Sie oben auf dem Rand der Mauer saßen?«

 

»Ich bin froh, daß ich ihn nicht gesehen habe, sonst wäre ich wahrscheinlich hinuntergefallen. Es sind sehr viele Sträucher da, unter denen er sich wahrscheinlich versteckt hatte.«

 

Mike wollte nun selbst das Innere besichtigen. Die Leiter wurde wieder an den Turm gestellt. Er kletterte bis zum Rand der Mauer und schaute hinunter. Am Grunde der Steinmauer fiel der Boden merkwürdig ab. Er erinnerte ihn an die Granattrichter, die er während des Krieges in Frankreich gesehen hatte. Den eigentlichen Boden des Turmes konnte man nicht erkennen, da er von dichtem Weißdorngebüsch überdeckt war, das besonders in der Mitte sehr dicht stand. Er sah noch einige Felsblöcke und die zerzausten Äste eines alten Baumes.

 

Sicherlich gab es hier reichlich Gelegenheit, sich zu verbergen. Wahrscheinlich hatte sich Bhag die ganze Zeit hier versteckt und von seinen Anstrengungen und schweren Verwundungen ausgeruht. Mike hatte etwas gesehen, was von keinem der anderen beobachtet wurde – der Affe hatte mehrere Wunden, und die eine Ohrmuschel war glatt auseinandergehauen.

 

Er stieg die Leiter wieder hinunter und ging zu Knebworth.

 

»Ich denke, unsere Arbeit ist für heute beendet«, sagte Jack unwirsch. »Ich fürchte, daß die Damen ziemlich erschrocken sind. Es wird wohl eine lange Zeit dauern, bis ich die Mädchen wieder hierher zu einer Nachtaufnahme bekomme.«

 

Mike brachte den Direktor in seinem Wagen zur Wohnung zurück. Während des ganzen Weges dachte er an Bhags merkwürdiges Aussehen. Jemand hatte dem Affen Handschellen angelegt. Er vermutete das damals schon, als Helen ihm das abgebrochene Stück der Fessel gab. Kein menschliches Wesen konnte eine solche Handschelle zerbrechen. Bhag war entflohen, aber wohin und wie? Und warum war er nicht nach Griff Towers zu seinem Herrn zurückgekehrt?

 

Als er den Direktor abgesetzt hatte, fuhr er geradewegs nach Griff Towers. Er fand den Baron auf dem Rasen beim Golfspiel. Penne war noch ganz verbunden, aber er hatte sich schon gut erholt.

 

»Jawohl, Bhag ist zurück – er ist vor einer halben Stunde wiedergekommen. Der Himmel mag wissen, wo er solange war. Ich habe schon oft gewünscht, daß der Kerl sprechen könnte, aber noch nie so eindringlich wie gerade jetzt. Jemand hatte ihm eiserne Handschellen angelegt. Gerade im Moment habe ich sie ihm abgenommen.«

 

»Kann ich sie sehen?«

 

»Wußten Sie das?«

 

»Ich habe ihn vorhin gesehen. Er kam aus dem alten Turm da auf dem Hügel.« Mike zeigte in die Richtung.

 

»Das ist merkwürdig – was zum Teufel hat er denn dort gemacht?«

 

Sir Gregory legte gedankenvoll seine Hand ans Kinn.

 

»Früher ist er auch schon öfters fort gewesen, aber meistens entfernte er sich nicht weiter als drei Kilometer. Es steht genügend Gebüsch in der Gegend, in dem er sich verstecken kann. Hierher kommen wenig fremde Leute. Einmal hat ihn ein Wilddieb gesehen, und der dumme Kerl hat nach ihm geschossen. Er konnte von Glück sagen, daß er mit dem Leben davonkam – hat man die Leiche von Foß gefunden?«

 

Der Baron hatte das Spiel wieder aufgenommen und schaute auf den Ball, der zu seinen Füßen lag.

 

»Nein«, sagte Mike ruhig.

 

»Glauben Sie, daß sie gefunden wird?«

 

»Ich wäre nicht erstaunt, wenn es so wäre.«

 

Sir Gregory hatte die Hände auf den Golfschläger gelegt und schaute nach dem Wald hinüber.

 

»Wie ist das Gesetz in diesem Lande? Angenommen, ein Mann tötete unglücklicherweise einen Diener, der versucht hatte, ihn mit dem Messer zu stechen?«

 

»Er würde angeklagt werden«, sagte Mike, »und der Spruch der Geschworenen würde lauten: Totschlag in Notwehr. Man würde ihn dann freilassen.«

 

»Aber angenommen, er hätte die Sache nicht angezeigt – angenommen, er – nun, wollen wir einmal sagen, er hätte die Leiche verborgen – hätte sie begraben – und hätte alles auf sich beruhen lassen?«

 

»Das ändert natürlich die Sache … Er würde sich dadurch einer ziemlichen Gefahr aussetzen«, sagte Mike. »Besonders« – dabei sah er den Baron scharf an – »wenn eine Freundin, mit der er sich nachher entzweite, zufälligerweise Zeugin der Tat war.«

 

Gregory Penne blickte schnell zu dem Detektiv hinüber und wurde puterrot.

 

»Nehmen wir einmal an, sie versuchte Geld von ihm zu erpressen durch die Drohung mit einer polizeilichen Anzeige?«

 

»Dann würde sie wegen Erpressung ins Gefängnis kommen«, sagte Mike geduldig, »und vielleicht auch wegen Mittäterschaft während oder nach der Tat.«

 

»Würde sie in solchem Fall wirklich ins Gefängnis kommen?« fragte Gregory interessiert. »Würde sie der Mittäterschaft beschuldigt, wenn sie zusah, wie der Mann erschlagen wurde …? Wohlgemerkt, es ereignete sich vor Jahren. Es gibt doch ein Gesetz über Verjährungsfristen, nicht wahr?«

 

»Nicht für Mord«, sagte Mike.

 

»Mord? Würden Sie denn das Mord nennen?« fragte Gregory Penne sichtlich erregt. »In Notwehr? Das ist doch Unsinn!«

 

Die Sache wurde Mike nach und nach klar. Stella hatte ihn einmal einen Mörder genannt. Mikes reger Geist begann zu arbeiten. Er konnte den ganzen Vorgang vollständig und sicher rekonstruieren. Ein Diener, wahrscheinlich einer der braunen Leute, der malaiischen Sklaven, war verrückt geworden und lief Amok. Penne hatte ihn getötet – vielleicht in Notwehr – und war jetzt vor den Folgen bange. Er erinnerte sich an Stellas Worte: »Penne prahlt nur immer, eigentlich ist er ein Feigling.« Das war der Kern der Sache.

 

»Wo haben Sie denn Ihr unglückliches Opfer begraben?« fragte er eisig.

 

Der Baron schaute ihn entsetzt an.

 

»Begraben? Was meinen Sie damit?« fragte er aufgebracht. »Ich habe niemand ermordet oder begraben. Ich habe Ihnen nur einen möglichen Fall vorgetragen.«

 

»Es klang aber doch sehr nach Wirklichkeit und weniger nach Hypothese«, sagte Mike. »Aber ich will Sie mit der Frage nicht in Verlegenheit bringen.«

 

Tatsächlich interessierte sich Mike sehr für solche Verbrechen, aber im Augenblick handelte es sich um den Kopfjäger, und da mußte er solche Dinge vorläufig außer acht lassen. Er wollte aber später darauf zurückkommen.

 

Aber da war noch etwas anderes, das er nicht einmal sich selbst eingestand. Sir Gregorys Gemeinheit und seine Verrücktheiten, seine schmutzigen Liebesabenteuer waren doch zu widerwärtig. Er hätte ihn gern an den Galgen gebracht, aber er war seiner Sache noch nicht sicher.

 

»Es ist doch merkwürdig, wie man zu solchen Fragen kommt«, sagte Penne. »Ein Mensch wie ich, der doch nicht viel zum Denken gezwungen ist, versteift sich auf ein solch abstraktes Problem und kommt nicht davon los. Dann würde sie tatsächlich der Mittäterschaft schuldig sein? Darauf steht Zuchthaus.«

 

Dieser Gedanke schien ihn sehr zu befriedigen, und er war fast liebenswürdig, als sich Mike nach einer Besichtigung der zerbrochenen Handschellen von ihm verabschiedete. Es waren alte, englische Handfesseln.

 

»Ist Bhag sehr verletzt?« fragte Mike, als er die Eisen aus der Hand legte.

 

»Nicht gerade bedeutend, er hat ein oder zwei Wunden abbekommen«, sagte Penne ruhig. Er machte keine Versuche, die Ereignisse der Nacht zu verschweigen. »Der arme Kerl, wollte mir beistehen, aber der Malaie hätte ihn beinahe getötet. Tatsächlich wurde Bhag von ihm niedergeschlagen, aber er war ihm dicht auf den Fersen, der Mordskerl.«

 

»Was für einen Hut trug der Malaie?«

 

»Keji? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, daß er einen hatte, aber ich bemerkte es nicht. Warum?«

 

»Ich fragte bloß«, sagte Mike leichthin. »Vielleicht hat er ihn in den Höhlen verloren.«

 

Er beobachtete Penne scharf, als er dies sagte.

 

»Höhlen? Davon habe ich noch nie etwas gehört. Was ist damit? Gibt es hier in der Nähe überhaupt Höhlen?« fragte Sir Gregory unschuldig. »Sie wissen unheimlich Bescheid in der Topographie dieses Landes, Brixan. Ich lebe nun schon zwanzig Jahre hier, aber ich verliere noch jedesmal den Weg, wenn ich nach Chichester gehe.«

 

Das Rätsel der Höhlen beschäftigte Mike mehr als irgendeine andere Seite dieses geheimnisvollen Falles. Er erinnerte sich an Mr. Longvale, der eine ganz genaue Kenntnis der Gegend hatte. Als er zu ihm fuhr, war er nicht zu Hause. Erst einige Zeit später kehrte er in seinem altertümlichen Auto von Chichester zurück. Das Geräusch dieses Wagens hörte man schon lange, bevor er an einer Straßenbiegung in Sicht kam. Mike brachte seinen Wagen zum Stehen, und Longvale tat dasselbe.

 

»Ja, die Maschine macht viel Spektakel«, gab der alte Herr zu und wischte sich seinen kahlen Kopf mit einem buntgeblümten Taschentuch ab. »Ich fange erst an, mir die Errungenschaften der letzten Jahre anzueignen. Persönlich glaube ich nicht, daß ein geräuschloser Wagen mich so befriedigen würde. Man fühlt doch immer, daß etwas geschieht!«

 

»Sie sollten sich einen Rolls-Royce kaufen«, sagte Mike.

 

»Ich dachte auch schon daran«, sagte Longvale ernst. »Aber ich liebe nun einmal alte Dinge, das ist meine Eigentümlichkeit.«

 

Mike fragte ihn nach den Höhlen, und zu seinem größten Erstaunen bestätigte ihm der alte Herr ihr Vorhandensein.

 

»Ich habe häufig davon gehört. Als ich noch ein Junge, war, erzählte mir mein Vater, daß es hier in der Gegend sehr viele Höhlen gibt und daß der glückliche Entdecker des Eingangs große Mengen von altem Branntwein finden würde. Aber bisher hat niemand, soviel ich weiß, den Zugang entdecken können. Er müßte aber hier in der Gegend liegen.« Dabei zeigte er in die Richtung des Griff Towers. »Aber vor vielen Jahren …« Dann erzählte er von dem Erdrutsch und von dem Verschwinden zweier Heerhaufen tapferer Ritter und Edelleute. Wahrscheinlich hatte der alte Herr die Geschichte derselben Quelle entnommen wie Mike.

 

»Die volkstümliche Legende berichtet, daß ein unterirdischer Strom in der Nähe von Seley Bill ins Meer fließt … Aber Sie wissen ja, Landleute leben in solchen Legenden. Wahrscheinlich ist nichts Wahres daran.«

 

Inspektor Lyle wartete bereits auf den Detektiv, als er ankam. Er hatte aufsehenerregende Nachrichten für ihn.

 

»Diese Annonce erschien heute morgen im ›Daily Star‹«, sagte er.

 

Mike nahm ihm die Zeitung ab. Die Anzeige hatte denselben Wortlaut wie die frühere:

 

›Sind Ihre geistigen und körperlichen Beschwerden unheilbar? Zögern Sie noch am Rande des Abgrundes? Fehlt Ihnen Mut? Schreiben Sie dem Wohltäter. Fach …‹

 

»Antworten werden erst morgen früh eintreffen. Briefe sollen an einen Zeitungsladen in der Lamberth Road umadressiert werden. Major Staines wünscht, daß Sie diese Spur verfolgen.«

 

Die Spur war in der Tat sehr gut getarnt. Um vier Uhr am nächsten Nachmittag humpelte eine lahme alte Frau in den Laden des Zeitungsagenten in der Lamberth Road. Sie fragte nach Briefen, die an Mr. Vole adressiert seien. Es wurden ihr drei ausgehändigt. Sie zahlte die Gebühr, steckte die Umschläge in eine alte, abgenutzte Handtasche und humpelte wieder auf die Straße, indem sie murmelte und mit sich selbst sprach. Nachdem sie die Lamberth Road hinuntergegangen war, stieg sie in eine Straßenbahn nach Clapham, und in der Nähe des Parks stieg sie aus. Sie ging durch die Straßen der Mittelstandshäuser, bis sie in ein ärmliches, unansehnliches Viertel gelangte.

 

Die Gegend wurde immer armseliger, und schließlich kam sie zu einem niedrigen Bogengang, dessen Steinpflaster seit langen Jahren nicht ausgebessert worden war. Es war eine Sackgasse, deren Häuser alle gleich gebaut waren. Vor dem letzten hielt sie an, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Sie wollte eben wieder schließen, als sie sah, daß ein großer, gutaussehender Herr im Eingang stand, der ihr gefolgt sein mußte.

 

»Guten Abend, Mütterchen!« sagte er.

 

Die Alte schaute ihn argwöhnisch an und murmelte etwas. Nur Krankenhausdoktoren und Beamte des Armenhauses, also Leute, die irgend etwas mit Wohltätigkeitsinstituten zu tun hatten, nannten alte Frauen Mütterchen. Manchmal taten es aber auch die Polizisten. Ihr altes, häßliches Gesicht bekam noch mehr Falten bei diesem unangenehmen Gedanken.

 

»Ich möchte ein wenig mit Ihnen sprechen!«

 

»Kommen Sie herein!« sagte sie mit schriller Stimme.

 

Der Fußboden in dem Eingangsflur war an vielen Stellen kaputt und unglaublich schmutzig. Aber er war noch in glänzender Verfassung im Vergleich zu der schrecklichen Unordnung, die in ihrem Wohnzimmer und in der Küche herrschte.

 

»Woher kommen Sie? Vom Hospital oder von der Polizei?«

 

»Polizei«, sagte Mike. »Geben Sie mir die drei Briefe, die Sie eben abgeholt haben.«

 

Zu seiner Überraschung sah die alte Frau erleichtert auf.

 

»Ach, ist das alles?« sagte sie. »Das tue ich nun schon seit langen Jahren für einen alten Herrn.«

 

»Wie heißt er?«

 

»Ich kenne seinen Namen nicht. Die Adresse auf den Briefen ist richtig. Ich sende sie alle an ihn.«

 

Aus einem Haufen Kram holte sie drei Kuverts hervor, deren Adresse mit Maschine geschrieben war. Mike erkannte die Type sofort wieder. Sie waren an eine Straße in Guildford adressiert.

 

Mike nahm die Briefe und las zwei davon; der dritte war eine von ihm selbst geschriebene Antwort auf die Annonce. Das jetzt folgende scharfe Verhör brachte ihn aber nicht weiter. Die Frau erhielt monatlich ein Pfund für ihre Bemühungen. Das Geld sandte ihr der Unbekannte jedesmal in einem Brief, in dem er ihr auch mitteilte, wo sie die nächsten abholen sollte.

 

»Sie war etwas verrückt und machte einen fast idiotischen Eindruck«, sagte Mike mit Abscheu, als er Major Staines berichtete. »Auch die Nachforschungen in der Guildforder Straße haben nichts ergeben. Dort sitzt ein anderer Agent, der die Briefe nach London zurückschickt, wo sie niemals ankommen. Da ist noch ein Haken bei der Sache. In ganz London gibt es diese Adresse nämlich nicht, und ich kann nur vermuten, daß die Briefe unterwegs abgefangen werden. Ich habe die Polizei in Guildford beauftragt, dieser Sache auf den Grund zu gehen.«

 

Major Staines war sehr verärgert.

 

»Ich hätte Ihnen diesen Fall doch nicht zur Bearbeitung übergeben sollen«, sagte er. »Ich habe die besten Absichten gehabt, als ich es tat. Scotland Yard macht jetzt Schwierigkeiten und sagt, man hätte den Kopfjäger längst fangen können, wenn sich nicht andere Leute hineingemischt hätten. Sie kennen ja selbst die unglaubliche Eifersucht zwischen den einzelnen Behörden. Und ich brauche Ihnen doch wohl nicht erst zu erzählen, wieviel unangenehme Bemerkungen ich zu hören bekomme, die ich wirklich nicht verdiene.«

 

Mike sah seinen Vorgesetzten nachdenklich an.

 

»Ich werde den Kopfjäger verhaften, aber ich bin mehr denn je davon überzeugt, daß wir ihn nicht eher überführen können, als bis wir etwas Näheres – über die Höhlen wissen!«

 

Staines zog die Stirne kraus.

 

»Ich verstehe nicht ganz, Mike. Von welchen Höhlen sprechen Sie?«

 

»In der Nähe von Chichester liegen Höhlen. Foß wußte auch von deren Existenz und brachte sie sogar in Verbindung mit dem Kopfjäger. Geben Sie mir noch vier Tage Zeit, Major, und ich werde über beides Bescheid wissen. Und wenn ich keinen Erfolg habe« – er machte eine Pause – »wenn ich keinen Erfolg habe, können Sie mir guten Morgen sagen, wenn Ihnen mein Kopf aus der nächsten Kiste des Kopfjägers entgegenschaut!«