Kapitel 29

 

29

 

Man hatte die Abwesenheit Surefoots in Scotland Yard wohl bemerkt. Es war aufgefallen, daß er nicht verabredungsgemäß in seinem Büro erschienen war, um die Meldungen entgegenzunehmen. Da es sich allerdings nur um negative Berichte handelte, hätte man sich mit seinem Ausbleiben schließlich abgefunden. Aber zufällig meldete ein junger Polizist, daß er ein blaues Luxusauto gesehen habe, das von einer Dame gesteuert wurde. Als er ihr an der Ecke der Westminsterbrücke und des Themseufers das Haltesignal gab, achtete sie nicht darauf, obwohl sie auf der falschen Seite der Straße fuhr. Er hatte die Nummer notiert.

 

Gewöhnlich werden solche kleinen Vergehen erst am nächsten Morgen erledigt, aber während der Meldung erschien ein Mitglied des Parlaments und zeigte an, daß ihm sein blauer Wagen gestohlen worden sei.

 

»Es war ein Mann, der sich als Frau verkleidet hatte«, schloß er seinen Bericht.

 

»Wie kommen Sie darauf?« fragte der Polizeiinspektor.

 

»Als er in den Wagen stieg, stieß er mit dem Kopf an den oberen Teil der Tür. Dadurch wurden sein Hut und seine Perücke zurückgeschoben, und ich sah, daß es ein Mann mit kahlem Kopf und gelbbraunem Gesicht war. Zuerst dachte ich, er würde an Gelbsucht leiden.«

 

Der Inspektor richtete sich plötzlich wie elektrisiert auf. Die Polizei von ganz England suchte nach einem Mann mit kahlem Kopf und gelbbraunem Gesicht. Kurz darauf waren Telegraf und Telefon tätig.

 

Einige Zeit später kam wieder eine Meldung von einem Verkehrsschutzmann. In der Nähe von Heston, wo eine Straßenbahn die Hauptstraße kreuzt, hatte der blaue Wagen einen Aufenthalt gehabt. Nur mit Mühe und Not entging er einem Zusammenstoß und mußte so scharf bremsen, daß der Wagen schleuderte. Der Polizist ging auf das Auto zu, um sich den Führerschein zeigen zu lassen. Dabei sah er eine Frau am Steuer. Aber noch bevor er eine Frage stellen konnte, fuhr der Wagen wieder davon.

 

Erst anderthalb Stunden, nachdem die Beschreibung des blauen Autos an alle Stationen durchgegeben war, kam dieser Bericht. Inzwischen hatte man auch Chefinspektor Smith gesucht, da verschiedene Nachrichten auf ihn warteten. Man hatte ihn aber nirgends im Amt finden können.

 

Seine Gewohnheit, ab und zu am Themseufer einen kleinen Spaziergang zu machen, war allgemein bekannt, und der Polizeiposten dort hatte auch gesehen, daß Smith zum Savoy Hill gegangen war. Einer seiner Kollegen hatte beobachtet, daß der Chefinspektor dort umkehrte. Jemand erinnerte sich daran, daß er ein blaues Luxusauto an der Straße hatte stehen sehen.

 

Als die Ermittlungen so weit gediehen waren, hatte der Präsident selbst die Sache in die Hand genommen. Alle Detektive waren im Amt zur Beratung versammelt.

 

»Möglich, daß Binny an die Küste geflohen ist«, sagte er. »Vielleicht hat er aber auch eins seiner beiden Landhäuser aufgesucht. Die Polizei von Buckinghamshire und von Salisbury muß sofort telefonisch verständigt werden. Außerdem soll sofort das Überfallkommando an beide Orte fahren.«

 

Der Präsident sah auf die Uhr. Sie zeigte soeben halb zwei.

 

*

 

Surefoot Smith hatte kaum eine halbe Minute Zeit, um sich für einen der vielen Pläne zu entscheiden, die er sich überlegt hatte. Die meisten hatte er bereits als unausführbar verworfen.

 

Langsam öffnete sich die Tür, und Binny kam herein.

 

»So, jetzt werden Sie einen kleinen Spaziergang mit mir machen, mein Freund«, sagte er liebenswürdig, nahm die Flasche vom Tisch und trank gierig.

 

Dann bückte er sich, löste den Strick und die Fessel an Surefoots Füßen, riß ihn mit einem kräftigen Ruck vom Boden hoch und stellte ihn auf die Beine.

 

Smith schwankte etwas. Sein Kopf schmerzte furchtbar, aber die Gefahr des Augenblicks ließ alles vergessen. Er dachte jetzt vollkommen klar. Binny stand neben der Tür und hatte die Pistole in der Hand. Auf die Mündung hatte er einen eiförmigen Stahlkörper geschraubt. Surefoot hatte einen solchen Schalldämpfer noch nie gesehen.

 

Er ging zum Tisch und legte die Hände auf die Platte.

 

»Na, beten Sie erst noch ein wenig?« höhnte Binny.

 

»Es soll doch niemand erfahren, daß ich hier war? Sie wollen doch keine Spuren hinterlassen?«

 

»Richtig geraten!« entgegnete Binny belustigt.

 

»Wenn nun ein paar hundert Leute hierhereilten und alle möglichen Fragen an Sie stellten, würde Ihr Plan dann über den Haufen geworfen werden?«

 

»Was soll das heißen?« fragte er scharf.

 

Er machte einen Schritt auf seinen Gefangenen zu. Im gleichen Augenblick hob Surefoot die Lampe hoch und warf sie in den offenen Koffer, unter Kostüme, Perücken und Bärte. Glas splitterte, das Licht flackerte, und gleich darauf schoß mit dumpfem Knall eine Flamme zur Decke empor.

 

Binny stand still, von Schrecken gelähmt. Erst als sich Surefoot mit aller Gewalt auf ihn warf, um ihm mit den Handschellen ins Gesicht zu schlagen, erwachte er aus seiner Erstarrung und duckte sich. Der Schlag ging vorbei. Im nächsten Moment fühlte Smith ein heißes Brennen im Gesicht und hörte, daß eine Kugel in die Wand schlug. Wieder holte er aus und zielte nach Binnys Schädel. Obwohl sich der Mann zur Seite bog, konnte er dem Hieb doch nicht ganz ausweichen. Dabei fiel ihm die Pistole aus der Hand.

 

Das Zimmer stand nun in Flammen; die Treppe brannte, und die Hitze wurde unerträglich.

 

Smith schlug wieder auf Binny ein. Mit einem schnellen Fußtritt hatte er die Pistole zu dem brennenden Koffer gestoßen.

 

Die Tür stand auf, und Binny lief aus dem Raum hinaus. Er versuchte, die Tür zu schließen, aber Smith hatte sich schon dazwischengeschoben. Er taumelte in den Gang und warf sich wieder mit voller Wucht auf den Mörder.

 

Die einzige Hoffnung des Chefinspektors bestand darin, Binny auf den Fersen zu bleiben. Der Verbrecher hatte noch eine Pistole in der Tasche, und wenn er diese herausziehen konnte, war es vorbei. Es gelang Smith, ihn gegen die Wand zu drücken. In dieser Stellung war es Binny unmöglich, die Waffe zu erreichen. Mit allen Mitteln versuchte er, von seinem Gegner loszukommen, und nach einer fast übermenschlichen Anstrengung konnte er sich schließlich freimachen. Surefoot war dicht hinter ihm. Im nächsten Moment zog Binny die Pistole, aber Smith brachte ihn zu Fall. Eine Sekunde später erhob sich Binny jedoch wieder und lief weiter.

 

Die Flammen schlugen schon aus dem Dach und aus den Fenstern und erleuchteten die ganze Umgebung. Smith verfolgte den Verbrecher trotz seiner Fesseln. Plötzlich wandte sich Binny um, und diesmal konnte er sorgfältig zielen. Der Chefinspektor wußte, daß es jetzt keine Hoffnung mehr für ihn gab. Binny war ein guter Pistolenschütze, und er war kaum ein Dutzend Schritte von ihm entfernt. Verzweifelt sprang Surefoot vorwärts, trat aber ins Leere und fiel …

 

Er hörte den Schuß und wunderte sich, daß er noch lebte. Schließlich erkannte er, was geschehen war. Er war in das Grab gestürzt, das Binny für ihn geschaufelt hatte!

 

Plötzlich krachten mehrere Schüsse hintereinander, und jemand brüllte ein lautes »Halt!«

 

Bald darauf beugte sich sein Sergeant über den Rand der Grube.

 

»Wir haben ihn«, erwiderte der Detektiv auf Surefoots hastige Frage. Smith war müde, verletzt und zerschunden, aber als er diese Nachricht hörte, vergaß er alle Schmerzen.

 

*

 

Die Verhaftung und Verurteilung Binnys wirkten entschieden demoralisierend auf Surefoot Smith. An dem Tag, an dem der Verbrecher im Gefängnis von Pentonville gehenkt wurde, brach der Chefinspektor mit einer lebenslangen Gewohnheit. Er trank nämlich nicht Bier, sondern Whisky.

 

»Wenn es einen Tag gibt, an dem ich mich betrinken darf, dann ist es der heutige!« sagte er zu Dick Allenby.

 

Kapitel 3

 

3

 

Mary Lane sah erschrocken auf ihre goldene Armbanduhr.

 

»Vier Uhr, mein Lieber!«

 

Es tanzten immerhin noch etwa zwanzig Paare auf dem Parkett des Gesandtschafts-Klubs. Es war ein Galaabend, und bei solchen Festen wurde es immer sehr spät.

 

»Tut mir leid, daß es so ein langweiliger Abend war.«

 

Aber Dick Allenby sah nicht gelangweilt aus. Er hatte freundliche blaue Augen und ein faltenloses, sonnengebräuntes Gesicht, obwohl er in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte.

 

»Auf jeden Fall hast du mich gerettet«, sagte er und winkte einem Kellner. »Bis du kamst, war ich ganz allein. Ich habe geschwindelt, als ich dir erzählte, daß Moran hier war und später wegging. Der Junge war überhaupt nicht da. Jerry Dornford sucht Anschluß – er scheint die Hoffnung noch nicht aufgegeben zu haben.«

 

Er sah zu einem Tisch auf der anderen Seite des Tanzsaals hinüber, wo der tadellos gekleidete Jerry saß.

 

»Ich kenne ihn kaum«, entgegnete Mary.

 

Er lächelte.

 

»Er möchte dich eben besser kennenlernen, aber ich kann dir nur den guten Rat geben, ihm aus dem Weg zu gehen. Jerry entfernte sich kurz vor dem Abendessen und ist erst vor kurzem wieder aufgetaucht. Die Gesellschaft, die du besucht hast, war wohl auch nicht sehr anregend, was? Dieser Wirth ist doch ein ganz merkwürdiger Kerl. Ich muß sagen, Mike Hennessey hat sich ziemlich viel herausgenommen, daß er dich dazu eingeladen hat.«

 

»Aber Mike ist ein netter Mensch«, protestierte sie.

 

»Mike ist ein Verbrecher. Ein liebenswürdiger Charakter, aber doch ein Verbrecher. Solange der frei herumläuft, ist es eine Schande, daß andere Leute im Gefängnis sitzen.«

 

Sie traten auf die Straße hinaus, und während sie auf ein Taxi warteten, sah Dick Allenby ein bekanntes Gesicht.

 

»Mr. Smith, Sie sind noch so spät auf den Beinen?«

 

»Sie meinen so früh am Morgen«, entgegnete der Detektiv und begrüßte die junge Dame.

 

»Guten Morgen, Miss Lane. Eigentlich keine gute Angewohnheit, in einen Nachtklub zu gehen.«

 

»Ich habe eine ganze Menge schlechter Angewohnheiten«, erwiderte sie lächelnd.

 

Ein Taxi fuhr vor. Mary lehnte Dicks Begleitung ab, und der Wagen entfernte sich.

 

»Nette junge Dame«, bemerkte der Chefinspektor. »Schauspielerinnen mag ich im allgemeinen nicht – ich komme gerade von der Marlborough Street, wo ich drei verhaftet habe.«

 

»Haben Sie eine kleine Razzia abgehalten?«

 

»Ach, es war nichts von Bedeutung. Übrigens wäre ich neulich beinahe in Ihre Werkstätte gekommen und hätte mir Ihre neue Schußwaffe angesehen. Ist doch wohl eine Art Luftgewehr?«

 

»Ja. Wer hat Ihnen denn davon erzählt?«

 

»Dieser Dornford. Ich verstehe die Mechanik Ihrer neuen Pistole nicht. Dornford sagt, daß bei jedem Abfeuern die Waffe neu geladen wird.«

 

»Durch das Abfeuern erhalte ich komprimierte Luft.«

 

Dick Allenby war nicht in der Stimmung, über seine Erfindung zu sprechen.

 

»Das Ding sollten Sie nach Chikago verkaufen, dort haben die Leute großes Interesse an solchen Sachen. Jede Woche werden mindestens sechs Leute umgebracht, und die Polizei fängt niemand!«

 

Dick lachte. Er war erst vor einem Monat aus Chikago zurückgekehrt und kannte die schweren Aufgaben, die die Polizei drüben zu lösen hatte.

 

»Wenn einer umgebracht werden soll«, fuhr Smith fort, »machen sie mit ihm eine Spazierfahrt aufs Land und jagen ihm unterwegs eine Kugel durch den Kopf. So etwas wäre hier einfach nicht möglich.«

 

»In der Beziehung bin ich etwas skeptisch.« Dick schüttelte den Kopf. »Aber es ist beinahe halb fünf, und ich möchte mich jetzt nicht länger über Verbrechen unterhalten. Kommen Sie mit in meine Wohnung, dort können wir noch ein Glas trinken.«

 

»Schön, ich begleite Sie. Schlafen kann ich doch nicht mehr. Dort steht ein Taxi.«

 

Das Auto stand mitten auf der Straße neben einer Verkehrsinsel.

 

Smith pfiff. »Der Chauffeur ist fortgegangen«, sagte der Portier des Nachtklubs. »Ich habe schon vorhin versucht, den Wagen für die Dame zu rufen.«

 

»Der Kerl schläft wahrscheinlich«, meinte Smith und ging über die Straße. Dick folgte.

 

Der Chefinspektor sah durch das geschlossene Fenster, konnte aber im Innern nichts erkennen. Als er schließlich die Tür aufmachte, sah er jemand am Boden liegen.

 

»Der Mensch scheint sinnlos betrunken zu sein!« rief Smith und leuchtete die Gestalt mit seiner Lampe an.

 

Das Gesicht war grauenvoll entstellt, denn der Mann hatte aus nächster Nähe einen Schuß in den Kopf erhalten. Aber Smith erkannte trotzdem, daß Mr. Horace Tom Tickler tot in diesem Wagen lag.

 

»Was, den hat man auch auf eine Spazierfahrt mitgenommen?« fragte der Chefinspektor verstört. »Großer Gott, wir leben doch nicht in Chikago!«

 

Kapitel 18

 

18

 

Für Surefoot war es keine Neuigkeit, daß Leo Moran an Börsengeschäften interessiert war. Moran war gerissen. In diesem Ruf stand er sowohl bei der Bank als auch bei seinen Freunden. Soweit Surefoot ihn kannte, war er unberechenbar; er konnte sehr großzügig gegen andere sein, ließ sich jedoch durch seine Schlauheit häufig dazu verleiten, die Grenze des Erlaubten zu überschreiten. Er mochte ein Mörder sein; ein Fälscher war er bestimmt, außerdem ein egoistischer Junggeselle, der kaum ein anderes Steckenpferd als Schießen und das Theater hatte.

 

Noch bevor Surefoot Smith das Büro des Maklers verließ, hatte er sich ausgerechnet, daß Moran – wenigstens auf dem Papier – ein Millionär geworden war. Über eins wunderte er sich: Moran hatte dauernd Aktien gekauft, und seine Finanzmanöver erstreckten sich über all die Jahre, in denen er Unterschlagungen begangen hatte. Trotzdem hatte er nur eine verhältnismäßig kleine Summe, nur einen geringen Prozentsatz seines Geldes zum Ankauf der Cassari-Aktien benutzt. Er mußte noch in anderen Aktien spekulieren; Smith konnte sich jedoch im Augenblick darüber keine Gewißheit verschaffen.

 

Der Chefinspektor kehrte in seine Wohnung am Haymarket zurück und war erstaunt, als er Mary Lane, die ihn besuchen wollte, vor dem Hause fand.

 

»Ich bin auch eben erst gekommen«, erklärte sie: »Ich habe mich zuerst an Ihren Sekretär gewandt, und der sagte mir, daß Sie wahrscheinlich in Ihrer Wohnung seien.«

 

Er schloß die Tür auf und führte sie in sein unaufgeräumtes Wohnzimmer.

 

»Haben Sie etwas herausgebracht?« erkundigte er sich.

 

Sie schüttelte den Kopf und lächelte verlegen.

 

»Nein, ich habe bis jetzt nur erkannt, wie beschränkt meine Fähigkeiten als Detektiv sind.«

 

Sie setzte sich auf den Stuhl, den er ihr anbot.

 

»Also wollen Sie es aufgeben?«

 

Sie zögerte einen Augenblick.

 

»Nein.«

 

Es kostete sie Überwindung, dieses Nein zu sagen, denn am Morgen war sie schon halb entschlossen gewesen, einen Brief an den Chefinspektor zu schreiben und ihm den Schlüssel zurückzuschicken. Aber während des Frühstücks war dann ihr Selbstbewußtsein zurückgekehrt.

 

»Nun, was kann ich für Sie tun?«

 

»Wäre es Ihnen möglich, mir eine Liste all der größeren Schecks zu geben, die Mr. Washington Wirth auf das Konto meines Vormunds zog? Ich möchte gern die Daten wissen, an denen sie ausgestellt wurden. Darauf kommt es mir besonders an. Wenn meine Vermutung richtig ist, sind sie alle am Siebzehnten des jeweiligen Monats ausgestellt.«

 

Surefoot lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah sie groß an.

 

»Das ist mir ein wenig zu wissenschaftlich«, sagte er vorwurfsvoll.

 

Sie lachte.

 

»Es klingt geheimnisvoll, aber im Ernst, ich möchte es wissen.«

 

Er nahm den Hörer vom Telefon und wählte eine Nummer.

 

»Merkwürdig genug, daß ich nie daran gedacht habe, mir die Ausstellungsdaten der Schecks anzusehen.«

 

Sie merkte, daß er ein wenig gekränkt war, und amüsierte sich heimlich darüber.

 

Die Bank meldete sich. Dann dauerte es einige Zeit, bis ihm der Kassierer die nötigen Angaben machte.

 

Die Schecks waren tatsächlich am 17. Februar, 17. April, 17. Mai und 17. Dezember des vorigen Jahres ausgestellt. Surefoot notierte, legte dann den Hörer wieder auf und reichte ihr den Zettel.

 

»Ich dachte es mir«, sagte sie, und ihre Augen glänzten. »Alle Schecks sind am Siebzehnten ausgeschrieben.«

 

»Glänzend, daß Ihre Vermutung so prompt zutrifft. Vielleicht erklären Sie mir jetzt auch, was das zu bedeuten hat?«

 

Sie nickte.

 

»In einer Woche erfahren Sie es, inzwischen stelle ich noch einige Nachforschungen an. Aber über einen andern Punkt möchte ich noch mit Ihnen sprechen.« Ihre Stimme klang erregt. »Ich weiß nicht, ob ich es mir nur einbilde, aber ich habe das Gefühl, daß ich beobachtet werde. Ich bin sicher, daß mir gestern ein Mann gefolgt ist. In der Oxford Street verlor ich ihn aus den Augen, aber als ich in der Regent Street in ein Schaufenster sah, entdeckte ich ihn wieder, einen Mann mit abstoßenden Zügen.«

 

Der Chefinspektor lächelte.

 

»Das ist Detektivinspektor Mason. Ich weiß, daß er etwas abstoßend aussieht.«

 

»Was, ein Detektiv?« fragte sie verblüfft.

 

Surefoot nickte.

 

»Selbstverständlich muß ich Sie doch behüten. Sie werden beobachtet, aber nicht weil Sie unter Verdacht, sondern unter dem Schutz Scotland Yards stehen.«

 

Sie seufzte erleichtert auf.

 

»Sie wissen nicht, wie mich das beruhigt. Ich bin schon ganz nervös geworden. Beinahe wäre ich gestern schon aus diesem Grund zu Ihnen gekommen.«

 

*

 

Dick ärgerte sich über Marys neue Tätigkeit, da er sie selten zu Hause antraf. Er beschwerte sich bei Surefoot darüber und fragte ihn um Rat.

 

»Das ist doch eine furchtbar gefährliche Geschichte«, beklagte er sich. »Dieser Verbrecher scheut vor nichts zurück. Vielleicht denkt er noch immer, daß sie die Abrechnung in ihrem Besitz hat.«

 

»Haben Sie denn die junge Dame überhaupt gesehen?«

 

Surefoot öffnete geschickt eine neue Flasche Bier. Er saß auf der Werkbank in Dicks Arbeitsraum.

 

»Ja, gesehen habe ich sie schon. Sie wünscht, daß ich ihr Binny leihen soll.«

 

»Binny leihen? Was heißt denn das?«

 

»Nun, Binny steht jetzt in meinen Diensten. Sie sagt, sie will Nachforschungen anstellen nach einer früheren Angestellten meines Onkels, die unter einem angenommenen Namen in Newcastle wohnt. Binny soll dorthin reisen und sie ausfindig machen. Ich habe mit ihm darüber gesprochen – er kann sich auf die Frau besinnen. Sie hat ihre Stelle aufgegeben, kurz nachdem er seinen Dienst antrat, und sie war damals schon recht alt. Anscheinend hatte sie einen ungeratenen Sohn. Binny kann sich nicht an ihn erinnern, aber Mary weiß das noch sehr gut. Die alte Frau muß beinahe neunzig Jahre alt sein und lebt im Norden Englands. Mary will nun Binny hinschicken. Er soll feststellen, ob sie sich nicht geirrt hat.«

 

Smith sah ihn düster an.

 

»Davon hat sie mir nichts gesagt. Binny ist also jetzt bei Ihnen angestellt? Das Haus haben Sie ja wohl auch geerbt? Was wollen Sie denn damit machen?«

 

»Ich werde es verkaufen«, entgegnete Dick prompt. »Ich habe bereits ein Angebot.«

 

In dem Augenblick klopfte es an der Tür. Der Hausmeister kam herein und brachte ein Telegramm für Mr. Allenby.

 

Dick öffnete es und las verwundert die Nachricht. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er das Blatt dann Surefoot. Es war in Sunningdale aufgegeben und lautete:

 

In Sachen der Ihnen gestohlenen patentierten Luftpistole. Waffe, genau Beschreibung entsprechend, wurde in Toyne Copse auf dem Boden einer Grube unter einem Toten gefunden, in dem man Gerald Dornford aus der Half Moon Street vermutet. Bitte wenden Sie sich sofort an Polizeiwache Sunningdale zwecks Identifizierung Ihres Eigentums.

 

Kapitel 19

 

19

 

Dick fuhr mit Surefoot nach Berkshire. Er erkannte in dem verrosteten Stahlkasten sofort sein Eigentum wieder, überließ aber dem Chefinspektor die anderen traurigen Feststellungen.

 

Surefoot kam zurück, nachdem er den Fundort der Leiche und die nähere Umgebung besichtigt hatte. Das Auto Jerry Dornfords wurde, weniger als hundert Meter von der Stelle entfernt, in einem kleinen Gebüsch entdeckt.

 

»Es ist Dornfords Wagen, und ich glaube, man kann ohne große Schwierigkeiten rekonstruieren, wie er den Tod fand«, sagte Surefoot. »Eine Abendzeitung lag im Auto, und zwar von dem Tag, an dem der alte Lyne ermordet wurde.«

 

»Der arme Kerl! Wie ist es denn geschehen? Wurde er ermordet oder –?«

 

»Ein Unglücksfall. Die Pistole war noch geladen, als Dornford sie stahl. Entweder hat er nach dem Diebstahl Angst bekommen, oder er konnte sie nicht verkaufen, wie er beabsichtigte, und entschloß sich deshalb, sie zu vergraben. Es ist erklärlich, daß er sie auf seinem eigenen Grund und Boden verscharren wollte. Er nahm auch einen Spaten mit. Als er aufgefunden wurde, war er in Hemdsärmeln. Allem Anschein nach hat er das Loch also selbst gegraben. Wahrscheinlich wollte er die Pistole gerade hineinlegen, als der Schuß sich löste. Die Kugel ging durch seinen Körper; wir fanden sie in einer Fichte, die daneben steht. Seine Brieftasche enthielt ein Darlehensgesuch an den Geldverleiher Stelbey, der mit Lyne in Verbindung stand. Außerdem einige sehr belastende Notizen über einen gewissen Jules. Wir werden uns alle Mühe geben, die Persönlichkeit dieses Mannes zu identifizieren.«

 

»Da kann ich Ihnen helfen«, erklärte Dick. »Ich kenne den Kerl sehr genau.«

 

Sie kamen spät nach London zurück. Surefoot war in gedrückter Stimmung.

 

Dick suchte Mary unverzüglich auf, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. Er war erstaunt und ein wenig enttäuscht, als er sah, wie gelassen sie die Nachricht aufnahm.

 

»Ich habe es schon in der Abendzeitung gelesen«, erklärte sie ihm. »Er war ein armer Kerl. Aber ich habe einen glänzenden Tag hinter mir, Dick. Ich habe eine große Überraschung für den Chefinspektor – morgen noch nicht, aber übermorgen.«

 

Er verbrachte eine unruhige Nacht, da er sich sehr um Mary sorgte. Als er am Morgen bei ihr anläutete, war sie schon ausgegangen.

 

Surefoot, mit dem er später zusammentraf, beruhigte ihn.

 

»Sie brauchen sich nicht um die junge Dame zu ängstigen. Der tüchtigste Mann, den ich habe, beobachtet sie Tag und Nacht.

 

Hat sie Ihnen denn nicht gesagt, welchen Plan sie verfolgt? Soviel ich von meinen Leuten gehört habe, hält sie sich dauernd in den Vorstädten auf und kauft dort in den verschiedensten Läden ein.«

 

»Seltsam«, erwiderte Dick ungläubig. »Was kauft sie denn?«

 

»Hauptsächlich Mixed Pickles, aber auch Schinken. Einmal hat sie in der City eine Stunde gebraucht, um Tee zu besorgen. Sie packt die Sache entschieden zu wissenschaftlich an.«

 

Mr. Smith war über die unerklärliche Mitarbeit Mary Lanes durchaus nicht erfreut. Er haßte Geheimnisse.

 

Mary war schon am frühen Morgen nach Maidstone gefahren und hatte dort lange mit einem Schuhmacher verhandelt. Es zeigte sich, daß der Mann ein verhältnismäßig schlechtes Gedächtnis hatte und auch seine Bücher nicht ordentlich führte. Etwa um fünf kehrte sie müde in die Stadt zurück, nahm ein heißes Bad, ruhte sich einige Stunden aus und fühlte sich wieder frisch, als sie ihren Mantel zuknöpfte und ausging.

 

Es war zehn Uhr, und es regnete leicht. Sie nahm ein Taxi und fuhr zum King’s-Cross-Bahnhof. Auf dem Bahnsteig traf sie Binny, der in keiner besonders guten Stimmung zu sein schien. Obgleich der Abend warm war, trug er einen schweren Mantel und ein Halstuch. Er sah elend und verlassen aus. Der Detektiv, der Mary gefolgt war, beobachtete, wie sie mit ihm sprach, und amüsierte sich, denn er wußte, warum Binny verreisen mußte.

 

Der Butler machte ein skeptisches Gesicht.

 

»Ich weiß nicht recht, ob ich mich noch auf sie besinnen kann. Die Leute ändern doch ihr Aussehen im Lauf der Jahre, besonders wenn sie schon älter sind. Sie war nur drei Wochen mit mir in dem Haus zusammen!«

 

»Sie werden sie sicher wiedererkennen!« erklärte Miss Lane energisch.

 

Er zögerte.

 

»Vermutlich. Aber diese Nachtreisen gefallen mir nicht. Früher habe ich einmal ein Eisenbahnunglück miterlebt, und seit der Zeit bin ich immer nervös, wenn ich nachts in einem Zug sitzen muß. Und bedenken Sie doch, daß Mr. Lyne erst vor kurzem gestorben ist und daß ich eine Menge Aufregung mit all den Zeitungsleuten gehabt habe, die mich dauernd ausfragten. Ich weiß überhaupt nicht recht, was ich zu alledem sagen und wie ich mich dazu verhalten soll.«

 

Mary kümmerte sich nicht weiter um seine lange Litanei, sondern sagte ihm noch einmal kurz und klar, was er tun sollte.

 

»Sie gehen also zu dem Haus, das ich Ihnen beschrieben habe, und fragen nach Mrs. Morris. Das ist der Name, den sie angenommen hat – wahrscheinlich, weil ihr Sohn mit der Polizei in Konflikt kam. Wenn Sie feststellen, daß es Mrs. Laxby ist, schicken Sie mir ein Telegramm. Aber Sie müssen Ihrer Sache ganz sicher sein. Haben Sie die Fotografie, die ich Ihnen gegeben habe?«

 

Er nickte schwach. »Ja. Aber meiner Meinung nach ist das eine Sache für die Polizei, mich geht das nichts an.«

 

»Binny, Sie haben das zu tun, was ich Ihnen sage«, erwiderte sie streng. »Ich habe Ihnen eine Schlafwagenkarte gelöst, und Sie haben auf der Reise nicht die geringsten Unannehmlichkeiten auszustehen.«

 

»Aber ich muß doch schon um vier aus dem Zug heraus!« Er merkte, daß er wohl etwas zu weit gegangen war, und lenkte ein. »Es ist schon gut, Miss Lane. Überlassen Sie mir nur die Sache, und wenn es sich so verhält, schicke ich Ihnen ein Telegramm.«

 

Sie verließ den Bahnsteig ein paar Minuten vor Abfahrt des Zuges und nahm wieder ein Taxi.

 

Der Detektiv, der ihr folgte, war davon überzeugt, daß sie zu ihrer Wohnung zurückkehren würde, und gab seinem Chauffeur nur die Weisung, dem vorausfahrenden Wagen zu folgen.

 

Taxichauffeure sind nicht immer auch gute Detektive. Erst als aus dem anderen Auto vor einem Hotel in der Bloomsbury Street ein alter Herr ausstieg, kam dem Mann von Scotland Yard zum Bewußtsein, daß er einer falschen Spur gefolgt war.

 

Er fuhr zu Marys Wohnung und fluchte, daß die junge Dame noch nicht zurückgekommen war. Sofort raste er kreuz und quer mit dem Wagen durch die Stadt, um sie zu suchen. Er wußte, daß es eine fast hoffnungslose Sache war, aber er hatte Glück. Es war Viertel nach elf, als er sie vom Fenster seines Wagens aus auf der Straße gehen sah. Sie kam seinem Auto entgegen. Sofort ließ er halten, bezahlte den Chauffeur und folgte ihr zu Fuß durch den Regen.

 

Kapitel 2

 

2

 

Mr. Tickler, so hieß der Verfolger, konnte dem Auto nur bis zur Oxford Street auf der Spur bleiben. Niedergeschlagen wanderte er auf den Regent’s Park zu und bog dann zum Naylors Crescent ein. In dieser Seitenstraße war es sehr still; die kleinen hübschen Häuser lagen alle in tiefer Nachtruhe.

 

Mr. Tickler blieb vor Nr. 17 stehen und sah zu den Fenstern hinauf. Die weißen Jalousien waren heruntergelassen, und das Haus sah vollkommen tot aus. Dann musterte er die grüne Haustür, die er so gut kannte, die drei ausgetretenen Stufen, die hinaufführten, das kleine eiserne Geländer und die Stahlschienen, die in die Stufen eingelassen waren, damit man einen Rollstuhl leicht hinunterbefördern konnte.

 

In diesem Haus herrschte Reichtum. Ein begüterter Mann wohnte hier, der dem Grab sehr nahe war. Ein Gefühl der Bitterkeit stieg in Mr. Tickler auf. Er dachte an die harte Behandlung im Gefängnis von Pentonville. Es ging zu ungerecht im Leben zu.

 

Der alte Lyne schlief im ersten Stock, sein Bett stand zwischen beiden Fenstern. Das kleine niedrige Fenster gehörte zu seinem Arbeitszimmer, in dem er tagsüber saß.

 

Dort befand sich auch ein Safe, aber es lagen nur alte Papiere darin. Der alte Lyne war schlau und hatte niemals Geld im Hause, wie er ständig betonte. Ein oder zwei Einbrecher, die ihm nicht geglaubt hatten, mußten ohne Beute wieder abziehen.

 

Und dieser alte Geizhals schlief nun in einem luxuriösen Zimmer unter Daunendecken, und hier draußen stand Horace Tom Tickler mit ein paar Silbermünzen in der Tasche.

 

Aber vielleicht war der Alte überhaupt nicht zu Hause. Es gehörte zu seinen Tricks, sich anderswo aufzuhalten, wenn man ihn in seiner Wohnung vermutete.

 

Tickler wanderte eine Stunde in der kleinen Sackgasse auf und ab, dachte über zahlreiche Pläne nach, von denen sich die meisten nicht ausführen ließen, und schlich sich dann nach den breiten Straßen zurück, wo die vielen Cafés mit den hell erleuchteten Fenstern lagen. Schließlich ging er durch eine enge Gasse, um schneller zum Portland Place zu kommen, und dabei hatte er unerwartetes Glück.

 

Ein Polizist, der durch Baynes Mews ging, hörte einen Mann singen, und wenn er sich nicht sehr täuschte, war der Mann betrunken. Die Stimme kam aus einer der vielen kleinen Wohnungen über den Garagen, die zu beiden Seiten der Nebenstraße lagen.

 

An dem Gesang war nichts Besonderes, und der Polizist wäre auch weitergegangen, wenn er nicht eine Gestalt auf den Stufen zur Haustür hätte sitzen sehen.

 

Er leuchtete den Mann mit seiner Taschenlampe an, konnte aber nichts Auffälliges an ihm entdecken. Der Fremde hatte ein rotes Gesicht, war unrasiert und außerordentlich schlecht gekleidet.

 

»Hören Sie ihn?« fragte er den Polizisten und wies mit dem Kopf nach oben. »Das erste Mal, daß so was passiert«, sagte er grinsend. »Der ist ja mächtig benebelt. Zu toll, daß der sich auch besäuft! Heute abend ist er mir durch die Lappen gegangen, und ich hätte ihn niemals wieder erwischt … da hör‘ ich ihn zufällig singen. Er muß ordentlich geladen haben.«

 

Der laute Gesang war inzwischen verstummt, und sie hörten nur noch ein unmelodisches Summen.

 

»Ist das ein Freund von Ihnen?« fragte der Beamte den seltsamen Fremden.

 

Der kleine Mann schüttelte den Kopf.

 

»Das weiß ich nicht. Ich will ja gerade herausbringen, ob er nett zu mir ist oder nicht.«

 

Der Polizist machte eine unwillige Handbewegung.

 

»Sehen Sie zu, daß Sie weiterkommen, und lassen Sie sich hier nicht wieder blicken«, sagte er barsch.

 

»Schon gut«, erwiderte Mr. Tickler und ging davon.

 

Der Polizist kam in Versuchung, ihn zurückzurufen, um den Namen des betrunkenen Sängers zu erfahren, aber dann entschloß er sich doch nicht dazu und beobachtete Mr. Tickler nur, bis er ihn nicht mehr sehen konnte.

 

Es war kurz vor zwei Uhr morgens, und der Polizist ging zu der Stelle, an der er seinen Sergeanten treffen sollte.

 

Mr. Tickler wanderte den Portland Place entlang und schaute in jeder Türnische nach Zigaretten- oder Zigarrenstummeln, die die Herren bei ihrer Rückkehr nach Hause vielleicht fortgeworfen hatten.

 

Welchen Erfolg würde er haben, wenn er an der richtigen Stelle erzählen könnte, was er erfahren hatte! Oder er hätte auch gleich den Sänger da oben erpressen können. Damit kann man leicht Geld verdienen, wenn der andere genug besitzt. In einer Wirtschaft in der Oxford Street trank er eine Tasse Kaffee. Er hatte zur Zeit etwas Geld, sogar eine Schlafstelle, und er konnte mit dem Autobus fahren, wenn er wollte.

 

Gestärkt trat er wieder auf die Straße und schlenderte Regent Street entlang. Dort traf er den Mann, dem er am wenigsten begegnen wollte.

 

Surefoot Smith stand im Schatten eines zurückliegenden Schaufensters. Er war untersetzt und trug einen eng anliegenden Mantel. Den steifen Filzhut hatte er wie gewöhnlich in den Nacken geschoben; sein rundes Gesicht war lebhaft gerötet. Hätte er nicht geraucht, so hätte er eine Statue sein können.

 

»Heda!«

 

Widerwillig drehte sich Tickler um und erkannte den Beobachter. Er richtete sich auf, nahm die Schultern zurück und ging mit leichten Schritten vorwärts. Dadurch hoffte er, nicht erkannt zu werden.

 

Surefoot Smith hatte aber ein seltsam gutes Gedächtnis, das wie eine geordnete Kartei funktionierte. Selbst den kleinsten und unwichtigsten Missetäter, der durch seine Hände gegangen war, vergaß dieser Polizeibeamte nicht.

 

»Kommen Sie her.«

 

Tickler gehorchte.

 

»Was treiben Sie denn jetzt, Tickler? Verlegen Sie sich noch auf Einbrüche, oder schleppen Sie nur das Bier für größere Gauner herbei? Es ist zwei Uhr morgens – haben Sie eine Bleibe?«

 

»Jawohl.«

 

»So? Aber sicherlich doch nicht hier draußen in West End?«

 

Mit oder ohne Berechtigung durchsuchte der Detektiv den Mann, und der Kleine streckte auch gehorsam die Arme aus.

 

»Hab‘ kein Werkzeug bei mir, keinen Meißel, kein Stemmeisen, nicht einmal einen Schießprügel. Ich führe jetzt wirklich ein anständiges Leben.«

 

Surefoot Smith war mit dem Ergebnis der Durchsuchung zufrieden.

 

»Reden Sie keinen Unsinn. Auf was für besondere Diebereien sind Sie denn jetzt aus? Sie werden mir doch nicht sagen wollen, daß Sie ehrlich Ihr Geld verdienen.«

 

In diesem Augenblick flammte zweimal eine Taschenlampe von dem Dach des Hauses auf, das Smith beobachtete. Sofort tauchten aus allen benachbarten Türnischen Gestalten auf, die das Gebäude umzingelten. Surefoot Smith war einer der ersten, die den gegenüberliegenden Bürgersteig erreichten.

 

Ein lautes Klopfen drüben an der Haustür sagte Mr. Tickler, was er wissen wollte. Das Haus wurde von der Polizei durchsucht. Vielleicht war es ein Spielklub, vielleicht noch etwas Schlimmeres.

 

Tickler war froh, daß er so gut weggekommen war, und machte sich schleunigst davon. Am Piccadilly Circus blieb er stehen und überlegte. Und je länger er nachdachte, desto mehr kam ihm zum Bewußtsein, daß er eine äußerst günstige Gelegenheit versäumt hatte. Mit gesenktem Kopf ging er Piccadilly entlang und träumte davon, sich leicht und mühelos Geld zu verschaffen.

 

Kapitel 20

 

20

 

Mary Lane wußte nicht, daß ihr jemand folgte, als sie an ihrem Ziel ankam. Sie stand in einem kleinen gepflasterten Hof, in dem sich der wenig angenehme Geruch von lange nicht geleerten Mülleimern bemerkbar machte. Vorsichtig ging sie weiter und benutzte eine Taschenlampe, um den Weg zu finden. Am Ende des Hofes befand sich eine kleine Tür, daneben ein Fenster.

 

Eine Weile stand sie auf der Schwelle und lauschte. Ihr Herz schlug schneller, und sie fühlte sich plötzlich allein und verlassen in der Stille der Nacht. Es schien ihr vermessen, daß sie als Dilettantin der Polizei ins Handwerk pfuschen wollte.

 

Unaufhörlich fiel der Regen, und das monotone Rauschen machte sie niedergedrückt und mutlos.

 

Aber schließlich raffte sie sich auf und nahm aus ihrer Handtasche das Duplikat des Schlüssels, das Surefoot für sie hatte anfertigen lassen. Sie fand das Schlüsselloch und steckte den Schlüssel hinein. Nun sollte sich zeigen, ob ihre Theorie stimmte oder nicht. Als sie versuchte, ihn umzudrehen, schien er nicht zu passen, und sie war beinahe froh darüber. Aber nachdem sie ihn noch ein wenig tiefer hineingeschoben hatte, drehte er sich, und das Schloß schnappte mit einem lauten Krach auf.

 

Marys Knie zitterten, als ob sie die Last des Körpers nicht mehr tragen könnten, und sie atmete schwer. Hier war das Experiment eigentlich zu Ende, und sie hätte zurückgehen sollen. Aber plötzlich wurde sie von Abenteuerlust gepackt und öffnete die Tür, die lautlos nachgab. Furchtsam schaute sie in das dunkle Innere. Sollte sie hineingehen? Ihre Vernunft sagte nein. Aber Mary hielt die warnende Stimme für weibliche Schwäche, für Angst vor der Finsternis und vor Gespenstern, die nicht existierten.

 

Sie machte die Tür weiter auf, trat einen Schritt vor, leuchtete mit der Taschenlampe umher und sah nichts.

 

Dann hörte sie plötzlich in der Dunkelheit einen Laut, der ihr Blut in den Adern erstarren ließ – es war das Wimmern einer Frau.

 

Eisiger Schrecken packte sie, und sie glaubte, sie würde ohnmächtig umsinken. Der Laut kam aus der Tiefe, aus einem Raum unter ihren Füßen, und doch hatte sie das Gefühl, als ob sich auch vor ihr etwas regte.

 

Die Taschenlampe in ihrer Hand zitterte so sehr, daß sie nicht genau erkennen konnte, was vor ihr war. Sie stützte sich mit einem Arm an der Wand, bemerkte eine Schranktür, schlich dorthin und lauschte. Nun hörte sie es deutlich: Das Geräusch kam tatsächlich aus der Tiefe, und die Tür bildete offenbar den Eingang zu einem Keller. Sie versuchte sie zu öffnen, fand sie aber verschlossen.

 

Plötzlich wurde sie von einer unsagbaren Furcht befallen, wie sie sie noch nie zuvor kennengelernt hatte. Sie fühlte fast greifbar, daß ihr Gefahr drohte, und zwar aus nächster Nähe.

 

Sie wandte sich um und blieb starr vor Schrecken stehen. Die Tür schloß sich langsam!

 

Mary sprang vorwärts und packte die Kante, aber jemand drückte die Tür zu, und dieser Unheimliche stand mit ihr in demselben Raum, ja er hatte schon dort gestanden, als sie eingetreten war!

 

Als sie die Lippen öffnen wollte, um einen Schrei auszustoßen, legte sich eine große Hand auf ihren Mund. Eine andere Hand packte sie an der Schulter und riß sie zurück. Im nächsten Augenblick fiel die Tür krachend ins Schloß.

 

»Oh, Miss Lane, wie konnten Sie das nur tun?«

 

An der hohen Stimme erkannte sie sofort, daß sie Mr. Washington Wirth gegenüberstand. Mit Aufbietung all ihrer Kräfte versuchte sie, sich loszureißen, aber in den Armen des Mannes war sie machtlos wie ein Kind.

 

»Darf ich Ihnen vielleicht den Rat geben, meine Liebe, sich ruhig zu verhalten? Sonst wäre ich leider gezwungen, Ihnen die Kehle durchzuschneiden.«

 

Die Stimme klang höflich und freundlich, und doch verbarg sich dahinter eine schreckliche Drohung. Mary wußte, daß dieser Mensch sie ohne die geringsten Gewissensbisse umbringen würde. Aber wahrscheinlich würde er diese Drohung nicht gleich wahrmachen. Ihre Rettung hing jetzt allein von ihrem Witz und Verstand ab.

 

Stöhnend sank sie in seinen Armen zusammen. Darauf war er so wenig vorbereitet, daß er sie fast hätte fallen lassen. Er verlor das Gleichgewicht und legte sie mit einem ärgerlichen Ausruf auf den Steinboden nieder. Nach einer kleinen Weile hörte sie das Klappern von Schlüsseln. Er schloß die Schranktür auf.

 

Geräuschlos erhob sich Mary, tastete sich nach der Tür, drückte die Klinke lautlos nieder und riß sie im nächsten Augenblick auf. Wie von Furien gehetzt rannte sie über den Hof. Er kam zu spät, um sie anhalten zu können, und sie befand sich bereits auf der einsamen Nebenstraße, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte.

 

Ein paar Minuten später erreichte sie eine Hauptstraße, und als sie zwei Polizisten vor sich sah, wollte sie auf sie zustürzen und ihnen ihr Abenteuer erzählen. Aber sie zögerte. Die beiden würden sie wahrscheinlich für verrückt halten.

 

»Hallo, Miss Lane! Sie haben mich furchtbar erschreckt!«

 

Es war der Detektiv, der ihr den ganzen Abend gefolgt war und sie schließlich aus den Augen verloren hatte. Er verbarg seine Erleichterung durchaus nicht.

 

»Um Himmels willen, wo waren Sie denn? Ich bin Stenford von Scotland Yard. Mr. Smith hat mir gesagt, Sie wüßten, daß Sie beobachtet werden.«

 

Sie hätte ihm vor Dankbarkeit um den Hals fallen können. Atemlos erzählte sie ihm ihre Geschichte, während er ihr ungläubig zuhörte.

 

»Haben Sie den Schlüssel?«

 

Sie schüttelte den Kopf, Sie hatte ihn in der Tür steckenlassen.

 

»Ich bringe Sie jetzt nach Hause, Miss Lane. Nachher berichte ich Mr. Smith.«

 

Stenford war ein noch junger, diensteifriger Detektiv, und kaum hatte er sich vor der Wohnungstür von Mary verabschiedet, als er auch schon zurückeilte, um auf eigene Faust vorzugehen, bevor er sich bei seinem Vorgesetzten meldete.

 

Mary kochte sich eine Tasse Tee, um ihre Nerven zu beruhigen. Die Räume erschienen ihr schrecklich einsam und verlassen, und sie hörte merkwürdige Geräusche. Sie wußte, daß sie nicht würde schlafen können, und wollte gerade den Hörer abnehmen, als das Telefon scharf klingelte. Sie zuckte zusammen.

 

Surefoot Smith rief sie an, und seine Stimme klang aufgeregt und besorgt.

 

»Sind Sie es, Miss Lane? Hören Sie zu und tun Sie schnell, was ich Ihnen sage. Verriegeln Sie sofort Ihre Wohnungstür und öffnen Sie auf keinen Fall, bevor ich komme. In zehn Minuten bin ich bei Ihnen.«

 

»Aber –«

 

»Tun Sie, was ich Ihnen sage!«

 

Sie hörte, wie er aufhängte. Ein entsetzlicher Schrecken packte sie, denn der Chefinspektor hätte nicht so aufgeregt gesprochen, wenn die Lage nicht gefährlich gewesen wäre.

 

Sie trat in den Flur, im gleichen Augenblick ging das Licht aus. Rasch folgte sie einer unbewußten Eingebung, sprang in das Zimmer zurück, das sie eben verlassen hatte, schlug die Tür krachend zu und drehte den Schlüssel um.

 

In der nächsten Sekunde warf sich jemand von draußen mit vollem Gewicht dagegen. Sie hatte keine Waffe, wußte nur, daß eine Schere auf dem Tisch lag.

 

Wieder donnerte der Eindringling gegen die Tür, die Füllung krachte bedenklich.

 

»Ich habe einen Revolver und schieße, wenn Sie nicht gehen!« rief sie.

 

Darauf folgte Schweigen. Hastig sprang sie zum Fenster und riß es auf. Jetzt mußte sie eine gute Schauspielerin sein, sonst kostete es ihr Leben.

 

»Mr. Smith, sind Sie das? Klettern Sie die Feuerleiter herauf!« schrie sie so laut sie konnte.

 

Wieder krachte die Türfüllung. Da kam Mary ein Einfall. Sie nahm den Hörer und wählte die Nummer der Polizeistation:

 

»Ein gewisser Moran versucht, in mein Zimmer einzubrechen – Leo Moran, bitte erinnern Sie sich an den Namen, falls mir etwas geschehen sollte, hier spricht Mary Lane …«

 

Sie ließ den Hörer fallen und schlich zur Tür.

 

Leise ging jemand den Korridor entlang; das Geräusch wurde schwächer, bis sie nichts mehr hörte.

 

Mary Lane sank zu Boden, und diesmal war sie wirklich ohnmächtig geworden.

 

Erst das heftige Klopfen und die erregte Stimme Dick Allenbys brachten sie wieder zu sich. Schwerfällig erhob sie sich, drehte den Schlüssel um und sah Dick und den Chefinspektor eintreten. Aber sie hatte kaum ein paar Worte gesprochen, als sie wieder bewußtlos wurde.

 

»Es ist wohl besser, Sie rufen eine Krankenschwester«, sagte Surefoot. »Ich fürchtete schon, ich würde sie nicht mehr lebend antreffen!«

 

Dick rieb Marys Gesicht mit einem nassen Tuch ab. Er war so besorgt um sie, daß er sich im Augenblick nicht einmal dafür interessierte, wie der Chefinspektor von der großen Gefahr Kenntnis erhalten hatte. Surefoot hatte ihn in seinem Klub anrufen lassen, und beide waren zu gleicher Zeit vor dem Haus angekommen.

 

»Ich erhielt eine telefonische Meldung von dem Beamten, der sie beobachtete«, berichtete Smith. »Er erzählte mir die Geschichte, die sie ihm mitgeteilt hatte, und ich beauftragte ihn, sofort zu ihrer Wohnung zurückzukehren und dort zu bleiben, bis ich käme. Eine halbe Stunde später ruft mich der Kerl an und sagt mir, daß er den Hof und die Nebenstraße durchsucht und niemand gefunden habe! Können Sie sich so etwas vorstellen?«

 

Mary hatte die Augen wieder geöffnet, und ein paar Minuten später richtete sie sich auf. Sie sah bleich und angegriffen aus, aber sie war jetzt ruhig genug, um erzählen zu können.

 

Die ganze Nacht hindurch waren Beamte von Scotland Yard unterwegs, um London und die Vorstädte nach einem bestimmten Mann zu durchsuchen. »Möglich, daß er von einer Frau begleitet wird«, stand in der offiziellen Benachrichtigung. Dann folgte eine genaue Beschreibung des Paares.

 

Auf den Rat des Chefinspektors hin zog Mary in ein ruhiges Hotel in der Nähe des Haymarket. Surefoot nahm an, daß ihr jetzt nichts mehr passieren würde, nachdem das Geheimnis von Washington Wirth bekannt war. Er hätte sie vielleicht töten können, um zu verhindern, daß sie sein Geheimnis preisgab, aber nachdem sie nun mit andern darüber gesprochen hatte, war sie wohl nicht mehr bedroht.

 

»Ich hoffe es auch«, sagte sie kleinlaut. »Als Detektiv habe ich nichts geleistet.«

 

Surefoot räusperte sich.

 

»Ich kann schlecht Komplimente machen. Im übrigen haben Sie ja schließlich nun den Täter gefunden und entdeckt, wie die Bankfälschungen zustande kamen.«

 

An dem Abend, an dem Mary ihr Abenteuer erlebte, hatte Surefoot seinem Freund in Chikago telegrafiert und ihn um alle Einzelheiten über den amerikanischen Gangster Ryan gebeten, der augenblicklich in England arbeitete. Nun ersuchte er das New Yorker Polizeipräsidium noch um telegrafische Übermittlung einer Fotografie.

 

Als der Chefinspektor das Bild in Händen hatte, ging er zu Morans Bank. Es wurden alle Bücher durchgesehen, aber man konnte keine weiteren Unterschlagungen feststellen.

 

»Vielleicht hilft Ihnen eine kleine Mitteilung, die ich Ihnen machen kann«, sagte der Generaldirektor. Moran hat seinen Dienst bei der Bank einige Jahre unterbrochen. Während dieser Zeit war er in Amerika. Wir nehmen an, daß er damals an der Börse spekuliert hat – er selbst hat darüber nie genaue Angaben gemacht.«

 

»Merkwürdig«, erwiderte Surefoot, erklärte aber nicht weiter, was er mit diesen Worten sagen wollte.

 

»Er hatte auch großes Interesse an Cassari-Petroleum-Aktien, die eine so sensationelle Hausse erlebten. Das habe ich allerdings erst vor ein paar Tagen erfahren.«

 

»Ich wußte es schon ziemlich lange«, entgegnete der Chefinspektor grimmig, »und ich kann Ihnen sogar erzählen, daß er nahezu eine Million daran verdient hat.«

 

Der Generaldirektor runzelte die Stirn.

 

»Dann hatte er es doch gar nicht nötig, sich irgendwelche Verfehlungen zuschulden kommen zu lassen?«

 

»Nein, nötig hatte er das nicht«, erwiderte Surefoot geheimnisvoll. –

 

Dick Allenby war in diesen Tagen sehr beschäftigt, denn als Haupterbe seines Onkels hatte er viel zu erledigen. Der verstorbene Mr. Lyne hatte auch Geschäftsinteressen in Frankreich gehabt, und Dick fuhr infolgedessen eines Nachmittags mit dem Schnellzug nach Paris.

 

Am Tage vorher war zwischen Ashford und Dover ein Zug entgleist, und die Strecke konnte daher nur eingleisig befahren werden. Die Expreßzüge hatten nur geringe Verspätung, aber es war notwendig, daß sie auf einer kleinen Station hielten, an der sie sonst vorüberrasten.

 

Der Expreßzug nach dem Festland fuhr langsam in die Station ein und hielt. Ein anderer, der aus der entgegengesetzten Richtung kam, wartete. Als sich der Expreß wieder in Bewegung setzte, wandte sich Dick zufällig um und betrachtete die Passagiere des anderen Zuges.

 

In einem Abteil des letzten Wagens saß ein Mann in der Ecke, der eine Zeitung las. Als der Zug vorüberfuhr, senkte er das Blatt, und Dick erkannte – Leo Moran!

 

Kapitel 21

 

21

 

Es war Dick unmöglich, im Augenblick etwas zu unternehmen. Der Zug fuhr schneller und schneller und hielt erst wieder in Dover. Vielleicht war es möglich, von dort aus mit Scotland Yard zu telefonieren. Aber dann erreichte er am Ende seinen Dampfer nicht mehr.

 

Als Dick in Dover ankam und durch die Paßkontrolle ging, erkannte er glücklicherweise einen Detektiv, der die Abreisenden beobachtete. Ihm erklärte er die Dringlichkeit der Situation.

 

»Moran hat Dover nicht passiert«, erwiderte der Beamte und schüttelte den Kopf. »Sie sind dem Anschlußzug von Boulogne-Folkestone begegnet. Aber ich werde mich sofort mit Mr. Smith in Verbindung setzen. Wir haben hier schon seit einiger Zeit eine genaue Personalbeschreibung von Mr. Moran, ebenso die Leute in Folkestone. Ich kann mir nicht erklären, daß man ihn nicht erkannt haben sollte.«

 

Chefinspektor Smith schickte sofort Beamte an den Bahnhof, als er die Nachricht hörte. Sie überwachten den Zug bei der Ankunft, fanden aber Moran nicht. Surefoot stellte später fest, daß der Zug auf der Station South Bromley gehalten hatte. Dort war ein Passagier, der sein Gepäck selbst trug, ausgestiegen und hatte seine Fahrkarte abgegeben. Er war mit einem Taxi weggefahren.

 

Der Reisende hatte offenbar einen plötzlichen Entschluß gefaßt, wie der Schaffner des Wagens aussagte. Spät am Abend wurde auch der Taxichauffeur ermittelt und verhört. Es stellte sich heraus, daß Moran zu einer anderen Station gefahren war, die ein paar Meilen von Bromley entfernt lag. Von dort aus hatte er einen Vorortzug nach London benutzt.

 

Ein Anruf in seiner Wohnung blieb ohne Ergebnis. Der Portier hatte ihn auch nicht gesehen.

 

Der Chefinspektor telefonierte Dick in dessen Pariser Hotel an. »Haben Sie nicht die Schlüssel zu Morans Wohnung?« fragte er ihn.

 

»Ja, das habe ich ganz vergessen. Sie liegen in meiner Werkstatt. Setzen Sie sich mit dem Hausmeister in Verbindung, Sie finden sie in der einen Tischschublade …«

 

Smith lag weniger daran, die Schlüssel zur Wohnung zu bekommen, als festzustellen, daß Leo Moran nicht zurückgekehrt war. Er würde doch sicher versuchen, seine Schlüssel aus Dicks Wohnung zu holen. Auf jeden Fall ließ der Chefinspektor Dick Allenbys Haus beobachten.

 

Aber Moran zeigte sich nicht. Entweder wußte er, daß man genau auf ihn aufpaßte, und zeigte sich deshalb nicht, oder aber er besaß irgendeine andere Wohnung in London, die der Polizei nicht bekannt war.

 

Die anderen Nachforschungen, die Smith in die Wege leitete, blieben gleichfalls erfolglos. Aber im Augenblick konzentrierte er seine Hauptaufmerksamkeit auf Moran. Die Fremdenlisten in allen Hotels wurden überwacht.

 

Mary Lane wußte nichts davon, daß Moran wieder in London war, und Surefoot Smith, der sie am Abend sprach, erwähnte auch nicht, daß Moran gesehen worden war. Er suchte sie gewöhnlich ein- oder zweimal am Tage auf, da er kein Risiko auf sich nehmen wollte.

 

Marys Hotel lag in einem alten Häuserblock mitten in West End. Es war in mancher Beziehung etwas altmodisch und primitiv eingerichtet, aber schließlich hatte der Eigentümer Gasöfen zur Heizung der Schlafzimmer aufstellen lassen und sich auch dazu bequemt, elektrisches Licht zu legen. Das Telefon betrachtete er dagegen als unliebsame Neuerung, die seinen Frieden störte. Es gab nur einen Apparat im ganzen Haus, und zwar in seinem Büro.

 

Mary war nicht unzufrieden darüber. Vor allem war das Hotel ruhig, und man konnte nachts schlafen. Sie fühlte sich in ihrem großen hellen Zimmer, das nach der Straße lag, sehr wohl. Es verkehrten fast nur Familien aus der Provinz hier.

 

Mary konnte auf einen Balkon hinaustreten, der die ganze Breite des Hauses einnahm. Allerdings passierte auf der Straße nicht viel, das man sich von oben hätte ansehen können.

 

Als Mr. Smith Mary am nächsten Abend wieder besuchte, hatte er Pech. Wäre er ein paar Minuten früher gekommen, so hätte er beobachten können, wie Leo Moran die breite Treppe in die Höhe stieg und dem Hotelportier in den Raum, folgte, der an Marys Zimmer stieß. Der Mann hatte sich nicht als Moran ins Hotelregister eingetragen, sondern als John More aus Birmingham. Er bestellte ein einfaches Abendbrot aufs Zimmer. Als das Geschirr wieder fortgeräumt war, schloß er die Tür, öffnete eine Mappe, nahm eine Anzahl Dokumente heraus und war eifrig tätig.

 

Der Chefinspektor blieb nicht lange, und Mary las noch eine Stunde. Sie hatte die Aufregungen jener furchtbaren Nacht allmählich überwunden und Surefoot gesagt, daß sie wieder in ihre Wohnung zurückkehren wollte.

 

»Sie bleiben besser noch eine Woche im Hotel«, hatte er ihr erwidert. »Es ist möglich, daß ich mich täusche, aber ich glaube, bis dahin habe ich den Fall vollkommen geklärt.«

 

»Aber da der Polizei jetzt sein Name und seine Personalbeschreibung bekannt sind, wird er mir doch nicht mehr nachstellen«, protestierte sie. »Ich bin auch vollkommen davon überzeugt, daß er nicht aus Rache, sondern aus Selbsterhaltungstrieb gehandelt hat –«

 

»Man kann nicht vorsichtig genug sein, wenn es sich um diesen Menschen handelt. Vor allem muß man annehmen, daß er bis zu einem gewissen Grade geistesgestört ist.«

 

Mary war unzufrieden, daß ihr noch immer Einschränkungen auferlegt wurden. Sie war auch nicht damit einverstanden, daß sie so früh zu Bett gehen sollte, wie der Arzt vorgeschrieben hatte, denn sie konnte nicht einschlafen.

 

Erst kurz vor Mitternacht fiel sie in einen leichten Schlaf, aber eine Stunde später schreckte sie plötzlich wieder auf. Zitternd zog sie die Decke über die Schultern.

 

Die Tür zum Balkon, die sie geschlossen hatte, stand weit offen; ein kalter Luftzug wehte durch den Raum, und die Zimmertür war auch halb geöffnet. Mary hatte sie von innen verschlossen, darauf konnte sie sich genau besinnen.

 

Als sie neben dem Bett stand, erschien die Gestalt eines Mannes in der Türöffnung. Deutlich war sie in dem trüben Licht des Korridors zu sehen. Mary war einen Augenblick wie gelähmt vor Furcht und Entsetzen. Dann erkannte sie den Mann plötzlich, und in wilder Todesangst schrie sie auf.

 

Er trat zurück und verschwand. Sie eilte zur Tür, warf sie zu und drehte den Schlüssel um. Hastig machte sie Licht, klingelte heftig, schloß auch, die Tür nach dem Balkon und saß dann verängstigt in einem Sessel, bis sie die Stimme des Nachtportiers hörte.

 

Schnell schlüpfte sie in einen Morgenrock, öffnete und berichtete, was sie erlebt hatte. Er sah sie ungläubig an. Zwar sagte er nichts, aber er schien davon überzeugt, daß sie geträumt hatte.

 

»Was, ein Mann war in Ihrem Zimmer? An mir ist aber niemand vorbeigekommen«, meinte er schließlich. »Und ich habe unten in der Halle seit zehn gewacht.«

 

»Gibt es nicht noch einen anderen Ausgang?«

 

Der Portier dachte einen Augenblick nach.

 

»Höchstens könnte er die Gesindetreppe hinuntergegangen sein. Ich werde einmal nachsehen. Ist Ihnen etwas gestohlen worden?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht«, erwiderte sie ungeduldig. »Bitte rufen Sie Chefinspektor Smith in Scotland Yard an. Sagen Sie ihm, er möchte sofort herkommen, es sei sehr, sehr wichtig.«

 

Sie ging in ihr Zimmer zurück, schloß die Tür und öffnete sie erst wieder, als sie nach einem Klopfen Surefoots Stimme hörte.

 

Noch bevor sie sprechen konnte, rief er den Portier zurück, der ihn nach oben gebracht hatte.

 

»Irgendwo im Haus steht ein Gashahn auf«, sagte er.

 

»Ich habe es auch schon bemerkt.«

 

Der Mann ging den Gang entlang und kehrte dann wieder um.

 

Kapitel 22

 

22

 

»Der Geruch kommt hier aus dem nächsten Zimmer.«

 

Surefoot kniete nieder und drückte das Gesicht auf den Fußboden. Der Gasgeruch war sehr stark. Die Tür ließ sich nicht öffnen, da sie von innen zugeschlossen war. Auf wiederholtes Klopfen erhielt Smith keine Antwort. Entschlossen trat er ein paar Schritte zurück und warf sich dann mit voller Wucht gegen die Tür. Krachend flog sie auf, und er fiel der Länge nach in das Zimmer. Es war so von Gas erfüllt, daß er nicht atmen konnte. Er taumelte zurück, lief in Marys Zimmer, feuchtete ein Handtuch an und preßte es auf den Mund. Dann eilte er in den nächsten Raum, und nachdem er das Fenster aufgerissen hatte, hob er den Mann auf, der auf dem Bett lag, und schleppte ihn in den Gang.

 

Einen Augenblick sah er in das gerötete Gesicht und erkannte zu seinem Erstaunen Leo Moran. Das ganze Hotel war jetzt auf den Beinen. Ein Arzt, der auf demselben Korridor wohnte, kam im Pyjama heraus und leistete die Erste Hilfe, während Surefoot in das Zimmer zurückging.

 

Er bemerkte, daß immer noch Gas aus dem Ofen strömte, drehte den Hahn ab und öffnete das Fenster noch weiter. Dabei entdeckte er, daß diese Tragödie sehr gut vorbereitet worden war. Alle Fensterritzen waren mit Isolierband zugeklebt, sogar das Schlüsselloch. Der Spalt in der Tür zum Badezimmer war mit einem Handtuch zugesteckt. In der Nähe des Bettes stand ein Glas auf dem Schreibtisch, das noch halb mit Whisky gefüllt war. Moran hatte vorher anscheinend geschrieben. Surefoot nahm den angefangenen Brief, der an den Generaldirektor von Morans Bank gerichtet war.

 

Sehr geehrter Herr,

 

ich teile Ihnen mit, daß ich wieder nach London zurückgekehrt bin. Aus Gründen, die ich Ihnen persönlich auseinandersetzen werde, wohne ich unter angenommenem Namen im Hotel. Ich hoffe, daß diese Erklärungen Ihnen genügen werden …

 

Hier endete der Brief mit einem merkwürdigen Strich, als ob Moran plötzlich von einem Unwohlsein befallen worden wäre.

 

Es lag auch ein großer, mit Maschine beschriebener Aktenbogen auf dem Tisch, aber Smith entdeckte ihn nicht gleich.

 

Der Chefinspektor schaute sich im Zimmer um. Zuerst fiel ihm auf, daß die Tür des großen Kleiderschranks weit offenstand. Er sah hinein – der Schrank war leer, auf dem Boden waren zwei schmutzige Fußspuren, unverkennbar Abdrücke von Gummischuhen. Hier hatte sich also jemand versteckt. Draußen regnete es stark, und die Fußabdrücke waren noch naß.

 

Smith trat in den Korridor hinaus und sah, daß Moran in ein anderes Zimmer getragen worden war. Der Arzt und der Portier bemühten sich, ihn wieder ins Leben zurückzurufen. Surefoot ging zurück, und nun bemerkte er den Aktenbogen, der oben auf dem Stapel anderer Papiere lag. Als er ihn aufgenommen und den Anfang gelesen hatte, setzte er sich schwer in einen Stuhl, denn dieses Schriftstück war ein Mordgeständnis.

 

Ich, Leopold Moran, stehe im Begriff, aus der Welt zu scheiden. Aber bevor ich gehe, möchte ich ein Geständnis ablegen über drei Morde. Das erste meiner Opfer war ein gewisser Tickler.

 

Er hatte entdeckt, daß ich die Bank schädigte und beraubte, und erpreßte mich infolgedessen seit vielen Monaten. Er wußte, daß ich unter dem Namen Washington Wirth Gesellschaften gab und daß ich mich in dem Zimmer über einer Garage umzukleiden pflegte. Dort überraschte er mich und verlangte von mir tausend Pfund. Ich gab ihm hundert einzelne Banknoten zu je einem Pfund und überredete ihn dann, mit mir nach West End zu fahren, und zwar in einem Taxi, das in einer Nebenstraße stand. Als er einstieg, erschoß ich ihn, schloß die Tür und fuhr nach Regent Street, wo ich den Wagen an einem Parkplatz stehenließ.

 

Am nächsten Tage hatte ich eine Unterredung mit Hervey Lyne, der argwöhnisch wurde. Ich hatte nämlich seinen Namen gefälscht, wodurch ich große Summen von seinem Konto abheben konnte.

 

Er ließ mich in seine Wohnung kommen, und ich wußte, daß er mein Spiel durchschaut hatte. Vergeblich versuchte ich, seinen Diener Binny zu bestechen. Er sollte mir helfen, den Alten zu beschwindeln. Aber der Mann war entweder zu ehrenhaft oder zu dumm, um auf meinen Plan einzugehen. Binny ist einer der ehrlichsten Menschen, die ich jemals getroffen habe. Meiner Meinung nach war es töricht von ihm, daß er mich nicht unterstützte.

 

Ich wußte, daß Hervey Lyne sich jeden Nachmittag in den Regent’s Park fahren ließ, und zwar immer an einen bestimmten Platz, den ich von meiner Wohnung aus sehen konnte. An dem betreffenden Nachmittag war ich so verzweifelt und in die Enge getrieben, daß ich ihn von meinem Fenster aus mit einem Gewehr erschoß. Ich hatte einen Schalldämpfer daran befestigt. Zufällig machte auch ein gerade vorüberfahrendes Auto großen Lärm. Später schickte ich unter meinem eigenen Namen einen Mann nach Deutschland, blieb aber selbst in London.

 

Ich fürchtete mich vor Hennessey, der mich auch erpreßte, und ich mußte ihn unter allen Umständen zum Schweigen bringen. Deshalb fuhr ich in einem Auto mit ihm nach Colnbrook und erschoß ihn im Wagen. Vorher erzählte er mir noch, daß Miss Lane im Besitz der falschen Bankabrechnung sei, die ich ihm übergeben hatte. Am Abend brach ich in ihre Wohnung ein und durchsuchte sie, fand aber nicht, was ich haben wollte.

 

Alles, was ich hier geschrieben habe, ist wahr. Ich bin lebensmüde, scheide aber ohne Reue.

 

Leo Moran

 

Surefoot las das Geständnis sorgfältig durch und suchte das Zimmer dann nach Gummischuhen ab, konnte aber keine entdecken. Er fand Mary Lane vollkommen angekleidet in ihrem Zimmer.

 

»Haben Sie nicht das Gesicht des Mannes gesehen, der bei Ihnen eindringen wollte?« fragte er.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Haben Sie ihn sonstwie erkannt?«

 

Sie erzählte ihm von ihrer Vermutung.

 

Soweit er die Sache beurteilen konnte, war zwischen dem Auftauchen des geheimnisvollen Mannes und seiner eigenen Ankunft eine Viertelstunde vergangen. Diese Zeit genügte für Moran, sich im Zimmer einzuschließen. Smith dachte gerade darüber nach, als er etwas Glänzendes auf dem Boden sah. Er bückte sich und hob einen Schlüssel auf, der in der Nähe des offenen Fensters lag. Dann ging er in Morans Zimmer zurück, riß das Klebepflaster über dem Schlüsselloch ab, steckte den Schlüssel hinein und drehte ihn um. Nun hatte er keinen Zweifel mehr.

 

Moran war noch bewußtlos, aber der Arzt erklärte, daß er außer Gefahr sei. Surefoot hatte telefonisch zwei Detektive ins Hotel bestellt, ließ den Bankdirektor unter ihrer Bewachung zurück und ging zum Scotland Yard.

 

Mitten in der Nacht wurden drei der höchsten Polizeibeamten aus ihren Betten geholt und zu einer dringenden Konferenz nach Scotland Yard gerufen. Surefoot zeigte ihnen das Geständnis.

 

»Dann ist ja alles sonnenklar«, erklärte sein direkter Vorgesetzter. »Sobald er wieder zu Bewußtsein gekommen ist, lassen Sie ihn ins Gefängnis überführen und erheben Anklage gegen ihn.«

 

Surefoot schwieg einen Augenblick und warf einen prüfenden Blick auf das Schriftstück.

 

»Das Geständnis ist aber nicht im Hotelzimmer geschrieben worden«, sagte er. »Es müßte denn sein, daß eine unsichtbare Schreibmaschine dort untergebracht wäre. Ich habe jedenfalls keine gesehen. Die Tür war von innen verschlossen, und ich fand den Zimmerschlüssel in Miss Lanes Zimmer auf dem Boden. Weiterhin habe ich entdeckt, daß das Klebepflaster, das die Ritzen der Balkontür abdichtete, von außen angebracht war. Da hat der Täter einen Fehler begangen.«

 

Smith nahm eine Flasche mit einer hellgelben Flüssigkeit aus der Tasche.

 

»Hier ist der Whisky, den ich auf dem Schreibtisch fand. Er muß untersucht werden.«

 

»Wie war Moran denn gekleidet, als Sie ihn fanden?« fragte einer der Chefinspektoren.

 

»Er war vollkommen angekleidet und trug auch Schuhe. Aber merkwürdigerweise lag er mit den Füßen auf dem Kissen. In dieser Lage würde ich jedenfalls nicht Selbstmord begehen. Es ist alles sehr sonderbar!«

 

Sein Vorgesetzter richtete sich im Stuhl auf: »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«

 

Surefoot überlegte eine Weile.

 

»Moran war am Abend noch ausgegangen. Der Portier sah ihn dann zurückkommen, und zwar eine Stunde, bevor ich ihn in seinem Zimmer fand. Whisky und Soda waren ihm nach oben gebracht worden, der Whisky in einem Glas, die Sodaflasche war verschlossen. Er hatte das Getränk eine Stunde vorher bestellt. Ich habe die Schriftstücke durchgesehen, die auf dem Schreibtisch lagen, und aus allem die Überzeugung gewonnen, daß Moran nicht die Absicht hatte, Selbstmord zu begehen. Er war nach London zurückgekommen, um die Cassari-Aktien zu kaufen, die am Londoner Markt noch zu haben waren. Außerdem hatte er den festen Auftrag, in London ein Büro der Cassari-Petroleum-Gesellschaft zu eröffnen. Er wollte keinerlei Aufsehen erregen, da sonst vielleicht seine Absicht durchkreuzt worden wäre, die Petroleumaktien zu kaufen. Ich habe das alles aus einem Brief ersehen, den er einem Türken nach Konstantinopel geschrieben hat. Ich nahm mir die Freiheit, ihn zu öffnen.

 

Obendrein wollte Moran morgen den Generaldirektor seiner Bank aufsuchen – das sieht nicht nach Selbstmord aus.«

 

»Aber wie erklären Sie sich denn dann die ganze Sache?«

 

»In Morans Abwesenheit ist jemand in sein Zimmer eingedrungen. Das war verhältnismäßig leicht, denn auf der Etage liegen zwei unbewohnte Zimmer, die ebenfalls einen Ausgang auf den langen Balkon an der Vorderseite des Hauses haben. Der Eindringling hat ein Betäubungsmittel in den Whisky gegossen und sich dann im Kleiderschrank versteckt. Als Moran den Whisky getrunken und die Besinnung verloren hatte, trat der andere aus dem Versteck hervor, hob Moran auf und legte ihn aufs Bett. Er verklebte alle Ritzen an Tür und Fenstern und drehte den Gashahn auf. Dann verließ er das Zimmer durch die Glastür, ging auf den Balkon, verklebte auch die Glastür noch von außen und kam in Miss Lanes Zimmer. Wahrscheinlich hat er die Türen auf dem Balkon verwechselt. In ihrem Zimmer hat er dann auch Morans Schlüssel verloren. Auf dem Korridor bemerkte er wohl den Verlust und wollte in Miss Lanes Zimmer zurückkehren. Sie wachte aber auf, und ihr Schrei verscheuchte ihn.«

 

»Aber wie konnte der Mann das Hotel verlassen, ohne daß ihn der Nachtportier sah?«

 

Surefoot lächelte mitleidig. »Es gibt drei Ausgänge. Am leichtesten war es für ihn, die Gesindetreppe zu benutzen und das Hotel durch die Küche zu verlassen.«

 

Surefoot unterstrich mit einem Bleistift ein paar Zeilen des Geständnisses.

 

»Sehen Sie einmal, wie sehr er Binny herausstreicht und lobt. Das ist doch sehr verfänglich. Jedes Kind muß ja merken, daß Binny dieses Schriftstück verfaßt hat!«

 

»Was – der Butler des verstorbenen Mr. Lyne?«

 

Surefoot nickte.

 

»Ich kenne ihn noch unter verschiedenen anderen Namen. In London war er zum Beispiel als Mr. Washington Wirth bekannt. Er ist der gesuchte Mörder.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Die hohen Beamten sahen Surefoot verblüfft an.

 

Smith nahm ein längliches Kuvert aus der Brusttasche, das die Übertragung eines langen Chiffre-Telegramms sowie eine etwas verschwommene Fotografie enthielt.

 

»Dieses Bild wurde uns telegrafisch übermittelt. Es ist ein Foto von Arthur Ryan. Das ist ein anderer Name dieses Verbrechers, der sowohl in Chikago als auch in New York von der Polizei gesucht wird. Er arbeitete mit drei verschiedenen Banden zusammen und hatte Glück, daß er mit dem Leben davonkam. Ich werde Ihnen einen Abschnitt aus dem Telegramm vorlesen:

 

Der Mann spricht ein sehr gewöhnliches Englisch und soll früher Kammerdiener gewesen sein. Seine Verbrechen begeht er in der Weise, daß er bei einer reichen Familie Stellung sucht und die Gelegenheit dann zu Räubereien großen Stils ausnutzt. In den Staaten hat er sich vielfach am Alkoholschmuggel beteiligt. Er ist verantwortlich für die Ermordung Eddie McGeans und steht im Verdacht, auch noch andere Morde begangen zu haben.«

 

Er gab das Foto aus der Hand, damit die anderen es betrachten konnten.

 

»Das Bild ist nicht gerade sehr gut. Es wurde im Polizeipräsidium von New York aufgenommen. Aber es zeigt deutlich, daß es Binny ist. Ich habe ihn auf den ersten Blick erkannt.«

 

»Ja, das stimmt«, erwiderte Chefinspektor Knowles, während er das Foto prüfte. »Ich sah ihn hier im Hause, als Sie ihn verhörten. Aber mir ist nicht klar, warum er den alten Lyne ermordet haben soll?«

 

»Weil er sein Geld unterschlagen hat. Miss Lane hat uns auf die Spur gebracht. Es tut mir leid, daß ich nicht selbst so schlau war, alles zu durchschauen. Sämtliche gefälschten Schecks waren am Siebzehnten des jeweiligen Monats ausgeschrieben. Da sie dem alten Mann längere Zeit die Wirtschaft geführt hatte, wußte sie, daß er an diesem Tag stets die Rechnungen der Geschäftsleute bezahlte. Er hatte dabei die üble Angewohnheit, Mitteilungen, meistens sogar recht beleidigende Äußerungen, auf die Rückseite der Schecks zu schreiben. Ich entdeckte eine solche Bemerkung, die lautet: ›Schicken Sie nicht mehr chinesische E …‹ Miss Lane wußte, daß Lyne ständig glaubte, er würde von den Kaufleuten betrogen. Er nahm an, daß sie ihm sogar alte chinesische oder andere importierte Eier schickten. Und um dem Händler ins Gewissen zu reden, schrieb er bei Bezahlung der Rechnung derartige Mahnungen auf die Rückseite der Schecks. Miss Lane hat das häufig gesehen. Es war ganz gleich, ob es sich um Schuster, Schneider oder Kolonialwarenhändler handelte. Sie hat in dieser Richtung Nachforschungen angestellt und die Kaufleute einzeln aufgesucht und ausgefragt.

 

Und nun kommt das Interessante. Die Leute erklärten, daß Lyne sie bereits seit zwei oder drei Jahren nicht mehr mit Schecks bezahlte. Entweder kam Binny persönlich und brachte bares Geld, oder er schickte die Beträge durch die Post. Wissen Sie, was das bedeutet?

 

Lyne war fast blind – die Schecks, die er für die Händler zeichnete, zahlte Binny auf sein eigenes Privatkonto ein. Der alte Mann wollte nicht zugeben, daß er kaum noch sehen konnte. In seiner Eitelkeit behauptete er, noch gut lesen zu können. Es war daher leicht für Binny, am Siebzehnten des Monats seinem Herrn Schecks vorzulegen, mit denen er angeblich die Rechnungen der Kaufleute bezahlen wollte. Zuerst füllte er sie mit Bleistift und mit den wirklichen Summen aus, die sie zu bekommen. hatten. Ich habe mehrere Schecks untersucht. Unter dem Mikroskop kann man noch die Bleistiftschrift erkennen. Natürlich war es nicht schwer, sie auszuradieren. Wenn er Lynes Unterschrift erhalten hatte, setzte er die großen Summen ein, die dann auf sein Konto eingezahlt wurden.

 

Binny muß nun Wind davon bekommen haben, daß Untersuchungen gegen ihn eingeleitet waren, denn er machte den Versuch, Miss Lane in ihrer Wohnung zu überfallen. Sie hat sich nur dadurch retten können, daß sie bei einem telefonischen Anruf an die Polizei vorgab, ihn für Moran zu halten. Er war zufrieden, als er das hörte, und ließ sie in Ruhe. Hätte er sich nur ein wenig mehr um die Sache gekümmert, so hätte er herausbekommen, daß alle ihre Nachforschungen nicht Moran, sondern ihm galten. Aber wenn die Verbrecher immer logisch dächten, könnte man sie ja niemals henken.«

 

»Wo wurde denn der Mord an Lyne begangen?« fragte der Vorgesetzte.

 

Surefoot schüttelte den Kopf.

 

»Die Frage bereitet mir viel Kopfzerbrechen. Es ist möglich, daß Binny den Schuß abfeuerte, als Dornfords Auto so geräuschvoll vorüberfuhr. Nach dem Geständnis, das Moran mit dem Mord belasten sollte, könnte man ja fast annehmen, daß es so vor sich gegangen ist. All die anderen Verbrechen, die darin erwähnt werden, wurden in der angegebenen Weise von Binny selbst begangen.«

 

Surefoot Smith ging ins Hotel zurück, um sich nach Morans Befinden zu erkundigen. Es waren noch manche Einzelheiten des Falles aufzuklären.

 

Die Ermordung Mike Hennesseys gab ihm zu denken. Wenn der Theaterdirektor Binny erpreßte, war allerdings ein Motiv vorhanden. Aber was konnte denn Mike Hennessey wissen? Selbstverständlich war ihm bekannt, daß Binny tagsüber Butler und Bedienter war, während er abends den großartigen Washington Wirth spielte. Warum sollte aber Mike den Mann erpressen, der ihm soviel Geld gab?

 

Binny mußte Mike aus einem anderen Grund ermordet haben, das stand für Surefoot fest.

 

Der Butler war nicht mehr gesehen worden, seitdem Mary ihn nach Newcastle geschickt hatte. Sie hatte diese Reise natürlich nur zum Vorwand genommen, um ungestört den Schlüssel an der Hintertür von Hervey Lynes Haus ausprobieren zu können.

 

Der mit Leuchtfarbe angestrichene Schlüssel war kein Geheimnis mehr. Manchmal kam »Mr. Washington Wirth« von seinen Gesellschaften in angeheiterter Stimmung zurück. Er mußte sich dann in dem Zimmer über der Garage umkleiden, und es war mehrmals vorgekommen, daß er den Schlüssel dort hatte liegenlassen. Wahrscheinlich hatte er die Gewohnheit, ihn auf den Tisch zu legen. Wenn der Schlüssel aber aufleuchtete, sobald das Licht ausgedreht war, wurde Binny an ihn erinnert.

 

An dem Abend, an dem Tickler ermordet wurde, hatte er den Schlüssel vollkommen vergessen und mußte ein Kellerfenster eindrücken, um seine Schlafkammer in Lynes Haus zu erreichen. Auf diese Erklärung war Mary gekommen. Sie hatte den Schlüssel gleich zu Anfang erkannt, denn als Kind hatte sie ihn alle Tage gesehen. Daraufhin schickte sie Binny nach Nordengland, um die Richtigkeit ihrer Annahme zu beweisen.

 

Bei diesem Versuch hätte sie aber beinahe ihr Leben eingebüßt, denn Binny war nicht dumm. Er ließ nicht mit sich spaßen und war natürlich nicht mit dem Zug abgefahren, sondern noch vor Mary in die Wohnung zurückgekehrt.

 

Als Surefoot ins Hotel kam, hatte Leo Moran das Bewußtsein wiedererlangt, aber es ging ihm durchaus nicht gut. Die Nachwirkungen der Gasvergiftung waren sehr unangenehm. Seine Erzählung bestätigte die Theorien des Chefinspektors.

 

Surefoot zeigte Moran darauf das Mordgeständnis und las ihm auch Teile daraus vor.

 

»Ich weiß nicht, was Binny von Morden schreibt. Das ist doch heller Wahnsinn. Wer ist denn ermordet worden?«

 

Smith erklärte es ihm kurz.

 

»Was, Hervey Lyne ist ermordet worden? Das ist ja entsetzlich! Wann ist das denn passiert?«

 

»An dem Tag Ihrer Abreise.«

 

Moran runzelte die Stirn.

 

»Aber ich sah ihn doch noch von meinem Fenster aus! Er saß in seinem Rollstuhl unter dem Baum im Park, wo er sich gewöhnlich auszuruhen pflegte. Ich habe ihn häufig dort beobachtet. Binny las ihm vor.«

 

»Wann war das?« fragte Surefoot schnell.

 

Moran dachte eine Weile nach, bevor er antwortete.

 

»Also zehn Minuten, bevor er tot aufgefunden wurde«, meinte Smith. »Die Entfernung war aber wohl zu groß – Sie konnten nicht erkennen, ob er sich mit Binny unterhielt?«

 

»Als ich ihn sah, las Binny ihm etwas vor.«

 

Surefoot hatte unerwartet einen Augenzeugen gefunden. Moran war vermutlich der einzige, der die beiden kurz vor Lynes Tod beobachtet hatte.

 

»Wo saß Binny?«

 

»An der gewöhnlichen Stelle. Er schaute Lyne ins Gesicht.«

 

»Haben Sie gesehen, daß Binny um den Stuhl herumging?«

 

Moran zögerte:

 

»Ja. Ich kann mich jetzt darauf besinnen. Er ging um den Stuhl herum. Ich mußte damals daran denken, daß Spieler manchmal von ihrem Stuhl aufstehen und ihn umkreisen, um mehr Glück im Spiel zu haben.«

 

»Sonst haben Sie nichts gesehen – oder gehört?«

 

Moran schaute ihn groß an.

 

»Haben Sie denn Binny im Verdacht?«

 

Surefoot nickte.

 

»Es ist kein Verdacht mehr. Wir wissen bereits genau, daß er der Täter ist.«

 

Moran überlegte noch einmal.

 

»Ja, er ging bestimmt um den Stuhl herum. Gehört habe ich nichts. Sie meinen doch einen Schuß? Ich habe auch nicht gesehen, daß sich Binny irgendwie verdächtig benommen hätte.«

 

Surefoot sah das gefälschte Geständnis noch einmal kurz durch.

 

»Kennen Sie Binny?«

 

»Ja, oberflächlich. Er war früher einmal mein Diener. Ich habe ihn entlassen, weil er gestohlen hat.«

 

Smith nahm das Zigarettenetui aus der Tasche, das unter dem Sitzkissen des Autos gefunden worden war.

 

Moran streckte sofort die Hand danach aus.

 

»Ach, großartig, daß Sie das gefunden haben! Das Etui gehörte zu den Dingen, die ich damals vermißte. Wie sind Sie denn dazu gekommen?«

 

Bei Morans Zustand hielt Surefoot es nicht für angezeigt, ihm die grausige Geschichte zu erzählen.

 

»Ich dachte, es gehörte vielleicht Ihnen. Aber vorläufig brauchen wir es noch.« Er steckte es wieder ein. »Es ist wahrscheinlich schon ziemlich alt und außerdem für die Gelegenheit wohl besonders gesäubert und geputzt worden.«

 

»Was für eine Gelegenheit meinen Sie denn?« erkundigte sich Moran neugierig, aber Smith überhörte die Frage.

 

Moran sprach dann offen von den Reisen, die er gemacht hatte.

 

»Ich hatte es eigentlich nicht nötig, so Hals über Kopf abzureisen, aber ich hatte mich über die Direktion sehr geärgert, die mir den Urlaub abgeschlagen hatte. Es war wichtig, daß ich nach Konstantinopel kam, während der Aufsichtsrat der Cassari-Petroleum-Gesellschaft neu gewählt wurde. Ich habe sehr großes Interesse an der Gesellschaft. Sie ist augenblicklich eine der größten ihrer Art. Übrigens ist Miss Lane auch eine reiche Frau geworden. Die Aktien, die ich von ihr gekauft hatte, können nach türkischem Recht nicht auf mich übertragen werden, da noch eine andere Unterschrift fehlt. Gesetzmäßig habe ich wohl ein Anrecht darauf, moralisch kaum. Ich werde ihr also das Aktienpaket für denselben Preis wieder zurückerstatten, den ich dafür gezahlt habe. Das bedeutet, daß sie mehr Geld besitzt, als sie überhaupt in ihrem ganzen Leben ausgeben kann.« Er lächelte schwach. »Mir ist es ähnlich gegangen.«

 

Mehr konnte Smith im Augenblick nicht von Moran erfahren, er war zu abgespannt und müde. Der Chefinspektor ließ ihn allein, damit er sich ausruhen konnte. Scotland Yard hatte die Nachricht durchgegeben, daß Dick Allenby im Flugzeug von Paris nach London unterwegs war. Er erreichte Croydon in aller Frühe und fand dort ein Polizeiauto vor, das ihn zum Regent’s Park brachte.

 

Als der Wagen in Naylors Crescent einbog, sah er Surefoot Smith und drei Polizeibeamte in Zivil, die ihn erwarteten.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie zurückholen mußte, aber es ist notwendig, daß ich das Haus noch einmal genau durchsuche. Und bei dieser Gelegenheit müssen Sie anwesend sein.«

 

»Haben Sie Moran gefunden?« fragte Dick ungeduldig. »Sie haben doch die telefonische Nachricht aus Dover erhalten –«

 

Surefoot nickte.

 

»Hat er Ihnen etwas über Binny gesagt?«

 

»Binny hat mir eine ganze Menge über sich selbst verraten«, erklärte der Chefinspektor grimmig. »Ich habe ihn zwar noch nicht persönlich verhört, aber er hat ein sehr interessantes schriftliches Dokument verfaßt.«

 

Dick öffnete die Haustür, und sie traten ein.

 

Obgleich die Räume erst seit kurzer Zeit unbewohnt waren, herrschte im Innern bereits ein muffiger Geruch. Hervey Lynes Arbeitszimmer war nach der Durchsuchung wieder in Ordnung gebracht worden. Die Polizeibeamten hatten alle Ecken durchsucht und sogar die Fußbodendielen aufreißen lassen. Es war wohl ausgeschlossen, daß man hier noch neue Anhaltspunkte finden konnte.

 

Sie gingen darauf in die Küche, wo Mary Lane das böse Abenteuer erlebt hatte. Smith hatte den Raum zwei Stunden nach ihrer Flucht selbst aufgesucht und war durch die Schranktür die Treppe zum Kohlenkeller hinuntergegangen. Das Feldbett, das er bei seinem ersten Besuch dort gesehen hatte, war entfernt worden.

 

»Merkwürdig, daß Binny sich mit der Frau herumschleppt«, meinte Surefoot. »Das kann ich nicht verstehen. Sie ist doch eine hoffnungslose Gewohnheitstrinkerin. Er muß sie in der Nacht, nachdem Miss Lane hier im Haus war, fortgeschmuggelt haben. Wo sie jetzt ist, möchte ich lieber nicht erfahren. Wahrscheinlich hat er sie auch kaltgemacht.«

 

Dick hatte bereits seine Meinung hierüber geäußert. Er glaubte, daß sie überhaupt nicht mit Binny verheiratet war. Hervey Lyne annoncierte immer nach einem Ehepaar, das seinen Haushalt führen sollte. Um die Stelle zu erhalten, hatte Binny wahrscheinlich eine Frau gemietet. Diese Tatsache wurde auch mehr oder weniger dadurch bestätigt, daß die beiden zwei getrennte Räume bewohnten. Es war kaum anzunehmen, daß sie dem Mörder einmal hätte gefährlich werden können. Nach Aussage der Geschäftsleute war sie stets mehr oder weniger betrunken gewesen, und Binny hatte den Haushalt allein geführt.

 

Kapitel 24

 

24

 

Der Rollstuhl, in dem der alte Lyne tot aufgefunden worden war, stand unter der Treppe. Zu Dicks Erstaunen gab Surefoot Anweisung, ihn in das Arbeitszimmer zu bringen.

 

Der Chefinspektor hatte dauernd das unangenehme Gefühl gehabt, daß er sich nicht genügend um den Stuhl gekümmert hatte. Die vielen Mitteilungen, die er in den letzten Tagen bekommen hatte, machten es notwendig, sich noch einmal eingehend mit diesem Möbelstück zu beschäftigen.

 

Direkt gegenüber der Tür des Arbeitszimmers war in der Wand eine Nische eingelassen, und Surefoot erkannte nun, daß sie einem besonderen Zweck diente. Lyne hatte anscheinend die Gewohnheit gehabt, sich in seinem Arbeitszimmer in den Rollstuhl zu setzen. An dem Türrahmen befanden sich verschiedene Kratzer in Höhe der Radnaben. Die Nische war so angeordnet, daß man den Stuhl an der Stelle leicht wenden konnte, und es machte keine Schwierigkeiten, ihn in das Arbeitszimmer hinein- oder herauszubringen.

 

Surefoot ließ einen der Polizeibeamten in dem Stuhl Platz nehmen und machte sich selbst die Mühe, ihn auf die Straße hinauszufahren. Der Gang war nicht sehr breit, und auch die Haustür ließ auf beiden Seiten nur einen verhältnismäßig schmalen Raum frei. Hier konnte man ebenfalls Kratzer und Spuren von den Radnaben erkennen.

 

Surefoot erfuhr nicht viel Neues durch dieses Experiment; er ließ den Stuhl wieder unter die Treppe bringen und setzte seine Nachforschungen im Hause weiter fort.

 

»Was wollen Sie denn finden?« fragte Dick.

 

»Binny«, entgegnete der Chefinspektor kurz. »Der Kerl ist kein Dummkopf. Er muß hier irgendwo ein Versteck haben. Wenn ich nur wüßte, wo!« Smith sah auf die Uhr. »Ist es möglich, daß Miss Lane hierherkommen könnte?«

 

Dick Allenby fuhr mit einem Taxi zu ihrem Hotel. Er wußte allerdings nicht, ob sie nach den Aufregungen der letzten Nacht imstande war, ihn in das Haus ihres Vormunds zu begleiten. Aber er fand sie frisch. Sie fragte ihn sofort nach Binny.

 

»Wir haben ihn nicht gefunden«, erwiderte er. »Ich habe große Sorge um dich, Mary. Dieser Verbrecher schreckt vor nichts zurück.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube nicht, daß er mich noch einmal belästigen wird.«

 

»Wie erfuhr er denn überhaupt, daß du ihm nachspioniertest?«

 

»Das merkte er wohl, als ich ihn nach Nordengland schickte. Der Plan war vielleicht etwas ungeschickt. Ich habe seine Intelligenz unterschätzt. Ich glaube sogar, er ist mir gefolgt, als ich die einzelnen Kaufleute aufsuchte. Einmal kam es mir so vor, als ob ich ihn gesehen hätte. Das war an dem Tag, an dem ich in Maidstone war.«

 

Mary fuhr mit Dick zum Naylors Crescent. Surefoot befand sich gerade auf dem kleinen Hof auf der Rückseite des Hauses, und sie ging mit Dick in die Küche. Schaudernd dachte sie an ihren letzten mitternächtlichen Besuch. Selbst jetzt, bei hellem Tageslicht, hatte der Raum etwas Unangenehmes und Abstoßendes für sie. Die Tür des Schranks stand weit offen, ebenso die Tür, zu der der leuchtende Schlüssel gehörte. Die Küche und die danebenliegende Anrichte erschienen ihr erstaunlich klein. Aber sie erklärte sich das damit, daß ihr in ihrer frühen Jugend wohl unwillkürlich alle Dinge und Räume größer vorgekommen waren.

 

Surefoot trat gleichfalls in die Küche, als Mary sich dort umschaute, und begrüßte sie.

 

»Können Sie sich auf diesen Raum noch genau besinnen, Miss Lane?« fragte er.

 

»Ja.« Sie zeigte auf die weißen Kacheln. »Die sind allerdings erst nach meiner Zeit angebracht worden.«

 

Sie hatte den ungewissen Eindruck, daß sich auch sonst noch etwas verändert hatte, wußte aber nicht was. Und weil sie keine genauen Angaben über ihre Vermutung machen konnte, schwieg sie darüber.

 

»Wissen Sie, was das ist?« fragte Smith plötzlich. Er hatte in der Schublade des Küchentisches ein merkwürdiges Instrument gefunden. Es glich beinahe einer kleinen Gartenspritze, nur war das untere Ende ein Saugnapf aus Gummi.

 

»Eine Vakuumpumpe«, sagte Dick.

 

Smith drückte den Saugnapf auf den Tisch, setzte die Pumpe in Bewegung und hob den Tisch mit dem Apparat an der einen Seite an. »Miss Lane, haben Sie das Ding schon früher gesehen? Wissen Sie, wozu es benutzt wurde?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

Surefoot hatte auch noch einen kleinen Topf mit dunkelgrüner Ölfarbe und ein Paket Fensterkitt entdeckt.

 

»Das sah ich schon das letzte Mal. Wissen Sie; wozu es benutzt wurde?«

 

Er winkte Mary, und sie folgte ihm in den dunklen Gang. Die elektrische Birne an der Decke gab nur wenig Licht, und Surefoot nahm seine Taschenlampe, ging zu der Tür und leuchtete das dicke Eichenpaneel ab.

 

»Sehen Sie einmal hierher«, sagte er dann zu ihr.

 

Sie bemerkte eine runde Vertiefung, die mit Kitt ausgefüllt und kürzlich mit Ölfarbe überstrichen worden war.

 

»Was ist das?« fragte sie erstaunt.

 

»Das ist die Stelle, an der das Geschoß einschlug, die Kugel, mit der Hervey Lyne getötet wurde. Er ist hier in diesem Gang ermordet worden.«