11. Kapitel

 

11. Kapitel

 

Kato

 

Mr. Newton hatte den Grundsatz, eine Räuberei auf möglichst höfliche Weise auszuführen, um vollen Erfolg zu haben. Nur einmal in seinem Leben wich er hiervon ab, und ließ sich zu einer unbesonnenen Gewalttat verleiten. Aber die Erinnerung an den Japaner Kato ging noch jahrelang wie ein furchtbares Schreckgespenst durch seine Träume.

 

Der Einbruch war von Anfang an ein böser Irrtum gewesen, und Anthony hätte beinahe in jungen Jahren weiße Haare bekommen. Sollte er jemals seine Autobiographie schreiben, so würde er wahrscheinlich Mr. Poltue und seinen großen Smaragden vollkommen unerwähnt lassen; auch von Kato, der seinen Herrn so bitter haßte, würde er nichts sagen.

 

Die Geschichte beginnt damit, daß an einem Frühlingsmorgen zwei Herren an der Rotten Row Promenade im Hyde Park saßen und die eleganten Leute an sich vorüberziehen ließen. Sie waren beide tadellos gekleidet und gehörten anscheinend zu der Klasse jener vornehmen Müßiggänger, die man jeden Morgen im Hyde Park antreffen kann. Ihr einziges Interesse schien darin zu bestehen, die Menschen zu beobachten.

 

Sie hatten ihre Stühle von den anderen so weit abgerückt, daß sie sich ungestört unterhalten konnten und nicht fürchten mußten, daß andere Leute ihr Gespräch belauschten.

 

Anthony Newton klemmte ein Monokel ins Auge, was sonst nicht seine Gewohnheit war, rückte den Zylinder etwas tiefer ins Gesicht und legte dann ein Bein über das andere. Weder er noch sein Begleiter machten den Eindruck von Briganten.

 

»Dort kommt unser Mann, Bill«, sagte Anthony und zeigte mit dem Kopf leicht nach der Richtung, wo ein großer, stattlicher Herr langsam vorbeiritt. »Das ist der ungeheuer reiche Millionär Poltue, der aus Japan zurückgekommen ist.«

 

»Ich wußte gleich, als ich ihn sah, daß er ein großes Vermögen haben muß«, erklärte Bill. »Er sieht nämlich so verflucht uninteressant und dumm aus.«

 

Anthony nickte.

 

»Mein Plan gegen ihn wird sich ausführen lassen«, meinte er. »Ich habe ein künstlerisches Empfinden und kann einen fetten Millionär nicht auf einem schönen Araberhengst sehen, ohne daß sich meine bösen Instinkte regen. Damit sich aber dein Gewissen nicht wieder meldet, will ich dir von vornherein sagen, daß Mr. Poltue das Schicksal wohl verdient, das ihn nächstens treffen wird.«

 

Bill Farrel wandte sich plötzlich um.

 

»Was, ich soll ein Gewissen haben?« protestierte er heftig. »Nun höre einmal …«

 

Aber Anthony beachtete den Einwurf gar nicht.

 

»Poltue hat mit allen möglichen Dingen Millionen verdient. Er hat ein großes Handelshaus geführt, Kohlenminen und Schiffe besessen, aber niemals hat er etwas für die Allgemeinheit getan. Bei Ausbruch des Krieges war er in Japan und hat es so geschickt einzurichten verstanden, daß er Einkaufsagent für einen unserer Verbündeten wurde. Und den armen Staat hat er dann nach allen Regeln der Kunst ausgeplündert.«

 

»Das scheint mir auch ganz in der Ordnung zu sein. Bundesgenossen sind dazu da, daß sie gerupft werden. Aber welche Gemeinheiten hat er denn wirklich begangen? Verzeihe mir, wenn ich danach frage, aber ich habe seit langer Zeit nicht mehr die Berichte über die Verbrechen in den Zeitungen gelesen, und ich kümmere mich ja im allgemeinen wenig darum.«

 

»Er ist ein ganz niederträchtiger Kerl«, sagte Anthony und beobachtete den stattlichen Reiter, der sich mehr und mehr entfernte. »Er ist nicht nur ein schlechter Mensch, weil er Geld verdiente, das wir nicht verdienten – obwohl das meiner Meinung nach schon ein genügend großes Vergehen ist–, sondern er hat auch seinen Reichtum während der Zeit erworben, als wir im Felde waren. Außerdem hat er einen ganz üblen moralischen Ruf. Er unterhält ein schlecht beleumundetes Unternehmen in der Nähe des Grosvenor Square, und man sagt, daß er an Bord eines Reisbootes außer Landes geschmuggelt werden mußte, als er Japan verließ. Eine Anzahl empörter Japaner wollten ihm einen bösen Abschied bereiten.«

 

»Ach, von der Art ist er?« fragte Bill nachdenklich. »Es ist doch eigentlich merkwürdig, wie diese großen Bösewichter es stets verstehen, ihr Schäfchen ins trockne zu bringen. Nun erzähle mir einmal von deinem Plan.«

 

Anthony sprach jetzt mit gedämpfter Stimme:

 

»Er hat einen japanischen Diener namens Kato, und ich glaube, daß dieser ein ebenso gemeiner Lump ist wie sein Herr. Aus irgendeinem Grunde haben sich die beiden überworfen, und neulich hat Mr. Poltue seinen Diener furchtbar verprügelt. Kato versuchte zwar, sich mit einigen Jiu-Jitsu-Griffen aus der Affäre zu ziehen, aber der große, starke Mann war ihm gewachsen, und schließlich lag Kato auf dem Boden, und sein Herr schlug ihn windelweich.«

 

»Woher weißt du denn das alles?«

 

»Kato selbst hat es mir erzählt. Ich war letzte Woche dabei, ein großes Unternehmen vorzubereiten. Unglücklicherweise ist aber der Mann, den ich beobachtete, nach Amerika abgereist. Das war unangenehm, denn ich hatte mir wegen der Sache schon viel Arbeit und Unkosten gemacht. Eine ganze Woche lang habe ich mich in der Uniform eines Chauffeurs herumgetrieben und speiste in demselben Restaurant wie Kato. Du kennst doch auch Ho Sings Restaurant in der Wardour Street. Dort begegnete ich ihm zuerst, während ich hinter einem anderen Japaner her war. Glücklicherweise spricht der Mensch englisch, sonst wäre es mir wohl sehr schwer geworden, mit ihm in Verbindung zu treten, da sich meine Kenntnisse des Japanischen auf einige Schimpfworte und Flüche beschränken.«

 

»Und was war das Ergebnis deiner Bekanntschaft mit dem Japaner?«

 

»Ich habe durch meine feinen und machiavellistischen Methoden die Andeutung weitergegeben, daß ich wirklich ein Gentlemanräuber bin.«

 

Bill schaute ihn ein wenig bestürzt an.

 

»Es gibt Augenblicke, in denen man offen sein muß«, entgegnete Anthony in geheimnisvoller Weise. »Ich bin jetzt soweit. Kato glaubt, daß ich einer amerikanischen Bande angehöre, die früher in Paris arbeitete, und er hat ein liebenswürdiges Interesse an meiner späteren Karriere.«

 

Er sprach noch leiser und dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern.

 

»Hast du schon einmal von Poltues großem und berühmtem Smaragden gehört?«

 

Bill schüttelte den Kopf.

 

»Es ist der wundervollste Stein, von dem ich jemals gehört habe«, sagte Anthony begeistert. »Sein Wert beträgt fünfzigtausend Pfund. Macht dir das nicht auch den Mund wässerig? Mr. Poltue bewahrt ihn in einem eingebauten Geldschrank neben seinem Bett auf. Aber er ist ein todsicherer Revolverschütze, und der Geldschrank ist durch elektrische Alarmglocken geschützt. Es ist gut, daß du das alles weißt, denn du sollst auch dein Leben riskieren, wenn wir beide uns den kostbaren Smaragden aneignen.«

 

»Bist du denn schon zu irgendwelchen Abmachungen mit Kato gekommen?«

 

»Noch nicht, aber ich bin nahe daran. Heute treffe ich ihn wieder.«

 

Drei Stunden später ging ein geschäftiger junger Chauffeur in tadellosen, glänzenden Ledergamaschen und einer schönen Schirmmütze über die Wardour Street und trat gleich darauf in Ho Sings Restaurant ein. Es waren schon ein paar Leute da. Die Hälfte der Gäste bestand offensichtlich aus Asiaten. Aber auch Europäer aßen hier, denn Ho Sing führte eine sehr gute Küche, die manchen Feinschmecker anzog.

 

Der Chauffeur nickte einem kleinen Japaner zu, der an einem Tisch für sich saß, nahm den Stuhl, der angelehnt war, und setzte sich. Der Japaner begrüßte ihn mit einem freundlichen Grinsen.

 

»Ich dachte nicht, daß ich heute kommen könnte«, sagte er mit einem merkwürdigen Akzent und so abgehackt, wie es die meisten Japaner tun, wenn sie englisch sprechen. »Aber das Schwein ist ausgeritten, und hinterher speist er zu Mittag. Denken Sie, er zieht sich vor dem Essen nicht einmal um, er ist ein ganz gemeiner Kerl.«

 

Anthony war offensichtlich belustigt über den Ärger des Japaners.

 

»Aber der Schuft soll noch eine böse Zeit durchmachen! Wenn er eines Tages seinen schönen Smaragd nicht mehr hat, wird er im Herzen sehr krank sein!«

 

Kato sah Anthony lauernd von der Seite an.

 

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, mein liebenswürdiger Freund aus Nippon, aber wie soll er denn seinen prachtvollen Stein verlieren?«

 

Der Japaner schaute ihn mit seinen schwarzen Perlaugen an, und in seinem Blick lag etwas Unheimliches und Unergründliches.

 

»Nehmen wir einmal an, die Räuber kommen am Donnerstagabend«, begann der Japaner. »Sie kommen durch die Küchentür herein, die wahrscheinlich offensteht, und gehen dann die Treppe hinauf. Und oben steht eine kleine japanische Laterne vor der Tür dieses gemeinen Kerls?«

 

Einen Augenblick zitterte Anthonys Herz.

 

»Das scheint eine günstige Gelegenheit zu sein. Die Sache ist sogar sehr klug angelegt. Da braucht man sich nicht mehr die Mühe zu machen und Pläne von dem Hause zu zeichnen. Auch braucht man dann keinen Führer – mit anderen Worten sind Sie dann überhaupt nicht in die Sache verwickelt.«

 

»Ja, das stimmt. Ich habe alles genau bedacht.«

 

»Und wenn es uns gelingt, den Smaragd zu bekommen – wenn ich ›wir‹ sage, so meine ich damit den geheimnisvollen Räuber – und wenn wir ihn gut unterbringen können, wohin könnten wir dann den Anteil des Gentleman senden, der die Küchentür offenläßt und die kleine japanische Laterne vor die Tür von Mr. Poltues Schlafzimmer stellt?«

 

Der Japaner schüttelte den Kopf.

 

»Ich will nichts haben«, sagte er nachdrücklich. »Ich bin zufrieden, wenn es diesem Hund schlecht geht.«

 

»Nun, darauf können Sie sich verlassen, er wird sich furchtbar ärgern.« Dann fragte Anthony ganz offen: »Was hat er Ihnen denn eigentlich getan, Kato?«

 

Der Japaner preßte die Lippen zusammen, und es schien, als ob er nichts sagen wollte, aber plötzlich erzählte er in leidenschaftlichen und abgerissenen Worten von einer neuen Vergewaltigung, die Poltue erst gestern verübt hatte.

 

Am Abend berichtete Anthony seinem Freunde Bill, was er erfahren hatte.

 

»Ich habe mir aber nicht viel daraus gemacht, daß er wieder Prügel bekommen hat, denn er scheint wirklich ein geriebener Kerl zu sein. Eigentlich könnten wir ihn ebensogut bestrafen wie Mr. Poltue. Kato hat nämlich alle gemeinen Pläne seines Herrn in Japan ausgeführt, und auch er mußte unter polizeilichen Schutz gestellt werden, als er sein Vaterland verließ. Daß diese beiden Lumpen in Streit geraten sind, hat nicht viel zu sagen, nur hilft es uns beträchtlich, wenn wir diesen aufgeblasenen Millionär ein wenig erleichtern.«

 

»Dann werden wir also am Donnerstag die Sache ausführen?« fragte Bill interessiert.

 

Anthony bejahte.

 

»Wir brauchen Filzschuhe, einen Wagen, der am Eingang der Nebenstraße wartet – du mußt den schnellsten nehmen, den du überhaupt bekommen kannst –, Masken, einige Revolverattrappen, ein ziemlich langes, dickes Tau, dann noch einige seidene Taschentücher – für den Fall, daß Mr. Poltue Widerstand leisten sollte. Willst du das alles beschaffen, Bill?«

 

Der andere zögerte.

 

»Das sieht aber verteufelt nach gewalttätigem Einbruch aus, und ich muß ganz offen sagen, daß mir die Sache nicht recht geheuer vorkommt.«

 

»Ich gebe ja gern zu, daß es etwas Außergewöhnliches ist und aus dem Rahmen unserer bisherigen Tätigkeit herausfällt. Aber die Beute ist so kostbar, und die gute Gelegenheit, die beleidigte Menschheit an diesem Lumpen zu rächen …«

 

»Mache keine großen Sprüche. Die Frage ist nur, wie wir diesen kostbaren Smaragd später zu Geld machen?«

 

»Erst müssen wir ihn einmal haben.« Und hierin stimmte Bill schließlich mit seinem Freund überein.

 

Am Donnerstagabend regnete es, und der Wind blies ungestüm, aber dieses Wetter war für ihr Unternehmen günstig. Die Straßen waren leer, als der große Wagen an der Rückseite des palastähnlichen Hauses hielt, das Mr. Poltue gehörte. Es war für die Autos noch zu früh, die Theaterbesucher nach Hause zu bringen, und schon zu spät, die Leute zum Essen in die Restaurants zu fahren.

 

Mr. Poltue hatte offenbar eine gute Eigenschaft. Er ging jeden Abend um neun zu Bett und stand jeden Morgen um sechs auf. Kato hatte Anthony erzählt, daß sein Herr stets sehr fest schlief. Es war auch interessant und wichtig, daß der Millionär darauf bestand, daß alle seine Angestellten seinem Beispiel folgten. Er lebte allein, was die Sache bedeutend leichter machte, denn wenn Frauen im Hause sind, finden sie meistens vor zwei Uhr nachts keine Ruhe.

 

Als die beiden ausgestiegen waren, gingen sie die hintere Straße entlang, bis sie. an das kleine, grüne Tor in der Mauer kamen. Von hier aus gelangten sie durch einen engen Gang zu den Räumen des Hausmeisters. Anthony drückte vorsichtig gegen die Tür – sie gab nach. Er trat ein und betrachtete das Schloß eingehend, um sich zu vergewissern, daß sie auf ihrem Rückweg nicht behindert würden.

 

Kato hatte alles der Verabredung gemäß angeordnet. Die Türen öffneten sich lautlos, und sie kamen in die große Eingangshalle des Hauses. Man konnte von ihren Fußtritten nichts hören; nur eine große Wanduhr tickte unheimlich im Treppenhaus.

 

Beide trugen Filzschuhe. Anthony hielt in der einen Hand einen langen Strick, in der anderen seine elektrische Taschenlampe. Aber er brauchte sie nicht, denn ein schwacher Lichtschimmer fiel durch ein buntes Glasfenster oben an der Treppe. Geräuschlos schlichen sie die Treppe in die Höhe und erreichten den ersten Stock, aber sie konnten hier nichts von der versprochenen japanischen Laterne entdecken. Sie stiegen noch eine Etage höher, und hier fanden sie das kleine Licht.

 

Anthony wartete nur so lange, bis er die Kerze in der Laterne ausgeblasen hatte, dann drückte er vorsichtig die Türklinke herunter. Sein Herz schlug zum Zerspringen. Ein wirklicher Einbruch war doch etwas Sonderbares.

 

Die beiden traten in das Zimmer ein und schlossen die Tür leise hinter sich. Zuerst konnten sie nichts erkennen, aber nach einer Weile, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, unterschieden sie undeutlich die Umrißlinien der Möbel. Schwaches Licht kam durch die Schlitze der Jalousien, so daß sie das Bett in der Mitte der linken Wand stehen sahen.

 

Anthony schlich sich vorwärts. Der Teppich war so dick und so weich, daß unmöglich ein Laut das Ohr des Schläfers erreichen konnte. Trotzdem bewegte sich Anthony mit der größten Vorsicht, während sich sein Kamerad im Schatten des großen Kleiderschrankes verborgen hielt und wartete, was geschehen würde.

 

Anthony sah undeutlich einen Mann in dem Bett liegen. Jetzt hatte er den kleinen Geldschrank erreicht und tastete behutsam nach den elektrischen Drähten, die die Tür des Schrankes mit den Alarmklingeln verbanden. Kato hatte ihm alles genau beschrieben. Man hörte ein schwaches Knipsen, als er die Drähte durchschnitt. Nun bewegte Anthony die Drehschlösser, um die richtige Buchstabenkombination einzustellen. Er brauchte dazu seine Lampe, aber das Licht blitzte nur ein paarmal ganz kurz auf, und er blendete den Lichtschein mit der Hand so ab, daß unmöglich ein Strahl auf den Schläfer fallen konnte.

 

Die Tür öffnete sich, er griff hinein und faßte auch sofort das große Lederetui, in dem Mr. Poltue nach Katos Angabe seinen Smaragden aufbewahrte. Krampfhaft schlossen sich seine Finger um den Kasten. Er machte sich nicht die Mühe, ihn zu öffnen, denn er konnte schon an seinem Gewicht und seiner Gestalt fühlen, daß der Stein in seinen Händen war. Schnell ließ er ihn in seine Tasche gleiten, aber in dem Augenblick entfiel ihm die elektrische Taschenlampe und schlug polternd auf dem Tisch neben dem Bett auf. Anthony hielt den Atem an, aber Poltue bewegte sich nicht. Der ruhige Schlaf dieses Mannes erschien ihm sonderbar, daß er sich schnell niederbeugte, seine Lampe aufnahm und das Bett einen Augenblick beleuchtete. Bill hörte einen erschrockenen Ausruf und eilte zu seinem Freund.

 

»Was ist los?« flüsterte er.

 

»Sieh dorthin!« erwiderte Anthony und beleuchtete Mr. Poltue.

 

Es war nicht nötig, irgendwelche Erklärungen zu geben. Der Millionär war tot. Der Griff eines Messers steckte, in seiner Seite, und die Lagerstatt war völlig mit Blut befleckt.

 

»Das sieht ganz wie eine Falle aus!« sagte Anthony schnell. »Wir müssen aus dem Hause, so rasch es geht!« Schweigend flohen sie die breite Treppe hinunter und erreichten die erste Etage. Plötzlich faßte Bill Anthonys Arm und hielt ihn zurück.

 

»Hörst du nicht jemand sprechen?«

 

»Er telefoniert«, zischte Anthony.

 

Sie hörten ein schwaches Klingeln und schlichen sich den Gang entlang, bis sie an die Tür kamen, hinter der sie das leise Sprechen hörten.

 

Anthony drückte die Klinke herunter. Es war Licht in dem Raum, und sie sahen, wie sich Kato mit dem Rücken zur Tür über einen Tisch beugte. Er hatte den Telefonhörer in der Hand.

 

»Ist dort die Polizeistation?« fragte er. »Kommen Sie schnell zu Mr. Poltues Haus am Grosvenor Square. Es ist ein Mord geschehen …«

 

So weit war er gekommen, als Anthony sich auf ihn warf. Der Hörer polterte auf den Tisch, und die beiden rangen auf dem Boden miteinander. Anthony hielt dem Japaner den Mund zu und drückte ihm das Knie auf die Brust. Er und Bill hatten mehrere Minuten zu tun, bevor sie den sich heftig wehrenden Kato gefesselt und geknebelt hatten, und die Zeit war kostbar.

 

»Wir wollen ihn schnell nach oben in das Schlafzimmer tragen«, sagte Anthony wild.

 

Mit großer Mühe schleppten sie ihn die Treppe hinauf, denn er wehrte sich bei jedem Schritt.

 

»Löse schnell den Strick«, rief Anthony atemlos, und Bill gehorchte erstaunt.

 

Anthony ging zur Wand und drehte das Licht an.

 

»Sie sind aber ein niederträchtiger Kerl!« sagte er grimmig zu dem Geknebelten. »Sie haben noch das Blut des Ermordeten an Ihren Händen und rufen die Polizei! Sie dachten wohl, Sie könnten uns eine Falle stellen, wie? Und Sie könnten uns die Folgen Ihrer Privatrache aufbürden?«

 

Der Japaner antwortete nicht, sondern sprang ihn wieder wie ein wildes Tier an. Anthony wich einen Schritt zurück, hob seine Hand und ließ sie niedersausen. Kato fiel wie ein Stück Holz zu Füßen des Bettes nieder, auf dem sein Opfer lag.

 

»Nimm den Knebel aus seinem Mund! Beeile dich und nimm auch den Strick mit!«

 

»Hast du ihn mit dem Sjambok geschlagen?«

 

Anthony nickte, nahm die aus Rhinozeros verfertigte Waffe aus seiner Tasche und zeigte sie ihm. Sie war das, einzige Verteidigungsmittel, das er bei sich trug; aber es war wirksam genug.

 

Sie erreichten das Erdgeschoß und eilten durch die Hinterstraße, nachdem Anthony vorher die Tür verschlossen hatte. Den Schlüssel warf er über eine Gartenmauer. Sie waren gerade abgefahren, als das Polizeiauto um die Ecke der Straße bog.

 

»Das war noch zu rechter Zeit!« meinte Anthony. Er war aufgeregt und sah bleich aus.

 

»Aber der Japaner wird sprechen und uns beschuldigen«, sagte Bill bedrückt. »Er muß es ja schon sagen, um sich zu verteidigen.«

 

»Er wird nichts sagen«, entgegnete Anthony kurz.

 

»Wo ist denn der Smaragd? Hast du ihn?«

 

»Ich hatte ihn schon in meiner Tasche, aber ich habe ihn zurückgelassen.«

 

»Du hast ihn dort gelassen?« fragte Bill atemlos. »Wo denn?«

 

»In Katos Tasche. Wenn die Polizei kommt, Poltues Leiche mit einem japanischen Messer in der Seite auffindet und später seinen Smaragd in Katos Tasche entdeckt, dann gibt es nur eine Lösung.«

 

Und er hatte richtig prophezeit, denn sechs Wochen später wurde Kato auf einen Indizienbeweis hin wegen Mordes verurteilt.

 

12. Kapitel

 

12. Kapitel

 

Ein Spezialist

 

Anthony Newton war ein Opportunist und besaß wie alle diese Menschen die Fähigkeit, eine Situation sofort zu überschauen und auf Grund der gegebenen Lage unglaublich schnell zu handeln. Gut ausgearbeitete Schlachtpläne, die mühevolle Vorbereitungen erforderten, lagen ihm nicht. Das Leben bot ihm viele günstige Gelegenheiten, aber die meisten wies er sofort zurück; einige, weil sie nicht genügend Aussicht auf Erfolg hatten, andere wieder, weil sich der Erfolg nicht recht lohnte und ihm die Mittel, mit denen er das Ziel hätte erreichen können, zu zweifelhaft erschienen.

 

Es war eigentlich zu erwarten, daß die Erscheinung eines jungen Mannes, der keinen offensichtlichen Verdienst hatte, auf großen Fuß lebte, stets elegant auftrat und immer viel Geld ausgab, die Neugierde anderer Glücksritter erregte, die jedoch nicht auf seinen Wegen gingen. Von Zeit zu Zeit begegnete er Leuten der Aristokratie, einer ihm unbekannten Welt. Tadellos gekleidete Herren und Damen, ebenfalls ohne irgendwie bekannte Erwerbsquellen, näherten sich ihm, prüften ihn vorsichtig und mit großer Geschicklichkeit und verschwanden dann wieder. Anthony spielte weder Karten noch (besuchte er Spielhöllen, auch fiel er nicht der Versuchung zum Opfer, sich auf leichte Weise Geld zu verdienen. Trotzdem waren ihm diese Bürger von Londons Unterwelt sehr interessant, die gar nicht den Anspruch erhoben, Damen und Herren der Gesellschaft zu sein.

 

Einst lud Anthony einen solchen Mann zum Essen ein, und im Laufe des Abends wurde der Mann gesprächig und gab ihm manche Erklärung. Er hieß Jay Gaddit, war einer der vorzüglichsten Falschspieler und Kartenkünstler, dem Äußeren nach aber ein Mann von Welt, der viel herumgekommen war und sich daher in jeder Gesellschaft bewegen konnte.

 

»Alle diese Geschichten von Gentlemanverbrechern sind Unsinn«, sagte er und schaute nachdenklich auf seine Zigarre. »Wenn Sie, den ich zu den Fratzen rechnen will …«

 

»Danke verbindlichst«, erwiderte Anthony.

 

»Sie müssen wissen, es gibt nur zwei Arten von Leuten auf der Welt, die Diebe und die Fratzen. Ich habe absolut nicht die Absicht, Sie zu beleidigen. Nehmen Sie an, daß Sie einen von den Jungens treffen und mit ihm zu Abend essen. Nach Tisch schlägt irgend jemand, wahrscheinlich ein Mädchen, das auch mit der Gesellschaft arbeitet, ein Spiel Karten vor. Wenn nun der Verbrecher, der Sie hereinlegen will, ein Gentleman wäre und sich während des ganzen Essens mit Ihnen über Kunst, Wissenschaft und dergleichen unterhalten hätte und dann plötzlich das Gespräch auf Karten brächte, würden Sie sich doch sofort sagen: ›Der Mensch muß ein Verbrecher sein.‹ Denn ein Gentleman würde sich doch niemals mit einem Fremden über Karten unterhalten. Aber wenn er sich nun nicht wie ein Gentleman gibt, sondern so wie ich daherkommt und freimütig und derb über alles spricht, Spaße macht und lustig ist, und dann nachher ein Kartenspielchen erwähnt, würden Sie gar nichts dabei finden. Sie würden mich ansehen und denken: Nun ja, der junge Mann ist gut gekleidet und hat anscheinend viel Geld. Er ist ein reicher Farmer, vielleicht auch ein Pferdehändler. Aber Sie würden keinen Verdacht schöpfen. Daß ich so vorteilhaft aussehe, gehört zu meinem Beruf. Aber mein Spezialfach ist immer noch bedeutend besser als das von anderen Leuten. Sehen Sie einmal drüben den Menschen an.« Er zeigte auf einen vornehm gekleideten, ruhigen Herrn. »Das ist Sadbury – oder er nennt sich wenigstens so. Der rührt nie eine Karte an. Und er ist ein vollkommener Gentleman.«

 

Anthony schaute interessiert zu Mr. Sadbury hinüber.

 

»Welche Spezialität hat er denn?« fragte er.

 

Jay Gaddit lachte leise vor sich hin.

 

»Das ist ein Bigamist! Er ist schon sechsmal verheiratet gewesen, meistens mit reichen Witwen mittleren Alters«, sagte der Kartenkünstler mit verhaltener Bewunderung. »Er lernt sie an Bord eines Schiffes kennen. Er macht eine Reise nach Australien und ist drei oder vier Tage nach seiner Ankunft in Sidney verheiratet. Er hat sich schon, in Kapstadt, Buenos Aires, Ottawa, New York, Colombo und Vancouver trauen lassen. Aber er ist noch niemals gefaßt worden, weil sich niemand über ihn beschwerte oder eine Klage gegen ihn erhob. Eine Frau, die ausgeraubt und zum Narren gehalten wurde, macht natürlich keine Anzeige, besonders, wenn sie nichts von den anderen weiß. Ich spreche jetzt natürlich im Vertrauen zu Ihnen, wie ein Bruder zum anderen.«

 

Anthony nahm dieses zweifelhafte Kompliment ruhig und geduldig auf.

 

»War er denn noch nie im Gefängnis?«

 

»O ja, er hat schon drei- oder viermal gesessen«, meinte Jay sorglos, »aber niemals wegen Bigamie. Ich kann nicht sagen, daß mir dieses Spezialfach zusagen würde. Meine Sache ist glatter Diebstahl und schnelle Flucht. Nebenbei bemerkt ist das auch weniger gefährlich.«

 

Anthony sah sich erstaunt nach Sadbury um. Der Mann sah gut aus, mochte etwa achtundzwanzig Jahre alt sein, hatte dunkles Haar und trug einen kleinen, schwarzen Schnurrbart. Ein nachlässig gekleideter Mensch saß bei ihm, der abgerissen aussah und sich scheu umblickte. Seine Hände zitterten – das konnte Anthony sogar aus dieser Entfernung wahrnehmen.

 

»Das ist aber doch kein Opfer, das er ausplündern will?«

 

Jay Gaddit schüttelte den Kopf.

 

»Das ist ein morphiumsüchtiger Kerl. Der Himmel mag wissen, was Sadbury mit dem vorhat.«

 

Im Laufe der Zeit kam Anthony in London mit allen möglichen Leuten in Berührung, die die verschiedensten Verbrechen als Spezialität betrieben und unter den Unbesonnenen, Einfältigen und Überklugen ihre Opfer suchten. Er hatte keine Freunde unter diesen Menschen, aber er brachte seine Abende manchmal mit ihnen zu und erfuhr auf diese Weise viele interessante Dinge.

 

Für Anthony gab es eigentlich nur ein junges Mädchen auf der Welt. Aber obgleich er romantischen Abenteuern nicht abgeneigt war, stand es doch bei ihm fest, daß er seine Augen niemals zu Vera Mansar, der Millionärstochter, erheben konnte, deren Lieblichkeit immer um ihn schwebte und die ihm als Maßstab weiblicher Schönheit galt, wenn er andere Frauen sah. Er war jetzt kein armer Abenteurer mehr. Dank einer Anzahl gut verlaufener Unternehmungen, die einen größeren Gewinn abwarfen, als er früher in seinen kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hatte, verfügte er jetzt über die nötigen Mittel – aber er blieb immer noch ein Abenteurer.

 

Die Möglichkeit, seine Bekanntschaft mit ihr zu erneuern, war sehr unwahrscheinlich. Er selbst machte sich darüber keine Hoffnung. So ging Anthony Newton allein seinen Weg durch das merkwürdige London. Er lernte Leute kennen, die plötzlich für Monate verschwanden, und er hörte von dem Klatsch und den Skandalen der Unterwelt. Er hatte unter ihren Bewohnern wenigstens zwei angenehme Menschen getroffen, die ihm gegenüber offen waren und ihm vieles im Vertrauen erzählten, nachdem die ersten Mißverständnisse beseitigt waren und sie entdeckten, daß er weder eine »Fratze« noch ein Polizist war.

 

Einige Zeit, nachdem Anthony mit Jay Gaddit zu Abend gespeist hatte, war der Falschspieler plötzlich spurlos von der Bildfläche verschwunden. Er war ›aufs Land gegangen‹, wie seine Freunde erzählten. Nach drei Monaten erfuhr Anthony, daß er an den ›schrecklichen Platz‹ gekommen sei, worunter Londons Unterwelt das Gefängnis von Dartmoor versteht. Und einige Tage später erhielt er einen Brief auf blauem Papier. »S. M. Gefängnis Princetown« stand darauf. Anthony zerbrach sich nicht den Kopf, wie der Mann wohl zu seiner Adresse gekommen sein mochte. Die Kenntnis solcher Dinge gehörte eben zu Gaddits Beruf. Der Brief lautete:

 

Mein lieber Mr. Newton!

 

Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, wenn ich mich an Sie wende. Ich bin auf Grund eines falschen Zeugnisses für drei Jahre ins Gefängnis gekommen. Auf jeden Fall war die Beschuldigung, die gegen mich erhoben wurde, nicht richtig. Unglücklicherweise hatte ich nur wenig Geld, als ich geschnappt wurde, und mußte meine Frau ohne alle Mittel zurücklassen. Ich weiß nicht, ob es ein zu großes Ansinnen an Sie ist, wenn ich Sie bitte, etwas für sie zu tun.

 

Das war eine sonderbare Zumutung, wie sie Anthony früher nie begegnet war. Aber er zögerte keinen Augenblick, notierte sich die Adresse, die Gaddit in seinem Brief angegeben hatte, stieg in ein Mietauto und stand bald darauf vor einer Wohnungstür in Bloomsbury. Er klopfte an, und eine hübsche, schlanke, junge Frau von etwa siebenundzwanzig Jahren öffnete ihm. Zuerst schaute sie ihn mißtrauisch an, aber nachdem er ihr mit einigen Worten den Zweck seines Besuches erklärt hatte, wurde sie liebenswürdiger.

 

»Treten Sie bitte näher, Mr. Newton«, sagte sie und führte ihn in ein kleines, aber schön eingerichtetes Wohnzimmer. Anthony hatte keine Ahnung, wie sich Frauen von Verbrechern in solchen Fällen benehmen, aber wenn er erwartete, sie in Trauer und Kummer zu finden, so hatte er sich sehr getäuscht.

 

»Da können Sie einmal wieder sehen, wie unvernünftig es ist, sich zu betrinken. Wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte man ihn nicht, gefaßt«, sagte sie. »Da ich ihn immer unterstützt habe, bedrückt es ihn natürlich, daß er mir nur hundertfünfzig Pfund zurücklassen konnte.«

 

Anthony war verblüfft. Aber die Frau hatte sehr bald erkannt, welchen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte, und sie mußte lachen.«

 

»Sie haben doch nicht etwa gedacht, daß Sie mich hier in Tränen aufgelöst finden, Mr. Newton? Sie müssen bedenken, ist es nicht das erstemal, daß Jay ›aufs Land‹ gegangen ist. Geld brauche ich wirklich nicht«, sagte sie, nachdem sie einige Augenblicke nachgedacht hatte. »Ich arbeite mit einem Freund zusammen, und ich habe wirklich genug. Wenn Sadbury mich nicht so betrogen hätte, wäre ich sogar gut bei Kasse.«

 

Der Name war Anthony bekannt.

 

»Sprechen Sie von dem Bigamisten?«

 

»Jay scheint Ihnen ja schon alles erzählt zu haben! Der Mann ist wirklich kein Gentleman. Ich habe fünf Tage lang ehrlich an ihm gearbeitet, und er hat mir nicht einmal Dankeschön oder dergleichen gesagt.«

 

Eins hatte Anthony bei seinem Verkehr mit diesen merkwürdigen Leuten gelernt – man durfte niemals fragen. Er mußte warten und konnte vorläufig nur vermuten, was es bedeutete, daß Mrs. Gaddit an Sadbury »gearbeitet« hätte. Aber die Zusammenhänge waren ihm durchaus nicht klar.

 

Er kehrte erleichtert in sein Hotel zurück. Eine Bekanntschaft mit Verbrechern hatte doch manchmal verwirrende Momente. Er war selbst stark beschäftigt, denn er bereitete gerade wieder ein neues Unternehmen vor. Erst nach drei Monaten sah er Mrs. Gaddit wieder. Er traf sie im Hyde Park, und sie fuhr in einem wunderschönen Wagen mit einem Chauffeur und einem Diener an ihm vorüber. Anthony lächelte sie liebenswürdig an, als er sie in so vornehmer Umgebung sah.

 

*

 

Am nächsten Tage hatte er eine Begegnung, die sein Herz höher schlagen ließ und ihm das Blut in die Wangen trieb. Er ging die Regent Street entlang und wollte gerade seinen Freund, den Rechtsanwalt und Romanschreiber, besuchen, als ihn jemand anrief. Er wandte sich um.

 

Die liebliche Erscheinung, die sich seinen Blicken bot, raubte ihm fast den Atem. Er erkannte die Dame nicht gleich und glaubte, daß sie sich geirrt habe. Aber sie kam mit lachenden Augen auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

 

»Wie geht es Ihnen, Mr. Newton?«

 

Er konnte nicht sprechen und schüttelte nur Vera Mansars Hand.

 

»Es ist beinahe ein Jahr, daß wir uns zuletzt gesehen haben – Sie haben uns nicht wieder besucht.«

 

Sie unterdrückte ein Lachen, und Anthony sah sie vorwurfsvoll an.

 

»Nein, ich bin nicht dazu gekommen«, sagte er etwas heiser. Er benahm sich entsetzlich schüchtern und linkisch. »Ich habe nämlich sehr viel zu tun …«

 

»Hat man Sie zum Direktor der Bank von England gemacht?« fragte sie möglichst harmlos. »Aber Sie können Ihren Hut ruhig aufsetzen. Abgesehen davon, daß Sie die Aufmerksamkeit der anderen Leute auf sich ziehen, könnten Sie sich auch erkälten.«

 

Anthony murmelte eine Entschuldigung und setzte seinen Hut auf.

 

»Wir haben sehr oft über Sie gesprochen«, sagte sie, als sie zusammen die belebte Straße entlanggingen. »Ich meine nämlich Vater und mich. Er war der Meinung, daß Sie der Klügste von allen waren.«

 

Anthony schluckte. Er wußte, daß Miss Vera Mansar von den zudringlichen jungen Leuten sprach, die versucht hatten, sich auf alle mögliche Weise bei ihrem reichen Vater einzuführen.

 

»Er möchte Sie gern wiedersehen«, fuhr sie fort.

 

Anthony lächelte. Er hatte endlich seine Selbstbeherrschung wiedererlangt.

 

»Will er mich wieder nach Brüssel schicken?« fragte er trocken.

 

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte sie ernst. »Wir erinnerten uns an Sie, als wir die Einladungen zu meiner Hochzeitsfeier aufsetzten.«

 

Anthony blieb stehen.

 

»Zu Ihrer Hochzeit?« fragte er ungläubig.

 

Sie nickte.

 

»Ich heirate meinen Vetter – ich dachte, Sie wüßten das –, es hat in den Zeitungen gestanden.«

 

»Ach ja.« Anthony versuchte, die Herrschaft über seine Stimme zu behalten. »Ich wußte nicht, daß Sie einen Vetter hatten«, sagte er dann etwas lahm.

 

Sie mußte lachen.

 

»Sie wissen überhaupt nichts von mir«, antwortete sie und sah ihn wieder vergnügt an. »Geben Sie sich doch nicht erst den Anschein, als ob das der Fall wäre, Mr. Newton. Aber ich habe nur wenige Verwandte, und mein Vetter Philipp könnte Ihnen eigentlich bekannt sein. Und wenn man vom Wolf spricht, kommt er auch schon. Sehen Sie, hier ist mein Bräutigam!«

 

Nichts in dem Ton ihrer Stimme zeigte an, daß sie Philipp Lassinger liebte, im Gegenteil, sie sprach schnell, fast heftig. Anthony wandte sich um, um den Mann zu begrüßen, den er aus tiefstem Herzen haßte.

 

Philipp Lassinger war groß und hatte eine helle Gesichtsfarbe; sein glattrasiertes Gesicht sah vorteilhaft aus. Anthony dachte grollend, daß er alle Männer mit schönen Köpfen nicht leiden könne.

 

»Dies ist Mr. Newton«, stellte Vera ihn vor. Die beiden Männer reichten sich die Hände.

 

»Doch nicht Mr. Anthony Newton?« entgegnete Lassinger liebenswürdig. »Oh, ich habe schon viel von Ihnen gehört!«

 

Vera fühlte Anthonys Verlegenheit.

 

»Wollen Sie so liebenswürdig sein und mit uns zu Mittag speisen, Mr. Newton? Ich werde den Zorn meines Vaters schon zu besänftigen wissen. Aber ich glaube nicht, daß er überhaupt noch ärgerlich auf Sie ist.«

 

Im ersten Augenblick wollte Anthony die Einladung ablehnen. Am liebsten hätte er sich entfernt, um allein mit seinem Kummer zu sein, aber er mußte ja auch essen, und was ausschlaggebend war, er konnte in der Nähe dieser bezaubernd schönen Frau sein.

 

Mr. Gerald Mansar wartete schon im Palmenhof des Carlton-Hotels, als sie eintraten. Als er Anthony sah, zog er seine weißen Augenbrauen hoch.

 

»Das ist ja ein unerwartetes Vergnügen«, meinte er und schüttelte Anthonys Hand kräftig. »Ich glaube, Sie sind mir noch sechshundert Pfund schuldig.«

 

»Und Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig, die mir viel mehr wert ist als sechshundert Pfund«, erwiderte Anthony gelassen.

 

»Ich war damals sehr gekränkt, das gebe ich zu«, entgegnete Mansar, der sich jetzt offensichtlich bei der Erinnerung an dieses Abenteuer freute. »Sie haben also meinen Neffen Lassinger kennengelernt?« Er klopfte Philipp auf den Rücken, und Anthony stellte fest, daß der alte Herr eine Schwäche für seinen Neffen hatte. Bevor das Essen endete, hatte er schon herausgefunden, daß Philipp die Heirat angenehmer war als Vera. Sie sprach nur selten zu ihrem Verlobten, und wenn sie es tat, so war es gewöhnlich nur, um auf seine Fragen zu antworten.

 

»Was denken Sie von unserem Bräutigam, Mr. Newton?« fragte Mr. Mansar und blies dicke Rauchwolken zur Decke. »Er hat sich in der ganzen Welt herumgetrieben. Du bist besser zurückgekommen, als wir jemals erwarten konnten, Phil.«

 

»Ja, als Junge habe ich nicht viel getaugt«, sagte Lassinger lächelnd. »Ich glaube, die lange Wanderzeit hat mir recht gut getan. In den Tagen, die ich allein auf der Farm zubrachte, habe ich viel nachgedacht.«

 

Für Anthony war dieses Essen nicht angenehm, und er bedauerte sehr, die Einladung angenommen zu haben. Sobald es schicklich war, verabschiedete er sich.

 

Eines Tages sah er die beiden wieder, als sie zusammen die Piccadilly entlangfuhren. Lassinger sah wohl und vergnügt aus, aber Vera erschien ihm blasser und weniger lebhaft. Er gab sich die größte Mühe, sie ganz tu vergessen, aber immer wanderten seine Gedanken zu ihr zurück. Wie um ihn noch mehr zu quälen, brachten die Zeitungen ganzseitige Abbildungen von ihr. Er schnitt sie alle aus und heftete sie an die Wand seines kleinen Schlafzimmers.

 

Am Abend vor ihrer Hochzeit begegnete er ihr noch einmal. Es war ein regnerischer, stürmischer Sommertag, und das Wetter spiegelte die Gedanken und die traurige Stimmung wider, in der er sich befand. Schnell schritt er durch den Hyde Park. Plötzlich sah er vor sich eine Gestalt in einem Regenmantel, aber er wäre an der Dame vorbeigegangen, ohne ihr ins Gesicht zu sehen, wenn er nicht plötzlich ihren erstaunten Ausruf gehört hätte.

 

»Das ist Schicksal«, sagte sie düster. »Kommen Sie und setzen Sie sich etwas zu mir. Hier unter den Bäumen ist eine Bank. Der Parkwächter wird wahrscheinlich annehmen, daß wir ein Liebespärchen sind, aber wenn Ihnen dieser schreckliche Verdacht nichts ausmacht …«

 

»Ich könnte heute alles tun – für Sie«, entgegnete er.

 

Sie setzte sich nieder und schaute ihn an. Aber Anthony sagte sich, daß sie nicht wie eine glückliche Braut aussah. Ihr Filzhut war vom Regen ganz durchnäßt, eine feuchte Locke klebte an ihrer Wange, und um ihren Mund lag ein harter Zug.

 

»Ich bin weggegangen, weil ich die Vorbereitungen für die Hochzeit nicht mit ansehen kann. Beinahe wäre ich in Ihr Hotel gekommen, aber ich wußte nicht, wo Sie wohnten. Was sagen Sie dazu, Anthony Newton?«

 

»Es ist kein schlechtes Hotel …«, begann er.

 

»Nun seien Sie doch nicht lächerlich. Was halten Sie eigentlich von meiner Hochzeit?«

 

»Ich darf nicht daran denken«, entgegnete er.

 

Ihre Augen leuchteten auf.

 

»Meinen Sie das im Ernst?«

 

Er nickte.

 

»Mir ist diese Hochzeit verhaßt«, sagte sie leise. »Aber mein Vater wünscht die Verbindung so sehr. Es war eine kurze und ungestüme Werbung, weniger von meinem Bräutigam als von meinem Vater. Philipp ist ja sehr nett und zuvorkommend zu mir, er quält mich nicht mit Liebesbeteuerungen, umarmt mich nicht dauernd und bringt mich auch sonst nicht in Verlegenheit. Aber ich möchte ihn nicht heiraten. Ich fühle mich wie in einer Gefängniszelle. Ich zähle die Minuten, aber sie gehen zu schnell vorüber, Anthony!«

 

Eine Pause trat ein.

 

»Habe ich Sie eben Anthony genannt? Ich wußte selbst nicht, warum ich das tat.«

 

»Wahrscheinlich, weil es mein Name ist. Aber wenn Sie noch einen anderen Grund haben, so sind Sie entschuldigt. Warum heiraten Sie denn eigentlich überhaupt, Vera?«

 

»Vater will es durchaus haben … es ist allerdings wahr; daß heutzutage Töchter nicht mehr heiraten, um ihrem Vater einen Gefallen zu tun – das kommt eigentlich nur noch in Büchern und Romanen vor. Und doch bin ich im Begriff, es zu tun. Ich kann meinen Vater nicht so verletzen und enttäuschen.«

 

»Aber Sie verwunden einen anderen noch viel tiefer«, sagte Anthony ruhig. »Sie tun mir dadurch bitter weh.«

 

Sie sah ihm offen in die Augen.

 

»Meinen Sie das wirklich?«

 

Er nickte.

 

Er wagte es nicht, zu sprechen. Sie wollte etwas sagen, aber plötzlich sprang sie auf.

 

»Ich kann nicht länger bleiben, sonst begehe ich noch eine große Dummheit. Und was noch viel schrecklicher wäre, ich würde auch Sie zu einer Unvorsichtigkeit hinreißen. Ich gehe jetzt als eine moderne Braut nach Hause, werde mir alle Hochzeitsgeschenke ansehen und ihren Wert zusammenrechnen.«

 

Sie gingen schweigend durch den Park, aber Anthony sprach schließlich doch noch auf sie ein; er bat, er schmeichelte, ja er drohte.

 

»Es hat ja keinen Zweck, Anthony«, sagte sie. »Ich liebe Sie doch gar nicht, es wäre lächerlich, wenn ich das behaupten wollte. Aber sicherlich liebe ich auch Philipp nicht. Vielleicht wären Sie das kleinere von beiden Übeln. Es täte mir leid, wenn Sie sich verletzt fühlten.« Sie drückte seinen Arm leidenschaftlich und war verschwunden, bevor er ahnte, daß sie die Absicht gehabt hatte, sich so schnell von ihm zu trennen.

 

Anthony Newton hatte eine schlaflose Nacht. Er war fest entschlossen, weder zur Kirche noch zu ihrem Hause zu gehen, aber plötzlich überkam ihn doch eine Sehnsucht, die stärker war als alle seine Entschlüsse, und er stand um elf Uhr unter einer kleinen Gruppe interessierter Zuschauer, die die Ankunft der Hochzeitsgäste erwarteten. Ein großer Wagen fuhr vor, ein Herr stieg aus und grüßte einen Bekannten. Es war Philipp Lassinger. Anthony hörte einen unwilligen Ausruf an seiner Seite, wandte sich um und sah zu seinem Erstaunen Mrs. Gaddit neben sich stehen, die Frau des Falschspielers.

 

»Hallo, Mr. Newton«, sagte sie. »Was denken Sie von dem Lumpen da? Ich wäre versucht, hinzugehen und ihn anzuzeigen. Sie erkennen natürlich Sadbury nicht wieder?«

 

»Sadbury?« rief Anthony entsetzt. »Das ist doch Lassinger!«

 

Sie nickte.

 

»Das ist doch sein Gewerbe! Es ist einfach schrecklich, daß man ihn nicht verfolgt – er wird sie schon während der Flitterwochen verlassen.«

 

»Aber Sadbury hat schwarze Haare und dunkle Gesichtsfarbe«, erwiderte Anthony heiser.

 

»Ich habe ihm doch die Haare blond gefärbt – die Prozedur hat fünf Tage lang gedauert –, und er hat mir nicht einen Cent dafür gegeben. Und ich habe ihn doch mit dem heruntergekommenen Lassinger, dem Morphinisten, zusammengebracht, dem eigentlichen Lassinger. Sadbury hat erzählt, daß er von Südamerika zurückgekommen sei, aber der wirkliche Lassinger ist seit langen Jahren hier in England gewesen. Hat Jay Ihnen den Mann nicht gezeigt?«

 

Blitzartig erinnerte sich Anthony an den verkommenen Menschen, den er damals in der Begleitung Sadburys gesehen hatte.

 

»Er wird sich aber mit diesem Mädchen in acht nehmen müssen, sonst kann er lebenslänglich Zuchthaus bekommen…«

 

Anthony hörte ihr nicht mehr zu. Er sah, wie der Wagen mit der Braut kam, und im nächsten Augenblick stand er mitten auf der Auffahrt. Mr. Mansar half seiner Tochter beim Aussteigen. Sie sah in ihrem weißen Kleide wunderbar aus. Sie blieb stehen, während sieb die Brautjungfern sammelten. Plötzlich fiel ihr Blick auf Anthony. Auch Mr. Mansar sah ihn jetzt und runzelte die Stirn, als Anthony auf ihn zukam.

 

»Ich muß Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen, Mr. Mansar.«

 

»Aber das ist doch jetzt unmöglich!«

 

»Es handelt sich um Leben und Tod! Der Mann, den Sie für Lassinger halten, ist ein Schwerverbrecher, der eigentlich Sadbury heißt!«

 

»Sie sind verrückt!«

 

»Wollen Sie nicht die Hochzeit verschieben, bis Sie meine Angaben untersucht haben? Ich kann alles beweisen, was ich gesagt habe!«

 

»Auf keinen Fall.« Mr. Mansar wurde rot vor Ärger, »Komm, mein Liebling.«

 

Aber die Braut kam nicht. »Vater, wäre es nicht besser, wenn du dich erst vergewissern würdest?«

 

»Ich werde nichts Derartiges tun«, rief Mr. Mansar aufgeregt. Er wurde noch nervöser, als er sah, daß die Leute auf die Gruppe aufmerksam wurden und das allgemeine Interesse sich ihnen zuwandte. Zweifelnd legte Vera ihren Arm in den ihres Vaters, aber Anthony trat dazwischen.

 

»Vera«, sagte er entschieden, »Sie gehen jetzt nach Hause!«

 

Einen Augenblick zögerte sie, sah von ihrem Vater zu Anthony, der so unerwartet die Feier gestört hatte, wandte sich plötzlich um, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und ging zum Erstaunen der wartenden Diener zu ihrem Wagen zurück.

 

»Nach Hause!« rief sie dem Chauffeur zu.

 

Mr. Mansar war wie vom Blitz getroffen, als der Wagen abfuhr.

 

»Sie Schuft!« zischte er Anthony ins Gesicht. »Ich werde –«

 

»Bringen Sie doch Ihren Schwiegersohn hierher – ich werde dann alles veranlassen, was notwendig ist.«

 

Durch den Wortwechsel wurde der Bräutigam aufmerksam und erschien in dem Augenblick an der Kirchentür.

 

»Was, zum Teufel, soll das bedeuten?« fragte er.

 

»Sadbury, ich verhafte Sie!« sagte Anthony und packte den Mann mit einem berufsmäßigen Griff am Arm.

 

Und nun machte Mr. Sadbury einen Fehler.

 

»Es ist ein Detektiv! Machen Sie hier kein Aufsehen ich will ruhig mit Ihnen gehen.«

 

Zwei Monate später ging Anthony Newton hocherhobenen Hauptes im Branksome-Tower-Hotel in Bornemouth zu den Privaträumen Mr. Gerald Mansars. Der alte Herr selbst war noch nicht von der Stadt zurückgekehrt, und Anthony hoffte, daß er auch noch länger ausbleiben würde.

 

»Ich kann dir jetzt die ganze Geschichte erzählen«, sagte er zu Vera. »Sadbury hat ein volles Geständnis abgelegt. Er hat Lassinger in London getroffen, der ganz heruntergekommen war und den man seit Jahren aus den Augen verloren hatte. Als Sadbury von der Verwandtschaft mit deinem Vater hörte, machte er seinen Plan und trat in der Rolle des erfolgreichen Neffen auf.«

 

»Ja, er kam eines Tages in Vaters Büro, der ihn mit nach Hause brachte. Er wußte also nur daher alles von uns, weil der richtige Lassinger ihm alles gesagt hatte. Ich brauche weiter nichts mehr zu hören, Anthony. Hast du mit meinem Vater gesprochen?«

 

Er nickte.

 

»War er sehr ärgerlich?«

 

»Ein wenig«, erwiderte Anthony Newton vorsichtig.

 

»Er tobte ein wenig und fluchte ein wenig – aber schließlich sagte er ›Ja‹.«

 

Sie atmete tief auf.

 

»Es war sehr tapfer von dir, daß du den Löwen in seiner Höhle aufgesucht und gereizt hast.«

 

Anthony hustete und sagte nichts darauf.

 

Aber später erfuhr Vera von ihrem Vater, daß Anthony telefonisch um ihre Hand angehalten hatte.

 

In diesem einen Fall hatte Anthony der Mut verlassen.

 

 

Ende

 

1. Kapitel

1. Kapitel


Nur nicht die Nerven verlieren


Anthony Newton wurde im Weltkrieg mit sechzehn Jahren Soldat, und mit sechsundzwanzig war er ein armer Kerl, der von der Gunst anderer Leute abhing. Geduldig wartete er in unzähligen Büros und ließ die üblichen Fragen über sich ergehen, die fast überall die gleichen waren.


»Welche Geschäftspraxis hatten Sie bisher?«


»Welches Gehalt beanspruchen Sie?«


Außerdem sollte er noch viele andere, mehr oder weniger wichtige Fragen beantworten, die ihm klarmachten, daß die Erziehung in einer höheren Schule und tadellose Militärpapiere noch lange keine Anwartschaft auf irgendeine Stellung geben, von der man, wenn auch nur notdürftig, leben kann. Mit solchen Voraussetzungen läßt sich nur etwas erreichen, wenn man über große Geldsummen verfügt, um sich eine Teilhaberschaft, einen Sekretärposten oder eine lohnende Vertretung zu erwerben.


Immer wieder hörte Anthony denselben Bescheid.


»Wir haben leider im Augenblick keine Verwendung für Sie, Mr. Newton. Aber wenn Sie uns Ihre Adresse hierlassen wollen, werden wir Ihnen Mitteilung machen, sobald sich etwas für Sie bietet.«


Acht Jahre lang hatte sich nun Anthony Newton in allen möglichen Stellungen herumgeschlagen. Die Abfindungssumme, die er vom Militär erhalten hatte, steckte er in eine Geflügelfarm. Jeder weiß nun, daß es sehr einfach ist, auf diese Weise Geld zu verdienen, das heißt auf dem Papier und in der Theorie, in Wirklichkeit kommt es jedoch gewöhnlich ganz anders. Nach acht Jahren Mißerfolg ging er mit sich selbst zu Rate und entschied sich dann nüchtern für eine Art Räuberleben, und zwar ein solches, gegen das die Gesetzesparagraphen weniger anwendbar waren. Schon lange hatte er mit dem Gedanken gespielt, aber eines Morgens verwirklichte er seinen Plan.


Seine Wirtin, Mrs. Cranboyle, überreichte ihm gerade ihre Rechnung und die Kündigung für den Fall, daß er nicht sofort zahlte. An solche Rechnungen war er schon gewöhnt, aber die Kündigung war ihm neu. Er hatte zwar längst damit gerechnet, aber als sie nun tatsächlich kam, war er doch bestürzt.


Er schaute die Frau nachdenklich an, und ein unentschlossener Ausdruck lag auf seinem hübschen Gesicht. Aber für Mrs. Cranboyle, eine gedrungene, kräftige Frau mit harten Augen und großem, energischem Kinn, gab es keinerlei Zweifel über die Sachlage.


Anthony seufzte, und sein Blick wanderte von dem Gesicht seiner Wirtin über all die kleinen Gegenstände des einfachen Zimmers hin, die Bettstelle, die sentimentalen religiösen Bilder an den Wänden, die beiden Porzellanhunde auf dem Kamin, den einfachen Teppich, den blankgeputzten Messingbeschlag am Feuerrost. Dann sah er wieder Mrs. Cranboyle an.


»Sie können doch nicht erwarten, daß ich Sie noch länger hier wohnen lasse, Mr. Newton«, sagte sie mit Nachdruck. Und es war nicht das erstemal, daß er diese Worte hörte.


»Still!« sagte Anthony. »Ich will nachdenken.«


Mrs. Cranboyle zuckte die Achseln.


»Ich habe sehr hart arbeiten müssen, um das zusammenzubringen, was ich habe«, fuhr sie fort, »und ein junger Mann wie Sie sollte etwas Besseres tun als einer armen Witwe auf der Tasche liegen, die nicht weiß, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten soll …«


»Sie haben siebenhundertfünfzig Pfund in Kriegsanleihe, zweihundertfünfzig Pfund in Aktien und ein Bankdepot von ungefähr fünfhundert Pfund«, erwiderte Anthony ruhig.


Mrs. Cranboyle war starr vor Staunen.


»Aber wie … was …«, stammelte sie.


»Ich habe mir neulich Ihr Bankbuch angesehen«, erklärte Anthony, ohne sich im mindesten zu genieren. »Sie haben es im Wohnzimmer liegenlassen – ich habe mir ganz nett die Zeit damit vertrieben.«


»Na, dazu gehört aber doch eine Dreistigkeit sondergleichen«, rief sie atemlos. »Da hört doch alles auf! Sie räumen noch heute das Zimmer!«


»Wie Sie wollen. Ich werde mir eine andere Wohnung suchen und jemand schicken, der meinen Koffer abholt.«


»Geben Sie dem Mann nur auch die Miete für sechs Wochen mit«, sagte Mrs. Cranboyle ärgerlich, »sonst brauchen Sie sich gar nicht erst die Mühe zu machen, nach Ihren Sachen zu schicken. Wenn Sie glauben, daß ich hier meine Zimmer an Spieler und Taugenichtse umsonst –«


Anthony machte eine abwehrende Handbewegung.


»Vergessen Sie nicht, daß Sie hier zu einem Mann sprechen, der für Ihr Vaterland gekämpft und die Schrecken des Krieges mitgemacht hat«, sagte er stolz. »Sie haben hier ruhig in Ihrem Bett geschlafen, während wir in Schnee und Regen, in Wind, Wetter und Nebel im Schützengraben ausgehalten haben. Denken Sie immer daran, Mrs. Cranboyle! Sie können Leuten wie mir niemals Dank genug wissen.« Er schaute sie scharf an. »Wo würden Sie jetzt sein, wenn die Deutschen gesiegt hätten?«


Mrs. Cranboyle war das Schimpfen vergangen. Sie wollte ihm wieder Vorhaltungen machen, wie er sein Geld vertan habe, aber er sparte ihr die Mühe.


»Sie haben mir eben gesagt, daß ich spiele – nun ja, ich habe im Rennen gesetzt. Das wissen Sie aber nur, weil Sie in meinen Papieren herumgestöbert haben. Ihre Neugierde wird Ihnen noch einmal böse mitspielen.«


Er schaute noch einmal zum Fenster hinaus, dann nahm er seinen Hut. Seine Wirtin konnte nichts weiter sagen; seine durchdringenden Blicke hatten sie vollständig eingeschüchtert.


»Sie können mir wenigstens noch einen Dienst erweisen, Mrs. Cranboyle. Leihen Sie mir zehn Schilling, ich werde sie Ihnen in einigen Stunden zurückzahlen.«


Nun fand sie plötzlich ihre Sprache wieder.


»Von mir bekommen Sie keinen Penny!«


»Das ist nun der Dank dafür, daß man das Vaterland verteidigt hat«, murmelte Anthony. »Solche Menschen wie Sie machen aus uns früheren Soldaten Anarchisten.«


»Wenn Sie mich hier bedrohen, schicke ich zur Polizei«, schrie Mrs. Cranboyle.


Anthony ging noch einmal zum Waschtisch zurück, bürstete sein Haar sorgfältig und nahm den Hut wieder auf.


»Ich werde heute nachmittag nach meinem Koffer schicken«, sagte er einfach.


Sie schimpfte noch hinter ihm her, als er langsam die Treppe hinunterging. Er wußte, daß es nun kritisch wurde.


Es bedrückte ihn nicht, daß er mit drei Pennies in der Tasche den harten Kampf ums Dasein aufnehmen mußte. Er ging fröhlich und guter Dinge in den hellen Sonnenschein des Tages hinaus und wanderte durch die Straßen der Vorstadt, als ob er nicht die geringsten Sorgen hätte.


Im Kriege war er Leutnant einer Maschinengewehrabteilung gewesen, später Sekretär einer größeren Firma. Aber er trug dem Chef, der ihm gekündigt hatte, keinen Groll nach. Er wußte, daß alle Erwerbsquellen für ihn im Augenblick versiegt waren, und er hatte es satt, sich unter der wartenden Menschenmenge in den Arbeitsbüros herumzudrücken. Die vielen Drehorgelspieler, die mit Kreide ihre militärischen Verdienste auf Schilder geschrieben hatten, die maskierten Sänger aus der Aristokratie, die in den Höfen und Straßen der Vorstädte herumzogen und sich auf diese romantische Weise einen kargen Lebensunterhalt erwarben, die früheren Offiziere, die schöne Aquarellbilder an den Straßenecken im Westen verkauften, und die aggressiveren Leute, die Gastrollen in Banken mit dem Revolver in der Hand gaben, sie alle bewiesen zur Genüge, daß eine höhere Schulbildung und eine militärische Laufbahn nicht ausreichten, Geld zu verdienen und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.


Anthony stieg auf die nächste Straßenbahn, und als er seinen Fahrschein gelöst hatte, blieb ihm nur noch ein Penny übrig. Er war jetzt mehr als je davon überzeugt, daß seine bisherige Art zu leben keinen Zweck hatte.


Er ging in die Nationalgalerie, wo ihm früher schon immer gute Gedanken gekommen waren. Aber als er um die Mittagszeit wieder auf die Straße trat, war ihm noch nichts Neues eingefallen. Er hatte Hunger, denn er war gesund und jung und hatte zum Frühstück nur zwei harte, dünn mit Butter bestrichene Brotschnitten und eine Tasse Tee bei Mrs. Cranboyle zu sich genommen.


Ein Polizist sah ihn an der Ecke des Trafalger Square stehen und glaubte, irgendeinen Fremden vom Lande oder aus den Kolonien vor sich zu haben, der unentschlossen schien und anscheinend nicht wußte, wohin er gehen sollte. Anthony trug stets große, graue, breitrandige Filzhüte und legte Wert auf eine gute Kleidung.


»Kann ich Ihnen irgendeine Auskunft geben?« fragte der Polizist.


»Ich möchte gern wissen, wo ich hier gut zu Mittag essen könnte«, entgegnete Anthony wahrheitsgetreu.


»Sie sollten in das Pallaterium gehen. Gestern hat mir noch ein Herr gesagt, daß es das beste Lokal in London sei.«


»Danke schön«, erwiderte Anthony liebenswürdig. Es tat ihm mehr leid, daß er diesem freundlichen Mann kein reichliches Trinkgeld geben konnte, als daß er jetzt nicht einmal mehr die nötigen Mittel hatte, ein Essen zu bezahlen. Aber trotzdem ging er in das Pallaterium, denn er hatte einen festen Glauben an sich und vertraute seinem guten Stern.


Sorglos betrat er den großen Vorraum, in dem sich viele Menschen aufhielten. Die meisten warteten auf Gäste oder auf Leute, die sie zu Tisch geladen hatten. Er setzte sich in einen bequemen, tiefen Sessel und streckte die Beine behaglich von sich. Aus der Flügeltür des Restaurants drang der Duft von Braten und guten Speisen zu ihm herüber. Er beobachtete die Menschen und sah, wie sich die einen entschuldigten, daß sie so spät kamen, und wie die anderen ruhig und geduldig warteten. Verwandte und Bekannte trafen sich hier und gingen durch die Glastüren in kleinen Gruppen in das Paradies. Aber es war niemand unter all den Leuten, den er kannte.


Jetzt kamen zwei untersetzte Herren und zwei Damen herein. Sie waren sehr elegant gekleidet und hatten sicherlich die Nacht nicht auf einem harten Lager verbracht und darüber nachgedacht, wie sie sich am nächsten Tage ernähren sollten. Anthony schaute ihnen nach, als auch sie in dem Speisesaal verschwanden, und seufzte.


»Wenn ich doch nur …« begann er, aber plötzlich kam ihm ein guter Gedanke.


Er wartete noch zehn Minuten, dann erhob er sich langsam, gab seinen Hut in der Garderobe ab und trat in das Lokal. Er sah die vier Leute an einem Tisch am Ende des großen Raumes sitzen. Neben ihnen war noch ein kleiner Tisch unbesetzt. Der ältere der beiden Herren schaute plötzlich auf und sah einen gutgekleideten Herrn von achtunggebietender Größe vor sich stehen.


»Bitte, womit kann ich Ihnen dienen?«


Anthony beugte sich zu ihm nieder und sprach mit leiser Stimme zu ihm, aber doch so, daß alle anderen es auch hören konnten.


»Lord Rothside läßt sagen, es tue ihm sehr leid, daß er nicht hierherkommen könne. Er fragt an, ob Sie nicht statt dessen am Berkeley Square mit ihm essen wollten?«


»Wie meinen Sie?« fragte der Herr verwundert.


»Sind Sie nicht Mr. Steiner?« erwiderte Anthony ganz erstaunt, als ob ihm plötzlich klar würde, daß er sich getäuscht habe.


»Nein«, entgegnete der etwas korpulente Herr. »Mein Name ist Goldheim«, sagte er dann lächelnd. »Ich glaube, Sie irren sich.«


»Das tut mir sehr leid, aber ich habe Mr. Steiner noch nie gesehen. Ich war nur hierhergeschickt, weil er hier speisen wollte und …« er brach verwirrt ab.


»Bitte sehr, es macht gar nichts«, sagte der andere geschmeichelt. »Ich kenne leider Mr. Steiner nicht, sonst würde ich Ihnen den Herrn zeigen.« Er wandte sich an seine Tischgenossen. »Man hat mich für einen Freund von Lord Rothside gehalten.« Man merkte, wie angenehm ihm dies war.


»Dann muß ich eben noch warten, bis er kommt«, meinte Anthony entschuldigend. »Es tut mir wirklich unendlich leid, daß ich Sie gestört habe.«


Er ließ sich am nächsten Tisch nieder.


»Ich möchte noch nichts bestellen, ich warte noch auf einen Herrn«, sagte er, als der Kellner sich nach seinen Wünschen erkundigte.


Am Nachbartisch aß man weiter. Anthony schaute einige Zeit verzweifelt und ungeduldig nach der Tür. Plötzlich wandte sich einer der Herren vom Nebentisch an ihn.


»Mr. Steiner scheint wohl noch nicht zu kommen?« fragte er unnötigerweise.


Anthony schüttelte den Kopf.


»Ich will warten, aber es ist schrecklich. Ich komme dadurch ganz um mein Essen.«


»Würden Sie nicht bei uns Platz nehmen, Mr. …?«


»Mein Name ist Newton«, sagte Anthony. »Aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.«


Aber er nahm doch sofort Platz, und fünf Minuten später hatte er schon Gelegenheit, den herrlichen alten Rheinwein zu loben.


»Sie sind wohl der Sekretär von Lord Rothside?«


»Ich bin nicht gerade sein Sekretär«, sagte Anthony mit einem bescheidenen Lächeln und verstand es, dabei den Eindruck hervorzurufen, als ob diese Frage mit seiner Stellung nicht recht in Einklang zu bringen sei, weil er einen weit höheren Rang einnahm. Ungefähr so würde Napoleon in den Tagen des Direktoriums dreingeschaut haben, wenn ihn jemand gefragt hätte, ob er ein Mitglied der Regierung sei.


Die beiden älteren Damen sahen trotz ihrer Jahre sehr gut aus. Sie hatten viel Sinn für Humor, und Anthony wußte sie mit den kleinen Geschichten, die er zum besten gab, glänzend zu unterhalten. Die ganze Tafelrunde amüsierte sich köstlich. Als der Kaffee serviert wurde, hatte Anthony seinen Platz in der Gesellschaft aufs beste behauptet. Mit der Miene eines Kenners und Genießers rauchte er eine der teuersten Zigarren Goldheims.


»Es ist ganz merkwürdig, wie man mitunter in eine so liebenswürdige Gesellschaft gerät«, sagte er nachdenklich. »Ich werde niemals vergessen, wie ich das erstemal mit dem Herzog von Minford speiste. Ich kam auch ganz zufällig und unerwartet mit ihm zusammen. Ich hatte ihn vorher nie getroffen und war ihm nicht vorgestellt worden.«


Diesmal sprach Anthony die volle Wahrheit, denn er hatte den Herzog in einem Granattrichter an der Somme kennengelernt, und sie hatten zusammen etwas Keks und Schokolade geknabbert.


»Sind Sie in der City tätig, Mr. Newton?«


»Auch das«, sagte Anthony, ohne näher darauf einzugehen. »Ja, ich bin auch in der City tätig. Ich bin aber erst seit kurzem aus Übersee zurückgekehrt.«


Mr. Goldheim lächelte schlau.


»Da haben Sie wohl viel Geld verdient, wie?«


»O ja, ich habe ganz gut verdient.«


»Sie kommen wohl aus Südafrika?«


Nun war es an Anthony, zu lächeln, und er tat es so geheimnisvoll, daß es ebenso Argentinien, Chikago oder Klondyke bedeuten konnte.


»Ich kenne London eigentlich noch nicht sehr gut«, gestand er dann.


Die ganze Zeit über wunderte er sich, wer wohl die drei ruhigen Herren am nächsten Tisch sein mochten. Sie sprachen wenig, schienen aber aufmerksam ihrer Unterhaltung zuzuhören. Als er zum erstenmal hinüberschaute, kam ihm zum Bewußtstein, daß sie jedes seiner Worte gehört haben mußten, und er fühlte sich einen Augenblick lang nicht recht wohl. Aber er konnte sich ja auch täuschen. Der Mann mit der gesunden, roten Gesichtsfarbe schien doch ganz in sein Essen vertieft zu sein. Es mochten reiche Leute vom Lande sein, die einen Tag in London zubrachten, vielleicht auch reiche Mühlenbesitzer aus dem Norden.


Bald darauf winkte Mr. Goldheim dem Kellner, um zu bezahlen. Er gab ein außergewöhnlich großes Trinkgeld (Anthony zuckte es in der Hand, eins der Fünfschillingstücke wegzunehmen). Dann gingen sie alle zurück zum Vestibül.


Anthony gab als erster seinen Garderobenzettel ab, und die Garderobiere nahm das Trinkgeld Mr. Goldheims für die ganze Gesellschaft.


»Können wir Sie irgendwo hinbringen?«


»Wenn Sie so liebenswürdig wären, mich bei Ritz-Carlton abzusetzen?« sagte Anthony zögernd. »Das heißt, nur wenn es auf Ihrem Wege liegt.«


Es traf sich gut, daß die anderen den Nachmittag in einem Theater zubringen wollten, das ganz in der Nähe dieses palastartigen Hotels lag. Anthony blieb noch einen Augenblick im Eingang stehen und winkte seinen liebenswürdigen Gastgebern zum Abschied zu, dann trat er in die Empfangshalle.


»Ich möchte ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer haben.«


Er hatte nicht die geringste Absicht gehabt, in das Ritz-Carlton oder irgendein anderes Hotel überzusiedeln, aber im Augenblick kam ihm der Gedanke, daß dies das richtige Hauptquartier für einen Briganten sei, der der ganzen Gesellschaft den Krieg erklärt hatte.


»Ich werde mein Gepäck später schicken. Aber wohlverstanden, ich muß Zimmer haben, von denen aus man die Straße übersehen kann.«


»Darf ich um Ihren Namen bitten?«


Anthony zeichnete sich in bester Stimmung in das Hotelbuch ein, und bevor der Portier erwähnen konnte, daß bei Ritz-Carlton Zimmer für Leute ohne Gepäck nicht reserviert werden, wenn sie nicht eine große Anzahlung machten, fragte Anthony schon, wo die nächste Depositenkasse der Hardware Trustbank von New York sei.


»Wenn Sie herauskommen, gleich rechts, mein Herr. Dann müssen Sie noch einmal nach rechts abbiegen und die Geschäftsräume liegen vor Ihnen. Es ist aber gebräuchlich, daß man …«


Aber in diesem Augenblick kam eine willkommene Unterbrechung.


Jemand klopfte Anthony auf die Schulter. Er wandte sich um und sah in das Gesicht eines großen, liebenswürdig dreinschauenden Herrn, dessen dunkle Gesichtsfarbe darauf schließen ließ, daß er sein Leben in der frischen Luft verbrachte.


»Sie sind doch Mr. Newton?« fragte er erwartungsvoll.


Anthony trat einen Schritt zurück und streckte dann die Hand aus.


»Ich kann mich wirklich nicht auf Ihren Namen besinnen, aber ich kenne Sie doch so gut?«


»John Frenchan, von der Firma Frenchan und Carter. Sie erinnern sich doch an unser Geschäft in Kapstadt?«


»Aber selbstverständlich«, sagte Anthony begeistert und schüttelte die Hand des anderen kräftig. »Daß ich das vergessen konnte! Wo haben wir uns doch gleich kennengelernt? Aber jetzt weiß ich Ihren Namen. Er war mir früher so geläufig wie mein eigener.«


Er wandte sich von dem Tisch ab, und der Hotelangestellte wagte nicht, die beiden in ihrer Unterhaltung zu stören. Er schrieb mechanisch eine Zimmernummer hinter Mr. Newtons Namen, aber in seine Privatliste trug er ein: »Kein Gepäck.« Und dahinter setzte er ein Fragezeichen, das auch mehr als berechtigt war.


Anthonys neuer Freund führte ihn in den Palmengarten, wo die Herrschaften bei Kaffee und Zigarren saßen. Ein Kellner trat heran und setzte Stühle für sie zurecht.


»Sie haben ja schon gespeist – darf ich Sie vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen?« fragte Mr. Frenchan. »Mit welchem Schiff sind Sie denn herübergekommen?«


»Mit der Balmoral Castle«, antwortete Anthony.


In seiner früheren Stellung hatte er viel mit Schiffen und Schiffsverbindungen zu tun gehabt, und es waren ihm nicht nur die Dampfer der Castle Line geläufig, sondern auch der Name der bekannten Firma Frenchan und Carter, die zu den größten Importeuren von landwirtschaftlichen Maschinen in Kapstadt gehörte. In der Zeitung hatte er gelesen, wann die Balmoral Castle angekommen war.


»Ich habe Sie schon im Pallaterium erkannt«, sagte Frenchan. »Ich war meiner Sache ganz gewiß.«


»Wie?« fragte Anthony und entdeckte plötzlich, daß dieser Mann einer der drei Herren war, von denen er sich während des Mittagessens beobachtet geglaubt hatte. »Aber natürlich, ich habe Sie auch erkannt, ich wußte nur nicht, wo ich Sie unterbringen sollte.«


»Ich glaube, Sie haben auch viel Geld in Südafrika verdient?« Mr. Frenchan schien nach dem Ton seiner Stimme mit dem Erwerb seines eigenen großen Vermögens nicht recht zufrieden zu sein. »Es ist doch so leicht, Geld zu verdienen. Aber ich muß sagen, ich habe mich wohler gefühlt, als ich nur ein Pfund in der Woche hatte. Geld macht nicht glücklich!«


Anthony, der noch niemals so viel Geld besessen hatte, um sich zu einer solchen Auffassung aufzuschwingen, war ein wenig betroffen.


»Ja, ich habe ungefähr zwanzigtausend Pfund verdient.« Er zuckte die Schultern, um anzudeuten, daß eine solche Summe eigentlich nicht recht als Geld bezeichnet werden könne. »Aber ich war ja auch nicht lange in Afrika.«


Mr. Frenchan sah ihn mit neuem Interesse an. Als einen Vertreter der Kapitalisten könnte man Mr. Newton gebrauchen, aber wenn er ein selbständiger Kapitalist war, eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten, Geschäfte mit ihm zu machen.


»Kennen Sie die Goldheims sehr gut? Ich sah, daß Sie mit ihnen speisten.«


»Ich kann nicht gerade behaupten, daß ich sie sehr gut kenne«, entgegnete Anthony, der erkannte, daß er in diesem Augenblick nicht lügen durfte. »Ich habe sie eigentlich mehr durch Zufall kennengelernt.«


»Ein tüchtiger Geschäftsmann, dieser Goldheim.« Mr. Frenchan blickte nachdenklich auf seine Zigarre. »Er verdient sein Geld mit Petroleum. Der Mann ist eine Million wert, vielleicht auch zwei.«


»Sehen Sie einmal an!« Und um etwas zu sagen und auch zugleich einige nützliche Nachrichten zu sammeln, fragte Anthony: »Bleiben Sie lange in London?«


»Etwa drei bis vier Monate.« Mr. Frenchan machte ein unzufriedenes Gesicht. »Ich wäre überhaupt nicht hergekommen, wenn mein armer, verrückter Bruder nicht gestorben wäre.«


Anthony war gespannt, ob es die Armut oder die Verschrobenheit des verstorbenen Mr. Frenchan war, über die sich sein neuer Freund so aufregte. Sicherlich ärgerte er sich über eins von beiden, denn seine Züge verfinsterten sich.


»Ein Mann hat kein Recht«, explodierte er plötzlich, »die Mildtätigkeit bis zur Verrücktheit zu treiben. Wenn jemand sein Testament macht, soll er so über sein Vermögen disponieren, daß er seine Verwandten nicht lächerlich macht. Man soll sie beneiden, ja – aber nicht die Achseln über sie zucken.«


Anthony gab das ohne weiteres zu.


Mr. Frenchan sah entrüstet aus. Er schob seine Unterlippe vor und machte gerade keinen liebenswürdigen Eindruck.


»Wenn er tausend Pfund dem Waisenhaus, tausend Pfund einem Hospital in London und dann vielleicht noch zehntausend für ein Kinderheim hinterlassen hätte, würde niemand etwas dazu sagen. Persönlich bin ich auf das Geld meines Bruders überhaupt nicht angewiesen, ebensowenig meine Familie.«


Anthony entnahm dieser wegwerfenden Erklärung, daß der verstorbene Mr. Frenchan seinem Bruder überhaupt nichts hinterlassen hatte.


»Zu welcher Religion bekennen Sie sich eigentlich, Mr. Newton?« fragte Frenchan plötzlich und völlig unerwartet.


Anthony war einen Augenblick verdutzt.


»Ich gehöre zu den Altmethodisten«, sagte er dann. Wenn er überhaupt einer besonderen Kirche angehörte, so war es diese Sekte. Als Kind war er jeden Sonntagmorgen in ihre Kirche mitgenommen worden.


Der Eindruck, den diese Nachricht auf Mr. Frenchan machte, war überwältigend. Er lehnte sich weit in seinen Stuhl zurück und sah den jungen Mann lange groß an.


»Was für ein merkwürdiger Zufall«, sagte er dann langsam. »Sie sind der erste Altmethodist, dem ich in diesem Lande begegne.«


Anthony war sehr erstaunt. Er hatte niemals geglaubt, daß die Sekte, der er früher angehörte, einen solchen Eindruck hervorrufen könnte … und er dachte nun dankbar an die kleine Kapelle zurück, die er in seiner Jugend immer besucht hatte.


Mr. Frenchan erklärte dem jungen Mann, welche besondere Bewandtnis es damit hatte.


»Mein Bruder Walter war ein merkwürdiger Mensch. Ich will damit nicht sagen, daß der Altmethodismus eine merkwürdige Religion ist, aber mein Bruder ging in dieser Beziehung zu weit. Er beschäftigte zweitausend Leute in seinem Geschäft, aber er stellte nur Altmethodisten an. Es ist sicherlich eine gute Religion. Aber mein Bruder war so bigott, daß er alle anderen Bekenntnisse verachtete. Mr. Newton, Sie als ein Mann von Welt werden mir doch zugeben, daß das gerade nicht sehr großzügig von ihm war?«


Anthony stimmte ihm vollkommen bei.


»Und weil er nun diese sonderbaren Ansichten hatte«, fuhr Mr. Frenchan bitter fort, »bin ich in eine sehr unangenehme Lage gekommen. Ich habe zu meinem Rechtsanwalt gesagt: Bin ich denn nun gezwungen, jahrelang hier in London zu sitzen und mich um bedürftige, arme Leute zu kümmern, die zu den Altmethodisten gehören, nur um das Testament meines Bruders auszuführen? Ich wäre verrückt, wenn ich das täte!«


Mr. Frenchan war sehr aufgebracht und trank seine Tasse hastig aus. Es lag ein sonderbarer Ausdruck in seinen Augen, der Anthony zuerst etwas verwirrte, dann aber ermutigte.


»Wollen Sie noch einen Likör haben?« fragte Mr. Frenchan plötzlich.


Anthony nickte.


»Ich möchte, daß Sie meinen Rechtsanwalt kennenlernen«, fuhr Frenchan fort. »Das ist ein Mann, der Ihnen gefallen wird. Ein kluger Mensch, der in die Welt paßt. Ein bißchen argwöhnisch, aber ich glaube, daß das mit seinem Beruf zusammenhängt. Wahrscheinlich kennen Sie die Firma schon – Whipplewhite, Sommers und Soames.«


Anthony nickte wieder. Er hatte zwar niemals von einer solchen Firma gehört, aber der Name klang ganz nach Rechtsanwälten.


Mr. Frenchan sah auf die Uhr.


»Ich glaube, wir könnten ihn jetzt treffen. Sie werden es bestimmt nicht bereuen, seine Bekanntschaft gemacht zu haben. Er ist ein tüchtiger Schotte, aber ein Mann mit einem goldenen Herzen. Er sieht in jedem Menschen eigentlich einen möglichen Verbrecher.« Mr. Frenchan lächelte vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Aber schließlich wird ihn ja sein Beruf zu solchen Anschauungen gebracht haben«, meinte er nachdenklich.


»Ich habe bei meinem Rechtsanwalt ähnliche Wahrnehmungen gemacht«, sagte Anthony ruhig. »Im allgemeinen sind Juristen ja vorsichtige Leute, und die erste Folge der Vorsicht ist, daß man zunächst immer das Schlechtere vermutet.«


Mr. Frenchan stand auf.


»Kommen Sie mit. Wir wollen einmal sehen, ob es uns gelingt, ihn zu finden. Am ehesten treffen wir ihn jetzt in der Nähe des Gerichts. Mir liegt sehr viel daran, daß Sie ihn kennenlernen.«


Als sie durch den Empfangsraum gingen, sah ihn der Mann, der das Fremdenbuch führte, durchdringend an, aber Anthony kümmerte sich nicht weiter darum. Es war ihm durchaus nicht erwünscht, daß die Geldfrage in Gegenwart seines neuen, reichen Freundes erörtert wurde. Mr. Frenchan rief einen Wagen an, und nach kurzer Zeit hielten sie vor dem Portal des Zentralgerichtshofes.


»Sehen Sie, dort steht er«, sagte Mr. Frenchan. »Das ist aber ein unerwarteter Glückszufall.«


Ein schmächtiger, bleicher Mann, der düster dreinschaute, stand in nachdenklicher Haltung auf den Stufen der breiten, großen Treppe. Er trug einen tadellosen Zylinder und nickte Mr. Frenchan kurz zu. Man konnte sich leicht vorstellen, daß dieser Mann die ganze Welt von Verbrechern bevölkert glaubte. Er betrachtete die vielen Menschen, die durch die Türen eilten, mit dem Basiliskenblick eines zur Untätigkeit verdammten Henkers.


»Ich möchte Ihnen meinen Freund Newton vorstellen, Whipplewhite«, sagte Frenchan, und der Rechtsanwalt streckte den anderen seine kalte Hand entgegen. »Können Sie uns nicht irgendwohin begleiten – ich möchte Sie gerne sprechen.«


Mr. Whipplewhite schüttelte traurig den Kopf.


»Es tut mir leid, das ist nicht möglich«, erwiderte er kurz. »In einer halben Stunde habe ich einen Termin bei Gericht.«


»Ach Unsinn«, rief Mr. Frenchan laut. »Sie haben doch sicherlich einen Vertreter, der für Sie plädieren kann. Kommen Sie mit uns!«


Mr. Whipplewhite zögerte noch.


»Ich möchte es lieber nicht tun«, meinte er dann, als er auf die Uhr sah. »Fünf Minuten habe ich für Sie übrig, aber wir dürfen nicht weit von hier weggehen.«


»Wir werden schon ein Restaurant hier in der Nähe finden, und eine Tasse Tee wird Ihnen auch nicht schaden, Mr. Newton.«


Anthony war zwar so gesättigt, daß er im Augenblick nichts von Essen und Trinken hören wollte, aber er gab selbstverständlich seine Zustimmung, und bald saßen die drei in einem kleinen, nicht allzu hellen Restaurant, in dem Mr. Whipplewhite gewöhnlich verkehrte.


»Diesen Herrn kenne ich sehr gut von Südafrika her. Es ist Mr. Newton, ich habe Ihnen doch schon öfter von ihm erzählt.«


Anthony war über alles höchst verwundert. Es war offensichtlich, daß er mit einem anderen verwechselt wurde, aber er ließ ruhig alles über sich ergehen. Die dringende Frage des Mittagessens war ja nun zur Zufriedenheit gelöst, und ein reichliches Abendessen schien ihm auch zu winken, obwohl er weniger Hunger fühlte als seit langer Zeit. Über eins war er sich klar: er mußte große, wertvolle Gepäckstücke bringen, bevor er den argwöhnischen Portier soweit beruhigen konnte, daß er ihm den Schlüssel zu seinem Zimmer einhändigte. Das war eine Tatsache. Zweitens aber stand fest, daß Mr. Frenchan eine einflußreiche Bekanntschaft für ihn war.


»Mr. Frenchan, ich habe die Höhe des Vermögens Ihres Bruders genau festgestellt. Es beträgt nicht sechshundertvierzigtausend, sondern nur fünfhundertzwölftausend Pfund und sechs Schilling.«


Mr. Frenchan schüttelte nur unwillig den Kopf.


»Ich wünschte, es wären überhaupt nur sechs Schilling«, sagte er böse.


Der Rechtsanwalt wurde ungeduldig.


»Ich weiß, daß Sie mich für närrisch halten«, fuhr Mr. Frenchan fort, »aber Walter und ich waren sehr gute Freunde, und so verrückt auch seine letzten Bestimmungen sein mögen, ich habe die Absicht, sie genau auszuführen.«


»Aber warum übergeben Sie denn nicht das Geld der Kirche und überlassen ihr alles Weitere?« fragte Mr. Whipplewithe. »Das ist die einfachste Lösung, und sie wird Ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen. Bei der Kirchenverwaltung weiß man doch viel besser mit den Verhältnissen der Gemeindemitglieder Bescheid als Sie.«


»Das würde mit den Testamentsbestimmungen meines Bruders nicht übereinstimmen. In seinem letzten Willen steht doch ganz ausdrücklich: Am 1. Januar jedes Jahres soll ein Fünftel meines Vermögens einer vertrauenswürdigen, solventen Persönlichkeit übergeben werden, damit es an bedürftige Mitglieder der altmethodischen Gemeinde verteilt wird.«


»Am 2. Januar«, verbesserte ihn der Rechtsanwalt. »Aber Sie haben den Absatz nicht ganz richtig zitiert, Mr. Frenchan. Es steht dort: Ein Fünftel meines Vermögens soll sofort nach meinem Tode …«


»Selbstverständlich. Das zweite Fünftel wird dann am nächsten 2. Januar verteilt. So hatte ich es auch gemeint«, erklärte Mr. Frenchan.


Mr. Whipplewhite lehnte sich im Stuhl zurück und spielte mit einem Zahnstocher. Seine Blicke schweiften ins Leere.


»Ich möchte nur wissen«, sagte er langsam, »wo Sie eine achtbare, solvente Persönlichkeit finden wollen, der man so große Geldsummen anvertrauen kann? Es ist ja ganz gut und schön, daß Sie das Geld dem Testament gemäß verteilen wollen. Aber wie wollen Sie denn wissen, ob das Geld nicht in die Hände irgendeines Schwindlers fällt? Ich weiß schon.« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie wollen sagen, daß ich ja hier an Ort und Stelle bin und mich darum kümmern kann, daß das Geld richtig angewandt wird. Aber Sie müssen doch einsehen, daß ich ein sehr beschäftigter Rechtsanwalt bin und unter keinen Umständen die volle Verantwortung dafür übernehmen kann, daß jeder Pfennig des Geldes Ihres Bruders an unterstützungsbedürftige Altmethodisten gezahlt wird. Das kann man doch unmöglich von mir verlangen. Sie brauchen einen vermögenden Mann, dem man restlos vertrauen kann, und der auch eigenes Vermögen hat. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, würde ich ruhig sagen: Übertragen Sie ihm die ganze Sache und gehen Sie nach Südafrika zurück. Aber sollten Sie einen solchen Mann nicht finden, dann müssen Sie für die nächsten fünf Jahre in England bleiben, mein lieber Frenchan, ob Sie sich nun darüber ärgern oder nicht. Das muß Ihnen doch Ihr eigener Verstand sagen. Dann müssen Sie eben selbst die Verteilung des Geldes überwachen.«


»Das ist ganz ausgeschlossen«, erwiderte Mr. Frenchan nachdrücklich. »Außerdem bin ich doch selbst kein Altmethodist.« Er sah auf Anthony. »Sehen Sie, hier ist ein Mitglied dieser Gemeinde.«


»Sie wollen doch aber nicht damit sagen, daß Sie diese schwere Verantwortung einem jungen Mann übertragen wollen, der erst noch vorwärtskommen will? Der vielleicht nicht einmal die Zeit und die Neigung hat, sich solchen mildtätigen Aufgaben zu widmen?«


Anthony hörte schweigend zu und verstand allmählich die Zusammenhänge.


»Mr. Whipplewhite«, sagte Frenchan scharf, »ich kann Ihnen nicht gestatten, daß Sie beleidigend von Mr. Newton sprechen. Sie kennen mich nun schon lange Jahre und wissen, daß ich mich in meinem Urteil über Menschen noch nie getäuscht habe. Ich kenne Mr. Newtons Charakter ebensogut wie den Ihrigen.«


»Ich gebe gern zu, daß Sie gewöhnlich das Richtige treffen«, meinte der Rechtsanwalt zögernd. »Aber hier handelt es sich um ein etwas phantastisches, wenn ich so sagen soll, um ein verrücktes Testament, dessen einzelne Bestimmungen nur von einem –«


»Nur von einem Ehrenmann ausgeführt werden können, so wollten Sie sicher sagen«, unterbrach ihn Mr. Frenchan.


Aber der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf.


»Die Ehrenhaftigkeit ist ja gut und schön«, sagte er mürrisch. »Aber vor allen Dingen ist bares Geld notwendig. Wenn dieser Herr uns ein Vermögen von zehntausend Pfund nachweisen kann …«


Anthony Newton wagte kaum, einen solchen Glückszustand auszudenken. Er war etwas heiser, als er sich jetzt in die Unterhaltung mischte.


»Wenn Sie sich die Mühe machen und zu meiner Bank mitkommen wollen …« begann er, zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich weiß nicht, ob ich einen solchen Auftrag annehmen kann. Bitte bestehen Sie nicht darauf, Mr. Frenchan. Aber sollten Sie irgendwelchen Zweifel an meinen Vermögensverhältnissen haben, dann begleiten Sie mich bitte zur Bank von England, und sprechen Sie mit einem der Direktoren. Ich zweifle nicht, daß Sie dann in dieser Beziehung beruhigt sein werden.«


»Was habe ich gesagt?« rief Mr. Frenchan triumphierend. »Wollen Sie so liebenswürdig sein und Mr. Newton zur Bank begleiten?«


»Ich habe jetzt nicht die Zeit, nach Burlington Gardens zu gehen«, sagte der Rechtsanwalt. »Ich sagte Ihnen doch schon vorhin, daß ich nachher einen Termin habe.« Bei diesen Worten erhob er sich. »Aber wenn Mr. Newton in der Lage ist, bis heute abend fünftausend Pfund als sein Vermögen nachzuweisen, dann will ich als Testamentsvollstrecker Ihres Bruders Ihrer Wahl zustimmen.«


»Sie sind aber schrecklich kleinlich. Ich möchte meinen Freund nicht um dergleichen Dinge bitten.«


»Aber das hat ja nichts zu sagen«, entgegnete Anthony höflich. »Ich halte den Einwand, den Mr. Whipplewhite macht, für vollkommen berechtigt. Und wenn Sie mir eine Zeit und einen Ort angeben, dann will ich Ihnen gerne die Summe von fünftausend Pfund bringen. Aber ich kann sie nicht als Bürgschaft hinterlegen.«


»Ich habe ja auch gar nicht die Absicht, das zu verlangen«, erwiderte Mr. Whipplewhite. »Es genügt mir, wenn ich die Summe in Ihrem Besitz sehe.«


Anthony atmete tief.


»Es ist gerade noch genügend Zeit, zur Bank zu gehen. Also wo soll ich Sie wieder treffen?«


»Kommen Sie um halb acht zum Restaurant Cambrai in der Regent Street. Ich bin leider nicht früher fertig. Paßt Ihnen diese Zeit, Frenchan?«


»Ich protestiere eigentlich gegen die ganze Abmachung«, sagte Mr. Frenchan. »Aber wenn Mr. Newton so liebenswürdig ist, auf Ihren Vorschlag einzugehen, der meiner Meinung nach ebenso exzentrisch ist wie das Testament meines Bruders, dann habe ich schließlich gar nichts dagegen.«


Anthony eilte aus dem Café. Er hätte gerne vor den Augen seines neuen Freundes ein Mietauto bestiegen und dem Chauffeur den Auftrag gegeben, zur Bank von England zu fahren, aber er hatte ja nicht einmal mehr das Geld zu einer Autobusfahrt. Er ging also zu Fuß durch den Park und sah sich nach Zeitungen um, die die Leute weggeworfen hatten. Als er einige aufgesammelt hatte, ließ er sich auf einer einsamen Bank nieder und schnitt das Papier mit seinem Taschenmesser in gleichmäßig lange Streifen, legte sie zusammen und steckte sie in seine etwas abgetragene Brieftasche, die dadurch dick und umfangreich wurde.


Er war so eifrig bei seiner Arbeit, daß er nicht bemerkte, wie ein Mann quer über den Rasen auf ihn zukam und ihn aufmerksam betrachtete.


»Sie sammeln wohl Presseausschnitte?«


Anthony schaute auf und war sich über den Beruf des Fremden sofort klar. Er sah aus wie ein Gardefeldwebel in Zivil oder wie ein Detektiv-Sergeant von Scotland Yard in Alltagskleidung.


Anthony nickte vergnügt.


»Sie haben recht geraten.«


»Was haben Sie denn damit vor?« fragte der andere etwas offizieller.


»Jedes dieser Papiere stellt eine Hundertpfundnote vor«, entgegnete Anthony.


Der Detektiv setzte sich neben ihn.


»Es scheint so, als ob wir beide besser miteinander bekannt werden müßten«, meinte er.


»Das ist wohl möglich. Sie sind doch ein Beamter von Scotland Yard?«


»Ganz richtig – aber wie kommen Sie darauf?«


»Arbeiten zur Zeit viele Kautionsschwindler in London?«


»Soviel ich weiß, gibt es vier Banden – ist jemand hinter Ihnen her?«


Anthony nickte.


»Ja, dann müssen wir Sie wohl unter Beobachtung stellen«, sagte der Beamte.


»Um Gottes willen, machen Sie das nicht!« erwiderte Anthony erschrocken. »Sagen Sie mir lieber, wie diese Leute vorgehen.«


»Sie arbeiten alle nach derselben Methode. Gewöhnlich haben sie Geld an Arme und Bedürftige zu verteilen. Jemand hinterläßt zu diesem Zwecke Geld, und sie suchen nach einem ehrenhaften Mann, der sich in guten pekuniären Verhältnissen befindet und nicht allzu schlau ist, so daß man ihm das Geld anvertrauen kann, ohne fürchten zu müssen, daß er es bei Sektgelagen mit Choristinnen und Schauspielerinnen durchbringt.«


»Das ist recht wenig originell«, meinte Anthony lächelnd.


»Wenig originell und habgierig. Die Leute spekulieren im allgemeinen auf die Schlechtigkeit und Habgier ihrer Mitmenschen. Will man Sie etwa auch auf die Art und Weise hereinlegen?«


Anthony nickte.


»Ich bin ein junger Mann, der eben aus Südafrika zurückgekommen ist und einiges Geld dort verdient hat«, sagte er einfach. »Heute abend soll ich ihnen fünftausend Pfund zeigen, um meine Vertrauenswürdigkeit nachzuweisen.«


Der Detektiv sah schmunzelnd auf die Brieftasche.


»Aha, nun verstehe ich«, erwiderte er und wandte sich zum Gehen. »Und sollten Sie Unannehmlichkeiten bekommen, so will ich Ihnen auf alle Fälle meine Karte geben.«


Anthony kam zur verabredeten Zeit zu dem Treffpunkt. Der Rechtsanwalt wartete schon auf ihn. Er war in die Lektüre einer Abendzeitung vertieft und hatte ein Glas Absinth vor sich stehen.


»Ein gefährliches Getränk, Mr. Newton«, meinte er. »Aber es wirkt sehr wohltuend. Ich leide an schlechter Verdauung. Haben Sie inzwischen Mr. Frenchan gesehen?«


Anthony schüttelte den Kopf.


»Ein merkwürdiger Mann, aber durchaus glaubwürdig und ehrlich«, sagte der Rechtsanwalt. »Wie er sich bisher vor Verlusten geschützt hat, mag der Himmel wissen. Er vertraut gleich jedem ersten besten, ich möchte fast sagen, jedem hergelaufenen Kerl auf der Straße. Ich hoffe, daß Sie mir nicht böse sind, Mr. Newton, aber ein Rechtsanwalt muß nun einmal scharf vorgehen.«


»Das begreife ich vollkommen«, entgegnete Anthony.


In diesem Augenblick trat Mr. Frenchan ein. Zuerst sprachen sie über ein Ereignis, von dem in allen Zeitungen und Extrablättern berichtet wurde, dann seufzte Mr. Frenchan plötzlich auf.


»Nun wollen wir zum Geschäft kommen und sehen, daß wir möglichst schnell damit fertig werden.«


Er zog eine stattliche Brieftasche heraus und entnahm ihr einen dicken Stoß Banknoten.


»Aber warum in aller Welt haben Sie denn das mitgebracht?« fragte der Rechtsanwalt.


»Weil ich gar nicht einsehe, warum Mr. Newton uns trauen soll, wenn Sie ihm mißtrauen«, sagte Frenchan mit Nachdruck. »Ich vertraue Mr. Newton blindlings.«


»Aber sprechen Sie doch nicht so laut«, warnte der Rechtsanwalt. »Es ist doch gar kein Grund dazu vorhanden, Spektakel zu machen.«


»Mr. Newton traut mir ebenso«, fuhr Mr. Frenchan etwas ruhiger fort.


»Haben Sie das Geld mitgebracht?« wandte sich der Rechtsanwalt geschäftsmäßig an Anthony.


Mr. Newton zog seine Brieftasche heraus.


»Was habe ich Ihnen gesagt?« rief Frenchan. »Das ist ein Mann von Vermögen, ein Mann von Ehre, Whipplewhite. – Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« Er lehnte sich über den Tisch zu Anthony.


»Aber natürlich!«


Mr. Frenchan warf ihm seine Brieftasche in den Schoß.


»Nehmen Sie sie, gehen Sie fünf Minuten hinaus und kommen Sie dann wieder zurück.«


»Aber warum denn?« fragte Anthony.


»Ich will damit nur zeigen, daß ich Ihnen traue. Und ich darf dann voraussetzen, daß Sie mir gleiches Vertrauen entgegenbringen.«


»Ganz bestimmt«, sagte Anthony und nahm die Brieftasche an sich. »Aber sie enthält viel Geld, zählen Sie es bitte hier vor meinen Augen nach.«


»Das ist nicht notwendig«, erwiderte Mr. Frenchan überlegen. Aber trotzdem nahm er Anthony die Tasche aus der Hand, öffnete sie, zog ein Paket Banknoten heraus und drehte die beiden ersten Scheine um. Anthony sah, daß es wirklich Banknoten waren, und zwar Hundertpfundnoten. Darunter würden wahrscheinlich Fälschungen stecken, vermutete er. Aber die beiden obersten waren zweifellos echt.


»Ich tue es nicht gerne«, sagte Anthony, als ihm die Brieftasche wieder gereicht wurde. »Sie kennen mich doch nicht genügend.«


»Es wäre gut, wenn Sie den Vorschlag von Mr. Frenchan annähmen«, entgegnete der Rechtsanwalt höflich.


Anthony ließ also die kleine Ledermappe in seine Tasche gleiten und ging langsam aus dem Restaurant. Es fuhr gerade ein Mietauto vorüber.


»Halten Sie nicht!« rief er dem Chauffeur zu, als er auf den langsam fahrenden Wagen sprang. »Bringen Sie mich zum Victoria-Bahnhof!«


Während der Wagen durch die dunklen Straßen fuhr, nahm er die Tasche heraus und untersuchte den Inhalt. Die beiden Hundertpfundnoten waren tatsächlich echt.


In dem Restaurant warteten Mr. Whipplewhite und Mr. Frenchan auf Anthonys Rückkehr.


»Ein gescheiter Gimpel!« sagte Mr. Frenchan.


»Das sind sie doch alle«, erwiderte der andere verächtlich. »Nur die kann man noch leimen!«


Plötzlich fuhr er in die Höhe und sah einem Herrn von militärischem Aussehen ins Gesicht.


»Nun, warten Sie auf ein Opfer?«


»Ich weiß nicht, was Sie wollen, Sergeant. Wir warten hier auf einen Freund«, entgegnete Frenchan.


»Da werden Sie lange warten können«, meinte Sergeant Maud von Scotland Yard. »Ich habe den jungen Mann schon den ganzen Nachmittag beobachtet.«


Er lachte, daß seine Zähne zu sehen waren, und weidete sich an der Bestürzung und dem Schrecken der beiden anderen.


»Bei einer solchen Gelegenheit, lieber Herr, stehen alle früheren Polizisten im Himmel auf und singen Halleluja!«


10. Kapitel

10. Kapitel


Der Witzbold


Mr. Anthony Newton hatte sich über manche Erfahrung gefreut, aber manche hatte er auch stillschweigend ertragen müssen. Seine Wahl in das Parlament hatte ihm großes Vergnügen bereitet, denn die Wählerschaft war erstaunt, als sie plötzlich im Unterhaus durch einen Mann vertreten war, von dessen Existenz sie bisher noch nichts gewußt hatte. Aber er hatte auch die Petition über sich ergehen lassen müssen, daß ihm sein Sitz genommen werden sollte, und nach einer aufregenden und nicht ganz angenehmen Woche in dem bedeutendsten Parlament der Welt hatte er seinen Platz aufgegeben.


»Es ist immer besser, freiwillig zu gehen, mein alter Freund«, sagte sein Rechtsanwalt, »als hinausgeworfen zu werden. Und obendrein drohte Ihnen auch noch eine Klage wegen Komplotts.«


Aber Anthony Newtons Wahl ins Parlament hatte wenigstens ein glänzendes Resultat – sein Name wurde dadurch äußerst bekannt. Die Folgen dieses Abenteuers waren in mancher Beziehung belustigend und auch vorteilhaft, denn Lammer-Green wurde hierdurch auf ihn aufmerksam. Anthony saß in der Halle seines Hotels und rauchte nach Tisch eine Zigarre, als die nähere Bekanntschaft begann. Ein paar große Hände legten sich plötzlich auf seine Schultern, er wurde buchstäblich von seinem Stuhl in die Höhe gehoben, und eine rauhe Stimme sagte zu ihm:


»Geben Sie mir meinen Schilling wieder!«


Dann wurde er heftig gerüttelt, und man hörte eine Münze auf den Boden fallen.


»Ich danke Ihnen auch«, sagte die Stimme wieder, und Mr. Lammer-Green bückte sich, um ein Schillingstück aufzunehmen, das aus Anthonys Hosen gefallen war.


Vorher hatte er es ihm nämlich zwischen Hals und Kragen gesteckt und ihn dann so lange geschüttelt, bis es wieder auf den Flur fiel.


Anthony schaute wütend in das grinsende Gesicht Mr. Lammer-Greens. Er hätte ihn am liebsten umgebracht.


»Ach, Sie sind es!« rief er dann, denn erkannte den Witzbold und Spaßmacher von früher her oberflächlich.


Der ehrenwerte Mr. Lammer-Green war ein langer, knochiger, junger Mann, der keinen anderen Lebenszweck kannte, als Witze und Possen zu machen und seinen Spaß mit einer harmlosen Welt zu treiben. Früher war er einmal an Bord des französischen Kreuzers »Arlot« in der Verkleidung eines Sultans von Muskwash erschienen. Der Admiral war auch darauf hereingefallen und hatte zu seinen Ehren einen königlichen Salut abfeuern lassen.


Ein andermal war er mit einer großen Menge von Arbeitern erschienen und hatte die Fahrstraße von Piccadilly Circus aufgerissen, kurz vor Schluß der letzten Theatervorstellungen. Dadurch hatte er den Verkehr im Herzen Londons auf zwölf Stunden lahmgelegt. Auch hatte er schon drei Bürgermeister von drei Provinzstädten verhaftet und sie in einem extra für diese Zwecke gebauten schwarzen Gefangenenwagen nach London gebracht.


Er war der Sohn eines Lords und sollte später einmal den Titel erben. Außerdem war er sehr reich und Junggeselle.


»Man hat Leute schon für Geringeres als das totgeschlagen«, sagte Anthony etwas böse. »Na, nehmen Sie Platz, Sie lange, nutzlose Latte!«


Sie hatten sich, seit sie im Kriege zusammengekommen waren, nicht mehr getroffen. Anthony erwähnte es dem anderen gegenüber.


»Mit Krieg mag ich nicht gern etwas zu tun haben«, erwiderte Mr. Green entschieden. »Die Sache macht eigentlich keinen Spaß. Ich muß Frieden haben. Wissen Sie schon, welche großartige Sache ich in Greenwich angestellt habe? Beinahe hätte ich drei Monate Gefängnis dafür bekommen! Donnerwetter, das war einmal ein Vergnügen! Ich habe einen Kerl gemietet und ihm den Auftrag gegeben, auf das große Fernrohr des Observatoriums hinaufzuklettern und kleine, schwarze Flecke auf die Linse zu machen. Verstehen Sie, alter Freund, das waren dann Sonnenflecke!«


Er lachte laut auf und schlug sich vor Begeisterung auf die Knie.


Anthony sah ihn verwundert an.


»Ich kann gar nicht verstehen, wie ein großer, verständiger Mensch mit so viel Geld seine Zeit damit zubringen kann, nur dummes Zeug zu machen. Warum zum Teufel, heiraten Sie denn nicht und lassen sich irgendwo auf dem Lande nieder?«


»Das paßt mir ganz und gar nicht in den Kram.« Lammer-Green schüttelte sich. »Wissen Sie, ich kann Weiber nicht leiden. Ich bekomme immer eine Gänsehaut, wenn ich davon höre. Eine Frau würde mich bald unter dem Pantoffel haben und mich beherrschen. Das ist meine schwache Seite.«


Plötzlich begann er wieder zu lachen.


»Ist doch ein merkwürdiger Zufall, daß Sie ausgerechnet das Heiraten erwähnen. Ich habe nämlich von Ihnen gehört.«


»Von mir?« fragte Anthony verwundert. »In Verbindung mit Heiraten?«


Mr. Green nickte heftig.


»Sie werden ja den Rechtsanwalt – so eine Art Heiratsmakler –, den Sie an der Nase herumführten, noch nicht vergessen haben?«


Anthony konnte sich sehr gut darauf besinnen.


»Ich habe auch von dem Spaß erfahren, den Sie sich mit der Wahl gemacht haben. Ich habe es mir überlegt und zu mir selbst gesagt: ›Diesen verrückten Kerl mußt du dir einmal ansehen.‹«


Nun war Anthony Newton alles andere, nur kein Spaßvogel. Er betrachtete die Methoden und Praktiken, durch die sich Mr. Lammer-Green einen Namen gemacht hatte, als kindisch und verächtlich. Die beiden hatten zwar zusammen im selben Regiment gedient, aber man hätte sie unter keinen Umständen Freunde nennen können. Green wurde als ein liebenswürdiger Narr angesehen, trotzdem er auch beachtenswerten Mut besaß. Er war der letzte, dessen Bekanntschaft Anthony erneuern wollte. Selbst in den Tagen, als es ihm so schlecht ging, war ihm niemals der Gedanke gekommen, sich an ihn um Hilfe zu wenden.


»Ich muß Ihnen einmal etwas erklären, – ich habe nämlich eine große Sache vor.« Mr. Green sprach jetzt ganz leise. »Das wird ein Hauptspaß – das ist noch viel besser als die Geschichte mit dem Admiral. Unter allen Umständen ist es schon eine gute Vorbedeutung, daß Sie etwas von Heiraten erwähnt haben. Kennen Sie den alten Gaggle?«


Anthony schüttelte den Kopf.


»Der Mann hat Millionen in Margarine verdient«, erklärte Green schnell. »Er hat einen Landsitz in Oxton, ist geadelt worden und besitzt eine Tochter mit einem schrecklichen Gesicht im Alter von dreißig Jahren. Wenn die in London über die Straße geht, hält sie den ganzen Verkehr auf. Sie ist ganz fürchterlich, mein alter Junge, geradezu häßlich. Färbt obendrein noch ihr Haar und hat Füße so groß wie Ruderboote. Der alte Gaggle ist ganz verrückt und will sie an einen alten Aristokraten verheiraten. Haben Sie auch alles verstanden?«


Seine Augen glänzten vor Erregung, und er quietschte vor Vergnügen, als er an seinen herrlichen Plan dachte. Anthony hatte schon davon gehört, daß sich Mr. Lammer-Green die Hilfe anderer Leute verschaffte, aber er hatte sich auch in seinen wildesten Träumen nie eingebildet, daß er sich an ihn wenden würde, und war begreiflicherweise sehr neugierig. Wenn Lammer-Green als Endziel seiner Pläne irgendeinen rohen Witz betrachtete, so liefen alle Pläne Anthony Newtons auf Geldverdienen hinaus.


»Was haben Sie denn vor?« fragte er. Aber es dauerte noch einige Zeit, bevor Green zu lachen aufhörte und sich wieder so weit in der Gewalt hatte, daß er antworten konnte.


»Der alte Gaggle ist scharf auf Lords. Er hat ganz offen erklärt, daß er seiner Tochter eine halbe Million Mitgift gibt, wenn sie einen wirklichen Lord heiratet. Mein alter Herr hat auch von der Sache gehört und mir sofort die Neuigkeit übermittelt – er liebt auch einen kräftigen Spaß.«


Der Vater Lammer-Greens war Lord Latherton, der auch noch andere Dinge als die Witze seines Sohnes liebte, wenn das Gerücht nicht log.


»Ich habe folgenden Plan«,.sagte Mr. Green vertraulich. »Ich werde in Begleitung meines Sekretärs – den sollen Sie spielen, Newton, alter Knabe – in der Nachbarschaft des Landsitzes vom alten Gaggle eine Autotour machen und werde in der Nähe des Hauses krank werden. Sie gehen hinein, bitten um Hilfe und lassen dabei die Worte ›Seine Hoheit‹ fallen – haben Sie mich auch verstanden? Der alte Gaggle wird uns dann in sein Haus einladen, – ich werde in einem fremden Akzent sprechen, und der alte Gaggle wird sich sagen: Aha, das ist ein fremder Prinz, den wollen wir uns für Gertie oder wie seine Tochter sonst heißen mag, angeln! Ich werde dann erwidern: ›O ja, ich will mich in aller Stille trauen lassen, niemand darf um die Sache wissen, sonst werde ich meinen Thron verlieren.‹ Haben Sie verstanden?«


»Sehr gut«, sagte Anthony.


»Der Papa, der Prinz und Gertie werden dann zusammen zu irgendeinem Hause fahren, wo ein Geistlicher wartet. Sie müssen irgendeinen falschen Pfarrer besorgen, einer von Ihren Kameraden oder Freunden wird Ihnen zuliebe die Rolle schon übernehmen. Dann wird der Prinz zur Stadt fahren und geheimnisvoll verschwinden. Alle Zeitungen sind dann voll davon. ›Romantische Hochzeit. Das mysteriöse Verschwinden des prinzlichen Bräutigams. Wo ist Prinz Opscotch?‹ Was denken Sie von dem Spaß?«


»Und was soll denn mit mir geschehen? Soll ich auch verschwinden?« fragte Anthony trocken.


Er wollte eigentlich die ganze Sache ablehnen und nichts mit diesem phantastischen Vorhaben zu tun haben, das eigentlich recht roh und niederträchtig war. Anthony war Damen gegenüber immer sehr höflich, selbst wenn sie Füße wie Ruderboote hatten. Und er war auch etwas empört darüber, daß dieser verrückte Spaßmacher so selbstverständlich annahm, daß er ihm bei seinen dummen Streichen helfen würde.


Aber er war auch ein schneller Denker und wies infolgedessen den Auftrag nicht zurück.


»Das ist ein sonderbarer Plan. Aber er ist doch etwas grausam für die junge Dame«, sagte er vermittelnd.


»Ach was«, entgegnete Lammer-Green verächtlich. »Das tut gar nichts. Mein lieber, alter Freund, das wird mein Hauptspaß. Das ist eine ganz grandiose Idee, die größte, die mir jemals gekommen ist. Die ganze Welt wird darüber sprechen. Ich werde eine größere Sensation hervorrufen als der deutsche Schneider, der vorgab, Kaiser Wilhelm zu sein!«


»Ich werde mir die Sache noch überlegen.«


Als Mr. Green am nächsten Morgen Anthony wieder besuchte, erhielt er eine Zusage.


Sir Joshua Gaggle lebte auf seinem Gut in Oxton Manor. Es war ein alter Besitz, der früher einem normannischen Freiherrn gehörte.


Aber Sir Joshua hatte die Besitzung weniger wegen ihres Alters als vielmehr wegen des klingenden Titels gekauft.


Matilda Gaggle war eine schlanke Dame im Alter von neunundzwanzig Jahren. Sie hatte eine rötliche, gesunde Gesichtsfarbe, die man schließlich bei einem liebenswürdigen, großzügigen Charakter noch ertragen hätte, aber Matilda besaß auch eine scharfe Zunge und war verbittert, weil noch niemand um ihre Hand angehalten hatte.


Sie wollte aber nicht den ersten besten nehmen, da sie von einem gewissen Ehrgeiz besessen war.


»Ich glaube nicht, daß wir es hier auf dem Lande zu etwas bringen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Es wäre besser, wenn wir die Hälfte der Zeit in Hampstead wohnten, Vater. Durch deinen Adelstitel könntest du wenigstens in Hampstead eine gewisse Rolle spielen, aber diese Gegend wimmelt ja von Lords und ihrem Anhang, und niemand hält etwas von einem gewöhnlichen Sir. Du weißt doch, welche Erfahrungen wir gemacht haben. Wenn wir sie zum Essen eingeladen haben, waren sie immer irgendwo anders verabredet.«


»Es wird schon jemand kommen, mein Liebling«, meinte Sir Joshua hoffnungsvoll. »In Hampstead gibt es erst recht keinen richtigen Umgang für uns. Dort leben meistens nur gewöhnliche Leute, mit denen es sich nicht lohnt, zu verkehren.«


»Aber hier ist überhaupt niemand«, erwiderte Matilda ärgerlich.


Vater und Tochter saßen im Wohnzimmer, von dem aus sie den Park überblicken konnten. Beide sahen zugleich einen fremden Herrn, der die Zufahrtsstraße entlangkam.


Er war jung und tadellos gekleidet, auch sah er sehr hübsch aus. Matilda stand auf und ging ans Fenster.


»Wer mag das sein?« fragte sie, als Sir Joshua an ihre Seite trat.


»Ich weiß nicht, wer das sein könnte«, entgegnete er stirnrunzelnd und eilte in die Halle, um die Ankunft des Fremden zu erwarten.


»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Ihnen Unannehmlichkeiten mache«, sagte dieser bescheiden, »aber Seine Hoheit … ich meine, mein Herr hat einen leichten Ohnmachtsanfall erlitten, und ich möchte Sie fragen, ob Sie uns erlauben würden, eine Weile hier zu bleiben?«


»Aber gewiß, natürlich!« antwortete Sir Joshua erregt. »Bitten Sie seine Hoheit … wie darf ich ihn denn nennen?«


Anthony biß sich auf die Lippen.


»Sagte ich Hoheit – ach, wie indiskret von mir.« Offenbar war es ihm peinlich, daß er sich versprochen hatte. »Der Name meines Herrn ist Mr. Smith …«


»Würden Sie dann so liebenswürdig sein, Seiner … Mr. Smith zu sagen, daß er uns willkommen ist?«


Als Anthony gegangen war, eilte der aufgeregte Sir. Joshua strahlend ins Wohnzimmer zurück.


»Es ist ein Prinz, Tilda, eine Hoheit – nein, nicht der Mann, der an die Tür kam. Das ist nur sein Angestellter, oder so etwas Ähnliches. Ich meine den anderen. Er hat draußen einen Ohnmachtsanfall gehabt und ließ anfragen, ob er einige Zeit hereinkommen könnte, um sich auszuruhen.«


Miss Gaggle erhob sich schnell und ging rasch zur Tür. Ein prächtiges Auto fuhr die Zufahrtsstraße herauf. Der junge Mann, den sie eben gesehen hatte, saß am Steuer, und hinten im Wagen lehnte, ganz in seinen Pelz gewickelt, ein großer Herr von vornehmem Äußeren.


Er hatte die Augen geschlossen, und als der Wagen hielt, half ihm Anthony beim Aussteigen, denn er schien sehr schwach und angegriffen zu sein.


»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, gnädiges Fräulein«, sagte er leise. »Wir werden Ihre Freundlichkeit niemals vergessen.«


Tilda machte einen Hofknicks.


»Seien Sie versichert, daß wir es uns zur hohen Ehre rechnen, Euer … Mr. Smith«, sagte sie beinahe atemlos.


Der fremde Herr wurde in das Gastzimmer gebracht, und einige Minuten später kam Anthony mit sehr ernstem Gesicht die Treppe herunter.


»Ich fürchte, daß wir Ihre Gastfreundschaft diese Nacht in Anspruch nehmen müssen – ich kann einfach nicht zulassen, daß wir weiterfahren. Ach nein, er mag keinen Arzt sehen«, fügte er hinzu, als Sir Joshua diesen Vorschlag machte.


Sir Joshua hatte die Freude, daß sein hoher Gast mehrere Tage bei ihm blieb. Es waren für ihn hoffnungsfrohe, für seine Tochter angenehme Tage.


»Ich weiß noch nicht, ob er wirklich ein Prinz ist oder nicht«, sagte Matilda zu ihrem Vater, als sie allein in seinem Arbeitszimmer waren. »Aber er ist irgend jemand. Ich habe genügend Leute gesehen, die nichts vorstellten in der Welt, und ich weiß das. Er ist eine große, stattliche Erscheinung, und ich glaube, daß man ihn leicht leiten kann. Er ist ganz verliebt in mich.«


In der Abgeschlossenheit seines eigenen Zimmers sprach Mr. Lammer-Green über seine Hoffnungen und Befürchtungen zu Anthony.


»Ich hasse Frauen, die immer das Regiment führen, wollen, Newton. Sie ist das herrschsüchtigste Mädchen, dem ich jemals begegnet bin. Es wäre besser, wenn die ganze Sache schon vorbei wäre, ich fühle mich schon gelangweilt. Ist es Ihnen gelungen, einen Geistlichen aufzutreiben?«


Anthony nickte.


»Dann werde ich ihr morgen meine Erklärung machen. Wie die wohl erstaunt sein wird!«


»Das glaube ich auch«, pflichtete Anthony bei.


Am Abend saß Anthony noch spät bei Sir Joshua, der nach einigen einleitenden Phrasen auftaute.


»Sehen Sie einmal, Mr. Newton«, sagte er, denn Anthony hatte seinen richtigen Namen angegeben, »ich bin ein einfacher Mann, und ich möchte einmal offen mit Ihnen reden. Wer ist denn eigentlich Seine Hoheit?«


»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«


»Ist er – irgend jemand – ich meine, eine Persönlichkeit mit einem Titel?«


Anthony bejahte.


»Mehr wollte ich ja auch nicht wissen. Hat er Vermögen?«


»Er ist steinreich«, erwiderte Anthony prompt, aber Sir Joshua schien wenig damit zufrieden zu sein.


»Ich hoffte, daß er nicht über große Mittel verfügte. Im übrigen muß ich Ihnen sagen, daß meine Tochter für ihn schwärmt. Er ist doch noch nicht verheiratet?«


»Nein.«


»Haben Sie eigentlich einigen Einfluß auf ihn?«


»O ja, ich glaube schon.«


Nun ging Sir Joshua zum letzten Angriff über.


»Um es geradeheraus zu sagen, wenn Sie es fertigbringen, daß er meine Tochter heiratet, dann können Sie schon ein paar tausend Pfund verdienen!«


Anthony sah den Versucher lange Zeit an, bevor er antwortete.


»Auch ich bin ein Geschäftsmann«, sagte er schließlich. »Geben Sie mir Ihr Versprechen schriftlich.«


Sir Joshua streckte seine Hand aus.


»Geschäft ist Geschäft«, sagte er geheimnisvoll. Dann ging er zu seinem Schreibtisch und brachte unter gewissen Schwierigkeiten ein Dokument zustande, das unmißverständlich und klar abgefaßt war.


»Genügt das?«


Anthony las es durch und nickte.


»Wenn sich die Angelegenheit durchführen läßt, so werden Sie wohl verstehen, daß die Hochzeit in möglichst unauffälliger Weise vor sich gehen muß? Es wäre möglich, daß mein Freund unter einem angenommenen Namen heiraten muß.«


»Das habe ich mir auch schon alles überlegt«, erwiderte der geschäftstüchtige Sir Joshua. »Ich kenne auch ein wenig das Gesetz. Wenn man im Handel vorwärtskommen will, so muß man schon rechtskundig sein. Und es ist mir bekannt, daß eine Eheschließung eine Eheschließung bleibt, ob sie nun auf den eigenen oder auf einen anderen Namen vollzogen ist. Ich weiß, daß er irgend jemand ist, denn ich habe meinen Diener neulich beauftragt, seine Briefe durchzusehen. Ihrer Meinung nach habe ich mir sicherlich zuviel herausgenommen, aber ich will lieber Ihren Vorwurf ertragen, als ein Risiko auf mich nehmen. Mein Diener sah also einen Brief mit einer Krone und der Anrede: Mein lieber Sohn.«


Anthony war einen Augenblick bestürzt. Offenbar war Sir Joshua nicht so dumm, wie sich Mr. Lammer-Green einbildete.


»Ich erwarte nicht, einen Prinzen als Schwiegersohn zu bekommen«, fuhr der kleine, untersetzte Mann fort. »Sollte dies der Fall sein, so wäre ich natürlich aufs freudigste überrascht. Bringen Sie nur die Hochzeit zustande, mein Junge, dann werde ich Ihnen zweitausend Pfund auszahlen.«


Mr. Green lag in seinem Bett, als Anthony in sein Zimmer trat.


»Schließen Sie einmal die Tür«, sagte Mr. Green, »und sehen Sie die Zeitungsnotizen durch, die ich aufgesetzt habe. Lassen Sie alles mit der Maschine schreiben und schicken Sie es an möglichst viele Zeitungen, wenn die Hochzeit vorüber ist. Ich werde ihr sagen, daß ich der Großherzog von Litauen bin.«


»Aber Sie werden sich doch nicht unter diesem Namen und Titel trauen lassen?«


»Aber warum denn nicht? Das ist doch der beste Teil des ganzen Spaßes. Haben Sie sich denn schon nach einem Geistlichen umgesehen?«


»Ich habe auch schon die Kirche.«


Mr. Green richtete sich im Bett auf.


»Was meinen Sie?«


»Ich habe mir eine Kirche geliehen zu diesem Zweck, eine kleine Kapelle, die abseits am Wege liegt, ungefähr zwölf Meilen von hier, sie gehört zu einer, größeren Pfarrgemeinde, und der Geistliche kommt nur einmal in der Woche dorthin. Mein Freund hat den Schlüssel.«


Mr. Green warf sich wieder in die Kissen und brüllte vor Vergnügen.


»Sie sind der beste Assistent, den ich jemals hatte«, erklärte er und wischte sich die Augen. »Das war wirklich ein schlauer Gedanke, mich an Sie zu wenden, Newton. Ganz London wird vor Freude schreien, wenn das bekanntwird!«


»Ich möchte Sie aber etwas fragen«, unterbrach ihn Anthony. »Angenommen, dies sei der größte Spaß, der jemals gemacht wurde, seitdem die Albert Memorial Hall steht sind Sie auch davon überzeugt, daß Sie kein Unrecht begehen? Dieses unglückliche junge Mädchen hat Ihnen niemals etwas zuleide getan …«


»Aber sie versucht doch, mich für die Ehe anzufangen, und sie ist furchtbar herrschsüchtig. Sie fängt schon jetzt an, mich zu kommandieren, und es ist so selbstverständlich, daß ich ihr gehorche, daß ich mich schon wahnsinnig über sie geärgert habe. Sie ist ein entsetzlich herrschsüchtiger Teufel, Newton, ich habe tatsächlich keine Frau getroffen, die ihr ähnlich ist.«


Anthony verließ ihn, damit er sich alle Einzelheiten seines Planes noch genau überlegen konnte.


Am nächsten Nachmittag kam die große Stunde, in der Mr. Lammer-Green Miss Matilda Gaggle seinen Antrag machen wollte. Sie waren im Rosengarten, Und er lehnte sich in seinen großen Ruhestuhl zurück.


»Ach, Miss Matilda«, sagte er seufzend, »ich werde mich immer an diese glückliche Zeit erinnern!«


Er bedeckte seine Augen mit seiner großen Hand, und die praktische Miss Gaggle steckte ihm ihr Taschentuch zwischen die Finger.


»Ja, es waren sehr schöne Tage«, stimmte sie ihm bei. »Aber bewegen Sie doch Ihre Füße nicht so unvorsichtig, Sie werden noch die Weintrauben zertreten. Mr. Smith, warum tragen Sie eigentlich die Haare nicht auf der einen Seite gescheitelt? Ich kann diese zurückgebürsteten Haare nicht leiden!«


Mr. Lammer-Green hörte es und war verärgert.


»Ihr Diener hat Ihren Rock auch nicht ordentlich ausgebürstet.« Sie klopfte ihn leicht mit den Fingerspitzen ab.


Mr. Green zitterte. Sie war wirklich das unausstehlichste und herrschsüchtigste Mädchen, das er jemals getroffen hatte.


»Matilda«, sagte er so leise, daß sie einen Augenblick sogar ihren Ordnungssinn vergaß, »Matilda, müssen wir uns denn trennen?«


»Ich weiß nicht, warum wir das müßten«, erwiderte sie und küßte ihn einfach aufs Ohr …


Anthony Newton arrangierte alles.


»Der junge Mann hat eine große Zukunft, meine Liebe«, sagte Sir Joshua strahlend.


»Das glaube ich auch«, meinte Matilda. »Aber ich weiß nicht, ob ich ihn nach der Hochzeit noch zu sehen wünsche. Die Idee, die Flitterwochen zu verschieben …«


»Das schlug doch John vor. Er will doch nach der Trauung gleich zur Stadt fahren, um die Familienjuwelen zu holen.«


»Warum können wir denn das nicht zusammen tun? Nein, ich liebe diesen Mr. Newton nicht – er ist mir zu anmaßend.«


Der Bräutigam hatte allerhand Wünsche, die Anthony erfüllen sollte.


»Lassen Sie uns nur nicht allein, alter Junge«, bat er inständig. »Sie hat schon ohne weitere Umstände mein Ohr geküßt, ohne daß ich sie im mindesten dazu ermutigte. Sie ist eine schreckliche Frau, der man nicht trauen kann. Bleiben Sie bloß an meiner Seite, bis die Zeremonie vorüber ist. Ich habe Ihnen als Belohnung hundert Pfund versprochen, ich werde sie auf zweihundert erhöhen. Aber geben Sie nur nicht zu, daß sie mich noch einmal küßt.«


»Aber eine junge Dame hat doch auch ihre Rechte«, sagte Anthony bestimmt. »Wenn sie Sie küssen will, dann steht ihr das doch frei.«


Trotzdem blieb er an dem Vorabend der Hochzeit immer an der Seite Mr. Lammer-Greens, worüber sich Miss Gaggle nicht wenig ärgerte.


Anthony hatte auch noch eine ernste Unterredung mit ihm.


»Ich habe mir alles überlegt, Mr. Green, Es scheint mir, daß Ihr kleiner Scherz sehr böse für Sie enden kann. Kennen Sie das Gesetz über diesen Punkt?«


»Ach, lassen Sie mich mit dem Gesetz in Frieden«, erwiderte der erzürnte Freier.


»Es gibt nur eine Möglichkeit, einer Gefängnisstrafe zu entgehen«, sagte Anthony. »Sie müssen beweisen können, daß Sie das Opfer einer Intrige sind, Und ich will ja ganz gern den Schuft in diesem Stück spielen.«


Anthony erklärte ihm seinen Plan.


Morgen auf dem Wege zur Kirche sollte Mr. Green sich die Ohren mit Watte zustopfen.


»Aber mein lieber, alter Junge, dann höre ich ja nichts!« protestierte der Bräutigam.


»Aber das rettet Sie doch. Sie brauchen doch auch gar nichts zu hören. Wenn ich nicke, dann sagen Sie ja, und wenn ich Ihnen winke, dann sprechen Sie die bekannten Worte: ›Ich, der und der, und so weiter, nehme dich und so weiter.‹ Es ist gut, wenn Sie die Worte leise sagen. Das ist so Brauch, wenn die Leute heiraten. Wenn nachher irgendwie Unannehmlichkeiten kommen, können Sie ja sagen, daß Sie nichts gehört haben und dachten, ich heirate die junge Dame und Sie wären mein Brautführer. Die Zeitungen werden eine große Geschichte aus der Sache machen.«


Am nächsten Morgen waren sie eine Viertelstunde vor der Ankunft der Braut in der Kirche. Der Verabredung gemäß trug sie ein ganz einfaches weißes Kleid. Mr. Lammer-Green schüttelte sich, als er sie sah. Aber er war sehr zufrieden mit Anthony, denn der »Geistliche« sah ganz echt aus. Er hatte einen Schnupfen und war erkältet, genau wie die richtigen Landpfarrer. Seine Gewänder waren etwas alt und abgetragen, und seine Finger steif vor Kälte. Offensichtlich langweilte ihn die ganze Geschichte.


Mr. Lammer-Green paßte genau auf, schaute immerfort Anthony an und sagte auch richtig »Ja«, als die Zeremonie soweit gediehen war. Mit heiserer, kaum vernehmlicher Stimme murmelte er die Trauungsformel, als ihre beiden Hände vereinigt waren.


Als das glückliche junge Paar in die Sakristei ging, nahm Anthony Sir Joshua beiseite.


»Es tut mir leid, daß ich jetzt schon gehen muß«, sagte er. Sir Joshua nahm einen Scheck aus seiner Westentasche und überreichte ihn Anthony.


»Ich sah draußen zwei Wagen warten – einer davon ist wohl der Ihrige?«


»Es ist ein Mietauto«, erwiderte Anthony lakonisch. »Ich nehme immer Mietautos, wenn ich schnell fortkommen will.«


Sir Joshua eilte in die Sakristei und kam noch zur rechten Zeit, um dem ersten Familienstreit beizuwohnen, dem noch viele folgen sollten.


»Dein Name ist John Lammer-Green«, rief die neugebackene junge Frau mit schriller Stimme. »Das ist der Name, auf den die Heiratslizenz ausgestellt ist, und das ist der Name, auf den du geheiratet hast. Nun sei doch nicht verrückt!«


Mr. Lammer-Green verfärbte sich, und seine Hand zitterte beim Schreiben. Er hatte die Watte aus den Ohren genommen und konnte jetzt sehr gut hören. Er starrte entsetzt auf den Pfarrer.


»Entschuldigen Sie eine Frage … sind Sie wirklich ein Geistlicher?«


Der andere nickte.


»Ich bin der Kurator der St. Margaretenkirche.«


Der Bräutigam machte ein langes Gesicht.


»Dann bin ich ja wirklich … verheiratet?«


»Aber natürlich … Sie haben auf eine besondere Lizenz hin heiraten können. – Ihr Freund hat alles arrangiert.« –


Mr. Lammer-Green atmete schwer.


»Nein, der war nicht mein Freund«, stöhnte er, »er war wirklich nicht mein Freund!«