Kapitel 12

 

12

 

Fünfzigtausend Pfund! Sie versuchte, sich für den Plan zu begeistern. Kishlastan war sehr großzügig gewesen, aber er hatte sich auch immer ungeduldig gezeigt. Er war ein Mann ohne Ausdauer, und da er nun eine andere und viel entsetzlichere Rache an dem Volk nehmen wollte, das ihn demütigte, würde ihre Einnahmequelle bald versiegen.

 

Ob die Tat recht oder unrecht war, störte Diana nicht. Sie interessierte sich hauptsächlich dafür, wieviel Sicherheit und wieviel Gefahr sie bot. Sie hatte eine dunkle, nebelhafte Vorstellung von dem Verbrechen, das man Hochverrat nannte und auf das sehr hohe Strafen standen. Und doch – ihre Rolle war so klein, und Trayne würde sie – getreu seinen Grundsätzen so sorgsam schützen, daß Entdeckung selbst im schlimmsten Fall unmöglich schien.

 

Über eines war sie sich klar. Sie wollte das Buch, in dem Graham nächtlicherweise las, weder sehen noch mit Einzelheiten des Planes bekannt werden.

 

Dick Hallowell – welche unbekannte Rolle war ihm zugedacht? Der Versuch sollte in der Nacht stattfinden, in der er die Wache hatte, und sie fühlte beinahe ein teuflisches Vergnügen, daß auch er in die Sache verwickelt würde. Dick mußte wütend sein, wenn ihm jemals ihr kleines Gespräch mit dem Oberst zu Ohren kam. Auf jeden Fall hatte sie diese Heirat hintertrieben. Da sie seine Liebe zum Regiment kannte, zweifelte sie nicht, daß er bei der Wahl zwischen einem unbekannten Mädchen, von dem er sich betören ließ, und dem Verbleiben bei dem Regiment sich für seine Karriere entscheiden würde.

 

Da kam ihr ein Gedanke. Sie setzte sich an den Tisch, schrieb einen kleinen Brief, adressierte ihn an Leutnant R. H. Longfellow und sandte ihn durch einen besonderen Boten zum Tower. Vielleicht würde Bobby nicht kommen, aber sie hatte ihn in seiner Schulzeit gekannt, und er war immer sehr nett zu ihr gewesen. Sie mußte mit jemand aus dem Tower sprechen, um zu erfahren, wie Dick über sie dachte. Als Dombret an diesem Nachmittag um vier Uhr hereinkam und den jungen Offizier meldete, begrüßte sie ihn mit einer Wärme, die Bobby Longfellow sehr bedenklich vorkam.

 

Es war ihm nicht ganz leicht geworden zu kommen – sie sah das mit einem Blick und war nicht sehr erfreut darüber. Bobby stotterte etwas, daß er sie lange nicht gesehen habe, dann sagte er gleich, daß er sich für fünf Uhr verabredet hatte, was sie natürlich für vollständig aus der Luft gegriffen hielt.

 

»Es ist ganz abscheulich von Ihnen, daß Sie nicht früher schon einmal gekommen sind. Wie geht es Dick?«

 

Bobby räusperte sich.

 

»Oh, dem geht es sehr gut«, sagte er unbeholfen.

 

»Haben Sie ihm gesagt, daß Sie zu mir gehen?« Sie zwinkerte schalkhaft mit den Augen, als sie diese Frage stellte, und war nicht erstaunt, als er nickte.

 

»Ich dachte, das müßte ich tun – meinen Sie nicht auch?«

 

»Ich bin schrecklich neugierig, Bobby – wird sich Dick verheiraten?«

 

Bobby schaute auf die Decke und gestand, daß er nichts Genaueres darüber wüßte. Es war gerade kein guter Anfang, aber allmählich kam sie doch auf das Thema, auf das es ihr ankam. Sie frage ihn über den Oberst aus, und das fiel ihr leicht, da sie ihn ja gerade am Abend vorher gesehen hatte. Und vom Oberst zu Lady Cynthia war ja nur ein kleiner Schritt.

 

Bobby sah, daß sie sich nicht viel verändert hatte.

 

»Ich wünschte, Cynthia würde nicht so sehr gegen mich sein«, sagte Diana mit einem Seufzer. »Sie war doch in früheren Tagen so lieb zu mir. In ihrer Jugend war sie eins der ausgelassensten Mädchen in London und hat auch wohl tolle Streiche verübt – meine Mutter erzählte mir, daß allerhand böse Gerüchte über sie in Umlauf waren.«

 

Bobby machte ein dummes Gesicht.

 

»Aber jetzt gibt es keine Skandalgeschichten, die sie betreffen«, entgegnete er. »Ganz im Gegenteil, Diana, sie ähnelt mehr einem netten, alten Eisberg als einem menschlichen Wesen. Mir läuft es schon kalt den Rücken hinunter, wenn ich sie nur ansehe.«

 

»Haben Sie ihr gegenüber jemals meinen Namen erwähnt?« fragte Diana obenhin.

 

Bobby war es nicht recht wohl bei der Frage.

 

»Ich weiß es nicht«, sagte er ein wenig lauter als notwendig. »Es mag sein – es ist sehr leicht möglich –«

 

Und nun fing Diana an, ihn auszuhorchen.

 

»Könnten Sie vielleicht zu einer kleinen Gesellschaft am Fünfundzwanzigsten zu mir kommen?«

 

Bobby rechnete schnell nach.

 

»Es tut mir furchtbar leid, aber am Fünfundzwanzigsten muß ich wieder diese verfluchte Wache kommandieren«, sagte er. (Man konnte die Erleichterung in seinem Ton hören.) »Dick hat am Sechsundzwanzigsten die Wache – wir haben zur Zeit sehr wenig Offiziere zur Verfügung, drei von unseren Leuten liegen an Grippe krank, Joynson und Billingham sind auf Urlaub. Tatsächlich habe ich noch nie einen Posten beim Militär gehabt, wo ich so viel Dienst tun mußte wie im Tower. Man muß mehr Schildwachen ausstellen in dieser ekelhaften Festung als in einem richtigen Feldlager.«

 

Dann fragte er zu ihrer großen Überraschung: »Gefällt Ihnen Hope Joyner nicht?«

 

»Hope Joyner, warum denn, Bobby? Sie ist ein süßes Geschöpf. Ich kenne sie zwar nur oberflächlich; »aber – wer kennt sie denn überhaupt? Sie ist eine ganz geheimnisvolle Persönlichkeit.«

 

»Das finde ich aber wirklich nicht«, verteidigte sie Bobby kräftig. »Sie ist nicht geheimnisvoller als irgendeine Frau und ist ein selten hübsches junges Mädchen.«

 

»Sie wird gut zu Dick passen, wenn er sie heiratet«, sagte sie ruhig. »Aber er wird nicht gern den Dienst beim Regiment quittieren.«

 

Das war eine Herausforderung, die er in seiner jugendlichen Begeisterung annahm. »Warum sollte er denn das Regiment verlassen?« fragte er. »Sie ist doch keine Balletteuse – oder – oder hm – eine Person mit zweifelhaftem Ruf.«

 

»Natürlich muß er das Regiment verlassen«, sagte sie höhnisch. »Das wissen Sie ebensogut wie ich, Bobby. Hope Joyner hat keine Verwandtschaft, die irgend jemand von uns bekannt wäre.«

 

Bobby rückte unruhig hin und her und wurde rot.

 

»Wenn sie nicht gut genug für die Berwick-Garde ist«, sagte er verbissen, »dann ist die Berwick-Garde auch nicht mehr gut genug für mich! Ich bin nicht so versessen auf Militärdienst, daß ich nur einen einzigen Tag bliebe, wenn Dick seinen Abschied nimmt. Ich habe noch niemand etwas Schlechtes über Hope sagen hören. Alle Leute finden, daß sie eine der liebenswürdigsten und nettesten jungen Damen Londons ist!«

 

Es trat eine kleine Pause ein, dann sagte Diana gedehnt: »Ist das auch die Ansicht Lady Cynthias?« Aber auf diese Frage wußte Bobby keine Antwort.

 

Er hätte noch einige interessante Enthüllungen machen können, denn er hatte die Sache dieses unbekannten Mädchens zu der seinen gemacht.

 

»Ich würde nicht überrascht sein«, sagte er langsam und wählte seine Worte mit der größten Sorgfalt, »wenn man schon eine ganze Menge über Miss Joyner weiß, ehe noch ein Wort von Verlobung gesprochen wird.«

 

Diana sah ihn forschend an.

 

»Das ist ja sehr seltsam«, sagte sie. »Und wer wird Ihnen denn etwas darüber mitteilen?«

 

Aber Bobby gab keine weitere Auskunft. Er hatte sich vorgenommen, an diesem Abend Mr. Hallett in Monk’s Chase einen Besuch abzustatten, obwohl Mr. Hallett bis jetzt noch nichts von seiner Absicht wußte.

 

»Ich bin fest davon überzeugt, daß sich noch alles aufklärt«, sagte er und verabschiedete sich.

 

Diana war nicht ganz wohl zumute.

 

Bobby ging die Treppe hinab und konnte nicht recht verstehen, warum Diana nach ihm geschickt hatte. Mehr als je war er der Ansicht, daß etwas Katzenhaftes in dem Charakter dieser liebenswürdigen Frau lag. Diana wohnte im ersten Stock. Er hatte eben das Vestibül erreicht, als sich eine Tür vor ihm öffnete und ein Herr heraustrat. Bobby sah einen Augenblick lang in sein Gesicht. Es war ihm bekannt, aber er konnte es im Augenblick nicht unterbringen. Da der Portier in der Tür stand, fragte er ihn.

 

»Ich kenne diesen Herrn – wer ist es doch?«

 

»Das ist Mr. Trayne, Sir, er ist überall bekannt.«

 

»Trayne?« Bobby runzelte die Stirn. »Doch nicht Tiger Trayne? Dieser Mann, der –«, er wollte sagen, »der Besitzer aller Spielklubs ist«, aber er zog es vor, diese Bemerkung zu unterdrücken.

 

»Ja, Sir, das ist Mr. Trayne.« Der Portier war ebenso ein Mann von Diskretion, außerdem wußte er, daß Tiger nach allgemeiner Annahme der Besitzer dieses Häuserblocks und damit sein Chef war.

 

Natürlich! Bobby erinnerte sich jetzt an eine durchbummelte Nacht, die in einer vornehmen Westend-Wohnung endete, wo die Getränke frei waren und eine kleine Schar um einen grünen Tisch versammelt saß, um den Glücksgöttern goldene Opfer darzubringen. Bobby hatte Geld verloren, glücklicherweise nicht sehr viel, denn er war in solchen Dingen sehr vorsichtig, wie das ja oft bei reichen Leuten der Fall ist.

 

Auf dem Weg nach Piccadilly versuchte, er sich über gewisse böse Gerüchte klarzuwerden, die über Diana im Umlauf waren, Gerüchte, die in Wirklichkeit nicht die geringste Berechtigung hatten. Früher hatte sie einmal im Auftrag Traynes die leichtsinnige Jugend an seine grünen Spieltische gelockt, aber nie wieder.

 

Von Trayne wußte er nur so viel, wie man eben normalerweise von ihm erfahren konnte. Er war ein Abenteurer, der an hundert dunklen Geschäften beteiligt war, ein Mann, der am Rand der guten Gesellschaft lebte und mächtige Freunde an unerwarteten Stellen hatte.

 

Bobby besaß ein kleines Haus in der Curzon Street. Hier traf er seine Vorbereitungen und sah noch einmal die Nachrichten durch, die er von den Auskunftsbüros über Hope Joyner erhalten hatte. Ihre Abstammung war noch ebenso dunkel wie früher. Welche Methoden seine Agenten auch anwandten, sie kamen immer nur bis zu jener undurchdringlichen Wand, nämlich zu der Anwaltfirma, die einen nicht gerade guten Ruf genoß, obwohl sie Hopes Güter verwaltete und ihr die Gelder auszahlte. Er hatte alle Gerichtsregister durchschauen lassen, aber diese mühevolle Arbeit brachte kein Testament zum Vorschein, auf Grund dessen sie eine Rente bezog.

 

Mit großer Schlauheit hatte Bobby ihr Alter feststellen können. Sie war dreiundzwanzig. Er hatte schon alle Eintragungen ihres Geburtsjahres untersucht, aber obgleich man ihm in Somerset House alle Akten zugänglich gemacht hatte, konnte er keine Bestätigung dafür finden, an welchem Tag Hope Joyner geboren war. Es schien ihm nun die einfachste Sache von der Welt, den blinden Mr. Hallett zu fragen. Aber als die Stunde näher kam, verlor Bobby doch etwas von dem Unternehmungsgeist, den er zuerst hatte. Er äußerte seine Zweifel zu dem ersten seiner Detektive, einem melancholischen Menschen.

 

»Ich habe keinen Anknüpfungspunkt, das alte Lied«, sagte er verzweifelt. »Wie es dann weitergehen soll, weiß ich wohl.«

 

»Sie könnten sagen, daß Sie ein Freund der Familie sind«, sagte der andere. Bobby schüttelte den Kopf.

 

»Welcher Familie denn?« fragte er. »Es ist ja doch keine Familie da, deren Freund man sein könnte. Wenn es so wäre, würde ich doch nicht im ganzen Land nach dem Aufschluß suchen.«

 

»Warum wollen Sie nicht sagen, daß Sie ein Freund Hope Joyners sind?« sagte der Detektiv. Bobby war verärgert.

 

»Habe ich Ihnen denn nicht tausendmal erklärt, mein armer Junge«, sagte er gereizt, »daß Miss Joyners Name in dieser Sache überhaupt nicht erwähnt werden kann und daß niemand auch nur vermuten darf, daß ich mich mit ihren persönlichen Angelegenheiten befasse? Seien Sie doch vernünftig!«

 

Am Abend erreichte er Monk’s Chase und stieg an derselben Stelle aus dem Wagen, an der vor einer Woche Hope Joyner im strömenden Regen gestanden hatte. Die Pförtnerhaustür stand offen, in der Wohnung selbst schien niemand zu sein. Gemächlich ging er den Weg hinauf und läutete am Haupteingang. Einige Sekunden später öffnete sich die Tür geräuschlos, und ein alter Diener stand vor ihm.

 

»Mr. Hallett, Sir? Haben Sie eine Verabredung mit ihm?«

 

Bobby erklärte ihm sorgfältig, daß er keine Verabredung hätte, aber daß er eigens von London hergekommen wäre, um mit dem Besitzer von Monk’s Chase zu sprechen.

 

»Ich will einmal sehen«, sagte der Lakai und nötigte Bobby in einen kleinen Empfangsraum. Er ging hinaus, kam aber schon nach kurzer Zeit mit einer Entschuldigung zurück.

 

»Mr. Hallett fühlt sich nicht wohl«, sagte er, »und er bittet Sie, so liebenswürdig zu sein, ihm schriftlich Ihr Anliegen mitzuteilen. Er ist eben erst aus Paris zurückgekehrt und ist sehr ermüdet.«

 

»Kann ich ihn nicht wenigstens fünf Minuten lang sehen?« Dann schrieb er verzweifelt einen Namen auf ein Stück Papier, das er von einem kleinen Schreibtisch nahm, steckte es in einen Umschlag und übergab es dem Diener. »Bitte, überreichen Sie ihm diesen Brief.«

 

Der andere schüttelte den Kopf.

 

»Mr. Hallett ist blind, Sir. Sie wissen das wahrscheinlich nicht.«

 

Bobby war über seine eigene Dummheit aufgebracht.

 

»Hat er denn keinen Sekretär oder jemand, der ihm das vorlesen kann?«

 

»Es tut mir leid, er hat niemand«, sagte der Diener.

 

Hier stieß Bobby wieder gegen eine andere unüberwindliche Mauer. Die Tür schloß sich wieder hinter ihm. Er hatte nicht den geringsten Erfolg für alle seine Anstrengungen gehabt.

 

In unzufriedener Stimmung ging er die Zufahrtsstraße zurück, passierte das Pförtnerhaus und kam dann auf die Straße. Aber hier war ihm das Schicksal günstig. Vor seinem kleinen Auto stand ein alter Mann, der mit kindlicher Neugier die Figur auf dem Kühler betrachtete. Er war sehr alt und schaute ihn aus matten Augen an.

 

»Diese junge Dame sieht sehr kühl aus«, kicherte er. »Ich habe so etwas noch nicht in dieser Gegend gesehen.«

 

»Das glaube ich«, sagte Bobby. »Wie lange leben Sie denn schon hier?«

 

»Achtundneunzig Jahre«, antwortete er zittrig.

 

»Donnerwetter!« rief Bobby ehrlich erstaunt. »Da müssen Sie die Umgebung hier aber sehr gut kennen.«

 

»O ja«, sagte der alte Mann selbstzufrieden. »Ich erinnere mich an Monk’s Chase, als es noch der alte Lord Wilsome hatte.«

 

»Der jetzige Besitzer ist ein Mr. Hallett?« fragte Bobby interessiert.

 

»Ja«, sagte der Alte verächtlich. »Es ist mir so, als ob all dieser Aufruhr und Lärm erst gestern gewesen wäre. Er ist damals mit einer jungen Dame durchgebrannt, und ihr Vater kam sogar hierher, um ihn zu erschießen. Sie stammte aus einer sehr vornehmen, einflußreichen Familie.«

 

Bobby zitterte vor Aufregung.

 

»Wann war das?«

 

»Das war vor Jahren, als der Krieg in Afrika war. Mein Enkel verlor ein Bein und hat bis heute seine Pension. Ein hübscher Junge –«

 

Bobby unterbrach die Familienerinnerungen des Alten.

 

»Weiß sonst noch jemand etwas darüber?«

 

»Hier in diesem Dorf?« sagte der alte Mann geringschätzig. »Niemand weiß hier etwas! Das ist alles junges Volk – niemand außer mir und dem Wirt vom ›Pflug‹ ist länger als zehn Jahre hier.«

 

»Wie erfuhren Sie denn davon?« fragte Bobby.

 

Der Alte grinste.

 

»Meine Schwiegertochter war Köchin in Chase, und sie wußte es.«

 

Soweit Bobby sich die Sache zusammenreimen konnte, war die unbekannte Dame eine verheiratete Frau, die einen viel älteren Gatten hatte, dem sie mit dem anziehenden Mr. Hallett weggelaufen war. Sie wurde von ihren entrüsteten Eltern zurückgeholt (ihr Gatte verhielt sich dabei seltsam ruhig, anscheinend nicht ohne Grund, denn er starb bald darauf und hatte wahrscheinlich kein Interesse mehr an weltlichen Dingen) und verheiratete sich nach dem Tod ihres Mannes noch einmal.

 

»Es wurde alles sehr geheimgehalten«, sagte der Alte. »Totgeschwiegen – das ist das richtige Wort. Soviel ich weiß, hat sich die Dame wieder verheiratet.«

 

»Mit Mr. Hallett?« fragte Bobby.

 

Der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Nein, er hat niemals geheiratet. Wahrscheinlich hatten sie etwas an ihm auszusetzen, ich habe darüber nie etwas erfahren. Aber diese Lady Cynthia –«

 

Bobby streckte seine Hand nach dem erhitzten Kühler aus, um sich zu halten. Seine Aufregung war so groß, daß er nicht einmal aufschrie, als er sich den Finger verbrannte.

 

»Lady Cynthia?« keuchte er. »Ach du liebe Tante!«

 

»Ist sie das?« sagte der Alte. »Ich wollte nichts gegen Ihre Verwandten sagen.«

 

»Lady Cynthia – erinnern Sie sich, wen sie heiratete?«

 

Der Alte schüttelte den Kopf wieder.

 

»Das weiß ich nicht. Ich sah sie nur einmal – sie war eine sehr schöne, schlanke Dame mit einem großen grünen Ring am kleinen Finger. Hundert Pfund wert, wie die Leute sagen.«

 

In Bobbys Kopf wirbelte alles. Er kannte diesen grünen Smaragd. Wie oft hatte er gesehen, daß Lady Cynthia ihn hin und her drehte, während ihre kalten Augen forschend auf den jungen Offizieren ihres Regiments ruhten!

 

Der Alte konnte ihm nicht mehr viel sagen und ging langsam weiter. Er war ein wenig betäubt von der Liebenswürdigkeit, mit der ihn Bobby behandelt hatte. Mr. Longfellow setzte sich auf das Trittbrett seines Wagens und stützte den Kopf in die Hände.

 

Eins war gewiß: er mußte Mr. Hallett noch diese Nacht sehen.

 

Er ging die Straße zu dem malerisch gelegenen Dorf hinunter. Ein Gasthausschild erinnerte ihn an die Worte des alten Mannes. Der Wirt sollte ja die Geschichte von Mr. Halletts großem Abenteuer kennen. Er trat in das leere Gastzimmer. Hinter dem Tisch stand ein älterer Mann und trocknete ein Glas. Bobby grüßte ihn. Er war nicht so zutraulich wie der Alte, und es dauerte einige Zeit, ehe Bobby mit ihm ins Gespräch kam.

 

»Sie haben wahrscheinlich mit Gammer Holland gesprochen? Der schwätzt wie eine Frau! Ich weiß sehr wenig von der Sache, und ich kümmere mich auch nicht um die Skandalgeschichten meiner Nachbarn, besonders nicht um die eines Herrn wie Mr. Hallett, der – nun wohl kein Kunde ist, aber mit dem ich Geschäfte gemacht habe.«

 

»Kennen Sie die Dame?«

 

»Nein, Sir, ich habe nie nach ihr gefragt. Ich hatte eine Vermutung …, aber meine Vermutungen sind nebensächlich. Ich weiß, daß sie einige Zeit später einen Gardeoffizier heiratete das ist alles.«

 

Es schien wirklich so zu sein, denn Bobby konnte keine weitere Aufklärung von ihm bekommen.

 

Er hielt sich ungefähr eine Stunde lang in dem Gasthaus auf, und der Wirt setzte ihm ein erträgliches Essen vor. Sobald es dunkel wurde, ging er auf Erkundung aus. Er mußte um Mitternacht wieder im Tower sein, da er seinen Namen nicht in das Urlaubsbuch eingetragen hatte. Möglicherweise konnte er den Wächter noch erreichen, dessen Pflicht es war, Offiziere zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens einzulassen.

 

Es war schon finster, als er dem Haus wieder zuschritt. Er wählte diesmal einen Fußpfad, auf dem er unbemerkt zu einer Stelle kam, die dem Westflügel des Gebäudes gegenüberlag. Es war schon dunkel genug für seine Zwecke, als er dort ankam. Vorsichtig ging er über die breite Rasenfläche und erreichte das Haus. Ohne es zu wissen, schritt er durch das Tor, durch das Hope Joyner nach Monk’s Chase gekommen war.

 

Nun lag die Auffahrt vor ihm. Sie war mit knirschendem Kies bestreut, und er zögerte einen Augenblick, ob er auf dem Rasen bleiben sollte, als er plötzlich die hell leuchtenden Scheinwerfer eines Autos sah, die durch die Bäume vom Ende der Auffahrtsstraße her schimmerten. Er sah sich schnell nach einem Versteck um, konnte aber nur eine Nische finden, die durch den Vorsprung des Säulenvorbaues gebildet wurde. Er drückte sich zwischen Wand und Pfeiler und hoffte, daß die Lichter des Wagens ihn nicht verraten würden. Offenbar war er nicht gesehen worden, denn der Chauffeur hielt vor der Tür, stieg aus und klopfte an.

 

»Er wird gleich hier sein«, sagte eine leise Stimme, und der Mann kehrte auf seinen Sitz zurück.

 

Bobby wartete, und sein Herz schlug ein wenig schneller. Wenn der »er« Mr. Hallett war, was sollte er dann tun? Sollte er aus seinem Versteck hervorspringen, ihn liebenswürdig am Arm ergreifen und ihm sagen: »Ich muß ein paar Worte mit Ihnen sprechen?« oder –

 

Er hatte keine Zeit mehr, sich die Sache zu überlegen. Ein schneller Schritt klang auf den Fliesen. Mr. Hallett trat durch die Tür und nahm im Wagen Platz. Eine Sekunde lang hielt er an und steckte sich eine Zigarette an. Bobby Longfellow sah sein energisches Gesicht… Dann wußte er, daß er seine Gegenwart nicht mehr verraten durfte –

 

Kapitel 13

 

13

 

Graham Hallowell litt häufig unter Depressionen. Zweifel, Angst: und schlechte Laune quälten ihn. Seine Einsamkeit ließ ihm zuviel Zeit zum Nachdenken. In einer solchen Stimmung rief er Diana an und bat sie dringend, zu ihm herauszukommen. Aber sie hatte gerade eine sehr wichtige Verabredung. Er glaubte, daß sie ihm nicht die Wahrheit sagte, aber er tat ihr unrecht.

 

Mawsey, der Gärtner, war durch einen anderen jungen Mann ersetzt worden, der seine Pflichten mit derselben Pünktlichkeit versah wie sein Vorgänger.

 

Graham kannte jetzt den ganzen Plan schon auswendig, und je mehr er sich mit ihm vertraut machte, desto einfacher erschien ihm die ganze Sache. Trotzdem wurde er immer unruhiger. Die ganze Beschreibung Traynes schien ihm direkt verrückt zu sein, denn es war nichts davon gesagt, wie die Juwelen gestohlen werden sollten. Grahams Rolle war einfach genug. Aber er kannte die Gewohnheiten, die im Tower herrschten, und die außerordentlichen Vorsichtsmaßregeln, mit denen die Kroninsignien behütet wurden, nur allzu gut. Als sein Unbehagen wuchs, entschloß er sich, selbst die Schwierigkeiten in Augenschein zu nehmen, um die es ging.

 

Er wählte dazu einen Sonnabend, da er wußte, daß der Tower an diesem Tag von Menschen überfüllt sein würde. Er stellte sich beim Kartenverkauf an und erhielt eine kleine grüne Karte zum Eintritt zur Schatzkammer. Er folgte den anderen Besuchern durch die ersten Torbogen der Mauer entlang, bis er zu dem Blutturm kam.

 

Ein Aufseher wollte ihn zurückweisen, da ein bestimmter Weg vorgeschrieben war. Aber als Graham seine grüne Karte vorzeigte, erlaubte er ihm, weiterzugehen. Wieder mußte er warten. Die ganze Zeit über fürchtete er, von jemand beobachtet zu werden, der ihn kannte. Der Offizier der Wache war ihm fremd – er atmete erleichtert auf. Endlich stieg er die Stufen zum Wakefield Tower hinauf, in dem die Kronjuwelen aufbewahrt wurden.

 

Das äußere Tor war aus festem Eichenholz und auf der Rückseite mit schweren Eisenplatten geschützt. Als er die Tür erreichte, die vom Podest aus zur Schatzkammer führte, bekam er einen großen Schrecken, denn sie bestand aus zwei zehn Zentimeter dicken Stahltüren, wie sie die Banken hatten. In der Mitte des Raumes stand ein starker, von massiven Eisengittern umgebener Glaskasten. Er blickte hinein und sah einen kleinen Luftdruckmesser. Auch die Sicherheitstüren konnte er entdecken. Bei dem ersten Anzeichen einer Gefahr würde ein Aufseher, der besonders dazu angestellt war, den geheimen Hebel berühren, und die Klappen würden krachend herunterfallen. Nachts wurden entweder diese oder andere eiserne Vorhänge heruntergelassen, um den Kasten vollkommen dicht abzuschließen. Er konnte den stählernen Handgriff sehen, der sie in Bewegung setzte. Die Juwelen selbst interessierten ihn kaum. Der feurige Rubin des Schwarzen Prinzen, die flammenden afrikanischen Brillanten ließen ihn kalt.

 

Seine Blicke suchten überall nach den elektrischen Alarmglocken, die bei dem ersten Versuch, die Stahlläden zu öffnen oder das Glas zu zersplittern, den ganzen Tower in Aufruhr bringen würden. Die Anschlüsse waren unsichtbar, aber sie waren trotzdem vorhanden. Er machte einen langsamen Rundgang mit der Menge und war froh, als er wieder an die frische Luft kam.

 

Unten am Wakefield Tower befand sich ein großer häßlicher Wachraum aus roten Ziegelsteinen, der in seinem Stil nicht zu den anderen Gebäuden paßte.

 

Als Graham einen Aufseher sah, der im Augenblick nichts zu tun hatte, gab er ihm ein Trinkgeld, damit er ihm das Innere der kleinen Kirche zeigen sollte – des »traurigsten Heiligtums der ganzen Christenheit«. Aber weder die Wappen in dem quadratischen Fliesenbelag über den Leichnamen der Großen noch die namenlosen Gräber fesselten ihn.

 

»… Jawohl, Sir, nachts ist ein besonderer Wachtposten für die Schatzkammer vorgesehen, eigentlich sogar zwei.«

 

»Sie wird sehr gut bewacht«, meinte Graham.

 

»Bewacht?« Der Aufseher lachte. »Das kann man wohl sagen! Manchmal gibt es nachts Kurzschluß in den verdammten Alarmdrähten – und sofort steht der ganze Tower unter Waffen!«

 

Eine vielversprechende Aussicht, dachte Graham düster, als er die drohende Festung verließ. Er wollte zuerst nach Cobham zurückkehren, aber er hatte das Bedürfnis, Diana zu sehen. Er ging zu ihrer Wohnung, selbst auf die Gefahr hin, sie nicht anzutreffen. Seine Stimmung wurde nicht besser, als er Colley Warrington dort traf, der es sich im Wohnzimmer bequem gemacht hatte. Colley nahm ihm gegenüber eine merkwürdig nachlässige Haltung ein und grüßte ihn mit einem kühlen Nicken. Vielleicht gehört ihm überhaupt die Wohnung, dachte Graham.

 

»Hallo, Graham! Sie wohnen jetzt auf dem Land, hat man mir erzählt?«

 

»Ist Diana hier?« fragte der andere kurz.

 

»Ja, sie ist hier, wir wollen zusammen ins Carlton gehen!«

 

»Sie müssen sich eine andere Partnerin suchen – ich habe mit Diana längere Zeit zu sprechen.«

 

Colleys unverschämter Blick machte ihn rasend.

 

»Was für ein herrisches Auftreten Sie sich anmaßen«, sagte Warrington ironisch. »Leider hat Diana eine Verabredung und zwar geschäftlicher Natur.«

 

»Dann versäumt sie sie eben!« In seiner Erbitterung war er nahe daran, seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihr zu verraten. Zum Glück erschien Diana in diesem Augenblick. Als sie sein Gesicht sah, wußte sie gleich, daß etwas nicht in Ordnung war.

 

»Ich muß privat mit dir sprechen, Diana. Colley erzählte mir eben, daß er mit dir ausgehen will – kannst du vielleicht diese Verabredung aufheben?«

 

Sie sah zu Colley hinüber.

 

»Ich glaube, das geht«, sagte sie zu dessen größter Bestürzung.

 

»Meine liebe Diana –«; begann er.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Es tut mir leid, Colley. Aber ich glaube, die Sache ist sehr wichtig. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich um sechs Uhr ins Hotel nachkommen.«

 

Wenn Diana in diesem Ton sprach, war es nutzlos, zu protestieren. Colley Warrington blieb seiner alten Methode treu, lächelte und machte die größten Anstrengungen, seinen Ärger zu verbergen.

 

Sie ging mit ihm zur Tür. Als sie draußen im Gang waren, sagte er leise zu ihr:

 

»Ich glaube nicht, daß es klug ist, unseren Freund Graham wegen des Plans, den wir heute nachmittag besprachen, ins Vertrauen zu ziehen.«

 

Sie antwortete nicht darauf und schloß die Tür hinter ihm. Dann ging sie schnell zu Graham zurück.

 

»Was ist geschehen?« fragte sie.

 

Er sah sie mit zusammengekniffenen Augenlidern an.

 

»Was hat er dir draußen erzählt, das nicht hier in meiner Gegenwart besprochen werden konnte?« fragte er. Er war nicht eifersüchtig, aber im Augenblick war er mit seinen Nerven fertig.

 

»Er fragte mich heute nachmittag, ob ich ihn nicht heiraten wollte«, sagte sie ruhig. »Draußen bat er mich, dir nichts von diesem interessanten Vorschlag zu erzählen. Colley ist ekelhaft, aber er ist brauchbar. Nun, was hast du?«

 

Er ging auf dem Teppich auf und ab.

 

»Trayne ist verrückt – so verrückt wie ein Märzhase. Ich war im Tower, um mir die Schatzkammer anzusehen. Es ist leichter, die Bank von England auszuplündern!«

 

In wenigen Worten erzählte er ihr von den außerordentlichen Vorsichtsmaßregeln gegen Diebstahl.

 

»Der alte Narr denkt zweihundert Jahre zu spät«, sagte er. »Die Schatzkammer ist ein Geldschrank. Der schlaueste Einbrecher der Welt, ob er Engländer oder Amerikaner ist, könnte die Stahltüren nicht öffnen. Und wenn er es doch vollbracht hätte, böte ihm die Schatzkammer noch zweimal soviel Arbeit. Überall sind Alarmglocken angebracht, und alle Leitungen sind wahrscheinlich in den Wänden versteckt angelegt. Der Plan ist menschenunmöglich.«

 

Sie dachte nach.

 

»Es ist aber nicht Traynes Art, etwas Unmögliches zu unternehmen. Ich habe heute nachmittag mit Colley auch über ihn gesprochen. Er sagte auch, daß Tiger Trayne sehr schlau sei.«

 

Sie sah ihn lange und ernst an.

 

»Hältst du die Rolle, die du dabei spielen sollst, für gefährlich?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Sie ist wohl gefährlich, aber doch durchführbar. Ich glaube sogar, daß sie der genialste Teil des ganzen Plans ist. Ich habe genügend militärische Praxis – ich war in Sandhurst und zwei Jahre in Westshires. Nein, darüber bin ich nicht beunruhigt. Ich habe gute und starke Nerven. Was mich zur Verzweiflung bringt, ist der Diebstahl selbst. Trayne hat nur fünfzehn Minuten dafür angesetzt. Er brauchte allein solange, um durch das eiserne Tor zu kommen, und kann glücklich sein, wenn er es in der Zeit schafft. Ich habe mich doch in Dartmoor mit allen möglichen berühmten Einbrechern unterhalten – Vrenehy, der die Southern Bank ausplünderte, sagte mir, daß die tüchtigsten Einbrecher mindestens drei Stunden brauchen, bevor sie durch die Wände eines modernen Geldschrankes kommen. Gewöhnlich benutzen sie ein Wochenende, um die Sache auch richtig ausführen zu können. Und selbst dann müssen sie viel Bewegungsfreiheit haben. Dazu gehören elektrische Bohrmaschinen – nein, die Sache mit dem Tower ist einfach unmöglich, absolut unmöglich, Diana. Ich muß Trayne sprechen.«

 

Sie nickte.

 

»Er kommt morgen abend nach Cobham«, sagte sie. »Ich habe Nachricht von ihm. Er bat mich, um diese Zeit dort zu sein. Wir müssen diese Sache klären, Graham. Ich bin schon ganz krank davon.«

 

Sie beobachtete ihn, als er sich eine Zigarette ansteckte und das Streichholz zielsicher quer durch das Zimmer in den Kamin warf. Man konnte noch einen anständigen Mann aus Graham machen. Es hatte einige Hindernisse in seiner geistigen Entwicklung gegeben, die ihn aus der Bahn der Rechtschaffenheit getrieben hatten. Sie hatte ihn einst geliebt, leidenschaftlich, wahnsinnig geliebt – sie hatte ihn niemals ganz verachtet. In diesem schwierigen und wichtigen Augenblick fühlte sie, daß ihre alte Leidenschaft für ihn sich wieder regte. Es war kein unangenehmes Gefühl.

 

»Wir werden die Sache morgen nacht klären, Graham – und wir werden sie zusammen klären«, sagte sie.

 

Er bemerkte sofort den Wechsel ihres Tones und blickte schnell zu ihr auf. Vielleicht sah auch er mehr in ihr als eine lästige Fessel, denn sein angespanntes Gesicht überflog ein Lächeln. Es war das erste Lächeln, das sie an ihm sah, seit er aus dem Gefängnis entlassen war.

 

»Vielleicht ist es gar nicht wert, darüber zu sprechen«, sagte er. »Der alte Trayne ist sicher kein Narr. Er kennt die Schwierigkeiten so gut wie du und ich.«

 

»Sagt das Buch etwas darüber?« fragte sie. »Ich meine, ob es etwas darüber sagt, wie in den Wakefield Tower eingebrochen werden soll?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Er geht merkwürdig leicht darüber weg«, meinte er und lächelte wieder. Dann streckte er plötzlich die Hand aus. »Ich freue mich, daß du kommst, Diana. Ich weiß nicht, ob es die Atmosphäre dieses Zimmers oder dein persönlicher Einfluß ist – jedenfalls bin ich wieder viel froher und freier.«

 

Sie blieb keineswegs fröhlicher zurück; zu ihren anderen Sorgen war eine neue gekommen, die bis zu diesem Nachmittag noch nicht vorhanden gewesen war – die Angst um seine Sicherheit.

 

Kapitel 14

 

14

 

Dick Hallowell machte nicht häufig bei der Gattin seines Obersten Besuch, und Lady Cynthia war offensichtlich überrascht, als er gemeldet wurde. Sie saß auf der Kante eines niedrigen Sitzes vor dem Teetisch. Sie hatte eine gerade, schlanke Gestalt und feingebildete Züge. Ihre Lippen waren ein wenig zu schmal, um schön zu sein. Bobby hatte sein Urteil über Lady Cynthia in dem Satz zusammengefaßt: »Wenn man sie sieht, denkt man, sie ist dreißig, wenn man sie hört, denkt man, sie ist hundert.« Aller Charme und alle Frische eines Mädchens, alle herbe Weisheit einer Frau waren in ihr vereinigt.

 

»Es ist mir ein überaus großes Vergnügen, Dick«, sagte sie gedehnt. »Sie sind der erste. Soll ich den Tee bestellen?«

 

»Bitte nicht, ich hoffte Sie zu sehen, bevor die anderen kommen«, sagte er.

 

Es war Lady Cynthias ›Nachmittag‹: eine schwere Zeit für junge Leutnants, denn sie hatte ihre besonderen Informationsquellen, und mancher Jüngling hatte schreckensbleich vor ihr gestanden, während sie ihm eins seiner Abenteuer erzählte.

 

»Nehmen Sie Platz. Sie wünschen keinen Tee, aber Sie wünschen zu sprechen – natürlich über Miss Joyner«, begann Lady Cynthia richtig.

 

Trotz seiner Selbstbeherrschung fühlte Dick Hallowell, wie ihm das Blut in die Wangen stieg.

 

»Ja, über Miss Joyner. Ich habe sie auf morgen abend zu mir eingeladen und möchte mir die Frage erlauben, ob ich Sie bitten dürfte, die Hausfrau zu spielen?«

 

Ihre glänzenden blauen Augen sahen ihn unbewegt an. Sie machte eine Pause.

 

»Natürlich, ich werde mich freuen. Es ist Miss Hope Joyner, das junge Mädchen, das in Devonshire House wohnt – alle Welt spricht von ihr, man sagt, daß sie sehr hübsch sei.«

 

»Sie ist wunderschön«, sagte Dick begeistert.

 

Sie zuckte fast unmerklich die Schultern, und Dick, der es bemerkte, bereitete sich auf das Kommende vor.

 

»Sie ist eine von den Yorkshire Joyners, nicht wahr? Oder von denen aus Warwickshire – ich kenne eine sehr gute Familie dort seit vielen Jahren.«

 

»Ich weiß nichts über ihre Familie«, sagte Dick.

 

»Sie wissen nichts? Sie meinen doch nicht –?« Sie überließ ihm die Antwort.

 

»Ich meine, daß ich nicht weiß, wer ihre Verwandten sind, und daß sie selbst es auch nicht weiß. Sie ist eine Dame, und sie ist entzückend. Ich hoffe, daß Sie sie freundlich in unserem Regiment begrüßen, Lady Cynthia.«

 

Sie blickte jetzt auf den Teetisch nieder und seufzte.

 

»Es ist sehr schwierig, nicht wahr? Sie verstehen natürlich, Dick, wie außerordentlich sorgfältig man sein muß – in der Wahl der Frauen, die unsere Leute heiraten. Ich hoffe, Sie werden glücklich werden. Ob Sie bleiben –«

 

»Bitte quälen Sie mich nicht damit, ob ich bleibe oder nicht, wenn Sie das Regiment meinen, Lady Cynthia«, sagte er mit aller Geduld, die er aufbringen konnte. »Wollen Sie sie zuerst sehen?«

 

»Natürlich«, antwortete sie plötzlich. »Vielleicht haben Sie sie nicht nach ihrer Familie gefragt?«

 

»O doch, ich habe sie gefragt«, sagte Dick ruhig, als er sich erhob, um zu gehen. »Ich darf Sie also um acht erwarten?«

 

Sie hielt ihm die juwelengeschmückte Hand hin und lächelte.

 

»Ich hoffe, daß alles gutgehen wird, Dick«, sagte sie fast zärtlich. »Es würde uns allen leid tun, wenn Sie gehen müßten.«

 

Er rannte buchstäblich in Bobby hinein, als er die Wohnung verließ.

 

»Ich komme, um ihr mein allwöchentliches Opfer zu bringen«, sagte Bobby mißgestimmt. »Wie befindet sich die alte Dame?«

 

»Sie ist allein«, sagte Dick wild, »und ich wünsche dir viel Vergnügen!«

 

»Ach du lieber Gott!« sagte Bobby sanft und meldete sich selbst an.

 

»Der Mann, den ich sehen wollte!«

 

Er hatte diese Frau noch nie so fröhlich und begeistert gesehen. Schuldbewußt ging er alle Heldentaten durch, die er in dieser Woche begangen hatte, aber er konnte nichts finden.

 

»Ich sprach gerade mit Dick Hallowell – Sie sind doch ein guter Freund von ihm?«

 

»Ein ziemlich guter«, entgegnete Bobby vorsichtig.

 

Er wollte erst wissen, zu welchem Zweck er danach gefragt wurde, bevor er nähere Geständnisse machte.

 

»Wer ist diese unglückselige Joyner?«

 

»Eine sehr hübsche Dame«, sagte Bobby gleichgültig.

 

»Ist er verlobt?«

 

Bobby schüttelte den Kopf.

 

»Aber er möchte?«

 

Bobby nickte.

 

»Können Sie ihn nicht davon überzeugen, daß er sich damit unmöglich macht?«

 

»Sehen Sie, Lady Cynthia –« Bobby reizte es, ihr eine Antwort zu geben. Sie blickte ihn mit offenem Mund an, als er mit so entschiedener Stimme sprach. »Ich dachte, Sie wünschten nur keine Frau mit einer Vergangenheit in unserem Regiment?«

 

»Wir brauchen gerade Vergangenheit«, sagte sie gut gelaunt. »Aber eine Vergangenheit, die man hundert oder mehr Jahre zurückverfolgen kann.«

 

»Nicht zwanzig oder dreißig Jahre?« fragte Bobby. Sie wandte ihm sofort den Blick zu. »Ich meine, würden Sie eine Frau –«, sein Mund war trocken, und nur durch ungeheure Willensanstrengung konnte er seine Zunge bewegen, aber er war so begeistert von der schönen Hope, »würde eine Frau passend sein für unser Regiment, wenn sie eine unglückliche Affäre vor vielleicht fünfundzwanzig Jahren gehabt hätte – oder vielleicht auch vor sechsundzwanzig?« fragte er krampfhaft.

 

Man war sich im Regiment nicht einig, ob die Farben Lady Cynthias natürlich seien oder ob sie mit Puder und Schminke nachhelfe. Er hätte jetzt alle Zweifel beschwichtigen können, denn ihr Gesicht wurde plötzlich ganz weiß.

 

»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Mr. Longfellow – von wem sprechen Sie? Welche Frau hatte eine unangenehme Episode in ihrem Leben – vor fünfundzwanzig Jahren?«

 

»Ich sprach nicht von einer bestimmten Frau.«

 

»Sie sprechen doch von einer Frau«, bestand sie.

 

»Ich sprach von niemand«, sagte Bobby heuchlerisch. »Ich fragte nur, ob das rückwirkend ist.«

 

Sie holte tief Atem und bekam langsam wieder Farbe.

 

»Rätsel machen mir Kopfschmerzen.« Und als im Augenblick darauf der Adjutant und ein anderer Offizier hereinkamen, machte sie keinen Versuch, ihre Erleichterung zu verbergen.

 

»Guten Tag, gnädige Frau!«

 

Bobby pfiff, als er über den Platz schritt, und war so in Gedanken, daß er fast vergaß, die Grüße zu erwidern, als er mit langen Schritten an dem Wachthaus unter dem achthundertjährigen Fallgatter des Blutturmes vorbeiging.

 

Der Sergeant der Torwache stand am Ende der Brücke über den Festungsgraben und beobachtete das Eindrillen nachlässiger Soldaten. Er stand stramm, als sich der Offizier näherte. Bobby erinnerte sich, hielt an und fragte etwas.

 

»Ja, Herr Leutnant«, sagte der Sergeant. »Sir Richard ist eben weggegangen.«

 

Bobby lief schnell und holte seinen Freund noch ein, als dieser gerade in ein Auto steigen wollte.

 

»Ich gehe auch nach dem Westend«, sagte Bobby, als er sich neben ihm niederließ.

 

Er betrachtete Dick Hallowells umdüsterte Stirn und lächelte.

 

»Cynthia war aber in Form diesen Nachmittag, sie kam mir auch ganz rätselhaft vor. Nach deinem wilden und grimmigen Gesicht, mit dem du mich anranntest, habe ich angenommen, daß du mit ihr über Hope Joyner gesprochen hast.« Dick nickte.

 

»Sie scheint beschlossen zu haben, daß ich das Regiment verlassen muß«, sagte er bitter. »Und wirklich – ich weiß nicht, was man gegen sie tun könnte. Der Oberst hat sich in der Sache mit Graham sehr vornehm benommen, deshalb muß ich in dieser Frage nachgeben. Es kümmert mich wenig, daß ich meinen Abschied nehmen muß, obwohl das eine Familientradition bricht. Was mich kränkt, ist die stillschweigende Nichtachtung, die man Hope entgegenbringt.«

 

Bobby erinnerte sich plötzlich an etwas.

 

»Da du von Graham sprachst – er war diesen Nachmittag im Tower.«

 

Dick blickte erstaunt auf. »Zum Teufel, woher weißt du das?«

 

»Mein Bursche sah ihn – er besuchte die Schatzkammer.«

 

Dicks Gesicht verfinsterte sich.

 

»Graham gehört nicht zu den Leuten, die Vergnügen an großen Menschenmengen finden, und an einem Sonnabend hätte ich ihn am letzten hier erwartet.«

 

»Es ist vielleicht nicht so sonderbar, wie du annimmst«, sagte Bobby. »Das ist doch der einzige Tag, an dem er überhaupt zum Tower kommen kann. Denn es sind dann so viele Leute da, daß er unbemerkt in der Menge verschwindet.«

 

Dick schüttelte den Kopf.

 

»Warum sollte er unbemerkt sein wollen?« fragte er. »Schatzkammer? Ich habe niemals gewußt, daß Graham ein patriotisches Interesse an Kroninsignien hat.«

 

Der Gedanke an seinen Bruder beschäftigte sein Gemüt. Bobby sagte plötzlich zu ihm: »Bitte, versprich mir eins nimm deinen Abschied nicht – und verrate diese Absicht weder dem Oberst noch sonst jemand, bevor du dich mit mir ausgesprochen hast.«

 

»Es gibt nur einen Menschen in der Welt, mit dem ich mich darüber aussprechen kann, Bobby«, sagte er, »und den werde ich in fünf Minuten sehen.«

 

Er scheute vor diesem Gespräch zurück, als er in das schöne Vestibül von Devonshire House eintrat. Daß er Hope verletzen mußte durch die Erwähnung ihrer dunklen und unbekannten Herkunft, war ihm fürchterlich. Sie mußte den Kummer in seinen Zügen gelesen haben, als sie quer durch die getäfelte Halle auf ihn zuschritt, um ihn zu begrüßen.

 

Aber plötzlich lächelte sie.

 

Und dann nahm er sie ohne ein Wort bei den Schultern, beugte sich nieder und küßte sie. Er hatte sie vorher nie geküßt und fühlte, wie sie unter seinen Händen zitterte. Sie schwiegen. Es gab keine Liebesworte, keine geflüsterten Fragen und keine scheuen Antworten. Er legte den Arm um sie, und sie gingen in das Besuchszimmer.

 

Einen Augenblick sahen sie einander ernst und forschend an.

 

»Ich habe niemals davon geträumt, daß ich das tun würde«, sagte er einfach. »Aber – es geschah eben.«

 

Dann fuhr er fort, ohne auf eine Antwort zu warten: »Ich war bei Lady Cynthia Ruislip – der Gattin meines Obersten – diesen Nachmittag –«

 

»Und sie erkennt mich nicht an«, sagte sie schnell. »Sie hat mich niemals anerkannt – weil ich ein Niemand bin. Nicht wahr, Dick?«

 

Er nickte. Dieser Augenblick war nicht zu höflichen Erklärungen geeignet. »Wer hat dir dies gesagt?«

 

»Das weiß ich seit langer Zeit – ich habe es eben gefühlt. Bedeutet das, daß du deinen Abschied nehmen mußt?«

 

»Ich werde das Regiment verlassen – sowieso«, begann er.

 

»Du sagst mir nicht die Wahrheit – sie verlangen es von dir, aber ich werde es nicht zugeben.«

 

Ihre Stimme war stark und ruhig, er hatte sie niemals ernster gesehen. Ihre ganze Haltung zeugte von dem Protest, den ihre Lippen aussprachen.

 

»Jetzt noch nicht, auf keinen Fall. Du mußt erst wissen, wer ich bin, Dick, in gutem oder in schlechtem Sinn. Ich glaube, Lady Cynthia hat recht – mehr recht, als wenn sie Einwände gegen die Aufnahme der Tochter eines Schornsteinfegers in das Regiment erhebt.«

 

»Ich werde die Armee verlassen«, sagte er hartnäckig. Aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Du glaubst nicht, wieviel Anstrengung es kostet, nein zu sagen, Dick«, sagte sie und blickte ihn mit ihren wundervollen Augen an. »Alles in mir sagt so laut ja, daß ich mich wundere, daß du es nicht hörst.«

 

»Aber Hope, ich brauche dich.« Er drückte ihre Hände. »Ich kann nicht ohne dich leben – nichts auf der ganzen Welt kann mich bestimmen, dich aufzugeben! Ich liebe dich! Mein ganzes Leben dreht sich nur noch um dich.«

 

Sie sagte langsam und verhalten: »Du brauchst mich nicht aufzugeben, Dick –« Im nächsten Augenblick lag sie in seinen Armen. Seine Wange ruhte an ihrem heißen Kopf, und er fühlte das Zittern und Beben des Körpers, der sich eng an ihn schmiegte.

 

*

 

Wenn Mr. Trayne eine Fahrt vorhatte, fuhr er rasch und schlug Wege ein, die selbst der schlaueste Detektiv nicht vorher ahnen konnte. Sein Auto war erstklassig, es konnte jeden Verfolger weit hinter sich lassen, und für die Polizei war es nutzlos, abseits liegende Stationen zu alarmieren, daß man ihn bis zu seinem Ziel verfolgen sollte. Auf so einem sonderbaren Weg fuhr er heute in der Dämmerung über Reading nach Cobham. Diana war schon angekommen und nippte an einer Tasse Kaffee, die ihr der neue Koch gebracht hatte, als er in das hübsche kleine Wohnzimmer trat. Er vergewisserte sich mit einem Blick ringsum, daß die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen waren. Dann warf er seinen Hut auf das Sofa und setzte sich nieder.

 

»Sind Sie mit dem Schneider zufrieden?« fragte er.

 

»Ja«, sagte Graham. »Er hat heute anprobiert.«

 

»Gut!« Er lächelte über Dianas ernstes Gesicht. »Sie haben einen Schrecken bekommen«, sagte er, »und ich weiß, warum. Graham hat Ihnen von dem Plan erzählt.«

 

»Ja, er sagte mir alles, was er weiß.«

 

»Gut!« Er lachte leise wie über einen guten Witz. »Es handelt sich um das wenige, was er Ihnen gesagt hat – und um das wenige, das er nicht weiß. Deshalb sind Ihre Nerven am Ende, nicht wahr?«

 

»Trayne, diese Sache ist absolut unmöglich!« warf Graham ungeduldig ein. »Ich war gestern im Tower, um mir die Schatzkammer anzusehen und – es ist unmöglich! Es ist der wahnsinnigste Plan, der jemals ausgedacht wurde! Sie würden Stunden brauchen, um durch die Stahltüren zu kommen. Ich nehme an, Sie wissen, daß die Türen vor dem Eingang zu dem Raum armiert sind und daß jeder Riegel und Laden elektrische Kontakte hat. In dem Augenblick, in dem Sie versuchen, etwas zu berühren oder aufzuschneiden, würden in dem ganzen höllischen Tower die Glocken läuten!« Er schwieg außer Atem.

 

Trayne reagierte gar nicht darauf. Er war nur sichtlich belustigt.

 

»Ich weiß, daß Sie im Tower waren. Ich kann Ihnen die Nummer Ihrer Eintrittskarte sagen, den Namen des Aufsehers an der Kirche, und ich kann Ihnen auch Ihr Gespräch mit ihm erzählen. Das ist auch unmöglich, wie?« Seine scharfen Augen lagen forschend auf dem Gesicht Grahams. »Denken Sie denn«, sagte er langsam und nachdrücklich, »daß ich ein so vollkommener Idiot bin, daß ich dieses Wagnis unternehme – wenn es unmöglich auszuführen ist? Glauben Sie, ich weiß nicht ebenso wie Sie, daß armierte Türen vor jedem Eingang sind, daß es Alarmsignale an jedem Riegel und an jeder Platte gibt oder glauben Sie, Sie müssen mir erst diese Informationen geben?«

 

Der Sarkasmus in seinem Ton verwirrte Graham.

 

»Natürlich erwarte ich, daß Sie den Platz ausgekundschaftet haben – aber selbst dann –«

 

»Selbst dann denken Sie noch, sei es unmöglich? Wie lange vermuten Sie denn, daß ich an diesem Plan arbeite?«

 

Es war Diana, die die Antwort gab.

 

»Kishlastan ist sechs Monate im Land –«

 

»Kishlastan«, sagte er verächtlich. »Er ist weiter nichts als der Käufer, auf den ich seit zehn Jahren warte. Zehn? Vor zwölf Jahren tauchte zuerst der Plan in mir auf, den Gouverneur des Tower von seiner Verantwortlichkeit zu befreien. Seit zwölf Jahren sind die Kroninsignien meine Liebhaberei. Ich kenne sie so gut, daß ich aus dem Gedächtnis das Elfenbeinzepter, den Salbungslöffel, jede Krone, jedes Diadem zeichnen könnte. Ich könnte den Schnitt der großen Diamanten wiedergeben, könnte auf den Millimeter das Maß des Rubins des Schwarzen Prinzen angeben –«

 

Er hielt inne, lachte kurz auf, biß das Ende einer Zigarre ab und entzündete sie.

 

»Ach, ich könnte Ihnen noch viel mehr sagen. Ich bin einer der wenigen, außer den Offizieren, der mit den eisernen Läden umgehen kann. Ich kenne jede Alarmverbindung – die beiden Stahltüren am Eingang sind meine alten Freunde –, hören Sie?« Er senkte seine Stimme, legte seine Ellbogen auf den Tisch und beugte sich zu Hallowell.

 

»Wenn der Hüter der Kroninsignien eine Krone oder ein Zepter herausnehmen will, muß er dann erst Eisentüren durchschneiden – muß er den Tower alarmieren? Braucht er etwa Gasgebläse?«

 

»Natürlich nicht«, sagte Graham ungeduldig. »Er nimmt seine Schlüssel.«

 

»Also – er nimmt seine Schlüssel, er dreht seine Hebel, und in fünf Minuten nimmt er alles heraus, was er braucht. Und genauso werde ich es auch machen.«

 

Er rauchte nachdenklich seine Zigarre, seine Augen waren zur Decke gerichtet. Sie unterbrachen seine Betrachtungen nicht, und nach einer Weile fuhr er fort: »Haben Sie Ihr Besitztum schon durchforscht?«

 

Einen Augenblick dachte Graham, er spräche bildlich.

 

»Ich meine hier den Grund und Boden.«

 

»Ja. Ich bin herumgegangen. Warum?«

 

»Haben Sie den Steinturm gesehen?«

 

»Das Kornhaus? Ja.«

 

Trayne lachte.

 

»Kornhaus! Das ist sehr gut. Wir haben Sie nachts nicht gestört?«

 

»Mich gestört? Waren Sie denn hier?«

 

Trayne nickte.

 

»Jede zweite Nacht – ein halbes Dutzend von uns. Möchten Sie das Kornhaus besichtigen?«

 

Er erhob sich bei dieser Frage.

 

»Einen Augenblick, Mr. Trayne. Ich möchte Sie noch etwas fragen«, sagte Diana. »Niemand kennt die Konsequenzen besser als Sie, wenn wir entdeckt werden. Und doch scheint jedermann in Ihr Vertrauen gezogen zu sein – Graham, ich, die Leute, die Sie beschäftigen –« Er unterbrach sie lachend.

 

»Es ist nur ein bißchen schwierig zu beweisen, ja?« fragte er kühl. »Und wenn alles vorüber ist, was macht es dann aus? Es ist eine so großartige Sache – sie sieht mehr nach einem Krieg als nach einem Diebstahl aus. Es tut nichts, wer den Krieg beginnt – irgend einmal ist er im Gang. Und es tut nichts, wer diese Juwelen nimmt – irgend einmal sind sie eben weg. Es würde nichts ausmachen, wenn der Dieb die Regent Street entlangginge mit einem Plakat auf dem Rücken, das diese Tatsache verkündete. Die Frage nach der Bestrafung ist gering im Vergleich zu der Entdeckung des gestohlenen Eigentums. Außerdem ist Kishlastan beteiligt, wie Sie wissen, und Sie können ihn nicht von der Sache fernhalten, auch wenn Sie es versuchten.« Dann sagte er energisch: »Kommen Sie mit!«

 

Sie folgten ihm in den Garten auf einen ungepflegten Weg, der auf die Felder führte. Einmal wandte er sich um und warnte sie, Licht anzumachen.

 

»Wenn Sie mich nicht sehen können, Miss Martyn, fassen Sie mich besser an der Schulter, und Hallowell soll sich an Ihnen festhalten. Sie können hier nicht fehltreten.«

 

Schließlich stand der Turm undeutlich in der Finsternis vor ihnen, und ohne Zögern ging Trayne zu der kleinen Tür. Diana hörte das leise Schnappen eines Schlosses. Es war vollständig dunkel, als sich die Tür geräuschlos öffnete. Er riet ihnen, sich zu bücken, und führte sie in ein kleines, gewölbtes Zimmer. Man hörte ein Knacken, dann ergoß sich eine Flut von Licht über den Raum, das nach der Dunkelheit blendete.

 

Sie waren in einem kleinen Vorsaal, von dem eine Wendeltreppe nach oben führte. Der Eingang kam Graham bekannt vor. Zuerst bemerkte er, daß der Turm innen kreisförmig war, obwohl er von außen viereckige Gestalt hatte. Er war halbwegs die breiten Stufen hinaufgestiegen, als er mit einem Seufzer die Bedeutung und den Zweck des »Kornhauses« erkannte. Jeder Zweifel, den er noch hatte, wurde beseitigt, als sie zu dem Podest kamen, dem ein paar stahlarmierte Türen gegenüberlagen.

 

Tiger Trayne nahm einen Schlüssel aus seiner Westentasche, schloß sie auf, und sie schwangen schwer nach innen. Wieder eine Flut von Licht. Diana schaute mit offenem Mund auf die Szene, die sich ihren Blicken bot. In der Mitte eines kreisförmigen Zimmers befand sich ein großer Glas- und Stahlkasten, in dem symmetrisch eine Reihe hölzerner Blöcke und Stäbe lagen. Das Innere war hell erleuchtet. Graham erkannte den Inhalt.

 

Diese viereckige Büchse war die Krone Eduards, dieser lange Stab das Diamantzepter – der Kasten enthielt hölzerne Kronjuwelen, jedes an seinem besonderen Platz.

 

»Jetzt will ich Ihnen etwas zeigen«, sagte Trayne. Und als er sprach, hörten sie einen zischenden Ton. Schwere Stahlläden schlossen sich von innen über das Glas, so daß das Innere den Blicken entzogen war. »Passen Sie auf!«

 

Sie konnten nicht sehen, was er machte. Aber die Läden öffneten sich wieder. Er ging zu einem der Fächer des Gelasses, und Graham beobachtete ihn fasziniert. Er sah, wie er hineinlangte und den Holzblock herausnahm …

 

»Aber die Alarmglocken!« sagte er heiser.

 

»Sie werden nicht läuten, weil sie nicht können«, war die kühle Antwort. »Ich gestehe, daß das eine der größten Schwierigkeiten war. Ich mußte zwei Jahre lang schwer nachdenken, um dann endlich mit Hilfe eines geschickten schwedischen Elektrikers zu entdecken, wie man sie außer Tätigkeit setzen kann. Diese Schwierigkeit ist überwunden, Sie brauchen sich keine Sorge zu machen. Führen Sie nur alles das aus, was Ihre Rolle Ihnen vorschreibt – das übrige ist dann leicht. Ich muß Sie morgen abend sehen und dann jeden Abend bis zum Fünfundzwanzigsten. Sie werden dazu besonders eingekleidet werden.«

 

»Wenn nun aber ein Hindernis –?«

 

»Es wird kein Hindernis geben«, sagte Trayne kurz, als er das große Tor zuschloß.

 

Graham ging voraus durch die Felder. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf. Aber Diana bewahrte ihre kühle Ruhe. Sie übersah jetzt den ganzen Plan Tiger Traynes und wußte auch, daß er Erfolg haben würde, nur –

 

»Wie lange wird Graham fortbleiben?«

 

»Höchstens drei Monate«, sagte Trayne. Er senkte seine Stimme, als sie am Ende der Felder waren und den Rasenplatz vorm Haus überschritten.

 

»Glauben Sie, daß man ihn verdächtigen wird?«

 

»Kommt es denn überhaupt darauf an, wen man verdächtigt?«