Kapitel 22

 

22

 

Graham Hallowell war froh, als er zu seiner Kabine zurückkehren konnte. Im Vergleich zu dem dunklen, nassen Deck bot sie einen angenehmen, gemütlichen Aufenthalt. Er schloß die Tür hinter sich und sah nach Colley. Der Mann saß in einer Ecke des dunklen Gelasses, das Gesicht in den Händen vergraben. Er schaute auf, als Graham eintrat. Seine Zähne klapperten.

 

»Ich dachte, es wäre dieser schreckliche Kerl!« sagte er. »Wo haben sie Hope untergebracht?«

 

»Ich weiß es nicht.«

 

»Ich sollte die Kabine an der Backbordseite haben. Welches ist die Backbordseite?«

 

Graham hielt es für unnötig, eine so kindliche Frage zu beantworten. Er schloß die Tür in der Zwischenwand.

 

»Sie würden sich besser in mein – Staatszimmer setzen«, sagte er ohne große Begeisterung. »Ich gehe wieder nach draußen, aber ich werde die Tür zuschließen. Sie haben also nichts zu befürchten.«

 

»Was wollen Sie draußen tun?« fragte Colley.

 

»Ich weiß es noch nicht, aber dieser Kerl muß Hope an Land setzen, was auch geschehen mag.«

 

Er trat wieder auf den Gang hinaus, schloß sorgfältig ab und stellte weitere Nachforschungen an. Zuerst untersuchte er die Kabine, die auf derselben Seite des Schiffes lag, und als er hier keine Spur von Hope Joyner fand, ging er zum Deck zurück, um nach dem anderen Gang zu gelangen, der die ganze Länge des Oberbaues durchlief. Aber überrascht hielt er an. Der Gang an der anderen Seite war durch eine eiserne Tür verschlossen, die von innen festgemacht war.

 

Er stieg die Leiter hinauf, die zu dem kleinen Bootsdeck führte, und tastete sich behutsam vorwärts, bis er unter dem Dachvorsprung der kleinen Kommandobrücke war. An einer Seite der Brücke sah er zwei Gestalten, aber sie hatten ihn noch nicht entdeckt.

 

Er hielt sich unter der Brücke und ging auf die andere Seite. Eine Treppe führte von dort zum Vorderdeck, aber er sah sofort, daß man ihn beobachten konnte, wenn er hinunterging. So ließ er sich langsam neben der Treppe auf das untere Wellendeck hinunter. Das Manöver glückte, die Eingangstür zum Gang stand offen.

 

Das kleine Schiff schaukelte jetzt wie ein Spielzeug in dem starken Wind. Er wurde von einer Seite des Ganges zur andern geworfen, aber glücklicherweise machte es ihm nichts aus. Er fühlte sich nicht seekrank.

 

Die erste Kabine, die er fand, war wohl von den beiden Brüdern belegt. Es war ein schreckliches Loch, schmutzige Bettücher und halbnasse Ölkleidung lagen umher. Zwei leere Flaschen rollten bei jeder Bewegung des Schiffes von einer Wand zur anderen. Der nächste Raum gehörte dem Kapitän. Er war größer, aber genauso unsauber und unordentlich wie der vorhergehende. Die dritte und letzte Kabine war abgeschlossen. Er versuchte leise die Tür zu öffnen. Als das nicht ging, beugte er sich vor und schaute durch das Schlüsselloch. Drinnen rührte sich nichts. Der Raum war dunkel. Wenn er klopfte, würde das Hope zu sehr erschrecken, und außerdem brachte es keinen Vorteil.

 

Nach ein paar Schritten kam er zu der eisernen Tür, die auf das hintere Wellendeck führte. Sie war oben und unten fest zugeriegelt. Er zog die Riegel zurück, öffnete und ging auf das Deck. Die Tür schloß er wieder hinter sich zu.

 

Er sah niemand, nicht einmal einen Matrosen. Offensichtlich war die ganze Besatzung im Maschinenraum beschäftigt. Die ›Pretty Anne‹ hatte überhaupt keine Matrosen, die oben an Deck arbeiteten.

 

Als Graham zurückkam, um ein paar Bettücher und Kissen zu holen, war der lahme, seekranke Colley in die innere, dunkle Kabine zurückgekrochen. Er schloß seinen elenden Gefährten ein und ging zu dem Gang an der Backbordseite zurück. Dann befestigte er die Eisentür, setzte sich in eine Ecke und fiel in einen unruhigen Schlaf.

 

Er hörte nicht, daß Eli Boß kam, auch nicht, daß eine Tür geöffnet wurde. Aber das Mädchen, das auf dem Feldbett zusammengekauert lag, sprang sofort auf die Füße, als sie ein Knacken im Schlüsselloch hörte.

 

»Nun laß dich mal ansehen!«

 

Boß hatte die Tür hinter sich geschlossen – von diesem Geräusch wachte Graham auf…

 

Hope Joyner stand neben dem Bett. Sie hielt sich an dem hölzernen Seitenteil der Lagerstatt fest und beobachtete ruhig das schreckliche Gesicht, das ihr entgegenstarrte. Der Kapitän hatte die Laterne an einen Haken gehängt und begaffte das anmutige Mädchen. So etwas hatte er nicht erwartet. Sie sah, wie seine blauen, runden Augen immer größer und begehrlicher wurden. Doch selbst als seine große, schmutzige Hand sich nach ihrem Gesicht ausstreckte, zuckte sie nicht zurück. Sie schrie sogar nicht einmal, als er ihre weiche Wange berührte.

 

»Eine schöne junge Frau – ich habe noch nie so etwas gesehen wie dich – wie Seide fühlst du dich an.«

 

Jetzt schrak sie vor seinen ungeschlachten Händen zurück, mit denen er sie liebkosen wollte. Der Anblick ihrer Furcht schien ihn verrückt zu machen, denn unvermittelt griff er nach ihren Schultern und zog sie an sich.

 

»Bist ein schönes Mädchen«, flüsterte er heiser.

 

Etwas Hartes preßte sich plötzlich in die Mitte seines Rückens. Er ließ Hope los und drehte sich langsam um. Dabei kam das spitze Ding nach vorn auf seinen Körper. Er sah zuerst auf die Pistole und dann in Grahams ernstes Gesicht.

 

»Was wollen Sie?« fragte er und atmete schwer. »Ich dachte, Sie hätten keine Pistole –«

 

Als Antwort zeigte Graham mit dem Kopf nach der Tür.

 

»Was wollen Sie?« fragte Boß noch einmal.

 

Die Mündung der Pistole drückte sich gegen seinen Leib. Wenn er seine Hände heruntergenommen hätte, wäre das sein Tod gewesen, das wußte er… »Ich dachte, Sie hätten keine Pistole –«

 

»Gehen Sie hinaus«, sagte Graham kurz.

 

Der große Mann zögerte, aber dann ging er schwerfällig und langsam zur Tür. Er war kaum zwei Schritt davon entfernt, als er plötzlich hinausspringen wollte. Aber Graham hatte das erwartet und war draußen im Gang, bevor der andere die Tür schließen konnte.

 

»Boß, ich schieße Sie nieder wie einen Hund, wenn Sie mir noch weitere Schwierigkeiten machen. Ich lege Sie um und werfe Sie über die Reling. Ihre verdammten Söhne werden niemals erfahren, was aus Ihnen geworden ist! Colley Warrington ist in meiner Kabine. Was, da schauen Sie! Eine Anklage wegen Mordversuchs steht Ihnen auch noch bevor!«

 

»Was wollen Sie?« Eli Boß war nicht sehr beredt.

 

»Das werde ich Ihnen später sagen! Gehen Sie zur Brücke zurück und lassen Sie den Schlüssel hier!«

 

Graham nahm den Schlüssel aus der Tür und steckte ihn in die Tasche. Ohne ein Wort zu sagen, ging der Alte fort und verschwand in der Dunkelheit. Im Augenblick hatte Graham die Tür geöffnet und winkte Hope.

 

»Sie werden viel sicherer in meiner Kabine sein. Ich bin Graham Hallowell – Sie haben das wohl vermutet?«

 

Sie nickte.

 

»Es wäre gut, wenn Sie ein Bettuch und ein Kissen mitnehmen. Morgen will ich besser für Sie sorgen.«

 

Sie tat, was er sagte, und nahm beides mit sich. Graham mußte die Hände frei haben, um einem möglichen Angriff zu begegnen. Aber niemand trat ihnen in den Weg, und in ein paar Minuten waren sie in seinem Raum.

 

»Nein, ich bin nicht krank«, sagte sie. »Ich fühle mich nur so schrecklich elend! Ich glaube, man hat mir Chloroform gegeben.«

 

Er bat sie, sich auf das Lager zu legen, und deckte sie mit einem Bettuch zu. Obwohl sie vorgab, nicht müde zu sein, fiel sie doch gleich in Schlaf, als sie die Augen schloß, und ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig.

 

Graham setzte sich nieder, um die ganze Lage zu überdenken. In der inneren Kabine lag Colley Warrington, der vor Erschöpfung ebenfalls in Schlaf gefallen war – ein nutzloser Ballast. Beinahe eine Stunde saß er so, dachte nach, machte Pläne und bereute… Dann erhob er sich steif, schloß den Geldschrank auf und nahm den großen Kasten heraus. Er war mit einer Sprungfeder geschlossen. Als er dann drückte, öffnete sich der Deckel. Der Anblick, der sich ihm bot, war so schön, daß ihm der Atem verging. Er hob die Krone vorsichtig hoch und nahm sie in die Hand. Dann begann er nervös zu lachen.

 

»Wie seltsam! Wie verdammt seltsam!« sagte er.

 

Er riß sich zusammen, legte das Juwel wieder an seine Stelle, machte den Kasten zu und verbarg ihn in dem Geldschrank. Die Sache kostete ihn zehn, vielleicht auch zwanzig Jahre Gefängnis. Aber sein Entschluß war gefaßt, und wenn er den Rest seines Lebens hinter Mauern zubringen müßte, die Spitze der ›Pretty Anne‹ würde bei Tagesanbruch nach der Küste zeigen. Es mußte eigentlich schon hell werden. Mit großer Anstrengung schraubte er die Sicherheitsdeckel von den Fenstern. Dabei mußte er sich notwendigerweise über das schlafende Mädchen beugen. Sie erwachte mit einem leisen Schrei.

 

»Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Ich mache nur Licht und will etwas frische Luft in diesen schrecklichen Raum lassen.«

 

»Entschuldigen Sie, ich muß geträumt haben.«

 

»Schlafen Sie ruhig weiter«, sagte er. Aber dazu war sie jetzt zu unruhig. »Können wir nicht nach draußen gehen? Mir wird schlecht, wenn wir es nicht tun«, bat sie.

 

Graham zögerte.

 

»Gewiß«, sagte er dann und schloß die Tür auf. Er führte sie durch den Gang und nach dem hinteren Deck.

 

Sie hielt sich am Geländer fest und zog begierig die reine, frische Seeluft ein. Niemand war hier. Graham kletterte vorsichtig die Leiter in die Höhe und schaute über das obere Deck. Von Eli Boß war keine Spur zu entdecken. Aber er konnte einen Mann sehen und erkannte ihn als einen der Söhne des Kapitäns. Er lehnte vorn, auf das Geländer der Kommandobrücke gestützt.

 

Mit ein paar Worten erzählte ihm Hope, wie sie an Bord gekommen war, und er konnte ihre Angaben ergänzen.

 

»Nach Indien? Wie fürchterlich!« Als ihr die Lösung des Rätsels plötzlich klarwurde, fragte sie: »Steht der Fürst hinter der ganzen Sache?«

 

»Ich vermute es«, sagte Graham kurz. »Aber wir werden nicht nach Indien fahren. Sobald Sie wieder in der Kabine sind, spreche ich mit Eli Boß. Seine Pläne werden sich eben ein wenig ändern – und dann…«

 

Ein Bootshaken, von unsicherer Hand geworfen, flog an seinem Kopf vorbei und schlug ihm auf die Schulter. Er stöhnte vor Schmerz und drehte sich schnell um. Er sah gerade noch, wie sich die Gestalt von Eli Boß über das Bootsdeck erhob, gefolgt von zwei Kerlen seiner Besatzung. Der erste Schuß Grahams ließ den Neger in die Knie sinken. Bevor er wieder feuern konnte, sprang der Kapitän zur Seite und verschwand in der engen Tür, die in den Gang auf der Backbordseite führte. Er wütete. Der zweite Matrose schrie laut auf, floh in den Gang auf der Steuerbordseite und warf die eiserne Tür hinter sich zu. Graham drückte gegen den Türflügel, aber bevor er ihn aufzwängen konnte, hörte er, wie die Riegel vorgelegt wurden.

 

Er war von seiner Kabine und der Krone abgesperrt!

 

Er versuchte, in den unteren Gang einzudringen, aber auch hier war der Eingang geschlossen. Der einzige Weg, der übrigblieb, war die Leiter zum Bootsdeck. Er ging zwei Schritte in die Höhe, aber sein Kopf war kaum über dem Deck erschienen, als ein Geschoß an seinem Ohr vorbeipfiff. Der ohrenbetäubende Knall eines Gewehrschusses ertönte.

 

Dann vernahm er andere Geräusche. Jemand hämmerte an die Tür seiner Kabine. Er hörte den Klang einer tiefen, haßerfüllten Stimme und einen schrecklichen Schrei wie der Ruf eines Tieres in Todesangst – dann Schweigen.

 

Das Gesicht Hopes wurde bleich.

 

»Was war das?« fragte sie hastig. »Etwas Schreckliches muß geschehen sein!«

 

»Das Schrecklichste ist, daß Sie hier auf diesem elenden Schiff sind!« entgegnete er.

 

Er setzte sich an der Leeseite nieder und unternahm einen neuen Versuch. Er wickelte seinen Rock zusammen und hob ihn vorsichtig über die Spitze des Decks. Sofort krachte wieder ein Schuß, etwas streifte den Rock, und ein abgepralltes Geschoß summte über seinen Kopf.

 

»Also so liegt die Sache«, sagte er ruhig, als er auf das Deck ging. »Wir sind in einer Falle gefangen, wenn nicht –«

 

Er schaute auf die großen Luken, die die hintere Ladeöffnung bedeckten. Er schloß aus den heftigen Bewegungen des Schiffs, daß der Dampfer fast leer sei. Er glaubte zu erkennen, daß das Hinterdeck die Unterkunftsräume der Schiffsbesatzung enthielt. Aber um dahin zu kommen, mußte er wieder durch die Feuerzone der Schützen vor der Kommandobrücke.

 

»Ich bin schrecklich hungrig und durstig«, sagte Hope. »Könnte ich nicht etwas Wasser bekommen?«

 

In der Nacht hatte es heftig geregnet, und ein kleiner Teich hatte sich auf der Segeltuchdecke gebildet, mit der die Ladeluke zugedeckt war.

 

»Es wird nicht sehr schmackhaft sein, aber versuchen Sie es einmal«, riet er. »Halten Sie sich aber so dicht wie möglich an der Wand.«

 

Das Wasser war frisch, wie sie ihm sagte, und nachdem sie ihren Durst gelöscht hatte, suchte sie in ihren Taschen, in der Hoffnung, etwas Eßbares zu finden.

 

Auf dem Kanal war starker Verkehr. Ein großer Hamburg-Dampfer fuhr in Schußweite an ihnen vorbei, aber Graham konnte sich nicht verständlich machen. Er versuchte, mit seiner Taschenlampe ein Lichtsignal zu senden, aber der Schein der Lampe war zu schwach.

 

Plötzlich hörte er ein Plätschern und spähte über das Seitengeländer. Am Dampfer trieb etwas vorbei, drehte sich im Wirbel und verschwand in dem weißen Schaum der ›Pretty Anne‹.

 

»Was haben Sie gesehen?« fragte Hope.

 

»Nichts«, sagte Graham. Er hatte das Gesicht Colley Warringtons erkannt, dessen Körper zerschmettert über Bord geworfen worden war.

 

Es wurde elf, und es wurde zwölf. – Ein Uhr kam. Der Geruch gekochter Speisen drang zu ihnen.

 

»Wir müssen warten, bis es dunkel wird. Erst dann kann ich zur Brücke vordringen«, sagte er heiser.

 

Sie sah ihn neugierig an, und er wunderte sich, was sie wohl denken mochte. Jetzt sprach sie: »Sie sehen Dick sehr ähnlich.«

 

»Zu ähnlich!« antwortete er.

 

Beinahe hätte er ihr das Abenteuer der letzten Nacht erzählt, aber er dachte, es sei besser, daß sie die Wahrheit von jemand erfahre, der keinen Versuch machte, seine Handlungsweise zu entschuldigen.

 

Wo war Dick eigentlich? fragte er sich und begann fast Reue zu empfinden über den Kummer, den er über seinen Bruder gebracht hatte. Seine eigene Lage war jedoch zu verzweifelt und ließ ihm keine Zeit über das Unglück anderer nachzudenken.

 

Es war zehn Minuten nach eins, als er auf seine Uhr sah. Da kam ein Geräusch vom Deck her. Es wurde etwas über die Eisenplatten gerollt. Er sah ein großes Faß oben an der Treppe und dachte zuerst, daß man den Versuch machte, einen Angriff seinerseits auf das Oberdeck zu verhindern. Plötzlich kollerte das Faß aber langsam nach unten. Er hatte gerade noch Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, als es krachend auf das Deck aufschlug. Als er sich kurz umsah, bemerkte er, wie sich Hope gegen die Reling drückte. Dann fühlte er einen brennenden Schmerz in seinem linken Arm. Jetzt verstand er das Manöver – man hatte ihn aus der Deckung gelockt. Den ersten, der von der Brücke aus auf ihn zukam, konnte er noch niederschießen, aber dann waren sie über ihm – ein halbes Dutzend unbeschreiblicher Kerle. Mit Knüppeln und Messern schlugen und hackten sie auf ihn ein. Er riß sich los, schlug und schoß. Er sah, wie Eli Boß sich mit der Hand an die Kehle fuhr und mit einem Schuß in den Hals umfiel. Aber es waren zu viele. Auch von der Brücke wurde nach ihm geschossen. Die Kugeln schlugen gegen die eisernen Platten des Deckhauses hinter ihm. Wieder fühlte er den schrecklichen Schmerz in seinem linken Arm. In seiner Verzweiflung biß er die Zähne zusammen und schoß auf die Gestalt auf der Brücke – sah sie taumeln und fallen. Dann stürzte sich ein schwarzer Heizer auf ihn. Der Mann schrie gellend und war halb verrückt vor Wut und Angst. Graham stürzte nieder unter der erdrückenden Masse brutaler Menschen, die nichts anderes im Sinne hatten, als sein Leben…

 

*

 

Das kleine Flugzeug hatte die grüne Landschaft von Kent hinter sich, überflog den weißen Strich der Brandung an der Küste und kam dann auf die graublaue See hinaus. Unten sah man Schiffe und die Linien ihres Kielwassers, die sie in das Meer zeichneten. Einige fuhren zur Themsemündung, andere in entgegengesetzter Richtung, manche auf die französische Küste zu. Aus der Höhe gesehen, schienen sie sich kaum fortzubewegen. Einmal bemerkten sie auch ein Schiff, das der Beschreibung der ›Pretty Anne‹ zu entsprechen schien, und gingen dicht über ihm herunter. Aber es war ein großer Passagierdampfer. Das Flugzeug streifte rechts und links den Kanal ab, aber man konnte nichts von der ›Pretty Anne‹ entdecken.

 

»Das ist sie!« ertönte plötzlich eine Stimme an Dicks Ohr, und er sah ein kleines Fahrzeug unter sich, von der Sonne hell beschienen. Selbst von der Höhe aus glaubte er zu erkennen, daß das Schiff in Not war. »Die ›Pretty Anne‹!« rief Trayne, so laut er konnte, und zeigte wieder nach unten.

 

Dick hatte nur ein paar Sekunden, um einen Entschluß zu fassen. Sich direkt auf das Deck niederzulassen, hatte keinen Zweck. Das wäre sicherer Untergang gewesen. Man hätte erwarten müssen, daß Eli Boß und seine Kumpane sie als Zielscheibe benützt haben würden. Es blieb ihm nur eins übrig. Er spähte nach dem Zerstörer aus, der Befehl erhalten hatte, auszufahren und ihn draußen auf See zu treffen; aber er war noch nicht in Sicht.

 

»Ich werde sie einnebeln«, sagte Dick.

 

Er griff in die Bereitschaftskiste, entnahm ihr zwei handliche Tränengasbomben und warf sie über Bord.

 

»Machen Sie sich bereit zu springen!«

 

Dick drosselte den Motor. Die Maschine sackte langsam ab. Wenige Meter über Deck sprangen die beiden Insassen aus dem Flugzeug. Dann gab es einen furchtbaren, donnerähnlichen Krach, die beiden Flügel der Maschine zerschellten zwischen Schornstein und Kommandobrücke.

 

Das Tränengas hatte sich durch den steifen Seewind bereits verzogen. Tiger Trayne lag nach dem Absprung einen Augenblick besinnungslos am Boden. Als er wieder auf den Füßen stand, sah er Dick Hallowell nach hinten rennen, hörte das scharfe Krachen einer Pistole und folgte ihm auf dem Fuß. Der erste Mann, den er erkannte, war Eli Boß. Sein grauer Bart war rot und mit Blut verklebt. Seine schrecklichen Augen blickten wie irrsinnig.

 

»Wo ist Miss Joyner?«

 

Eli zeigte schwach nach unten, und als Tiger Trayne über das Geländer blickte, sah er das weiße Gesicht des Mädchens, das in einer Ecke des Decks zusammengekauert lag. Sie war ohnmächtig geworden. Er sprang die Treppe hinunter und hob die bewegungslose Gestalt auf, streichelte ihr Gesicht und sprach in zärtlichen, abgerissenen Worten zu ihr –

 

»Sie haben Graham niedergeschlagen!«

 

Er sah über die Schulter zu Dick Hallowell.

 

»Niedergeschlagen … Graham? Wo ist er? Nehmen Sie sie.«

 

Dicks Arme schlossen sich um Hope, und Tiger Trayne näherte sich der reglosen Gestalt auf dem Hinterdeck.

 

Es sah so aus, als ob Graham Hallowell nur noch ein paar Stunden zu leben hätte. Er lag bewegungslos in einer großen Blutlache, und Trayne dachte zuerst, er sei tot. Er beugte sich nieder und untersuchte ihn kurz. Einige Jahre hindurch hatte Tiger Trayne ein großes Londoner Hospital als Arzt geleitet. Er erkannte aber, daß die einzige Gefahr der zerschmetterte Arm war. Er band ihn schnell ab, um die Blutung zu stillen. Dann stieg er auf das obere Deck. Die Maschinen der ›Pretty Anne‹ standen still. Das Oberdeck sah durch die Bruchlandung sehr mitgenommen aus. Der Schornstein zeigte seitwärts ein großes ausgezacktes Loch, aus dem in dicken Schwaden der Rauch hervorquoll. Sämtliche Scheiben der Kommandobrücke waren zersplittert.

 

Die Leute, die Graham angegriffen hatten, lagen selbst schwer verwundet umher oder waren in ihre Kojen verschwunden. Der alte Eli Boß wurde von seinem Sohn verbunden. Sie waren in der Nähe der zertrümmerten Schiffsbrücke. Neben ihnen lag ein Toter, es war Joab Boß, den Graham mit seinem letzten verzweifelten Schuß niedergestreckt hatte.

 

»Wo ist Warrington?« fragte Trayne.

 

»Weiß ich nicht«, gurgelte der Kapitän.

 

Trayne sah sich um.

 

»Ob wir wohl dieses Boot ins Wasser bringen können?« fragte er Dick Hallowell.

 

Es war das kleine Motorboot, in dem man Hope von London aus auf das Schiff gebracht hatte. Die Krane schwangen noch nach außen. Es war einigermaßen schwierig, die Reste der Schiffsmannschaft zusammenzubringen, aber nach einer Weile war das Boot aufs Wasser gelassen und trieb neben dem Wellendeck. Aber es war nicht nötig, eine so waghalsige Fahrt zu machen. Der Zerstörer war in Sicht gekommen und näherte sich schnell. Bald war er so dicht bei ihnen, daß man das Rasseln des Maschinentelegrafen hören konnte, als der Kapitän stoppen ließ …

 

Kapitel 23

 

23

 

Es ist ein alter Grundsatz, daß Regierungen über dem bürgerlichen Gesetz stehen. Vier Leute warteten in verschiedener Stimmung, daß sich die zermalmenden Räder der Gerechtigkeit in Bewegung setzten. Graham Hallowell war sehr schwach – und gleichgültig gegen seine Umgebung, als er sich langsam wieder erholte. Er hatte nur eine Klage.

 

»Es wäre fürchterlich, wenn ich jetzt, wo ich dich erst richtig kennengelernt habe, Diana, wieder ins Gefängnis müßte.«

 

Sie lächelte ihn an.

 

»Das wird nicht geschehen, Graham«, sagte sie. »Ich fühle, daß es nicht geschehen kann. Sie haben ja ihre Krone zurück, und kein Wort davon ist in die Zeitung gekommen. Ich glaube nicht, daß sie jetzt noch einen Prozeß anstrengen werden. Aber wenn sie es doch tun sollten –«

 

Sie vollendete den Satz nicht. Sie wußte, daß das Leben keinen Wert mehr für sie hatte, wenn man ihr dieses neue, tiefe Gefühl für Graham nahm.

 

Tiger Trayne wußte, daß er dauernd von der Polizei beobachtet wurde, aber er wartete mit der Ruhe eines Mannes, der sehr viel weiß. Jeden Morgen, wenn der Diener ihm die Zeitung brachte, schaute er nach dem Wetterbericht. Zum Frühstück beklagte er sich wie stets über die Qualität des Kaffees. Wenn er ausging, folgte ihm ein Schatten, aber das störte seinen Gleichmut und seine gute Stimmung nicht.

 

Dick Hallowell war ärgerlicher denn je, obgleich er von seinem Vorgesetzten informiert worden war, daß der Vorfall als abgeschlossen betrachtet wurde.

 

Da machte ihm Lady Cynthia eines Nachmittags einen unerwarteten Besuch.

 

»Ich habe Sie gestern abend im Ritz gesehen«, sagte sie. »Sicherlich war die reizende junge Dame Hope Joyner?«

 

»Jawohl, gnädige Frau«, sagte Dick kurz.

 

»Wann werden Sie mit ihr Ihren Besuch bei mir machen?«

 

Dick warf ihr einen überraschten Blick zu.

 

»Ich wußte nicht, daß Sie Hope wirklich sehen wollen, Lady Cynthia.«

 

Doch sie nickte ihm freundlich zu.

 

»Ich möchte die Bräute doch kennenlernen, bevor sie ins Regiment kommen. Sie kommt doch?«

 

»Ich nehme meinen Abschied, Lady Cynthia.«

 

»Das werden Sie nicht tun«, entgegnete sie in ihrer alten, würdevollen Haltung. »Ich würde mich sehr freuen, wenn Hope zu uns käme. Ich möchte ihr eine – eine Mutter sein.«

 

So viel Zärtlichkeit lag in dem Ton ihrer Stimme, daß Dick nur noch verwundert den Kopf schütteln konnte.

 

*

 

ENDE

 

Kapitel 16

 

16

 

Der Morgen des Sechsundzwanzigsten zog herauf, nicht freudig und fröhlich, sondern düster und grau. Ein weißlicher, dünner Dunst lag über den Wassern der Themse. Darüber wölbte sich ein schwerer Himmel mit dunklen Wolken. Gegen zwölf Uhr verwandelte sich das feine Rieseln in einen richtigen langweiligen Landregen, der den ganzen Nachmittag über anhielt.

 

An solchen Tagen ist der Tower verzweifelt trostlos. Der kleine Exerzierplatz ist leer und verlassen. Besucher kommen nur ganz vereinzelt. Die Posten stehen in den Schilderhäusern. Die Aufseher mit den farbenfreudigen langen Röcken verschwinden in Torwegen oder Kiosken, wo sie Schutz vor dem Wetter finden.

 

Der Regen fiel noch, als Dick Hallowell mit seiner Mannschaft vom Exerzierplatz abmarschierte und sie vor dem Wachhause in langer Reihe antreten ließ. Er machte mit Bobby, den er ablöste, den vorgeschriebenen Rundgang und übernahm die Posten am Ufer und an den anderen Stellen. Er war froh, als Bobbys Mannschaften abmarschiert waren und er sich in seinen Raum zurückziehen konnte.

 

Bevor die alte Wache abrückte, unterhielten sich die Freunde noch einige Minuten.

 

»Ich bitte dich, geh heute noch zu Hope und erkläre ihr, warum ich das Essen in meiner Wohnung absagen mußte.«

 

»Lady Cynthia ist sehr böse auf dich, ich vermute, daß du das weißt.«

 

»Das kann ich mir denken. Aber das macht mir nicht allzu große Kopfschmerzen. Warum sie wieder böse ist, mag der Himmel wissen. Hat sie dir gesagt, daß sie über mich ärgerlich ist?«

 

Bobby schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das hat sie Davenport gesagt. Sie erzählte ihm, daß sie extra eine Einladung aufgegeben hat, um dein ›armseliges Mädchen‹ zu treffen – das sollen ihre eigenen Worte gewesen sein –, und daß du sie dann hast sitzenlassen!«

 

Dick mußte lächeln.

 

»Sie wird sich wohl nicht so gewöhnlich ausgedrückt haben! Aber die Sache mit Lady Cynthia ist im Augenblick ja auch ziemlich gleichgültig. Sieh dich bitte nach Hope um. Ich habe ihr einen Brief geschrieben und denke, daß sie alles verstehen wird. Aber ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mit ihr darüber sprechen wolltest.«

 

Gleich darauf marschierte die Wache ab, und Dick war nun vierundzwanzig Stunden an den Dienst gebunden, der doch für gewöhnlich so uninteressant und langweilig war.

 

Lady Cynthia war an diesem Tag nicht in liebenswürdiger Stimmung, und wenn der Oberst den geringsten Entschuldigungsgrund gefunden hätte, so wäre er von zu Hause fortgegangen. Unglücklicherweise hielt auch ihn die Pflicht im Tower zurück, und so mußte er daheim bleiben und ihren Unwillen über sich ergehen lassen.

 

»Sehr unbesonnen von Dick, sicher«, sagte er nun schon zum x-ten Male, »aber er ist sehr empfindlich, wenn es sich um das Mädchen handelt.«

 

»Empfindlich!« sagte sie vorwurfsvoll. »Es ist unverschämt! Und diese Sache scheint auch den stupiden Longfellow angesteckt zu haben. Dick hat mich nicht nur persönlich gebeten, mit ihr zu speisen, sondern hat das ausdrücklich noch durch einen langen Brief bestätigt. In der letzten Minute hebt er die Einladung auf, weil es ihm diese junge Person suggeriert hat, wie ich vermute!«

 

»Welche junge Person?« fragte der Oberst, der im Augenblick an etwas anderes gedacht hatte.

 

»Du hörst niemals zu, wenn ich mit dir spreche«, sagte sie kurz, »es ist doch zu schlimm mit dir, John! Dick Hallowell müßte dir auf den Knien danken und dir jeden Wunsch erfüllen. Er hätte doch den Dienst quittieren müssen, als sein Bruder damals ins Gefängnis kam. Es schadet dem Ansehen des Regiments, wenn der Bruder des ältesten Offiziers ein Verbrecher ist!«

 

»Dick hat ja damals um seinen Abschied gebeten, aber ich wollte ihn nicht annehmen. Wenn ich das getan hätte, würde es einen Aufstand in der Offiziersmesse gegeben haben. Wir können doch nichts dafür, wenn unsere Verwandten dumme Geschichten machen«, entgegnete der Oberst böse. Sie kannte ihn genügend, um die Warnung zu verstehen, die in seinem Ton lag.

 

»In der ganzen Familie Hallowell ist irgend etwas faul!« sagte sie. »Ich würde mich nicht wundern, wenn Dick auch noch so etwas Ähnliches anstellte wie sein Bruder.«

 

»Was ist das nun schon wieder für ein Unsinn!« rief der Oberst aufgebracht. »Sie sind doch nur Halbbrüder. Grahams Mutter war eine üble Frau. Alle schlechten Eigenschaften sind durch sie in die Familie gekommen. Bist du heute zum Essen eingeladen?« fragte er dann und hoffte, eine bejahende Antwort zu erhalten.

 

»Nein, ich werde hierbleiben. Ich muß dir auch noch sagen, daß Bobby Longfellow neulich sehr unhöflich zu mir war direkt ungezogen.«

 

»Was hat er denn gesagt?«

 

»Nicht, was er gesagt hat, war unverschämt, sondern wie er es gesagt hat. Er wird unausstehlich. Du weißt am besten, John, daß die Disziplin im Regiment sehr nachgelassen hat. Ich will ja nicht sagen, daß du das verschuldest –«

 

»Dann denke einmal darüber nach, wessen Schuld es ist«, sagte der Oberst verschnupft, als er aufstand. »Ich gehe jetzt zum Ordonnanzzimmer. Wir sehen uns später.«

 

Als er zum Tee zurückkam, hatte sich Mylady mit Kopfschmerzen zurückgezogen. Er sandte ihr ein paar liebenswürdige Worte durch ihre Zofe und freute sich über seine gemütliche Teestunde. Später kam der Adjutant zu ihm. Er zeigte ihm drei Leute in Zivil, die mit einer Leiter über den Exerzierplatz kamen.

 

»Ich glaube, das Schatzamt hat Angst um die Kronjuwelen!« sagte der Offizier. »Sie haben einen Beamten vom Ministerium ausgeschickt, um die Alarmglocken zu untersuchen.«

 

Der Oberst lachte. Er war daran gewöhnt, daß von Zeit zu Zeit solche Dinge von Whitehall angeordnet wurden. Einmal hatten sie die Stahltüren zu der Schatzkammer ausgewechselt – bei einer anderen Gelegenheit waren Detektive geschickt worden, um die Aufseher zu verhören, weil ein geheimnisvoller Amerikaner sich zu sehr nach Wert, Gewicht und Größe der beiden großen Diamanten erkundigt hatte, die in dem Tresor oben aufbewahrt wurden.

 

»Ich möchte mal den Mann sehen, der das Beispiel des Oberst Blood nachzuahmen wagte – ich glaube nicht, daß es einen gibt, wenn er nicht ganz und gar verrückt ist.«

 

Er war in der Offiziersmesse und las eine eben eingetroffene indische Zeitung, als ein Anruf für Lady Cynthia kam. Sie sandte ihre Zofe mit dem Bescheid, daß sie nicht gestört werden möchte. Das Mädchen kam aber gleich wieder.

 

»Der Herr sagt, er müßte Sie unbedingt sprechen, gnädige Frau. Er versucht schon seit dem 10. Juni mit Ihnen in Verbindung zu kommen.«

 

Der Eindruck, den diese Worte auf Lady Cynthia machten, war außerordentlich. Sie setzte sich im Bett aufrecht, und es zuckte in ihrem Gesicht.

 

»Schon gut – ich werde herunterkommen. Stellen Sie das Telefon zum Arbeitszimmer des Obersten um.«

 

Ihre Stimme war etwas heiser, das fiel der Zofe auf, aber sie konnte nichts Besonderes in dem Gesichtsausdruck ihrer Herrin erkennen. Cynthia lief fast die Treppe hinunter, schloß die Tür fest und sprach fünf Minuten lang mit leiser Stimme ins Telefon. Als sie wieder herauskam, war sie blaß, wie das Mädchen bemerkte, aber das mochte an den Kopfschmerzen liegen.

 

Als der Oberst zurückkam, fand er seine Frau im Salon. Sie war in Gesellschaftskleidung, ihr Mantel lag über einer Stuhllehne.

 

»Gehst du aus, meine Liebe?« sagte er.

 

»Ja. Ich habe mich eben an eine Verabredung erinnert, die ich schon vor einem Monat traf. Es ist schrecklich. Du hast doch nichts dagegen, John?«

 

»Dagegen? Nicht im geringsten. Ich werde allein zu Abend speisen oder im Kasino.«

 

Sparsamkeit war eine Schwäche von Lady Cynthia.

 

»Das Abendessen ist gerichtet, und es darf nicht umkommen. Lade dir einen Gast ein. Ich werde um elf Uhr zurück sein.« Am liebsten hätte der Oberst Dick Hallowell zu sich gebeten, aber der hatte Dienst. Der Adjutant hatte eine andere Verabredung, und Ruislip war nicht in der Stimmung, höfliche Phrasen mit dem ältesten Major zu wechseln. So entschloß er sich denn, allein zu speisen. Als der Gong erklang und er in das getäfelte Zimmer ging, in dem das Essen auf ihn wartete, kam ein unerwarteter Besuch. Es war Diana Martyn in ihrer fröhlichsten Laune.

 

»Großer Gott, Diana!« sagte der Oberst verwirrt. »Was führt Sie hierher?«

 

In diesem Augenblick war er hocherfreut, daß Lady Cynthia ausgegangen war.

 

»Ich komme auf die Bitte Ihrer Gattin«, War die verwunderte Antwort.

 

»Cynthias?« fragte er ungläubig.

 

»Sie bat mich, zum Abendessen zu kommen – sie telefonierte mit meinem Mädchen, als ich ausgegangen war. Natürlich wollte ich gern kommen – ich habe Cynthia gern, und es tut mir sehr leid, daß sie mich nicht mehr mag.«

 

»Aber meine Liebe« – er war ganz verwirrt über diese Neuigkeiten –. »Cynthia ist ausgegangen. Sie hat eine Verabredung, die sie schon vor einem Monat getroffen hat. Das ist fatal …« Er klingelte nach der Zofe seiner Frau, aber das Mädchen wußte nicht, wohin Lady Cynthia gegangen war.

 

»Legen Sie ein Gedeck für Miss Martyn auf«, sagte der Oberst. »Sie bleiben natürlich, Diana«, bat er, als sie zögerte. »Cynthia würde es mir nie vergeben, wenn ich Sie gehen ließe!«

 

Er brachte eine Entschuldigung nach der andern für seine Frau vor, aber im Grund war er gar nicht unzufrieden, eine so entzückende Tischdame zu haben, und das Abendessen wurde viel angenehmer, als er vorher geglaubt hatte.

 

Gegen Ende der Tafel fragte sie ihn etwas.

 

»Wie Sie hier herauskommen?« Er lachte heiter. »Wissen Sie, daß Sie im Tower eingesperrt und eingeriegelt sind und daß die Posten Sie erst nach der Parole fragen werden und Sie mit dem Bajonett durchbohren, wenn Sie sie nicht wissen?«

 

»Dann käme ich wohl schwerlich durch. Haben Sie denn Paßworte im Tower?« fragte sie unschuldig.

 

Er nickte.

 

»Ja, es gibt ein Wort für alle Wachen in London, und das wird täglich geändert.«

 

»Abrakadabra«, rief sie lächelnd.

 

»Nein, nicht so kompliziert. Der arme, alte Wachmann würde ja einen fürchterlichen Schrecken bekommen, wenn er sich ein solches Wort merken müßte: Nein, es ist gewöhnlich der Name einer Stadt. Heute abend ist es – warten Sie mal – Boston, das ist es!«

 

»Boston!« Sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Es war also keines der vier Worte, die Trayne erwartet hatte.

 

Aber wie konnte sie die Änderung durch ein Zeichen klarmachen? Sie dachte bis zum Schluß des Abendessens intensiv darüber nach. Dann kam ihr ein Einfall, der es ihr verhältnismäßig einfach erscheinen ließ. Als sie einen Augenblick allein war, schrieb sie das Wort auf ein Stück Papier, wickelte es um ein Schillingstück und verwahrte es in ihrer Handtasche.

 

Um zehn Uhr wollte sie gehen. Und sie hatte die richtige Zeit gewählt, denn kaum waren sie aus dem Haus, als Lady Cynthia anläutete, daß sie erst um Mitternacht wiederkommen könnte.

 

Als sie nach dem Wachhaus gingen, sah sie eine Zeremonie, von der sie oft gehört hatte – jene mittelalterliche Gepflogenheit, die seit Hunderten von Jahren jeden Abend im Tower beobachtet wurde.

 

Durch das trotzige Tor des Blutturms marschierte eine kleine Anzahl Leute. Das Lampenlicht glitzerte auf den blanken Bajonetten. Ein Mann mit einer Handlaterne ging voran. Dann fragte eine scharfe Stimme: »Halt! Wer kommt dort?«

 

Die Kolonne hielt, und eine tiefe, martialische Stimme antwortete: »Die Schlüssel!«

 

»Wessen Schlüssel?« fragte die Schildwache.

 

»König Georgs Schlüssel«, war die Antwort.

 

Dann traten die Leute auf ein Kommando in Reih und Glied. Man hörte Dick Hallowells tiefe Stimme. »Übergib König Georgs Schlüssel! – Achtung, präsentiert das Gewehr!«

 

Die Gewehre flogen mit einem Ruck herunter – nach mehreren Kommandos wurden die Plätze gewechselt. Dann nahm der alte Wärter, der die Schlüssel trug, seinen Hut ab, und sein Ruf hallte über den einsamen Platz hinweg: »Gott schütze König Georg!«

 

»Nennt man das die Schlüssel?« fragte Diana flüsternd.

 

»Ja. Es ist sonderbar, nicht? Diese Zeremonie wurde nur in einer Nacht abgeändert, als die Königin Victoria starb und man noch nicht wußte, welchen Namen der neue König annehmen würde.«

 

Ihr Herz schlug wild, als sie das Schatzhaus passierten. Es stand ein Posten dort, ein anderer war vor dem Verrätertor postiert, weiter unten am Festungsgraben sah sie einen dritten und am äußeren Tor noch einen. Ihre Knie zitterten, als sie nach Tower Hill kamen und der Bursche des Obersten nach einem Auto geschickt wurde.

 

Ein Zeitungsjunge kam heran. Bevor der Oberst ihn wegjagen konnte, sagte sie schnell:

 

»Ja, bitte«, und ließ die Münze mit dem Papier in seine Hand gleiten.

 

Sie hätte vergessen, die Zeitung an sich zu nehmen, aber er reichte sie ihr.

 

»Ich liebe die Kreuzworträtsel so sehr«, sagte sie atemlos, als der Oberst sie sanft wegen ihrer Neugier nach sensationellen Nachrichten tadelte.

 

Sie war am Ende ihrer Kräfte, als der Wagen anfuhr.

 

Kapitel 17

 

17

 

Die Uhren der Stadt hatten eins geschlagen. Da löste sich heimlich ein Motorboot aus dem Dunkel des Surrey-Ufers. Es fuhr östlich zur Londonbrücke, vorbei an Billingsgate und nahm dann langsam seinen Kurs nach dem Nordufer. Mit abgestelltem Motor näherte es sich dem steinernen Kai des Tower. Die vier Mann der Besatzung griffen mit der Hand nach der Kante der Kaimauer und zogen das Boot daran entlang, bis sie am St.-Thomas-Turm vorüber waren und sich beinahe gegenüber dem Schilderhaus befanden, das an der Anlegestelle stand. Als der Führer der Gruppe scharf über den Rand des Kais ausspähte, sah er, wie der Posten eben heraustrat, das Gewehr schulterte und mit schnellen Schritten zu dem östlichen Ende seines Bereichs ging. Es hatte im Augenblick aufgehört zu regnen. Einer der Leute sprang ans Ufer, kletterte über das Geländer, beugte sich vor, lief dann geräuschlos nach dem Schilderhaus und verschwand im Dunkeln. Bald darauf kam der Posten wieder. Er hielt vor dem Wachhaus und nahm das Gewehr ab, der Kolben stieß auf dem steinigen Boden auf. Es schien ihnen eine Ewigkeit zu dauern – dann hörten sie einen erstickten Schrei, das Geräusch eines fallenden Gewehres …, dann war es wieder ruhig …

 

Ein anderer Mann hob eine leichte Leiter vom Deck des Bootes, schob sie über das Geländer und sprang hinüber. Die beiden anderen folgten ihm. Der letzte, der das Boot verließ, war Graham Hallowell in der Uniform eines Offiziers der Berwick-Garde. Er hielt seinen Säbel, damit er nicht auf dem Pflaster klappern konnte. Schnell eilte er über den Platz, der die Anlegestelle von dem Verrätertor trennte. Er schaute sich nicht um, was aus dem Posten geworden war, es blieb keine Zeit, auch nur einen Gedanken an den unglücklichen Mann zu verschwenden, der bewußtlos am Boden lag. Eine Sekunde später kletterte er hastig die Leiter hinab, die in die Vertiefung hinuntergelassen war. Er hörte jemand an dem großen, mit eisernen Nägeln beschlagenen Tor arbeiten, das sich so oft geöffnet hatte, um Verräter und Unschuldige einzulassen. Er konnte nicht sehen, was sie machten, aber plötzlich hörte er eine Stimme neben sich: »Kommen Sie!« Dann schlüpfte er durch das offene Tor und stand den Stufen gegenüber, die zu dem Blutturm führten.

 

Äußerste Vorsicht war hier geboten. Sie hörten die Schritte eines Postens, der auf und ab ging. Aber im Dunkeln konnte man ihn nicht sehen.

 

Wieder glitt der Führer geräuschlos voraus. Er trug einen kleinen Stahlzylinder in der Hand, an dem ein platter, trichterförmiger Apparat befestigt war, aber Graham hatte weder Zeit noch Lust, sich darum zu kümmern. Er vermutete, daß er irgendein betäubendes Gas enthielt, denn er hatte vorher gesehen, daß der Mann eine Gasmaske aufsetzte, ehe er das Boot verließ.

 

Die Uhr eines Kirchturms in der Stadt schlug Viertel nach eins. Kein Laut kam von vorn, als sie an den Stufen vorbeischlichen.

 

»Halt! Wer da?«

 

Graham hielt den Atem an. Ihr Mann war von dem Posten gesehen worden.

 

»Gut Freund.«

 

»Tritt näher. Gib die Parole.«

 

Leise kam das Wort zurück.

 

»Boston.«

 

»Passieren! Alles in Ordnung.«

 

Sie hörten nichts mehr. Nach einer Weile kehrte der Führer zurück, und sie gingen östlich weiter, der Mauer entlang.

 

Als sie an dem Schilderhaus vorbeikamen, sah Graham eine zusammengekauerte Gestalt.

 

»Ich habe eine Flasche Whisky hineingestellt«, sagte Mawsey – Graham erkannte jetzt den Mann mit der Maske –, »Sie müssen vorgeben, daß er betrunken ist.«

 

Er öffnete die Tür eines kleinen runden Turmes, offensichtlich eines Vorwerks, das als Wohnraum für einen Beamten benutzt wurde. Hier drängten sie sich hinein.

 

»Treten Sie dicht zu mir«, flüsterte er Graham ins Ohr. »Wenn ich Ihren Bruder zu Fall bringe, treten Sie sofort an seine Stelle.«

 

Als er um die Ecke spähte, sah er den Schimmer einer Laterne. Es war Dick, der die Runde machte, um die Wachen zu inspizieren. Er schien von der Uferseite zu kommen und wollte jetzt wohl zur Hauptwache zurück. Sie kamen mit großen Schritten vorbei, ein Trommler ging mit einer Laterne voraus, dann folgten zwei Mann und ein Unteroffizier, und schließlich kam Dick. Sie passierten den Torweg.

 

»Jetzt!« zischte eine Stimme in Grahams Ohr.

 

Er vernahm keinen Ton, aber Dick schien plötzlich zusammenzusinken. Im nächsten Augenblick hatte Graham seine Stelle eingenommen. Einer der Leute vor ihm drehte sich halb um, als ob er ein Geräusch gehört hätte.

 

»Sehen Sie geradeaus!« sagte Graham scharf, genau in demselben Ton, den er von Dick her kannte. Dann kommandierte er: »Halt!«

 

Sie hatten das Schilderhaus gegenüber dem Verrätertor erreicht. Der Sergeant trat aus der Reihe und ging auf den Mann zu, der halb im und halb außer dem Haus lag.

 

»Was ist mit dem Mann, Sergeant?« fragte Graham rauh.

 

»Ich weiß nicht, Herr Oberleutnant. Wach auf!« Er schüttelte den bewußtlosen Mann. »Es ist Filpert, er sieht aus, als ob er betrunken ist.«

 

»Bringen Sie ihn zum Wachtturm.«

 

Die beiden Leute hängten das Gewehr über die Schulter und versuchten, den Mann aufzurichten. Ein Geruch von Alkohol verbreitete sich. Plötzlich bückte sich der Sergeant und hob eine kleine Flasche auf.

 

»Whisky!« sagte er, als er daran roch.

 

»Bringen Sie ihn in den Wachtturm!«

 

»Soll ich einen von diesen Leuten als Posten hierlassen?«

 

»Nein, das ist im Augenblick nicht notwendig.«

 

Sie marschierten durch das Tor. Kühn folgte er der Truppe ins Wachzimmer, keiner dort hätte Graham Hallowell von seinem Bruder unterscheiden können. Dick trug einen kleinen dunklen Schnurrbart, und genau derselbe war nun auf Grahams Oberlippe zu sehen. Er war in der Zwischenzeit gewachsen.

 

Der Sergeant folgte seinem »Offizier« in den Raum.

 

»Man stellt am besten einen anderen Posten an Stelle Filperts auf«, sagte er.

 

»Das ist nicht notwendig«, sagte Graham kurz.

 

Der Unteroffizier schaute überrascht auf, aber er wagte keinen Widerspruch. Graham war allein auf der Veranda, nur der Posten ging auf und ab. Er trat zu dem Mann, der Gewehr bei Fuß stillstand, als Graham sich näherte.

 

»Willst du Schokolade haben, Mann?«

 

Der Posten zögerte ein bißchen verdutzt. Die Offiziere der Berwick-Garde gingen gewöhnlich nicht mitten in der Nacht umher und boten ihren Untergebenen Schokolade an.

 

»Danke, Sir!« stammelte er.

 

Graham beobachtete, wie er sie in den Mund steckte, sie mechanisch zweimal kaute und seine Hand auf die Kehle legte … Er fing schnell das Gewehr auf, bevor es auf den Boden fiel, und ließ den Mann behutsam niedergleiten. Es kam kein Ton aus dem Wachzimmer. Er zog den Mann an das äußerste Ende der Veranda, legte ihn in eine Ecke und eilte dann zu dem unteren Weg. Die Schildwache hörte ihn kommen, und das Rasseln eines Gewehres warnte ihn.

 

»Fragen Sie nicht nach der Parole«, sagte er. »Ich bin Sir Richard Hallowell.«

 

Der zweite Posten nahm die Schokolade mit Widerwillen.

 

»Ich esse keine Schokolade, Sir.«

 

»Wollen Sie wohl –«, sagte der Offizier, und er gehorchte.

 

Der Mann mit der Gasmaske fing ihn auf, als er umsank.

 

»Gehen Sie wieder zur Tür des Wachraumes, falls der Sergeant; herauskommt, und halten Sie ihn im Gespräch auf«, hörte Graham eine leise Stimme flüstern. Mit kurzem Nicken ging er zurück. Es war gut so, denn kaum stand er dort, als sich die Tür öffnete und der Sergeant herauskam.

 

»Ich bin sehr unruhig wegen des Postens«, sagte er. »Das Reglement für die Bewachung der Schatzkammer ist sehr streng, und ich muß es morgen in meinen Rapport aufnehmen.«

 

»Es ist schon in Ordnung, Sergeant«, sagte Graham kühl. »Mr. Longfellow ist eben gekommen, und ich habe ihn gebeten, es dem Adjutanten zu melden. Ich würde mich nicht weiter in die Sache mischen, wenn ich an Ihrer Stelle wäre.«

 

»Glauben Sie, Sir, daß irgend etwas geschehen ist?« fragte der Sergeant. »Ich kann nicht verstehen, woher der Mann den Whisky hat. Die Leute auf der Wache erzählen mir, daß er Abstinenzler ist.«

 

»Es mag verschiedenes geschehen sein«, antwortete Graham nach einer Pause. »Aber es ist besser, wenn Sie sich nicht hineinmischen.«

 

»Zu Befehl, Sir.«

 

Der Sergeant salutierte und ging in die Wachstube zurück.

 

Graham schaute nach dem Tor hinunter. Sein Herz schlug zum Zerspringen. Plötzlich sah er zwei dunkle Gestalten aus der glasbedeckten Vorhalle des Schatzhauses auftauchen. Er hörte einen leisen Pfiff – das war das Signal. Geräuschlos lief er die Stufen hinunter und folgte ihrer Spur. Er hatte das Pförtchen des Blutturms erreicht, als ihn jemand aus der Dunkelheit anrief. »Hallo, Dick, ich muß dich sprechen!«

 

Bevor er sich über die Gefahr klarwurde, stand ein schlanker Mann in Uniform vor ihm. Es war Bobby Longfellow.

 

»Ich konnte Hope nicht antreffen, ich habe den ganzen Abend versucht, sie zu finden –«

 

Hier fiel Graham in seiner ungeheuren Aufregung aus der Rolle.

 

»Ich habe jetzt keine Zeit«, sagte er und stieß den jungen Mann beiseite.

 

In diesem Augenblick fühlte er einen scharfen Griff an seinem Arm. Bobby schaute ihn durchbohrend an.

 

»Bei Gott!« stieß er hervor. »Sie sind nicht Dick Hallowell …«

 

Graham schlug wild zu. Bobby mußte den Arm loslassen, verlor sein Gleichgewicht und fiel hintenüber gegen das Tor. Im nächsten Moment rannte Graham vorwärts, so schnell er konnte. Er sprang über das Geländer, eilte durch das offene Verrätertor und flog buchstäblich die Leiter empor. Mawsey wartete oben auf ihn.

 

»Schnell!« zischte er.

 

Und es war wirklich höchste Eile notwendig. Sie hörten scharfe Kommandos, und gerade als Graham von der Uferkante in das wartende Boot sprang, pfiffen die ersten Kugeln an seinem Ohr vorbei.

 

Das Motorboot raste in höchster Geschwindigkeit den Fluß hinunter. Die Ebbe begann, und sie fuhren mit dem Strom. Aus dem Schatten der Towerbrücke löste sich ein Polizeiboot, und die Stimme eines Beamten rief sie an. Es lag mit der Breitseite gerade vor ihnen. Mawsey saß am Steuer und richtete die scharfe Spitze des Bootes gegen das Polizeifahrzeug. Gleich darauf ertönte ein furchtbares Krachen. Der Gegner war überrannt. Bevor Graham sich über die Ereignisse klarwerden konnte, sah er zwei Leute mit den Fluten kämpfen und hörte ihre schwächer werdenden Hilferufe.

 

Schnell zog er seine Uniform aus und warf sie ins Wasser. Darunter trug er Zivilkleider.

 

»Müssen wir den ganzen Weg auf dem Wasser zurücklegen?« fragte er und zog sich einen Regenmantel über.

 

»Nein, wir gehen in Deptford an Land. Sicher würden sie uns angreifen, bevor wir Greenwich erreicht hätten. Zur Zeit sind alle Telefone in Bewegung.«

 

Das Boot nahm Kurs nach dem Surrey-Ufer. Plötzlich verminderte es seine Geschwindigkeit. Ein Bootshaken klammerte sich an der Ecke einer Werft fest, die Spitze des Fahrzeugs wurde wieder dem Strom zugewandt, und nachdem alle es verlassen hatten, ließ man es stromabwärts treiben. Drei Autos warteten. Mawsey stieg mit einer viereckigen schwarzen Kiste in den zweiten Wagen ein.

 

Graham erkannte, daß es ein Taxi war, als er einstieg.

 

»Wir können nicht weit damit fahren!«

 

»Das brauchen wir auch nicht«, sagte Mawsey kurz. »Hier nehmen Sie die Kiste. Haben Sie eine Pistole?«

 

»Ich habe keine bei mir, auf dem Schiff habe ich eine.«

 

Mawsey erklärte ihm, was jetzt zu geschehen hatte.

 

»Ich verlasse Sie in Blackheath. Dort wartet ein anderer Wagen auf uns, und Sie fahren allein weiter. Der Chauffeur hat seine Instruktionen bekommen. Sie müssen vor Tagesanbruch an Bord der ›Pretty Anne‹ sein. Wir schicken einen Mann mit einem Flugzeug nach Irland, um die Spur zu verwischen. Es wäre besser, wenn Sie eine Schußwaffe bei sich hätten.«

 

Graham sah auf das leuchtende Zifferblatt seiner Armbanduhr und war erstaunt, daß es erst halb zwei war. Was hatte sich in einer Viertelstunde alles ereignet!

 

Mitten in Blackheath hielt das Auto an, und sie stiegen aus. Ein langer, schwarzer Wagen stand an der Bordkante. Ohne ein Wort zu verlieren, sprang Graham hinein, legte sein kostbares Paket neben sich auf den Sitz und stützte sich darauf. Er wartete geduldig, bis der Wagen anfuhr. Plötzlich kam Mawsey noch einmal und reichte etwas durch das offene Fenster. Graham nahm es. Es war ein Helm, er fühlte die blanke Spitze. »Setzen Sie ihn auf, wenn Sie angehalten werden. Sie sind ein Polizeiinspektor, der nach Gravesend fährt, um Nachforschungen anzustellen. Gut Glück.«

 

Die Worte waren kaum gesprochen, als das Auto anfuhr.

 

Graham war schon oft in seinem Leben schnell gefahren, aber noch niemals hatte er eine Fahrt wie diese gemacht. Der Sportwagen raste die Straßen entlang, er erkannte die Umrisse von Bromley. Sie näherten sich Gravesend, der Wagen bog nach links ab, fuhr eine holprige Landstraße entlang und dann in einem großen Bogen quer über ein Feld.

 

»Sie sind am Ziel!« Der Chauffeur riß die Tür auf, und Hallowell tappte in eine große Pfütze.

 

Es regnete heftig, er konnte nichts sehen, aber irgendwo in der Nähe war der Strom. Er konnte das Gurgeln und Plätschern des Wassers hören und die Nähe des Meeres. Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter.

 

»Diesen Weg!« sagte eine barsche Stimme, an der er Eli Boß erkannte. Es ging einen lehmigen Abhang hinunter, an dessen Ende ein kleines Motorboot heftig auf den Wellen schaukelte.

 

Er kletterte an Bord und setzte sich auf eine Bank. Das Boot legte sich schwer über, als die mächtige Gestalt von Eli Boß hinter ihm einstieg …

 

Er konnte jetzt die ›Pretty Anne‹ sehen. Das Wasser reflektierte die grünen Strahlen des Steuerbordlichtes. Sie kamen näher und näher und erreichten endlich die herabgelassene Strickleiter, als sie am hinteren Teil des Schiffes entlangfuhren. Er ergriff das Tau mit einer Hand und kletterte unter großer Mühe mit seinem kostbaren Kasten auf das glatte, nasse Eisendeck. Eli Boß kam gleich hinter ihm nach oben. Graham hörte das Krachen und Quietschen der Winden und Flaschenzüge, als das Motorboot an Bord geholt wurde.

 

Unter seinen Füßen begann das Rattern einer Dampfmaschine, die schlecht in Ordnung war.

 

»Gehen Sie hinunter!« sagte Boß kurz. »Sie kennen Ihre Kabine? Die Schlösser sind angebracht. Auch der Safe ist da.«

 

In dem engen Gang brannte kein Licht, und er mußte sich seinen Weg suchen. Schließlich erreichte er seine Kabine und öffnete die Tür. Er stellte den Kasten auf den Boden und suchte nach dem Schlüssel. Erst als er sich eingeschlossen hatte, machte er Licht.

 

Beide Kabinenfenster waren mit Überfallklappen fest verschlossen. Eine Petroleumlampe hing an der düsteren Wand. Diese steckte er an, bevor er sein neues Heim besichtigte. Er sah, daß man wenigstens den rohen Versuch gemacht hatte, diese traurige Umgebung etwas zu verbessern. Ein ungerahmter Öldruck war an der Wand festgesteckt, und ein neues Tuch bedeckte den Tisch, der in der Mitte stand. In einer Ecke des Raumes erblickte er auch den Geldschrank, der an der Decke und am Boden mit starken Stahlklammern befestigt war. Es war seine erste Pflicht, die kostbare Beute darin zu verbergen. Als er die dicke Stahltür zugeschlagen hatte und alle Schlösser und Riegel befestigt waren, setzte er sich nieder und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Der Dampfer fuhr vermutlich sehr schnell. Er konnte die Geschwindigkeit allerdings nur nach den schnellen, heftigen und geräuschvollen Bewegungen der Maschine beurteilen. Jetzt begann das Abenteuer. Er war gespannt, wie es enden würde. Was war mit Dick geschehen?

 

Er fühlte keine Reue, was auch aus seinem Halbbruder geworden sein mochte. Dick hatte ihn immer gehaßt, sagte er sich selbst. Dick, der doch etwas hätte tun können, um ihm sein hartes Los zu erleichtern. Würde er vor ein Kriegsgericht kommen?

 

Er hörte ein Klopfen an der Tür, einen schweren Fall und dann ein Kratzen.

 

»Wer ist da?« fragte er.

 

»öffnen Sie, um Himmels willen, öffnen Sie!«‘ rief eine hohle Stimme.

 

Graham eilte zur Tür, drehte den Schlüssel um, und als die Tür weit aufflog, brach eine blutüberströmte, nasse Gestalt zusammen und fiel zur Kabine herein. Er wich entsetzt zurück.

 

Es war Colley Warrington.

 

Kapitel 18

 

18

 

An diesem Nachmittag hatte Hope Joyner Augenblicke, in denen sie an ihrem Verstand zweifelte. Sie war so ratlos, daß sie Dick Hallowell um drei Uhr anläutete. Sie erfuhr aber nur, daß er auf Wache war.

 

Sie kannte Colley Warrington nicht näher als alle anderen Leute. Die Geschichte seiner früheren Taten war allgemein bekannt. Allmählich war Gras darüber gewachsen, aber es gab noch sehr viele Türen, die ihm verschlossen waren und sich ihm nie öffnen würden. Wenn sie Dick Hallowell gefragt hätte, würde Colley niemals über ihre Schwelle getreten sein. Er war durch den Fürsten mit ihr zusammengekommen, aber das wußte sie nicht. Sie glaubte vielmehr, seine Bekanntschaft nur dem zufälligen Umstand zu verdanken, daß er mit einem Mitglied des indischen Komitees befreundet war.

 

Man wußte von Colley, daß er eine umfassende Kenntnis der Londoner Gesellschaft besaß und auch andere Kreise, die außerhalb derselben lagen, gut kannte. Diese Tatsache half ihm, als er ihr sagte, daß er ihr etwas über ihre Herkunft mitteilen könnte.

 

Wenn ein anderer Mensch, der ihr fremd war, gewagt hätte, dieses Thema zu berühren, hätte sie ihm mit einem verächtlichen Lächeln zugehört oder ihn schroff abgewiesen. Aber Colley war ein so merkwürdiger Mann, daß er Dinge sagen konnte, die aus dem Mund eines andern eine Beleidigung gewesen wären. Als er ohne Einleitung sich einfach kühn die Rechte eines Freundes ihr gegenüber herausnahm und ihr Vertrauen beanspruchte, war sie im Augenblick zu überrascht, um ihn zurückzuweisen. Bevor sie wußte, was vorging, erzählte er ihr mit dem größten Ernst, daß er Nachricht über ihren Vater erhalten habe.

 

Um neun Uhr an diesem Abend ging sie zu ihrer eigenen Verwunderung die Villiers Street hinunter, wollte aber bei dem geringsten Anlaß umkehren. Aber es fand sich keiner. Schon von weitem sah sie Colley vor dem kleinen Restaurant warten und ließ sich von ihm an einen Tisch in dem wenig besuchten Lokal führen. Es sprach ihrer Meinung nach für ihn, daß er nur ein einfaches Essen bestellte und sofort, als der Kellner außer Hörweite war, seine Geschichte erzählte. Es klang alles sehr einleuchtend. Eine Frau aus einfachen Verhältnissen hatte einen Mann von höherem Stand geheiratet. Sie waren dann in Streit geraten und hatten sich wieder getrennt. Die Frau kehrte zu ihrer Beschäftigung als Sekretärin zurück, die sie vor der Hochzeit ausgeübt hatte. Sechs Monate, nachdem sie sich getrennt hatten, wurde Hope geboren, und da die Frau ihren Mann haßte, hatte sie das Gerücht verbreitet, daß sie und das Kind gestorben seien. Hopes Vater glaubte dies (wenigstens nach der erfundenen Erzählung Colleys) und heiratete zum zweitenmal. Nach dem Tod seiner ersten Frau entdeckte er dann zu seinem Schrecken, daß er in Bigamie gelebt hatte. Er durfte Hope nicht als sein Kind anerkennen, ohne das Lebensglück seiner Kinder aus zweiter Ehe zu gefährden. Deswegen hatte er Hope in allem Luxus aufwachsen lassen, ohne sie anzuerkennen.

 

»Wirklich, liebe Hope«, sagte er, als er seinen Rotwein austrank, »ich konnte Ihren Vater nur mit großer Mühe dazu veranlassen, Sie zu sehen.«

 

»Ich weiß nicht, ob ich ihn sehen möchte«, sagte Hope ruhig.

 

»Ich dachte, das wollten Sie«, erwiderte er obenhin. »Aber so wie die Umstände jetzt liegen, wäre es töricht von Ihnen, wenn Sie sich diese günstige Gelegenheit entgehen ließen. Soweit ich unterrichtet bin, will Ihr Vater Ihnen alle Dokumente geben, die notwendig sind, um auch Ihrem schlimmsten Feind entgegentreten zu können.«

 

»Wo ist er denn?« fragte sie. »Warum konnte er denn nicht hierherkommen?«

 

»Es halten ihn viele Gründe ab«, sagte Mr. Warrington geschmeidig, »die er Ihnen ja alle persönlich erklären kann. Nicht der letzte ist, daß Sie ihm so sehr ähnlich sehen. Es wäre nicht möglich gewesen, daß Sie sich getroffen hätten, ohne daß der dümmste Anfänger gewußt hätte, daß Sie Vater und Tochter sind. Seine Motorjacht liegt in diesem Augenblick westlich der Londonbrücke vor Anker. Er hat sein Motorboot geschickt, um uns abzuholen, und wir werden in einer halben Stunde an Bord gehen.«

 

Sie sah ihn entsetzt an.

 

»Auf den Strom – bei Nacht – das ist unmöglich!«

 

Colley zuckte die Schultern.

 

»Ich dachte, es läge Ihnen etwas daran«, sagte er. »Und wirklich, ich kann Sie nicht tadeln. Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, Hope. Was für Eigenschaften ich auch besitzen mag, niemand hat mir jemals meine Uneigennützigkeit vorgeworfen. Ich habe nichts von dieser Sache, weder Ehre noch Geld. Es kann mir letzten Endes ganz gleich sein, ob Sie ihn sehen oder nicht. Ich dachte, daß sein Plan dumm, selbst phantastisch sei, aber er ist einer der unglücklichen Menschen, die Wert darauf legen, was die Leute über sie sagen. Ich habe versucht, seine Eigenheiten zu berücksichtigen. Wenn Sie nicht weitergehen wollen, lassen wir die Sache auf sich beruhen.«

 

»Aber ich muß seinen Namen wissen!«

 

»Den werde ich Ihnen nicht mitteilen«, sagte Colley ruhig. »Es liegt nicht in meinem Interesse, sein Vertrauen zu mißbrauchen. Wenn er Ihnen seinen Namen sagt, gut. Es geht nur ihn etwas an.«

 

Offensichtlich lag ihm nichts daran, denn er rief den Kellner, um seine Rechnung zu bezahlen, und er schien es eilig zu haben, die Sache in Ordnung zu bringen.

 

»Ich will mitgehen«, sagte sie. »Wie kommen wir hin?«

 

»Kennen Sie die Upper Thames Street? Es ist eine ziemlich schmutzige Verkehrsstraße an der Wasserseite in der City. Es stehen Warenlager und Werften dort. Einige hundert Meter von der Londonbrücke führt ein Eingang zu einer alten Treppe, die man gewöhnlich die Fährmannstreppe nennt. Ich habe verabredet, daß das kleine Motorboot dort auf uns wartet. Aber, liebe Hope, gehen Sie nicht mit, wenn Sie die leiseste Abneigung fühlen.«

 

So sprach er noch fünf Minuten weiter mit ihr und riet ihr von dem Weg ab, da er sicher war, daß sie angebissen hatte.

 

Sie fuhren mit dem Zug nach der Mansion House Station und gingen den Rest des Weges zu Fuß. Sie kamen an einem Polizisten vorbei, aber sie waren noch im Verkehrszentrum, so daß der Beamte sie kaum beachtete. Einige Minuten später erreichten sie einen dunklen und engen Eingang zwischen den hohen Mauern zweier Lagerhäuser, und als Hope hindurchspähte, sah sie, daß sich Lichter im Wasser spiegelten.

 

»Ist das das Boot?« fragte sie mit leiser Stimme. Sie konnte die Umrisse nur undeutlich erkennen.

 

»Ich glaube«, sagte Colley. »Ich will gehen und nachfragen. Die Motorjacht liegt weiter unten …«

 

»Lassen Sie mich nicht allein«, sagte sie nervös und folgte ihm.

 

»Die Stufen sind sehr schlüpfrig«, warnte er sie und streckte seine Hand aus, um ihr Halt zu geben.

 

Es war ein kleines Motorboot, das kaum Raum genug bot, daß die beiden hinten Platz nehmen konnten. Als das Fahrzeug ins offene Wasser kam, suchte sie den ganzen Strom nach einer Motorjacht ab, aber sie konnte nichts entdecken.

 

»Sie muß etwas weiter unterhalb liegen«, sagte Colley schnell.

 

Plötzlich drehte er sich nach ihr um und griff mit einer Hand nach ihrer Kehle, mit der anderen hielt er ihren Mund zu. Einer der beiden Leute, die die Besatzung bildeten, packte sie bei den Füßen und zog sie auf den Boden des Bootes. Sie versuchte sich zu wehren, aber das schwere Gewicht Colley Warringtons drückte sie nieder. Sie fühlte, wie sie in Todesdunkel versank …

 

»Die einzige Gefahr ist ein Polizeiboot«, sagte die heisere Stimme von Joab Boß, Elis Sohn. »Gewöhnlich treibt sich eines hier herum und paßt auf die Werften auf, aber sie haken sich mehr am anderen Ufer auf.«

 

Es regnete in Strömen. Colley zitterte in seinem dünnen Regenmantel vor Kälte. Er drehte den Hahn der Chloroformflasche wieder auf, die er über das Gesicht des Mädchens hielt.

 

»Es ist eine dumme Sache«, sagte Joab. »Der Alte dachte, es würde mehr Umstände mit ihr geben als –«

 

»Als was?« brummte Colley.

 

»Nichts!« brummte der Mann. »Fragen Sie nicht soviel. Er dachte nicht, daß Sie sie so leicht bekommen würden. Sie muß verrückt sein, aber alle Weiber sind verrückt. Wie weit geht sie mit?«

 

»Bis nach Indien!«

 

Er hörte, wie Joab pfiff.

 

»Indien? Das hat mir der Alte nicht gesagt.«

 

Ein langes Schweigen folgte, während er sich offensichtlich mit der neuen und gefährlichen Lage beschäftigte.

 

»Es ist ein Elend«, sagte er, »der Alte ist nicht ganz richtig …, aber ich vermute, daß er nach den letzten Erfahrungen, die er gemacht hat, es nicht mehr riskieren wird.«

 

Colley Warrington fragte nicht, was für Erfahrungen Eli Boß gemacht hatte. Wenn er es gewußt hätte, so würde er mit dem letzten Schimmer von Mitleid seines verrohten Gemütes das Mädchen vom Boden des Bootes aufgehoben und in den Fluß geworfen haben.

 

»Der Alte ist verrückt, wenn es sich um Frauen handelt. Es wird noch genug Schwierigkeiten deswegen geben«, sagte der andere nach einer langen Pause. »Werden Sie uns anzeigen?«

 

»Ich verrate Sie nicht«, entgegnete Colley trocken. »Das tue ich nicht.«

 

Joab sagte nichts mehr, bis sie in Greenwich ankamen. Dann kam er in den hinteren Teil des Bootes und kauerte sich zu Füßen des bewußtlosen Mädchens nieder.

 

»Wie sieht sie denn eigentlich aus? Ich konnte sie im Dunkeln nicht erkennen.«

 

»Sie ist sehr hübsch«, sagte Colley und hörte den Matrosen etwas brummen. »Was sagen Sie?«

 

»Ich weiß nicht … Ich wünschte, sie wäre nicht mitgekommen. Der Alte ist verrückt, wenn er hübsche Weiber sieht.«

 

»Ich komme ja mit«, sagte Colley.

 

»Sie?«

 

Colley versuchte einiges über den Dampfer von ihm zu erfahren und was für Vorbereitungen für seine Bequemlichkeit getroffen seien.

 

»Da fragen Sie besser den Alten«, war die vorsichtige Antwort. »Er hat den Herrn gestern oder vorgestern erst gesehen.«

 

»Hat er den Fürsten gesprochen?« fragte Colley erstaunt.

 

»Nein, nicht den Fürsten. Einen andern.«

 

Wahrscheinlich den Sekretär, dachte Colley.

 

»Er hat seine Anweisungen bekommen … Ich frage niemals, und so brauche ich mich auch nicht belügen zu lassen. Ich kann Ihnen nur sagen, ich wünschte, sie wäre nicht mitgekommen. Er ist direkt scharf auf Weiber – wenn sie schön sind.«

 

Zum erstenmal an diesem Abend fühlte sich Warrington nicht recht wohl. Ob es dem Mädchen, dessen Kopf auf seinen Knien lag, gut oder schlecht ging, war ihm ziemlich gleichgültig. Das kümmerte ihn wenig. Aber was würde er an Bord dieses alten Blechkastens mit einem niederträchtigen Kapitän erleben, der scharf auf Weiber war? Er wünschte, er hätte sich niemals auf die Sache eingelassen. Schließlich hätte er sich ja noch vor der Fahrt nach Indien drücken können. Vielleicht waren Aufträge für ihn an Bord, und er hoffte stark, daß er wieder an Land gehen könnte.

 

Es war beinahe ein Uhr, als sich Joab umwandte und ihm zurief, daß die ›Pretty Anne‹ in Sicht käme. Als sie sich von hinten dem Schiff näherten, sahen sie nur eine schwach leuchtende Laterne an Bord. Soweit man wahrnehmen konnte, war auch keine andere Beleuchtung vorhanden, um ihnen den Weg zu zeigen. Eine rauhe Stimme vom Deck rief sie an.

 

»Bist du es, Joab?«

 

»Jawohl, Vater.«

 

»Hast du sie?«

 

»Ja.«

 

»Mach das Boot fest. Komm nach oben, Joab – Sammy!«

 

»Ja, Massah?«.

 

Der andere Insasse des Bootes war der Stimme nach wohl ein Neger.

 

»Lege diesen Strick um sie!«

 

Ein Gegenstand fiel auf den Boden des Bootes. Colley hob das Mädchen auf, während der Neger das Seil um sie legte.

 

»Sie ist festgebunden, Massah!«

 

»Ist sie besinnungslos, betäubt?«

 

»Jawohl«, sagte Colley und beobachtete, wie die schlanke Gestalt an Deck gezogen wurde und in der Finsternis verschwand.

 

»Komm nach oben, Sammy!«

 

Der Neger kletterte schnell an der Seite des Schiffes hoch, nachdem er den Bug des Bootes an der Strickleiter befestigt hatte.

 

»Nun kommen Sie herauf – Sie da unten!«

 

Colley ergriff das Tau und begann den schwierigen Aufstieg. Einen Arm schlang er um die Sprossen, während er einen Fuß langsam hochzog.

 

»Kommen Sie noch nicht an Bord!«

 

Colley konnte im Dunkeln das Gesicht des Kapitäns nicht sehen, nur der von Alkohol schwere Atem schlug ihm entgegen.

 

»Bleiben Sie jetzt ruhig eine Minute stehen, wo Sie sind!«

 

»Warum?« fragte Colley, indem er mit beiden Händen nach dem Geländer griff.

 

»Weil ich es Ihnen sage«, rief Eli Boß. »Es sind schon zu viele Menschen an Bord.«

 

Colley fühlte mehr als er sah, wie ein schwerer Schiffshaken niedersauste. Schnell duckte er sich, aber es war zu spät. Ein Schlag traf seinen Kopf, einen Augenblick verlor er die Besinnung – dann fiel er wie ein Stein in den Strom. Das kühle Wasser brachte ihn sofort wieder zu sich. Als er wild um sich schlug, berührte seine Hand eine nasse Kette, an die er sich in seiner Todesangst klammerte. Er fühlte, wie warmes Blut über sein Gesicht rann. Aber er biß die Zähne zusammen und zog sich langsam an der Kette in die Höhe. Die Anstrengung war ihm fast zu groß. Bei jeder schmerzenden Bewegung war er in Versuchung, sich loszulassen, um Ruhe und Frieden im Wasser zu finden. Rikisivi hatte das veranlaßt: das war sein alter Trick, um Zeugen verschwinden zu lassen. Eli Boß würde das niemals gewagt haben … Ein zäher Wille zum Leben erwachte wieder in ihm.

 

Er kletterte weiter nach oben, griff nach einem abgerissenen Draht und fühlte, daß er seine Hand verletzt hatte. Dann aber reichte er höher hinauf und faßte das Geländer. Mit einer letzten Kraftanstrengung erreichte er gerade noch das Hinterdeck, bevor er ohnmächtig zusammenbrach.

 

Das erzählte er Graham.

 

Graham Hallowell hörte ihm zu und war starr vor Schrecken.

 

»Hope Joyner ist hier? – Sie verfluchtes Schwein!«

 

»Verbergen Sie mich! Sie müssen mich verstecken!« Colleys Zähne schlugen vor Furcht und Kälte zusammen. Das weiße, blutbefleckte Gesicht war schrecklich anzusehen.

 

»Er wird mich töten …; und er wird auch Sie töten, Hallowell!«

 

Man hörte draußen auf dem Gang Schritte, und Graham überlegte schnell. Unter dem Bett war eine lange, verschließbare Truhe, die die ganze Länge der Bettstelle einnahm. Er untersuchte sie und fand sie leer. Der unglückliche Colley kroch hinein. Kaum war der Deckel wieder fest verschlossen, als Eli Boß in die Kabine trat.

 

»Haben Sie Ihren Koks mitgebracht?« fragte er und schaute dabei nach dem Geldschrank.

 

Graham besann sich, daß der Zweck der Reise angeblich Kokainschmuggel nach Indien war.

 

»Ich dachte, Sie würden noch einen Reisegenossen haben – Colley, so ungefähr hieß er –, aber er mußte umkehren. Haben Sie alles, was Sie brauchen?«

 

Grahams Koffer lag auf dem Bett.

 

»Den könnten Sie da unten hineinstellen – ist das alles, was Sie mitgebracht haben?« fragte der Kapitän.

 

»Das ist alles, was ich brauche.«

 

Als Eli Boß gehen wollte, kam Graham ein Gedanke.

 

»Ich würde gern eine Pistole haben«; sagte er.

 

Der Alte drehte sein blutrotes Gesicht um und kniff die Augen zusammen, so daß sie nur noch wie Schlitze aussahen.

 

»Sie brauchen eine Pistole – wozu wollen Sie die denn haben?«

 

»Sie könnte ganz nützlich für mich sein«, sagte Graham kühl.

 

»Ich dachte, Sie hätten eine?« Ohne weiteres suchte er mit seinen dicken Händen Graham Hallowell nach einer Waffe ab. »Ach, ich dachte, Sie hätten eine«, sagte er dann, und man sah Befriedigung in seinen bösen Augen. »Wir brauchen keine Schießwaffen an Bord, Sir. Niemand kommt hierher, und niemand wird Ihnen etwas tun. Wir sind jetzt aus dem Fluß heraus.« Es war unnötig, daß er das sagte, denn die ›Pretty Anne‹ rollte und schlingerte in den Wellen der Nordsee.

 

Er warf die Tür krachend zu, als er hinausging. Das Dröhnen seiner schweren Fußtritte wurde schwächer und schwächer. Graham wandte sich schnell zum Bett und prüfte seinen Koffer. Er sah gleich an den Kratzern und an den Beschädigungen in der Nähe der Schlösser, daß man versucht hatte, ihn zu öffnen. Aber es war nicht gelungen, denn der Koffer war besonders fest, und er hatte ihn schon mit Rücksicht auf solche Zwischenfälle gewählt. Er verschloß die Tür der Kabine, bevor er ihn öffnete. Aus einem Lederfutteral nahm er eine langläufige Browningpistole und ein Paket Munition heraus. Einen Rahmen steckte er in das Magazin der Pistole, die anderen verwahrte er in seiner Tasche. Jetzt fühlte er sich etwas wohler. Dann erinnerte er sich an Colley unter dem Bett und eilte ihm zu Hilfe.

 

Der Mann war nahe daran, ohnmächtig zu werden, als er ihn aus seinem Versteck herauszog.

 

»Haben Sie ihn gehört?«

 

Colley schüttelte den Kopf, er konnte nicht sprechen.

 

»Er sagte, daß Sie zurückgegangen sind. Nun sagen Sie mir aber, wo ist Hope Joyner?«

 

»Ich weiß es nicht – irgendwo auf dem Schiff. Sie brachten sie an Bord, bevor ich niedergeschlagen wurde.«

 

»Wie haben Sie das bloß fertiggebracht, sie hierher zu bringen? Aber ich will das jetzt nicht wissen, Sie müssen mir später darüber Rede und Antwort stehen, Colley. Und gnade Ihnen Gott, wenn dem Mädchen etwas passiert!«

 

Er durchsuchte schnell die Kabine, versuchte die Klinke einer zweiten Tür und fand, daß sie zu einem kleineren Raum führte. Eli hatte ihm ein Bad versprochen und tatsächlich sein Wort gehalten. Eine verbeulte Dusche hing von der Decke herunter, und er fand auch einen alten Hahn unten. Sonst war die ganze Kabine leer. Der Raum hatte den Vorteil, daß er vom Gang aus nicht erreichbar war. Der einzige Zugang führte in Graham Hallowells Kabine.

 

»Gehen Sie da hinein – hier ist ein Handtuch. Ich werde Ihnen noch ein paar Bettücher und ein Kissen geben. Ich denke, daß Sie für die Nacht sicher sind. Ich schließe Sie ein.«

 

»Geben Sie mir bitte etwas Wasser«, stöhnte der Verwundete, und Graham reichte ihm die Wasserflasche vom Regal.

 

Mit der Pistole in der Tasche ging Graham auf den Gang hinaus und schloß die Kabinentür hinter sich zu. Die ›Pretty Anne‹ schaukelte und rollte in einer steifen Brise, die von Nordosten kam. An der Küste konnte er einen Streifen glitzernder Lichter sehen und vermutete, daß es einer der bekannten Badeorte sei. Er stand auf der Seite und hielt sich an einer Stütze fest, um zu verhüten, daß er auf das Deck geworfen wurde, was bei jedem Überholen des Schiffes geschehen konnte. Er hörte, wie Eli Boß die Treppe von der Kommandobrücke herunterkam und auf ihn zuging.

 

»Gehen Sie jetzt zu Bett«, sagte er rauh. »Ich brauche nachts niemand auf dem Schiff.«

 

Hallowell hatte den Arm um den Pfosten gelegt und drehte sich herum.

 

»Ich gehe zu Bett, wann es mir paßt«, sagte er ohne Aufregung. »Und hören Sie eins«, fuhr er fort, ehe der starke Mann sich von seinem Erstaunen erholen konnte. »Ich reise mit Ihnen als Passagier, und Sie bekommen dafür Ihre gute Bezahlung. Sie werden auch dafür bezahlt, daß Sie sich hier anständig gegen mich benehmen. Ich bin gerade aus Dartmoor entlassen – vielleicht kennen Sie das –, und in Dartmoor gibt es starke Kerle, gegen die Sie nur ein Säugling sind! Denken Sie daran – ich lasse nicht mit mir spaßen!«

 

Seine Hand faßte den Pistolengriff, aber das wußte Eli Boß nicht. Der großspurige Kapitän war plötzlich eingeschüchtert, nicht durch die überragende körperliche Kraft, sondern durch die schneidige Stimme eines Mannes, der früher einmal ein Gentleman war.

 

»Wir wollen uns nicht streiten, Sir«, sagte er beinahe unterwürfig. »Wenn Sie ein wenig frische Luft schöpfen wollen, sollen Sie sie haben. Wenn Sie mich in Ruhe lassen, dann werde ich Sie auch in Ruhe lassen!«

 

»Ich werde tun, was mir beliebt«, sagte Graham. »Es ist Ihre Pflicht, dieses Schiff zu führen, bis wir in den Hafen kommen. Das ist Ihre Aufgabe. Und wenn Sie das tun, werde ich Sie stets in Ruhe lassen. – Hier an Bord ist ein Mädchen, Kapitän. Ich habe den Auftrag, mich ihrer anzunehmen. Das ist meine Sache, und wenn Sie mir dazwischenkommen, dann wird es Ihnen verteufelt schlecht gehen.«

 

Eli Boß wollte etwas sagen, besann sich aber eines andern und stolperte wieder die Leiter zu seiner Kommandobrücke hinauf.

 

Kapitel 19

 

19

 

Bobby fand Dick Hallowell zusammengesunken an der inneren Mauer der kleinen Bastei. Er war bewußtlos. Bobby nahm ihn auf die Schulter, trug ihn in das Wachzimmer und legte ihn auf eine Pritsche nieder. Einige Leute der Wache liefen fort, um einen Arzt und den Kommandeur zu rufen. Oberst Ruislip war noch nicht zur Ruhe gegangen. Er saß in seinem Arbeitszimmer und wartete auf die Rückkehr seiner Gattin, als ihm die Ordonnanz den Vorfall berichtete. Er war schon an Dicks Seite, ehe der Arzt kam, und ließ sich von dem Sergeanten die merkwürdige Geschichte der drei betäubten Schildwachen erzählen. Gleich darauf fand man auch den bewußtlosen Posten am Ufer.

 

Merkwürdigerweise entdeckte man den Raub nicht sofort, denn die Diebe hatten kaltblütig die äußere Tür der Schatzkammer abgeschlossen, ehe sie mit ihrer Beute entflohen.

 

»Aber sie müssen doch die Absicht gehabt haben, den Kronschatz zu rauben. Mein Gott, was für schreckliche Dinge hätten passieren können!«

 

Man hatte Dick den Uniformrock ausgezogen. Er war ganz weiß und immer noch bewußtlos. Die vier Soldaten lagen in einer ähnlichen Verfassung auf dem Fußboden. Endlich kam der Arzt. Er trug einen feldgrauen Rock über seinem Pyjama.

 

Schnell untersuchte er Dick und die anderen Leute.

 

»Es ist irgendeine Gasvergiftung«, sagte er, als er den sonderbaren Geruch bemerkte. Als er dem einen Mann mit dem nassen Schwamm über das Gesicht fuhr, kam er wieder zu Bewußtsein. Von ihm erfuhren sie die Geschichte von dem Offizier und der Schokolade.

 

»Es war natürlich nicht Dick«, sagte Bobby schnell. »Es war der Bursche, den ich für ihn hielt. Auf irgendeine Weise war er an Dicks Stelle gekommen – der Himmel mag wissen wie.«

 

Er fragte den Sergeanten der Wache, der ihm berichtete, daß er glaubte, ein leises Geräusch vernommen zu haben.

 

»Dann befahl mir der Offizier, geradeaus zu sehen«, schloß der Mann seinen Bericht.

 

»Da muß es passiert sein«, sagte Bobby.

 

Der Oberst winkte den Trompeter der Wache zu sich.

 

»Blasen Sie Alarm«, sagte er. Gleichzeitig gab er Bobby den Befehl: »Übernehmen Sie das Kommando über die Wache, bis Sie abgelöst werden. Verdoppeln Sie alle Posten. Niemand darf den Tower ohne meine direkte Erlaubnis betreten oder verlassen.«

 

In großer Unruhe ging er zu seiner Wohnung und überlegte noch, an welches Mitglied der Regierung er zuerst telefonieren sollte. Plötzlich hörte er seinen Namen, und als er sich umdrehte, sah er eine Frau, die schnell auf ihn zueilte. Es war Lady Cynthia.

 

»Was ist geschehen, John?« fragte sie ängstlich.

 

»Komm mit, ich will dir alles erzählen!«

 

Als sie nebeneinander zu ihrer Wohnung gingen, erklärte er ihr alles, was vorgefallen war.

 

»Der Kronschatz?« rief sie verstört. »Das ist nicht möglich!«

 

»Ich hoffe es«, sagte er düster. »Wir werden es in ein paar Minuten wissen, wenn der Kastellan und der älteste Aufseher kommen, nach denen ich geschickt habe. Ich werde mit ihnen die Sache untersuchen.«

 

Als er noch sprach, erklangen die langhinhallenden Töne des Trompetensignals in der stillen Nacht. Bevor er sein Haus erreichte, sah er, wie überall in den Mannschaftsräumen und Offiziersquartieren Licht aufflammte.

 

»Wo warst du, meine Liebe? Warum kommst du so spät?« Es war sonst nicht seine Gewohnheit, sie auszufragen, und noch dazu in so scharfem Ton. Und es war ebenso ungewöhnlich, daß Lady Cynthia so sanft antwortete.

 

»Ich habe mit jemand diniert, den ich zwanzig Jahre nicht gesehen habe«, sagte sie. »Es ist eine Privatangelegenheit, und ich möchte nicht, daß du mich wieder danach fragst.«

 

Der Oberst war zu erstaunt, um gleich antworten zu können. Als er telefonierte, sah er zu seiner Gattin hinüber und war erschrocken über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. Sie sah alt und verbraucht aus. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Das herausfordernde Selbstvertrauen, das er so gut an ihr kannte, war verschwunden.

 

Er machte seinen Bericht, ging zu seinem Zimmer hinauf und zog die Uniform an. Lady Cynthia, die erstarrt in der Halle stand, beobachtete, wie er die Treppe herunterkam und seinen Säbelgurt umschnallte. Der Kasernenhof unten war mit Soldaten gefüllt. Als der Oberst aus seiner Wohnung heraustrat, hörte er das Geräusch von Gewehrkolben auf den Steinen und die scharfen Kommandos der Kompanieführer. Als er quer über den Platz ging, holte ihn der Adjutant ein.

 

»Oh, Sie sind es, Ferraby?« sagte er kurz. »Ich brauche zwanzig Mann und zwei Offiziere, um die Wache zu verstärken. Die übrigen Mannschaften bleiben Gewehr bei Fuß im Kasernenhof stehen.«

 

Er war zur selben Zeit im Wachzimmer, als der Kastellan und der älteste Aufseher ankamen. Sie öffneten zusammen die Tür des Wakefield-Turmes und gingen hinein. Der Kastellan eilte voraus. Nach einigen Minuten hörte der Oberst einen Schrei.

 

»Die Stahltüren sind offen!«

 

Sie folgten dem Kastellan in die Schatzkammer. Ein Blick auf den Glaskasten genügte. Die Läden waren auf, aber alle Juwelen mit Ausnahme der einen Krone lagen noch dort. Man sah kein Anzeichen, daß eingebrochen war. Offensichtlich kannten die Diebe das Geheimnis, wie die schweren Stahltüren gehoben und gesenkt wurden.

 

Scotland Yard wurde zuerst von dem Vorfall benachrichtigt. Als der Oberst den Wakefield-Turm verließ, wurde er bereits gerufen, um die ersten Detektive, die angekommen waren, passieren zu lassen. Er gab sofort die nötige Erlaubnis und ging zu dem Wachraum zurück. Dick Hallowell saß auf einem Stuhl im Offizierszimmer und sah noch sehr mitgenommen und blaß aus, aber anscheinend hatte die Betäubung keine bösen Folgen hinterlassen.

 

»Ich weiß nicht, was geschehen ist – ich kann mich nur noch darauf besinnen, daß mir ein betäubendes Gas ins Gesicht geblasen wurde. Dann muß ich bewußtlos geworden sein.«

 

Er schaute in das finstere Gesicht seines Obersten.

 

»Was ist geschehen?« fragte Dick.

 

»Ein Teil der Kroninsignien ist gestohlen«, sagte der Oberst.

 

Einen Augenblick dachte Dick Hallowell, es sei ein böser Traum. Er legte seine Hand über die Augen, als ob er sich davon überzeugen wollte, daß er wach sei.

 

»Die zweite Krone ist fort«, sagte der Oberst. »Sie ist geraubt worden. Einer der Schufte trug die Gardeuniform und hat an Ihrer Stelle die Wache kommandiert.«

 

»Die Krone ist fort?«

 

Dick sprang auf die Füße und hielt sich an der Tischecke fest.

 

»Wer hat meine Stelle eingenommen?«

 

Die Frage war an Bobby gerichtet.

 

»Ich weiß es nicht.« Bobby Longfellow konnte seinem Freund nicht in die Augen sehen. »Ich bin nicht sicher, daß ich ihn wiedererkennen würde, es war so dunkel –«

 

»Hast du seine Stimme gehört?« fragte Dick ruhig.

 

»Ja, die hörte ich.«

 

Ein tödliches Schweigen folgte. Dick brach es. »Es war natürlich Graham.« Bobby antwortete nicht.

 

»Graham! Unsere Stimmen sind fast gleich, aber du kennst den Unterschied. Haben denn die Alarmklingeln im Wachzimmer nicht angeschlagen?«

 

In der Aufregung des Augenblicks hatte selbst der Oberst die Alarmklingeln vergessen. Der Sergeant von der Wache wurde geholt.

 

»Nein, Sir«, sagte er. »Wir haben nichts gehört.« Der älteste Aufseher machte dieselbe Aussage. Bobby Longfellow aber fand sehr schnell die einfache Lösung des Rätsels. Mit Hilfe einer Leiter untersuchte er die Klingel im Wachzimmer und erkannte auf den ersten Blick die Ursache. Der Hammer der Klingel war dicht unten abgeschnitten, und der Zapfen, der sie in Bewegung setzte, war durch einen hölzernen Keil festgeklemmt. Alle anderen Alarmklingeln waren ebenso unbrauchbar gemacht. Es war vollständig klar, was hier geschehen war. Die offizielle Untersuchung durch den ›Inspektor‹ war durch alle notwendigen offiziellen Dokumente beglaubigt, trotzdem war sie nur ein Teil des ganzen arglistigen Planes. Der Mann war von Glocke zu Glocke gegangen und hatte eine nach der anderen unbrauchbar gemacht.

 

Dick Hallowell war nicht besonders erstaunt, als er durch einen anderen Offizier ersetzt wurde und vom Adjutanten erfuhr, daß er vorläufig vom Dienst dispensiert sei und den Tower nicht verlassen dürfe. Das war eine unvermeidliche Förmlichkeit. Er hatte den Befehl über die Wache gehabt, als der große Diebstahl stattfand, er war dafür verantwortlich. Müde und niedergeschlagen ging er zu seinem Zimmer. Kurz darauf kam Bobby Longfellow zu ihm.

 

»Ich glaube, es steht außer allem Zweifel, daß ich jetzt die Armee verlassen muß«, sagte Dick düster. »Nach dem, was geschehen ist, muß ich zufrieden sein, wenn sie mir den schlichten Abschied geben.« Dann machte er eine ungeduldige Handbewegung, um seine trüben Gedanken zu verscheuchen. »Hast du Hope gesehen?«

 

Bobby schüttelte den Kopf.

 

»Sie war nicht zu Hause. Sie hatte eine Verabredung und war noch nicht zurückgekommen, als ich wieder fortging.«

 

»Um wieviel Uhr warst du dort?«

 

Bobby dachte nach.

 

»Zuletzt versuchte ich es um ein Uhr. Der Nachtportier erzählte mir, daß sie noch nicht zurückgekehrt sei, und ich war so bestürzt, daß ich die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufging, um mich selbst zu überzeugen.«

 

»War sie wirklich noch nicht zurück?«

 

»Nein«, sagte Bobby. »Ich war sehr beunruhigt. Ich glaubte tatsächlich, daß ich zu dir spräche, als ich entdeckte –«, er zögerte.

 

»Daß es Graham war«, sagte Dick gleichmütig.

 

»Ich vermute, daß es Graham war.« Bobby war vorsichtig. »Auf keinen Fall kann ich es beschwören.«

 

Du Hallowell sah nach der Uhr. Es war ein paar Minuten nach zwei. Er nahm das Telefon und verlangte eine Nummer.

 

»Es tut mir sehr leid, Sir«, sagte die Stimme des Telefonisten. »Wir haben scharfe Anweisung, heute nacht keine Gespräche aus dem Tower zu vermitteln.«

 

Die beiden Offiziere sahen sich an. Einen Augenblick lang vergaß Dick Hallowell seine eigene Bedrängnis und sein trauriges Schicksal über der Sorge um Hope.

 

»Es wird einen ganz alltäglichen Grund haben, daß sie noch nicht zu Hause ist«, sagte er unbehaglich. »Vielleicht ist sie irgendwo zum Tanz eingeladen –«

 

»Sie war nicht so angezogen, als ob sie zum Tanzen gehen wollte«, protestierte Bobby. »Ich fragte deswegen ihr Mädchen. Natürlich kann sie aber trotzdem bei jemand eingeladen sein.«

 

Dick schüttelte den Kopf.

 

»Kannst du wohl zum Tower hinaus, Bobby?« fragte er schnell. »Ich darf ihn leider nicht verlassen.«

 

Bobby sah ihn zweifelnd an.

 

»Warte, bis ich mich umgekleidet habe«, sagte er und verschwand in sein Zimmer. Als er zehn Minuten später zurückkam, war er in Uniform.

 

»Ich melde mich beim Oberst, und wenn ich irgendeine Entschuldigung finde, um dieses grausige Gefängnis zu verlassen, fahre ich sofort zu Hope.«

 

Er brauchte keine »Entschuldigung« zu finden, denn kaum war er zu der Gruppe von Beamten getreten, die sich in dem Offizierswachraum versammelt hatten, als ihn Oberst Ruislip beiseite nahm.

 

»Der Kriegsminister ist nicht in der Stadt«, sagte er mit leiser Stimme. »Aber der Unterstaatssekretär war am Telefon und bat mich, ihm einen Offizier zu schicken, der ihm alles berichten könnte. Er braucht Unterlagen, um morgen eine eventuelle Anfrage im Parlament beantworten zu können. Suchen Sie ihn auf, Longfellow. Hier sind die Namen der Schildwachen, die betäubt wurden, auch die Zeitangaben und alle Aussagen. Sie werden ihm das Wachreglement und das Wachsystem im Tower erklären. Geben Sie ihm die Aufklärung, die er braucht.«

 

»Wo wohnt er, Herr Oberst?«

 

»Er hat eine Wohnung in Devonshire House – das trifft sich gut.«

 

Bobby dachte auch, daß es sich gut träfe! Er hatte keine Gelegenheit, zu Dick zurückzugehen, aber er schrieb schnell eine kurze Notiz und sandte sie ihm durch eine Ordonnanz.

 

Eines der Polizeiautos wurde ihm zur Verfügung gestellt, und er fuhr quer durch Eastcheap, wo die ersten Marktwagen in der Nähe von Billingsgate anfuhren. In weniger als einer Viertelstunde stand er im Vestibül des Hauses. Seine erste Frage hatte nichts mit dem Unterstaatssekretär des Kriegsministeriums zu tun.

 

Der Portier schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Sir, die junge Dame ist noch nicht zurückgekommen. Ihr Mädchen sprach schon davon, daß sie die Sache der Polizei anzeigen wollte.«

 

Bobby erschrak sehr. Er hatte ein dunkles Gefühl, daß Hope irgend etwas passiert war. Seine Verwirrung war so groß, daß er wieder auf die Straße trat. Plötzlich besann er sich, daß er ja eine offizielle Mission hatte, und ging zurück. Der Portier fragte ihn, ob er vom Tower käme. Dann brachte ihn der Fahrstuhl zur Wohnung des Unterstaatssekretärs. Bobby verbrachte eine ermüdende Stunde, in der er dem wenig intelligenten Mann immer wieder Dinge erklären mußte, die doch von seinem Standpunkt aus alle ganz selbstverständlich waren.

 

»Das ist eine sehr ernste Sache«, sagte der Unterstaatssekretär zum zwölftenmal. »Ich weiß wirklich nicht, wie das Kabinett sich dazu stellen wird. Kein Wort davon darf in die Zeitung kommen, haben Sie verstanden?«

 

»Ich verstehe vollkommen, Sir«, sagte Bobby kalt. (Er hatte die ganze Antipathie eines Militärs gegen einen Zivilisten und Politiker.) »Aber werden mehrere hundert Soldaten und die anderen Leute, die im Tower beschäftigt sind, auch stillschweigen?«

 

Der Unterstaatssekretär war diesem Sarkasmus unzugänglich.

 

»Eine Erklärung wird der Presse später zugehen, wenn es soweit ist«, sagte er. »Aber man darf keinem Zeitungsreporter ein Interview gewähren, die Soldaten müssen dementsprechend instruiert werden.«

 

Es war hell geworden, bevor Bobby gehen konnte. Eine ganze Stunde lang hatte er sich über diesen Zivilisten ärgern müssen. Kaum hatte er die Wohnung verlassen, so suchte er eiligst Hopes Mädchen auf, um womöglich etwas Neues zu erfahren. Er fand die Zofe in Tränen aufgelöst. Hope war noch immer nicht zurückgekehrt, und es war auch keine Botschaft von ihr da.

 

Bobby Longfellow kehrte mit schwerem Herzen zum Tower zurück. Nachdem er sich beim Oberst gemeldet hatte, ging er geradewegs zu Dicks Wohnung. Er fand ihn schlafend auf seinem Bett. Aber als er die Türklinke herunterdrückte, öffnete Dick sofort die Augen und sprang auf.

 

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte er, als Bobby zu Ende war. »Es ist kaum anzunehmen, daß sie die Stadt verlassen hat, sonst hätte sie ihre Zofe benachrichtigt.«

 

Er ging mit gesenktem Kopf in dem Raum auf und ab. Bobby, der sich traurig in einen tiefen Armsessel gesetzt hatte, nickte und gähnte abwechselnd. Plötzlich blieb Dick stehen.

 

»Ich möchte wissen, ob die Telefonsperre aufgehoben ist?«

 

»Ja, natürlich«, sagte Bobby, der plötzlich wieder wach wurde. »Ich dachte, das hätte ich dir gesagt. Offiziere dürfen wieder telefonieren.«

 

Als die Detektive im Tower ankamen, waren alle Einschränkungen des Telefonverkehrs wieder aufgehoben worden. Drei Spezialisten waren aber in der Zentrale, um alle Gespräche zu überwachen.

 

»Ich werde Diana anrufen«, sagte Dick und suchte im Telefonbuch nach ihrer Nummer.

 

»Diana?« Bobby machte große, verwunderte Augen. »Glaubst du denn, daß die etwas weiß?«

 

»Vielleicht.«

 

»Aber wenn sie nun über Graham spricht?«

 

Dick achtete nicht auf seinen Einwand.

 

»Ich habe der Polizei bereits gesagt, daß der Mann, der in meiner Charge auftrat, meiner Meinung nach mein Bruder war. Ich habe ihnen nichts von Diana erzählt, da ich ihre Beziehungen zu Graham nicht genau kenne. Ich habe einen Gedanken – aber es mag sein, daß ich mich irre; es ist nämlich möglich, daß Graham sie damals nach der Auseinandersetzung geheiratet hat. Daß sie sich schon liebten, als sie noch mit mir verlobt war, habe ich zu meinem Bedauern erfahren müssen.«

 

Er verlangte Dianas Nummer, und es kam ihm verdächtig vor, daß sie sofort antwortete.

 

»Dick Hallowell ist am Apparat… Diana weißt du, was mit Hope Joyner passiert ist?«

 

Anscheinend verblüffte sie diese Frage, denn sie antwortete nicht gleich, und als sie es tat, war ihre Überraschung unverkennbar.

 

»Hope Joyner? Ich weiß nicht – was soll mit ihr sein?«

 

»Sie verließ ihre Wohnung gestern abend und ist seitdem nicht mehr gesehen worden«, sagte Dick. »Diana, weißt du wirklich nichts?«

 

»Wie seltsam! – Ich weiß leider gar nichts. Ich sehe sie nie. Warum fragst du eigentlich mich?« – eine Pause. – »Ist irgend etwas los im Tower?«

 

Sie sprach nicht mehr von Hope, dessen war er sicher.

 

»Wo ist Graham?« fragte er, und ihre Antwort kam zu schnell.

 

»Ich habe ihn seit zwei Tagen nicht gesehen. Warum fragst du?« Dann fuhr sie fort: »Was ist geschehen? Warum bist du schon so frühmorgens auf?«

 

»Das kann ich dir nicht sagen, Diana. Willst du etwas für mich tun? Willst du so gut sein und nach Devonshire House gehen und sehen, ob es möglich ist, Hopes Spur zu finden?«

 

Sie überlegte, bevor sie antwortete.

 

»Ja, Dick, das will ich tun. Warum hast du mich nach Graham gefragt? Ist er irgendwie – in Schwierigkeiten?«

 

»Ich bin dessen nicht sicher«, antwortete er. »Läute mich an und sage mir, ob du irgend etwas über Hope herausbringen kannst.«

 

Die Morgenzeitungen waren bereits in den Tower gebracht worden, aber selbst in den späten Ausgaben fand sich keine Zeile über den Raub. Um neun Uhr morgens wurde eine Besprechung im Zimmer des Obersten abgehalten, an der Dick teilnahm. Einer der Chefs des Kriegsministeriums war von außerhalb eingetroffen und hatte bereits den ganzen schriftlichen Bericht durchgesehen.

 

»Es liegt kein Anlaß vor, weshalb Sir Richard vom Dienst dispensiert werden sollte und den Tower nicht verlassen dürfte. Es ist doch vollkommen klar, daß er ebensogut ein Opfer des Anschlags geworden ist wie die vier Soldaten.«

 

Dick erfuhr nun, daß man das Boot, das die Räuber nach dem Tower brachte, aufgefangen hatte, als es die Themse hinuntertrieb. Die Stelle, an der die Verbrecher gelandet waren, wurde von einem Polizisten ausfindig gemacht, der in den frühen Morgenstunden zwei Privatautos und eine Droschke fortfahren sah und diesen außergewöhnlichen Vorgang meldete. Es wurde noch eine andere nach Meinung der Polizei wichtige Tatsache entdeckt. In der vorigen Nacht war auf einem der Flugplätze ein Privatflugzeug gemietet worden, das bereitgehalten wurde, bei Tagesanbruch ohne Zwischenlandung nach Irland zu fliegen. Beim Frühlicht war ein Wagen angekommen, aus dem ein Mann mit einem schweren Paket stieg. Er hatte seinen Namen mit Thompson angegeben. Das Flugzeug war unmittelbar nach seinem Eintreffen aufgestiegen und später in Curragh gelandet, wo ein anderes Auto wartete, um den Flugzeugpassagier zu einem unbekannten Bestimmungsort zu bringen. Aber noch wichtiger war es, daß der geheimnisvolle Mann ein Notizbuch zurückgelassen hatte, das außer einigen Geldscheinen den Blaudruck eines Planes vom Londoner Tower enthielt, auf dem verschiedene Zeichen enthalten waren, die die irische Polizei nicht entziffern konnte.

 

»Es scheint fast so«, sagte Inspektor Wills, der an der Konferenz teilnahm, »als ob das der Gesuchte wäre. Das Auto, das nach Croydon fuhr, entspricht einem der drei Wagen, die das Ufer verließen. Wir haben die irische Polizei gebeten, uns den Plan durch Flugzeug zuzuschicken, und er wird sehr bald in unseren Händen sein. Es ist immerhin möglich, daß es nur eine Finte ist, um uns von der wirklichen Spur wegzulocken. Auf der anderen Seite ist Irland eines der wenigen Länder, nach dem sich die Diebe vielleicht gewandt haben könnten, weil dort andere Verhältnisse herrschen.«

 

Tatsächlich war es zu der Zeit ganz ruhig dort. Aber Irland ist für den Durchschnittsengländer eben ein Land, in dem Unruhen an der Tagesordnung sind.

 

Die Polizei wunderte sich am meisten darüber, daß die Diebe die anderen königlichen Insignien nicht angetastet hatten. Waren doch Dinge von immensem Wert dort, die man sehr leicht hätte wegbringen können. Aber sie hatten sich mit der Krone allein begnügt, die neben ihrem unheimlichen Wert auch das größte historische Interesse beanspruchen konnte.

 

Man entdeckte auch noch einen kleinen Stahlzylinder, der Gas einer unbekannten Art enthielt. Einige Versuche, die man damit anstellte, zeigten, daß die Diebe Dick und die unglücklichen Posten damit betäubt hatten.

 

Es war elf Uhr, und Dick holte sein verspätetes Frühstück nach, als plötzlich das Telefon klingelte. – Es war Diana. Ihre Stimme klang schrill und erregt.

 

»Bist du es, Dick…? Kannst du mir irgend etwas von Graham sagen…«

 

»Nein«, antwortete er.

 

Bevor er aber selbst etwas fragen konnte, fuhr sie fort:

 

»Über Hope konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Sie ist letzten Abend ausgegangen und nicht wieder zurückgekehrt… Und, Dick, Colley Warrington ist auch verschwunden…«

 

Die Bedeutung dieser Tatsache wurde ihm nicht sofort klar.

 

»Colley Warrington?«

 

»Ja… Ja, ja« – sagte sie ungeduldig. »Verstehst du denn gar nicht? Er hat sich in letzter Zeit sehr für Hope interessiert. Ich kann dir nicht mehr sagen, Dick. Ich bin krank vor Aufregung.«

 

»Aber was hat denn Colley Warrington mit der ganzen Sache zu tun?« fragte er.

 

»Dick, er wollte sie für jemand haben.« – Sie war dem Weinen nahe. »Verstehst du denn gar nicht? Es war jemand sehr scharf auf Hope.«

 

»Kishlastan?« fragte er schnell und wurde bleich.

 

»Ich kann dir nicht sagen, wer – es geht mir alles durcheinander –«

 

Sie hängte ein. Er versuchte noch einmal, Verbindung zu bekommen, aber es antwortete niemand, und er vermutete, daß sie den Hörer auf den Tisch gelegt hatte – ein alter, irreführender Trick, den er von früher her kannte.

 

Kishlastan! Diese Nachricht ließ seine Gedanken schneller arbeiten. Er verlangte die Zentrale und ließ sich mit dem Hotel des Fürsten verbinden. Er hatte noch keine Ahnung, daß Rikisivi London bereits verlassen hatte. Diese Tatsache erfuhr er erst von dem Empfangschef.

 

»Der Fürst hat London bereits vor einer Woche verlassen und ist an Bord des Dampfers ›Poltan‹ von der P. & O.-Linie nach Indien zurückgekehrt.«

 

*

 

Als Oberst Ruislip die Nachricht brachte, daß alle Verfügungen aufgehoben waren, die sich gegen Richard Hallowell richteten, kam Lady Cynthia wieder einigermaßen zu sich.

 

»Die Narren!« sagte sie erregt. »Natürlich ist er in die Sache verwickelt. Warum kam denn Diana letzte Nacht hierher? Das ist doch seine alte Liebe. Ich habe sie niemals eingeladen. Sie muß irgendwie gewußt haben –« Plötzlich hielt sie inne.

 

»Sie muß gewußt haben, daß du ausgingst. Wie hat sie das erfahren? Mit wem hast du diniert, Cynthia?«

 

»Hast du ihr etwas über die Insignien im Tower gesagt?« Durch diese Gegenfrage vermied sie eine Antwort.

 

»Ich – Diana gesagt?« Er runzelte die Stirn. »Nein, ich glaube nicht… Zum Donnerwetter, ja, das habe ich getan. Ich erwähnte ihr gegenüber die Losung!«

 

»Siehst du!« Lady Cynthia lehnte sich mit einem triumphierenden Lächeln zurück. »Begreifst du nun, daß sie mit im Komplott war? Warum hat sie denn den Abend ausgesucht, an dem Dick Hallowell die Wache kommandierte?«

 

»Mit wem hast du gestern abend diniert?« fragte er ruhig, und diesmal konnte sie ihm nicht ausweichen.

 

»Ich will dir die Wahrheit sagen, John«, erwiderte sie. »Ich habe mit niemand diniert. Jemand, der meinen Vater und meinen verstorbenen Mann kannte, bat mich darum, daß ich mit ihm speisen sollte. Außerdem sagte er mir, daß es sich um eine sehr eilige Angelegenheit handle. Törichterweise ging ich hin und glaubte, in spätestens zwei Stunden zurück zu sein. Der Herr, den ich treffen wollte, war nicht im Restaurant. Aber er hatte eine Nachricht hinterlassen, daß er später kommen würde. Ich wartete bis halb zehn, da kam plötzlich eine andere Nachricht, daß er krank geworden sei und mich bäte, ihn aufzusuchen. Ich ging zu seinem Haus und wurde in das Arbeitszimmer geführt, wo ich warten sollte. Es kam niemand, und nach einiger Zeit entschloß ich mich, zum Tower zurückzukehren. Da fand ich, daß die Tür zugeschlossen war. Als ich die Klinke herunterdrückte, wurde ein Stück Papier hereingeschoben, auf dem ein paar Worte standen, daß ich mich ruhig verhalten sollte oder –«

 

Sie fuhr nicht fort.

 

»Er wußte etwas von dir – etwas von deiner Vergangenheit«, sagte der Oberst mit leiser Stimme.

 

Sie nickte.

 

»Er drohte, es bekannt zu machen, wenn… Ja, so ist es. Willst du, daß ich dir erzählen soll –«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich denke, ich weiß es, Cynthia. Ich bin ja nicht ganz so dumm. Als wir uns heirateten, habe ich verschiedenes gehört. Aber ich dachte, es wäre das beste für uns beide, wenn wir die Vergangenheit ruhen ließen. Ich wünschte nur, du hättest mich gleich ins Vertrauen gezogen.« Sie seufzte tief.

 

»Hast du ihn nicht gesehen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Um ein Uhr wurde die Tür aufgeschlossen, und ich verließ die Wohnung, ohne daß ich einen Menschen zu Gesicht bekam.«

 

Der Oberst stopfte seine Pfeife und zündete sie an. Seine Hand zitterte. Er sprach nicht, bis er einige Züge getan hatte.

 

»Du willst mir seinen Namen nicht sagen?«

 

Sie machte eine verzweifelte Handbewegung.

 

»Du würdest nicht klüger sein, wenn ich ihn dir sagte. Es ist ein Mann, den ich kannte, als ich ein junges Mädchen war. Ein wilder, merkwürdiger, eigenwilliger Mensch, der sich über Recht und Gesetz hinwegsetzte. Mein Vater sagte, daß er ein Verbrechertyp sei, und ich glaube, daß er recht hatte. Er besaß immer sehr viel Geld, lebte auf großem Fuß, aber er hatte immer mit merkwürdigen Geschichten zu tun, selbst als er in Oxford studierte.«

 

Der Oberst legte seine Hand auf ihre Schulter.

 

»Armes, liebes Kind!« sagte er heiser. Und diese Worte genügten, um den Stolz dieser harten, kalten Frau zu brechen. Im nächsten Augenblick lag sie schluchzend an seiner Brust.

 

Kapitel 15

 

15

 

Am Vorabend seiner Abfahrt nach Kishlastan hatte Rikisivi zwei wichtige Unterredungen. Die erste ganz öffentlich mit Colley Warrington, die zweite aber, von der niemand wußte, mit Tiger Trayne, Sie fand in einem geschlossenen Auto statt, das im Park spazierenfuhr. Das war eine Lieblingsmethode von Tiger, die Möglichkeit, ihn zu beobachten und zu belauschen, auf ein Minimum herabzusetzen. Mit Colley traf sich Rikisivi im Hotel. Dieser aalglatte, gewandte Mann gab einen unterhaltsamen Bericht von seiner Zusammenkunft mit Eli Boß.

 

»Er fährt in der Nacht zum Sechsundzwanzigsten. Ich habe alles mit ihm ausgemacht, und die Sache geht in Ordnung.«

 

»Haben Sie gute Möbel an Bord gebracht?« fragte Riki. »Sie muß von Luxus umgeben sein.«

 

Colley schüttelte den Kopf.

 

»Das war unmöglich«, sagte er. »Das Schiff wird von Zollbeamten bewacht, und wahrscheinlich auch –«, er wollte eigentlich sagen »von der Polizei«, aber er verbesserte sich schnell, um den Fürsten nicht zu sehr zu beunruhigen, und sagte, »von den Behörden. Wenn eine Ladung außergewöhnlich luxuriöse Möbel an Bord gehen würde, müßte das unbedingt Verdacht erregen. In dem Augenblick, wo ihr Verschwinden bekannt wird, würde man sich sofort darauf besinnen. Auf keinen Fall darf herauskommen, daß sie an Bord der ›Pretty Anne‹ reist.«

 

»Sind Sie mit ihr im reinen?«

 

Colley nickte.

 

»Ja. Sie speist mit mir am Sechsundzwanzigsten zu Abend. Ich habe ihr gegenüber eine Bemerkung fallenlassen, daß ich etwas von ihren Eltern wüßte, und habe ihr tatsächlich halb versprochen, dieses Geheimnis aufzuklären. Darauf ist sie sofort eingegangen. Wir werden in einem kleinen Restaurant in der Villiers Street zu Abend essen, und ich bat sie, im Straßenkleid zu kommen, weil ich sie eventuell noch zu einer anderen Stelle bringen möchte, wo Abendtoilette Mißtrauen erregen könnte, und auch darauf ist sie eingegangen. Jetzt scheint mir die Sache nicht mehr schwierig zu sein.«

 

»Man wird aber wissen, daß Sie mit ihr zusammen zu Abend gespeist haben.« Der Fürst sah gedankenvoll drein. Er schien von dem Erfolg nicht so ganz überzeugt zu sein.

 

Colley schüttelte lachend den Kopf.

 

»Darüber wird sie unter keinen Umständen sprechen. Ich habe es ihr besonders eingeschärft und ihr gesagt, daß ich selbst mein Wort gebrochen hätte und niemand wissen dürfe, woher sie ihre Informationen erhält. Ich hatte große Sorge, daß sie Hallowell etwas darüber sagen könnte, aber ich habe sie dazu gebracht, daß sie mir hoch und heilig Stillschweigen gelobte. Und sie gehört zu den Mädchen, die ihr Wort halten.«

 

Riki ging in dem Raum auf und ab. »Ist dieser Eli Boß – der Vorname klingt beinahe indisch – denn auch vertrauenswürdig?«

 

Bei dieser Frage zeigte sein Gesicht einen merkwürdigen Ausdruck. Es schien fast so, als ob er in anderer Beziehung an Elis Vertrauenswürdigkeit zweifelte.

 

»Vollständig zuverlässig, sollte ich denken, wenn Sie ihn gut genug bezahlen«, sagte Colley. Dabei huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Wäre es nicht besser, wir würden eine Zofe mitnehmen, die auf der Reise nach Hope Joyner sehen könnte?«

 

»Das ist unnötig, wenn Sie mitgehen«, unterbrach ihn der Radscha schnell. »Ich wünsche nicht, daß eine Frau mit ihr fährt. Wenn es eine Inderin wäre, ja – aber ich habe keine, die mitfahren könnte.«

 

»Da haben Hoheit recht, obgleich es wirklich besser wäre, wenn eine indische Frau an Bord wäre und ihr helfen könnte.«

 

Er nahm ein Papier aus seiner Brieftasche und händigte es dem Fürsten aus.

 

»Hier ist der vorläufige Fahrplan – wir erreichen den Treffpunkt an der indischen Küste achtundvierzig Stunden nach diesem Tag.« Dabei zeigte er auf ein bestimmtes Datum. »Ich habe die Signale genau besprochen, und die Landung wird glattgehen.«

 

Sie sprachen noch über Einzelheiten des Planes, und Colley verließ das Hotel nach einer Stunde mit der ersten Rate seiner Belohnung.

 

Colley bereute keinen Augenblick das unerhörte Verbrechen, das er plante. Wenn er einen Wunsch hatte, so war es nur der, daß der Fürst sein anderes großes Unternehmen für ein oder zwei Monate aufschieben sollte. Er wußte nur, daß Trayne seine Hand im Spiel hatte und daß irgendeine große Sache inszeniert werden sollte – vielleicht noch ein Mädchen … Wenn er gewußt hätte, daß Graham Hallowell ihn nach Indien begleiten sollte, dann hätte er der Reise ablehnend gegenübergestanden.

 

Auf seinem Heimweg besuchte er den Mousetrap-Klub und war gespannt, ob Trayne noch irgendeine Andeutung machen würde, welcher Art das zweite Unternehmen sei. Tiger saß in dem kleinen, hübschen Schreibzimmer, eine Tasse Kaffee vor sich. Eine zur Hälfte gerauchte Zigarre lag auf einer Glasschale neben ihm. Er schrieb einen Brief und hatte dazu eine Brille aufgesetzt. Als sich die Tür öffnete, schaute er sich um. Er war bisher allein im Raum gewesen. Unfreundlich begrüßte er Colley.

 

»Ich komme gerade von einem Besuch unseres gemeinsamen Freundes.«

 

Colley nahm sich eine Zigarre aus der Kiste, die neben Tiger auf dem Schreibtisch stand.

 

»Das ist die schlechteste Nachricht, die ich seit Jahren gehört habe.« Er nahm seine Brille ab und klappte sie sorgfältig zusammen. Auch wendete er den Bogen, auf dem er schrieb, um, so daß man nichts lesen konnte.

 

Mr. Warrington lächelte.

 

»Ich will Sie nicht stören«, sagte er, schnitt die Spitze seiner Zigarre ab, zündete sie an und ließ sich dann in dem bequemen Sessel nieder.

 

»Ich wußte bis jetzt noch gar nicht, daß wir einen gemeinsamen Freund haben. Wer ist denn dieser Unglückliche?« fragte Trayne, indem er die Augenbrauen zusammenzog.

 

»Wollen wir ihn nicht den Herrn aus Indien nennen?«

 

»Riki? Haben Sie ihm das Pikettspiel beigebracht?« Es lag eine böse Anspielung in dieser Frage. Colleys Gewandtheit in diesem Spiel hatte viel dazu beigetragen, seinen gesellschaftlichen Ruf zu untergraben.

 

Colley lachte. Man konnte ihn nicht beleidigen.

 

»Sie kennen ihn doch? Er sagte mir, daß Sie einen Plan für ihn ausführen. Kann ich mich auch an dieser Sache beteiligen?«

 

Trayne nahm seine halbgerauchte Zigarre aus der Kristallschale und steckte sie wieder an.

 

»Nein. Weder der Fürst noch ich würden damit einverstanden sein. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: er ist Ihrer überdrüssig. Er fragte mich, ob ich nicht ein paar Leute wüßte, die Sie erledigen könnten. Aber Jagd nach Lumpen war niemals mein Fall.«

 

Colley war noch immer nicht gekränkt.

 

»Ich habe mich schon so oft gewundert«, sagte er, »warum wir beide nicht bessere Freunde sind.«

 

Tiger lachte.

 

»Wundern Sie sich nicht mehr«, antwortete er prompt. »Ich mag Sie nicht, und ich traue Ihnen nicht – das sind doch sicher zwei gute Gründe, nicht wahr?«

 

»Ich bewundere Offenheit, selbst bei Ihnen«, lächelte Colley.

 

»Was werfen Sie mir eigentlich vor?«

 

Trayne antwortete ihm sofort, und er gebrauchte dabei ein Wort, das das schlimmste war, was er Colley Warrington sagen konnte. Und diesmal hatte er ihn getroffen. Colley wurde blaß, nur zwei hektisch rote Flecken waren auf seinen Wangen zu sehen.

 

»Das Wort kann ich nicht hören«, sagte er scharf.

 

»Deswegen sage ich es ja. Hätte ich es selbst dem gemeinsten Dieb gegenüber gebraucht, so würde er sofort auf mich geschossen haben, und das mit Recht. Aber ich weiß kein anderes Wort, das besser auf einen Mann paßt, der Frauen so schamlos ausbeutet wie Sie, Warrington. Und wenn Sie jetzt nichts dagegen haben, möchte ich meinen Brief zu Ende schreiben.«

 

Colley Warrington verließ den Mousetrap-Klub zitternd vor Wut – nicht das erstemal in seinem Leben hatte Tiger eine seiner empfindlichen Stellen getroffen. Er sann auf einen Weg, wie er diesem großen Verbrecher schaden könnte, aber obwohl er den rasenden Wunsch hatte, sich zu rächen, war doch seine Furcht vor der weitverzweigten Organisation Tiger Traynes noch größer.

 

Er hätte sich die Unruhe und Mühe sparen können, Rachepläne auszuhecken, denn das Schicksal wollte es, daß er und Tiger Trayne einander nie mehr begegnen sollten.

 

Kapitel 1

 

1

 

»Gewehr ab!«

 

Einunddreißig Gewehre bewegten sich mit einem Schlag – einunddreißig weiße Hände flogen wie ein Blitz an einunddreißig Hosennähte, als ob sie gleichmäßig von einer unsichtbaren Maschine bewegt würden. Wie aus Erz gegossen stand die Linie feuerroter Uniformen, die großen Tschakos aus Bärenfell waren tadellos ausgerichtet. Die Marschmusik brach dröhnend und donnernd ab, als die letzten vier Mann der alten Wache um die Ecke des Weißen Turmes schwenkten und verschwanden.

 

»Wegtreten!«

 

Bobby Longfellow steckte die blanke Säbelklinge in die Scheide, klemmte das Monokel fester und schaute auf die kleine Kirche St. Peter ad Vincula, die im lichten Schein eines Sommermorgens vor ihm lag. Er bemerkte eine kleine, dicke Dame, die mit einem Führer in der Hand auf ihn zukam. Sein Sergeant, der in straffer Haltung neben ihm stand, beobachtete den Vorgang. Ein leises Lächeln huschte unbemerkt über sein dunkelbraunes Gesicht.

 

»Entschuldigen Sie, Sir!«

 

Bobby maß mehr als 1,83 Meter. Die Stimme drang von unten zu ihm herauf, und er blickte hinab. Die füllige Dame trug einen kleinen, altmodischen Hut und einen mit Perlen verzierten Umhang. An ihrem Ausschnitt prangte eine große Kameenbrosche. Ihr Gesicht war von der Hitze gerötet. Sie hatte intelligente Züge. Bobby betrachtete ihr dreifaches Kinn und die große, männliche Nase.

 

»Es tut mir leid – hm …«

 

»Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo das Grab der Lady Jane Grey liegt?«

 

Sie sprach mit tiefer Baßstimme. Er blinzelte sie an, als ob er plötzlich aus dem Dunkeln in helles Licht gekommen wäre.

 

»Lady –?«

 

»Lady Jane Grey, Sir.«

 

Er schaute hilflos nach seinem Sergeanten hinüber, und seine weißbehandschuhten Hände spielten nervös mit dem kleinen Schnurrbart.

 

»Haben Sie sich schon auf dem Kirchhof umgeschaut?« fragte er und hoffte, sie damit loszuwerden.

 

»Auf welchem Kirchhof, Sir?«

 

Bobby sandte wieder einen Blick zu seinem Sergeanten, aber der blieb stumm.

 

»Nun – hm – auf irgendeinem Kirchhof! Kennen Sie diese tote Lady, Sergeant?«

 

»Ich habe sie bis jetzt noch nicht gesehen.«

 

Bobby räusperte sich, um den Irrtum des Sergeanten zu korrigieren.

 

»Lady – wie hieß doch der Name gleich? Grey?«

 

Die starke Dame kam ihm zu Hilfe.

 

»Ihr Grab liegt in der Nähe des Tower«, sagte sie leise.

 

Bobby zeigte mit der Rechten auf die Gebäude.

 

»Dies alles ist Tower – das stimmt doch, Sergeant?« fragte er etwas verärgert.

 

Der Sergeant bejahte.

 

»Sie fragen besser einen Beefeater, einen Aufseher, Madam.«

 

Er wollte sich gegen die Beleidigung verwahren, daß man einen Gardeoffizier in voller Galauniform mit einem Fremdenführer verwechselte. Das war ihm bisher noch nicht vorgekommen. Er war zum erstenmal wachhabender Offizier im Tower, und das war gar nicht so sehr nach seinem Geschmack. Er verfluchte die Gluthitze des heutigen Tages und war keineswegs mit dem enganliegenden feuerroten Waffenrock und dem hohen Bärenfelltschako, unter dem man so schwitzte, einverstanden. Ganz offen gesagt, hätte Leutnant Robert Longfellow im Augenblick alles andere lieber sein mögen als ein Subalternoffizier von Seiner Majestät Berwick-Garde.

 

Die starke Dame zog wieder ihren Führer zu Rate. »Wo werden die Kronjuwelen aufbewahrt?«

 

»Im Geldschrank, Madam!« sagte Bobby prompt.

 

Glücklicherweise kam gerade ein berufsmäßiger Fremdenführer dazu und brachte die Besucherin zu seiner großen Erleichterung zu dem Wakefield Tower.

 

»Wie ekelhaft solche Ausfragerei ist!« sagte Bobby. »Was, zum Henker, sollte ich ihr denn sagen, Sergeant?«

 

»Nichts«, sagte der Mann. Bobby grinste und ging in die Wachstube und dann nach seiner Privatwohnung.

 

Mrs. Ollorby aber sah sich weiter die Sehenswürdigkeiten des Tower an. In Wirklichkeit hatte sie weder an den Kronjuwelen noch an der unglücklichen Jane Interesse, die nur einige Meter von der Stelle entfernt, wo Mrs. Ollorby ihre unangebrachten Fragen gestellt hatte, enthauptet worden war.

 

Eine andere Besucherin aber nahm an demselben Morgen großen Anteil an dem tragischen Geschick Janes. Hope Joyner stand vor dem kleinen, viereckigen Stein, der durch eine Eisenkette gesichert wird, damit er nicht von Menschenschritten entweiht wird. Sie schaute auf die einfache Inschrift. Dann schweifte ihr Blick zu der kleinen Kirche, wo die sterblichen Reste der unglücklichen jungen Frau zur letzten Ruhe gebettet waren.

 

»Arme – arme Jane!« sagte sie mit weicher Stimme. Ihr Begleiter Richard Hallowell fand nicht den Mut, darüber zu lächeln.

 

Hier beklagte Jugend das Dahinscheiden der Jugend. Ein junges Mädchen beugte sich mitleidig über die Stelle, wo damals Janes langes Haar über ihr Haupt geschlungen wurde, damit das Henkerbeil ungehindert seine grauenvolle Arbeit verrichten konnte. Er konnte ihr vollendet schönes Profil sehen. In dieser trauernd geneigten Haltung sah ihre Gestalt noch viel graziöser aus als sonst. Ihre zarte, reine Gesichtsfarbe hob sich wundervoll von dem grauen Hintergrund des alten Mauerwerks ab. Die Tragödie des ehrgeizigen Somerset wirkte durch die Anwesenheit dieses schönen jungen Mädchens nur noch bitterer und schmerzlicher.

 

»War es nicht schrecklich? Sie wohnte in King’s House … Von dem Fenster aus sah sie, wie man ihren toten Gatten forttrug …«

 

»Hope, Sie machen den lachenden Morgen durch solche Betrachtungen todtraurig!«

 

Sie lächelte ihn schnell an und legte ihre Hand auf seinen Arm.

 

»Ja – es ist nicht richtig von mir, Dick! Ich will es lassen. Ist der prächtige Offizier dort nicht Bobby?«

 

Die lange, schlanke Gestalt des wachhabenden Offiziers erschien unter der Veranda des Wachthauses.

 

»Ja, das ist Bobby. Gestern abend kam er vom Urlaub zurück, und heute macht er seine erste Wache.« Dick lachte leise. »Er ist ein geborener Müßiggänger – ein klein wenig Tätigkeit befriedigt ihn vollkommen.«

 

»Das ist das erstemal, daß Sie heute gelacht haben«, hielt sie ihm vor. Er hätte ihr gern gesagt, daß er an diesem Morgen wenig Grund zum Fröhlichsein hatte, aber er schwieg.

 

Dick Hallowell sah in der schwarzen, tadellos sitzenden Offiziersuniform mit der feuerroten Binde sehr gut aus. Er war einen Kopf größer als Hope. Seine grauen Augen blickten kühn und klar in die Welt. In seinem Gang lag die Geschmeidigkeit und Biegsamkeit des trainierten Sportlers.

 

»Nun habe ich Ihnen alles gezeigt«, sagte er. »Ich hoffte, es würde den ganzen Tag dauern.«

 

Sie lachte leise.

 

»Das ist nicht wahr! Sie sind ganz unruhig geworden und möchten mich gern los sein, seitdem Ihr Bursche kam. Wartet jemand auf Sie?« Bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Ich bin eine geborene Hellseherin – und außerdem kenne ich den Tower schon sehr gut. Aber ich wollte zu gerne einmal sehen, wie Sie eigentlich in Uniform aussehen!«

 

Als sie sprach, kam ihr mit Bedauern zum Bewußtsein, daß sie sich erst kurze Zeit kannten. Vor nicht ganz einem Monat waren sie einander begegnet. Sie hatte eine Bootsstange im schäumenden Kielwasser eines Dampfers auf der Themse verloren und sich mit ihrem Boot im Weidengestrüpp verstrickt. Er ruderte herbei, um sie zu befreien, und war sehr ausgelassen. – Jetzt gingen sie dem Löwentor zu. Unter einem Torbogen machten sie halt und schauten zusammen auf die düstere Holzschranke, hinter der der Fluß lag.

 

»Das Verrätertor!«

 

Sie schauderte, wußte aber nicht, warum.

 

»Ja – das Verrätertor«, nickte er, »ein altehrwürdiges Tor heutzutage. Man denkt kaum noch daran, daß Königinnen und Hofleute diese Stufen betraten.«

 

Sie lachte wieder, dann gingen sie weiter. Die Schildwachen salutierten. Jetzt erreichten sie die geschäftige Welt von Tower Hill. Schwere, mit Kisten hochbeladene Lastwagen ratterten an ihnen vorbei. Vom nahen Billingsgate zog Fischgeruch herüber.

 

Hopes schönes Auto hielt am Straßenrand. Dick öffnete den Schlag.

 

»Wann werde ich Sie wiedersehen?«

 

Sie lächelte bei seiner Frage.

 

»Wann Sie wollen. Mein Name steht im Telefonbuch.«

 

»Was unternehmen Sie jetzt?«

 

Sie machte kein frohes Gesicht.

 

»Ich habe eine unangenehme Unterredung vor mir«, sagte sie.

 

Er schaute sie groß an, denn auch ihm stand ähnliches bevor, aber er sagte ihr nichts davon.

 

Er sah ihrem Wagen nach, bis er außer Sicht war. Dann ging er den Hügel hinunter, über die Brücke, die den alten Festungsgraben überspannt. Er lächelte nicht mehr, und nicht einmal der stumme, aber beredte Gruß, den Bobby ihm zunickte, als er durch die Wachstube ging, konnte die bösen Wolken von seiner Stirn verscheuchen.

 

*

 

Am Eingang seiner Wohnung wartete Brill, sein Bursche, und meldete einen Besucher.

 

»Der Herr bat mich, Sie zu suchen. Er hätte eine Verabredung mit Ihnen.«

 

Dick Hallowell nickte langsam.

 

»Ich brauche Sie in der nächsten Viertelstunde nicht, Brill«, sagte er. »Sie bleiben an der Tür, und wenn jemand kommt, sagen Sie, daß ich sehr beschäftigt sei.«

 

»Jawohl, Sir Richard.«

 

»Und Brill – hat der, hm, Herr etwas gesagt – ich meine, über sich selbst?«

 

Brill zögerte.

 

»Nein, Sir. Er schien übler Laune zu sein und sagte, daß Sie sehr froh sein müßten, eine derartige Wohnung zu haben –«

 

Wieder zögerte er.

 

»Hat er sonst noch etwas gesagt?«

 

»Nein, das ist alles … Er lachte so höhnisch. Sonst ist nicht viel los mit ihm, soweit ich sehen kann.«

 

»Ja, Sie haben recht – nichts.«

 

Dick ging die Steintreppe hinauf und machte vor einer Tür halt. Mit düsterem Gesicht stieß er sie auf und ging hinein. Am Fenster des vornehm ausgestatteten Wohnzimmers stand ein Mann und schaute hinaus. Er schien das Exerzieren der Soldaten im Hof zu beobachten. Als er sich jetzt zu Dick umwandte, sah man ein hageres und unzufriedenes Gesicht. Er trug schäbige Kleidung, und seine Absätze waren abgetreten. Trotzdem glich er in seinen Zügen und in seiner Haltung auffällig dem schweigenden Offizier, der ihn aufmerksam betrachtete.

 

»Hallo!«

 

Er ging Dick einige Schritte entgegen und sah ihn forschend an. Sein Betragen war weder freundlich noch beleidigend.

 

»Hallo – Bruder!«

 

Dick sagte nichts. Als sie einander gegenüberstanden, konnte man die Familienähnlichkeit noch deutlicher sehen, und doch waren beide verschieden. Wenn Graham Hallowell nicht so rauh gesprochen hätte, wäre seine Stimme der seines Bruders vollkommen gleich gewesen. Aber er hatte die liebenswürdigen Umgangsformen von früher abgestreift und hatte vergessen, daß er einst die Ruderboote einer berühmten Schule geführt und der Stolz und die Zierde der Universität gewesen war.

 

Jetzt wußte er nur, daß er ein vom Schicksal hart mitgenommener Mann war, der niemals eine Chance gehabt hatte. Er war so verbittert, daß er sich nur noch an die Not und die bösen Erfahrungen seines Lebens erinnerte.

 

»Deine Begrüßung ist genauso begeistert wie immer«, sagte er höhnisch, »und ich will wetten, daß du mich nicht zum Essen in die Offiziersmesse einlädst! ›Hier ist mein Bruder – Graham Hallowell, der gestern von Dartmoor entlassen wurde und der Ihnen interessante Geschichten aus dieser Hölle erzählen kann!‹«

 

Seine Stimme wurde immer lauter, bis er schließlich schrie. Dick merkte, daß er getrunken hatte und in seiner bösartigsten Stimmung war. »Auch dein verdammter Bursche behandelt mich, als ob ich ein Aussätziger wäre –«

 

»Das bist du auch«, sagte Dick mit leiser, aber klarer Stimme. »Ein Aussätziger – das ist die richtige Bezeichnung für dich, Graham! An dir ist etwas Verfaultes, dem Leute, die noch Selbstachtung haben, aus dem Wege gehen. – Und schrei nicht so, wenn du mit mir sprichst, sonst packe ich dich am Kragen und werfe dich die Treppe hinunter. Hast du mich verstanden?«

 

Der andere ließ sich durch diese Drohung einschüchtern und wurde aus einem prahlenden Raufbold zu einem jammernden Bettler.

 

»Kümmere dich nicht um mich, Dick – ich habe heute morgen schon zehn Glas getrunken –, alter Junge, stell dir doch vor, wie dir zumute wäre, wenn du gestern aus dem Gefängnis entlassen worden wärest! Versetze dich einmal in meine Lage!«

 

Dick unterbrach ihn.

 

»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich fürs Gefängnis reif wäre«, sagte er kühl. »Solche Einbildungskraft besitze ich nicht. Es ist mir einfach unmöglich, mich an deine Stelle zu denken, als du einen jungen, unerfahrenen Gardeoffizier betäubtest und beraubtest. Der Mann schenkte dir sein Vertrauen, weil du mein Halbbruder bist. Noch unmöglicher erscheint es mir, mit der Frau eines angesehenen Mannes durchzubrennen und sie nachher in Wien in Hunger, Elend und Schande sitzenzulassen. – Und noch so vieles andere, dessen ich nicht fähig wäre. Aber ich will lieber nichts mehr davon erwähnen. Wenn ich mich an deine Stelle setzen und begreifen könnte, wie ein Mann so niederträchtig sein kann wie du – ja, dann würde ich deine augenblicklichen Gefühle vielleicht eher teilen können. – Was willst du von mir?«

 

Grahams unruhiger Blick irrte zum Fenster.

 

»Mein Leben ist verpfuscht«, sagte er verdrießlich. »Ich dachte daran, nach Amerika zu gehen –«

 

»Hat die amerikanische Polizei entdeckt, daß man in Amerika dringend Gesindel braucht, weil du ausgerechnet dorthin gehen willst?«

 

»Du bist hartherzig wie die Hölle, Dick.«

 

Dick Hallowell lachte – aber es war kein frohes Lachen.

 

»Wieviel willst du haben?«

 

»Den Fahrpreis nach New York –«

 

»Du wirst mit deinen Personalakten nicht in die Vereinigten Staaten kommen, das weißt du doch ganz genau.«

 

»Ich könnte ja einen anderen Namen annehmen –«

 

»Du wirst nicht fahren – du hast ja auch gar nicht die Absicht, das zu tun.« Dick setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete eine Schublade, nahm ein Scheckbuch heraus und schrieb.

 

»Ich habe dir einen Scheck über fünfzig Pfund ausgeschrieben, und ich habe ihn so ausgefüllt, daß du ihn unmöglich auf fünfhundert umändern kannst, wie du es mit meinem letzten Scheck getan hast. Außerdem werde ich diesmal meine Bank telefonisch von der Höhe der Summe verständigen.« Er riß das Blatt aus dem Heft und gab es seinem düster dreinschauenden Bruder.

 

»Das ist das letzte, was du von mir bekommst. Wenn du dir einbildest, daß du mich zwingen kannst, dir Geld zu geben, weil du hierher kommst, dann hast du etwas anderes zu erwarten. Der Oberst und meine Kameraden wissen alles von dir. Der Offizier, den du damals beschwindelt hast, ist gerade auf Wache. Wenn du mir irgendwie Schwierigkeiten machst, lasse ich dich einsperren. Verstanden?«

 

Graham Hallowell steckte den Scheck in die Tasche.

 

»Du bist zu hart«, jammerte er. »Wenn Vater das wüßte –«

 

»Gott sei Dank ist er tot!« sagte Dick düster. »Aber er wußte genug von dir und starb an gebrochenem Herzen. Das trage ich dir nach, Graham.«

 

Graham atmete schwer. Nur die Furcht hielt seine Wut in Schranken. Er haßte seinen Halbbruder. Er hätte ihn beleidigen, demütigen, peinigen können, aber es fehlte ihm der Mut dazu.

 

»Durch das Fenster sah ich, wie du mit einem schönen Mädchen sprachst.« – »Sei ruhig!« fuhr Dick auf. »Ich vertrage es nicht, dich über eine Frau reden zu hören!«

 

»Sieh mal an!« Graham verfiel wieder in seine frühere Unverschämtheit. »Ich wollte dich nur fragen – weiß Diana –?«

 

Dick ging zur Tür und riß sie weit auf.

 

»Mach, daß du hinauskommst!« sagte er kurz.

 

»Diana –«

 

»Diana bedeutet mir nichts mehr. Erinnere dich gefälligst daran. Ich liebe auch ihre Freunde nicht.«

 

»Meinst du mich damit?«

 

Dick nickte.

 

Graham zuckte die Achseln und entfernte sich hochmütig.

 

»Dieser Platz hier ist wie ein Gefängnis – aber ich werde schon meinen Weg hinausfinden.«

 

»Der beste Ausweg für dich ist, wenn du wieder hinter Schloß und Riegel sitzt.« Richard Hallowell lachte grimmig.

 

»Was ist das?« fragte Graham unten.

 

»Das Verrätertor«, sagte Dick und warf den schweren Flügel hinter ihm zu.

 

Kapitel 10

 

10

 

Er kehrte nach Greenwich zurück und fand dort seinen Wagen. Anstatt nach Cobham zu fahren, eilte er in eine Telefonzelle und wählte die Nummer des Mousetrap-Klubs. Mr. Trayne war anscheinend im Haus, denn nach auffällig kurzer Zeit war er am Apparat.

 

»Ich habe einen Freund von Ihnen getroffen«, sagte Graham vorsichtig. »Erinnern Sie sich an die Frau, die wir sahen, als wir aus dem Fenster schauten?«

 

»Mrs. O.?« war die schnelle Antwort. Als Graham dies bestätigte, fragte er: »Wo war sie?«

 

»In Canning Town. Ich glaube, sie war mir auf der Spur.«

 

Erst nach einiger Zeit sprach Trayne wieder.

 

»Kommen Sie nach dem Westen. Warten Sie in der Wardour Street auf mich. Ihr Wagen ist doch geschlossen, nicht wahr? Gut! Ich werde in zwanzig Minuten dort sein.«

 

Graham setzte seinen Weg fort. An einer einsamen Stelle der Wardour Street überholte er Trayne und fuhr so langsam, daß dieser aufspringen konnte.

 

»Regent’s Park – Außenring«, gab Trayne an und sprach nicht, ehe sie in dieser einsamen Gegend ankamen.

 

»Nun erzählen Sie mir.«

 

»Es ist nicht viel zu sagen.« Graham lachte rauh. »Ich sah sie erst, als ich auf den Autobus wartete, aber ich bin überzeugt, daß sie mich schon den ganzen Abend beobachtet hat.«

 

Wieder ein langes, nachdenkliches Schweigen.

 

»Ich bin neugierig, was sie weiß«, murmelte Trayne. »In dem Gasthaus haben Sie sie nicht gesehen?«

 

Graham schüttelte den Kopf.

 

»Ich hätte sie sofort erkannt«, sagte er. »Nein, ich glaube, sie hat mich erst gesehen, wie ich den Kapitän verließ – ich möchte darauf schwören, daß niemand in der Straße war, als ich mit Eli Boß dort ging.«

 

»Hm!« Trayne war nicht davon überzeugt. »Diese dicke Frau ist wundervoll«, sagte er mit zögernder Bewunderung. »Ich möchte beinahe wetten, daß sie Sie von dem Augenblick an unter Aufsicht hatte, als Sie Cobham verließen. Was halten Sie von Eli?« fragte er plötzlich.

 

»Dem Kapitän? Er ist kein besonders angenehmer Zeitgenosse.«

 

»Nur seine Nützlichkeit ist hier wichtig«, sagte Trayne. »Er würde, wenn es sein müßte, seinen eigenen Sohn verschachern. Er hat schon für mich gearbeitet, aber nicht in dieser Weise. Vor einem muß ich Sie warnen: er darf nicht wissen, was Sie nach Indien bringen, oder der Artikel wird niemals dort landen. Solange er glaubt, es sei Kokain, ist keine Gefahr vorhanden.«

 

»Hat er Aussicht, es zu erfahren?«

 

»Nein, wenn nicht das Schiff im Kanal angehalten wird. Er gibt an, daß er eine Ladung Radiomaterial führt, aber ich glaube, das ist nur Vorspiegelung, um die Nachforschungen des Handelsamtes zu befriedigen – er war vorher von einer englischen Firma gechartert. Wenn Sie Ihre Koffer hinschicken, wird es gut sein, daß Sie ein paar Pistolen und ein paar hundert Patronen einpacken – Sie können sie vielleicht brauchen.«

 

»Weiß der Kapitän, daß Sie Ihre Hand im Spiel haben?« fragte Graham neugierig. Zu seinem größten Erstaunen erhielt er von dem anderen ein entschiedenes Nein zur Antwort.

 

»Er denkt, daß er es einem meiner Freunde zu Gefallen tut. Eli Boß tut alles nur aus Gefallen. Es ist seine Anschauung, daß er anderen Leuten immer nur eine Gnade erweist. Er ist ein roher, leidenschaftlicher Mensch, aber die Leidenschaft, die ihn beherrscht, wird Sie nicht besonders stören.«

 

»Was ist es denn?«

 

»Frauen«, war die lakonische Erwiderung. »Er war deswegen schon dreimal vor dem Richter, und beinahe hätte er einmal eine lange Freiheitsstrafe wegen eines Mädchens in Turo bekommen. Sie werden es kaum für möglich halten, aber Eli bildet sich ein, daß er ein schöner Mann ist. Das grenzt beinahe an Verrücktheit. Seine beiden Söhne sind so schlecht und unvernünftig, daß sie den alten Teufel noch in seiner Eitelkeit bestärken. Geld ist sein Gott. Das einzige, was er noch darüberstellt, ist irgend etwas Weibliches. Glücklicherweise wird diese Frage auf Ihrer ganzen Reise nicht auftauchen, denn es ist ausdrücklich in seinem Vertrag mit mir oder vielmehr mit meinem mysteriösen Freund festgesetzt, daß eine Frau auf diese Reise nicht über das Fallreep darf. Der Preis, der ihm dafür bezahlt wird, ist so hoch, daß er sich bestimmt an seine Vereinbarung hält.«

 

Von Mrs. Ollorby sagte er nichts mehr. Kurz darauf setzte ihn Graham in Grower Street ab und kehrte nach Hause zurück. Es war schon sehr spät, als er heimkam, aber der Gärtner wartete noch auf ihn und begrüßte ihn auf der Treppe.

 

»Haben Sie einen Anruf, etwa um elf Uhr, erwartet?«

 

»Ich?« fragte Hallowell erstaunt. »Nein, warum?«

 

»Erwarten Sie eine Nachricht von Ihrer Frau?«

 

»Nein, es ist sehr unwahrscheinlich, daß sie mich anruft. Ich vermute, daß sie nicht einmal die Telefonnummer kennt.«

 

»Aber jemand kennt die Nummer sehr genau«, sagte der Gärtner. »Sie wurden ungefähr um elf Uhr angerufen, und zwar von einer Dame. Sie nannte Ihren vollen Namen und fragte, wann Sie vermutlich wieder zurück sein würden.«

 

»Was haben Sie geantwortet?«

 

»Ich sagte ihr, daß ich nicht wüßte, worüber sie spräche. Sie wollte mir nicht sagen, wer sie war, aber sie diktierte mir eine Mitteilung für Sie.« Graham folgte ihm in das Arbeitszimmer. Auf dem Löschpapier lag ein Notizblatt, auf dem in unregelmäßiger kindlicher Handschrift die Nachricht stand:

 

»Kein Geldschrank ist so sicher wie Raum 79 B Ward.«

 

Graham Hallowell wurde weiß bis in die Lippen. Denn 79 war die Nummer seiner Zelle, und B Ward war die Bezeichnung für den Gefängnisblock in Dartmoor, in dem er gesessen hatte.

 

Kapitel 11

 

11

 

Der Fürst von Kisthlastan konnte Feste geben, deren Pracht und Glanz für die Öffentlichkeit bestimmt war, aber er konnte auch sehr feine intime Diners veranstalten, die einen kultivierten, persönlichen Geschmack verrieten. Rikisivi war in tadellosem Gesellschaftsanzug und unterschied sich nur durch seine dunkle Hautfarbe und weißen Turban von den anderen Herren. Er ging in den getäfelten Speisesaal seiner Privaträume und besichtigte die gedeckte Tafel.

 

Mr. Colley Warrington, der eine halbe Stunde früher ankam als der erste Gast, nickte sehr zufrieden, als er eine der Menükarten durchlas.

 

»Das wird selbst dem Oberst imponieren«, sagte er und zeigte dabei mit seinem Finger auf eine Marke in der kurzen, aber exquisiten Weinliste.

 

Der Fürst zuckte verächtlich mit den Mundwinkeln.

 

»Für mich wird die ganze Gesellschaft eine langweilige Sache werden. Man hätte Miss Joyner unbedingt einladen können, hierherzukommen, wenn man sich die nötige Mühe gegeben hätte«, sagte er vorwurfsvoll.

 

»Ich glaube, daß Hoheit die Verhältnisse falsch beurteilen«, sagte Colley mit einem überlegenen Lächeln. »Es wäre der schlechteste Schachzug gewesen, weiter mit ihr in Verbindung zu bleiben, wegen – hm – der anderen kleinen Sache.«

 

»Sie haben ihr nicht einmal geschrieben«, sagte Rikisivi schlecht gelaunt. »Sie haben den Eindruck bei ihr aufkommen lassen, daß wir – wie soll ich gleich sagen – sie als eine aussichtslose Sache aufgegeben haben – daß wir verlegen und ratlos sind wegen der Perlen und sie deswegen nicht mehr sehen möchten. Und ich hätte sie so gern hier gehabt, ich muß sie hier haben, ich brauche sie, ich bin unglücklich, wenn ich sie nicht sehe. Wenn Sie doch wenigstens geschrieben hätten –«

 

»Ich habe ihr geschrieben«, sagte Colley, dessen Aufmerksamkeit anscheinend vollständig davon in Anspruch genommen war, die Tischordnung zu prüfen. Er schaute gar nicht zu dem Fürsten hin, als er sprach. »Ich habe ihr geschrieben, daß Sie eine Abendeinladung geben und daß der Oberst Richard Hallowell auch unter den Gästen sein wird, aber ich hätte sie nicht eingeladen, da ich annähme, daß sie keinen großen Wert darauf legte.«

 

»Teufel noch einmal«, rief der Fürst. »Warum haben Sie einen solchen Unsinn geschrieben?«

 

»Weil es notwendig war«, sagte Colley kühl, »bei ihr den Anschein zu erwecken, daß Sie die größte Sorge um ihren guten Ruf haben. Ich habe nämlich noch hinzugefügt, daß Diana hier sein würde und ich wüßte, daß sie nicht gern mit ihr zusammentreffe.« – »Aber Diana brauchte doch überhaupt nicht zu kommen!« brach Riki los.

 

»Nein, sie brauchte nicht zu kommen. Aber nun antwortet Miss Joyner entweder, daß sie unter gar keinen Umständen ob Diana zugegen ist oder nicht – gekommen wäre, oder aber, wenn sie das nicht tut, muß sie meine nächste Einladung annehmen.«

 

»Und wann wollen Sie sie wieder einladen?« Kishlastan war nicht wenig erstaunt.

 

»Nachdem Eure Hoheit nach dem Osten abgefahren sind«, sagte Colley langsam. »Und Sie werden einige Tage vorher abreisen, bevor ich mit Hope Joyner diniere. Es ist absolut notwendig«, fuhr er fort, »daß Sie nicht hier sind, wenn – irgend etwas passiert. Sie müssen auf hoher See sein, mit einer ganzen Schiffsgesellschaft zusammen, auf einem P. & O.-Dampfer, damit Ihr Alibi einwandfrei ist.«

 

Das leuchtete dem Fürsten ein.

 

»Glauben Sie, daß Sie Erfolg haben?«

 

»Ich werde sicher Erfolg haben«, sagte Colley. »Außerdem möchte ich Eurer Hoheit noch einen anderen Grund für die Abreise angeben. Ich möchte mich nicht in Ihre Angelegenheiten einmischen, noch suche ich weiter in die Dinge einzudringen, als ich bereits von Eurer Hoheit wohlwollend informiert worden bin betreffs einer gewissen Unternehmung, die in den Händen von einem Ihrer Freunde liegt. Aber ich muß doch betonen, daß es ratsam wäre, wenn Eure Hoheit England verließen, bevor dieser kleine Plan ausgeführt wird.«

 

»Ich werde eine Woche später fortgehen«, sagte der andere ungeduldig. »Ich kann nicht Hals über Kopf abfahren. Ich brauche viele Räume für mein großes Gefolge.«

 

»Die ich bereits auf der ›Poltan‹ belegt habe!« bemerkte Colley. »Der Dampfer geht am nächsten Sonnabend ab.«

 

Der Fürst sah ihn halb ärgerlich, halb erstaunt an.

 

»Eure Hoheit mögen das als eine Anmaßung meinerseits ansehen, aber ich habe Ihren Interessen zu dienen. Ich brachte heute den ganzen Nachmittag damit zu, eine Passage für Eure Hoheit ausfindig zu machen. Glücklicherweise wurde eine größere Reihe von Kabinen auf der ›Poltan‹ wieder frei, und ich habe sie sofort provisorisch für Eure Hoheit gebucht.«

 

Der Fürst biß sich gedankenvoll auf die Lippen.

 

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte er. »Sie sind ein sehr weitsichtiger und kluger Mann. Ich möchte diese Sache weiter mit Ihnen besprechen, wenn die andern gegangen sind.«

 

Sie waren noch keine zehn Minuten im Empfangsraum, als die ersten Gäste kamen. Diana in ihrer strahlenden Schönheit betörte Colley aufs neue. Sie trug ein grausilbernes Kleid, das ihre reife Schönheit noch hob und sie sehr jung aussehen ließ, so daß selbst der Fürst sie bewunderte. Sie ging in den Speisesaal, um sich schnell den Tisch anzusehen, wechselte zwei der Karten aus, kam zurück und erklärte es ihnen.

 

»Ich will neben dem Oberst sitzen«, sagte sie. »Wenn Sie ihm Jane Lyson zur Tischdame geben, werden Sie ihn nur ärgern. Sie ist die Todfeindin seiner Frau, und sie würde doch der Versuchung nicht widerstehen können, über Lady Cynthia etwas Unangenehmes zu sagen.«

 

»Hätte ich vielleicht Lady Cynthia einladen sollen?« fragte der Fürst zweifelnd.

 

»Sie wäre bestimmt nicht gekommen«, sagte Diana nüchtern. »Nicht, weil sie gewußt hätte, daß ich hier bin. Aber ich muß den Oberst sehen.«

 

Die Unterhaltung wurde durch die Ankunft eines indischen Beamten und seiner jungen Frau unterbrochen, die über und über von Brillanten strahlte. Gleich darauf kam auch Oberst Ruislip.

 

»Wie charmant, Diana, daß Sie hier sind«, sagte er und hielt ihre Hand lange in der seinen. Er blickte bewundernd in ihre schönen lachenden Augen. »Sie sehen jünger aus als jemals. Was war Dick Hallowell doch für ein Dummkopf.«

 

Niemand wußte besser als der Oberst, daß die Dummheit Dick Hallowells sehr wohl am Platze war. Sein Protest dagegen war nur ein Akt der Höflichkeit.

 

»Hallo, Colley! Habe Sie schon seit Jahren nicht gesehen!«

 

Er gab ihm die Hand, ohne sie herzlich zu drücken. Oberst Ruislip war im Bilde. Colley Warrington war einer der Leute, die man zwar trifft, die man aber nicht sucht. »Ich muß Sie nachher sprechen, Colley … Ich habe seit Jahren keine richtigen Skandalgeschichten mehr gehört.«

 

Wäre der Erfolg des Diners von der liebenswürdigen Laune des Gastgebers abhängig gewesen, so wäre die Stimmung des Abends eine recht gedrückte gewesen, denn der Fürst war äußerst verdrießlich und sprach kaum.

 

»Dick? O ja, ich sehe ihn manchmal.«

 

»Ein sehr brauchbarer Offizier«, sagte der Oberst, indem er den Wein mit Kennermiene austrank. »Gott sei Dank habe ich ihn wieder von den Fliegern zurückgeholt. Vermutlich wissen Sie, daß er sich zu den Fliegern versetzen ließ, damals nach – hm – nach Ihrer kleinen Auseinandersetzung. Und er ist ein ganz vorzüglicher Flieger geworden. Er hat mich in Adlershot mit auf seiner Maschine gehabt und solch waghalsige Kunststücke gemacht, daß ich zu Tode erschrocken war. Ich muß festen Boden unter den Füßen haben oder im Sattel sitzen …«

 

»Er hat sich doch wieder verlobt?«

 

Dem Oberst war nicht ganz wohl zumute.

 

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, ich kümmere mich nicht um die Verlobungen meiner jüngeren Offiziere, bis sie sich entschließen, mit mir darüber zu sprechen. Da ich den Offizieren des Regiments an Vaterstelle gegenüberstehe, müssen sie früher oder später doch alle zu mir kommen. Bis jetzt ist mir offiziell nichts davon bekanntgeworden.«

 

»Er wird zu Ihnen kommen«, sagte Diana so freundlich als möglich. »Miss Hope Joyner – kennen Sie sie?«

 

»Ja, ich habe sie getroffen«, sagte der Oberst liebenswürdig und versuchte, das Gesprächsthema zu wechseln. »Ein sehr nettes Mädel, meine Frau hat neulich gesagt…«

 

Aber Diana ließ ihn nicht ausweichen.

 

»Ich hoffe, Dick wird sehr glücklich werden«, sagte sie in dem Ton liebenswürdiger Resignation, der ihr so gut stand.

 

»Dessen bin ich sicher«, sagte der Oberst leise. Dann sprach er davon, daß Hope eine gute Akquisition für das Regiment wäre.

 

»Wird sie das sein?« fragte Diana unschuldig. Der Oberst rückte ungemütlich auf seinem Stuhl hin und her.

 

»Ja, ich denke«, sagte er schnell. »Ein sehr hübsches, äußerst liebenswürdiges und schönes …«

 

Er wollte die Unterhaltung weniger persönlich gestalten und fiel dann doch in die Falle, die Diana ihm gestellt hatte.

 

»Nebenbei bemerkt, aus welcher Familie stammt sie?« fragte er.

 

Diana Martyn konnte sich nun dem Essen widmen.

 

»Hat sie überhaupt Verwandte?« warf sie dazwischen.

 

»Sind sie tot?« meinte der Oberst. »Oh, das wäre schade.«

 

»Man weiß nicht einmal, ob sie tot sind«, sagte Diana. Da sie fürchtete, daß sein Interesse nachlassen könnte, fügte sie schnell hinzu: »Und niemand weiß weniger darüber als Hope selbst.«

 

Der alte Herr zog die Augenbrauen hoch.

 

»Das ist doch aber eine sehr ernste Sache, so etwas zu sagen.«

 

»Das ist wahr, und ich habe es ganz im Ernst gemeint.«

 

Sie berichtete ihm kurz die Geschichte Hope Joyners und, obgleich sie glaubwürdig erzählte, unterstrich sie doch die dunklen Möglichkeiten ihrer Geburt genügend.

 

»Dick könnte wirklich nicht im Regiment bleiben, wenn er sie heiratet«, fuhr sie fort. »Ich glaube auch nicht, daß er die Absicht hat. Immerhin –«

 

»Im Gegenteil, er hat bestimmt vor, im Regiment zu bleiben«, sagte der Oberst schroff. »Seine Ernennung zum Hauptmann ist nächsten Monat fällig, und ich weiß, daß es von jeher sein Wunsch war, den Befehl über das Bataillon zu führen, wie es vor ihm sein Vater tat. Stets hat ein Hallowell bei der Berwick-Garde gedient, seit diese Truppe besteht.«

 

»Dann werden Sie erleben, daß die Truppe einmal ohne einen Hallowell ist«, sagte sie heiter. »Es ist doch ganz unmöglich! Finden Sie nicht auch, Herr Oberst?« Er antwortete ihr nicht. Der Abend war ihm verdorben.

 

Als er die Unterhaltung wieder aufnahm, sprach er über eine Sache, die Diana am liebsten vermieden hätte.

 

»Dick hatte gerade genug Ärger mit seinem schrecklichen Halbbruder«, sagte er, »er braucht sich nicht auch noch davon niederdrücken zu lassen. Das Mädchen ist wirklich sehr hübsch und liebenswürdig, und ich würde absolut damit einverstanden sein, wenn Dick erklärte –«

 

Sie schaute ihn scheu von der Seite an.

 

»Ja, Sie wohl«, stimmte sie ihm bei, »aber Lady Cynthia –«

 

Sie wußte, daß dieser Pfeil getroffen hatte.

 

Als alle Gäste mit Ausnahme von Diana und Colley gegangen waren, fragte der Fürst, der im Laufe des Abends etwas mehr aufgetaut war:

 

»Sie haben doch mit dem Oberst über Hope Joyner gesprochen? Was sagten Sie von ihr?«

 

»Was hätte ich sagen sollen, als daß sie ein sehr liebenswürdiges und schönes Mädchen ist«, erwiderte sie so unschuldig wie möglich. »Ich habe aber weniger über sie als über Dick Hallowell gesprochen. Er beabsichtigt nämlich, sie zu heiraten.«

 

Sie sah, wie sich sein Gesichtsausdruck änderte.

 

»Heiraten?« Er wandte sich an Colley. »Das wußte ich ja gar nicht.«

 

»Die beiden sind miteinander bekannt«, antwortete Colley. »Ich glaube nicht einmal, daß sie verlobt sind.«

 

»Sie lieben sich«, sagte Diana leichthin, »und das ist ungefähr so viel, als ob sie verlobt wären. Sie sind beide frei und wohlauf – warum sollten sie sich nicht verloben? Dick Hallowell muß natürlich seinen Abschied vom Regiment nehmen. Die Damen des Offizierskorps werden nicht zulassen, daß ein Niemand in ihren Kreis kommt.«

 

»Was wollen Sie damit sagen – ein Niemand?« fragte Riki, indem er sie unter gesenkten Augenlidern ansah. »Ist denn Miss Joyner ein Niemand?«

 

»O lala«, Diana zeigte eine Lustigkeit, die sie gar nicht fühlte. »Wie sehr sich Eure Hoheit für Hope Joyner einsetzen, und gerade Sie müßten doch am besten wissen, wie außerordentlich wichtig Abstammung sein kann! Hoheit haben doch einen tausendjährigen Stammbaum, der keine Unterbrechung aufweist.«

 

Der Fürst war anscheinend beruhigt, da er unglaublich stolz auf seine Abstammung war.

 

»Es ist nicht klug, unfreundlich von Miss Joyner zu sprechen«, sagte er. »Ich habe viele Gründe dafür. Sie verstehen mich?«

 

Colley nickte.

 

»Es darf nicht so aussehen, als ob jemand, der irgendwie in Verbindung mit dem Fürsten von Kishlastan steht, auch nur im mindesten gegen Hope Joyner eingenommen ist.«

 

»Das ist absolut notwendig«, sagte Colley. Diana sah ihn ganz erstaunt an.

 

»Besteht denn ein besonderer Plan wegen Hope Joyner?« begann sie.

 

»Nein«, sagte Colley prompt. »Aber ich stimme vollkommen mit Seiner Hoheit überein. Wir wollen uns keine Feinde machen. Ihre Aufgabe besteht doch darin, Miss Martyn, den Freundeskreis Seiner Hoheit zu vergrößern. Selbst gegen Ihre Rivalinnen müssen Sie gütig und nachsichtig sein.«

 

Wenn er glaubte, sie dadurch irrezuführen, täuschte er sich. Sie interessierte sich zu sehr für dieses neue Problem. Ihr war es ganz klar, daß irgend etwas mit Hope Joyner im Gange war, und sie ärgerte sich, daß man sie nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Colley um weitere Informationen zu bitten, war ganz nutzlos, das wußte sie. Vielleicht war Graham mit im Spiel.

 

Schon in der Frühe des nächsten Morgens, als der Milchmann noch geräuschvoll mit seinen Kannen in den Straßen klapperte, telefonierte sie nach ihrem kleinen Wagen und fuhr nach Cobham. Als sie ankam, fand sie Graham am Tisch sitzen. Vor ihm stand ein kaltes Frühstück, das er nicht einmal angerührt hatte. Er sah erschreckt zu ihr auf, als sie eintrat.

 

»Ach, du bist es«, sagte er. »Wir sind sehr durch Euch geehrt!«

 

Sie schaute ihn verwundert an. Seine Farbe war aschgrau. Nur einmal hatte sie ihn so gesehen – am Morgen seiner Verhaftung.

 

»Was fehlt dir?« fragte sie.

 

»Nichts.« Er lehnte sich vor und zog einen Stuhl für sie heran. »Schenke mir bitte Kaffee ein, ich habe nicht die Energie dazu.«

 

Sie setzte sich ohne ein Wort nieder, füllte eine Tasse und reichte sie ihm. Sie blickte gespannt auf ihn.

 

»Sage mir doch, was du hast?«

 

»Ach, es ist nichts.« Er schaute zur Tür, und als er sah, daß sie nur angelehnt war, stand er auf und schloß sie. Dann erzählte er ihr mit leiser Stimme von der letzten Nacht. Als er zu Ende war, schüttelte sie den Kopf.

 

»Ich habe dir keine Nachricht durchs Telefon bestellt. Das war sicher diese niederträchtige Frau.«

 

»Aber sie wußte doch, daß ich in London war«, sagte er hartnäckig.

 

Diana lächelte.

 

»Natürlich wußte sie das. Ebenso wußte sie, daß ihre Mitteilung für dich aufgeschrieben und dir bei deiner Rückkehr gegeben wird. Man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß sie wirklich Detektivin ist. Aber ich glaube, daß sie nicht viel mehr versteht als ihre männlichen Kollegen.«

 

Sie zog die Augenbrauen zusammen und dachte nach. Diana war eine kluge Frau und unendlich viel beweglicher als Graham. Sie wußte sich besser zu helfen und war auch mutiger als der Mann, mit dem sie das Schicksal verbunden hatte.

 

»Wo warst du denn, als er etwas von dem Geldschrank sagte?«

 

»Trayne sprach davon. Dieser Schiffskapitän hat ihn sicher auch erwähnt, aber wir standen an einer Stelle, wo es unmöglich war, uns zu belauschen.«

 

Sie nickte langsam.

 

»Niemand konnte den Brief lesen mit Ausnahme des Gärtners.«

 

Dann lächelte sie plötzlich.

 

»Sie hat es von Trayne – sie weiß, daß er einen Geldschrank gekauft hat, der an Kapitän Boß geliefert werden soll – das ist die Erklärung.«

 

»Aber wie konnte sie wissen, daß ich etwas mit der Sache zu tun habe?«

 

»Sehr einfach«, entgegnete Diana ruhig. »Mrs. Ollorby sah dich mit Boß zusammen. Sie weiß, daß der Geldschrank an Bord der ›Pretty Anne‹ abgeliefert werden soll. Nun brauchte sie doch nur die verschiedenen Tatsachen zusammenzustellen. Möglicherweise hat sie diese Nachricht nur an dich gesandt, um eine Bestätigung zu haben. Hast du Trayne angerufen, nachdem du die Botschaft erhieltest?«

 

Er nickte.

 

»Natürlich hast du das schon wieder getan. Sie hat doch jemand im Telefonamt veranlaßt, das Gespräch abzuhören. War Trayne zu sprechen?«

 

»Er war fortgegangen.«

 

»Da hast du Glück gehabt!« sagte sie warnend zu ihm. »Ich sorge mich nicht um Mrs. Ollorby, sie beobachtet bloß. Sie mag ja richtig beobachten, aber sie weiß nicht genau, ob sie mit ihren Vermutungen recht hat. Ich möchte dir doch einen guten Rat geben. Bleibe soviel wie möglich vom Telefon fort –«

 

Es wurde an die Tür geklopft, und noch bevor Graham »Herein« rufen konnte, kam der Gärtner ins Zimmer und zog die Tür sofort hinter sich zu. »Kennen Sie eine Mrs. Ollorby?« fragte er leise.

 

Graham Hallowell war zu erstaunt, um sprechen zu können. Er nickte bloß.

 

»Wünschen Sie, daß sie hereinkommt?«

 

»Daß sie hereinkommt?« fragte Diana erstaunt. »Wieso?«

 

»Sie ist draußen.« Graham und Diana schauten einander an.

 

»Soll sie hereinkommen?« fragte der Gärtner wieder.

 

Diana erholte sich zuerst von ihrem Schrecken.

 

»Wo? Hier? Hier im Haus?« fragte Graham.

 

»Ja, hier im Haus«, sagte sie, als Graham noch starr vor Schrecken und Verwunderung dasaß. Als er Einspruch erheben wollte, brachte sie ihn mit einem Wink zur Ruhe.

 

Eine Sekunde verging, dann öffnete sie die Tür schnell, und Mrs. Ollorby trat mit einem verbindlichen Lächeln auf den Lippen vergnügt ins Zimmer.

 

»Guten Morgen, meine Herrschaften!« Ihr Ton war herausfordernd fröhlich. Sie zeigte nichts mehr von der Unterwürfigkeit, die sie beim ersten Zusammentreffen mit Diana an den Tag gelegt hatte. Sie sprach vollkommen wie eine Gleichberechtigte. »Wie schön ist doch der Sonnenschein heute – und die vielen herrlichen Blumen und die Bäume – und wenn ich so die Blätter rauschen höre, dann fühle ich mich wieder wie ein junges Mädchen. Manche Leute lieben mehr die See und die Küste«, fuhr sie zu plaudern fort, »aber ich liebe den Aufenthalt auf dem Land, die weiten, grünen Rasenflächen und die blumigen Wiesen. Dagegen diese doppelten großen Schornsteine der Dampfer! Schiffe haben doch gewöhnlich Schornsteine böse, schwarze Dinger, von denen die Farbe abblättert. Auf Schiffen gibt es keine Bäume und Felsengärten, nicht wahr, Miss Martyn, Schiffe haben doch keine Felsengärten?«

 

Diana antwortete nicht.

 

»Das Beste an einem Schiff«, fuhr Mrs. Ollorby fort, ohne daß sie jemand dazu ermutigt hätte, »ist sein Name. Aber das will nicht viel sagen. Nehmen wir zum Beispiel die ›Pretty Anne‹ (Hübsche Anna). Was ist denn überhaupt hübsch an ihr? Nicht einmal ihr Kapitän. Ich würde mich eher entschließen, mit einem kleinen Geldkasten in dieser Villa zu wohnen, als mit einem großen Geldschrank über den Atlantischen Ozean zu fahren, besonders wenn ich ein Mann wäre, der früher so allerhand unangenehme Erfahrungen gemacht hat. Geben Sie mir nicht recht, Miss Martyn?«

 

Der Gärtner stand noch an der Tür und war wie zu Stein erstarrt. Diana fand ihre Stimme wieder und begann:

 

»Ich weiß nicht, was ich denken soll –«

 

Aber die Frau unterbrach sie.

 

»Sie verstehen nicht, was es bedeutet, daß ich in Ihre hübsche kleine Villa einbreche?« sagte Mrs. Ollorby mit einem Lächeln auf ihrem breiten Gesicht. »Wissen Sie, Miss Martyn, ich war gespannt, was Sie zuerst sagen würden: ›Ich weiß nicht, was ich denken soll‹ oder ›Wollen Sie mir bitte erklären‹ oder gar ›Wie dürfen Sie überhaupt?‹ Es gibt eigentlich wenig originelle Wendungen, die Sie gebrauchen können, wenn Sie ärgerlich sind. Wenn Sie genügend Intelligenz haben, sich etwas ganz Neues auszudenken, dann haben Sie auch genügend Intelligenz, um ruhig zu sein.«

 

Sie sah sich in dem getäfelten Speisezimmer um. Chinaporzellane mit blauen Mustern standen ringsum auf den Paneelen. Auf dem polierten Tisch dufteten Rosen aus einer schönen Vase. Hübsche Gardinen bewegten sich leicht in der Morgenbrise.

 

»Es ist ein schönes Haus«, sagte sie und nickte nachdrücklich. »Tiger Trayne vermietete es an Johnny Delboure – Sie wissen selbstverständlich, daß Tiger der Besitzer dieses Hauses ist? bevor Johnny damals den großen Bankeinbruch verübte. Sie müssen ihn doch sicher in Dartmoor getroffen haben, Mr. Hallowell – er hat dafür zwanzig Jahre bekommen. Ich wundere mich immer, warum Tiger nicht endlich den Mousetrap-Klub aufgibt und seine alten Tage hier draußen beschließt. Aber wahrscheinlich gibt es hier draußen keine Mäuse, die zu fangen sich lohnte.«

 

Sie wandte sich nach der Tür um und sah in die verstörten Augen des Gärtners, nickte ihm aber freundlich zu.

 

»Mr. Mawsey – nicht wahr? Früher hießen Sie doch Colter, dann wurden Sie Wilson – ich habe Ihre Namen im Moment vergessen, aber ich erinnere mich genau an alle Verbrechen, die Sie verübt haben. Wie geht es denn Ihrer guten Frau?« Sie sah auf seine grüne Schürze und nickte.

 

»Gärtnerarbeit, das ist eine alte Beschäftigung. Das ist besser für Mrs. Mawsey oder Wilson oder was immer Sie für einen Namen führen, als Kinder in Pflege nehmen und sie dann verschwinden lassen.«

 

Sie richtete ihre lustigen Augen auf Dianas blasses Gesicht. Mawsey schlich sich vollständig vernichtet aus der Tür und verschwand. Mrs. Ollorby wartete auf eine weitere Bemerkung ihrer unwilligen Wirtin. Aber Diana war zu klug, um zu sprechen.

 

»Ein wunderbarer Ort hier«, sagte Mrs. Ollorby und ließ ihre anerkennenden Blicke umherschweifen. »Aber wenn ich dieses ganze Gelände hätte, dann würde ich lieber eine Hühnerfarm einrichten. Es geht doch nichts über eine Liebhaberei, wenn man es sich irgend leisten kann. Ich hatte eine Vorliebe für das Sammeln von Zeitungsausschnitten, als ich ein junges Mädchen war. Meine Mutter war ganz erschrocken, als ich alle Nachrichten über Verbrechen aus den Sonntagszeitungen ausschnitt und sie in meine Schulbücher klebte. Ich habe Haufen davon, so hoch« – sie zeigte bis zur Höhe ihrer Schulter. »Ich habe immer gedacht, daß ich einen Polizisten heiraten müßte, aber es ist mir niemals in den Sinn gekommen, daß ich für Scotland Yard arbeiten würde. Hektor – das ist nämlich mein Junge –, der beste Junge, der jemals gelebt hat, obgleich er ein wenig kurzsichtig ist – sagt oft zu mir: ›Mutter, warum hebst du denn diese vielen Zeitungsausschnitte auf, wenn du sie doch alle im Kopf hast?‹ Und das ist Tatsache, wenn ich einmal etwas über ein Verbrechen gelesen habe, dann behalte ich es auch. Ich kann mich noch recht gut daran erinnern, wie ich damals in Old Bailey war und – nun, wie nennt er sich doch gleich? – Mawsey sah, der zu fünf Jahren verurteilt wurde. Er ist ein guter Geldschrankknacker, einer der besten. Man sagt, daß er ein Mittel erfunden hat, um Stahlwände auseinanderzuschneiden, das alle amerikanischen Einbrecher in Verwunderung setzt. Da können Sie stolz sein auf Ihr Vaterland, nicht wahr, Miss Martyn?«

 

»Was verschafft uns denn eigentlich das Vergnügen Ihres Besuches heute morgen?« fragte Diana, die endlich ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte.

 

»Ich brauche frische Luft«, sagte Mrs. Ollorby. »Ich habe nämlich zwei Tage lang in einem schlechten Haus gewohnt, in einer kleinen, schmutzigen Nebenstraße, und nicht einmal die Gesellschaft des Kapitäns Eli Boß war ein Ausgleich dafür. Ich habe dabei wichtige Dinge erfahren und möchte sie anderen Leuten mitteilen, da ich sonst daran ersticken würde. Ich sagte also zu Hektor, ich will nach Cobham und Miss Martyn oder Mr. Hallowell besuchen, wen ich eben treffe. Vielleicht kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und ihr eine große Unannehmlichkeit für die Zukunft ersparen und ebenso Mr. Hallowell.«

 

Sie lächelte sonderbar, als sie Graham anschaute, der blaß geworden war.

 

»Was erschreckt Sie so?« – sie schüttelte traurig den Kopf – »Ist es vielleicht, weil Sie nicht wissen, wieviel ich schon weiß? Ich wüßte nichts Beunruhigenderes. Sie können nicht feststellen, wieviel ich nur vermute und wieviel ich in einem Buch gelesen habe, um das alles erzählen zu können.«

 

»Wir haben von Ihnen gehört, Mrs. Ollorby«, sagte Graham.

 

»Ich fange an berühmt zu werden«, sagte sie fast schmunzelnd. »Das ist merkwürdig, da ich doch sehr selten als Zeuge auftrete. Ich glaube, Sie hätten mich überhaupt nicht kennengelernt, wenn nicht Tiger Ihnen von mir erzählt hätte. Ich sah Sie alle drei an dem Fenster und konnte Sie beobachten – und ich bin ein sehr guter Beobachter, wie ich schon sagte.«

 

»Bescheiden sind Sie nicht gerade.« Graham Hallowell hatte sich allmählich wieder erholt. »Uns macht Ihr Gerede wenig Spaß. Aber wenn Sie irgend etwas Geschäftliches hier erledigen wollen, dann sagen Sie uns das bitte. Wenn das nicht der Fall ist, dann wollen wir Sie gerne entschuldigen, wenn Sie jetzt gehen wollen.«

 

»Immer höflich«, murmelte Mrs. Ollorby. »Sie könnten beinahe der Fürst von Kishlastan sein, der niemals ein Tanzmädchen umbringt, wenn er nicht vorher den Turban abgenommen hat. Werden Sie eine lange Reise unternehmen, Mr. Hallowell?«

 

Graham stand vom Tisch auf und zeigte auf die Tür.

 

»Sie wünschen, daß ich gehen soll? Es tut mir leid, daß ich Sie gelangweilt habe – für gewöhnlich hält man mich für sehr unterhaltend. Hektor sagt, daß er mir stundenlang zuhören könnte, aber natürlich, er ist ja mein eigener Sohn. Guten Morgen, Mrs. Hallowell!« Diana antwortete nicht auf diese kleine Höflichkeit.

 

»Guten Morgen, Mr. Graham Hallowell!«

 

Er machte die Tür schnell zu. Mrs. Ollorby ging mit langen Schritten den Gartenweg entlang und summte eine kleine Melodie vor sich hin, ein wohlgefälliges Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Ein Fremder hätte sich einbilden können, daß sie gerade von einem sehr angenehmen Besuch käme. Graham und Diana beobachteten sie durch die geschlossenen Fensterläden, bis ihr alter Hut hinter der Hecke verschwand, dann sahen sie sich stumm an.

 

»Was weiß sie wirklich?« fragte Diana ruhig.

 

»Ich habe keine Ahnung. Sie weiß nicht viel, sonst wäre sie ausführlicher gewesen«, sagte er gedankenvoll. »Ihre Absicht war nicht, uns festzunehmen, sondern nur uns zu warnen.«

 

Diana nickte.

 

»Sie hat zwei oder drei lose Fäden, und sie versuchte, aus uns etwas herauszubekommen, um sie verbinden zu können. Kapitän Boß ist der Eigentümer des Schiffes. Dann hast du doch diese Frau letzte Nacht in East End gesehen. Natürlich hat sie auch telefoniert. Sicherlich, sie weiß nichts, Graham – sie vermutet nur, aber sie weiß nichts. Hast du nicht die ganze Zeit über beobachtet, wie sie wie ein Schießhund darauf wartete, daß du oder ich etwas ausplaudern sollten, das ihre Vermutungen bestätigen könnte?«

 

Es klopfte leise an der Tür, der Gärtner kam herein. Sein hageres Gesicht zuckte nervös.

 

»Ist sie fortgegangen?« fragte er heiser.

 

»Kennen Sie sie?« fragte Diana.

 

»Ich habe von ihr gehört.« Mawsey war nicht geneigt, sich selbst zu bezichtigen. »Ich kenne ihren Mann besser als sie. Er war Detektivsergeant in Scotland Yard. Er –«, der Mann zögerte, »er hat meine Frau beinahe ins Unglück gebracht, und sie war so unschuldig wie ein neugeborenes Kind.«

 

»Es scheint doch so, daß Sie ein- oder zweimal von ihr hereingelegt worden sind?«

 

»Nicht von ihr, von ihrem Mann«, verbesserte Mawsey.

 

»Stimmt das alles, was sie sagte?«

 

Er nickte, als Diana ihn fragend ansah.

 

»O ja, ich bin im Gefängnis gewesen«, sagte er, ohne dabei verlegen zu werden. »Ich bin erstaunt, was sie alles weiß. Das Beobachten ist ihre Spezialität, davon haben Sie wohl gehört? Aber die meisten hat sie nur ins Gefängnis gebracht, weil sie dumm genug waren, sich selbst zu verplappern, als sie sich das erstemal an sie heranmachte. Sie haben ihr doch hoffentlich nichts gesagt?« fragte er schnell. Als die beiden verneinten, fuhr er fort: »Ich dachte mir gleich, daß Sie das nicht tun würden. Diese alte Frau ist gefährlich wie Gift. Und vergessen Sie nicht, sie kann Dinge unternehmen, die kein männlicher Polizist wagen dürfte, ohne seinen Posten zu verlieren. Was hat sie denn alles gesagt? Ich muß es dem Direktor sagen, er wird gleich anrufen.«

 

So getreu wie möglich erzählte ihm Diana den Gang der Unterhaltung.

 

»Sie hat einiges richtig herausbekommen«, gab Mawsey zu. »Aber sie hat keine Ahnung von dem großen Plan. Sie hat nur gesehen, daß Sie sich mit Eli Boß getroffen haben, sie weiß, daß Sie den Direktor anriefen, und dann hat sie Vermutungen darüber angestellt.«

 

Der Gärtner trat zum Fenster und hielt Ausschau.

 

»Sie ist noch nicht fort«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich möchte gern wissen, weshalb sie noch wartet?«

 

Mrs. Ollorby war quer über den Weg gegangen und stand unter einem großen, überhängenden Baum. Sie schaute auf das Haus zurück. In der Hand hielt sie einen Bogen weißes Papier. Abwechselnd las sie und blickte dann wieder nach der Villa. Diana sah, wie der Gärtner eine Bewegung machte.

 

»Sie geht quer durch Rectory Field«, sagte er. Die dicke Frau war verschwunden. »Ich will der alten Katze doch einmal einen Schrecken einjagen.«

 

Wie der Blitz war er aus dem Zimmer, und nach einigen Sekunden sah ihn Graham über die Straße eilen, mit einer Büchse unter dem Arm. Während er lief, steckte er Patronen in die beiden Läufe.

 

Der Fußpfad durch Rectory Field kürzt den Weg zur Esher Road ab, aber man gewinnt nicht viel Zeit dabei. Mawsey ging einen besseren Weg bis zum Ende einer Föhrenpflanzung. Dort verlangsamte er seine Schritte. Plötzlich sah er, wie Mrs. Ollorby auf dem gelben Sandweg weit ausschritt, kaum zwanzig Meter von ihm entfernt. Grinsend hob er das Gewehr an die Schulter, und gleich darauf krachten zwei Schüsse. Sie gingen hoch, denn er wollte sie nur erschrecken. Als er sah, wie Mrs. Ollorby sich duckte, wollte er sich totlachen. Aber seine Freude dauerte nicht lange. Der große Strickbeutel, den sie unter dem Arm trug, fiel zu Boden, und sie hatte eine Waffe in der Hand.

 

Wieder krachte ein Schuß.

 

Er stand starr, als er das Mündungsfeuer aus ihrer Pistole zucken sah. Das Geschoß schlug gegen den glatten Stamm einer Föhre, prallte dort ab und surrte dicht an seinem Kopf vorbei. Er sprang sofort zurück und fuchtelte mit den Händen in der Luft.

 

»Was machen Sie da?« schrie er sie an.

 

Mrs. Ollorby kam auf ihn zu, die Pistole in der Hand. Ein heiteres Lächeln lag auf ihrem Gesicht.

 

»Erzählen Sie nur nicht, daß Sie mich mit einem Vogel verwechselt haben!« Während sie dies sagte, hob sie die Hand. »Ich bin ein Vogel in ungewöhnlichem Sinne – eine alte Krähe –, aber eine, die wiederschießt!«

 

»Was, zum Teufel, tun Sie?« stieß der Mann hervor. Er war totenbleich. »Ich wollte nur einen Scherz machen und Sie erschrecken, das ist alles…«

 

»Lache ich denn nicht?« fragte Mrs. Ollorby. Sie stand vor ihm, ihre dicke Hand auf die Hüfte gestützt. Der Lauf der Pistole stand seitlich ab wie ein gestutzter Schwanz.

 

Sie machte einen komischen, aber dennoch herausfordernden Eindruck. Ihr Hut hing auf der Seite und bedeckte fast das eine Auge; ihr Gesicht war tief rot und mit Schweiß bedeckt. Sie hatte ein vielfältiges Doppelkinn, und es schien ihm, als bekäme sie plötzlich wie ein Truthahn vor Ärger einen Fleischkragen. Aber sie lachte nur und war durchaus nicht erschreckt.

 

»Wenn ich dächte, daß es ein Mordversuch von Ihrer Seite war, würde ich Sie gleich zur Kingston-Polizeistation mitnehmen. Aber ich sehe, daß es nur Dummheit war.«

 

Sie setzte ihren Hut gerade, brachte eine Haarsträhne, die ihr über die Stirn gefallen war, wieder in Ordnung und besah ihre vom Pulver geschwärzte Hand.

 

»Seien Sie jetzt vernünftig«, sagte sie plötzlich, wandte sich um und ging wieder dorthin zurück, wo sie ihre große Tasche hatte fallen lassen.

 

Er stand wie festgewurzelt, bis sie hinter der großen Pflanzung von Sutton Holme verschwunden war. Dann erst ging er zurück und bemerkte Graham, der aufgeregt und besorgt mitten auf der Straße stand.

 

»Was haben Sie gemacht?« fragte er heftig. »Ich wollte sie nur etwas erschrecken«, brummte der Mann.

 

»Sie erschrecken! Ich hörte drei Schüsse –«

 

»Sie hatte eine Pistole«, sagte Mawsey verdrießlich. »Und, Hallowell, Sie brauchen dem Direktor nichts davon zu erzählen.« Graham versprach ihm das nicht. Er ging zu Diana ins Frühstückszimmer zurück und erzählte ihr von dem üblen Scherz des Gärtners. Sie nickte langsam.

 

»Ich werde jetzt schnell zur Stadt zurückfahren«, sagte sie. »Die alte Ansicht, daß alle Verbrecher Narren sind, scheint sich wieder einmal zu bestätigen. Soll ich die Sache Tiger erzählen, oder willst du es übernehmen?«

 

»Es ist besser, wenn du es tust«, sagte Graham. »Wenn er sich auf die Hilfe dieses Mannes verlassen will, kann er die Geschichte nicht früh genug erfahren.«

 

Diana verließ gleich darauf die Villa, und als sie ihre Wohnung erreichte, wartete der Mann, den sie dringend zu sehen wünschte, schon auf sie. Sie war trotzdem ein wenig erstaunt, daß Tiger so unvorsichtig war, sie am hellen Tag zu besuchen. Es war der erste Besuch, den er in ihrer Wohnung machte, und sie war etwas verwirrt. Er schien ihre Gedanken zu erraten, als sie in den Empfangsraum trat und ihn in einem Sessel bei der Lektüre einer illustrierten Zeitung fand.

 

»Ich habe auch eine Wohnung in diesem Häuserblock«, sagte er zu ihrer Verwunderung, »schon seit zwei Jahren. Die Polizei weiß das, aber Sie wußten es anscheinend noch nicht? Was hat Mawsey angestellt?«

 

»Wie haben Sie das schon erfahren?« fragte sie erstaunt.

 

»Ihr Gatte rief mich an – ich wünschte, er wäre nicht so schnell zur Hand mit seinem Telefon. Ich werde Mawsey dort fortnehmen. Er ist ein tüchtiger Arbeiter, aber er hat keinen Verstand. Ich glaube nicht, daß der dumme Streich, den er Mrs. Ollorby gespielt hat, irgendwelche Folgen hat, aber ich brauche ihn am Sechsundzwanzigsten, und es ist besser, ihn wohin zu bringen, wo er nicht plötzlich verhaftet werden kann.«

 

»Mr. Trayne – warum stellen Sie ihn überhaupt an?«

 

Tiger Trayne lächelte gut gelaunt.

 

»Mawsey ist ein tüchtiger Arbeiter, wie ich schon vorher sagte. Außerdem bin ich seiner Frau in gewisser Weise verpflichtet – es handelt sich um keine große Sache, und sie selbst weiß es nicht einmal. Daß ich mich verpflichtet fühle in solchen Fällen, ist eine Schwäche von mir.« Sie war tief in Gedanken versunken.

 

»Sagten Sie nicht eben etwas vom Sechsundzwanzigsten?«

 

Er nickte.

 

»Das ist aber schon sehr bald.«

 

»Ich habe erst heute morgen erfahren, daß Richard Hallowell an diesem Tag die Wache kommandiert.«

 

Sie war offensichtlich sehr erstaunt.

 

»Richard Hallowell? Was hat er damit zu tun?«

 

»Allerhand«, entgegnete er. »Haben Sie das Buch nicht gelesen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Vermutlich hat unser Freund Graham auch keine Zeit gehabt, Ihnen die Sache zu erklären. Der Sechsundzwanzigste ist in mancher Hinsicht ein guter Tag. Wir haben günstige Flutverhältnisse, der Mond geht zur rechten Zeit unter, das heißt, er wird überhaupt nicht scheinen – das Wichtigste ist, wir stehen kurz vor der Eröffnung des Parlaments, wozu man die königlichen Insignien braucht. Wie das Wetter sein wird, weiß ich natürlich nicht. Ich kann nur hoffen, daß es regnet.«

 

»Sie nehmen also den Gärtner fort?«

 

»Auf jeden Fall«, sagte er. »Ich brauche sowieso dort jetzt einen, der ein guter Schneider ist.«

 

Trotz ihrer gedrückten Stimmung mußte sie lachen.

 

»Warum brauchen Sie einen guten Schneider? Und dann noch eins, Mr. Trayne – Sie versprachen mir eine große Summe. Was habe ich dafür zu tun?«

 

Er sah sie etwas spöttisch an.

 

»Ihre Rolle ist sehr einfach. Sie sollen nur mit Lady Cynthia Ruislip dinieren.«

 

Diana schaute ihn groß an.

 

»Ich soll – mit Lady –?« Sie lachte böse. »Wissen Sie denn, was Lady Ruislip zu mir sagen würde? Nein, der Plan ist völlig unmöglich. Dabei kann ich nicht helfen.«

 

Er stand vom Sofa auf, faltete die Zeitung zusammen und legte sie wieder auf den Tisch, wo er sie gefunden hatte.

 

»Im Gegenteil, Sie können sehr viel helfen. Sie waren doch mit Graham Hallowells Bruder verlobt.«

 

Sie nickte.

 

»Er ist doch ein guter Junge?« fragte er. »Ich kenne ihn gar nicht, ich weiß nur, daß er zu den hochverehrten Leuten gehört.« »Er ist –«, begann sie, aber ein Wink seiner Hand ließ sie schweigen.

 

»Ich will nur wissen, wie er in Uniform aussieht, und das weiß ich bereits. Ich habe zwanzig Momentaufnahmen zu den verschiedensten Zeiten von ihm gemacht, ohne daß er etwas gemerkt hat. Aber in Ihrer Eigenschaft als seine Verlobte haben Sie doch Lady Cynthia kennengelernt?«

 

»Ja«, sagte Diana langsam und war gespannt, was nun kommen würde.

 

»Sie sind ihr also nicht fremd – darum allein handelt es sich. Ich sehe gar keinen Grund, warum Sie nicht am Abend des Sechsundzwanzigsten im Tower speisen sollten.«

 

Sie sagte nichts, aber er konnte deutlich ihren Widerwillen erkennen.

 

»Das ist absolut unmöglich!« entgegnete sie dann.

 

»Ich erwartete, daß Sie das sagen würden.«

 

»Vorausgesetzt, ich würde dort dinieren, von welchem Nutzen könnte es sein?« warf sie ein. »Und glauben Sie nicht, daß man auch mich in die Sache zieht, wenn man Graham verdächtigt und es bekannt wird, daß ich den Abend im Tower verbracht habe?«

 

Er nickte.

 

»Sie dürfen mir vertrauen, daß ich die Situation nach jeder Seite hin reiflich überlegt habe«, sagte er ruhig. »Wenn Sie sich zum Essen dort aufhalten, wird es genügen. Nun hören Sie, Diana – wenn ich mir diese Freiheit herausnehmen darf«, sagte er mit einer leichten Verbeugung.

 

Sie war nicht in der Stimmung, Komplimente anzunehmen, wie ihre ungeduldige Geste bewies.

 

»Es gibt gewisse Sitten und Gebräuche innerhalb des Tower, die auf mittelalterliche Zeiten zurückgehen. – Dazu gehört auch die Ausgabe einer Losung für die Nacht – diese Losung muß ich wissen.«

 

Sie lächelte ihn an.

 

»Und wer soll mir nach Ihrer Meinung diese Information geben?« fragte sie sarkastisch.

 

»Der Oberst!« sagte er. »Sie werden um sieben Uhr in Abendtoilette im Tower sein.«

 

»Und um sieben Uhr fünf Minuten werde ich wieder verschwinden! Sie kennen Lady Cynthia nicht!«

 

»Wenn Sie zur Wohnung des Obersten kommen«, fuhr er fort, ohne sich durch ihre Bemerkung stören zu lassen, »werden Sie sich selbst bei dem Diener melden, den Sie wahrscheinlich kennen, und er wird Sie bei dem Oberst melden –«

 

»Bei Lady Cynthia«, unterbrach ihn Diana.

 

»Bei dem Oberst«, sagte Tiger kühl. »Lady Cynthia wird nicht anwesend sein. Sie wird eine Stunde vorher weggerufen, um jemand zu besuchen. Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie werden Lady Cynthia Ruislip nicht im Tower treffen. Aber der Oberst ist da, und er wird erstaunt, vielleicht auch ein wenig verwirrt sein, Sie zu sehen. Sie werden ihm sagen, daß Sie jemand telefonisch zum Diner eingeladen hätte – Ihrer Meinung nach sei es Lady Cynthia gewesen. Er wird verwundert sein. Sie geben vor, daß Sie deswegen eine sehr wichtige Einladung versäumen mußten. Was kann er anderes tun, als Sie bitten, zum Diner zu bleiben und mit ihm zu speisen? Wie Sie das Paßwort aus ihm herausbringen« – er zuckte die Achseln –, »das muß ich allerdings Ihnen überlassen. Um zehn Uhr werden Sie ihn bitten, Sie nach Hause zu bringen. Er wird Kavalier sein und mitkommen, besonders da Lady Cynthia um diese Zeit anruft, daß sie nicht vor Mitternacht zurückkehren wird.«

 

»Sie sind so sicher, daß sich alles so ereignen wird«, sagte sie.

 

»Ich bin deswegen so sicher, weil ich selbst dafür sorgen werde, daß alles so vor sich geht«, sagte Mr. Trayne. »Ich denke, daß die Losung eines der vier Worte: Newport, Cardiff, Monmouth oder Bristol ist. Prägen Sie sich diese, Namen gut ein. Wenn Sie aus dem Tower herauskommen, wird sich Ihnen ein Zeitungsjunge nähern, und Sie werden sagen ›nein‹, wenn es das erste ist. ›Danke, nein‹, wenn es das zweite ist und so weiter. Und wenn der Oberst Sie nach Hause begleitet hat, was dann? Halten Sie ihn solange wie möglich auf, und wenn er Sie verläßt, gehen Sie zu Bett und träumen Sie« – er streckte seine Hand aus – »von irgend etwas Schönem.«

 

Sie trat zum Fenster und blickte stirnrunzelnd auf die Straße hinunter. Ihr Herz schlug schneller bei dem Gedanken, daß sie dieses Abenteuer nun wirklich wagen sollte. Zum erstenmal erschien ihr die Summe von fünfzigtausend Pfund nicht mehr so ungeheuer groß. Sollte sie sich noch zurückziehen? Um Graham sorgte sie sich nicht, er bedeutete ihr nichts. Ob im Gefängnis oder nicht, er war nur eine Verpflichtung und eine Last. Sie war gespannt, ob er sich scheiden lassen würde, wenn – leider würde er ihr keinen Grund geben, die Klage einzureichen.

 

»Es gefällt mir nicht sehr –«, begann sie endlich und wandte sich um.

 

Das Zimmer war leer. Tiger Trayne hatte den richtigen Augenblick gewählt, sie zu verlassen.