Kapitel 10

 

10

 

Aber noch ehe Ferraby antworten konnte, wandte sich Tilling um und verließ das Gasthaus.

 

»Ist das nicht ein netter Kerl?« fragte Tom ironisch. »Aber daran ist nur die Frau schuld. Was halten Sie von ihr, Mr. Ferraby?«

 

»Ach, sie ist reizend und wirklich sehr schön.«

 

Tom nickte.

 

»Die macht ihren Mann noch verrückt. Passen Sie auf, der stellt nächstens noch Dummheiten an. Aber dafür kann man ihn dann nicht zur Verantwortung ziehen.«

 

Ferraby trank nicht gern Bier am frühen Vormittag, aber vom Gastzimmer aus konnte er die Gegend ruhig beobachten. Er sah auf die Dorfstraße hinaus und hoffte, daß Isla Crane auf diesem Weg nach Hause zurückkehren würde.

 

Nach einer Weile bemerkte er sie auch. Hastig setzte er sein Glas nieder, trat möglichst gleichgültig auf die Straße hinaus und grüßte sie.

 

»Erinnern Sie sich noch an mich, Miss Crane?«

 

Sie lachte ein wenig.

 

»Ja. Sie sind Mr. Ferraby. Haben wir uns nicht eben schon gesehen, als Sie mit – Mrs. Tilling sprachen?« fragte sie mit leichter Ironie. »Forschen Sie wieder die Leute aus, Mr. Ferraby? Warum sind Sie überhaupt hier?«

 

»Ich muß eine Menge von Angaben nachprüfen. Es handelt sich diesmal um einen Mann, der hier im Gasthaus wohnte und den man verhaftete, weil er gefälschte Banknoten unter die Leute brachte.«

 

»Ach so!« Allem Anschein nach fühlte sie sich erleichtert. Es fiel ihm aber auf, daß sie ebenso begierig war, ihn auszufragen, wie er sie. Er begleitete sie noch ein Stück Weges, aber hundert Meter vor dem Hausportal blieb sie stehen.

 

»Es ist besser, wenn Sie nicht weiter mitkommen, Mr. Ferraby. Sonst könnte man glauben, Sie wären nicht wegen des Mannes mit dem Falschgeld hier, sondern um den Mord in Marks Priory aufzuklären. Und das würde wahrscheinlich Mylady in große Aufregung versetzen.«

 

Plötzlich wandte sie sich um und sah den Fahrweg entlang. Sie besaß ein besseres Gehör als Ferraby und hatte die Schritte auf dem Kiesweg längst gehört. Gleich darauf kam ein junger Mann in Sicht, der einen leichten Flanellanzug trug und ohne Hut ging.

 

»Kennen Sie Lord Lebanon?« fragte sie leise.

 

»Ich bin ihm schon begegnet, aber ich glaube nicht, daß er sich meiner erinnert.«

 

»Guten Morgen, Isla.« Der junge Mann sah ihren Begleiter neugierig und fragend an. »Ach, ich kenne Sie«, sagte er dann plötzlich und kniff die Augen zusammen, als ob er scharf nachdächte. »Sie kamen mit Mr. Tanner her. Ich weiß auch Ihren Namen: Ferret … Ferraby, sehen Sie, ich habe es doch.«

 

»Ein glänzendes Gedächtnis, Mylord«, entgegnete der Detektiv.

 

»Das ist aber auch das einzig Gute an mir! Und selbst diese Fähigkeit macht in Marks Priory keinen Eindruck. Aber was tun Sie hier? Haben Sie die arme Isla im Verhör?« Er grinste. »Mich hat niemand ausgefragt, weder Tanner noch der merkwürdige kleine Kerl, der immer bei ihm ist – dieser Sergeant Totty. Ich muß wohl sehr dumm aussehen – hast du übrigens Amersham getroffen?« fragte er Isla.

 

»Ich wußte nicht, daß der hier ist.«

 

»Oh, der ist im Schloß. Wir müßten eigentlich immer eine Flagge hissen, wenn er ankommt. Am besten wäre ein grüner Schädel mit zwei gekreuzten Knochen auf gelbem Feld.«

 

»Willie!« sagte sie leise und vorwurfsvoll.

 

Er lachte nur darüber.

 

»Kennen Sie eigentlich unseren Freund Amersham?« wandte er sich an Ferraby.

 

»Oberflächlich.«

 

»Das genügt auch. Es wäre selbst für einen Polizisten überraschend, wenn er ihn durch und durch kennenlernen würde. Uns fällt er hier so auf die Nerven, daß wir es kaum aushalten können.« Er sah nachdenklich auf den Detektiv. »Warum sind Sie eigentlich hier? Wegen dieser verdammten Mordgeschichte?«

 

»Mr. Ferraby hat mir vorhin erzählt, daß er damit nichts zu tun hat. Es handelt sich um den Mann mit den gefälschten Banknoten, der hier im Dorf war –«

 

»Ach ja, ich besinne mich auf ihn. Wo wohnen Sie denn, Mr. Ferraby – unten im Gasthaus? Sie hätten doch zum Schloß kommen sollen. Ich bin sicher, daß Mylady nichts dagegen hätte einwenden können. Und ich –«

 

Isla sah ihn scharf an, und er brach plötzlich ab.

 

»Ich glaube, daß es im Gasthaus sehr ungemütlich ist. Das ist direkt ein Schweinestall!«

 

»Aber Willie, es ist doch ein sehr anständiges Gasthaus«, sagte Isla mit Nachdruck.

 

»Und ich habe das beste Zimmer«, entgegnete Ferraby lächelnd. »Außerdem wunderbar gesunde Beine, auf denen ich schnell das Lokal verlassen kann, wenn es mir nicht mehr passen sollte.«

 

Der junge Lord lachte herzlich.

 

»Sie schlafwandeln doch nicht etwa?« Plötzlich wandte er sich verlegen an Isla. »Es tut mir leid, daß ich das gesagt habe.«

 

Ferraby sah zu seinem Erstaunen, daß sie dunkelrot geworden war.

 

»Sind Sie auf dem Weg zum Herrenhaus, Mr. Ferraby? Dann begleite ich Sie.«

 

»Nein, Mr. Ferraby ist nur mit mir gekommen und geht jetzt zum Dorf zurück.«

 

»Dann begleite ich Sie dorthin.«

 

Isla ging fort, ohne sich zu verabschieden.

 

»Isla, wenn du an Gilder vorbeikommst, der sich hinter den Büschen dort versteckt«, rief Lord Lebanon ihr nach, »dann sage ihm, daß ich es weiß. Er kann ruhig herauskommen und braucht sich nicht abzumühen. Ich glaube, das Gras ist sehr feucht.«

 

Als sie fortgingen, drehte sich Ferraby noch einmal um und sah zu seiner Verwunderung, daß Isla tatsächlich vor den Sträuchern stehengeblieben war, auf die Lebanon gezeigt hatte, und mit jemand sprach, den man nicht sehen konnte.

 

»Ich wußte doch, daß er dort steckt«, sagte Lord Lebanon und lachte. Dann nahm er Ferraby am Arm und ging mit ihm zusammen den Fahrweg hinunter. Da er nicht besonders groß war, reichte sein Kopf kaum an Ferrabys Schulter.

 

»Es gibt zwei Redensarten über einen Lord. Entweder sagt man: ›so betrunken wie ein Lord‹ oder ›so glücklich wie ein Lord‹. Betrunken bin ich noch nie gewesen, und es ist schon sehr lange her, daß ich einmal glücklich war, so lange, daß ich es beinahe vergessen habe. Sie haben wohl viel zu beobachten, Mr. Ferraby? Sie müssen den Leuten nachgehen und aufpassen, was sie tun und reden? Wenn Sie nun aber selbst einmal beobachtet Würden? Ach, ich kann Ihnen sagen, das ist eine langweilige Geschichte.«

 

»Haben Sie denn schon einmal unter Beobachtung gestanden?« fragte Ferraby erstaunt.

 

Lebanon nickte heftig.

 

»Obwohl Isla ihn gewarnt hat, folgt er mir«, entgegnete er ruhig.

 

Ferraby wandte sich um und entdeckte einen großen Mann, der langsam hinter ihnen den Fahrweg entlangging. Er erkannte einen der beiden Diener von Marks Priory.

 

»Es ist eine sonderbare Erfahrung, aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Ich muß Ihnen etwas gestehen.« Er nahm seinen Arm aus dem Ferrabys und sah zu seinem Begleiter auf. »Wissen Sie, warum ich fragte, ob Sie mit mir ins Schloß kommen wollten? Ich wollte nur den Mann ärgern, der hinter uns hergeht. Und wenn ich sage: ärgern, dann meine ich: ihm Furcht einjagen. Wenn ich mich nicht sehr irre, hat er Sie erkannt und weiß, daß Sie ein Beamter von Scotland Yard sind. Und davor ist ihm doch etwas bang. Warum, weiß ich auch nicht. Aber man braucht im Schloß nur von Scotland Yard zu reden, dann ist es gleich so, als ob man sich in der Schreckenskammer befindet. Wo liegt eigentlich Scotland Yard?« fragte er plötzlich.

 

Ferraby erklärte es ihm.

 

»Ach so, in der Nähe des Parlaments. Ich glaube, ich kenne das Gebäude. Wenn ich in den nächsten Tagen in die Stadt komme, werde ich mich einmal ausführlich mit Ihnen und dem Beamten unterhalten, der die Untersuchung des Falles leitet; wie heißt er doch gleich – ach so, Tanner! Ich könnte ihm Dinge erzählen, die ihm geradezu Spaß machen würden.«

 

Sie gingen quer über die Straße zu dem Gasthaus.

 

»Nachdem ich nun getan habe, worüber sich alle ärgern, werde ich Sie verlassen«, sagte der Lord.

 

»Worüber ärgern sich denn die anderen?«

 

»Daß ich mich mit einem Polizeibeamten so eingehend und ernst unterhalte. Ich habe eine Ahnung, daß Gilder besonders dazu angestellt ist, das zu verhindern. Wenn er nun heute nacht unruhig schläft, freue ich mich wenigstens!«

 

Ferraby stand in der Tür des Gasthauses und sah Lebanon nach. Gilder folgte seinem jungen Herrn in respektvoller Entfernung.

 

Kapitel 11

 

11

 

Die Abende in Marks Priory schlichen meist in qualvoller Eintönigkeit dahin. Amersham war nach London zurückgekehrt, so daß Willie nicht einmal einen Menschen hatte, mit dem er sich zanken konnte. In Wirklichkeit hatte er doch ein wenig Furcht vor dem Doktor; aber manchmal konnte er ihn durch irgendeine anscheinend unschuldige Bemerkung nervös und ärgerlich machen. Nachdem er das einmal erlebt hatte, ließ er keine Gelegenheit ungenützt, es zu wiederholen.

 

Isla hatte sich bereits zur Ruhe gelegt, und Lady Lebanon war unheimlich schweigsam. Der junge Lord fühlte, daß seine Mutter mit ihm sprechen wollte und daß die Unterredung nicht sehr angenehm für ihn werden würde. Diese Stille bedeutete meist nichts Gutes.

 

»Wer war der Herr, mit dem du dich heute so lange unterhalten hast, Willie?« begann sie schließlich.

 

Darauf wollte sie also hinaus!

 

»Ach, das ist – den Namen habe ich leider vergessen. Ich habe ihn unten im Dorf getroffen.«

 

»Ein Polizeibeamter?«

 

»Ja, ich glaube«, sagte Willie äußerst gleichgültig und griff nach einer Zeitung.

 

»Was hast du ihm gesagt?«

 

»Nichts. Ich habe mir nur die Zeit vertrieben! Er wohnt in dem Gasthaus – wirklich ein netter Kerl. Er kommt von London und stellt Nachforschungen wegen des Geldfälschers an. Wenigstens hat er mir das gesagt.«

 

Sie biß sich auf die Unterlippe und sah ihn lange an.

 

»Er ist hier, um den Mord aufzuklären. Er wurde auch beobachtet, wie er mit Mrs. Tilling sprach und sie ausfragte. Hoffentlich hast du nichts verraten, Willie?«

 

Der junge Lord lachte laut auf.

 

»Ich, etwas verraten! Was sollte ich denn verraten? Ich weiß doch nicht, wer den armen Studd umgebracht hat. Vielleicht habe ich eine Ahnung, aber genau weiß ich es nicht. Und wenn ich wirklich wüßte, wer es getan hat, würde ich dem Kerl eine Kugel durch die Rippen jagen – besonders wenn es der Mann ist, den ich für den Mörder halte.«

 

Sie sah ihn an; ihr Blick war scharf, fast hypnotisch.

 

»Du sprichst sehr leichtsinnig über diese Dinge, Willie. Aber hoffentlich begreifst du, wie schwerwiegend ein solcher Verdacht ist. Selbst wenn die Beamten nichts beweisen können, tragen sie vielleicht so viel Material zusammen, daß ein vollkommen Unschuldiger ins Gefängnis gesteckt wird.«

 

»Der Schuldige aber auch«, entgegnete Willie rücksichtslos. »Aber ich weiß gar nicht, Mutter, warum du dir darüber Sorgen machst. Man sollte fast annehmen, du wolltest verhindern, daß der Mörder Studds verhaftet wird!«

 

Sie richtete sich hoch auf, aber dann seufzte sie.

 

»Was hast du dem Detektiv gesagt?« fragte sie aufs neue.

 

»Nichts.«

 

Er stand schnell auf und warf die Zeitung auf den Tisch.

 

»Der Mann hat mich lange nicht soviel gefragt wie du. Ich gehe jetzt zu Bett!«

 

Als er sich zur Treppe wandte, sah er Gilder auf der unteren Stufe.

 

»Warten Sie einen Augenblick, Mylord. Ich möchte wirklich wissen, was Sie dem Polizeibeamten gesagt haben.«

 

»Gilder«, rief Lady Lebanon hart, »lassen Sie den Lord vorbeigehen.«

 

Lebanon konnte vor Zorn und Ärger nicht sprechen. Er eilte an dem Diener vorbei die Treppe hinauf.

 

»Gilder, das hätten Sie nicht tun sollen.«

 

»Es tut mir leid, Mylady«, erwiderte der Mann nicht gerade unterwürfig. »Aber dieser Detektiv von Scotland Yard hat mich außerordentlich beunruhigt. Ich dachte, die Untersuchung wäre zu Ende. Ich möchte nur wissen, warum sie die Sache wieder aufgegriffen haben. Es war einer von Tanners Leuten.«

 

Sie nickte.

 

»Er wohnt unten im Gasthaus. Glauben Sie, daß die Geschichte wahr ist – ich meine, daß er Nachforschungen wegen des Geldfälschers hier anstellen will? Immerhin wäre es möglich. Er muß nicht unbedingt hergekommen sein, um den Mord aufzuklären.«

 

Gilder schaute sie zweifelnd an.

 

»Ich weiß es nicht, er ist nur ein Sergeant. Wenn etwas Wichtiges im Gange wäre, würden wir sicher den Chefinspektor selbst hier sehen. Die niederen Beamten werden doch nur mit geringeren Aufgaben betraut. Ich glaube nicht, daß er sich den Kopf über Studd zerbricht.«

 

»Ich möchte doch erfahren, was dieser Sergeant hier in der Gegend macht. Berichten Sie mir auf jeden Fall, wann er wieder abfährt.«

 

Sie nahm eine Kassette aus einer Schublade ihres Schreibtisches und ging die Treppe hinauf. Sie führte ein sehr regelmäßiges Leben, dessen Verlauf nur unterbrochen wurde, wenn unangenehme Leute wie Dr. Amersham die Ruhe ihres Daseins störten.

 

Ferraby machte am Abend noch einen Spaziergang. Er folgte dem Weg, den er am Morgen zurückgelegt hatte, und kam schließlich wieder zu Mr. Tillings Haus. In einem Fenster brannte noch Licht, und in der Nähe der Gartentür bemerkte er eine Frau, die einen dunklen Schal um die Schultern gelegt hatte und eine Zigarette rauchte.

 

»Ich dachte schon, daß Sie es wären«, sagte sie leise, als ob sie fürchtete, daß man sie hören könnte. »Ist es nicht furchtbar hier im Dorf? Sie müssen sich doch hier zu Tode langweilen.«

 

»Ach, es ist nicht so schlimm. Übrigens habe ich heute morgen Ihren Mann getroffen – er war sehr ärgerlich auf mich.«

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Das ist nichts Neues. Er ist immer auf einen böse. Heute nacht hat er Dienst auf der Nordseite des Parks, dort sind Wilddiebe gesehen worden. Wenn er tatsächlich in seinem Revier ist, dann ist er eine Dreiviertelstunde von hier entfernt.«

 

Plötzlich legte sie ihre Hand auf die seine.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie nicht ins Haus bitten kann. Aber würden Sie einen Spaziergang über die Felder mit mir machen?«

 

Er sah sie betroffen an.

 

»Nein, ich mache jetzt einen Spaziergang nach dem Gasthaus, und dann gehe ich zu Bett.«

 

Sie lachte spöttisch.

 

»Johnny wird Ihnen kein Haar krümmen.«

 

Er vermutete, daß sie mit Johnny Mr. Tilling meinte.

 

»Ich gehe gewöhnlich abends ein wenig spazieren. Solange ich in Sehweite vom Haus bleibe, ist es auch nicht gefährlich.«

 

Unvermutet änderte sich ihr Benehmen wieder.

 

»Wer hat Studd ermordet?« fragte sie mit harter Stimme. »Dieser gemeine Schuft!« Es klang fast wie unterdrücktes Schluchzen.

 

»Aber ich werde ihn finden, Mr. Ferraby – eher als die Beamten von der Polizei.«

 

»Studd muß ein guter Freund von Ihnen gewesen sein.«

 

»Er war mein Geliebter«, erklärte sie trotzig. »Ich sage Ihnen die Wahrheit. Er war der einzige auf der Welt –«

 

Erst nach einer Weile konnte sie weitersprechen.

 

»Ich wollte mich von meinem Mann scheiden lassen, denn er ist wirklich nicht höflich und anständig. Dann wollte ich Studd heiraten. Bei ihm wäre ich auch ganz anders geworden, wenn er mich von diesem schrecklichen Dorf fortgebracht hätte.«

 

Wieder dauerte es einige Zeit, bis sie sich gefaßt hatte.

 

»Ich wollte Ihnen das eigentlich schon heute morgen sagen, aber ich konnte nicht. Wenn ich jemals herausbringe, wer es getan hat, dann werde ich nicht eher ruhen, als bis ich den Mörder an den Galgen gebracht habe, ganz gleich, wer er ist.«

 

Es klangen unverhohlene Feindschaft und wilder Haß aus ihren Worten.

 

»Deshalb hatte ich gehofft, Sie würden einen Spaziergang mit mir machen; deshalb habe ich aufs sehnlichste gewünscht, daß Sie heute abend vorbeikommen möchten. Ich habe schon zwei Stunden hier gewartet. Sie haben wohl geglaubt, ich wollte ein wenig mit Ihnen flirten? Nein; die Absicht hatte ich nicht. Ich wollte nur wissen, was Sie herausgebracht haben. Ich glaubte, das wäre leicht, aber jetzt weiß ich, daß Sie es mir doch nicht sagen, selbst wenn Sie es wissen.

 

Er war gerade auf dem Weg zu mir, als sie ihn umbrachten«, fuhr sie ruhiger fort. »Ich hätte ja auch zu dem Maskenball gehen können, aber ich wollte nicht, daß die Leute wieder etwas zu reden hätten, besonders da Johnny an dem Abend in London war.«

 

»Der kam aber mit dem letzten Zug zurück. Haben Sie das nicht gewußt?«

 

Sie starrte ihn ungläubig an.

 

»Mein Mann kam erst am nächsten Morgen. In dem Punkt irren Sie sich.«

 

»Er fuhr am selben Abend zurück, und zwar mit dem letzten Zug.«

 

»Ist das wahr?« fragte sie langsam. »Das ist mir allerdings nicht bekannt. Nun haben Sie mir wenigstens etwas gesagt. Gute Nacht, Mr. Ferraby.«

 

Bevor er etwas erwidern konnte, war sie im Garten verschwunden. Er sah noch, wie sie die Haustür öffnete, dann ging er zu dem Gasthaus zurück. Ihr Verhalten gab ihm neue Rätsel auf, und in Gedanken suchte er eifrig nach einer Lösung.

 

Er hatte nicht übertrieben, als er sein gemütliches Zimmer im Gasthaus lobte. Es war ein großer, niedriger Raum mit behaglichen Möbeln. Ein breitausladendes Bett mit vier hohen Pfosten lud zur Ruhe ein.

 

Ferraby kleidete sich gemächlich aus, las noch eine halbe Stunde, öffnete dann den einen Fensterflügel und zog die Vorhänge vor.

 

Er war noch in dem Alter, in dem man tief und ruhig schläft, und im allgemeinen war er zwei Minuten, nachdem er sich niedergelegt hatte, bereits entschlummert. Aber in dieser Nacht wälzte er sich lange von einer Seite zur anderen, ehe er schließlich einnickte. Seine letzte Erinnerung war, daß die Dorfuhr Mitternacht schlug.

 

Häßliche Vorstellungen quälten ihn in seinen Träumen. Er ging auf dem Fahrweg und sprach mit Isla Crane, aber es kam jemand hinter ihm her und warf ihm etwas um den Hals.

 

»Machen Sie doch keinen Unsinn«, sagte er und hob die Hände, um Luft zu bekommen.

 

Aber es wurde enger und drückender. Er rang nach Atem, und sein Kopf schien zu schwellen und immer größer zu werden. Verzweifelt wehrte er sich, wachte auf und fand, daß es kein Traum war, sondern daß es um Leben und Tod ging. Eine Schlinge war um seinen Hals geknüpft und zog sich immer fester zu.

 

Er riß daran und fiel dabei aus dem Bett. Verzweifelt zerrte er an dem Tuch, aber es rückte und rührte sich nicht. Er war schon nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren, als er mit einer letzten Anstrengung seine Weste packte, die er über den Stuhl gehängt hatte. Hastig suchte er darin nach seinem Taschenmesser, fand es und öffnete es. Im Augenblick höchster Not gelang es ihm auf diese Weise noch, das Tuch durchzuschneiden.

 

Aber es war so fest geknotet, daß er große Mühe hatte, es ganz zu entfernen. Es sauste und brauste in seinen Ohren, und er wußte kaum, was er tat. Endlich hatte er sich befreit. Eine Weile lag er auf dem Boden und atmete schwer, aber die Nachtluft brachte ihn wieder zu sich.

 

Er hörte, daß jemand schnell den Gang entlanglief; gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und Tom beugte sich über ihn.

 

»Ist hier etwas passiert?« fragte er besorgt, knipste rasch das Licht an und stützte Ferraby. »Was ist denn geschehen?«

 

Gleich darauf kam auch der Gastwirt herein, und die beiden schleppten Ferraby zum offenen Fenster, so daß er sich erholen konnte.

 

Das Bett war fast bis zur Mitte des Zimmers gezogen worden.

 

Nach einigen Minuten erhob sich der Sergeant, aber seine Knie zitterten, und sein Kopf war noch ganz benommen.

 

»Heben Sie das für mich auf«, bat er und zeigte auf die Fetzen des roten Seidentuches. Obwohl er sich noch sehr schwach fühlte, kam ihm doch zum Bewußtsein, daß Studd mit einem ganz ähnlichen Tuch ermordet worden war. In der einen Ecke glänzte das kleine Metallschild.

 

Nach einer Viertelstunde hatte er sich so weit erholt, daß er eine genaue Durchsuchung des Zimmers vornehmen konnte. Das Tuch war um seinen Hals geknotet und außerdem an dem Bettpfosten befestigt gewesen. Nur ein Mann, der über außerordentliche Kräfte verfügte, konnte das fertiggebracht haben …

 

Er mußte durch das Fenster eingestiegen sein; die Vorhänge waren zur Seite geschlagen, und auf dem feuchten Fensterbrett fand Ferraby den Abdruck eines Schuhs. Bei weiteren Nachforschungen entdeckte man eine Leiter an dem kleinen Stallgebäude, dessen Dach sich an das Haupthaus anlehnte. Nach einiger Zeit kam auch der Dorfpolizist und notierte alles.

 

Bei Tageslicht durchsuchte Ferraby das Zimmer noch einmal, aber der Einbrecher hatte keine weiteren Spuren hinterlassen, und der Fußabdruck war so undeutlich, daß er nichts nützen konnte.

 

Der Sergeant rief Scotland Yard an und berichtete Tanner kurz, was geschehen war.

 

»Eigenartig«, sagte er halb entschuldigend, »daß ich nach dem Verbrecher Ausschau hielt, während er mich die ganze Zeit verfolgte.«

 

»Der Mann hat also mehr Erfolg gehabt als Sie«, entgegnete der Chef trocken. Dann fragte er, ob er Dr. Amersham gesehen hätte.

 

»Nein, der ist nicht hier. Gestern abend ist er fortgefahren.«

 

»Zur Stadt ist er nicht zurückgekehrt. Ich glaube, Sie können feststellen, daß er irgendwo in der Nähe von Marks Thornton war. Forschen Sie weiter nach und kommen Sie dann hierher. Und bringen Sie vor allem die Reste des Tuches mit. Natürlich darf über den Zwischenfall nicht geredet werden; sorgen Sie dafür, daß der Wirt den Mund hält. Je weniger von der Sache bekannt wird, desto besser.«

 

Ferraby hatte von dem Gastwirt bereits das Versprechen erhalten, daß der Mann nichts weitersagen wollte. Der Dorfpolizist war schwieriger zu behandeln; Ferraby mußte erst den Vorgesetzten anrufen, um zum Ziel zu kommen.

 

Als er in der Nacht nach London zurückkehrte, erfuhr er, daß Tanner aufs Land gefahren war.

 

Kapitel 12

 

12

 

Der Chefinspektor hatte am Nachmittag ein hübsches Dorf in Berkshire besucht. Er hätte sich sofort aufs Pfarramt in Petersfield begeben und sich bei dem liebenswürdigen Pastor John Hastings erkundigen können, aber er ging längere Zeit spazieren, besichtigte die Ruinen aus der Sachsenzeit, die den Ort berühmt gemacht hatten, sah sich auch das halbvollendete Gemeindehaus an und ließ sich dann von dem Küster die Kirche zeigen. Er erhielt sogar die Erlaubnis, die Krypta und verschiedene Andenken an die grausame Durchführung der Reformation sehen zu dürfen. Dann mußte er die Kirchenbücher besichtigen, die bis in das Jahr vierzehnhundert zurückreichten. Inspektor Tanner brachte einen sehr interessanten Nachmittag damit zu.

 

Als er nach London zurückkam, hörte er, daß Ferraby vergeblich nach ihm gefragt hatte. Die Erlebnisse der vergangenen Nacht hatten den jungen Sergeanten ein wenig mitgenommen, aber er hatte einen klaren, übersichtlichen Bericht geschrieben.

 

Tanner öffnete das Päckchen, das die einzelnen Stücke des rotseidenen Halstuches enthielt. In jeder Beziehung glich es dem Seidentuch, mit dem Studd ermordet worden war.

 

Obwohl Ferraby eine Skizze von dem Schlafzimmer mit angrenzenden Korridoren und Räumen gemacht hatte, konnte der Chefinspektor doch nur wenig Wertvolles daraus entnehmen. Aber auf der Rückseite des Berichtes fand er eine Bemerkung, die ihn sehr interessierte:

 

 

Sie hatten recht. Amersham brachte die Nacht in Cranleigh zu, das ungefähr acht Kilometer von Marks Thornton entfernt liegt. Er wohnte dort in dem Gasthaus, wo er auch sein Auto untergestellt hatte. Die meiste Zeit des Abends brachte er jedoch anderswo zu. Einzelheiten darüber berichte ich noch.

 

 

Tanner schloß den Bericht in eine Schublade ein. Der Fall von Marks Priory hatte plötzlich wieder neue Bedeutung erlangt.

 

Obwohl Ferraby nichts davon wußte, war ein zweiter Beamter nach Marks Thornton geschickt worden, der einen anderen Punkt aufklären sollte. Es handelte sich dabei um den verstorbenen Lord Lebanon, den unter geheimnisvollen Umständen ein plötzlicher Tod ereilt hatte, während Willie Lebanon in Indien weilte.

 

Es wurde auch gemeldet, daß Dr. Amersham in seine Wohnung zurückgekehrt wäre. Ein anderer Detektiv war nach Petersfield gefahren, um die Nachforschungen des Chefinspektors Tanner fortzusetzen. Außerdem wurden eingehende Untersuchungen auf dem amerikanischen Konsulat angestellt. Um sieben Uhr abends lief in Scotland Yard die Nachricht ein, daß Dr. Amersham seine Wohnung in Ferrington Court wieder verlassen hätte, um nach Marks Priory zu fahren. Den Chauffeur hatte er zu Hause gelassen und den Wagen selbst gesteuert. Kaum hatte Chefinspektor Tanner dies erfahren, als er sich sofort mit den Überwachungsstellen der Landpolizei in Verbindung setzte. Gegen acht Uhr erhielt er die Bestätigung, daß der Doktor in südlicher Richtung davongefahren wäre. Daraufhin fuhr er sofort in einem Taxi zu Amershams Wohnung.

 

Diesmal hatte er einen Durchsuchungsbefehl in der Tasche. Er unterhielt sich mit Bould und zeigte ihm das Schriftstück.

 

»Das muß ich aber dem Doktor berichten, wenn er morgen zurückkommt.«

 

»Wenn Sie es diesmal vergessen wollten, täten Sie mir einen großen Gefallen. Ich verspreche Ihnen auch, alles genau wieder so zu ordnen, wie ich es vorfinde.«

 

Totty begleitete ihn.

 

Als sie erst einmal in den Räumen waren, begannen sie eine systematische, sorgfältige Durchsuchung. Viele Beweise sprachen dafür, daß der Doktor gerade kein Einsiedler und Lebensverächter war; die luxuriös ausgestattete Wohnung war mit Kunstwerken aus Indien dekoriert. Totty öffnete mit einem Dietrich den Schreibtisch, aber sie entdeckten nur wenig, was sie interessierte.

 

Das Bankbuch, das sie suchten, war nicht in der Wohnung. Sie fanden allerdings eine Bankabrechnung, aus der hervorging, daß der Doktor ein Konto von achttausend Pfund auf der Bank hatte. Allem Anschein nach war er auch beruflich tätig, denn in seinem Schlafzimmer fanden sie eine Ledertasche mit ärztlichen Instrumenten.

 

Der Inspektor machte nach einer Weile eine wichtige Entdeckung. Er hatte alle Schubladen des Schreibtisches herausgezogen und ihren Inhalt durchsucht. Dabei bemerkte er, daß zwei der Schubladen bedeutend kürzer waren als die anderen. Er fühlte in die Vertiefungen, und als er an die Rückseite des Schrankes klopfte, klang es hohl. Bald darauf gelang es ihm auch, ein Brett zurückzuschieben. Er steckte die Hand in die Öffnung, fühlte etwas Weiches und holte ein Stück Zeug heraus. Als er es betrachtete, schrak er zusammen.

 

Es war ein rotseidenes Halstuch von derselben Größe und demselben Muster wie das Seidentuch, mit dem Studd ermordet worden war!

 

Er rief Totty zu sich, und auch der Sergeant stand sprachlos, als er es sah. Auch die kleine Metallplatte, die den Namen der Firma trug, fehlte nicht. Allem Anschein nach war das Tuch noch nicht benützt worden.

 

Die beiden Beamten schauten einander an.

 

»Morgen werde ich eine Frage an Dr. Amersham stellen«, sagte Tanner, »und ich glaube, es wird ihm nicht leicht werden, eine Antwort darauf zu finden.«

 

*

 

Zwei Angestellte in Marks Priory haßten einander. Mr. Kelver, der Butler, war allerdings viel zu vornehm, seine Abneigung gegen die Zofe der Lady Lebanon zuzugeben. Miss Jackjon dagegen machte aus ihrer Verachtung für den alten, würdevollen Mann kein Hehl.

 

Der Streit hatte schon vor langer Zeit begonnen. Miss Jackson hatte geglaubt, dem Butler einen großen Dienst zu erweisen, wenn sie ihm eine lange, skandalöse Geschichte über Lady Lebanon erzählte. Mr. Kelver hatte schweigend zugehört und schließlich gesagt:

 

»Miss Jackson, erzählen Sie mir bitte solche Geschichten nicht. Ich interessiere mich nicht für das Privatleben meiner Herrschaft. Angehörige der Aristokratie haben gewisse Vorrechte, die Leuten in niederer Stellung gewöhnlich sonderbar vorkommen.«

 

»Wenn Sie mich zu den niederen Ständen rechnen, Mr. Kelver –«, hatte die Zofe hitzig erwidert.

 

Der Butler hatte sie nur durch eine Handbewegung zum Schweigen gebracht, aber gerade diese Geste hatte Miss Jackson tief gekränkt. Von da ab waren die beiden Feinde. Er sagte nichts darüber, aber sie ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ihm etwas anzuhängen. Sie gehörte zu den bevorzugten Dienstboten, denn sie hatte noch Zutritt zu den herrschaftlichen Räumen, wenn alle anderen Angestellten bereits ausgeschlossen waren.

 

Bevor sich Lady Lebanon abends um elf Uhr zurückzog, entließ sie ihre Zofe durch die Tür, die zu dem Flügel der Dienerschaft führte, und schloß diese Tür selbst hinter ihr ab.

 

Die Leute in Marks Priory hatten deshalb den Eindruck, daß Miss Jackson in manche Geheimnisse eingeweiht war, von denen andere nichts wußten. Sie besaß außerdem das Vertrauen ihrer Herrin und wurde daher mit dem größten Respekt von den anderen behandelt. Nur Kelver hielt sie für niederträchtig.

 

An dem Abend, an dem Tanner die wichtige Entdeckung machte, saß der Butler in seinem Zimmer und las Scott. Plötzlich klopfte es, und zu seinem größten Erstaunen kam Miss Jackson zur Tür herein. Auf den ersten Blick sah er, daß sie sich aufgeregt hatte; sie war nervös und im Gegensatz zu ihrer sonst so unliebenswürdigen Art geradezu unterwürfig zu ihm. Allein die Tatsache, daß sie sein Zimmer betrat, war der beste Beweis hierfür.

 

»Entschuldigen Sie, Mr. Kelver, daß ich Sie störe. Wir wollen Vergangenes vergessen sein lassen, denn wenn jemals ein junges Mädchen einen Freund brauchte, dann bin ich es. Und ich weiß, daß ein vornehmer Charakter wie Sie einem jungen Ding nichts nachträgt …«

 

Mr. Kelver lächelte innerlich über das »junge Mädchen«, aber er machte keine Bemerkung. Sie berichtete ihm nun mit einem unglaublichen Wortschwall, was ihr zugestoßen war, und er hörte ihr freundlich zu.

 

Sie erzählte, daß Lady Lebanon sehr aufgeregt gewesen wäre und ihr gekündigt hätte. Ja, sie hätte sie sogar geschlagen! Kelver nahm diese Nachricht mit der größten inneren Befriedigung auf, denn eine solche Behandlung hatte er der Zofe schon öfter gewünscht. Aber er ließ sich nichts merken, zog nur die Augenbrauen hoch und nickte ernst.

 

»Mylady war den ganzen Tag so unvernünftig, ich konnte ihr nichts recht machen, und ich hätte ihr selbst gekündigt, wenn sie mir nicht zuvorgekommen wäre. Ich habe genug von diesem verdammten Haus –«

 

»Aber Miss Jackson!« erwiderte Kelver entsetzt.

 

»Es ist doch wirklich ein verdammtes Haus – hier spukt es! Ich habe Dinge gesehen, die Sie kaum glauben würden! Aber wenn ich gehe, werde ich den Leuten schon alles erzählen, darauf können Sie sich verlassen!«

 

»Aber meine liebe junge Freundin«, sagte Mr. Kelver würdevoll und herablassend, »je weniger man darüber redet, desto schneller kommt die Sache in Ordnung. In dieser Welt gibt es die verschiedenartigsten Charaktere. Wenn wir alle gleich dächten und handelten, wäre es ja auch todlangweilig. Ich habe selbst bemerkt, daß Mylady heute in nicht gerade guter Stimmung ist. Sicher ist sie durch irgendeinen unangenehmen Vorfall aus der Fassung gebracht worden. Sie müssen den Herrschaften eben manches nachsehen.«

 

»Das tue ich aber nicht!«

 

Mr. Kelver sah die Nutzlosigkeit ein, die Zofe zu besänftigen. Er warf einen Blick auf die Uhr; es war noch nicht zehn.

 

»Heute abend sind Sie aber frühzeitig mit dem Dienst fertig.«

 

»Ich muß wieder zurück. Amersham ist bei ihr, und die beiden haben sich in den Haaren. Sie hat gesagt, daß sie nach mir klingeln würde, wenn sie mich brauchte.«

 

»Wollen Sie nicht eine Tasse Tee trinken, Miss Jackson? Das wäre gut zur Beruhigung Ihrer Nerven.«

 

»Ich würde lieber einen Whisky-Soda nehmen.«

 

Mr. Kelver fiel es schwer, aber schließlich holte er doch eine frische Flasche aus seinem Schrank hervor.

 

Es gab an diesem Abend wirklich Auseinandersetzungen in Marks Priory. Dr. Amersham war um neun gekommen und nicht in der Stimmung, sich Vorwürfe machen zu lassen. Im Gegenteil, er kam in übelster Laune.

 

»Mylady, ich wünschte, Sie würden es sich früher überlegen, wenn Sie mich dringend sprechen wollen. Ich hatte heute abend eine wichtige Verabredung.«

 

»Unsere Unterhaltung ist wichtiger als alles andere.«

 

Lady Lebanon saß steif in ihrem Sessel in der großen Halle. Ihre bleichen Züge waren undurchdringlich, und ihre dunklen Augen blitzten drohend.

 

»Wenn Sie etwas Wichtigeres haben, mochte ich das doch gern erfahren.«

 

Einen Augenblick schien er die Fassung zu verlieren, aber er beherrschte sich.

 

»Sie wollten mich wegen dieses Detektivs sprechen? Wenn er so dumm und einfältig war, daß er beinahe erwürgt wurde –«

 

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

 

»Ich habe davon gehört.«

 

»Von wem?«

 

»Gilder telefonierte mich an.«

 

Sie sah ihn eine Weile an, ohne ein Wort zu sprechen.

 

»Ich wollte Sie nicht wegen des Detektivs sprechen, sondern wegen einer Angelegenheit, die Sie selbst angeht.«

 

Sie nahm ein Blatt Papier, das vor ihr lag.

 

»Heute kam eine Frau zu mir – die Kellnerin unten aus dem Dorf.«

 

Sein Gesichtsausdruck änderte sich.

 

»Ja, und was soll das?« fragte er trotzig.

 

»Ist es wahr, daß Sie – sich mit ihr eingelassen haben?«

 

Er gab keine direkte Antwort.

 

»Was für ein Klatsch! Mylady, wenn Sie auf die Leute unten im Dorf hören –«

 

»Ich frage, ob das wahr ist? War sie eng mit Ihnen befreundet? – Ich möchte keine stärkeren Ausdrücke gebrauchen.«

 

»Ich lasse mich nicht von Ihnen verhören.«

 

»Ich habe auch verschiedene Geschichten über Tillings Frau erfahren.«

 

Er lachte laut auf, aber es klang nicht überzeugend.

 

»Sie können den ganzen Tag zuhören, wenn Sie sich um Klatschgeschichten kümmern. Aber nun im Ernst, Sie haben mich doch nicht den weiten Weg von London hergeholt, um mir Vorhaltungen zu machen, als ob ich ein kleiner Schuljunge wäre?«

 

Sie sah ihn wieder einige Zeit an, dann senkte sie den Blick.

 

»Es stimmt also, es ist alles wahr. Das ist tatsächlich häßlich und gemein. So darf es nicht weitergehen.«

 

Er nahm einen Stuhl und steckte sich eine Zigarre an.

 

»Das habe ich mir auch schon gedacht, daß es nicht so weitergeht«, entgegnete er kühl. »Ich habe mir vorgenommen, England zu verlassen und in Italien zu leben. Lange genug habe ich hier die schmutzige Arbeit für Sie getan –«

 

Sie warf den Kopf zurück und sah ihn haßerfüllt an. Sein gewöhnliches Benehmen war unerträglich.

 

»Dafür sind Sie aber auch reichlich bezahlt worden.«

 

Er lachte.

 

»Ihre Ansichten über gute Bezahlung weichen sehr stark von den meinen ab. Aber wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Ich schlage vor, daß ich Ende des Jahres von England fortgehe.

 

Ich werde mir eine Villa in Florenz kaufen und kann dann hoffentlich vergessen, daß es ein Marks Priory auf der Welt gibt.«

 

»Hoffentlich vergessen Sie auch, daß ich ein Scheckbuch besitze. Das wäre eine große Wohltat für mich.«

 

Er lächelte ironisch.

 

»Das Bankkonto haben nicht Sie, sondern Willie. Und er ist so schwach, daß er alle Schecks abzeichnet, die man ihm vorlegt. Nein, das werde ich nicht vergessen. Im Gegenteil, von diesem glücklichen Umstand lebe ich ja.«

 

Die Atmosphäre war elektrisch geladen. Lady Lebanon antwortete nicht, sondern klingelte.

 

»Wir können die Sache morgen früh weiter besprechen«, sagte sie schließlich. »Keiner von uns beiden ist im Augenblick ruhig genug, um auf die Gründe des anderen zu hören. Amersham, Sie müssen vor allem diese Liebeleien lassen. Diese Geschichten bringen mich in schiefes Licht – alle Leute wissen, daß Sie hier auf dem Schloß verkehren –, und Sie selbst machen sich dadurch direkt lächerlich. Sie sind doch auch kein junger Mann mehr.«

 

Diese Worte verletzten seine Eitelkeit.

 

»Wie alt ich bin, ist wohl gleichgültig. Übrigens bleibe ich die Nacht nicht hier, ich fahre direkt zur Stadt zurück.«

 

»Sie bleiben hier, sonst bekommen Sie morgen kein Geld.«

 

Er sah sie düster an. Als einem Mann, der eine gute Erziehung genossen hatte, waren ihm derartig peinliche Auftritte zuwider. Er nahm wohl Geld von einer Frau, aber er wollte sich das nicht ins Gesicht sagen lassen.

 

Ungerührt ließ sie seine scharfen Vorwürfe über sich ergehen.

 

»Ich habe nicht gewußt, daß Sie so gemein sein können«, erklärte sie ruhig.

 

»Sie werden auch noch andere Dinge einsehen lernen. Bis jetzt hat die Polizei das Schloß ja noch nicht durchsucht. Wenn es erst einmal dazu kommen sollte, geht das Feuerwerk los. Sie sind mir doch ganz und gar ausgeliefert … Wenn Sie daran denken, werden Sie sicher wieder vernünftig. Ich gehe jetzt. Vielleicht könnte ich Inspektor Tanner manches erzählen.«

 

»Das glaube ich nicht. Und niemand würde Ihnen glauben, wenn Sie es erzählen. Versuchen Sie es doch einmal. Sie werden sehen, daß es unmöglich ist. Und vergessen sie eins nicht, Amersham: Sie sind ebensogut in die Affäre verwickelt wie jeder andere. Sie haben immer die Absicht gehabt, die Verwaltung von Willies Vermögen an sich zu reißen. Diesen gemeinen Plan habe ich bisher vereitelt, und ich werde Ihnen auch in Zukunft stets entgegentreten.«

 

Er starrte sie so wild an, daß sie glaubte, er wolle auf sie zuspringen und sie schlagen.

 

»Es ist gut«, erwiderte er schließlich heiser. »Alles Weitere wird sich zeigen. Ich komme nicht wieder!«

 

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

 

Bewegungslos saß Lady Lebanon in ihrem Sessel, bis sie hörte, daß er in seinem Wagen davonfuhr.

 

»Kann ich irgendwie behilflich sein, Mylady?«

 

Die Zofe stand auf der Treppe. Lady Lebanon fiel ein, daß sie nach ihr geklingelt hatte. Wie lange mochte Miss Jackson schon dort stehen, und wieviel von der Unterredung hatte sie gehört?

 

»Ich habe oben gewartet, bis die Haustür zugeschlagen wurde«, fuhr die Zofe fort, als ob sie die Gedanken ihrer Herrin erraten hätte.

 

»Es ist gut, in ein paar Minuten komme ich auf mein Zimmer.«

 

Plötzlich näherten sich schnelle Schritte, und Isla trat in die Halle.

 

»Was willst du denn hier?« fragte Lady Lebanon scharf.

 

»Ach – nichts.«

 

Isla sprach die Wahrheit; sie sah aus, als ob sie einen Schrecken erlebt hätte.

 

Mit einer Handbewegung wurde die Zofe entlassen.

 

»Nun, was gibt es?« Lady Lebanon zeigte auf den Tisch, auf dem eine Karaffe mit Wein stand.

 

»Danke, ich möchte nichts trinken – wo ist Gilder?«

 

»Ich weiß es nicht – vermutlich in seinem Zimmer.«

 

»Er ist ausgegangen«, erwiderte Isla nervös und ängstlich. »Und Brooks ist auch fort. Ich sah von meinem Fenster aus, daß sie zusammen weggingen. Um Himmels willen, es wird doch nicht wieder etwas passieren!«

 

Sie brach zusammen. Lady Lebanon achtete nicht auf sie, sondern ging schnell zur Haustür, öffnete und starrte in die dunkle Nacht hinaus. Ein paar Augenblicke später hörte sie einen Schrei, der sofort erstickt wurde. Dann herrschte wieder tiefes Schweigen wie vorher. Hochaufgerichtet blieb sie stehen; aber es war ihr, als ob sich eine eisige Hand auf ihr Herz legte. Sie ahnte, was geschehen war.

 

Kapitel 13

 

13

 

Briggs hatte an Tanner geschrieben, daß er wichtige Aussagen über den Mord in Marks Priory machen könnte, und der Chefinspektor hatte sich entschlossen, ihn von der Polizeistation Carinon Row nach Scotland Yard kommen zu lassen.

 

Mit Totty wartete er nun in seinem Büro auf die Ankunft des Mannes.

 

Briggs sah etwas wohler aus als bei seiner Verurteilung, machte aber ein melancholisches Gesicht. Man schloß seine Handschellen auf, außerdem durfte er auf einem Stuhl Platz nehmen und eine Zigarette rauchen. Dann sagte er, daß er sich schwach fühle, und bat um einen Kognak.

 

»Was die Kerle alles dabei herausschlagen!« meinte Totty bewundernd. »Von denen kann man noch etwas lernen.«

 

»Also, Briggs«, begann Tanner kurz und geschäftlich, »Sie waren in der Mordnacht im Dorf Marks Thornton?«

 

»Jawohl.« Briggs‘ Stimme klang kläglich, als ob er schwer leidend wäre. »Das habe ich ja schon geschrieben. Leider kann ich der Polizei nicht in dem Maß helfen, wie ich gern möchte, denn ich bin durch meineidige Zeugen verurteilt worden, Sie mögen es mir glauben oder nicht, Mr. Tanner. Ich bin so unschuldig wie ein neugeborenes Kind.«

 

»Davon bin ich vollkommen überzeugt«, unterbrach ihn der Chefinspektor. »Erzählen Sie uns jetzt, was Sie noch über die Sache wissen.«

 

Briggs wollte seinen Aufenthalt in Scotland Yard mindestens so lange hinziehen, daß er während der Zeit drei Zigaretten rauchen konnte. Er erzählte also umständlich, daß er auf dem Zaun saß, der die Felder von Marks Priory einschloß, berichtete dann, daß der Chauffeur Studd eilig an ihm vorüberkam und daß er später einen Schrei hörte …

 

»Gleich darauf sah ich einen Mann auf mich zukommen. Er lief und war ganz außer Atem. ›Wer ist da?› rief ich. ›Es ist alles in Ordnung›, antwortete der Mann. ›Ich bin Dr. Amersham.‹«

 

»Stimmt das auch?« fragte Tanner und machte sich eine Notiz. »Davon haben Sie doch in Ihrem Brief nichts geschrieben?«

 

»Nein, ich habe nur angedeutet, worum es sich handelte. Wenn ich ganz offen sein soll: Ich sagte mir, wenn ich alles genau schreibe, wollen Sie mich nachher nicht mehr sprechen.«

 

»Ach so, Sie wollten einen Tag vom Gefängnis fort. Nun gut, also was passierte dann?«

 

Tanner wußte rein gefühlsmäßig, ob ein Verbrecher die Wahrheit sagte oder nicht. Und Briggs‘ Worte entsprachen wohl den Tatsachen.

 

Der Mann stand auf und ging zum Schreibtisch. Er wollte seine Aussage möglichst dramatisch gestalten, besonders, da er jetzt zu einem gewissen Höhepunkt kam.

 

»Mr. Tanner«, sagte er langsam, »ich habe ein unheimliches Gedächtnis für Stimmen, und als ich ihn reden hörte, erkannte ich ihn wieder!«

 

»Was, Sie hatten ihn schon vorher getroffen?« fragte der Chefinspektor überrascht. »Wo war denn das?«

 

»Im Gefängnis in Puna, als uns beiden der Prozeß gemacht wurde. Damals war er Offizier, und man hatte ihn verhaftet, weil er den Namen eines Kameraden unter einem Scheck gefälscht hatte. Es war allerdings ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß wir zu gleicher Zeit im Gefängnis sein mußten. Ich hatte mich wegen einer ähnlichen Sache zu verantworten. Er ist aber so davongekommen; man hat die Sache damals vertuscht, um einen Skandal zu vermeiden.«

 

Tanner sah ihn ungläubig an. Sollte Dr. Amersham tatsächlich ein Fälscher sein? Entweder verwechselte Briggs den Mann mit einem anderen, oder –

 

»Das haben Sie wohl alles erfunden?«

 

»Durchaus nicht, es ist vollkommen wahr. Sie können ja nach Indien telegrafieren. Ich kann Ihnen sogar das genaue Datum geben.«

 

»Aber Dr. Amersham ist doch ein Mann von Bildung, und er war damals Offizier –«

 

»Stimmt alles«, erklärte Briggs zornig. »Aber er hat trotzdem den Namen eines Kameraden gefälscht. Der Mann hieß Willoughby – Sie können das auch in den Akten feststellen. Ich weiß ganz genau Bescheid. Dr. Amersham wurde aus der Armee ausgestoßen. Was später aus ihm wurde, weiß ich nicht. Ich hörte nur noch, daß er unten in Madras ein Mischlingsmädchen geheiratet hätte. Auf jeden Fall war er wegen Betrugs und Fälschung angeklagt, das weiß ich genau. Er heißt Leicester Charles Amersham. Ich habe ihn sofort an der Stimme wiedererkannt.«

 

Die Vornamen stimmten, also konnte man Briggs‘ Angaben nicht ohne weiteres ablehnen.

 

Noch lange, nachdem der Mann wieder abgeführt worden war, saß der Chefinspektor und stützte den Kopf in die Hände. Auch auf Totty hatte der Bericht großen Eindruck gemacht.

 

»Jetzt muß ich mir diesen Amersham doch einmal persönlich vornehmen«, sagte Tanner schließlich. »Das wird eine ernste Unterredung geben. Von vier verschiedenen Seiten kommen wir immer wieder auf Amersham. Ich möchte nur wissen, was er eigentlich vorhat.«

 

»Das kann ich Ihnen genau sagen«, erklärte Totty. »Er will den jungen Lord Lebanon umbringen.«

 

»Lord Lebanon? Das wäre möglich. Daß mit Amersham etwas nicht stimmt, war mir längst klar, aber ich ahnte nicht, daß er ein derartiges Vorleben hat.«

 

»Und warum haben die Leute auf dem Schloß amerikanische Diener?« fragte Totty. »Das ist doch sonst nirgends Sitte. Übrigens wäre es gar nicht schwer, den jungen Lord aus dem Weg zu schaffen, denn der ist nicht sehr schlau. Das wäre der reinste Kindermord zu Bethlehem.«

 

In dem Augenblick trat Ferraby schnell ins Büro.

 

»Nun, was gibt es?«

 

»Wollen Sie Lord Lebanon sprechen?«

 

Tanner sah den Sergeanten groß an.

 

»Was, ist er persönlich nach Scotland Yard gekommen? Das ist allerdings merkwürdig! Bringen Sie ihn herein.«

 

Lebanon sah sich neugierig in dem Zimmer um, als er hereingeführt wurde, legte dann Hut, Handschuhe und Stock auf einen leeren Sessel und sah von Totty zu Tanner, als ob er unschlüssig wäre, an wen er sich zu wenden hätte.

 

»Sie bearbeiten doch diesen Fall?« wandte er sich schließlich an Totty.

 

Der Sergeant hätte das zu gern zugegeben, aber Tanner gab sofort eine eindeutige Erklärung.

 

Lord Lebanon schien der Anfang nicht leichtzufallen. Ängstlich schaute er nach der Tür, durch die er hereingekommen war. Ferraby hatte sich inzwischen auf einen Wink des Chefinspektors wieder entfernt.

 

»Ja, ich kann mich auf Sie besinnen, Mr. Tanner, und auch auf Ihren Assistenten.«

 

Sergeant Totty richtete sich zu voller Höhe auf und wurde dem Lord vorgestellt.

 

»Totty? Das ist doch ein alter Name.«

 

»Ich stamme aus einer altitalienischen Familie«, erklärte der Sergeant.

 

Tanner warf ihm einen wütenden Blick zu.

 

Der Lord sah sich wieder unruhig um.

 

»Würden Sie nicht einmal nachsehen, ob draußen vielleicht jemand lauscht?«

 

Der Chefinspektor lächelte.

 

»In all den Jahren, die ich schon hier Dienst tue, habe ich viele Unterredungen in diesem Raum geführt, aber auf eine solche Vermutung ist noch niemand gekommen. Das gibt es in Scotland Yard nicht.«

 

Tanner hätte nie gedacht, daß der Lord tatsächlich im Polizeipräsidium erscheinen würde. Ferraby hatte ihm allerdings von der Unterredung berichtet, in der der Lord seinen Besuch angekündigt hatte.

 

»Ich weiß nicht viel von Scotland Yard, aber ich habe gehört, daß es eine Art Gefängnis sein soll?«

 

Totty lächelte nachsichtig.

 

»Jedenfalls mußte ich herkommen. Das habe ich ja schon Mr. Ferraby angedeutet. Gestern abend habe ich den festen Entschluß gefaßt.«

 

Tanner kam plötzlich ein Gedanke.

 

»Haben Sie zu Hause die Erfahrung gemacht, daß Leute an Ihren Türen lauschen, Lord Lebanon?«

 

Willie zögerte; die Frage schien ihm peinlich zu sein.

 

»Nun – es ist gerade nichts Außergewöhnliches, daß ich zu Hause belauscht werde. Es wäre aber auch möglich, daß es hier passiert. Ist Mr. Ferraby übrigens ein Detektiv?«

 

Tanner nickte.

 

»Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, Mylord«, entgegnete der Chefinspektor. »Obwohl Ferraby erklärte, Sie würden kommen, habe ich Sie nicht erwartet. Da Sie nun aber einmal hier sind, hoffe ich, Sie sagen mir verschiedenes, das den einen oder anderen fraglichen Punkt des Rätsels aufklärt. Natürlich habe ich nicht das Recht, Fragen an Sie zu stellen. Aber da Sie freiwillig erschienen sind, werden Sie mir sicher helfen wollen. In Marks Priory stehen mehrere Personen in Verdacht, darunter –« Tanner machte absichtlich eine Pause.

 

»Meinen Sie meine Mutter?« fragte der Lord ruhig.

 

Tanner nickte.

 

»In gewisser Weise. Sie muß natürlich bedeutend mehr wissen, als sie uns gesagt hat. Aber ich dachte eigentlich noch mehr an einen anderen – an Dr. Amersham.«

 

Lebanon lächelte bitter.

 

»Mir ist dieser Mann immer rätselhaft gewesen, und ich wundere mich nicht, daß er verdächtigt wird. Was meine Mutter angeht –« Er zögerte, weil er nach Worten suchte, um ihre Stellung richtig zu kennzeichnen. »Sie sollen alles erfahren, was ich weiß«, fuhr er schließlich fort. »Ich will es Ihnen von Anfang an erzählen. Sie sollen auch wissen, daß ich Amersham nicht ausstehen kann. Ich bin gegen ihn voreingenommen, das gebe ich gern zu.«

 

Der Lord setzte sich. Er sprach langsam und machte öfters Pausen, um die geeigneten Worte zu wählen.

 

Kapitel 14

 

14

 

»Ich will mit der Zeit beginnen, als ich noch zur Schule ging. Sehr stark bin ich niemals gewesen, und ich habe Eton auch nur zwei Jahre lang besucht. Dann wurde ich aus der Schule genommen und bekam einen Hauslehrer. Wie Sie vielleicht wissen, war mein Vater krank und schloß sich von der Außenwelt ziemlich ab. Er verbrachte sein ganzes Leben, mit Ausnahme eines Winters in Südfrankreich, auf seinem Landsitz in Marks Priory. Aber selbst wenn ich in den Ferien zu Hause war, habe ich ihn nur selten gesehen.

 

Unter uns kann ich ja ruhig sagen, daß keine große Zuneigung zwischen uns bestand. Gewiß hatte ich großen Respekt vor ihm, aber das war auch alles.

 

Marks Priory selbst hat mir nie gefallen; schon in meinen jungen Jahren bin ich sehr ungern hingegangen. Sehen Sie, Mr. Tanner, ich besitze nicht den Familienstolz, den meine Eltern haben. Für die war jeder Stein des Schlosses heilig und die Tradition wichtiger als die Heilige Schrift.

 

Nachdem ich die Schule verlassen hatte, brachte ich den größten Teil meiner Zeit mit meinem Lehrer in der Schweiz zu. Wir gingen auch nach Südfrankreich und Deutschland und besuchten gelegentlich englische Seebäder, zum Beispiel Torquay. Mein Vater hatte in der Armee gedient – es ist bei uns Familientradition, daß immer einer im Kavallerieregiment dient –, und so kam auch ich nach Sandhurst. Es gelang mir, die Prüfungen zu bestehen. Hervorragend waren meine Leistungen allerdings nicht, aber doch etwas über dem Durchschnitt.

 

Bis dahin hatte ich nur wenig von Dr. Amersham gesehen, obwohl er als Hausarzt meines Vaters regelmäßig ins Schloß kam. Ich wußte, daß er einige Jahre in Indien gelebt hatte, aber ich hatte keine Ahnung, daß er die Armee aus besonderen Gründen verlassen mußte. Ich meine damit, daß die Sache nicht ganz klar lag. Der Grund war wohl in einer häßlichen Handlungsweise seinerseits zu suchen.

 

Er war mir immer unsympathisch. Ich kann mich darauf besinnen, daß er sich damals meinen Eltern gegenüber ziemlich unterwürfig benahm. Aber allmählich änderten sich sein Verhalten und seine Stellung. Er tat so, als ob er alles zu sagen hätte, und mischte sich in Dinge ein, die ihn nichts angingen.

 

Mein Regiment wurde bald nach Indien geschickt, nachdem ich als Offizier eingetreten war, und ich freute mich, daß ich von England fortkam. Mein Vater war damals schon hoffnungslos krank. Als ich später von seinem Tod erfuhr, tat es mir leid, aber nur um meiner Mutter willen. Ihn selbst habe ich eigentlich nie beklagt – ich will in diesem Punkt offen sein und mich nicht besser machen, als ich in Wirklichkeit bin.

 

Als das geschah, war ich in Indien, wo es mir verhältnismäßig gut ging. Die gesellschaftlichen Verpflichtungen waren etwas langweilig, aber schließlich auszuhalten. Nur schoß ich unglücklicherweise einmal auf der Jagd einen meiner Treiber an, er kam in die Schußlinie, als ich gerade auf einen Tiger anlegte. Das war ein böser Zufall.

 

Vielleicht wäre alles noch gut abgelaufen, so daß ich nicht nach England hätte zurückkehren müssen. Meine Mutter ist eine sehr tüchtige Frau; sie konnte die Verwaltung der Güter selbst leiten. Die Schriftstücke, die ich unterzeichnen mußte, wurden mir nach Indien gesandt. Ich hätte meine Dienstzeit dort auch beenden können, aber kurz nachdem ich den Treiber angeschossen hatte, packte mich ein böses Fieber. Ich habe dann ziemlich lange gelegen – wie lange weiß ich nicht mehr. Es muß aber wohl eine ernste Krankheit gewesen sein, denn meine Mutter schickte Dr. Amersham, damit er mich nach Hause zurückbringen sollte.

 

Ich merkte gleich, mit was für einem Mann ich es zu tun hatte. Er verkehrte mit niemand und verließ das Haus kaum. Ich staunte auch darüber, daß er sich auf der Reise nach Indien einen Bart hatte wachsen lassen. Es wurde wohl über ihn geklatscht, aber ich hatte nie darauf geachtet. Eine unangenehme Geschichte mit einem Mischlingsmädchen spielte dabei eine Rolle – darüber werde ich Ihnen später genauer berichten.

 

Ich hatte den Eindruck, daß er sich fürchtete, mit Leuten zusammenzukommen, die er von früher her kannte. Er ging auch erst nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Haus.

 

Als ich dann nach England zurückkehrte, fand ich eine merkwürdige Lage vor. Amersham war der eigentliche Herr von Marks Priory, und die beiden amerikanischen Diener waren inzwischen eingestellt worden. Sonderbarerweise kannte ich sie schon von früher her. Entweder hatten sie in Amershams Diensten gestanden, oder sie waren bei meiner Mutter gewesen, bevor ich nach Sandhurst ging. Damals hatte ich nicht darauf geachtet; man merkte auch nicht viel von ihrer Anwesenheit. Aber nun waren sie Hauptpersonen geworden.

 

Meine Mutter hatte sich kaum verändert, aber ich fand eine neue Hausgenossin auf dem Schloß vor – Isla, die Tochter eines Vetters meiner Mutter. Eine charmante junge Dame, sehr ruhig und zurückhaltend, dabei aber gescheit und klug. Sie ist die Sekretärin meiner Mutter, nimmt aber eine viel bedeutendere Stellung ein, da meine Mutter sie sehr gern hat.« Lord Lebanon zögerte einen Augenblick. »Ich werde sie heiraten. Ich selbst habe zwar keine besondere Lust dazu, aber meine Mutter wünscht es.

 

Es herrschte eine eigenartige Spannung zu Hause: Amersham dirigierte alles. Die beiden amerikanischen Diener schienen ganz unabhängig zu sein, sie kümmerten sich jedenfalls kaum um andere Leute und traten unverschämt auf, allerdings niemals mir gegenüber. Sie taten, was sie wollten, und versahen ihren Dienst so schlecht, daß ein junger Mann, der bei uns im Pferdestall angestellt war, mehr geleistet hätte als die beiden.

 

Es stimmte also etwas nicht; es mußte ein Geheimnis geben, das mir verschwiegen wurde. Ich hatte früher keine Ahnung, daß meine Rückkehr jemand unangenehm werden könnte, aber nun merkte ich, daß ich bei jeder Gelegenheit beobachtet wurde.

 

Meine Krankheit und meine Rückkehr schienen gewisse Pläne umgestoßen zu haben. Was man im Schilde führte, wußte ich allerdings nicht. Man fürchtete wohl, daß ich vielleicht später dahinterkommen würde. Selbst meine Mutter schien ängstlich geworden zu sein. Auch ich würde schließlich unruhig, aber nach einiger Zeit gewöhnte ich mich daran.

 

Als ich Gilder wegen Unfähigkeit entließ, bekam ich einen Schock, als er am Ende der Woche immer noch in Marks Priory war. Zuerst war ich wütend darüber, ging zu meiner Mutter und bestand darauf, daß der Mann das Haus verlassen sollte.«

 

Der Lord lachte leise.

 

»Aber meiner Aufforderung wurde keine Folge geleistet. Ich hätte ebensogut verlangen können, daß das ganze Schloß dem Erdboden gleichgemacht werden sollte! Nach zwei weiteren vergeblichen Versuchen fand ich mich mit meiner Lage ab. Die beiden Amerikaner waren meine Diener, und ich zahlte für sie, aber ich hatte ihnen nichts zu sagen. Es war ja in der Tat nicht so schwer, mit ihnen auszukommen. In gewisser Weise benahmen sie sich auch nett, und ich habe eigentlich wenig über sie zu klagen.

 

Mit Dr. Amersham dagegen ist es anders. Er tritt öffentlich so auf, als ob er Herr in meinem Hause wäre. Er hat viel Geld, hält sich ein teures Auto und Rennpferde – aber das wissen Sie wahrscheinlich alles selbst. Wenn Gilder und Brooks auch sonst sehr großspurig tun, vor dem Doktor haben sie großen Respekt. Er behandelt die beiden aber auch, als ob sie seinesgleichen wären. Meiner Mutter gefällt das gar nicht, aber sie sagt nichts dazu und hat auch niemals etwas gegen diese Zustände unternommen.

 

Der Mann, den Amersham am meisten haßte, war mein Diener Studd, der arme Kerl, den sie ermordet haben. Wenn die beiden irgendwie zusammenkamen, gab es Krach, und wenn es so weitergegangen wäre, hätte er Studd auch entlassen. Ich weiß nicht, was Amersham gegen ihn hatte – vielleicht wußte Studd zuviel über ihn. Aber was es auch immer sein mochte, Amersham war sein Feind. Übrigens hatte Studd früher auch in der indischen Armee gedient.

 

In einem der ersten Gespräche, die ich nach meiner Rückkehr von Indien mit meiner Mutter hatte, erwähnte sie ihren dringenden Wunsch, daß ich Isla heiraten sollte. Ich muß natürlich irgend jemand heiraten, das erwartet man von mir. Aber man möchte doch wenigstens selbst wählen. Sie wissen ja, daß Isla eine äußerst schöne und liebenswürdige junge Dame ist. Sie war auch vollkommen normal – bis zu Studds Tod.«

 

Tanner richtete sich interessiert auf.

 

»Was passierte denn dann?«

 

»Von da ab ging eine Änderung mit ihr vor. Sie fürchtet sich entsetzlich, ist vollkommen verängstigt und zuckt zusammen, wenn man sie unerwartet anspricht. Und immer hat man den Eindruck, daß sie darauf gefaßt ist, schreckliche Dinge zu erleben. Außerdem schlafwandelt sie.

 

Ich hatte schon früher gehört, daß manche Leute an diesem Übel leiden, aber ich hatte noch niemand in diesem Zustand gesehen. Ich saß gerade in der Halle und trank noch einen Whisky-Soda vor dem Schlafengehen, als Isla im Nachthemd die Treppe herunterkam. Ich war zuerst überrascht, und da ich nicht wußte, was das bedeuten sollte, sprach ich sie an.

 

Dann packte mich das Grauen – ich weiß nicht, ob Sie schon einmal einen Schlafwandler beobachtet haben? Es ist furchtbar. Als ich sie anredete, antwortete sie nicht. Aber sie kam in die Halle und ging umher, als ob sie etwas suchte. Schließlich stieg sie wieder langsam die Treppe hinauf. Ich trat nahe an sie heran und sah in ihr Gesicht. Ihre Augen waren weit geöffnet, und sie sprach leise mit sich selbst. Was sie sagte, mag der Himmel wissen; ich konnte kein Wort verstehen.

 

Soviel ich weiß, hat sich das zweimal ereignet. Es war mir bekannt, daß man solche Leute nicht aufwecken soll. Ich ging so bald wie möglich zu meiner Mutter und berichtete ihr, was ich erlebt hatte. Das zweitemal hat meine Mutter sie selbst gesehen und zu ihrem Zimmer zurückgeführt.

 

Das hat großen Eindruck auf die alte Dame gemacht. Sie war sehr aufgeregt, was man nur selten bei ihr erlebt. Ich kann mich übrigens nicht darauf besinnen, daß meine Mutter mich jemals geküßt hätte.

 

Die Tatsache, daß Isla eine Schlafwandlerin ist, macht die Aussicht auf eine Ehe mit ihr gerade nicht sehr angenehm. Man will doch schließlich nicht mitten in der Nacht das ganze Haus durchsuchen, um seine Frau zu finden!«

 

»Weiß Dr. Amersham etwas davon?« fragte Tanner nachdenklich.

 

Lord Lebanon nickte.

 

»Natürlich«, erwiderte er bitter. »Es kann in unserem Haus nichts passieren, ohne daß er davon Kenntnis erhält. Er hat ihr ein Schlafmittel verschrieben, aber ich bezweifle, daß sie es nimmt.«

 

»Wovor fürchtet sie sich denn?«

 

»Vor allem! Wenn irgendein Brett kracht, fährt sie vom Stuhl auf. Im Dunkeln will sie nicht in den Park gehen, und sie schließt sich in ihrem Zimmer ein. Sie ist die einzige im Schloß, die das tut.«

 

Tanner dachte einige Zeit nach. Was er eben gehört hatte, machte den eigentlich schon schwierigen Fall noch komplizierter^

 

»Sie sprachen vorhin über einen Mischling in Verbindung mit Dr. Amersham. Können Sie mir die Geschichte genauer erzählen?«

 

»Gewiß. Sie war ein sehr schönes Mädchen, und Sie müssen die Sache natürlich erfahren. Es passierte, als er mich damals nach England bringen sollte. Sie wurde in seinem Haus aufgefunden erdrosselt!«

 

Tanner sprang erregt auf.

 

»Was?« rief er ungläubig.

 

Wenn das stimmte, war das Geheimnis von Marks Priory gelöst.

 

»Ist das auch richtig?«

 

Lord Lebanon nickte und lächelte triumphierend. Er war noch jung genug, sich über die Sensation zu freuen, die seine Worte hervorgerufen hatten.

 

»Ja. Ein wirklich sehr schönes Mädchen – sie gehörte allerdings nicht den besten Klassen an, obwohl ihre Familie sehr reich war. Man fand sie damals erdrosselt auf der Veranda des Bungalows, den der Doktor allein bewohnte. Die Sache wirbelte viel Staub auf, aber man konnte ihm die Tat nicht nachweisen. Man fand jedoch Anzeichen dafür, daß auf der Veranda ein Kampf stattgefunden hatte. Die Zeitungen behaupteten, es müßte ein Eingeborener gewesen sein, der das Mädchen mit seinem Haß verfolgt hatte. Und es war auch ein rotes Tuch um ihren Hals geschlungen, genau wie bei Studd.«

 

»Das war mir neu«, sagte Tanner, nachdem er sich von seinem Erstaunen erholt hatte. »Weiß Ihre Mutter davon?«

 

Der junge Lord zögerte.

 

»Es ist schwer zu erfahren, was sie weiß, und was sie nicht weiß. Hoffentlich hat sie keine Ahnung davon. Aber nun möchte ich Sie um Ihren Rat bitten, Mr. Tanner. Was soll ich unter diesen Umständen tun? Sie werden mir wahrscheinlich erklären, daß es doch sehr einfach ist, Dr. Amersham das Haus zu verbieten. Vom juristischen Standpunkt aus ist das auch richtig. Aber meine Mutter hat ihren eigenen Willen, und ich kann mich ihr gegenüber unmöglich durchsetzen. Würden Sie so liebenswürdig sein, einmal als mein Gast ein Wochenende in Marks Priory zu verbringen?«

 

Tanner lächelte.

 

»Was würde Ihre Mutter dazu sagen?«

 

Lord Lebanon machte ein langes Gesicht.

 

»Das ist natürlich eine andere Frage. Nein, so einfach geht es wirklich nicht, es könnte furchtbar unangenehm werden.«

 

»Aber wie wäre es, wenn Sie selbst einmal eine Erholungsreise machten? Gehen Sie doch auf ein paar Jahre außer Landes.«

 

»Das scheint mir eine gute Lösung zu sein, aber Sie vergessen ganz, daß ich mit meiner Mutter und Dr. Amersham rechnen muß. Es kommt zwar nicht darauf an, was er dazu sagt, aber gegen den Willen meiner Mutter kann ich nichts tun. Ich habe ja schon früher erklärt, daß ich gern nach Amerika gehen würde, um mir dort eine Farm zu kaufen. Ich will unter diesen Umständen ganz auf den Titel verzichten. Meinetwegen mag mein nächster Verwandter die Erbschaft antreten.«

 

Er lachte, als er das sagte.

 

»Wer ist denn der nächste Erbe?«

 

»Ist es nicht merkwürdig? Der Mann lebt auch in Amerika und ist Kellner. Nein, ich scherze nicht. Die erste Erbin ist übrigens Isla! Das habe ich erst neulich von meiner Mutter erfahren. Ja, es wäre eine großartige Idee, wenn ich nach Kanada ginge und einmal für kurze Zeit vergessen könnte, daß es überhaupt ein Marks Priory gibt. Das habe ich meiner Mutter mindestens ein dutzendmal gesagt, aber sie behauptet immer, ich müßte hierbleiben.«

 

Er stand auf und trat an den Tisch. Jetzt lächelte er nicht mehr; sein Gesichtsausdruck war mitleiderregend.

 

»Chefinspektor, ich bin nun einmal ein Schwächling. Es gibt ja Hunderttausende solcher Leute auf der Welt. Ja, ich sage sogar offen, die Mehrzahl aller Leute gehört dazu. Starke, schweigsame Menschen scheint es nur in Scotland Yard zu geben.

 

Ich bin vollkommen in der Hand meiner Mutter, und, um ganz offen zu sein, ich habe nicht die Energie, es auf eine Auseinandersetzung mit ihr ankommen zu lassen.«

 

Plötzlich wandte er sich um.

 

»Es ist jemand an der Tür«, sagte er leise.

 

»Aber, mein lieber Lord Lebanon, ich versichere Ihnen …«

 

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich einmal nachsehe?«

 

»Öffnen Sie die Tür, Totty.«

 

Der Sergeant kam der Aufforderung nach und schrak zusammen. Draußen stand ein Mann, der den Kopf gesenkt hatte, als ob er lauschte. Als das Licht auf ihn fiel, erkannten sie Gilder, den amerikanischen Diener.

 

»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte Gilder und trat ruhig ins Zimmer. »Lord Lebanon hat sein Zigarettenetui zu Hause liegenlassen, und ich bin hergekommen, um es ihm zu bringen.«

 

»Warum haben Sie an der Tür gelauscht?« fragte Tanner streng.

 

»Ich habe nicht gelauscht, ich wußte nur nicht genau, welches Zimmer Ihr Büro ist. Und um sicherzugehen, horchte ich, ob ich nicht die Stimme von Lord Lebanon erkennen könnte, bevor ich anklopfte.«

 

»Wer hat Ihnen gesagt, daß Sie heraufgehen sollen?«

 

»Der Polizeibeamte am Haupttor«, erklärte Gilder, der in keiner Weise verlegen wurde.

 

Er zog ein Zigarettenetui aus der Tasche und reichte es dem Lord. Mit einer freundlichen Verbeugung entfernte er sich dann wieder. Tanner sah ihm nach, bis der Mann die Tür geschlossen hatte, dann, gab er Totty ein Zeichen.

 

»Folgen Sie ihm und passen Sie auf, wohin er geht.«

 

Der Chefinspektor war erstaunt über die Kühnheit Gilders. Wie lange hatte er nun schon hinter der Tür gestanden, und was hatte er alles gehört? Die Unverschämtheit einer solchen Spionage innerhalb von Scotland Yard machte ihn sprachlos.

 

»Ich habe also doch recht gehabt«, meinte Lord Lebanon. »Ich dachte, ich wäre heute morgen unbemerkt von Marks Priory fortgegangen, aber Gilder hält sehr scharf Wache, dem kann man nicht so leicht entkommen.«

 

»Seit welcher Zeit werden Sie so scharf beobachtet?«

 

»Seit meiner Rückkehr von Indien. Vielleicht auch schon vorher, aber das ist mir nicht aufgefallen.«

 

»Ist Ihre Mutter davon unterrichtet?«

 

Der junge Lord zuckte die Schultern.

 

»Ich kann mir kaum das Gegenteil vorstellen. Auf jeden Fall weiß Amersham davon.«

 

»Wo ist er jetzt?«

 

»Gestern abend war er in Marks Priory, aber er fuhr zur Stadt zurück. Meine Mutter erwähnte es heute morgen beim Frühstück, sonst hätte ich überhaupt nichts davon erfahren, daß er bei uns war.«

 

Tanner machte sich verschiedene Notizen.

 

»Können Sie mir sagen, wann dieses junge Mädchen in Indien ermordet wurde?«

 

»Kommen Sie doch nach Marks Priory. Ich kann alle diese Tatsachen dort aus meinen Papieren feststellen. Ich werde Ihnen auch mein Tagebuch zeigen.« Lord Lebanon nahm Hut und Stock auf. »Sie können Amersham mitteilen, was ich Ihnen erzählt habe, aber natürlich wäre es mir lieber, wenn Sie es nicht täten, da er sonst zu Hause sicher einen furchtbaren Krach macht. Das beste wäre, wenn Sie ein Wochenende auf dem Schloß zubrächten. Ich könnte Ihnen noch viele interessante Dinge erzählen. Kennen Sie Petersfield? Es ist ein kleines Dorf in Berkshire.«

 

Tanner sah ihn scharf an, denn diese Frage hatte er nicht erwartet. Lord Lebanon war also doch nicht so unbegabt, wie es den Anschein hatte, und er kannte auch das Geheimnis seiner Mutter.

 

Der Chefinspektor begleitete ihn bis zum Hauptportal von Scotland Yard. Auf dem Rückweg zu seinem Büro wurde er von Sergeant Totty eingeholt.

 

»Ich habe ihn bis auf die andere Seite des Ufers gebracht. Wie wäre es gewesen, wenn wir den Mann wegen Umherlungerns verhaftet hätten?«

 

»Meinen Sie Gilder? Nein, das geht nicht gut. Er kann ja auch nicht viel Schaden anrichten … Ich möchte nur wissen, ob er etwas gehört hat?«

 

»Sie meinen wegen Miss Isla Crane?« fragte Totty. »Oder wegen des Mischlings? Die Beweise gegen Amersham häufen sich mehr und mehr. Meiner Meinung nach haben wir doch jetzt Material genug, um Amersham zu verhaften.«

 

»Wenn Sie erst einmal einigermaßen gelernt haben, was die Polizei zu tun hat – und das wird vielleicht in fünfzig Jahren der Fall sein –, dann werden Sie auch endlich begreifen, daß man sehr leicht Leute verhaften, aber sehr schwer so viele Beweise beischaffen kann, um sie zur Verurteilung zu bringen.«

 

Als er wieder in sein Büro kam, sah er eine Reihe von jüngeren Beamten, denen er eine Instruktionsstunde geben mußte. Er seufzte, denn er haßte diese Vorlesungen. Viel lieber wäre er fortgefahren und hätte Amersham aufgesucht, um ihm ein paar wichtige Fragen vorzulegen.

 

»Gehen Sie nachher zur Wohnung von Dr. Amersham«, wandte er sich an Totty, »und sagen Sie ihm, daß ich ihn in Scotland Yard sprechen möchte. Natürlich braucht er nicht zu kommen, wenn er nicht will. Aber es wird die ganze Angelegenheit vereinfachen, wenn er sich in meinem Büro einfindet. Warnen Sie ihn auch wie üblich; am Ende hat er hohe Bekannte, die nachher einen furchtbaren Skandal machen, weil die Vorschriften nicht genau eingehalten worden sind.«

 

»Und wenn er nicht kommen will, soll ich ihn dann verhaften?« fragte Totty erwartungsvoll.

 

Tanner schüttelte den Kopf.

 

»Nein, soweit sind wir noch nicht.«

 

Ein Bote kam herein und brachte ein Telegramm. Totty nahm es in Empfang, öffnete es und reichte es seinem Vorgesetzten. Tanner las:

 

 

Äußerst dringend. Leiche Dr. Amershams heute vormittag 11.07 im Park von Marks Priory hinter Gebüsch gefunden, das fünfzig Meter südlich vom westlichen Flügel liegt. Der Tote wurde erdrosselt, aber man fand weder ein Tuch noch einen Strick. Kommen Sie sofort.

 

Kapitel 15

 

15

 

Ein Gärtner, der im Dorf gewesen war, kehrte durch den Park nach den Gewächshäusern zurück. Unterwegs sah er etwas im Schatten eines Rhododendronstrauches liegen und dachte zuerst, es wären alte Kleider, die jemand fortgeworfen hatte. Er ging darauf zu, um sich zu vergewissern, und fand Dr. Amersham tot auf. Der Arzt hatte die Hände krampfhaft erhoben, als ob er sich vor einem unsichtbaren Feind wehren wollte. Ein Tuch mußte um seinen Hals geschlungen gewesen sein; man konnte die Spuren der Erdrosselung noch deutlich sehen. Aber der Mörder hatte es anscheinend mitgenommen.

 

Der Dorfarzt wurde gerufen, aber er konnte nur feststellen, daß Amersham schon seit vielen Stunden tot war.

 

Lady Lebanon war in ihrem Zimmer, als sie die Nachricht erfuhr, und zeigte sich erstaunlich ruhig.

 

»Benachrichtigen Sie die Polizei«, sagte sie. »Und schicken Sie auch ein Telegramm nach Scotland Yard. Wie hieß doch der Beamte? Ach so, Tanner!«

 

Was möglich war, wurde sofort getan. Die Leiche war aber noch nicht fortgeschafft, als schon ein Polizeiauto durch das Dorf raste und vor dem Herrenhaus hielt. Tanner und vier andere Beamte stiegen aus. Der Polizeiarzt und der Doktor aus dem Dorf waren anwesend, als der Chefinspektor die Kleider des Toten durchsuchte. Er fand jedoch nichts, was auf den ersten Blick als Anhaltspunkt hätte dienen können. In einer Tasche entdeckte er drei Banknoten im Wert von je hundert Pfund, in einer anderen einen Paß.

 

Fotos waren schon gemacht worden, bevor die Beamten erschienen. Nachdem Tanner die Umgebung genau abgesucht hatte, ließ er Amersham fortbringen. Er hatte nicht die geringsten Anzeichen eines Kampfes entdecken können; aber auf dem kiesbestreuten Zufahrtsweg zeigten sich Spuren eines Autos, das vom Weg auf den Rasen gefahren war. Nach einiger Zeit führten die Spuren wieder auf den Hauptweg zurück und von dort direkt nach dem Dorf Marks Thornton.

 

Daraus konnte er viel entnehmen. Fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der der Wagen zum zweitenmal die Fahrstraße verlassen hatte, fand Totty Öllachen und zwei verbrannte Streichhölzer. Eins war angesteckt worden, aber sofort ausgegangen, das andere war halb abgebrannt.

 

Mit Ferrabys Hilfe untersuchte er den Grasboden in der Nähe sorgfältig, und gleich darauf entdeckten sie auch eine Zigarette, die vom Tau vollständig durchnäßt war. Sie war nicht in Brand gesetzt worden, aber in der Mitte durchgebrochen. Totty brachte sie seinem Vorgesetzten, und Tanner las die Aufschrift auf dem Zigarettenpapier.

 

»Eine Chesterfield. Rein amerikanische Marke, wenn sie auch ab und zu hier geraucht wird. Verwahren Sie sie gut, ebenso das Streichholz. Kommen Sie jetzt mit mir die Fahrstraße entlang und sehen Sie einmal nach, ob Sie Fußspuren finden können, die vom Gras auf den Fahrweg führen. Sie müßten direkt in der Nähe der Stelle sein, an der das Auto vom Weg abwich.«

 

In der vergangenen Nacht hatte es eine Stunde lang geregnet, und es lag noch Feuchtigkeit in der Luft, so daß die Straßen nicht getrocknet waren. Man konnte daher die Wagenspuren deutlich erkennen.

 

»Wo ist denn das Auto?« fragte Ferraby.

 

»Die Polizei hat es drei bis vier Kilometer entfernt auf einem Nebenweg gefunden. Die Leute sind bereits unterwegs damit und bringen es hierher.«

 

Bei den Worten sah er sich um.

 

»Dort kommen sie schon. Sagen Sie doch dem Chauffeur, er soll dort halten. Die Spuren dürfen nicht weiter verwischt werden. Und dann sehen Sie sich einmal auf dem Weg um, wieweit diese Spuren mit denen des Wagens übereinstimmen.«

 

Kurze Zeit später kam Totty zurück.

 

»Es handelt sich um denselben Wagen«, erklärte er.

 

»Haben Sie denn in dem Auto selbst einige Fußabdrücke gefunden?«

 

Sie hatten nur eine tiefe Schramme entdeckt, die als Anhaltspunkt nicht zu gebrauchen war.

 

»Ich glaube, ich kann Ihnen erzählen, wie der Mord begangen wurde«, sagte Tanner. »Jemand sprang von hinten auf den offenen Wagen. Dem Doktor wurde hier das Tuch um den Hals geworfen, denn an dieser Stelle bog der Wagen von der Fahrstraße ab, und sein Weg ist ziemlich unregelmäßig, bis er an der Stelle im Gras hielt, an der Sie die vielen Ölspuren gesehen haben. Dort muß er eine Stunde lang gestanden haben, bis jemand kam und ihn wegbrachte. Der Betreffende steckte sich eine Zigarette an, bevor er einstieg. Er öffnete ein neues Päckchen Chesterfield – Ferraby hat die Banderole der Packung gefunden. Als der Mann die erste Zigarette herauszog, brach sie mitten durch, und er warf sie fort. Erst die zweite konnte er anzünden, aber auch erst nach zwei Versuchen. Dann fuhr er den Wagen zu dem Platz, an dem er später aufgefunden wurde. Ein Polizist sah das Auto um halb drei vorüberfahren, aber das Verdeck war hochgeklappt, so daß er den Mann am Steuer nicht erkennen konnte. Daraus ergibt sich klar, wann der Mord begangen wurde. Amersham verließ Marks Priory kurz nach elf, zwei Minuten später wurde er erdrosselt. Darauf schleifte man den Toten bis zu der Stelle, an der er später aufgefunden wurde. Der Mörder kam dann ruhig zurück und brachte den Wagen fort. Vielleicht ist er sogar zum Herrenhaus gegangen. Auf keinen Fall wird er sich draußen noch länger herumgetrieben haben. Der Wärter im Torhaus erinnert sich, daß er nachts einen Wagen vorüberfahren hörte, aber die Zeit kann er nicht genau angeben. Nun fragt sich: Warum ließ der Mörder den Toten im Park und in der Nähe des Herrenhauses, obwohl er die Möglichkeit hatte, ihn im Auto wegzuschaffen?«

 

Später nahm der Chefinspektor eine genaue Untersuchung des Autos selbst vor. Die Uhr am Armaturenbrett war zertrümmert, und an der Tür entdeckte er Kratzer.

 

»Das hat Amersham gemacht, als ihm das Tuch um die Kehle geschlungen und er nach rückwärts gezogen wurde. Er suchte mit dem Fuß einen Halt, trat dabei gegen die Uhr und kam mit den Schuhsohlen auch an die Tür.«

 

Tanner betrachtete den Boden und fand eine tiefe Spur, als ob jemand etwas Schweres über den Gummibelag fortgezogen hätte.

 

»Sehen Sie, hier ist Amersham aus dem Wagen und dann quer über das Gras geschleift worden. Wir haben eine klare Spur von der Öllache bis zu dem Rhododendrongebüsch. Ich werde alle Dienstboten verhören. Mit Lady Lebanon und den beiden amerikanischen Dienern muß ich auch sprechen. Ist übrigens der Lord nach Hause zurückgekehrt?«

 

»Er ist eine Viertelstunde vor uns eingetroffen«, erklärte Ferraby. »Ist er nicht dort drüben?«

 

»Gehen Sie hin und unterhalten Sie sich mit ihm. Ich bin augenblicklich nicht in der Stimmung, mit ihm zu reden, ich habe wichtigere Dinge zu tun.«

 

Tanner ging den Fahrweg hinauf bis zum Haus und trat dann in die große Halle. Lady Lebanon war in ihrem Zimmer, wie der Butler erklärte, aber Miss Jackson wartete auf ihn. Sie hatte viel zu berichten, und was Tanner von ihr erfuhr, war so interessant, daß er die Zofe in den Park mitnahm. Eine halbe Stunde fragte er sie aus und verglich ihre Angaben dann mit dem, was ihm bisher bekannt war.

 

»Haben Sie Lady Lebanon heute morgen gesehen?«

 

»Nein. Ich bin zu ihrem Zimmer gegangen, aber sie wollte mich nicht hineinlassen. Sie sagte mir nur, ich sollte machen, daß ich so schnell wie möglich aus dem Haus käme. Sie bestellte sogar einen Wagen aus dem Dorf, der mich zum Bahnhof bringen sollte.«

 

»Wann war das?«

 

»Heute morgen um neun. Ein volles Monatsgehalt habe ich bekommen, aber sie war so darauf bedacht, mich loszuwerden, daß ich es für besser hielt, bis zur Ankunft der Polizei zu bleiben.« Sie lächelte triumphierend. »Ich weiß wohl, wann die Leute mich brauchen können und wann sie mich fortschicken wollen.«

 

»War das vor Entdeckung der Leiche?«

 

»Ja. Sie ist sonst so genau mit ihren Löhnen, daß es mir gleich auffiel. Es kam mir merkwürdig vor, daß sie sich soviel Mühe gab, mich mit dem Zehnuhrzug fortzuschaffen. Deshalb versäumte ich ihn absichtlich.«

 

»Haben Sie in ihr Zimmer hineingesehen?«

 

»Nein. Aber ich weiß, daß sie sich die ganze Nacht nicht zur Ruhe gelegt hat. Ihre Schuhe, die sie gestern abend trug, sind vollständig durchnäßt. Ich fand sie in ihrem Ankleidezimmer. Ihr Abendkleid war auch beschmutzt. Mr. Kelver brachte ihr Kaffee und erzählte mir nachher, daß ihr Bett noch in Ordnung wäre. Sie können ihn ja selbst danach fragen.«

 

»Das werde ich auch tun«, sagte Tanner brummig. »Haben Sie etwas von dem Mord gehört, bevor die Leiche darin gefunden worden ist?«

 

Die Frage verneinte sie.

 

Er ging zu Totty zurück.

 

»Suchen Sie einmal in dem Gebüsch, in dem der Tote gefunden wurde, nach Spuren von einem Frauenschuh mit hohen Absätzen. Sehen Sie auch dort nach, wo der Wagen gestanden hat, und untersuchen Sie noch einmal die Fahrstraße weiter unten.«

 

Der Chefinspektor ging darauf ins Haus, um Kelver auszufragen, der in der großen Halle auf ihn wartete. Der Mann gab gern die nötigen Informationen; selbst dieses furchtbare Verbrechen änderte nichts an seinem würdevollen Auftreten. Trotzdem war er zu einem Entschluß gekommen und wartete nur auf einen günstigen Augenblick, um mit Lady Lebanon zu sprechen.

 

»Dies ist der frühere Eingang«, erklärte er. »Vor einigen Jahren hat ihn der verstorbene Lord Lebanon so umbauen lassen. Die Arbeiten haben mehrere tausend Pfund gekostet.«

 

In dem nüchternen Morgenlicht sah die Halle etwas trostlos aus. Den sauber aufgeräumten Schreibtisch der Lady Lebanon kannte Tanner zur Genüge. Die beiden Diener standen an dem kleinen Anthrazitofen, der in der einen Ecke des Raumes aufgestellt worden war. Tanner sah, daß sie jede seiner Bewegungen beobachteten, und er war auch davon überzeugt, daß sie sich bereits ihre Antworten zurechtgelegt hatten und ihm eine Geschichte erzählen würden, gegen die er nichts ausrichten konnte.

 

»Also Sie sind Mr. Gilder?« sprach er den größeren der beiden an.

 

»Jawohl«, entgegnete der Amerikaner freundlich, aber selbstbewußt. »Ich habe Sie heute morgen schon gesehen. Kurz vor Ihnen kam ich ins Herrenhaus zurück.«

 

Tanner kümmerte sich nicht um diese Worte, die ein Alibi bedeuten konnten.

 

»Wie lange sind Sie schon in Diensten der Familie?«

 

»Acht Jahre.«

 

Tanner nickte.

 

»Dann waren Sie auch schon hier, als der alte Lord Lebanon noch lebte?«

 

»Jawohl.«

 

Gilder lächelte, während er das sagte.

 

»Und Sie sind hier Diener?«

 

»Ja.«

 

»Scotland Yard hat Erkundigungen über Sie eingezogen, und ich habe die ersten Resultate erfahren. Sie haben ein Konto bei der London & Provincial Bank in London. Stimmt das?«

 

»Die Polizei ist sehr tüchtig, daß sie das herausgefunden hat. Ja, ich habe dort ein Konto.«

 

»Es ist aber außergewöhnlich, daß ein Diener ein Konto bei einer Londoner Bank unterhält.«

 

»Es gibt auch sparsame Leute, die nicht alles Geld ausgeben.«

 

»Sie haben aber eine ziemlich große Summe auf der Bank.«

 

»Etwa viertausend Pfund. Ich habe mein Geld gut angelegt und auch erfolgreich spekuliert.«

 

Tanner hatte erwartet, daß der andere wenigstens etwas in Verlegenheit kommen Würde, aber Gilder blieb ruhig und unerschütterlich. Er war ein gefährlicher Mann, und Tanner unterschätzte ihn in keiner Weise. Aber wenn jemand in Amerika ein Verhör im dritten Grad durchgemacht hat, kann er wohl kaum noch durch die weit milderen Methoden von Scotland Yard aus der Fassung gebracht werden.

 

Tanner rief den zweiten Diener zu sich, und Brooks kam mit den Händen in den Taschen auf ihn zu.

 

»Sind Sie auch aus Amerika?«

 

»Ja, aber ich habe kein Konto auf der Bank. Sie wissen ja auch, daß in letzter Zeit manche Leute drüben viel Geld verloren haben.«

 

»Sind Sie schon lange hier in Stellung?«

 

»Sechs Jahre.«

 

»Warum nehmen Sie einen solchen Posten als Diener an?«

 

»Weil mir das zusagt.«

 

Tanner hatte den Eindruck, daß sich der Mann im geheimen über ihn lustig machte. Brooks war ebenso selbstbewußt und unzugänglich wie Gilder und sah hart und zäh aus. Tanner entdeckte eine alte Narbe in dem Gesicht des Amerikaners.

 

»Die habe ich vor einigen Jahren bekommen«, entgegnete Brooks, als der Chefinspektor eine Bemerkung darüber machte. »Bei einer Schlägerei. Ein Mann warf mir einen Aschenbecher ins Gesicht.«

 

»Waren Sie damals auch schon Diener?« fragte Tanner ironisch.

 

»Ja.«

 

Der Inspektor wandte sich wieder an Gilder.

 

»Kennen Sie dieses Haus sehr genau? Lady Lebanon hat mir gesagt, ich könnte das ganze Gebäude durchsuchen. Vielleicht führen Sie mich einmal herum?«

 

»Selbstverständlich.«

 

Tanner entließ die beiden und wandte sich an den Butler.

 

»Was haben die zwei Leute hier im Haus zu tun?«

 

»Sie bedienen Mylady, den jungen Lord und Miss Crane.«

 

»Wo ist die Miss?« fragte Tanner schnell.

 

»Draußen auf dem Rasen. Leider ist sie sehr aufgeregt über alles, was sich ereignet hat.«

 

Tanner fragte nicht genauer nach den Gründen, und Kelver schien ein wenig enttäuscht zu sein.

 

In diesem Augenblick trat Ferraby in die Halle, und Tanner nahm ihn beiseite.

 

»Suchen Sie doch Miss Crane auf, unterhalten Sie sich eingehend mit ihr und sehen Sie zu, daß Sie etwas aus ihr herausbringen. Wahrscheinlich weiß sie mehr, als sie anfänglich zugeben wollte.«

 

»Haben Sie vorige Nacht nichts gehört?« fragte er Kelver, als der Sergeant gegangen war.

 

Der Butler schüttelte den Kopf.

 

»Auch keinen Schrei, Ruf und dergleichen?«

 

»Nein.«

 

Tanner war davon nicht überzeugt.

 

»Sie entsinnen sich doch noch der Nacht, in der Studd ermordet wurde? Haben Sie damals auch nichts gehört?«

 

»Nein, Sie haben mich ja seinerzeit schon danach gefragt.«

 

Tanner nickte.

 

»Hat nicht einer der Dienstboten Ihnen gesagt, daß gestern abend sehr spät noch jemand kam?«

 

»Nein. Aber verzeihen Sie eine Bemerkung. Ich sah, daß Sie vorhin mit der Zofe von Mylady sprachen.« Kelver machte eine Pause, schaute sich um und dämpfte dann die Stimme. »Sie wurde heute morgen entlassen; vielleicht erzählt sie Ihnen allerhand. Sie hat Zutritt zu diesem Teil des Hauses. Natürlich ist sie durch ihre Entlassung verärgert, und ihre Angaben sind infolgedessen vielleicht nicht ganz zuverlässig, aber wahrscheinlich kann sie Ihnen wichtige Dinge berichten.«

 

»Ich danke Ihnen für den Wink, aber ich habe schon mit ihr gesprochen.«

 

Kelver stand während der Unterredung am Fußende der Treppe, und als er zufällig einen Blick nach oben warf, bemerkte er Lady Lebanon, die der Inspektor nicht sehen konnte.

 

Sie kam die Treppe herunter, ruhig und selbstsicher. Die dunklen Schatten unter ihren Augen bestätigten allerdings in gewisser Weise die Angaben ihrer Zofe. Aber wenn sie auch die ganze Nacht nicht ausgeruht hatte, klang doch ihre Stimme so fest und gelassen, als ob nichts die Ruhe und den Frieden dieses Hauses gestört hätte.

 

»Haben Sie alles, was Sie brauchen, Mr. Tanner? Kelver, sorgen Sie dafür, daß der Chefinspektor alle Dienstboten fragen kann, und unterstützen Sie ihn so gut wie nur möglich. Bringen Sie übrigens Ihre Untersuchung heute noch zum Abschluß?«

 

Sie stellte diese Frage anscheinend gleichgültig, während sie zu ihrem Schreibtisch ging und die Briefe durchsah, die mit der Post angekommen waren.

 

»Das glaube ich kaum«, entgegnete der Inspektor.

 

Er beobachtete sie scharf. Sie war ein Typ, den er noch nicht kennengelernt hatte. Drohungen machten keinen Eindruck auf sie, und sicher ließ sie sich ebensowenig durch Versprechungen beeinflussen.

 

»Ich habe Zimmer für Sie im Gasthof bestellt, es ist ein sauberes, gutes Haus. Allerdings habe ich von dem Dorfpolizisten gehört, daß einer Ihrer Beamten dort ein recht gefährliches Erlebnis hatte.«

 

Er nickte.

 

»Sie haben mir doch die Erlaubnis gegeben, das ganze Haus zu durchsuchen?«

 

»Gewiß. Brooks wird Sie herumführen.« Sie stand nachdenklich an ihrem Schreibtisch. »Der Mann scheint im Park ermordet worden zu sein.«

 

Tanner sah sie erstaunt an.

 

»Der Mann?« wiederholte er fragend.

 

Sie wandte ungeduldig den Kopf zu ihm.

 

»Ja, Mr. Amersham.«

 

Dies war allerdings eine Frau, die nicht wie andere behandelt werden konnte. Für sie war Amersham eben nur »der Mann«.

 

»Ja, er wurde im Park ermordet«, pflichtete Tanner bei, als er sich von seiner Verwunderung erholt hatte. »Das ist sehr wahrscheinlich, da hier im Haus niemand etwas davon gehört hat.«

 

Sie nickte langsam.

 

»Es wäre interessant, wenn Sie das herausfinden würden.«

 

Sie drückte auf eine Klingel, und gleich darauf trat Brooks ein.

 

»Zeigen Sie Mr. Tanner das Haus.«