Kapitel 21

 

21

 

Tanner sah nach der Tür, trat zwei Schritte vor und riß sie auf.

 

Gilder stand auf der Schwelle. Er trug ein kleines Silbertablett mit einer Kaffeekanne und einer Tasse.

 

»Ich bringe Ihnen eine Stärkung«, sagte er ruhig.

 

»Wie lange haben Sie schon vor der Tür gewartet?«

 

»Ich bin eben erst gekommen – gerade als Sie die Tür öffneten, wollte ich klopfen.«

 

Tanner zeigte auf den Tisch.

 

»Stellen Sie das Tablett dorthin.«

 

Er schloß die Tür hinter dem Diener, öffnete sie aber noch einmal, um sich zu überzeugen, daß der Mann auch wirklich gegangen war. Schließlich machte er sie wieder zu.

 

»Lord Lebanon hatte vollkommen recht. Hier in Marks Priory wird unheimlich viel gelauscht. Die Türen sind auch nicht besonders stark.«

 

»Warum verhaften Sie den Kerl nicht?«

 

»Ich habe guten Grund, das nicht zu tun. Wenn ich ihn tatsächlich hier gefangennähme, hätte ich nur eine Menge Unannehmlichkeiten. Vorläufig bleibt es besser, wie es ist. Gilder ist übrigens viel schlauer als Brooks, deshalb gibt man ihm die meisten Aufträge.«

 

Tanner nahm den versiegelten Brief.

 

»Bringen Sie dies dem Boten – nein, ich will es ihm lieber selbst übergeben.«

 

Totty folgte seinem Vorgesetzten in die Säulenvorhalle. Der Polizist, der neben seinem Motorrad stand, warf hastig die Zigarette fort und salutierte.

 

»Stecken Sie den Brief gut weg und seien Sie sehr vorsichtig damit. Um elf Uhr können Sie in London sein. Der Polizeipräsident wartet in seinem Büro auf die Nachricht.«

 

Der Kurier ließ den Motor an und fuhr knatternd dem Parktor zu.

 

Er hatte gerade die erste Kurve genommen, als plötzlich ein lautes Krachen ertönte und sein Scheinwerfer erlosch. Im nächsten Augenblick gellte ein Schrei.

 

Tanner und Totty liefen den Fahrweg entlang. Sie hörten Rufen und Brüllen, als ob an der Unglücksstelle ein Kampf im Gang wäre. Als sie ankamen, fanden sie den Mann auf den Knien. Das Rad lag seitlich auf dem Weg. Totty leuchtete dem Motorradfahrer mit der Taschenlampe in das bleiche Gesicht. Sie halfen ihm beim Aufstehen, und Tanner untersuchte ihn schnell. Knochen waren nicht gebrochen, und mit Ausnahme von einigen schweren Abschürfungen war der Überfallene mit dem Schrecken davongekommen.

 

»Es war ein Strick über den Weg gespannt«, sagte der Mann noch ganz benommen. »Als ich mit dem Rad stürzte, sprang ein Mann auf mich zu und versuchte, mir ein Tuch um den Hals zu schlingen.«

 

Totty leuchtete sofort die Umgegend ab, aber sie konnten von dem Angreifer keine Spur mehr finden.

 

»Können Sie ihn beschreiben?«

 

»Ich konnte ihn nicht genau sehen … Aber er muß sehr stark gewesen sein, denn er hob mich vom Boden auf. Ich schlug mit der Faust nach ihm, aber ich glaube kaum, daß ich ihn richtig getroffen habe.«

 

Totty suchte nach dem Strick und fand ihn gleich darauf. Das Seil war von einem Baum zum anderen gespannt gewesen und durch den Anprall zerrissen worden.

 

»Haben Sie beobachtet, nach welcher Richtung der Mann verschwand?«

 

»Nein.«

 

Der Kurier hinkte über den Weg und hob sein Motorrad auf. Mit Tottys Hilfe untersuchte er dann die Maschine. Es war nichts daran kaputt, nur das Glas des Scheinwerfers war zertrümmert. Kurz entschlossen gab Totty dem Mann seine eigene Lampe und schnallte sie mit einem kurzen Lederriemen an der Lenkstange fest.

 

»Mir ist nichts passiert, ich kann weiterfahren, aber den Kerl möchte ich doch erwischen!«

 

»Sie sagten eben, daß er versuchte, Ihnen ein Tuch um den Hals zu schlingen? Vielleicht hat er es fallen lassen.«

 

Totty eilte nach dem Haus zurück und brachte eine neue Taschenlampe, aber nirgends entdeckten sie ein rotes Seidentuch. Auch sonst fanden sie keine Spuren.

 

»Haben Sie den Brief noch?«

 

Der Mann fühlte nach seiner Kuriertasche. Der Lederriemen war halb durchschnitten; es mußte ein sehr scharfes Messer dazu benützt worden sein.

 

»Meinen Bericht wollten sie also haben – das ist allerdings schnelle Arbeit. Na, stecken Sie den Brief in Ihre Rocktasche und erklären Sie dem Polizeipräsidenten, warum Sie ihn so zusammengefaltet haben.«

 

Der Mann verwahrte das Schreiben in seiner Hüfttasche und knöpfte die Klappe darüber. Sie begleiteten ihn noch ein Stück den Fahrweg entlang, blieben dann stehen und beobachteten ihn, bis er in die Hauptstraße einbog.

 

»Jetzt ist er sicher«, sagte Tanner. »Die haben aber aufgepaßt wie Schießhunde. Man sollte es kaum für möglich halten. Wie gut war es, daß ich Ihnen Ferraby nachschickte, es hätte sonst vielleicht doch noch einen Unfall gegeben.«

 

Totty wollte sich eigentlich beschweren, aber unter den gegebenen Umständen hielt er es für besser, zu schweigen.

 

Als sie in die Halle traten, war der große Raum vollkommen leer. Aber gleich darauf erschien Gilder. Er mußte schnell gelaufen sein, denn er war ganz außer Atem. Sein dünnes Haar, das er für gewöhnlich sauber nach hinten gebürstet hatte, hing in die Stirn, und sein Gesichtsausdruck war müde und angestrengt.

 

»Hallo!« rief Tanner. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

 

Der Mann schluckte.

 

»Ich bin in meinem Zimmer eingeschlafen – das hätte eigentlich nicht vorkommen dürfen. Ein wüster Traum hat mich aufgeschreckt.«

 

»Ist der Boden in Ihrem Zimmer eigentlich feucht?«

 

Tanner betrachtete die nassen Schuhe des Mannes und bemerkte einige Grashalme an den Absätzen. Gilder sah auch auf seine Füße, dann grinste er den Beamten an.

 

»Vor kurzer Zeit bin ich nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen.«

 

Der Diener wollte sich entfernen, aber Tanner rief ihn zurück.

 

»Haben Sie etwas von Motorrädern geträumt?«

 

Gilder schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich träumte von« – er machte eine Pause – »Erdbeben.«

 

»Ich muß den Kerl tatsächlich bewundern«, meinte Tanner, als der Amerikaner gegangen war. Er setzte sich an den Schreibtisch der Lady Lebanon, nahm einen Bleistift und klopfte nachdenklich damit gegen sein Kinn.

 

»Mrs. Tilling ist auch ein Problem. Fahren Sie mit dem Polizeiauto zu dem Haus des Parkwächters und bringen Sie die Frau ins Dorfgasthaus. Aber reden Sie nicht darüber. Zwei unserer Beamten sind dort untergebracht. Sagen Sie einem, daß er auf sie aufpassen soll.«

 

»Wenn sie aber das Haus nicht verlassen will?«

 

»Dann nehmen Sie sie in die Arme, aber vorsichtig«, fügte Tanner etwas ironisch hinzu. »Alles hat einmal ein Ende. Wir können jetzt keine Rücksicht mehr auf sie nehmen. Wenn sie nicht mitkommen will, schlagen Sie ihr eins über den Kopf, aber behutsam, und bringen sie zum Gasthaus.«

 

Tony ließ sich von dem Chauffeur des Dienstautos zu seinem Bestimmungsort fahren. Die Gartentür stand offen, obwohl er sich deutlich darauf besann, daß er sie zugeriegelt hatte, und die Haustür fand er nur angelehnt.

 

»Sergeant«, sagte der Chauffeur aufgeregt, »das Fenster dort drüben ist eingeschlagen!«

 

Totty leuchtete mit der Taschenlampe und bemerkte tatsächlich zwei zerbrochene Scheiben. Das Fenster selbst stand offen. Tottys Herz schlug schneller, als er sich vorwärtstastete.

 

Im Wohnzimmer war der Tisch umgestoßen und ein Stuhl zerbrochen. Außerdem hatte jemand alle Bilder an den Wänden beschädigt.

 

Der anstoßende Raum war ein Schlafzimmer. Auch hier sah Totty Zeichen eines Kampfes; die Betten lagen auf dem Fußboden, die Marmorplatte des Waschtisches war zertrümmert.

 

Soviel er feststellen konnte, waren nur diese beiden Zimmer in Unordnung. Aber die hintere Tür stand weit offen. Von Mrs. Tilling sahen sie im Haus keine Spur. Totty begnügte sich mit einer oberflächlichen Untersuchung. Als er gerade in den Keller gehen wollte, rief der Chauffeur:

 

»Dort drüben bei dem Apfelbaum liegt jemand!«

 

Auf der Rückseite des Hauses befand sich ein Wirtschaftsund dahinter ein kleiner Obstgarten. Totty leuchtete die Stelle ab und sah eine Gestalt auf dem Boden. Er eilte hin und beugte sich über sie. Die Frau atmete, war aber vor Schrecken halb wahnsinnig und konnte nicht sprechen. Als er sie aufhob, starrte sie ihn groß an. Ihre Lippen zitterten, aber sie brachte kein Wort heraus. Als Totty sie in den Wagen trug, stöhnte sie, aber erst kurz vor der Ankunft beim Gasthaus begann sie zusammenhanglos zu sprechen. Glücklicherweise war zu dieser Nachtstunde niemand in der Nähe. Mit Hilfe der Wirtin und eines Mädchens brachte Totty die Frau auf ein Zimmer. Gleich darauf läutete der Sergeant Tanner an.

 

»Ist sie irgendwie verletzt?« fragte der Vorgesetzte.

 

»Soweit ich sehen kann, nicht. Aber sie ist furchtbar mitgenommen. Der Überfall muß ein paar Minuten vor unserer Ankunft passiert sein.«

 

»Rufen Sie einen Arzt für die Frau.«

 

»Das habe ich bereits getan. Soweit müßten Sie mich doch kennen«, entgegnete Totty vorwurfsvoll. »Ich gehe jetzt noch einmal zu dem Haus und durchsuche alles, ob ich nicht irgendwelche Spuren finde.«

 

»Kommen Sie sofort nach Marks Priory zurück. In dem Haus finden Sie doch nichts Wichtiges. Ich werde mit der hiesigen Polizei telefonieren, damit man uns einige Beamte zur Verfügung stellt, die das Haus bewachen. Also, kommen Sie jetzt zurück.«

 

Totty setzte sich mit den Polizeibeamten von Scotland Yard in Verbindung, die im Gasthaus Quartier genommen hatten, und sagte ihnen, daß sie auf Mrs. Tilling achten sollten. Ehe er fortging, traf er Ferraby, dem er die Geschichte auch erzählte.

 

»Die arme, kleine Frau«, sagte er. »Es sieht so aus, als ob wir eine aufregende Nacht bekommen. Schauen Sie mich einmal an, ich bin der reinste Wildwest-Cowboy.«

 

Er öffnete den Rock. Von dem breiten Gürtel, den er umgeschnallt hatte, hingen zwei Pistolentaschen herunter.

 

»Das war Tanners Idee, Sie kennen ihn ja. Erst gibt er einem ein paar Schießeisen, und dann hält er eine Stunde lang Vortrag, daß man sie nicht benützen darf. Jedenfalls fühlt man sich großartig, wenn man eine ganze Batterie zur Verfügung hat. Aber warum und auf wen ich knallen soll, weiß ich wirklich nicht.«

 

»Wenn Sie überhaupt zum Schießen kommen, haben Sie Glück, mein Junge«, erwiderte Totty düster. »Sie müssen schon blitzschnell handeln, wenn Sie sich noch wehren wollen.«

 

»Ich habe nicht vergessen, wie mich der Kerl damals an dem Bettpfosten angebunden hat. Beinahe wäre es mit mir vorbei gewesen. Ich wünschte übrigens, sie wäre aus der ganzen Geschichte heraus.«

 

»Mrs. Tilling?«

 

»Nein – Miss Crane. Sie gehört nicht in diese Umgebung. Ich habe versucht, Tanner zu überreden, daß er sie in die Stadt schickt.«

 

»Und was hat er gesagt?« fragte Totty neugierig.

 

Ferraby mußte lachen. »Wenn alle Leute, die in Marks Priory in Gefahr schweben, nach London gehen sollten, meinte er, dann könnten wir einen großen Omnibus mieten. – Es muß doch etwas in dem Zimmer sein, das sie nicht öffnen wollen. Tanner hat bestimmt recht mit seiner Vermutung. Wenn ich an der Tür vorüberkomme, überläuft mich immer ein Schauder. Übrigens Habe ich heute abend ein Licht in dem Zimmer gesehen – man konnte es deutlich von draußen beobachten. Es brannte eine Minute lang, dann ging es aus. Und ich möchte einen Eid darauf leisten, daß niemand durch die Tür hineingekommen ist.«

 

»Wer wohnt denn daneben?«

 

»Der Raum wurde immer von Amersham benutzt, es ist ein Fremdenzimmer«, erklärte Ferraby, als sie zusammen zum Schloß zurückfuhren. »Die Wände sind ganz mit Eichenpaneel bedeckt, und jede einzelne Füllung kann zu gleicher Zeit eine Geheimtür sein.«

 

»Und welcher Raum liegt auf der anderen Seite?« fragte Totty interessiert.

 

»Das Zimmer des alten Lords, in dem Miss Crane schläft. Ich habe mit Kelver über die Sache gesprochen, und der kennt das Haus. Aus reiner Neugierde hat er eines Tages die Innen- und Außenmaße in den Zimmern genommen und daraus die Stärke der Mauern berechnet. Zwischen dem Raum, den Lady Lebanon nicht öffnen will, und dem Zimmer, in dem Miss Crane schläft, muß die Wand über einen Meter stark sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach liegt ein Geheimgang in der Mauer.«

 

Ferraby lehnte sich vor und sprach zum Chauffeur.

 

»Halten Sie einen Augenblick an. Sehen Sie, dort ist das Fenster zu dem verschlossenen Raum – das vierte von links –« Ferraby brach plötzlich ab, denn das Fenster wurde hell. Die Scheiben bestanden jedoch aus Milchglas, so daß man nicht hindurchsehen konnte.

 

Ferraby sprang aus dem Wagen, Totty folgte. Sie liefen querüber den Rasen, bis sie unmittelbar unterhalb des Fensters standen. Kurz darauf sahen sie oben eine Gestalt, konnten aber nicht erkennen, wer es war. Langsam bewegte sich der unheimliche, dunkle Schatten, dann erlosch das Licht wieder.

 

Kapitel 22

 

22

 

Die beiden sahen einander verblüfft an.

 

»Das scheint ja ein ganz verhextes Haus zu sein«, sagte Totty, der vor Erregung schwer atmete.

 

»Geben Sie mir Ihre Taschenlampe.«

 

Ferraby nahm sie und beleuchtete die Mauer. Kein Fenster war unter dem geheimnisvollen Raum angebracht; die Mauer schien vollkommen massiv zu sein.

 

»Sehen Sie einmal her!« rief Ferraby plötzlich und fuhr mit einem Bleistift die Fugen zwischen den Steinen entlang. »Das ist kein Mörtel, das ist eine Stahlplatte, die nur so bemalt ist, als ob sie Mauerwerk wäre. Hier haben wir eine Tür.«

 

Er zog ein Messer aus der Tasche, öffnete es und suchte nach einer Ritze. Zunächst hatte er keinen Erfolg, aber endlich fand er eine Vertiefung. Als er das Messer hineinschob, hörten sie. ein feines Klicken, und ein kleiner Teil der Wand öffnete sich wie ein Kastendeckel. In der Öffnung entdeckten sie eine Türklinke. Ferraby drückte sie herunter und zog daran, aber sie mußte von innen verschlossen sein.

 

»Na, wollen Sie hier das Haus reparieren?«

 

Ferraby drehte sich um und sah Mr. Gilder, der ihnen geräuschlos nachgeschlichen war. Er hätte ihn im Dunkeln nicht erkannt, wenn der Mann nicht gesprochen hätte.

 

»Was haben Sie denn gefunden?« fragte Gilder interessiert und schaute Ferraby über die Schulter.

 

Als er im Schein der Taschenlampe die Türklinke sah, schrak er zusammen.

 

»Donnerwetter!« rief er, ehrlich überrascht.

 

Ferraby schob die eiserne Klappe wieder zu, und die Feder schnappte ein.

 

»Das ist ja merkwürdig«, meinte Gilder.

 

»Eben haben wir oben Licht gesehen«, erwiderte Totty. »Wer ist denn in dem bewußten Zimmer?«

 

Gilder schaute hinauf.

 

»Wahrscheinlich Brooks. Lady Lebanon verwahrt eine Menge Briefe dort, und zwar ihre Privatkorrespondenz, die die Polizei nicht sehen soll. Selbstverständlich will sie die beiseite schaffen, bevor Mr. Tanner das Zimmer durchsucht. Es kann eigentlich niemand anders als Brooks gewesen sein. Was passiert denn eigentlich unten im Dorf?«

 

»Dort ist alles ruhig. Wenn Sie etwas Neues wissen wollen, müssen Sie schon morgen die Zeitung lesen, aber die Presse erfährt auch nichts. Wo ist denn Mylady? Schon zu Bett?«

 

»Nein, als ich sie eben sah, spielte sie mit dem jungen Lord Mühle im Salon – den Raum haben Sie noch nicht gesehen. Er ist das einzige Zimmer, in dem sie zur Zeit ungestört sein können.«

 

Ferraby und Totty traten ins Haus und waren froh, als Gilder ihnen einen Whisky-Soda brachte und das Feuer anschürte, denn der Abend war ziemlich kalt und naß.

 

Tanner telefonierte nach Scotland Yard und gab ausführliche Auskünfte. Die Lage war so gefährlich geworden, daß er nicht warten konnte, bis der Kurier ankam. Er brauchte Hilfe von der Polizeidirektion.

 

Der Chefinspektor beendete seine Arbeit, drehte das Licht aus und ging zu Ferraby. Totty war inzwischen die Treppe hinaufgegangen, um die Tür zu dem geheimnisvollen Raum zu untersuchen. Gleich darauf kam er zurück und meldete, daß er nichts weiter gefunden hätte.

 

Er glaubte bei seinem Vorgesetzten eine Sensation hervorzurufen, als er die Geschichte mit dem Licht erzählte, und war enttäuscht, als Tanner die Nachricht sehr gelassen aufnahm.

 

»Ich weiß es, ich habe das Licht selbst zweimal beobachtet. Übrigens hat Ferraby mir die Sache schon gestern gemeldet. Die Tür in der Mauer ist allerdings interessant. Vermutet habe ich sie, aber ich konnte sie nicht finden. Es mußte ein Eingang in der Mauer sein, sonst wären alle meine Theorien über den Haufen geworfen worden. Totty, sehen Sie zu, daß Sie den Lord finden, und sagen Sie ihm, ich möchte mich gern etwas mit ihm unterhalten. Ich bin fest davon überzeugt, daß der junge Lord kaum die Hälfte von all dem erzählt hat, was er weiß. Und ich habe eine Ahnung, daß das, was er bisher verschwiegen hat, der interessanteste Teil ist.«

 

Totty fand Willie Lebanon, der mit sich selbst Mühle spielte.

 

»Hallo!« sagte der junge Mann, »ich dachte, Sie wären schon zu Bett gegangen. Spielen Sie eigentlich Mühle? Ich möchte Sie gern dazu einladen, aber ich sage Ihnen schon im voraus, ich spiele so gut, daß ich Sie immer schlage. Deshalb hat meine Mutter heute abend auch so frühzeitig aufgehört.«

 

»Ich habe seit Jahren nicht gespielt«, erwiderte Totty, obwohl er die Regeln überhaupt nicht kannte. »Aber der Chefinspektor läßt fragen, ob Sie zu ihm kommen und ein wenig mit ihm plaudern möchten.«

 

»Was versteht er darunter? Wenn es nur eine Privatunterhaltung sein soll, komme ich gern. Ich habe mir Gedichte hergesagt, nur um mir die Zeit zu vertreiben. Meine Mutter schreibt inzwischen Briefe.«

 

Er legte seinen Arm in den des Sergeanten.

 

»Kennen Sie Ihren Großvater, Mr. Totty? Wenn nicht, dann seien Sie von Herzen froh. Ich muß alle meine Vorfahren auswendig wissen. Mir erscheint das vollkommen überflüssig, aber meine Mutter legt größten Wert darauf, daß ich die ganze Ahnenreihe kenne. Wann wollen Sie eigentlich von hier fortfahren? Am liebsten möchte ich Sie nach Scotland Yard begleiten und mir ein Bett in Mr. Tanners Büro aufschlagen lassen. Dort würde ich mich endlich sicher fühlen.«

 

»Sie sind überall sicher, Mylord«, entgegnete Totty höflich, Dann fügte er bescheiden hinzu: »Wenn ich in der Nähe bin.«

 

»Ich glaube, daß Ihre Gegenwart auch nicht viel nützt«, sagte der Lord offen. »Persönlich würde ich mich lieber auf Tanner verlassen. Sie sind klein wie ich, daher ist die Achtung vor Ihnen nicht allzu groß. Kleine Leute respektieren Männer Ihrer Größe kaum, aber die großen, imposanten Gestalten beneiden sie im geheimen.«

 

Inzwischen waren sie in der Halle angekommen. Der Lord begrüßte Tanner mit einem Kopfnicken und wiederholte dann, daß er nach Scotland Yard ziehen wolle. Der Chefinspektor lachte gutmütig.

 

»Das könnte Ihnen so passen! Auf jeden Fall wären Sie dann in der Nähe des Oberhauses. Haben Sie übrigens schon einmal an den Sitzungen teilgenommen?«

 

Lebanon schüttelte den Kopf, nahm eine große Zigarre aus dem Kasten und steckte sie an.

 

»Nein, meine Mutter wünscht nicht, daß ich mich mit Politik beschäftige. Ich habe eine ganze Liste aufgestellt von all den Dingen, die ich nicht tun soll. Eines Tages kann man ein hübsches Buch darüber schreiben. Ich freue mich aber wirklich, daß Sie heute abend hierbleiben.« Er sah sich um und sprach leiser. »Meiner Mutter gefällt es gar nicht. Sie hat mich ausgeschimpft und mir vorgeworfen, daß ich daran schuld wäre. Aber das ist doch wirklich lächerlich.«

 

»Wo ist Miss Crane?« fragte Tanner.

 

»Soviel ich weiß, ist sie zu Bett gegangen. Sie ist nicht gerade sehr gesellig veranlagt, und es wird recht langweilig werden, wenn ich erst mit ihr verheiratet bin. Gutmütig und freundlich ist sie allerdings, aber offen gestanden haben wir eigentlich wenig gemeinsame Interessen.«

 

Ferraby gab ihm innerlich vollkommen recht.

 

Der junge Lord beugte sich vor und sprach vertraulich.

 

»Ich werde Ihnen noch etwas sagen. Wissen Sie, wer sich ärgert, daß Sie hier sind? Die beiden Diener!«

 

In dem Augenblick erschien Gilder in der Tür. Anscheinend wollte er das Feuer nachschüren, aber das war nicht notwendig, denn er hatte sich erst vor ein paar Minuten daran zu schaffen gemacht.

 

»Ich brauche Sie nicht, Gilder.«

 

»Ich wollte nur nach dem Feuer sehen, Mylord.«

 

»Wann legen Sie sich eigentlich schlafen?« fragte Tanner.

 

Der Diener antwortete nicht.

 

»Gilder, Mr. Tanner hat mit Ihnen gesprochen!«

 

Der Amerikaner tat so, als ob er die Frage überhört hätte.

 

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, ich dachte, Sie hätten sich mit Mylord unterhalten. Ich habe keine regelmäßigen Ruhestunden.«

 

»Schlafen Sie in diesem Teil des Hauses?«

 

Gilder lächelte.

 

»Ja, wenn ich schlafe, bin ich hier.«

 

Brooks kam müde die Treppe herunter.

 

»Das klingt ja fast, als ob Sie nur schwer schlafen könnten?«

 

»Im Gegenteil«, entgegnete Gilder mit ausgesuchter Höflichkeit. »Wenn ich schlafe, dann schlafe ich gesund und fest.«

 

Brooks blieb stehen und betrachtete die Gruppe interessiert.

 

»Wünschen Sie etwas?« fragte Tanner.

 

»Ich wollte nur sehen, ob Gilder nicht in Ungelegenheiten gekommen ist«, entgegnete Brooks leichthin.

 

Tanner erhob sich.

 

»Ich weiß nicht recht, was ich von Ihrem Benehmen halten soll. Tun Sie nur so, weil ich Ihrer Meinung nach ein unwichtiger Besuch bin, oder ist das Ihre gewöhnliche Art?«

 

Gilder legte sich ins Mittel.

 

»Mr. Brooks kommt aus Amerika, aus dem Land der Freiheit, wo die Männer noch Männer sind und sich nicht ohne weiteres verbeugen«, erklärte er etwas umständlich.

 

Dann wandte er sich dem Feuer zu. Mit wenigen Schritten war Tanner bei ihm und packte ihn am Arm.

 

»Wenn Leute frech zu mir werden, bekommt es ihnen meistens sehr schlecht! Ich setze sie dann hinter Schloß und Riegel.«

 

Gilder warf ihm nur einen vorwurfsvollen Blick zu.

 

»Wenn ich nun zu der Überzeugung käme, daß Sie beide bedeutend mehr über die Morde hier wissen, als Sie zugeben wollen, könnte ich Sie einfach verhaften und wegen Mittäterschaft zur Anzeige bringen. Ich würde Sie noch heute abend zur Wache bringen. Sehen Sie, jetzt lachen Sie nicht mehr so unverschämt.«

 

Das stimmte auch; die beiden sahen jetzt ungewöhnlich finster drein.

 

»Es würde Ihnen aber doch auch unangenehm sein, wenn Sie uns zur Polizeistation bringen müßten«, meinte Gilder.

 

»Das macht mir wenig aus. Es sind vierzig Polizeibeamte im Park«, sagte der Chefinspektor langsam und mit Nachdruck. »Nur ausgewählte, tüchtige Leute von Scotland Yard. Vor fünf Minuten kamen sie in Lastautos an; das Haus ist vollkommen umzingelt. In dieser Nacht soll jedenfalls kein Mord in Marks Priory passieren.«

 

Totty starrte ihn mit offenem Mund an.

 

»Es würde mir sehr leichtfallen, ein paar Beamte aus dem Park zu rufen und Sie abführen zu lassen – oder zweifeln Sie vielleicht daran?«

 

Tanner nahm eine Signalpfeife aus der Tasche und hielt sie an die Lippen. Ferraby, der Brooks beobachtete, glaubte jeden Augenblick, daß der Mann zusammenbrechen würde.

 

»Mr. Tanner, Sie haben keinen Grund, derartig drastische Maßregeln zu ergreifen«, erwiderte Gilder. »Wenn ich etwas gesagt habe, das Ihnen unangenehm war, nehme ich es zurück und bitte um Verzeihung.«

 

Er sah zu Lord Lebanon hinüber, der erstaunt von dem Chefinspektor auf den Diener schaute.

 

»Kann ich noch etwas für Sie tun, Mylord?«

 

»Ja, bringen Sie uns noch Whisky-Soda. Brooks, Sie können gehen.«

 

Die beiden Diener entfernten sich.

 

»Nanu«, sagte der Lord, »stimmt es wirklich, daß Sie vierzig Mann im Park haben?«

 

»Um ganz genau zu sein – es sind nur sechsunddreißig Beamte. Ich habe eben die Chauffeure der Transportautos mitgerechnet.«

 

Tanner ging um die Couch herum, stützte sich auf eine Sessellehne und betrachtete den jungen Lord.

 

»Als Sie mich heute morgen in Scotland Yard besuchten, machten Sie Andeutungen, daß Sie hier in Gefahr schwebten. Habe ich Sie recht verstanden? Sind Sie hier irgendwie bedroht worden, oder hat jemand versucht, Sie anzugreifen?«

 

Lebanon sah erstaunt auf.

 

»Ich weiß nicht, ob ich das angedeutet habe.« Er dachte eine Weile nach. »Es sind hier schon viele seltsame Dinge passiert, über die man kaum sprechen kann. Aber es hat wohl noch niemand einen Anschlag auf mein Leben gemacht, sonst wäre ich jetzt nicht mehr hier.«

 

Tanner versuchte, sich weitere Gewißheit zu verschaffen.

 

»Welche seltsamen Dinge sind Ihnen denn aufgefallen?«

 

»Sie wollen wohl etwas recht Unheimliches hören, wie es in Schauerromanen vorkommt? Gut, ich werde Ihnen etwas erzählen. Ich kann mich auf zwei Gelegenheiten besinnen, als Gilder mir einen Whisky-Soda brachte. Jedesmal, wenn ich das Glas austrank, schwanden meine Sinne. Das letztemal wachte ich in meinem Zimmer auf, und es war stockdunkel. Ich trug meinen Schlafanzug und hätte mich wahrscheinlich auch wieder zur Seite gedreht und weitergeschlafen, wenn ich nicht furchtbare Kopfschmerzen gehabt hätte. Ich klingelte, und als Gilder zu mit kam, erzählte er mir, daß ich ohnmächtig geworden wäre. Aber das ist geradezu lächerlich – ich bin noch niemals in meinem Leben ohnmächtig geworden.«

 

»Wie erklären Sie sich denn die Sache?«

 

»Ich weiß nicht recht, was ich dazu Sagen soll. Aber es ist zweimal passiert, nachdem ich ein Glas Whisky-Soda getrunken hatte. Und das eine Mal ist mir besonders gut in Erinnerung geblieben. Als ich am nächsten Morgen in die Halle kam, sah es recht unordentlich hier unten aus; die Möbel waren zertrümmert, als ob eine Schlägerei im Gang gewesen wäre.«

 

»Ich habe davon gehört«, erklärte Sergeant Totty.

 

»Amersham und die beiden Diener waren daran beteiligt. Ich glaube nicht, daß meine Mutter etwas davon gesehen hat. Das könnte ich mir auch nicht vorstellen.«

 

Gilder brachte auf einem Tablett die Gläser, die schon eingeschenkt waren. Zuerst reichte er dem Lord ein Glas, dann bediente er die drei Beamten.

 

»Können Sie denn nicht eine Whiskyflasche und einen Siphon bringen?« fragte Willie ärgerlich. »Man schenkt doch nicht schon draußen ein, Gilder.«

 

Der Mann schien sich nichts aus dem Vorwurf zu machen, er grinste nur liebenswürdig.

 

»Ich dachte, Sie wollten schnell trinken, Mylord. In Zukunft werde ich die Flasche und den Siphon hereinbringen.«

 

Gilder nahm das Tablett mit sich hinaus und schloß die Tür.

 

»Ich möchte nur wissen, ob Sie schon jemals einen solchen Haushalt gesehen haben«, sagte der Lord und nippte an seinem Glas.

 

Bevor der Chefinspektor antworten konnte, verzog er das Gesicht.

 

»Versuchen Sie einmal das!«

 

Tanner kostete vorsichtig und bemerkte einen bitteren, unangenehmen Geschmack.

 

»Ist Ihr Glas auch so?«

 

Der Chefinspektor nahm einen kleinen Schluck und fand das Getränk vollkommen normal.

 

»Merkwürdig, daß wir gerade darüber sprechen, was mir früher zugestoßen ist«, meinte der Lord.

 

Er sah sich im Zimmer um und entdeckte auf einem Tisch eine Vase mit Rosen. Er stand auf, goß den Inhalt seines Glases hinein und setzte dann das leere Gefäß neben sich nieder.

 

»Es schmeckt genau wie damals, als ich später bewußtlos wurde«, erklärte er.

 

Gilder stand auf der anderen Seite der Tür. Er konnte kaum hören, was drinnen gesprochen wurde, denn das Holz war dick. Er hoffte aber, daß Brooks gleichzeitig von der Treppe aus das Gespräch belauschte. Die Unterhaltung war bei einem Thema angelangt, von dem er eigentlich kein Wort überhören durfte.

 

Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Lady Lebanon kam näher.

 

»Worüber sprechen sie?« fragte sie leise.

 

Gilder trat von der Tür zurück.

 

»Ich weiß es nicht, Mylady.«

 

»Glauben Sie, daß wir diese Leute bald loswerden?« meinte sie ärgerlich.

 

»Ich fürchte, das ist nicht so einfach. Im Park sind vierzig Polizeibeamte von Scotland Yard verteilt, die vorhin in Transportautos angekommen sind. Ich habe Brooks nichts davon gesagt, damit er nicht zu nervös wird. Er redet sowieso davon, daß er den Dienst verlassen will. Die Detektive von Scotland Yard haben ihn ganz verängstigt.«

 

Sie sah ihn lächelnd an.

 

»Haben Sie auch Furcht vor ihnen?«

 

»Nein, mich kann man überhaupt nicht erschrecken. Ich bin nun einmal in der Sache drin, und ich halte auch bis zum Ende durch.«

 

»Sagen Sie Brooks, daß ich ihm tausend Pfund Belohnung gebe, wenn wir durchkommen, ohne entdeckt zu werden.«

 

Gilder schüttelte zweifelnd den Kopf.

 

»Meinen Sie, daß uns das gelingen wird? Brooks hat kalte Füße bekommen, und ich muß offen sagen, daß ich seinetwegen beunruhigt bin. Schicken Sie ihn lieber nach Amerika zurück. Wenn der erst die Nerven verliert, haben wir mehr Mühe als Hilfe durch ihn.«

 

Vorsichtig schlich er sich zur Tür zurück und lauschte, aber er konnte kein Geräusch hören, nicht einmal leises Stimmengemurmel. Er sah sich nach Lady Lebanon um, aber sie war inzwischen fortgegangen. Nun drückte er die Klinke nieder und trat kühn in den Raum. Wie er vermutet hatte, fand er niemand hier, aber er hörte Stimmen von der anderen Seite des Korridors. Der junge Lord zeigte seinen Besuchern gerade ein Ahnenbild.

 

Gilder betrachtete die Gläser. Das eine war vollkommen leer, daher schöpfte er Verdacht. Er nahm es auf und drehte es um, bis ein Tropfen des Inhalts auf seinem Fingernagel lag. Es war Lebanons Glas. Er sah es an dem roten Strich, mit dem es markiert war, und den keiner der anderen entdeckt hatte. Dann schaute er sich um, entdeckte auch die Vase mit den Rosen und roch daran.

 

Gilder ging zur Treppe und zeigte Brooks, der gerade herunterkam, das Glas.

 

»Heute abend hat er wieder nicht getrunken.«

 

Brooks atmete schwer.

 

»Wahrscheinlich hast du den Schlaftrunk zu stark gemacht. Ich habe schon längst gesagt, daß er es merken wird.«

 

»Mit der Zeit hat er sich doch aber schon daran gewöhnt«, entgegnete Gilder düster. »Hat er viel, dummes Zeug geredet?«

 

Brooks nickte. »Ja. Kelver muß über die Schlägerei neulich gesprochen haben. Tanner fragte danach. Übrigens weiß der Lord genau, daß wir ihn betäubt haben. Bist du dir auch darüber klar, was das bedeutet?«

 

»Natürlich«, entgegnete Gilder kühl.

 

»Hast du mit ihr gesprochen?« fragte Brooks ängstlich.

 

»Ja. Du brauchst dir nicht die geringsten Sorgen zu machen.«

 

Aber Brooks‘ Nerven waren schon zu überreizt.

 

»Du hast gut reden! Zum Teufel mit dieser ganzen Geschichte hier im Haus! All diese Polizisten sind im Park, und Tamier weiß, was hier gespielt wird. Wenn die Wahrheit herauskommt, sitzen wir in der Patsche – am Ende kriegen wir noch eine lange Zuchthausstrafe. Wo sind sie eigentlich geblieben?« fragte er dann und sah sich um.

 

»Sie gehen die Treppe hinauf, wahrscheinlich in das Zimmer von Lord Lebanon. Ich hörte, wie er von seinem Radioapparat sprach, und der steht doch in seinem Zimmer! Dort kommt jemand.«

 

Es war Totty. Er blieb einen Augenblick in der Tür stehen und betrachtete die beiden.

 

»Da sind ja wieder die zwei, genau wie Max und Moritz«, meinte er ironisch.

 

»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Gilder.

 

»Ja, sehr viel. Sie bleiben wahrscheinlich die ganze Nacht auf?«

 

Gilder lächelte. »Falls Sie das vorhaben, tun wir es auch.«

 

»Haben Sie sich auch schon einmal überlegt, daß es Ihnen an den Kragen gehen kann?«

 

Brooks schaute ängstlich zu seinem Kameraden hinüber, aber Gilder lächelte nur.

 

»Alle Menschen müssen das ihnen bestimmte Mißgeschick ertragen«, erwiderte er gelassen.

 

Kapitel 23

 

23

 

Totty konnte Gilder nicht recht verstehen; ständig entdeckte er neue Seiten an ihm. Allem Anschein nach machten die Polizeibeamten wenig Eindruck auf den Mann.

 

Totty interessierte sich nicht fürs Radio, aber er war auch nicht gern allein. Für diese Nacht waren die Regeln, die sonst in Marks Priory galten, teilweise aufgehoben, zum Beispiel blieb die Tür zwischen den Dienerräumen und dem Haupthaus unverschlossen. Wahrscheinlich wachte auch Mr. Kelver. Totty wollte einmal nachsehen. Aber als er an der Tür des Salons vorbeikam, rief Lady Lebanon seinen Namen.

 

»Wollen Sie nicht einen Augenblick näher treten, Sergeant? Ist Mr. Tanner schon zu Bett gegangen?«

 

»Nein, noch nicht, Mylady.«

 

Er fühlte sich geschmeichelt durch die Aufforderung.

 

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?«

 

Im allgemeinen konnte sie Zigarrenrauch durchaus nicht vertragen, und nicht einmal Willie durfte im Salon rauchen. Aber jetzt suchte sie selbst nach einem Aschenbecher und ließ Totty in dem bequemsten, weichsten Sessel Platz nehmen.

 

In ihrem Schoß lag ein kleiner Samtkasten.

 

»Das ist meine Kasse«, sagte sie lächelnd, als sie sah, daß er sie aufmerksam betrachtete. »Ich nehme sie jeden Abend in mein Zimmer mit.«

 

»Sehr vernünftig, Mylady. Man weiß niemals, ob nicht ein Dieb in der Nähe ist.«

 

»Sie sind doch Sergeant, Mr. Totty?«

 

»Ja, zur Zeit noch.«

 

»Und welchen Titel hat Mr. Tanner?«

 

»Der ist Chefinspektor, aber darin liegt eigentlich wenig Unterschied«, erklärte Totty von oben herab.

 

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie frage, ob Sie ein großes Gehalt beziehen. Wahrscheinlich haben Sie sehr wichtige Aufträge?«

 

Totty war natürlich gern bereit, über die Wichtigkeit seiner Dienstaufgaben zu sprechen.

 

Nach einiger Zeit unterbrach sie ihn.

 

»Ich möchte zu gern wissen, was in Scotland Yard vorgeht, und was die Polizei über diesen Fall denkt. Meiner Meinung nach ändert sich die Lage von Stunde zu Stunde. Neue Tatsachen werden bekannt –«

 

»Ja, es geht unaufhaltsam weiter«, erwiderte Totty.

 

»Wenn Sie eine neue Entdeckung machen, teilen Sie die doch sofort Mr. Tanner mit. Was sagt er denn?«

 

»Gewöhnlich höre ich in diesem Fall, daß er das schon vor einer Woche gewußt hätte. Sie müssen nämlich wissen, Mylady, daß es in Scotland Yard leider viel Eifersucht und Mißgunst unter den einzelnen Beamten gibt.«

 

»Ich glaube aber, daß er großes Vertrauen zu Ihnen hat. Jemand hat mir erzählt, Sie wären seine rechte Hand.«

 

Totty grinste.

 

»Er war sehr neugierig«, fuhr Lady Lebanon langsam fort, während sie Totty genau beobachtete. »Er bestand darauf, das Innere eines Zimmers zu sehen, das ich ihm nicht zeigen wollte. Sie besinnen sich vielleicht auf den kleinen Zwischenfall.

 

Nehmen wir nun einmal an, Sie gingen zu Ihrem Vorgesetzten und sagten ihm: ›Ich habe dieses Zimmer gesehen – es ist wirklich nichts anderes drin als ein paar alte, wertlose Gemälde.‹«

 

Ihre Worte machten auf Totty großen Eindruck, aber er wurde plötzlich kühl und nüchtern.

 

»Meinen Sie nicht, daß er sich damit zufriedengäbe? Er tut doch sonst alles, was Sie ihm sagen.«

 

Totty antwortete nicht.

 

»Wenn Sie ihm erklären, daß nichts von Bedeutung in dem Raum ist, würden Sie mir damit viele Sorgen und Unannehmlichkeiten ersparen.«

 

»Das verstehe ich sehr gut«, stimmte Totty bei.

 

Sie öffnete den kleinen Kasten, und er hörte das Knistern neuer Banknoten. Vier Geldscheine nahm sie heraus, und er konnte sehen, daß es Fünfzigpfundnoten waren.

 

»Man fühlt sich so hilflos«, fuhr sie fort, »wenn man weiß, daß man gegen gutausgebildete, tüchtige Beamte von Scotland Yard ankämpfen muß. Die Leute sehen in den harmlosesten Handlungen verdächtige Verbrechen.«

 

Sie schloß den Kasten und erhob sich. Die vier Scheine ließ sie auf den Stuhl fallen, auf dem sie gesessen hatte.

 

»Gute Nacht, Sergeant Totty.«

 

»Gute Nacht, Mylady.«

 

Sie hatte die Tür noch nicht erreicht, als er ihr mit den Banknoten in der Hand nacheilte.

 

»Ach, entschuldigen Sie«, sagte er. »Sie haben Ihr Geld liegenlassen.«

 

»Ich kann mich nicht darauf besinnen«, erwiderte sie mit besonderer Betonung und schaute auch nicht auf die Scheine.

 

»Sie wissen nicht, ob Sie es nicht noch einmal dringend brauchen.«

 

Erst jetzt nahm sie die Banknoten ruhig aus seiner Hand. Sie zeigte sich nicht im mindesten verwirrt oder betreten.

 

»Ich hoffte, Sie könnten es brauchen«, meinte sie. »Sehr schade.«

 

Er folgte ihr nach draußen in den Gang und sah ihr triumphierend nach, bis sie außer Sicht kam. Gleich darauf eilte er in das Arbeitszimmer Tanners zurück, den er allein antraf.

 

»Wirklich sehr schade«, begann er.

 

Der Chefinspektor schaute auf.

 

»Was heißt das?«

 

»Daß ich nicht zweihundert Pfund gebrauchen konnte, die mir Mylady eben angeboten hat.«

 

Tanner runzelte die Stirn.

 

»Wie meinen Sie denn das?«

 

»Sie will nicht haben, daß das Zimmer geöffnet wird. Das steckt dahinter.«

 

»Was, sie hat Ihnen Geld angeboten?«

 

»Ja, sie ließ es auf dem Stuhl liegen. Das bedeutet doch ungefähr dasselbe.«

 

»Das Zimmer soll nicht geöffnet werden? Gut, dann werden wir es morgen tun.«

 

»Ich kann Ihnen auch schon sagen, was wir dort finden werden«, erklärte Totty vertraulich. »Eine Menge Alkohol, den die amerikanischen Diener dort aufgestapelt haben.«

 

Der Chefinspektor betrachtete ihn kopfschüttelnd.

 

»Sie sind der schlechteste Detektiv, der mir jemals begegnet ist. Ich werde Ihnen sagen, warum hier amerikanische Diener angestellt sind: weil sie weder eine Familie noch Freunde in England haben. Deshalb besteht wenig Gefahr, daß sie etwas ausplaudern.«

 

»Dieses Schloß ist die Zentrale einer Verbrecherbande –«

 

»Hören Sie jetzt mit dem Unsinn auf: Sie laufen viel zu oft in die Kinos, das ist Ihr Ruin. Wozu braucht man eine Verbrecherbande zu gründen, wenn es auch anders geht? Der junge Lord Lebanon hat über dreihunderttausend Pfund Erbschaftssteuer bezahlt – rechnen Sie sich aus, wie groß sein Vermögen sein muß!«

 

Totty räusperte sich und änderte das Thema.

 

»Wo ist denn Ferraby?«

 

»Ich weiß nicht. Er treibt sich irgendwo im Haus herum.«

 

»Sagen Sie mal, wie steht es denn eigentlich mit den vierzig Beamten, die Sie von Scotland Yard haben kommen lassen? Haben Sie auch schon Vorkehrungen getroffen, daß die Leute richtig verpflegt werden?«

 

Tanner trat nahe an ihn heran und sprach sehr leise.

 

»Es sind überhaupt keine vierzig Beamte im Park. Aber halten Sie den Mund. Über solche Dinge spricht man nicht.«

 

Der Sergeant nickte.

 

»Warum haben Sie dann dieses Gerücht verbreitet?« fragte er ebenfalls im Flüsterton.

 

»Wenn ein Mord geschieht, soll es hier im Hause sein.«

 

Totty lief es kalt den Rücken hinunter.

 

»Wieviel Leute werden wohl ermordet werden?«

 

»Meiner Meinung nach sind Sie der erste.«

 

*

 

Isla warf sich in ihrem Bett unruhig von einer Seite auf die andere, zog die Decke über die Schultern und streifte sie dann wieder ab. Schließlich begann sie zu träumen, aber nur von Wünschen und Gedanken, die sie in wachem Zustand zurückdrängte. Die Dinge, die sie vergessen wollte, kamen jetzt zum Vorschein. Wie töricht war es doch von Lady Lebanon, das indische Tuch in der Schublade liegenzulassen! Dieser Tanner konnte doch den Schreibtisch durchsuchen, dann mußte er es finden!

 

Das Tuch mußte verbrannt werden! Isla merkte nicht, daß sie aufstand, und als sie ihre Tür aufschloß, fühlte sie den Schlüssel nicht in ihrer Hand. Das Tuch mußte verbrannt werden, das kleine, rote Seidentuch mit dem Metallstück in der Ecke.

 

Tanner hörte das Schnappen des Schlosses, als er Ferraby gerade Instruktionen erteilte, eilte an die Treppe und sah hinauf.

 

»Ruhe!« sagte er dann leise.

 

Sie rührten sich nicht, als die helle Gestalt langsam die Treppe herunterkam. Isla starrte geradeaus; die Hände hatte sie ausgestreckt, als ob sie sich an einer unsichtbaren Mauer entlangtastete.

 

»Es muß verbrannt werden«, sagte sie dauernd vor sich hin.

 

Totty wollte gerade etwas äußern, aber Tanner brachte ihn durch einen scharfen Blick zum Schweigen.

 

Endlich hatte sie die untersten Stufen der Treppe erreicht und ging mit unsicheren Schritten auf den Schreibtisch zu.

 

»Es muß verbrannt werden«, wiederholte sie in dem gleichmäßig monotonen Ton, den alle Schlafwandler haben. »Wir müssen das Tuch verbrennen.«

 

Sie faßte nach der Schublade. Das Fach war verschlossen, aber in ihrer Einbildung hatte sie es geöffnet.

 

»Das Tuch muß verbrannt werden – sie haben ihn damit umgebracht. Ich sah es in ihrer Hand, als sie ins Haus traten. Sie haben ihn damit ermordet, es muß verschwinden.«

 

Wieder ging sie zur Treppe. Ferraby machte einen Schritt auf sie zu, aber Tanner packte ihn bei der Hand und zog ihn zurück. Langsam stieg sie die Stufen hinauf. Der Chefinspektor folgte ihr und beobachtete, daß sie wieder in ihr Zimmer ging. Die Tür fiel leise zu, und das Schloß schnappte ein.

 

Tanner konnte sich denken, mit wem sie im Traum sprach.

 

Kapitel 24

 

24

 

Der Chefinspektor hörte, daß sich eine andere Tür öffnete. Lady Lebanon trat heraus, noch vollständig angekleidet.

 

»War das nicht eben Isla?«

 

Er nickte.

 

»Ist sie wieder im Schlaf umhergegangen? Das ist doch recht traurig. Wo haben Sie das junge Mädchen gesehen?«

 

»Sie kam in die Halle herunter.«

 

Lady Lebanon holte tief Atem.

 

»Sie ist ziemlich angegriffen. Ich schicke sie wohl am besten für einen Monat aufs Land.«

 

»Haben Sie die junge Dame schon einmal in diesem Zustand gesehen?«

 

»Schon zweimal. Das schlimmste ist, daß sie dann den größten Unsinn redet. Hat sie heute auch etwas gesagt?«

 

»Nichts, was ich hätte verstehen können.«

 

Sie schien beruhigt zu sein.

 

»Gute Nacht, Mr. Tanner. Ich werde später mit Isla sprechen. Es ist nicht gut, wenn man sie sofort aufweckt. Wenn man es aber unterläßt, besteht die Möglichkeit, daß sie aufs neue umherwandelt.«

 

Tanner kehrte nachdenklich in die Halle zurück. Auf die beiden Sergeanten hatte der Vorfall großen Eindruck gemacht.

 

»Fahren Sie zum Gasthaus«, wandte sich Tanner an Totty, »und sehen Sie nach, ob sich Mrs. Tilling so weit beruhigt hat, daß man mit ihr sprechen kann.«

 

Totty ging sofort.

 

»Was sagen Sie dazu, Ferraby? Allem Anschein nach weiß sie, wer den Mord begangen hat.«

 

»Ich fürchte, Sie haben recht. Es bleibt allerdings immer noch die Möglichkeit offen, das Miss Crane träumt. Auf jeden Fall weiß sie aber, daß das rote Seidentuch heute verbrannt worden ist, und vielleicht vermutet sie, daß es vorher in der Schublade lag. Man kann Leuten keinen Vorwurf aus dem machen, was sie im Schlaf sagen.«

 

»Ich will ja auch gar nichts gegen die junge Dame sagen. In dem Punkt können Sie ganz beruhigt sein.« Tanner nahm eine Zigarre aus dem Kasten, den Gilder auf dem Tisch hatte stehenlassen. »Wenn der böse Diener sie nicht vergiftet hat, müßte sie gut sein.«

 

»Was war denn in dem Whisky, den er Lord Lebanon brachte?«

 

»Er hatte ein Schlafmittel hineingemischt. Ich glaube sogar, daß ich es kenne.«

 

»Warum hat er das getan?«

 

»Lord Lebanon war davon überzeugt, daß sie für die Nacht etwas planen. Er hat mir zwar nicht gesagt, wer die ›sie‹ sein sollen, aber das können wir ja leicht ahnen. Allem Anschein nach geben sie ihm in solchen Fällen einen Schlaftrunk, damit sie nicht gestört werden. Ich wünschte nur, er hätte ihn genommen.«

 

Ferraby sah ihn groß an.

 

»Das verstehe ich nicht. Warum denn?«

 

»Wenn er heute abend aus dem Weg wäre, würde mir das viele Unannehmlichkeiten ersparen. Morgen früh schickt der Polizeipräsident von London drei Leute, die dieses Geheimnis viel besser aufklären können als ich. Ich habe ihn darum gebeten, und ich erwarte sie morgen früh um zehn.«

 

»Sind es Beamte von Scotland Yard?«

 

»Ich möchte es Ihnen heute abend nicht sagen – aber überlegen Sie mal, welche Leute ich wohl kommen lassen könnte, dann haben Sie für die Nacht etwas zu tun.«

 

Totty kam nach einer Weile zurück und meldete, daß Mrs. Tilling eingeschlafen wäre.

 

»Das ist ja ausgezeichnet«, erwiderte Tanner. »Haben Sie noch andere Nachrichten?«

 

»Ja. Man hat Tilling in Stirling festgenommen. Er stieg in Edinburgh aus dem Zug, aber die Polizei hat ihn doch gefaßt.«

 

»Der wäre also im Augenblick versorgt und aufgehoben. Wo sind denn eigentlich die beiden Amerikaner?«

 

»In ihrem Zimmer«, entgegnete Totty. »Ich habe gehört, wie sie miteinander sprachen.«

 

»Ich möchte nur wissen, was die jetzt noch zu reden haben«, meinte Tanner lächelnd. »Wenn sie wüßten … Ich glaube, dies ist die letzte Nacht, die sie in Marks Priory zubringen.«

 

»Wollen Sie die beiden verhaften?«

 

»Ich weiß es noch nicht, das kommt darauf an«, sagte Tanner und suchte nach einem Spiel Karten, denn er legte gern Patience.

 

*

 

Gilder und sein Kollege hatten wirklich viel miteinander zu besprechen. Brooks redete am meisten. Gilder hatte sich in einen Stuhl gesetzt. Ein Glas Whisky stand vor ihm, und im Mund hatte er eine halbaufgerauchte Zigarre.

 

»Nun sei aber endlich ruhig«, brummte er schließlich. »Du machst mich krank und bringst mich auch noch ganz aus dem Häuschen. Heute abend ist sie wieder im Schlaf umhergewandelt und hat eine Menge Zeug geredet, das gerade nicht sehr vorteilhaft für uns ist. Ich gehe noch diese Nacht in ihr Zimmer und hole sie.«

 

Brooks starrte ihn entsetzt an.

 

»Das willst du tun, während alle diese Detektive hier im Haus sind?«

 

»Ja, und wenn alle Beamten von Scotland Yard hier wären! Ich will kein Risiko mehr auf mich nehmen – jedenfalls darf das nicht mehr passieren.«

 

Brooks schüttelte vor Staunen und Bewunderung den Kopf.

 

»Hast du es Lady Lebanon gesagt?«

 

»Ach, laß mich doch mit der Frau zufrieden!« schimpfte Gilder. »Um die kümmere ich mich heute abend überhaupt nicht.«

 

Er stand auf und nahm aus einer Schublade der kleinen Kommode ein flaches Lederetui, das einen Satz von Instrumenten enthielt. Daraus wählte er eine lange Flachzange, versuchte sie an einem Stück Draht und war zufrieden. Dann ging er zur Tür, nahm den Schlüssel heraus und steckte ihn von außen hinein. Vorsichtig tastete er nun mit der Spitze der Zange in das Schlüsselloch, packte das Ende des Schlüssels und drehte die Zange herum. Die Tür war abgeschlossen. Als er das Werkzeug zurückdrehte, war sie wieder geöffnet.

 

Mr. Gilder überlegte alles genau. Es gab kein Schloß im ganzen Haus, das er nicht wenigstens einmal jede Woche ölte.

 

Er schob den Schlüssel wieder von innen in die Tür und steckte die Zange in die Tasche.

 

»Wohin willst du sie denn bringen?« fragte Brooks.

 

»In mein Zimmer«, erwiderte Gilder kurz.

 

»Wenn aber Tanner –«

 

»Ach, sei doch still. Du siehst auch immer gleich alles schwarz in schwarz. Es wäre vielleicht besser, wenn du nach Hause zurückfahren würdest.«

 

»Ich glaube, wir fühlten uns beide wohler, wenn wir wieder nach Amerika gingen«, entgegnete Brooks düster.

 

»Nun hör einmal zu, mein Junge.« Gilder legte seine große Hand auf das Knie seines Kameraden. »Du hast hier eine ziemlich leichte Stellung, und du wirst gut dafür bezahlt. Du hast doch geschwindelt, als du dem Inspektor sagtest, daß du kein Geld gespart hättest. Ich will ja nicht gerade behaupten, daß du genug hast, um von den Zinsen zu leben, aber du hast immerhin ein ganz schönes Kapital zusammenbringen können. Jetzt ist es aber Zeit, daß wir vorwärtsmachen. Ich gehe noch einmal vor und sehe nach, ob sie etwas brauchen. Vielleicht legen sie sich auch hin. Selbst ein Beamter von Scotland Yard muß manchmal schlafen.«

 

Er hatte einen kleinen Spalt ins Wandpaneel geschnitten, und von diesem Beobachtungsposten aus schaute er in das Zimmer, in dem sich die anderen aufhielten. Tanner legte eine Patience auf dem Tisch, und Totty war an der anderen Ecke ebenfalls mit einem Pack Karten beschäftigt. Ferraby befand sich nicht in dem Raum.

 

Gilder ging langsam den Gang zurück und stieg die Treppe hinauf. Als er sich im Korridor umwandte, sah er, daß Lady Lebanon gerade in Islas Zimmer trat, und zog sich zurück, so daß sie ihn nicht sehen konnte.

 

Es hatte lange gedauert, bis Isla schlaftrunken fragte, wer an der Tür wäre, und es dauerte noch länger, bis sie von innen aufschloß. Lady Lebanon ging hinein und sah, daß Isla auf dem Bett saß und den Kopf gesenkt hatte.

 

»Ist etwas geschehen?« fragte das junge Mädchen halblaut.

 

Lady Lebanon schüttelte sie leicht an der Schulter. Dann bemerkte sie das kleine Nachtlicht, das Isla immer brennen ließ.

 

»Wach auf, Isla. Schläfst du immer bei dieser Beleuchtung? Das ist aber nicht gut für dich. Eigentlich hast du es hier sehr schön«, meinte Lady Lebanon und schaute sich um. »Ich bin in den letzten fünf Jahren nur zweimal durch diese Tür gegangen.«

 

Isla schauderte.

 

»Ich hasse dieses Zimmer«, erwiderte sie heftig.

 

Ein kalter Blick traf sie.

 

»Das hast du früher nie gesagt. Und ein Zimmer ist so gut wie das andere. Vor Jahren gab es hier auch Geheimtüren, aber mein Mann hat sie alle zuschrauben lassen. Der Lebanon, der diesen Raum einst bauen ließ, war ein Sonderling und wollte niemand um sich sehen. Sie mußten ihm das Essen durch eine Öffnung in der Wand hineinreichen.« Sie tastete an dem Paneel. »Und hier ist mitten in der Wand ein Geheimgang. – Der Mann hieß übrigens Courcy Lebanon und heiratete eine Hamshaw. Ihre Mutter war mit den Monmouth verwandt.« Sie seufzte. »Der Zweig der Familie ist schon ausgestorben«, sagte sie leise, aber dann nahm sie sich zusammen und kehrte zur Gegenwart zurück. »Ich würde aber wirklich nicht bei Licht schlafen, das ist nicht gut für die Nerven.«

 

Islas Kopf sank wieder tiefer.

 

»Es tut mir leid, aber du mußt jetzt aufwachen!« Lady Lebanon rüttelte wieder behutsam an Islas Schulter. »Hörst du nicht? Du mußt aufwachen!«

 

»Ach, ich bin so furchtbar müde, ich bin immer halb am Schlafen!«

 

Trotzdem hörte sie aber, daß Lady Lebanon zur Tür ging und den Schlüssel umdrehte.

 

»Warum tun Sie das?«

 

»Es sind viele Fremde im Haus und im Park.« Lady Lebanon setzte sich auf die Kante des Bettes. »Heute abend bist du wieder im Schlaf umhergewandert. Das war recht unangenehm für uns; man konnte dein Benehmen direkt als Anklage gegen mich deuten.«

 

Isla starrte sie an:

 

»Habe ich das getan? Das tut mir leid. Es ist aber auch nicht passiert vor –« Sie brach ab.

 

»Was wolltest du sagen?«

 

»Vor dieser schrecklichen Nacht.« Islas Stimme zitterte. »Damals wurden alle Möbel zertrümmert, und Dr. Amersham … Ich dachte, er wäre umgebracht worden.« In Erinnerung an die grausige Szene bedeckte sie das Gesicht mit den Händen.

 

»Wenn du nicht nach unten gekommen wärst, hättest du auch nichts gesehen«, entgegnete Lady Lebanon hart.

 

Plötzlich beugte sie sich über das junge Mädchen.

 

»Isla, es könnte in dieser Nacht etwas geschehen«, sagte sie eindringlich und erregt. »Vielleicht müßte ich –« Sie beendete den Satz nicht. »Hoffentlich kann das Schlimmste verhütet werden, aber ich muß auf alles gefaßt sein. Ich will, daß du Willie heiratest – hörst du auch, was ich sage? Du sollst Willie heiraten.«

 

Sie sprach verzweifelt und faßte Islas Arm so hart, daß er schmerzte.

 

»Ich will, daß du dich morgen früh mit ihm trauen läßt.«

 

Isla sah sich müde nach ihr um.

 

»Das ist unmöglich. Ich kann mich nicht in so kurzer Zeit entschließen, ihn zu heiraten. Ich – ich habe es mir noch nicht ernstlich überlegt.«

 

»Doch, du kannst ihn morgen früh heiraten«, erwiderte Lady Lebanon hartnäckig. »Schon vor einer Woche habe ich eine Heiratslizenz ausstellen lassen …«

 

»Aber er will doch nicht …«

 

»Darauf kommt es nicht an, ob er will.« Lady Lebanons Stimme klang jetzt ungeduldig. »Er wird das tun, was ich ihm sage. Willie ist der Letzte der Lebanons – ist das auch vollkommen klar, was das bedeutet? Das letzte Glied in der Kette. Und es ist ein schwaches Glied.

 

Schon einmal ist das in der Geschichte der Familie vorgekommen, und Geoffrey Lebanon war noch schwächer als Willie. Er heiratete seine Kusine Jane Secampre. Du kannst ihr Bild drunten in der großen Halle hängen sehen. Aber sie verließ ihn sofort nach der Trauung.«

 

Isla hörte zu und war gespannt, was folgen würde.

 

»Und trotzdem hatte sie Kinder.«

 

»Das ist aber schrecklich – entsetzlich!«

 

»Unter den gegebenen Umständen kann ich das nicht finden. Und Jane war eine der bedeutendsten Frauen der Lebanons. Es ist dir doch klar, daß du selbst eine Lebanon bist? Dein Urgroßvater war der Bruder des achtzehnten Grafen von Lebanon. Und was auch immer passieren mag, deine Kinder bleiben in der Familie, wenn du verheiratet bist. Sie führen den Namen Lebanon.«

 

Nachdem die Frau das alles gesagt hatte, schien sie sich erleichtert zu fühlen, denn sie atmete freier, und ihre Stimme klang nicht mehr so schrill.

 

»Wenn dir ein Leben an Willies Seite unmöglich erscheint, werde ich dir das größte Verständnis dafür entgegenbringen.«

 

Sie stand auf.

 

»Morgen um elf Uhr steht das Auto bereit.«

 

Nur mit Mühe konnte sich Isla zusammennehmen.

 

»Nein, ich kann es nicht tun. Es ist einfach unmöglich. Ich liebe Willie nicht. Ich – ich liebe einen anderen.«

 

Lady Lebanon warf ihr einen schnellen Blick zu.

 

»Ach, ist es der junge Ferraby? Das ahnte ich schon. Aber ich habe dir ja gesagt, daß ich in der Beziehung alles verstehen und verzeihen werde. Begreifst du denn nicht, was du dadurch tust? Du führst dem alten, kranken Stamm der Lebanons frisches Blut zu …«

 

An der Tür gab es ein Geräusch, und Lady Lebanon drehte sich schnell um.

 

»Was war das?« flüsterte Isla furchtsam.

 

»Das ist Gilder. Ein weiterer Grund, warum du bald heiraten mußt. Ich habe diese Leute nicht mehr ganz in der Hand. Nach den Vorfällen von heute abend fragt es sich, ob ich noch genügend Autorität bei ihnen besitze.« Lady Lebanon trat dicht an Isla heran. »Gilder darf nicht erfahren, daß du heiratest«, sagte sie ganz leise. »Verstehst du, was ich sage? Er darf es unter keinen Umständen wissen.«

 

Es klopfte. Schnell ging sie zur Tür und schloß sie auf. Draußen stand Gilder; Isla hörte seine tiefe Stimme. Dann wurde die Tür wieder geschlossen.

 

Der Schlaf übermannte Isla aufs neue, aber plötzlich schreckte sie auf und sah, daß Lady Lebanon die Tür offengelassen hatte. Mit größter Mühe schleppte sie sich hin und schloß sie. Dann kehrte sie zum Bett zurück, sank erschöpft darauf nieder und zog die Decke über sich.

 

Sie schlief, dennoch aber war ihr Geist wach, und ihre Gedanken arbeiteten.

 

Etwa eine Viertelstunde später versuchte jemand, von draußen die Tür zu öffnen. Sie gab nach, und Gilder trat ins Zimmer.

 

»Die Tür war überhaupt nicht zugeschlossen«, sagte er.

 

Brooks zitterte vor Furcht.

 

»Wo ist Mylady?«

 

»Ach, darauf kommt es jetzt nicht an. Gib mir die Decke.«

 

Gilder schlich auf Zehenspitzen zum Bett, faßte Isla an der Schulter und schüttelte sie leicht.

 

»Kommen Sie, Miss, kommen Sie mit mir.«

 

Sie rührte sich nicht, nur ihre Augenlider hoben und senkten sich mehrmals hintereinander.

 

»Sie ist nicht ganz bei sich«, sagte Gilder. »Brooks, lausche draußen auf dem Gang, ob jemand kommt.«

 

»Ach, laß sie doch liegen«, drängte Brooks.

 

»Das kann ich nicht. Tu, was ich dir sage.«

 

Inzwischen hatte sich Isla aufgerichtet und saß nun auf der Kante des Bettes. Ihre Augen waren weit geöffnet, und sie sprach leise mit sich selbst.

 

»Gleich steht sie auf.« Gilder hielt den Atem an. »Gib mir schnell die Decke.«

 

Er nahm sie und legte sie behutsam um Islas Schultern.

 

»Nein, ich kann nicht«, sagte Isla. »Ich muß Zeit haben, ich will noch nicht heiraten.«

 

Gilder warf Brooks einen bedeutsamen Blick zu.

 

»Zum Teufel, hast du das eben gehört?«

 

»Ich kann morgen nicht heiraten – ich will es auch nicht.«

 

Sie war aufgestanden, und Gilder leitete sie langsam zur Tür. Er wußte mit solchen Zuständen Bescheid. Sie mußte selbst nach dem Handgriff tasten, ihn finden und die Tür ohne seine Hilfe öffnen. Er war sehr vorsichtig und hütete sich, sie aufzuwecken. Nur ihre Schultern konnte er in die Richtung drehen, in der sie gehen sollte, aber das genügte ja auch.

 

Hinter der zweiten Treppe wurde der Gang enger, und dicht dahinter lagen die beiden Zimmer, in denen die zwei Amerikaner schliefen. Gilder öffnete die Tür zu seinem Raum, schlug die Bettdecken zurück und drückte Isla vorsichtig auf das Lager nieder. Mit einem Seufzer drehte sie sich auf die Seite, und Gilder breitete eine Daunendecke über sie.

 

»Jetzt wird sie wahrscheinlich schlafen. Auf jeden Fall schließe ich aber die Tür ab. Geh in ihr Zimmer zurück und hole ihren Morgenrock und ihre Pantoffeln. Aber schnell!«

 

Brooks wollte gehen, blieb aber stehen und faßte nach der Hüfttasche.

 

»Ich habe meine Waffe verloren – hast du sie nicht gesehen?«

 

Gilder schaute ihn düster an.

 

»Wozu trägst du eine Pistole bei dir? Das ist doch der größte Unsinn! Wo hast du sie denn gelassen?«

 

»Noch vor einer Stunde hatte ich sie in der Tasche.«

 

»Das ist allerdings unangenehm. Geh in dein Zimmer und sieh nach, ob du sie finden kannst. Wozu brauchst ausgerechnet du eine Schußwaffe? Man sollte annehmen, daß du schon ganz kindisch geworden bist.«

 

Brooks kam bald zurück und berichtete, daß er sie nicht entdeckt hätte.

 

»Dann vergiß das Ding«, erwiderte Gilder ungeduldig. »Morgen bei Tageslicht wirst du schon darauf kommen, wo du es gelassen hast. Bring jetzt schnell den Morgenrock und die Pantoffeln.«

 

Die Tür zu dem Zimmer des alten Lords stand offen, obwohl Brooks darauf hätte schwören mögen, daß er sie kurz vorher geschlossen hatte. Er wußte auch genau, daß er das Licht hatte brennen lassen – und jetzt lag der Raum im Dunkeln. Lady Lebanon mußte inzwischen hiergewesen sein. Er ging hinein, schloß die Tür und hob gerade die Hand, um nach dem Lichtschalter zu tasten, als sich plötzlich etwas um seinen Hals legte – ein weiches, elastisches Tuch. Blitzschnell brachte er die Hand zwischen das Tuch und seine Kehle und versuchte, sich zu befreien. Aber ein Mann packte ihn mit festem Griff von hinten. Brooks zog die Hände vom Hals zurück und tastete hinter sich, konnte aber niemand fassen. Kurz darauf stürzte er zu Boden und verlor die Besinnung.

 

Kapitel 18

 

18

 

Etwa um halb zwei – die genaue Zeit konnte sie nicht angeben hörte sie, daß ihr Mann nach Hause kam. Sie war wach und lag nicht im Bett, wie sie zuerst gesagt hatte. Tanner vermutete, daß sie jemand erwartet hatte, denn sie gab zu, daß sie im dunklen Wohnzimmer saß. Die Vorhänge waren zurückgezogen; sie konnte von drinnen sehen, wie Tilling ankam, und ging ihm langsam entgegen.

 

Er sagte ihr nicht, was geschehen war, und erzählte nur, daß es eine kleine Schlägerei gegeben hätte. Sie fragte, ob er mit Dr. Amersham aneinandergeraten wäre, aber darauf ging er nicht ein und erklärte nur, daß er Dr. Amersham nicht getroffen hätte. Sein Rock war zerrissen, der Samtkragen hing herunter, und seine beiden Hände bluteten. Sie bestrich die Wunden mit Jod und verband sie mit einem seidenen Taschentuch. Dann zog er sich um. Als er um halb vier sein Rad nahm und davonfuhr, trug er einen gesprenkelten Anzug. Sie holte die Kleider, die er abgelegt hatte, aus dem Nebenraum. Tanner fand Blutspuren an dem Rock, die aber von den Verwundungen herrührten. Zwei Knöpfe waren abgerissen, ein dritter hing lose am Stoff.

 

»Hatte er auch Wunden im Gesicht?«

 

»Ja«, gab sie schließlich zu. »Aber es waren keine offenen Wunden. Jemand mußte ihn geschlagen haben. Er war sehr aufgeregt, gab mir aber keine weiteren Erklärungen und sagte nur, daß er Wilddiebe getroffen und auch sein Gewehr verloren hätte.«

 

Bill Tanner verglich ihren Bericht mit den Tatsachen, die ihm bekannt waren, und plötzlich kam ihm ein Gedanke.

 

»Hat er Ihnen Geld gegeben, bevor er fortging?«

 

Sie wollte zuerst nicht antworten, aber endlich zeigte sie ihm vier neue Fünfpfundnoten.

 

»Ich werde mir die Nummern der Scheine notieren.«

 

Als er das tat, sah er, daß die Nummern aufeinander folgten.

 

»Hatte er noch mehr Geld?«

 

»Ja, er hatte einen ganzen Stoß Banknoten, von denen er diese vier nahm. In vier bis fünf Wochen wollte er wiederkommen. Ich schwöre, daß er Amersham nicht ermordet hat. Er ist wohl manchmal in schlechter Stimmung, aber er bringt keinen Menschen um. Auch Studd hat er nichts getan. Ich habe ihn noch gefragt, bevor er fortging. Er regte sich furchtbar auf und schwor mir, er habe Studd in der Mordnacht gar nicht gesehen.«

 

»Wie viele Tabakspfeifen hat er?«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Nur eine. Er benützt die Pfeifen immer so lange, bis sie vollkommen ausgebrannt sind, dann kauft er eine neue. Darin ist er sehr wählerisch und nimmt nur die besten.«

 

»Um halb vier ist er also gegangen – stimmt das?«

 

Sie meinte, es könnte auch etwas später gewesen sein.

 

Als Tanner das Haus verließ, gab er Totty seine Notiz über die Nummern der Geldscheine.

 

»Gehen Sie sofort zu der Bankfiliale im Ort und fragen Sie dort nach, ob sie in Marks Thornton ausgezahlt wurden. Nehmen Sie ein Polizeiauto und kommen Sie bald wieder, denn ich brauche Sie. Und telefonieren Sie mit Scotland Yard. Die Polizei soll sich mit der Presse in Verbindung setzen. In sämtlichen Zeitungen soll eine Rundfrage an alle Tabakhändler ergehen. Wer von ihnen heute morgen zwischen acht Uhr dreißig und zehn Uhr eine Pfeife Marke Ursus verkauft hat, möchte sich melden.«

 

»Glauben Sie, daß Tilling eine solche Pfeife gekauft hat?«

 

Tanner nickte.

 

»Ein Mann, der seine Lieblingspfeife verliert, kauft sich unweigerlich wieder dieselbe Sorte. Prüfen Sie alle Antworten, die eintreffen, und sagen Sie auch noch, daß der Tabakhändler eine Beschreibung des Käufers geben soll.«

 

Tanner wußte jetzt, warum Lady Lebanon die Züge aufgeschrieben hatte. Er eilte zum Haupthaus zurück und überholte dabei Ferraby und Isla, die sich inzwischen beruhigt hatte. Ferraby schien sie sehr freundlich und liebenswürdig zu behandeln.

 

»Sie sagt, daß sie nichts weiß«, erklärte der Sergeant, als Tanner ihn beiseite nahm. »Ich bin aber davon überzeugt, daß das nicht stimmt.« Er war bekümmert, denn er sorgte sich um Miss Crane. –

 

Als Lady Lebanon in die Halle trat, saß Isla auf der Couch und hatte den Kopf in die Hände gestützt.

 

»Isla!«

 

Das junge Mädchen sprang auf.

 

»Wollen Sie etwas von mir, Lady Lebanon?«

 

Hinter ihr lachte jemand, und als sie sich umdrehte, sah sie den jungen Lord auf der Treppe stehen.

 

»Das ist doch alles Unsinn! Warum nennst du meine Mutter immer Lady Lebanon? Warum seid ihr überhaupt alle so steif? Könnt ihr denn nicht freundlicher miteinander verkehren?«

 

Als ihn ein Blick seiner Mutter traf, verstummte er.

 

»Wo warst du, Willie?«

 

»Ich habe die Polizeibeamten bei der Arbeit beobachtet«, entgegnete er gleichgültig. »Niemand scheint sich um mich zu kümmern, und dabei würde ich doch einen guten Detektiv abgeben. Sie jagen alle so eifrig hinter Schatten her –«

 

»Du brauchst die Leute nicht bei der Arbeit zu stören«, erwiderte Lady Lebanon scharf.

 

Er drehte sich halb um, änderte dann aber seine Absicht und kam zurück.

 

»Wegen Amersham bin ich eigentlich nicht traurig«, erklärte er rundweg. »Ich sage es dir geradeheraus, obwohl ich weiß, daß du wieder etwas daran auszusetzen hast. Er war ein Mann, der eigentlich nicht hierhergehörte, und ich bin froh, daß ich ihn nicht mehr sehen muß.«

 

»Willie, du kannst jetzt gehen«, sagte Lady Lebanon eisig.

 

Aber er blieb doch.

 

»Die Beamten haben mich gefragt, ob ich etwas gehört hätte. Ich sagte ja. Natürlich habe ich nichts gehört, aber ich dachte, vielleicht interessieren sie sich dann für mich. Dieser Totty hat mit ein paar Fragen alles aus mir herausgeholt.«

 

»Willie, du bist unausstehlich. Ich würde mich freuen, wenn du jetzt gingst. Ich will mit Isla allein sprechen.«

 

Gegen diese direkte Aufforderung konnte er nichts machen. Er schlich sich also aus dem Zimmer. Aber man sah ihm an, daß er sich langweilte und unzufrieden war.

 

Lady Lebanon trat in den großen Bogen, in den der Korridor mündete, und horchte einen Augenblick am Fuß der Treppe.

 

»Was ist denn mit dir?« fragte sie Isla schnell. »Sage es mir doch, bevor dieser Beamte von Scotland Yard zurückkommt.«

 

Isla sah sie unsicher an.

 

»Ach, es ist nichts – was sollte denn mit mir sein?«

 

Sie erhob sich von der Couch und ging zu dem Schreibtisch, an den sich Lady Lebanon gesetzt hatte.

 

»Ich habe nur heute morgen eine Schublade in diesem Schreibtisch geöffnet und ein rotes Tuch mit einer kleinen Metallplatte darin gesehen.«

 

Lady Lebanons Züge wurden hart.

 

»Das Tuch dürfte doch nicht in der Schublade sein! Es war gedankenlos, daß Sie es dort aufbewahrten.«

 

»Warum hast du überhaupt die Schublade aufgezogen?«

 

»Ich wollte das Scheckbuch herausnehmen«, entgegnete Isla ungeduldig. »Aber warum liegt das Seidentuch in dem Schreibtisch?«

 

Lady Lebanon verzog den Mund.

 

»Liebes Kind, du träumst. In welcher Schublade soll es denn sein?«

 

Als Isla auf ein Fach zeigte, holte Lady Lebanon den Schlüssel heraus und schloß auf.

 

»Hier ist nichts, Isla. Du mußt dich nicht derartig unterkriegen lassen. Es steht wirklich schlimm mit deinen Nerven.«

 

»Wie können Sie nur so leichtfertig sprechen! Ein Mann ist ermordet worden«, sagte Isla mit zitternder Stimme. »Ich haßte ihn, er war immer so gemein zu mir –«

 

Lady Lebanon erhob sich.

 

»Was soll das heißen? Hat er versucht, sich dir zu nähern?«

 

Isla machte eine verzweifelte Handbewegung, ging zur Couch zurück und setzte sich wieder.

 

»Ich kann nicht länger im Schloß bleiben …«

 

Lady Lebanon lächelte.

 

»Du bist nun schon so lange hier.«

 

Sie suchte nach einem Brief auf dem Schreibtisch.

 

»Ich habe deiner Mutter am Montag die vierteljährliche Rente geschickt, und sie hat mir heute morgen mit einem entzückenden Brief geantwortet. Die beiden Mädchen sind so glücklich in der Schule. Sie schreibt, es sei wunderbar, keine Sorgen mehr zu haben.«

 

Dieser Wink war deutlich genug. Isla hatte Lady Lebanon früher bemitleidet, aber jetzt haßte sie diese Frau. Es war gemein, sie daran zu erinnern. Außerdem lag eine Drohung in den Worten. Die Unterstützung für ihre Mutter und ihre Schwestern würde sofort aufhören, wenn Isla nicht mehr tat, was Lady Lebanon von ihr verlangte.

 

»Sie wissen genau, daß ich keinen Tag länger bliebe, wenn es nicht wegen meiner Mutter und meiner Schwestern wäre«, sagte Isla atemlos. »Sie ahnt ja nicht, wie schwer es mir fällt – sonst würde sie lieber hungern.«

 

Lady Lebanon lauschte, denn sie hörte Tanners Stimme.

 

»Um Himmels willen, keine Tränen! Ich will doch nur dein Bestes.« Lady Lebanon sprach jedes Wort langsam und mit besonderer Betonung. »Wenn du erst einmal Lady Lebanon bist, wirst du sehen, daß ich sehr großzügig sein kann, was dein Eheleben anbetrifft. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

 

Isla sah sie verwundert an. Nicht zum erstenmal hörte sie solche Andeutungen. Was meinte die Frau nur damit?

 

»Ich sah dich draußen mit dem jungen Polizeibeamten. Hoffentlich warst du bei ihm etwas gefaßter als hier.«

 

»Er ist sehr zuvorkommend und liebenswürdig«, entgegnete Isla müde. »Wirklich viel besser, als ich –«

 

»Viel besser, als du es verdienst. Isla, sei doch vernünftig. Ich bin sicher, daß er sich sehr gut benehmen kann. Sein Auftreten ist einwandfrei, er muß eine gute Schule besucht haben.«

 

Isla nannte die Schule, und Lady Lebanon war überrascht.

 

»Wirklich, dort ist er gewesen? Es ist zwar nicht gerade Eton, aber doch auch sehr gut. Wie ist es nur möglich, daß er bei der Polizei dient? – Wie heißt er eigentlich?«

 

Isla war nicht in der Stimmung, mit Lady Lebanon über den jungen Detektiv zu sprechen, aber er beschäftigte sie doch mehr, als sie zugeben wollte.

 

»John Ferraby«, erwiderte sie.

 

Lady Lebanons Interesse wurde noch größer.

 

»Ferraby – ist er einer der Ferrabys in Somerset? Dann gehört er ja zur Familie von Lord Lesserfield, der die Leoparden im Wappen führt.«

 

»Ja, ich glaube. In Somerset ist er zu Hause.«

 

Lady Lebanon betrachtete Isla mit einem merkwürdigen Lächeln.

 

»Es liegt kein Grund vor, warum du nicht mit ihm bekannt sein solltest, nur darfst du nicht mit ihm, über Amersham sprechen. Hat er dir übrigens schon eine Liebeserklärung gemacht?«

 

Isla wandte sich ungeduldig um.

 

»Amersham ist doch tot!«

 

»Wenn dich der junge Ferraby fragen sollte –«

 

»Er hat mich überhaupt nicht mit Fragen belästigt. Wir sprachen nur über gemeinsame Bekannte. Mr. Tanner wird mich eher ausfragen. Was soll ich dem sagen?«

 

»Nur das, was unbedingt nötig ist.«

 

In diesem Augenblick kam Ferraby herein.

 

»Ach, verzeihen Sie, Mr. Tanner wollte Sie sprechen. Ich werde ihm sagen, daß Sie hier sind.«

 

»Bleiben Sie hier, Mr. Ferraby«, entgegnete Lady Lebanon. »Ich werde Mr. Tanner rufen.«

 

Sie schob die Briefe zusammen und schloß sie in eine Schublade.

 

»Meine Nichte erzählte mir eben, daß Sie mit den Lesserfields verwandt sind.«

 

Ferraby wurde etwas verlegen.

 

»Ja – in gewisser Weise, aber doch nur sehr entfernt. Darum kümmert man sich heute nicht mehr.«

 

»Sie sollten sich aber doch darum kümmern«, erklärte Lady Lebanon energisch. »Es ist etwas Großes, Mitglied einer alten Familie zu sein. Wo ist Mr. Tanner?«

 

»Ich habe ihn eben in Mr. Kelvers Zimmer gesehen. Er telefonierte dort nach London.«

 

Sie lächelte ihm freundlich zu.

 

»Ich werde ihn holen, selbst wenn er sich im Zimmer meines Butlers aufhält.«

 

»Lieber Himmel«, sagte er halb zu sich selbst, als sie gegangen war, »die Frau gehört mit ihren Ansichten ja noch ins Mittelalter!«

 

»Aber sie lebt in der Jetztzeit«, antwortete Isla bitter.

 

»Wie merkwürdig!« Ferraby schüttelte den Kopf. »Daß ich zur Familie des Lords Lesserfield gehöre, hat großen Eindruck auf sie gemacht. Natürlich kenne ich ihn, er ist ein unintelligenter Mensch und hat Geld noch nötiger als ich.«

 

Es trat eine Pause ein. Isla schaute auf und bemerkte, daß er sie betrachtete.

 

»Darf ich Sie etwas fragen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Warum sind Sie so nervös?«

 

Isla versuchte, ihm auszuweichen.

 

»Ich habe Lady Lebanon eben gesagt, daß Sie mich nicht ausfragen.«

 

»Und nun habe ich es doch getan. Aber es geschieht nur um Ihretwillen. Warum sind Sie so unruhig?«

 

»Bin ich das wirklich?« fragte sie unschuldig.

 

»Ja, dauernd sehen Sie sich um, als ob Sie sich vor jemand fürchteten oder als ob jemand aus einer Geheimtür treten könnte. Ich bin davon überzeugt, daß es in einem so alten Haus geheime Türen und Gänge gibt – aber wovor haben Sie eigentlich Angst?«

 

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Vor der Polizei!«

 

»Das glaube ich nicht.«

 

»Sie müssen doch wissen, was vorige Nacht passierte – davor fürchte ich mich!«

 

Er war mit ihrer Antwort noch nicht zufrieden.

 

»Sie sind aber schon lange Zeit in dieser Gemütsverfassung.«

 

»Woher wissen Sie das?« fragte sie schnell.

 

Er vergaß plötzlich, daß er Polizeibeamter war.

 

»Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen helfen …!«

 

Sie sah zu ihm auf, und es lag Argwohn in ihrem Blick.

 

»Sie wollen, daß ich mich Ihnen anvertraue – wünschen Sie das in Ihrer Eigenschaft als Beamter?«

 

Er hätte mit Ja antworten müssen, denn es war seine Pflicht, alle ihre Geheimnisse zu erforschen, aber er konnte es nicht übers Herz bringen.

 

»Ich habe mir eigentlich unter einem Polizeibeamten etwas anderes vorgestellt«, sagte sie unerwartet.

 

»Das kann eine große Beleidigung, aber auch ein Kompliment sein. Sie haben doch keine Angst vor mir? Das ist unmöglich!«

 

»Warum?«

 

Auf diese Frage wußte er keine Antwort.

 

»Sie irren sich, ich fürchte mich vor nichts.« Sie sah sich schnell nach der Treppe um. »Dort drüben ist jemand«, fuhr sie leise fort. »Man belauscht uns.«

 

Er eilte sofort hin und schaute hinauf, konnte aber niemand sehen. Als er zurückkam, war er sehr nachdenklich geworden.

 

»Sind denn alle Leute hier im Schloß so ängstlich und fürchten immer, daß sie belauscht werden? Als Lord Lebanon heute morgen nach Scotland Yard kam, hatte er dieselbe Sorge. Es muß doch etwas in diesem Haus vorgehen, unter dem Sie alle leiden. Was ist das nur? Worin besteht das Geheimnis von Marks Priory?«

 

Sie lächelte gezwungen.

 

»Das klingt fast wie der Titel eines Sensationsromans, in dem Mr. Tanner die Hauptrolle spielt. Ist er eigentlich sehr klug?«

 

»Ja, er ist der bedeutendste Mann in Scotland Yard. Er hat eine Begabung dafür, die Wahrheit herauszubringen.«

 

»Wen hat er denn jetzt im Verdacht?«

 

Ferraby mußte lachen.

 

»Solange der Fall nicht geklärt ist, sind alle möglichen Leute verdächtig.«

 

Zu seinem Erstaunen trat sie plötzlich dicht zu ihm und faßte ängstlich an den Aufschlag seines Rocks. Sie war aufgeregt; er fühlte, daß sie zitterte.

 

»Ich möchte Sie etwas fragen – nehmen wir einmal an, jemand wüßte, wer die schrecklichen Morde begangen hat … Wenn er es nun nicht der Polizei sagte, wenn er es für sich behielte … wäre das ein Vergehen?«

 

»Ja, nach englischem Gesetz kann der Betreffende wegen Mittäterschaft angeklagt werden.«

 

Es tat ihm leid, daß er das gesagt hatte, als er sah, welchen Eindruck seine Worte auf sie machten.

 

»Wer etwas über ein Verbrechen weiß, muß es bekanntgeben. Vielleicht fällt es Ihnen leichter, wenn Sie es mir mitteilen?«

 

Aber im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder gefaßt.

 

»Ich weiß nicht, wie ich darauf kam. Warum sollte ich etwas über die Morde wissen? Sie meinen, weil ich so nervös bin? Sie sind natürlich an dergleichen gewöhnt, Ihnen fällt es nicht auf die Nerven, weil Sie nur mit solchen Dingen zu tun haben.«

 

»Aber dieser Fall hat eine sehr große Bedeutung für mich«, entgegnete er ruhig.

 

»Sie behandeln diese Angelegenheit doch sicher rein geschäftsmäßig. Für Sie ist das eben Fall Nr. 6 oder 7.«

 

Sie machte den Versuch, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen, aber er ließ sich nicht ablenken.

 

»Nein, für mich ist dies der Fall der verängstigten Frau.«

 

»Meinen Sie mich damit?« fragte sie und hielt den Atem an.

 

»Ja, ich meine Sie.«

 

Plötzlich hob er den Kopf und zog die Luft ein, dann betrachtete er den Boden unter dem Schreibtisch und dem Sofa.

 

»Hier ist etwas verbrannt – können Sie es nicht riechen? Vielleicht hat jemand eine Zigarette auf den Teppich fallen lassen.«

 

»Hoffentlich nicht. Wenn Lady Lebanon das erfährt, gibt es Unannehmlichkeiten«, erwiderte Isla.

 

Dann fiel ihr Blick auf den Ofen. Sie ging hinüber und hob den Deckel auf. Lady Lebanon hatte nicht, wie sie glaubte, die Lüftungsklappe geöffnet, sondern das Feuer abgedrosselt. Infolgedessen waren die Kohlen nicht durchgebrannt, und es roch im Zimmer nach Kohlengas.

 

»Jemand hat hier Stoff verbrannt«, sagte Ferraby und schaute in die Öffnung des Ofens. »Ja, das war ein Stück Stoff, ich kann es noch deutlich erkennen.«

 

Sie schloß den Ofen und ging zur Treppe, während sie die Lippen aufeinanderpreßte.

 

Totty kam gerade in die Halle, und auch ihm fiel der Geruch auf.

 

»Kommen Sie her und sehen Sie sich das an«, sagte Ferraby.

 

Totty trat an den Ofen. »Sieht wie ein Stück Stoff aus, das verbrannt ist.«

 

Als Ferraby mit dem Schüreisen hineinfahren wollte, hielt Totty ihn zurück.

 

»Lassen Sie das«, sagte er aufgeregt. »Sehen Sie nicht das Stück Metall, das in der Ecke eingenäht war? Es ist eine kleine Zinnplatte. Jetzt ist sie geschmolzen, aber Sie können das Metall noch auf der Kohle erkennen. Wo ist Chefinspektor Tanner?«

 

Er sah zu Isla hinüber. Sie wußte nur zu gut, was dieser Brandgeruch bedeutete. Im Ofen war also das rote Tuch verschwunden, das sie am Morgen noch in der Schublade gesehen hatte. Lady Lebanon mußte es bis zum letzten Augenblick vergessen haben; erst als die Polizei schon im Haus war, hatte sie daran gedacht, das verdächtige Tuch zu entfernen.

 

»Mr. Tanner ist im Zimmer Mr. Kelvers«, sagte sie endlich, drehte sich um und eilte die Treppe hinauf.

 

Kapitel 19

 

19

 

Tanner kam und schaute in den Ofen. Die Hitze hatte das Tuch versengt, aber man konnte noch gut die Stelle sehen, wo es gelegen hatte. Die Umrisse waren deutlich sichtbar, ebenso das geschmolzene Zinn. Es mußte ein Tuch gewesen sein wie das, mit dem Studd erwürgt worden war.

 

Lady Lebanon war dem Chefinspektor langsam gefolgt und fand ihn allein in der Halle, als sie eintrat.

 

»Hat etwas im Ofen gebrannt?« fragte sie leichthin. »Wahrscheinlich ist es Seide. Ich habe gestern abend noch ein Puppenkleid genäht für den Bazar unten im Dorf. Heute morgen habe ich die Reste auf meinem Tisch gefunden und ins Feuer geworfen.«

 

»Nein, das kann es nicht sein«, entgegnete er ruhig. »Es war ein Stück Stoff, ein indisches Tuch von roter Farbe. In der Ecke war ein kleines Metallschild eingenäht. Haben Sie so etwas noch nicht gesehen? Dr. Amersham hatte eins dieser Tücher in seinem Besitz.«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Ich verstehe Sie nicht.«

 

»Ich fand ein solches Tuch im Schreibtisch von Dr. Amersham, als ich gestern abend seine Wohnung durchsuchte.«

 

Er ging zur Tür. Ferraby und Totty standen in der Nähe; er rief sie zu sich und gab ihnen Instruktionen.

 

»Es darf niemand in dieses Zimmer kommen, während ich mit Lady Lebanon spreche.«

 

»Bedeutet das, daß ich hier gefangen bin?« fragte sie.

 

»Nein, ich möchte nur nicht gestört werden.«

 

Sie setzte sich.

 

»Wollen Sie mich etwa verhören? Ich fürchte, ich kann Ihnen nur wenig Auskunft geben.«

 

»Im Gegenteil, ich hoffe, Sie werden mir sehr viel sagen. Ich möchte nicht nur Fragen an Sie richten, sondern Ihnen auch ein paar Tatsachen mitteilen, deren Kenntnis Sie vielleicht nicht bei mir voraussetzen.«

 

»Nun, das ist wenigstens eine Zerstreuung an diesem entsetzlichen Tag.«

 

Er mußte sie bewundern. Selten war ihm ein Mensch begegnet, der sich so gut beherrschen konnte wie diese Frau.

 

»Oben im Haus gibt es ein Zimmer, Lady Lebanon, zu dem Brooks keinen Schlüssel hat. Er behauptete, es wäre ein Abstellraum.«

 

»Dann wird es auch so sein«, entgegnete sie leichthin.

 

»Das ist nicht gut möglich. Im ersten Stock, mitten unter den besten Zimmern, liegt doch keine Rumpelkammer!«

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Wir nennen es Abstellraum, obwohl ich dort ein paar wertvolle Gegenstände aufbewahre.«

 

»Haben Sie den Schlüssel dazu?«

 

»Ich öffne das Zimmer nie.«

 

Ihre Stimme klang metallisch hart.

 

Plötzlich wurden sie unterbrochen. Die Treppe, die in die Halle führte, war nicht bewacht; Lord Lebanon kam herunter und hörte die letzten Worte. Seine Mutter sah ihn noch nicht.

 

»Mr. Tanner, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Es ist das Zimmer, in dem mein Mann gestorben ist. Seit jenem Tag ist es nicht mehr geöffnet worden.«

 

»Ach, handelt es sich um das Zimmer mit der dicken Tür?« mischte sich der junge Lord ins Gespräch. »Mr. Tanner, die Tür habe ich häufig offen gesehen.«

 

Sie warf ihm einen drohenden Blick zu.

 

»Da irrst du dich aber, Willie. Das Zimmer ist nicht mehr geöffnet worden, und vor allem hast du es nicht gesehen.«

 

»Dann wäre es doch gut, wenn die Tür geöffnet wird«, sagte der Inspektor.

 

»Es tut mir leid, aber das ist unmöglich.«

 

»Und mir tut es ebenso leid, aber ich muß darauf bestehen.«

 

»Seien Sie doch vernünftig, Mr. Tanner«, sagte sie jetzt freundlich, aber ihre Unruhe war unverkennbar. »Was könnte Sie auch in dem Zimmer besonders interessieren? Es hängen nur ein paar alte Gemälde darin. Ich dachte, Sie wollten den Mord aufklären, und der ist doch außerhalb des Hauses passiert.«

 

»Ich führe meine Untersuchungen, wie ich es will, Lady Lebanon«, entgegnete Tanner streng.

 

»Aber Mutter –«

 

»Würden Sie uns nicht etwas allein lassen, Lord Lebanon?« sagte Tanner. »Im Korridor finden Sie Sergeant Ferraby.«

 

Er wartete, bis der junge Lord verschwunden war.

 

»Lady Lebanon, Sie wissen genau, daß ich sofort einen Durchsuchungsbefehl bekommen kann.«

 

Sie warf den Kopf in den Nacken.

 

»Es wäre eine Gemeinheit, wenn Sie das täten«, erwiderte sie hochmütig. »Kein Friedensrichter oder Beamter in unserer Gegend würde Ihnen ein solches Schriftstück ausstellen.« Plötzlich änderte sie das Thema. »Aber ich habe gedacht, Sie wollten mich noch etwas fragen?«

 

Im Augenblick konnte Tanner nichts dadurch erreichen, daß er noch länger über den geschlossenen Raum sprach. Es fiel ihm leicht, einen Durchsuchungsbefehl zu beschaffen, und er hatte die Ausstellung bereits in Scotland Yard beantragt.

 

»Ich möchte mit Ihnen über die Ermordung Dr. Amershams sprechen«, begann Tanner. »Deshalb bin ich hergekommen, aus keinem anderen Grunde. Ich will den geheimnisvollen Mord aufklären, der an Dr. Leicester Amersham begangen wurde.«

 

»Ich dachte doch, ich hätte Ihnen gesagt –«

 

»Sie haben mir gesagt, daß Sie nichts darüber wissen, aber ich bin anderer Ansicht. Lady Lebanon, wann haben Sie Dr. Amersham zum letztenmal gesehen?«

 

Sie schaute ihn nicht an; der schwere Augenblick war gekommen.

 

»Ich habe ihn heute morgen nicht gesehen –«

 

»Das weiß ich«, sagte Tanner geduldig. »Heute morgen lebte er nicht mehr. Nach den ärztlichen Gutachten ist er gestern abend zwischen elf Uhr und Mitternacht gestorben. Wann haben Sie ihn zuletzt lebend gesehen?«

 

»Gestern morgen – es kann aber auch schon einen Tag früher gewesen sein. Ich bin meiner Sache nicht sicher.«

 

Kaum hatte sie die Worte geäußert, so wußte sie auch schon, daß sie einen großen Fehler begangen hatte.

 

»Gestern abend um elf Uhr war er aber hier, wahrscheinlich bis kurz vor seinem Tode. Und er hat sich in diesem Zimmer mit Ihnen unterhalten.«

 

»Sie haben mit den Dienstboten darüber gesprochen?«

 

Tanner ließ sich durch diesen Vorwurf nicht stören.

 

»Das ist doch selbstverständlich.«

 

»Sie hätten aber besser erst mit mir gesprochen. Wenigstens hätte ich das von Ihnen erwartet«, erwiderte sie erregt.

 

»Nun, ich bin ja jetzt zu Ihnen gekommen.« Tanner sah sie verbindlich lächelnd an, aber das machte keinen Eindruck auf sie. Im Gegenteil, sie sammelte all ihre Kräfte, um sich gegen diesen Mann zu verteidigen. »Und Sie erzählen mir, daß Sie Dr. Amersham gestern morgen zum letztenmal gesehen haben. Dieser Mord hat doch das ganze Schloß in Aufregung versetzt.«

 

Sie zog die Augenbrauen hoch.

 

»Ich verstehe nicht recht, wie Sie das meinen.«

 

»Er war Ihr Freund, Sie sprachen noch mit ihm, und gleich darauf wurde er ermordet … Meiner Meinung nach hätten Sie ganz anders auf meine Frage antworten müssen. Sie hätten sagen müssen: ›Ich hatte mich gerade vorher noch mit ihm unterhalten‹, oder so etwas Ähnliches.«

 

»Dr. Amersham war nicht mein Freund«, entgegnete sie leise. »Er war ein Mann mit einem eigenen Willen, nur auf seinen Vorteil bedacht.«

 

Tanner nickte.

 

»Dann scheint also die Tatsache, daß er kaum hundert Meter von hier entfernt ermordet wurde, kaum einen Eindruck auf Sie zu machen?«

 

Sie richtete sich auf.

 

»Das finde ich unverschämt …!«

 

»Ich habe alles Recht, Ihnen das zu sagen. Sehen Sie denn nicht selbst, Lady Lebanon, daß Ihre Haltung auf jeden Fall sonderbar, wenn nicht sogar anmaßend ist? Sie erklären mir, daß Sie nicht mehr genau wissen, wann Sie Dr. Amersham zum letztenmal gesehen haben, obgleich er noch ein paar Minuten vor seinem Tod mit Ihnen sprach! Sie sagen, Sie können die Zeit nicht genau feststellen, weil er nicht Ihr Freund war, sondern einen selbstsüchtigen Charakter besaß. Das ist doch alles unlogisch. Wenn er nicht mit Ihnen befreundet war, was machte er dann um elf Uhr abends hier?«

 

»Er wollte mich dringend sprechen.«

 

»Als Arzt?«

 

Sie nickte.

 

»Hatten Sie ihn gerufen?«

 

Sie dachte einen Augenblick nach, ehe sie antwortete.

 

»Nein, er kam zufällig!«

 

»Um elf Uhr abends?« Tanner schüttelte ungläubig den Kopf.

 

»Ich hatte Nervenschmerzen im Arm.«

 

»Aber Sie haben doch nicht nach ihm geschickt! Er vermutete also, daß Sie Nervenschmerzen hatten, und kam von London, um Ihnen zu helfen? Hat er Ihnen etwas verschrieben?«

 

Sie erwiderte nichts darauf.

 

»Er fuhr gegen zwölf Uhr von hier weg, und zwar den großen Fahrweg entlang. Als er ungefähr die halbe Strecke bis zum Parktor zurückgelegt hatte, sprang von hinten jemand auf seinen Wagen und erwürgte ihn.«

 

»Davon weiß ich nichts.«

 

»Man fand das Auto, aus dem er herausgezerrt wurde, auf der anderen Seite des Dorfes verlassen auf.«

 

Sie hatte alle Einzelheiten dieses Falles nicht nur einmal, sondern schon oft durchdacht.

 

»Das interessiert mich nicht«, sagte sie unvorsichtigerweise.

 

Tanner war überrascht.

 

»Lady Lebanon, Sie haben diesen Dr. Amersham seit Jahren gekannt, er hat Sie ständig hier besucht – er war Ihr Arzt und Ihr Freund, und Sie interessieren sich nicht dafür, daß er brutal ermordet wurde?«

 

Sie holte tief Atem.

 

»Natürlich tut es mir leid. Und es war entsetzlich, daß es hier passieren mußte.«

 

Es dauerte ziemlich lange, bis er die nächste Frage an sie richtete.

 

»Was wußte Dr. Amersham?«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Was wußte er?« fragte Tanner aufs neue. »Die letzten Worte, die Sie an ihn richteten, als er das Zimmer verließ, waren ungefähr folgende …«

 

Er nahm ein Notizbuch aus der Tasche und las darin nach.

 

»Sie standen hier« – er zeigte auf eine Stelle in der Nähe ihres Platzes –,. »und Sie sagten ärgerlich zu ihm: ›Niemand würde Ihnen glauben, wenn Sie es erzählten. Versuchen Sie es doch. Und vergessen Sie eins nicht: Sie sind ebensogut in die Affäre verwickelt wie jeder andere. Sie haben immer die Absicht gehabt, die Verwaltung von Willies Vermögen an sich zu reißen!«

 

Er schlug das Buch ziemlich heftig zu.

 

»Das mag nicht der genaue Wortlaut gewesen sein, aber jedenfalls war das der Sinn Ihrer Worte. In welche Affäre war er verwickelt?«

 

Sie antwortete nicht, denn sie war im Augenblick zu bestürzt und verwirrt über seine weitgehenden Informationen. Dann wurde ihr plötzlich klar, woher er diese Kenntnisse hatte, und ihre bleichen Wangen röteten sich vor Zorn.

 

»Das hat Ihnen natürlich diese Jackson gesagt, die Zofe, die ich entlassen habe. Sie ist absolut unzuverlässig, deshalb mußte sie gehen. Wenn Sie sich auf die Aussagen entlassener Dienstboten stützen, Mr. Tanner –«

 

»Ich höre alle Leute an – das ist meine Pflicht. Wie lange war der frühere Lord Lebanon krank, bevor er starb?«

 

Sie war auf diesen plötzlichen Wechsel des Themas nicht gefaßt und konnte nicht sofort antworten.

 

»Fünfzehn Jahre«, sagte sie schließlich.

 

»Welcher Arzt hat ihn behandelt?«

 

»Dr. Amersham.«

 

Tanner hatte wieder sein Notizbuch gezogen.

 

»Obwohl er so lange krank war, starb er ziemlich plötzlich. Ich habe den Wortlaut des Totenscheins hier. Das Dokument wurde von Leicester Amersham unterzeichnet.« Das Notizbuch wanderte wieder in die Tasche. »Während der Krankheit Ihres Mannes haben Sie mit Unterstützung Dr. Amershams das Vermögen verwaltet?«

 

Sie nickte.

 

»Ich habe seinen Namen unter einer ganzen Anzahl von Pachtverträgen gefunden. Er besaß wohl Generalvollmacht?«

 

Sie fühlte sich jetzt sicherer, und sie hatte auch den Eindruck, daß die Krisis vorüber war.

 

»Ja. Mein Mann schätzte ihn, und Dr. Amersham half mir bei der Verwaltung der Güter.«

 

Tanner machte eine Pause, bevor er mit freundlicher Stimme die nächste Frage stellte.

 

»Warum haben Sie ein zweites Mal geheiratet?«

 

Lady Lebanon erfaßte die volle Tragweite dieser Worte nicht gleich, aber dann sprang sie auf.

 

»Das ist nicht wahr!« stieß sie atemlos hervor.

 

»Warum haben Sie ein zweites Mal geheiratet? Die Trauung fand in der Kirche von Petersfield statt. Und warum wählten Sie ausgerechnet Leicester Amersham als Gatten? Pfarrer John Hastings vollzog die Trauung.«

 

Einen Augenblick schwankte sie, dann sank sie schwer in den Sessel.

 

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

 

»Das habe ich in dem Ehestandsregister gefunden, das ich in Petersfield sah. Es fiel mir auf, daß Dr. Amersham auf so gutem Fuß mit dem Pfarrer John Hastings stand. Die beiden sind so verschiedene Charaktere, daß dieses Verhältnis nur durch einen großen Dienst begründet sein konnte, den der Pfarrer Amersham erwiesen hatte. Ich machte mir also die Mühe und fuhr nach Petersfield. Nun frage ich Sie noch einmal: Warum haben Sie drei Monate nach dem Tod Ihres Mannes Leicester Amersham geheiratet, und warum hielten Sie diese Eheschließung geheim?«

 

Sie goß sich etwas Wasser aus der Karaffe ein, die auf dem Tisch stand. Ihre Hand war ruhig und zitterte nicht, als sie das Glas zum Munde führte. Der Inspektor wartete geduldig.

 

»Diese Trauung wurde mir aufgezwungen. Dr. Amersham war ein Abenteurer der gewöhnlichsten Art. Er hatte kein Geld, als er in der indischen Armee diente, und zu dieser Heirat hat er mich durch Erpressung gebracht.«

 

»Bitte, erklären Sie das genauer.«

 

Sie zuckte nur die Schultern.

 

»Welche Gewalt hatte er denn über Sie? Man kann doch nicht jemand erpressen, wenn man nicht etwas Strafbares von ihm weiß. Haben Sie irgendwie das Gesetz übertreten?«

 

»Darauf verweigere ich die Antwort«, sagte sie und preßte die Lippen zusammen. »Ich wußte, daß er mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war – er war ein Dieb und ein Fälscher. Deshalb wurde er auch aus der Armee ausgestoßen.«

 

Tanner nickte.

 

»Das mag ja alles der Wahrheit entsprechen. Aber er war gestern abend zwischen elf und zwölf hier im Hause; er hat Sie bedroht und wurde ein paar Minuten später ermordet. Und Sie sagen, daß Sie sich nicht dafür interessieren!«

 

»Warum sollte ich mich denn auch dafür interessieren? In gewisser Weise bin ich froh, daß er –«. Plötzlich brach sie ab.

 

»Sie sind froh, daß er tot ist? Oder tut es Ihnen jetzt vielleicht doch leid?«

 

Er wartete, bis sie sich wieder gefaßt hatte.

 

»Was nun Ihren ersten Mann angeht, Mrs. Amersham –«

 

Sie richtete sich auf.

 

»Ich würde es lieber hören, wenn Sie mich Lady Lebanon nennen.« Sie lachte kurz auf und lehnte sich dann wieder in den Sessel zurück. »Ich glaube, ich habe jetzt Ihre Methoden durchschaut!«

 

»Wer hat den verstorbenen Lord Lebanon nach seinem Tod gesehen?« fuhr Tanner erbarmungslos fort.

 

»Dr. Amersham.«

 

»Sie nicht?«

 

»Nein. Außer Amersham nur noch Gilder und Brooks. Sie haben alles Nötige getan und ihn in den Sarg gelegt.«

 

»Und Dr. Amersham hat den Totenschein ausgefertigt. Wenn ich Sie also recht verstehe, starb Lord Lebanon, und nach seinem Tod haben ihn nur Amersham, Gilder und Brooks gesehen. Und dabei war Amersham sehr stark an seinem Ableben interessiert.« Er sah, daß sie zusammenfuhr. »Ich will niemand anklagen, ich stelle nur Tatsachen fest. Er hat Sie erpreßt, weil er etwas wußte. Und nun möchte ich gern hören, ob er mit diesen Erpressungen begann, bevor der Lord starb? Es wäre jedenfalls sehr interessant, das zu erfahren.«

 

»Ich glaube schon, daß Sie auch noch viele andere Dinge interessieren würden«, entgegnete sie hochfahrend.

 

»Gewiß. Warum haben Sie zum Beispiel heute morgen Ihren Parkwächter fortgeschickt? Sie haben ihm eine große Summe gegeben – ich weiß allerdings nicht genau, wieviel. Das Geld haben Sie zwei Tage vorher von der Depositenkasse in Marks Thornton abgehoben. Sie gaben ihm das Geld, damit er fortgehen sollte. Ich weiß es so genau, weil ich die Nummern der Banknoten erfuhr und weitere Nachforschungen über ihren Verbleib anstellte.«

 

Sie ließ ihn keinen Moment aus den Augen.

 

»Das ist das erste, was ich davon höre. Der Parkwächter ist fortgegangen? Ich habe ihm Geld gegeben, aber für Zwecke, die nur ihn selbst angehen. Mehr weiß ich nicht.«

 

»Dann kann ich Ihnen vielleicht heute abend mehr darüber sagen.« Tanner sah nach der Uhr und war erstaunt, daß es schon so spät geworden war. Die Dunkelheit brach bereits herein, und er hatte unten im Dorf noch viel zu tun.

 

»Heute morgen habe ich mich nur oberflächlich für diesen Fall interessiert, Lady Lebanon. Höchstens wollte ich Genaueres über Amersham erfahren. Aber jetzt hat die Affäre weitere Kreise gezogen, und auch Sie und dieses ganze Haus sind in die Sache verwickelt.«

 

Er ging zum Schreibtisch.

 

»Haben Sie den Schlüssel zu dem Zimmer, das niemals geöffnet wird, wie Sie behaupten?«

 

Sie schien die Frage überhört zu haben.

 

»Nun gut, Lady Lebanon«, sagte er plötzlich, »ich bemühe Sie wahrscheinlich unnötig, aber ich hätte doch gern das verschlossene Zimmer oben gesehen. Ich muß viele Fragen stellen, und mein Beruf bringt es mit sich, daß ich neugierig erscheine. Vielleicht täusche ich mich auch in der Annahme, daß die Macht, die Dr. Amersham über Sie ausübte, etwas mit dem verschlossenen Raum zu tun hat. Habe ich recht?«

 

»Die Sache hat – mit meiner Vergangenheit zu tun.«

 

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Es hat Sie große Mühe gekostet, das zu sagen – und es entspricht nicht einmal der Wahrheit. Sie gehören zu den Leuten, von denen man manchmal in den Büchern liest: Sie sind adelsstolz.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Übrigens müssen Sie doch selbst eine geborene Lebanon sein?«

 

Diese Worte machten einen merkwürdigen Eindruck auf sie. Plötzlich sah sie wieder imposant und glänzend aus, und etwas von ihrer früheren Schönheit zeigte sich in ihren Zügen.

 

»Wie merkwürdig, daß Sie das herausgefunden haben«, entgegnete sie freundlich. »Ja, ich bin eine geborene Lebanon und heiratete meinen Vetter. Ich stamme in direkter Linie von dem vierten Baron Lebanon ab.«

 

»Erstaunlich!«

 

»Die Familie ist seit den ältesten Zeiten bekannt. Bevor es noch eine Geschichte von England gab, existierte schon eine Geschichte der Lebanons, und das wird so bleiben – das muß so bleiben! Es wäre entsetzlich, wenn die Linie aussterben sollte!«

 

Die letzten Worte hatte sie pathetisch gesprochen.

 

»Für heute möchte ich mich von Ihnen verabschieden, Lady Lebanon«, erwiderte er. »Aber morgen komme ich wieder, ich kann es nicht ändern.«

 

Als er am Fuß der Treppe stand, sah er zufällig nach oben und bemerkte Isla Crane. Sie hatte den Finger auf die Lippen gelegt und winkte ihm dringend.

 

Anscheinend gleichgültig stieg er die Treppe hinauf. Isla faßte ihn am Arm.

 

»Mr. Tanner, Sie wollen doch nicht das Haus verlassen?« fragte sie verstört. »Um Himmels willen, bleiben Sie hier!«

 

Er fühlte, daß sie zitterte. Langsam machte er sich von ihr frei und ging wieder die Treppe hinunter.

 

»Ich werde das Auto bestellen, damit Sie nach dem Gasthaus fahren können«, sagte Lady Lebanon.

 

Tanner sah sie freundlich an.

 

»Verzeihen Sie, aber ich habe meine Absicht geändert. Ich bleibe heute nacht hier. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, Lady Lebanon.«

 

Einen Augenblick schaute sie ihn wütend an, dann drehte sie ihm plötzlich den Rücken zu und verließ die Halle.

 

»Was hat denn das zu bedeuten, Mr. Tanner?« fragte Totty.

 

»Das sage ich Ihnen besser morgen.«

 

Der Sergeant holte tief Atem.

 

»Sie glauben wohl, Sie können einen interessanten Abend in diesem Spukhaus verbringen? Ich bin anderer Ansicht!«

 

Kapitel 2

 

2

 

Der Herrensitz Marks Priory war schon zur Zeit der Sachsen gegründet worden, und der Westturm hatte ein hohes Alter. Die anderen Teile des Gebäudes stammten aus den verschiedensten Zeiten. Lord Willie Lebanon, der Herr von Marks Priory, ärgerte sich über das Haus, obwohl ihn der Aufenthalt hier in gewisser Weise beruhigte. Dr. Amersham hielt es für ein Gefängnis, in dem er eine unangenehme Pflicht zu erfüllen hatte, und nur Lady Lebanon sah darin den Stammsitz ihres uralten Geschlechts.

 

Lady Lebanon war schlank und nicht allzu groß, aber ihre tadellose Figur wirkte weder klein noch unbedeutend. Das reiche, schwarze Haar, das dem feingeschnittenen Gesicht einen reizvollen Rahmen gab, trug sie in der Mitte gescheitelt. Von Zeit zu Zeit leuchteten ihre dunklen Augen auf und verrieten einen fanatischen Charakter, obwohl sie sonst in ihrem Wesen fest, kühl und klar war. Immer schien sie sich bewußt zu sein, daß sie als Aristokratin die Pflicht hatte, zu repräsentieren; der Geist der neuen Zeit hatte sie nicht berührt. Sie hatte einen Vetter geheiratet und war erfüllt von der Bedeutung des alten Geschlechts der Lebanon.

 

Ihr Sohn Willie fand wenig Freude an dem Leben, das er auf Marks Priory führen mußte, und langweilte sich. Obwohl er verhältnismäßig schwächlich war, hatte er mit Erfolg die Militärakademie in Sandhurst besucht. Darauf tat er als Leutnant zwei Jahre Dienst in Indien, was einen sehr guten Einfluß auf seinen Gesundheitszustand hatte. Schließlich bekam er jedoch einen schweren Fieberanfall und wurde dadurch etwas nervös und unruhig. Lady Lebanon erzählte das ihren Gästen, wenn sie sich überhaupt zu einer Erklärung herbeiließ. Unvoreingenommene Beobachter hätten vielleicht einen anderen Grund für die Nervosität des Lords finden können.

 

Langsam stieg er eben die große Wendeltreppe in dem runden Turm von Marks Priory hinunter, die in die große Halle führte. Er war fest entschlossen, endlich mit seiner Mutter ins reine zu kommen. Schon oft hatte er diesen Entschluß gefaßt, aber bisher niemals den Mut und die Energie aufgebracht, seine Absicht tatsächlich auszuführen.

 

Sie saß gerade an ihrem Schreibtisch und las ihre Briefe. Als er in die Halle trat, sah sie ihn lange und durchdringend an und brachte ihn allein dadurch schon in Verlegenheit.

 

»Guten Morgen, Willie.«

 

Ihre Stimme klang angenehm, aber es lag eine gewisse Härte darin, die auf den jungen Lord einen unangenehmen Eindruck machte.

 

»Kann ich einmal mit dir sprechen?« fragte er schließlich.

 

Er versuchte, sich zu vergegenwärtigen, was er ihr sagen wollte. Er war das Haupt der Familie… er war der Herr von Marks Priory in der Grafschaft Sussex… er hatte zu befehlen und anzuordnen!

 

»Ja, was wünschst du, Willie?«

 

Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück und faltete die schöngeformten Hände.

 

»Ich habe Gilder entlassen«, erwiderte er unsicher. »Er benimmt sich geradezu unverschämt… es ist überhaupt lächerlich, daß man Amerikaner im Schloß duldet, die nicht wissen, wie sie sich zu betragen haben. Es gibt doch genug englische Dienstboten, die du engagieren könntest. Brooks ist mindestens ebenso schlimm…«

 

Hier ging ihm der Atem aus, aber sie wartete geduldig. Wenn sie doch nur etwas gesagt hätte oder ärgerlich geworden wäre! Er war doch tatsächlich Herr im Hause! Unglaublich, daß er nicht einmal einen Dienstboten entlassen konnte, wenn er wollte. Er hatte doch eine ganze Schwadron kommandiert, allerdings nur in Vertretung des Rittmeisters, der auf Urlaub war. Aber der Regimentskommandeur hatte lobend anerkannt, daß Willie trotz seiner Jugend seine Aufgabe ausgezeichnet durchgeführt hatte und mit den Leuten fertig geworden war.

 

Der junge Lord räusperte sich.

 

»Es macht mich doch vor den Leuten lächerlich«, fuhr er fort. »Ich meine, die Lage, in der ich mich hier befinde. Im Wirtshaus reden die Bauern darüber, und man hat mir gesagt, daß im Dorf alle darüber sprechen.«

 

»Wer hat dir das gesagt?«

 

Seine Mutter sprach sehr energisch, und bei dem metallischen Klang ihrer Stimme fuhr er erschrocken zusammen.

 

»Nun, die Leute erzählen, daß ich mich wie ein kleiner Junge benehme, der immer an der Schürze seiner Mutter hängt, und so weiter.«

 

»Wer hat das gesagt?« fragte sie wieder. »Etwa Studd?«

 

Er wurde rot, denn sie hatte das Richtige getroffen. Aber er mußte dem Chauffeur gegenüber sein Wort halten und durfte ihn nicht verraten.

 

»Studd? Um Himmels willen, nein! Ich würde doch dergleichen nicht mit einem Angestellten besprechen. Nein, ich habe es hintenherum gehört, und auf jeden Fall habe ich Gilder entlassen.«

 

»Es tut mir leid, daß ich ohne Gilder nicht auskommen kann. Außerdem ist es nicht angebracht, daß du einen Dienstboten entläßt, ohne dich vorher mit mir in Verbindung zu setzen.«

 

Er zog einen Sessel an die andere Seite des Schreibtisches und ließ sich ihr gegenüber nieder. Dann machte er einen energischen Versuch, ihr in die Augen zu schauen, aber er starrte doch nur den silbernen Leuchter an, der etwas seitwärts in gleicher Höhe mit ihrem Kopf stand.

 

»Allen Leuten ist es aufgefallen, wie sich diese beiden benehmen«, sagte er hartnäckig. »Sie denken gar nicht daran, mich mit Mylord anzureden. Daran liegt mir allerdings auch nicht viel, denn wir leben in einer demokratischen Zeit. Aber sie tun nichts im Hause, sie sind vollkommen unnütz und stehen nur herum. Ich habe doch recht, Mutter!«

 

Sie lehnte sich etwas vor.

 

»Du hast unrecht, Willie. Ich brauche die beiden hier, und du hast keine Ursache, voreingenommen gegen sie zu sein, nur weil sie Amerikaner sind.«

 

»Ich habe keine Vorurteile gegen sie –«

 

»Bitte, unterbrich mich nicht, wenn ich spreche, mein lieber Junge. Du mußt nicht auf die Geschichten hören, die Studd dir erzählt. Er ist ein netter, umgänglicher Mensch, aber ich weiß nicht, ob er der richtige Chauffeur für Marks Priory ist.«

 

»Du willst ihn doch nicht etwa entlassen?« protestierte er. »Verdammt noch mal, ich habe drei gute Kammerdiener gehabt, und jedesmal sagtest du, sie wären nicht die richtigen Leute für mich, obwohl ich sehr gut mit ihnen auskam!« Er nahm allen Mut zusammen. »Ich glaube, daß sie nur Amersham nicht paßten!«

 

Sie warf den Kopf leicht zurück.

 

»Ich richte mich nie nach Dr. Amershams Ansicht, ich frage ihn nicht um Rat und lasse mich auch nicht durch ihn leiten«, erwiderte sie scharf.

 

Er gab sich die größte Mühe, ihren Blick auszuhalten.

 

»Was macht der Doktor überhaupt im Schloß?« fragte er. »Er lebt hier in Marks Priory, obwohl er mir unausstehlich ist. Wenn ich dir erzählte, was ich alles von ihm gehört habe –«

 

Er brach plötzlich ab, denn die beiden abgezirkelten, roten Flecke auf ihren Wangen waren ein Sturmsignal, das er nur zu gut kannte.

 

Zu seiner größten Erleichterung kam Isla Crane in die Halle. Sie hielt einige Briefe in der Hand, als sie aber Mutter und Sohn im Gespräch sah, zögerte sie. Dann wollte sie sich schnell zurückziehen, aber Lady Lebanon rief sie herbei.

 

Isla war vierundzwanzig Jahre alt. Sie hatte dunkle Haare, dunkle Augen und eine schlanke, anmutige Gestalt.

 

Willie Lebanon grüßte sie mit einem Lächeln, denn Isla gefiel ihm. Einmal hatte er über sie mit seiner Mutter gesprochen, und zu seinem größten Erstaunen hatte sie ihm keine Vorhaltungen gemacht. Isla war eine entfernte Kusine von ihm und arbeitete als Sekretärin bei Lady Lebanon. Auch auf Dr. Amersham machte sie tiefen Eindruck. Aber davon wußte Lady Lebanon nichts.

 

Isla legte die Briefe auf den Tisch und war zufrieden, als Mylady sie nicht zurückhielt.

 

»Findest du nicht, daß sie sehr schön ist?« fragte Lady Lebanon, als die Sekretärin gegangen war.

 

Eine sonderbare Frage, denn seine Mutter lobte nur selten andere Menschen. Er glaubte daher, daß sie der Unterhaltung eine andere Wendung geben wollte, und das war ihm nur recht, da sein Mut und seine Energie erschöpft waren.

 

»Ja, sie ist fabelhaft«, entgegnete er nicht sehr begeistert, war aber gespannt, was sie nun sagen würde.

 

»Es ist mein Wunsch, daß du sie heiratest«, erklärte sie ganz ruhig.

 

Er starrte sie an.

 

»Warum soll ich denn Isla heiraten?« fragte er bestürzt.

 

»Sie ist doch ein Mitglied unserer Familie. Ihr Urgroßvater war der jüngere Bruder deines Urgroßvaters.«

 

»Aber ich will doch gar nicht heiraten –«

 

»Rede nicht so albern, Willie. Du mußt heiraten, und Isla ist in jeder Beziehung eine gute Partie. Geld hat sie zwar nicht, aber darauf kommt es auch nicht an. Sie ist aus guter Familie, das ist die Hauptsache.«

 

Er sah sie immer noch entsetzt an.

 

»Heiraten? Ich habe doch nie daran gedacht. Nein, der Gedanke ist mir schrecklich. Sie ist zwar sehr nett, aber –«

 

»Ich wünsche, daß du deinen eigenen Haushalt führst.«

 

Er dachte bei sich, daß er das schon längst tun würde, wenn sie ihn nur schalten und walten ließe.

 

»Wenn die Leute darüber reden, daß du dich an die Schürze deiner Mutter hängst, muß dir dieser Vorschlag doch willkommen sein. Ich möchte nicht deinetwegen mein ganzes Leben hier in Marks Priory verbringen.«

 

Das war allerdings eine verlockende Aussicht. Willie Lebanon atmete tief auf, dann erhob er sich.

 

»Natürlich muß ich einmal heiraten, aber es ist furchtbar schwer…« Er zögerte, bevor er weitersprach. Wie würde sie sein Geständnis aufnehmen? »Ich habe versucht, mich ein wenig mit ihr anzufreunden – ja, ich habe sie vor etwa vier Wochen sogar einmal geküßt, aber sie war entsetzlich widerspenstig!«

 

»Das war auch nicht recht von dir, sie einfach zu küssen!«

 

Gilder kam in Sicht, und Willie war froh, daß die Unterhaltung unterbrochen wurde.

 

Gilders Livree war von einem guten Londoner Schneider angefertigt worden, aber der Amerikaner hatte eine unglückliche Figur.

 

Lord Lebanon wartete auf die Vorwürfe seiner Mutter, die seiner Erfahrung nach nicht ausbleiben konnten, aber sie sagte nichts über das vernachlässigte Aussehen des Dieners, sie fragte nicht einmal, wie er dazu käme, sie ohne weiteres zu stören.

 

»Wünschen Sie etwas, Mylady?« erkundigte sich Gilder.

 

Als sie den Kopf schüttelte, verließ er langsam die Halle.

 

»Wenn du ihn nur gefragt hättest, was, zum Teufel, er eigentlich wollte –«

 

»Denke an das, was ich dir über Isla gesagt habe«, unterbrach sie ihn, ohne sich um seinen Protest zu kümmern. »Sie ist entzückend – und sie stammt aus unserer Familie. Ich werde ihr mitteilen, daß ich eine Heirat zwischen euch beiden wünsche!«

 

Er schaute sie verblüfft an.

 

»Weiß sie denn noch nichts davon?«

 

»Und was nun Studd angeht –«, sie runzelte die Stirn.

 

»Du wirst ihn doch nicht entlassen? Er ist wirklich ein sehr guter Kerl, und er hat mir auch gar nichts erzählt.«

 

Später traf Lord Lebanon den Chauffeur in der Garage.

 

»Ich fürchte, daß ich Ihnen keinen guten Dienst erwiesen habe«, erklärte er schuldbewußt. »Ich sagte heute zu meiner Mutter, daß die Leute über mich klatschen…«

 

Studd richtete sich grinsend auf.

 

»Ach, darauf kommt es mir nicht an, Mylord.«

 

Der etwa fünfunddreißigjährige Mann hatte ein frisches, gesundes Aussehen. Früher war er Soldat gewesen und hatte in Indien gedient.

 

»Ich gebe die Stellung hier nicht gern auf, aber ich glaube nicht, daß ich noch lange bleiben kann. Gegen Mylady habe ich nichts, sie ist immer sehr höflich und wohlwollend zu mir. Dagegen werden Sie wie ein Sklave von ihr behandelt. Ich gehe nur wegen dieses gemeinen Kerls.«

 

Lord Lebanon seufzte. Er brauchte nicht erst zu fragen, wer dieser gemeine Kerl wäre.

 

»Wenn Mylady ebensoviel von ihm wüßte wie ich«, sagte Studd geheimnisvoll, »dann würde sie ihm das Haus verbieten!«

 

»Was wissen Sie denn?« erwiderte Lebanon neugierig.

 

Er hatte diese Frage schon früher gestellt, aber nie eine genaue Antwort darauf erhalten.

 

»Wenn die Zeit kommt, werde ich auch ein paar Worte zu reden haben. Er war doch in Indien?«

 

»Selbstverständlich. Er fuhr hin, um mich nach Hause zu bringen, und in früheren Jahren war er drüben Regierungsarzt. Wissen Sie etwas über ihn – ich meine über seine Affären in Indien?«

 

»Im rechten Augenblick melde ich mich schon und sage, was ich über ihn denke«, erwiderte Studd düster.

 

Er zeigte auf einen Anbau an der Garage. Dort stand ein neuer Wagen, den Willie noch nie gesehen hatte.

 

»Die Karre gehört ihm. Wo kriegt er nur das Geld her, daß er sich so einen Wagen anschaffen kann? Der kostet doch ein paar tausend Pfund. Und als ich den Mann damals kannte, war er pleite. Ich möchte nur wissen, woher er das Geld nimmt.«

 

Willie Lebanon hatte seiner Mutter schon oft dieselbe Frage vorgelegt, ohne eine Antwort darauf zu erhalten.

 

Der junge Lord haßte Dr. Amersham; alle Leute mit Ausnahme seiner Mutter und der beiden amerikanischen Diener haßten den kleinen, energischen Herrn, der sich etwas zu auffällig kleidete und zuviel Parfüm gebrauchte. Überall versuchte Dr. Amersham sich Geltung zu verschaffen, und wenn man dem Dorfklatsch trauen konnte, war er auch ein Schürzenjäger. Aus unbekannten Gründen flossen ihm plötzlich reichliche Mittel zu; er besaß eine schöne Wohnung in der Devonshire Street in London, hatte drei Rennpferde und lebte auch sonst auf großem Fuß. Häufig war er in Marks Priory; er kam zu jeder Tageszeit mit seinem Auto von London und brachte dann ein bis zwei Stunden im Herrenhause zu. Und sobald er erschien, war es, als ob er nur zu befehlen hätte.

 

*

 

Der Arzt stieg die Treppe herunter, auf der er schon einige Zeit gestanden und gelauscht hatte. Eine Sekunde, nachdem Willie gegangen war, kam er näher und zog einen Stuhl an den Schreibtisch, an dem Lady Lebanon saß. Er nahm eine Zigarette aus seinem goldenen Etui und steckte sie an, ohne um Erlaubnis zu fragen.

 

Dr. Amersham blies einen Rauchring in die Luft und sah Lady Lebanon an.

 

»Was ist das für eine neue Idee, daß Willie Isla heiraten soll?«

 

»Sie haben wohl auf der Treppe gelauscht?«

 

»Ja. Da ich nichts erfahre, muß ich alles selbst herausfinden. Isla soll also den Jungen heiraten?«

 

»Warum nicht?« fragte sie scharf.

 

Seine Augen waren rot und entzündet, und seine Hand zitterte, als er die Zigarette aus dem Mund nahm. Er hatte eine Gesellschaft in seiner Wohnung gegeben und nur wenig geschlafen.

 

»Haben Sie mich deshalb gerufen? Beinahe wäre ich überhaupt nicht gekommen. Ich hatte eine schlaflose Nacht, ein Patient –«

 

»Sie haben keinen Patienten gehabt«, erklärte sie ruhig. »Ich bezweifle, daß jemand in London so unvernünftig ist, Sie als Arzt zu nehmen!«

 

Er lächelte.

 

»Sie selbst haben mich doch engagiert – das genügt vollkommen. Einen so guten Patienten findet man so bald nicht wieder.«

 

Er lachte über diesen Scherz, aber Lady Lebanons Gesichtsausdruck blieb starr.

 

»Ihr Chauffeur ist wirklich nicht viel wert. Der Kerl ist ziemlich unverschämt; er hatte doch die Frechheit, mich zu fragen, warum ich mir nicht meinen eigenen Chauffeur mitbringe! Außerdem steht er auch auf etwas zu vertrautem Fuß mit Willie!«

 

»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte sie schnell.

 

»Das habe ich gehört. Es gibt genug Leute in der Nähe, die mir mitteilen, was hier passiert.« Er lächelte befriedigt, denn er hatte wirklich zwei sehr gute Freunde in Marks Priory; außerdem war da die hübsche Mrs. Tilling. Andererseits verehrte die Frau des Parkwächters auch den Chauffeur Studd, was Dr. Amersham zu seinem größten Mißvergnügen entdeckt hatte.

 

»Und was sagt Isla zu der Heirat?«

 

»Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen.«

 

»Keine schlechte Idee. Merkwürdigerweise ist mir der Gedanke noch nie gekommen. Isla… ja, eine außerordentlich gute Idee.«

 

Wenn sie über seine Worte erstaunt war, so zeigte sie es jedenfalls nicht.

 

»Außerdem ist sie eine Blutsverwandte der Lebanons. Ist es nicht schon einmal in der Geschichte der Familie vorgekommen, daß Vetter und Kusine einander unter ähnlichen Umständen geheiratet haben?« Er sah zu den dunklen Bildern auf, die an den hohen Wänden hingen. »Ich habe ein gutes Gedächtnis und kenne die Geschichte der Lebanons fast ebensogut wie Sie.« Umständlich zog er seine Uhr heraus. »Ich wollte bald wieder zurückfahren nach London –«

 

»Ich möchte aber, daß Sie bleiben«, erklärte sie kurz.

 

»Ich habe eine Konferenz heute nachmittag –«

 

»Trotzdem bleiben Sie. Ich habe ein Zimmer für Sie richten lassen. Studd muß natürlich entlassen werden; er hat Willie von dem Dorfklatsch erzählt.«

 

Er richtete sich plötzlich auf. Hatte am Ende Mrs. Tilling etwas gesagt?

 

»War es etwas über mich?« fragte er schnell.

 

»Was sollten die Leute im Dorf denn über Sie reden?«

 

Er lachte ein wenig verwirrt.

 

Sie wußte, daß seine Heiterkeit nur vorgetäuscht war, aber sie machte keine Bemerkung darüber.

 

Dr. Amersham fügte sich. Er murrte zwar noch etwas, fand aber keine weitere Ausrede.

 

Er hatte auch gar nicht die Absicht, zur Stadt zurückzukehren; er wollte die Nacht in einem kleinen Haus in der Nähe verbringen, das er sich von einem jungen Londoner Innenarchitekten hatte ausstatten lassen. Dort hatte er eine Verabredung. Aber von alledem ahnte Lady Lebanon natürlich nichts.

 

»Haben Sie übrigens Studd einmal in Indien getroffen?« fragte sie unvermittelt, als er sich zum Gehen wandte. »Er hat in Puna gedient.«

 

Er drehte sich rasch um; sein Gesichtsausdruck hatte sich vollständig verändert.

 

»In Puna?« fragte er scharf. »Wann war das?«

 

»Das weiß ich nicht. Aber er hat anderen Leuten erzählt, daß er Sie dort kannte. Das wäre eine weitere Veranlassung, ihm zu kündigen.«

 

Dr. Amersham wollte Studd noch aus einem anderen Grund von Marks Priory entfernen, aber darüber schwieg er selbstverständlich.

 

Kapitel 16

 

16

 

»Wann werden die Polizeibeamten wohl das Haus wieder verlassen?« fragte Lady Lebanon den Butler, als sie allein waren.

 

»Ich habe den Eindruck, daß sie ziemlich lange bleiben«, entgegnete er. Als sie Miene machte, nach oben zu gehen, fügte er schnell hinzu: »Mylady werden verzeihen, aber ich muß noch über eine unangenehme Sache sprechen. Wirklich, es tut mir aufrichtig leid, daß ich es sagen muß. Morgen haben wir Ende des Monats, und ich möchte mit allem nötigen Respekt meinen Dienst kündigen.«

 

Sie zog die Augenbrauen hoch, obwohl sie erwartet und gefürchtet hatte, daß das kommen würde.

 

»Mylady wissen ja selbst, welche merkwürdigen Dinge hier passiert sind«, fuhr er nervös fort. »Dadurch ist Marks Priory der Öffentlichkeit leider aufgefallen.«

 

Merkwürdigerweise konnte sie seine Aufregung und seine Gründe verstehen.

 

»Aber eigentlich berührt die Sache Sie doch wenig«, erwiderte sie liebenswürdig.

 

»Verzeihen Sie, Mylady. Ich verstehe wohl, daß vor allem Mylady und der junge Lord empfindlich betroffen werden, aber in gewisser Weise habe auch ich darunter zu leiden. Während meiner langen Dienstzeit bin ich noch nie mit solchen Affären in Berührung gekommen.«

 

»Nun gut, Kelver. Es wird schwer sein, einen Ersatz für Sie zu finden, und ich lasse Sie ungern gehen.«

 

Er senkte leicht den Kopf. Er war von ihren Worten überzeugt und in gewisser Weise dankbar, daß sie seine Dienste offen anerkannte.

 

»Wo ist Lord Lebanon?« fragte sie.

 

»In seinem Zimmer, Mylady. Vor kurzem kam er aus dem Park zurück.«

 

»Sagen Sie ihm, daß ich ihn sprechen möchte.«

 

Kurz darauf kam Willie. Er war ein wenig verstört und schien sich vor seiner Mutter zu fürchten. Trotzdem versuchte er, selbstbewußt und zuversichtlich aufzutreten.

 

»Das ist doch eine ganz entsetzliche Geschichte –«, begann er.

 

»Willie, wohin bist du heute morgen gefahren?«

 

Er feuchtete die Lippen an.

 

»Zur Stadt.«

 

»Und wohin bist du dort gegangen?«

 

Er wollte lächeln, aber es gelang ihm nicht.

 

»Ich habe Scotland Yard besucht«, entgegnete er verbissen.

 

»Warum?«

 

Er konnte sie nicht ansehen, als er antwortete, und das Sprachen fiel ihm schwer.

 

»Es passieren Dinge in diesem Haus, die ich nicht verstehe; ich fürchte mich, und – verdammt noch mal, ich wollte eben hingehen!«

 

»Willie!«

 

Er sank in sich zusammen.

 

»Es tut mir leid, Mutter, aber du behandelst mich, als ob ich ein kleines Kind wäre.«

 

»Du bist nach Scotland Yard gegangen! Das war sehr unüberlegt und böse von dir. Wenn die Polizeibeamten etwas erfahren wollen, kannst du sicher sein, daß sie es herausbringen, ohne daß du dich darum kümmerst. Du hast mich sehr gekränkt. Hast du den Beamten etwas von Amersham erzählt?«

 

Das war die Frage, auf die es wirklich ankam. Sie wußte ja, daß er in Scotland Yard gewesen war, denn Gilder hatte es ihr berichtet. Aber er hatte nicht hören können, was der junge Lord den Beamten mitgeteilt hatte.

 

»Nein«, erwiderte er düster. »Ich habe nur gesagt, daß er ein seltsamer Mensch sei. Ich habe auch gesagt, daß hier auf dem Schloß viel vorgeht, was ich nicht begreifen kann. Ich verstehe diese verdammten amerikanischen Diener nicht, und vor allem weiß ich nicht, was Gilder hier soll.«

 

Ärgerlich warf er sich in einen Sessel.

 

»Ich wünschte, ich wäre nie von Indien zurückgekehrt.«

 

Sie erhob sich und trat neben ihn.

 

»Du wirst nicht wieder ohne meine Erlaubnis nach London gehen und mit der Polizei über Dinge sprechen, die in diesem Haus passieren – hast du verstanden?«

 

»Ja«, entgegnete er gereizt.

 

»Wenn du nur etwas mehr Anstand hättest«, fuhr sie fort. »Es ist nicht notwendig, daß ein Lebanon sich mit Polizeibeamten anfreundet.«

 

»Das weiß ich nicht«, sagte er mürrisch. »Sie sind doch ebensogut Menschen wie ich. All dies Gerede von der alten Familientradition ist Unsinn … Weißt du, daß dieser Gilder mich nach Scotland Yard verfolgte?«

 

»Das hat er in meinem Auftrag getan. Genügt dir das?«

 

Er lachte hilflos.

 

»Ja, Mutter.«

 

»Geh noch nicht«, sagte sie, als er aufstehen wollte. »Du mußt erst noch einige Schecks unterschreiben.«

 

Sie nahm ein schmales Heft aus der Schublade und schlug es auf. Zögernd trat er an den Schreibtisch, nahm eine Feder und tauchte sie ein. Wie gewöhnlich waren es Blankoschecks.

 

»Ach, das ist doch Unsinn, du läßt mich niemals einen Scheck unterschreiben, in dem eine Zahl eingetragen ist. Ich kann doch wohl verlangen, daß ich sehe, was ich unterschreibe.«

 

»Du mußt vier Formulare unterzeichnen«, erwiderte sie ruhig, »das genügt. Lege den Löscher hin, du weißt doch, daß Unterschriften unter Schecks nicht abgetrocknet werden sollen.«

 

Hätte er seinem augenblicklichen Impuls folgen dürfen, so hätte er am liebsten das Tintenfaß über das Heft gegossen oder das Scheckbuch in den Kamin geworfen. Aber seine Mutter sah ihn dauernd an, und unter ihrem zwingenden Blick blieb ihm nichts anderes übrig, als ihren Willen zu erfüllen, wenn es auch in seinem Innern kochte.

 

Aber schließlich kam es ja nicht darauf an, damit tröstete er sich. Er besaß ein großes Vermögen, und seine Mutter war eine tüchtige und energische Frau, die es gut zu verwalten verstand. Jetzt wollte er mit Tanner sprechen, diesem merkwürdigen Detektiv, und mit Ferraby. Als sie ihn mit einer Handbewegung entließ, lief er beinahe aus dem Zimmer.

 

Lady Lebanon war die Treppe schon halb hinaufgegangen, als sie plötzlich erschrak. Das war wirklich sehr leichtsinnig gewesen. Sie eilte die Stufen wieder hinunter, sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, trat dann an ihren Schreibtisch, schloß mit zitternden Händen eine Schublade auf und nahm ein kleines, rotes Paket heraus. Ihre Finger bebten, als sie den Anthrazitofen öffnete und das indische Tuch auf die Kohlen warf. Aber das genügte ihr noch nicht; sie nahm das Schüreisen und drückte den Stoff hinunter, damit er Feuer fangen sollte.

 

Sie sah die kleine Metallscheibe, die in der Ecke eingenäht war. Welch eine unglaubliche Sorglosigkeit, daß sie das Tuch in der Schublade aufbewahrt hatte, wo es jeder Polizeibeamte finden konnte! Erschöpft sank sie in den Sessel vor dem Schreibtisch.

 

Nach einigen Sekunden erhob sie sich jedoch wieder und ging nervös auf den Ofen zu. Sie überlegte es sich aber und kehrte zum Schreibtisch zurück. Es ließ sich nicht vermeiden, daß Tanner sie ausfragte, aber sie hatte sich die Antworten schon vorher überlegt. Sie wollte der Polizei möglichst wenig Anhaltspunkte geben. Das war schließlich für Lady Lebanon keine neue Erfahrung. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Theater spielen und irgend etwas verheimlichen müssen. Aber jetzt hatte die Krise ihren Höhepunkt erreicht: Es ging um Leben und Tod.

 

Kapitel 17

 

17

 

Totty mochte viele Fehler haben, die eigentlich ein Sergeant nicht haben sollte, aber er hatte eine gute Spürnase. Tatsächlich fand er einen Abdruck von einem hohen Absatz direkt am Rande des Fahrwegs, einen zweiten entdeckte er dicht neben der Stelle, an der das Auto gehalten hatte.

 

Etwa fünfzig Meter südlich bemerkte er auch noch eine kleine Parfümflasche mit silbernem Verschluß. In der Nähe des Gebüschs, in dem man Amersham aufgefunden hatte, konnte er jedoch weder Abdrücke von Schuhen noch sonst einen Anhaltspunkt finden. Aber auf einer kahlen Stelle des Rasens sah er nicht nur die Spur eines hohen Damenabsatzes, sondern auch den Abdruck des ganzen Schuhs.

 

Während er an der Arbeit war, drehte er sich plötzlich um und sah, daß einer der amerikanischen Diener ihn beobachtete.

 

»Nun, suchen Sie nach Anhaltspunkten, Mr. Totty? Was Sie dort gefunden haben, ist der Abdruck von Myladys Schuh. Sie war heute morgen hier im Park.«

 

»Heute morgen ist sie überhaupt nicht aus ihrem Zimmer herausgegangen«, erklärte der Sergeant mit eiserner Ruhe.

 

»So? Nun, ich bin selbst nicht hiergewesen, aber ich habe es von der Dienerschaft gehört. Die Leute haben gesehen, daß sie das Zimmer verließ, ebenso Brooks. Jedenfalls wurde es mir von mehreren Seiten berichtet.«

 

»Warum ist sie ausgerechnet hierher gegangen?« fragte Totty. Plötzlich kam ihm ein guter Gedanke. Er suchte in allen seinen Taschen und fragte dann: »Haben Sie zufällig eine Zigarette bei sich?«

 

Gilder holte aus einer Tasche ein silbernes Etui hervor, öffnete es und bot es Tony an.

 

»Das sind Chesterfields«, sagte er ruhig. »Dieselbe Sorte, die Sie heute morgen hier fanden. Kurz bevor Sie kamen, habe ich nämlich selbst im Park geraucht – ich war ganz fassungslos über den Mord.«

 

»Woher wissen Sie denn, daß ich die Zigarette aufgehoben habe?«

 

»Nicht Sie haben es getan, Mr. Ferraby hat sie aufgehoben«, entgegnete Gilder mit einem breiten Grinsen. »Übrigens würde ich auch einen guten Detektiv abgeben, Mr. Totty. Ich finde nicht nur Anhaltspunkte, ich kann sie auch deuten!«

 

Totty hielt es für unter seiner Würde, darauf zu antworten. Er setzte seine Nachforschungen fort, ging quer über die große Wiese auf ein Gehölz zu, das parallel zum Fahrweg lief, und kam zu einer Stelle, von der aus er das kleine, hübsche Haus des Parkwächters Tilling sehen konnte. Als er eben wieder gehen wollte, sah er einen kleinen Klappstuhl unter einem Baum.

 

Ringsum sah er viele Aschenhäufchen auf dem grünen Rasen. Hier mußte jemand gesessen haben, der seine Pfeife öfters ausgeklopft hatte. Totty bemerkte auch noch einen Beutel mit Tabak neben dem Stuhl und eine ausgegangene Pfeife. Jemand hatte hier Wache gehalten; auch die Abdrücke von genagelten Schuhen verrieten das deutlich genug.

 

Kurz darauf machte der Sergeant einen weiteren Fund. Das Gras hinter den Bäumen war ziemlich hoch, und dort entdeckte er eine doppelläufige Jagdflinte. Sie konnte noch nicht lange dort liegen, denn die Eisenteile der Waffe waren nicht verrostet. Beide Läufe waren geladen. Er öffnete das Gewehr und nahm die Patronen heraus, die er in die Tasche steckte. Nachdem er sich überall umgesehen hatte, ging er langsam zu der Stelle zurück, wo er Gilder gelassen hatte. Der Diener war nicht mehr zu sehen, aber kurz darauf kam er aus dem Haupteingang des Schlosses und rief Totty an:

 

»Hallo, Sergeant!« begann er, aber im selben Augenblick fiel sein Blick auf das Gewehr, und sein Gesichtsausdruck änderte sich. »Wo haben Sie denn das gefunden?«

 

Totty betrachtete die Läufe eingehender. Das Gewehr war in letzter Zeit nicht abgefeuert worden. Er sah keine Pulverspuren und konnte auch nichts von Rauchgeruch wahrnehmen.

 

»Kennen Sie das Gewehr?« fragte er den Diener.

 

»Sieht aus, als ob es dem Parkwächter gehört.«

 

»Und die Pfeife?« Totty nahm sie aus der Tasche.

 

»Ich könnte mich nicht besinnen, sie schon gesehen zu haben«, erwiderte Gilder hartnäckig. »Ich selbst rauche keine Pfeife, aber wenn Sie die Asche analysieren lassen, können Sie es vielleicht erfahren.«

 

»Wo ist Mr. Tanner?« fragte der Sergeant kurz und ärgerlich.

 

Der Chefinspektor war gerade im oberen Stockwerk. Er durchsuchte das ganze Haus, hatte aber bis jetzt nichts gefunden. Unter Brooks‘ Führung war er von einem Raum zum anderen gegangen. Das Zimmer von Lord Lebanon war verhältnismäßig klein, aber moderner eingerichtet als alle anderen. Isla schlief in dem größten Zimmer des Schlosses. Das Innere war mit dunklen Paneelen ausgestattet, und der Räum hatte auch eine hölzerne Kassettendecke. Seit zweihundert Jahren schien hier nichts geändert worden zu sein. Ein großes Bett mit vier Pfosten und Thronhimmel, ein Frisiertisch, ein Ankleidetisch, eine Couch und ein paar Stühle bildeten das ganze Mobiliar.

 

»Das ist das Zimmer des alten Lords«, erklärte Brooks. »Es wird immer noch so genannt. Hier soll es auch Geistererscheinungen geben. Es ist der einzige Raum, in dem ich mich fürchte. Wenn ich hereinkomme, läuft mir stets eine Gänsehaut den Rücken hinunter.«

 

Tanner ging die Wand entlang und klopfte ein Paneel nach dem anderen ab, während Brooks ihn beobachtete.

 

»Viele Teile der Vertäfelung klingen hohl, also muß es wohl Geheimräume in diesem Haus geben. Die meisten werden allerdings nicht mehr bekannt sein«, meinte der Amerikaner.

 

»Sie waren doch beim Theater – habe ich recht?«

 

»Ja, zwei Jahre lang. Aber woher wissen Sie das?«

 

Der Beamte ging nicht näher darauf ein, sondern erkundigte sich, wo das Zimmer der Lady Lebanon läge.

 

»Ich werde es Ihnen gleich zeigen.«

 

Brooks wartete, bis der Inspektor das Zimmer verlassen hatte, dann schloß er die Tür zu. Der Raum befand sich an der anderen Seite des Ganges und war angenehmer und heller als die Zimmer des alten Lords. Es stand auch ein Schreibtisch darin, und der Boden war mit dicken persischen Teppichen belegt. Das Bett und die anderen Möbel waren modern.

 

Tanner sah sich sehr genau um, bevor er Einzelheiten untersuchte. Auf dem Schreibtisch lag ein kleiner Fahrplan.

 

»Reist Lady Lebanon viel?«

 

»Nein, aber sie sagte Gilder, daß er zur Stadt fahren sollte. Vermutlich hat sie einen Zug für ihn aufgeschlagen.«

 

»Das stimmt nicht. Gilder fuhr mit dem Auto zur Stadt und kam auch auf die gleiche Weise zurück. Da müssen Sie sich schon eine andere Begründung ausdenken.«

 

Im Papierkorb lagen ein paar Blätter. Tanner nahm sie der Reihe nach heraus und legte sie auf den Tisch. Aber sie waren belanglos bis auf ein kleines Stück Papier, auf dem ein paar Zahlen in einer Reihe standen: 630, 83, 10, 105.

 

Zuerst wußte er nichts damit anzufangen, aber dann kam ihm der Gedanke, daß es sich vielleicht um Daten von Zügen handelte, und er steckte den Zettel in die Tasche.

 

»Hier ist ein Raum, den Sie sich eigentlich ansehen sollten«, sagte Brooks, als sie wieder den Korridor entlanggingen. »Es ist das Gastzimmer, in dem Dr. Amersham gewöhnlich schlief, wenn er die Nacht im Schloß verbrachte.«

 

Tanner blieb plötzlich stehen.

 

»Was ist das für eine Tür?«

 

»Ach, das ist ein Abstellraum.«

 

»Den möchte ich gern sehen.«

 

»Es ist aber nichts darin, was Sie interessieren könnte«, protestierte der Diener.

 

»Es ist etwas darin, was ich nicht sehen soll«, entgegnete Tanner ruhig. »Um mich abzulenken, haben Sie von Dr. Amershams Zimmer gesprochen, öffnen Sie die Tür.«

 

Aber Brooks stellte sich breitbeinig davor.

 

»Ich habe den Schlüssel nicht bei mir, und selbst wenn ich ihn hätte, wäre es zwecklos. Es stehen eine Menge alter Sachen –«

 

»Also gehen Sie sofort und holen Sie den Schlüssel.«

 

»Dann wäre es besser, wenn Sie Mylady darum fragten. Ich habe den Schlüssel nicht«, entgegnete Brooks widerwillig. »Niemand hat geglaubt, daß Sie eine Rumpelkammer besichtigen wollen.«

 

»Ich will alle Räume des Hauses sehen. Da Sie sich weigern, bestehe ich nur noch mehr darauf.«

 

Tanner klopfte an die Tür, die ihm ungewöhnlich stark erschien.

 

»Für einen Abstellraum ist doch eine derartig schwere Tür unnötig; oder fürchten Sie, daß die Möbel davonlaufen?«

 

Er senkte den Kopf und lauschte, konnte aber von drinnen nichts hören.

 

»Nun gut, wir wollen die Sache jetzt auf sich beruhen lassen, aber ich komme später darauf zurück.« Brooks öffnete die Tür zu dem Zimmer des Doktors.

 

»Vielleicht finden Sie hier etwas Interessantes.«

 

Tanner entdeckte nichts von Amershams persönlichem Eigentum. Als er wieder heraustrat, sah er Totty mit einem Gewehr unter dem Arm.

 

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« fragte der Sergeant, trat in das Gastzimmer und schloß die Tür. »Das habe ich gefunden«, fuhr er dann fort und gab einen kurzen Bericht über seine sonstigen Entdeckungen. »Es ist das Gewehr des Parkwächters, und wahrscheinlich ist das seine Pfeife.«

 

»Warum mag er nur die beiden Dinge im Stich gelassen haben?« meinte Tanner nachdenklich. »Ich möchte einmal die Patronen sehen.«

 

Nachdem er sie genau betrachtet hatte, gab er sie Totty zurück.

 

»Eine ziemlich grobe Schrotladung. Ungewöhnlich für einen Parkwächter. Die Sachen gehören natürlich Tilling. Vermutlich klärt es sich so auf: Er saß dort und beobachtete von der betreffenden Stelle aus sein Haus. Ich kann mir ja denken, nach wem er Ausschau hielt. Aber dann ist etwas passiert, was ihn veranlaßt, sein Gewehr und seine Pfeife wegzulegen. Was mag das nur gewesen sein?«

 

»Ich habe den Parkwächter holen lassen«, erklärte Totty.

 

Tanner nickte.

 

»Ich möchte wegen der Zigarette noch etwas sagen, Totty. Es ist klar, daß Gilder seine Geschichte erzählte, um Ihnen zuvorzukommen. Mit dem Mann ist nicht zu spaßen, er ist ungewöhnlich mutig und unerschrocken. Und er ist nicht allein damit zufrieden, daß er selbst ein Alibi hat, er sucht auch noch Lady Lebanon in Schutz zu nehmen. Sie muß das Haus verlassen haben, als sie von dem Mord hörte, und das war lange vor Auffindung des Toten. Aber warum ist sie nicht dort hingegangen, wo der Tote lag? Warum ging sie zu einer Stelle fünfzig Meter weiter südlich? Daraus kann man folgern, daß sie nicht wußte, wo sich die Leiche befand. Sie glaubte, sie würde den Toten weiter südlich finden.

 

Nun fragt sich nur noch, ob Gilder zur Stelle war. Ich glaube nicht, wenigstens hat sie ihn nicht getroffen. Vielleicht kam er später dazu, vielleicht war er auch dauernd in der Gegend, ohne daß sie etwas davon wußte. Ich bin sehr gespannt, was Tilling sagen wird.«

 

Es gab drei verschiedene Telefonanschlüsse in Marks Priory, während Tanner zuerst angenommen hatte, eine Zentrale mit einem Schaltbrett zu finden.

 

Ein Apparat stand in Kelvers Zimmer; dorthin ging Tanner, ließ sich mit Scotland Yard verbinden und sprach mit einem seiner Beamten.

 

»Ich brauche dringend eine Liste von allen Zügen, die um sechs Uhr dreißig abgehen und um acht Uhr drei ankommen, ferner eine List mit Zügen, die um zehn Uhr morgens abgehen und am nächsten Abend oder am nächsten Morgen um zehn Uhr fünf ankommen. Die Abgangsstationen weiß ich nicht, die müssen Sie selbst herausfinden.«

 

Was hatte Lady Lebanon nur vor? Wohin wollte sie fahren, als sie den Mord entdeckt hatte? Der Tote war erst kurz vor elf aufgefunden worden, aber die Tat mußte etwa zwölf Stunden vorher geschehen sein. Wollte sie Marks Priory verlassen? Das sah der Frau eigentlich nicht ähnlich.

 

Er war auf dem Rückweg zur Halle, um Lady Lebanon danach zu fragen, als ihm Totty etwas Erstaunliches mitteilte.

 

»Tilling ist nicht in Marks Thornton! Heute morgen ist er abgefahren, und niemand weiß, wohin.«

 

Tanner horchte auf.

 

»Weiß auch keiner der Dienstboten darüber Bescheid?«

 

»Nein. Mit dem jungen Lord habe ich gesprochen, aber der hatte ja im allgemeinen wenig mit Tilling zu tun. Ich bat ihn, seine Mutter zu fragen, aber sie kann das Verschwinden Tillings auch nicht erklären.«

 

Tanner überlegte.

 

»Wer hat Ihnen denn erzählt, daß Tilling heute morgen fortgefahren ist?«

 

»Seine Frau. Wirklich eine liebenswürdige junge Dame«, erwiderte Totty und rückte seine Krawatte gerade.

 

»Fallen Sie bloß nicht auf sie herein, wenn sie liebenswürdig wird. Ich muß sie selbst sprechen – ist sie hier?«

 

»Nein. Ich sagte ihr, sie möchte zum Schloß kommen, aber sie wollte nicht. Meiner Meinung nach weiß sie ziemlich viel. Sie ist genauso nervös und aufgeregt wie Miss Crane.«

 

»Ist die aufgeregt? Woher wissen Sie denn das?«

 

Totty verzog den Mund.

 

Ferraby tut, was er kann, um sie zu beruhigen, aber er hat nicht viel Erfolg.«

 

»Zeigen Sie mir den Weg zu Tillings Haus.«

 

Tanner konnte sich auf die Frau gut besinnen, obwohl er sie nur einmal gesehen hatte. Ihr Gesicht war bleich und eingefallen, als ob sie in der vergangenen Nacht nur wenig geschlafen hätte. Ängstlich sah sie den Chefinspektor an und zögerte einen Augenblick, aber dann bat sie ihn mit heiserer Stimme, näher zu treten. Er folgte ihr in das hübsche, kleine Wohnzimmer.

 

»Sie kommen wegen Johnny? Ich weiß nicht, wo er ist. Heute morgen ist er fortgegangen.«

 

»Wohin denn?«

 

»Ich habe keine Ahnung … Er hat mir nicht viel gesagt.«

 

»Wann kam er in der Nacht nach Hause?«

 

Sie zögerte wieder.

 

»Es war sehr früh am Morgen. Er kam und ging dann wieder, das ist alles, was ich weiß.«

 

Tanner lächelte freundlich.

 

»Also, Mrs. Tilling; sagen Sie ruhig, was. Sie wissen, und geben Sie sich nur nicht zu große Mühe, es mir zu verheimlichen. Wenn Sie nichts erzählen, ist das nicht zum Nutzen anderer Leute, im Gegenteil, Sie lenken nur den Verdacht auf sie. Wann kam Ihr Mann heim? Hatten Sie sich schon zur Ruhe gelegt?«

 

Sie nickte.

 

»Hat er Sie aufgeweckt? Wann war das?«

 

»Etwa um eins. Ich hörte, daß das Wasser in der Küche lief sie liegt direkt neben meinem Schlafzimmer –, und ich stand auf, um nachzusehen.« Plötzlich ließ sie den Kopf hängen und schluchzte heftig.

 

»Ach, es ist furchtbar, nun sind sie alle beide tot – Amersham auch!«

 

Er wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte.

 

»Mrs. Tilling, Sie tun mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir alles genau erzählen, was in der vergangenen Nacht passiert ist. Sie wissen viel, worüber Sie noch nicht gesprochen haben. Wann wird Ihr Mann denn zurückkommen?«

 

»Ich weiß es nicht«, sagte sie und unterdrückte ein Schluchzen. »Hoffentlich kommt er mir nie wieder in die Quere.«

 

»Wohin ist er denn gegangen?«

 

»Das hat er nicht gesagt.«

 

»Also, Sie hörten, daß die Wasserleitung aufgedreht wurde. Was machte er denn in der Küche? Hat er sich gewaschen?«

 

»Nein – er hatte eine Schramme«, erwiderte sie und versuchte, harmlos zu sprechen. »Er hatte sich an der Weißdornhecke gerissen.«

 

»An der Hand?«

 

»Ja, aber es war nicht schlimm.«

 

»Hat er sich an beiden Händen verletzt?«

 

Sie antwortete nicht.

 

»Sicher haben Sie ihm beim Verbinden geholfen. Erzählen Sie doch, Mrs. Tilling. Haben Sie Verbandmull benutzt?«

 

»Nein, er machte es mit dem Taschentuch. Die Schnitte waren außerdem nicht tief.«

 

»Hatte es eine Schlägerei gegeben?«

 

Sie senkte den Blick.

 

»Ja, ich glaube«, entgegnete sie nach einer längeren Pause. »Er hat ja ständig Streit.«

 

»Hat er sich auch umgezogen, bevor er fortging?«

 

Sie sah ratlos von einer Seite zur anderen, wie jemand, der in die Enge getrieben wird.

 

»Ja, er hat sich umgezogen.«

 

»Wo sind die Kleider, die er abgelegt hat?«

 

Tanner hatte seine eigene Art, Menschen auszufragen. Er besaß eine gute Einfühlungsgabe, die ihn Schritt für Schritt vorwärtsbrachte. Jeden Fehler des anderen machte er sich zunutze, und auf diese Weise ergab sich zwanglos eine Frage aus der anderen. Aber es dauerte doch noch sehr lange, bis ihm Mrs. Tilling ihre Geschichte erzählte. Seine Mühe hatte sich jedoch gelohnt.

 

Kapitel 1

 

1

 

Ein amerikanischer Diener ist an sich ein Widerspruch. Selbst Brooks gab das dem Butler Kelver gegenüber zu, obwohl er dadurch seine eigene Existenzberechtigung verneinte. Seine große, kräftige Gestalt kam in der schmucken Livree gut zur Geltung; sein Haar war grau und dünn. Aus seiner Westentasche schaute stets ein angebrochenes Paket Kaugummi hervor.

 

Auch sein Kollege Gilder paßte nicht zu dem Haushalt des Schlosses Marks Priory. Die beiden waren für ihren Beruf nicht besonders begabt und lernten anscheinend auch nichts dazu. Trotzdem waren sie nette Leute und benahmen sich den anderen Dienstboten gegenüber immer sehr höflich.

 

Man hatte sie im allgemeinen gern, wenn man Gilder auch ein wenig fürchtete. Seine hagere Erscheinung mit dem eingefallenen, durchfurchten Gesicht wirkte etwas düster, außerdem besaß er unheimliche Körperkräfte.

 

John Tilling, einer der Parkwächter, bekam das zu spüren. Auch er war groß und stattlich, aber rotblond und von jähzornigem Temperament. Wilde Eifersucht beherrschte ihn, denn seine hübsche junge Frau ging gern ihre eigenen Wege.

 

Mrs. Tilling hatte zum Beispiel einen Pferdeknecht aus dem Dorf kennengelernt, der ein rotes, grobes Gesicht hatte, nach Stall und Bier roch und sie auf seine plumpe Art liebte. Aber in ihrer Phantasie wurde er zu einem verwunschenen Prinzen und sie zu einer befreiten Prinzessin. Das war jedoch ein alter Skandal. Später entwickelte sie größeren Ehrgeiz und ließ sich mit höhergestellten Leuten ein; allerdings wußte ihr Mann nichts von alledem.

 

Eines Nachmittags hielt er Gilder an, der gerade von dem alten Klosterfeld herüberkam.

 

»Entschuldigen Sie!« sagte Tilling höflich, aber mit einem drohenden Unterton in seiner Stimme. »Sie sind in letzter Zeit einige Male in meinem Haus gewesen, während ich unterwegs in Horseham war.«

 

Er fragte nicht, er stellte eine Tatsache fest.

 

»Gewiß«, erwiderte der Amerikaner langsam. »Mylady gab mir den Auftrag, wegen der letzten Eiersendung nachzufragen, die ihr in Rechnung gestellt wurde. Sie waren damals nicht zu Hause, deshalb kam ich am nächsten Tag noch einmal.«

 

»Und da war ich wieder nicht da«, entgegnete Tilling, dessen Gesicht sich rötete.

 

Gilder sah ihn nur lächelnd an. Er ahnte nichts von den Liebesabenteuern der Mrs. Tilling, denn der Dorfklatsch interessierte ihn nicht.

 

»Das stimmt. Sie waren irgendwo im Wald.«

 

»Aber meine Frau haben Sie getroffen und mit ihr Tee getrunken!«

 

Gilder wurde ärgerlich. Er lächelte jetzt nicht mehr, und sein Blick wurde hart.

 

»Worauf wollen Sie hinaus?«

 

Plötzlich packte ihn der Parkwächter am Rock.

 

»Bleiben Sie von meinem Haus fort –«

 

Weiter kam Tilling nicht, denn der amerikanische Diener nahm ihn behutsam am Handgelenk, drehte seine Hand und machte sich frei.

 

Wäre Tilling ein schwaches Kind gewesen, so hätte er nicht weniger Widerstand leisten können.

 

»Tun Sie das nicht wieder. Ja, ich habe Ihre Frau gesehen und habe auch Tee mit ihr getrunken. Für Sie mag sie eine schöne Frau sein, aber für mich besteht sie nur aus zwei hübschen Augen und einer Nase. Merken Sie sich das!«

 

Er bog Tillings Unterarm mit einem Jiu-Jitsu-Griff leicht nach hinten.

 

Der Parkwächter taumelte zurück, und es machte ihm große Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Er war ein langsam denkender Mann, den unmöglich zwei Gemütsbewegungen zu gleicher Zeit beherrschen konnten. Deshalb zeigte er sich in diesem Augenblick nur erstaunt.

 

»Sie kennen Ihre Frau besser als ich«, erklärte Gilder, während er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. »Vielleicht beurteilen Sie ihren Charakter richtig, aber wenn Sie Verdacht auf mich haben, dann täuschen Sie sich gewaltig.«

 

Als er nach einer Besorgung beim Apotheker vom Dorf zurückkam, fand er Tilling beinahe an derselben Stelle, an der er ihn vorher verlassen hatte.

 

Der Parkwächter war nicht mehr aufsässig und machte Gilder keine weiteren Vorwürfe, in gewisser Weise versuchte er sogar, sich bei dem Amerikaner zu entschuldigen. Man sagte Gilder nach, daß er Einfluß auf die Schloßherrin hätte.

 

»Es wäre mir lieb, Mr. Gilder, wenn Sie die Geschichte vergessen wollten. Ich habe eine kleine Auseinandersetzung mit meiner Frau gehabt und bin sehr aufgeregt. Es kommen so viele Leute in mein Haus, aber ich glaube, daß Sie als verheirateter Mann –«

 

»Das stimmt schon wieder nicht. Ich bin nicht verheiratet, aber ich bin häuslich veranlagt. Und jetzt wollen wir nicht mehr über die Sache reden.«

 

Später erzählte er Brooks den Vorfall, und der korpulente Mann hörte ruhig zu, während er seinen Kaugummi bearbeitete.

 

»Haben Sie schon einmal von Messalina gehört, Gilder?« fragte er dann. »Sie war eine Italienerin, die Frau von Julius Cäsar oder so einem ähnlichen Kerl.«

 

Brooks las viel, und er hatte auch ein Gedächtnis für Namen.