Annette von Droste-Hülshoff

Annette von Droste-Hülshoff – Westfälische Schilderungen

Annette von Droste-Hülshoff

Westfälische Schilderungen

I

Wenn wir von Westfalen reden, so begreifen wir darunter einen großen, sehr verschiedenen

Landstrich, verschieden nicht nur den weit auseinanderliegenden Stammwurzeln seiner

Bevölkerung nach, sondern auch in allem, was die Physiognomie des Landes bildet, oder

wesentlich darauf zurückwirkt, in Klima, Naturform, Erwerbsquellen, und, als Folge dessen, in

Kultur, Sitten, Charakter, und selbst Körperbildung seiner Bewohner: daher möchten wohl wenige

Teile unsers Deutschlands einer so vielseitigen Beleuchtung bedürfen.

Zwar gibt es ein Element, das dem Ganzen, mit Ausnahme einiger kleinen Grenzprovinzen, für den

oberflächlichen Beobachter einen Anhauch von Gleichförmigkeit verleiht, ich meine das des

gleichen (katholischen) Religionskultus, und des gleichen früheren Lebens unter den

Krummstäben, was, in seiner festen Form und gänzlicher Beschränkung auf die nächsten Zustände,

immer dem Volkscharakter und selbst der Natur einen Charakter von bald beschaulicher, bald in

sich selbst arbeitender Abgeschlossenheit gibt, den wohl erst eine lange Reihe von Jahren, und

die Folge mehrerer, unter fremden Einflüssen herangebildeter Generationen völlig verwischen

dürften. Das schärfere Auge wird indessen sehr bald von Abstufungen angezogen, die in ihren

Endpunkten sich fast zum Kontraste steigern, und, bei der noch großenteils erhaltenen

Volkstümlichkeit, dem Lande ein Interesse zuwenden, was ein vielleicht besserer, aber

zerflossener Zustand nicht erregen könnte. – Gebirg und Fläche scheinen auch hier, wie

überall, die schärferen Grenzlinien bezeichnen zu wollen; doch haben, was das Volk betrifft,

Umstände die gewöhnliche Folgenreihe gestört, und statt aus dem flachen, heidigen

Münsterlande, durch die hügelige Grafschaft Mark und das Bistum Paderborn, bis in die, dem

Hochgebirge nahestehenden Bergkegel des Sauerlandes (Herzogtum Westfalen) sich der Natur

nachzumetamorphosieren, bildet hier vielmehr der Sauerländer den Übergang vom friedlichen

Heidebewohner zum wilden, fast südlich durchglühten, Insassen des Teutoburger Waldes. – Doch

lassen wir dieses beiläufig beiseite, und fassen die Landschaft ins Auge, unabhängig von ihren

Bewohnern, insofern die Einwirkung derselben (durch Kultur etc.) auf deren äußere Form dieses

erlaubt.

Wir haben bei Wesel die Ufer des Niederrheins verlassen, und nähern uns durch das, auf der

Karte mit Unrecht Westfalen zugezählte, noch echt rheinische Herzogtum Kleve, den Grenzen

jenes Landes. Das allmählige Verlöschen des Grüns und der Betriebsamkeit; das Zunehmen der

glänzenden Sanddünen und einer gewissen lauen, träumerischen Atmosphäre, sowie die aus den

seltenen Hütten immer blonder und weicher hervorschauenden Kindergesichter sagen uns, daß wir

sie überschritten haben, – wir sind in den Grenzstrichen des Bistums Münster. – Eine trostlose

Gegend! unabsehbare Sandflächen, nur am Horizonte hier und dort von kleinen Waldungen und

einzelnen Baumgruppen unterbrochen. – Die von Seewinden geschwängerte Luft scheint nur im

Schlafe aufzuzucken. – Bei jedem Hauche geht ein zartes, dem Rauschen der Fichten ähnliches

Geriesel über die Fläche, und säet den Sandkies in glühenden Streifen bis an die nächste Düne,

wo der Hirt in halb somnambüler Beschaulichkeit seine Socken strickt, und sich so wenig um uns

kümmert, als sein gleichfalls somnambüler Hund und seine Heidschnucken. – Schwärme badender

Krähen liegen quer über den Pfad, und flattern erst auf, wenn wir sie fast greifen könnten, um

einige Schritte seitwärts wieder niederzufallen, und uns im Vorübergehen mit einem

weissagenden Auge, »oculo torvo sinistroque« zu betrachten. – Aus den einzelnen

Wacholderbüschen dringt das klagende, möwenartige Geschrill der jungen Kiebitze, die wie

Tauchervögel im Schilf in ihrem stachligen Asyle umschlüpfen, und bald hier bald drüben ihre

Federbüschel hervorstrecken. – Dann noch etwa jede Meile eine Hütte, vor deren Tür ein paar

Kinder sich im Sande wälzen und Käfer fangen, und allenfalls ein wandernder Naturforscher, der

neben seinem überfüllten Tornister kniet, und lächelnd die zierlich versteinerten Muscheln und

Seeigel betrachtet, die wie Modelle einer frühern Schöpfung hier überall verstreut liegen, –

und wir haben alles genannt, was eine lange Tagereise hindurch eine Gegend belebt, die keine

andere Poesie aufzuweisen hat, als die einer fast jungfräulichen Einsamkeit, und einer

weichen, traumhaften Beleuchtung, in der sich die Flügel der Phantasie unwillkürlich

entfalten. – Allmählich bereiten sich indessen freundlichere Bilder vor, – zerstreute

Grasflächen in den Niederungen, häufigere und frischere Baumgruppen begrüßen uns als Vorposten

nahender Fruchtbarkeit, und bald befinden wir uns in dem Herzen des Münsterlandes, in einer

Gegend, die so anmutig ist, wie der gänzliche Mangel an Gebirgen, Felsen und belebten Strömen

dieses nur immer gestattet, und die wie eine große Oase, in dem sie von allen Seiten, nach

Holland, Oldenburg, Kleve zu, umstäubenden Sandmeer liegt. – In hohem Grade friedlich, hat sie

doch nichts von dem Charakter der Einöde, vielmehr mögen wenige Landschaften so voll Grün,

Nachtigallenschlag und Blumenflor angetroffen werden, und der aus minder feuchten Gegenden

Einwandernde wird fast betäubt vom Geschmetter der zahllosen Singvögel, die ihre Nahrung in

dem weichen Kleiboden finden. – Die wüsten Steppen haben sich in mäßige, mit einer

Heidenblumendecke farbig überhauchte Weidestrecken zusammengezogen, aus denen jeder Schritt

Schwärme blauer, gelber und milchweißer Schmetterlinge aufstäuben läßt. – Fast jeder dieser

Weidegründe enthält einen Wasserspiegel, von Schwertlilien umkränzt, an denen Tausende kleiner

Libellen wie bunte Stäbchen hängen, während die der größeren Art bis auf die Mitte des Weihers

schnurren, wo sie in die Blätter der gelben Nymphäen, wie goldene Schmucknadeln in emaillierte

Schalen niederfallen, und dort auf die Wasserinsekten lauern, von denen sie sich nähren. – Das

Ganze umgrenzen kleine, aber zahlreiche Waldungen. – Alles Laubholz, und namentlich ein

Eichenbestand von tadelloser Schönheit, der die holländische Marine mit Masten versieht – in

jedem Baume ein Nest, auf jedem Aste ein lustiger Vogel, und überall eine Frische des Grüns

und ein Blätterduft, wie dieses anderwärts nur nach einem Frühlingsregen der Fall ist. – Unter

den Zweigen lauschen die Wohnungen hervor, die langgestreckt, mit tief niederragendem Dache,

im Schatten Mittagsruhe zu halten und mit halbgeschlossenem Auge nach den Rindern zu schauen

scheinen, welche hellfarbig und gescheckt wie eine Damwildherde sich gegen das Grün des

Waldbodens oder den blassen Horizont abzeichnen, und in wechselnden Gruppen durcheinander

schieben, da diese Heiden immer Allmenden sind, und jede wenigstens sechzig Stück Hornvieh und

darüber enthält. – Was nicht Wald und Heide ist, ist Kamp, d.h. Privateigentum, zu Acker und

Wiesengrund benützt, und, um die Beschwerde des Hütens zu vermeiden, je nach dem Umfange des

Besitzes oder der Bestimmung, mit einem hohen, von Laubholz überflatterten Erdwalle umhegt. –

Dieses begreift die fruchtbarsten Grundstrecken der Gemeinde, und man trifft gewöhnlich lange

Reihen solcher Kämpe nach- und nebeneinander, durch Stege und Pförtchen verbunden, die man mit

jener angenehmen Neugier betritt, mit der man die Zimmer eines dachlosen Hauses durchwandelt.

Wirklich geben auch vorzüglich die Wiesen einen äußerst heitern Anblick durch die Fülle und

Mannigfaltigkeit der Blumen und Kräuter, in denen die Elite der Viehzucht, schwerer

ostfriesischer Rasse, übersättigt wiederkaut, und den Vorübergehenden so träge und hochmütig

anschnaubt, wie es nur der Wohlhäbigkeit auf vier Beinen erlaubt ist. Gräben und Teiche

durchschneiden auch hier, wie überall, das Terrain, und würden, wie alles stehende Gewässer,

widrig sein, wenn nicht eine weiße, von Vergißmeinnicht umwucherte Blütendecke und der

aromatische Duft des Münzkrautes dem überwiegend entgegenwirkten; auch die Ufer der träg

schleichenden Flüsse sind mit dieser Zierde versehen, und mildern so das Unbehagen, das ein

schläfriger Fluß immer erzeugt. – Kurz diese Gegend bietet eine lebhafte Einsamkeit, ein

fröhliches Alleinsein mit der Natur, wie wir es anderwärts noch nicht angetroffen. – Dörfer

trifft man alle Stunde Weges höchstens eines, und die zerstreuten Pachthöfe liegen so

versteckt hinter Wallhecken und Bäumen, daß nur ein ferner Hahnenschrei, oder ein aus seiner

Laubperücke winkender Heiligenschein sie dir andeutet, und du dich allein glaubst mit Gras und

Vögeln, wie am vierten Tage der Schöpfung, bis ein langsames »Hott« oder »Haar« hinter der

nächsten Hecke dich aus dem Traume weckt, oder ein grell anschlagender Hofhund dich auf den

Dachstreifen aufmerksam macht, der sich gerade neben dir, wie ein liegender Balken durch das

Gestripp des Erdwalls zeichnet. – So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es

nach vierzig Jahren nimmer sein. – Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen

Bedürfnisse und Industrie. Die kleinern malerischen Heiden werden geteilt; die Kultur des

langsam wachsenden Laubwaldes wird vernachlässigt, um sich im Nadelholze einen schnellern

Ertrag zu sichern, und bald werden auch hier Fichtenwälder und endlose Getreidseen den

Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben, wie auch ihre Bewohner von den uralten

Sitten und Gebräuchen mehr und mehr ablassen; fassen wir deshalb das Vorhandene noch zuletzt

in seiner Eigentümlichkeit auf, ehe die schlüpferige Decke, die allmählich Europa überfließt,

auch diesen stillen Erdwinkel überleimt hat.

Wir haben diesen Raum des Münsterlandes eine Oase genannt, so sind es auch wieder Steppen,

Sand-und Fichtenöden, die uns durch Paderborn, die ehemalige Residenz- und Grenzstadt, in das

Bistum gleichen Namens führen, wo die Ebene allmählich zu Hügeln anschwillt, von denen jedoch

die höchsten – der jenseitigen Grenze zu – die Höhe eines mäßigen Berges nicht übersteigen. –

Hier ist die Physiognomie des Landes bei weitem nicht so anziehend, wie die seiner Bewohner,

sondern ein ziemlich reizloser Übergang von der Fläche zum Gebirge, ohne die Milde der ersten

oder die Großartigkeit des letzteren, – unabsehbare Getreidfelder, sich über Tal und Höhe

ziehend, welche die Fruchtbarkeit des Bodens bezeugen, aber das Auge ermüden, – Quellen und

kleine Flüsse, die recht munter laufen, aber gänzlich ohne Geräusch und die phantastischen

Sprünge der Bergwässer, – steinichter Grund, der, wo man nur den Spaden einstößt, treffliches

Baumaterial liefert, aber nirgends eine Klippenwand vorstreckt, außer der künstlichen des

Steinbruchs, – niedere Berge von gewöhnlicher Form, unter denen nur die bewaldeten auf einige

Anmut Anspruch machen können, bilden zusammen ein wenig hervorstechendes Ganze. – Selbst der

klassische Teutoburger Wald, das einzige zwar nicht durch Höhe, aber durch seine Ausdehnung

und mitunter malerischen Formen imposante Waldgebirge, ist in neueren Zeiten so durchlichtet,

und nach der Schnur beforstet worden, daß wir nur mit Hülfe der roten (eisenhaltigen) Erde,

die fortwährend unter unsern Tritten knistert, sowie der unzähligen fliegenden Leuchtwürmchen,

die hier in Sommernächten an jeden Zweig ihr Laternchen hängen, und einer regen Phantasie von

»Stein, Gras und Grein« träumen können. – Doch fehlt es dem Lande nicht an einzelnen Punkten,

wo das Zusammentreffen vieler kleinen Schönheiten wirklich reizende Partien hervorbringt, an

hübschen grünen Talschluchten, z.B. von Quellen durchrieselt, wo es sich recht anmutig, und

sogar ein wenig schwindelnd, durch die schlanken Stämme bergauf schauen läßt; liegt nun etwa

noch ein Schlößchen droben, und gegenüber ein Steinbruch, der fürs Auge so ziemlich die

Klippen ersetzt, so wird der wandernde Maler gewiß sein Album hervorlangen, und der

benachbarte Flachländer kehrt von seiner Ferienreise mit Stoff zu langen Erzählungen und

Nachentzückungen heim;- ein Dorf am Fuße des Berges kann übrigens das Bild nur verderben, da

das Bistum Paderborn hiervon ausgemacht die elendesten und rauchigsten Exemplare Westfalens

aufzuweisen hat, ein Umstand, zu dem Übervölkerung und Leichtsinn der Einwohner zu gleichen

Teilen beitragen.

Haben wir die paderbornsche Grenze – gleichviel ob zur Rechten oder zur Linken –

überschritten, so beginnt der hochromantische Teil Westfalens, rechts das geistliche

Fürstentum Corvey, links die Grafschaft Mark; ersteres die mit Recht berühmten

Weserlandschaften, das andere die gleich schönen Ruhr-und Lenne-Ufer umschließend. – Diese

beiden Provinzen zeigen, obwohl der Lage nach getrennt, eine große Verwandtschaft der Natur,

nur daß die eine durch segelnde Fahrzeuge, die andere durch das Pochen der Hämmer und Gewerke

belebt wird; beide sind gleich lachend und fruchtbar, mit gleich wellenförmigen, üppig

belaubten Bergrücken geschmückt, in die sich nach und nach kühnere Formen und Klippenwände

drängen, bis die Weserlandschaft wie eine Schönheit, die ihren Scheitelpunkt erreicht hat,

allmählich wieder einsinkt und gleichsam abwelkt, während von der Ruhr aus immer kühnere

Gebirgsformen in das Herz des Sauerlandes dringen, und sich durch die höchste romantische

Wildheit bis zur Öde steigern. Daß die vielbesprochene Porta Westfalica nur einen geringen

Beitrag zu jener Bilderreihe steuert, und nur den letzten zweifelhaften beau jour der bereits

verblichenen Weserschönheit ausmacht, ist schon öfters gesagt worden; desto reizender ist der

Strombord in seinem Knospen, Erblühen und Reifen das Corveyer Ländchen und die anschließenden

Striche entlang bis zur kurhessischen Grenze: so sanfte Berghänge und verschwimmende Gründe,

wo Wasser und Land sich zu haschen und einander mit ihrer Frische anzuhauchen scheinen; so

angenehme Kornfluren im Wechsel mit Wiese und Wald; so kokette Windungen des Stroms, daß wir

in einem Garten zu wandeln glauben. – Immer mannigfaltiger wird die Landschaft, immer reicher

schattiert von Laub- und Nadelholz, scharfen und wellenschlagenden Linien. – Hinter dem alten

Schlosse Wehern und der Türkenruine hebt der Wildberg aus lustigen Hügeln, die ihn wie vom

Spiel ermüdete Kinder umlagern, seinen stachligen Sargrücken, und scheint nur den Kathagenberg

gegenüber, der ihn wie das Knochengebäude eines vorweltlichen Ungeheuers aus roten Augenhöhlen

anstarrt, seiner Beachtung wert zu halten. – Von hier an beginnen die Ufer steil zu werden,

mit jeder Viertelstunde steiler, hohler und felsiger, und bald sehen wir von einer

stundenlangen, mit Mauern und Geländern eingehegten Klippe die Schiffe unter uns gleiten,

klein wie Kinderspielzeug, und hören den Ruf der Schiffer, dünn wie Möwenschrei, während hoch

über uns von der Felsterrasse junge Laubzweige niederwinken, wie die Hände schöner Frauen von

Burgzinnen. – Bei dem neuantiken Schlosse Herstelle hat die Landschaft ihren Höhepunkt

erreicht, und geht, nach einer reichen Aussicht, die Weser entlang, und einem schwindelnden

Niederblicke auf das hessische Grenzstädtchen Karlshafen, der Verflachung und überall dem

Verfall entgegen.

Diesen ähnliche Bilder bietet die Grafschaft Mark, von gleicher teils sanften, teils kräftiger

auftretenden Romantik, und durch die gleichen Mittel. – Doch ist die Landschaft hier belebter,

reicher an Quellengeräusch und Echo, die Flüsse kleiner und rascher, und statt Segel bei uns

vorbeigleiten zu lassen, schreiten wir selbst an schäumenden Wehren und Mühlrädern vorüber,

und hören schon weither das Pochen der Gewerke, denn wir sind in einem Fabriklande. – Auch ist

die Gegend anfangs, von der Nähe des Münsterlandes angehaucht, noch milder, die Täler

träumerischer, und tritt dagegen, wo sie sich dem eigentlichen Sauerlande nähert, schon kühner

auf als die Weser. – Das »Felsenmeer« unweit Menden z.B. – ein Tal, wo Riesen mit wüsten

Felswürfeln gespielt zu haben scheinen – und die Bergschlucht unter der Schloßruine und der

bekannten Tropfsteinhöhle Klusenstein dürfen ungezweifelt einen ehrenvollen Platz im Gebiete

des Wildromantischen ansprechen, sonderlich das letzte, und eben diese starr gegeneinander

rückenden Felswände, an denen sich der kaum fußbreite Ziegenpfad windet – oben das alte

Gemäuer, in der Mitte der schwarze Höllenschlund, unten im Kessel das Getöse und Geschäum der

Mühle, zu der man nur vermittelst Planken und Stege gelangt, und wo es immer dämmert – sollen

dem weiland vielgelesenen Spies den Rahmen zu einem seiner schlimmsten Schauerromane (ich

glaube die Teufelsmühle im Höllental) geliefert haben. – Doch sind dieses Ausnahmen, die

Landschaften durchgängig sanft, und würden, ohne die industrielle Regsamkeit ihrer Bewohner,

entschieden träumerisch sein. – Sobald wir die Fläche überschritten, verliert sich indessen

das Milde mehr und mehr, und bald begegnet es uns nur noch in einzelnen, gleichsam verirrten

Partien, die uns jetzt durch ihre Seltenheit so überraschend anregen, wie früher die kühneren

Formen, von denen wir fortan, durch tagelange Wanderungen, fast übersättigt werden. – Der

Sauerländer rühmt sich eines glorreichen Ursprungs seiner Benennung – »dieses ist mir ein

saures Land geworden«, soll Karl der Große gesagt haben – und wirklich, wenn wir uns durch

die, mit Felsblöcken halb verrammelten Schluchten des Binnenlandes winden, unter Wänden her,

deren Unersteiglichkeit wir mit schwindelndem Auge messen, und aus denen sich kolossale

Balkone strecken, breit und fest genug, eine wilde Berghorde zu tragen, so zweifeln wir nicht

an der Wahrheit dieses Worts, mag es nun gesagt sein oder nicht. – Das Gebirge ist

wasserreich, und in den Talschlünden das Getöse der niederrauschenden und brodelnden Quellen

fast betäubend, wogegen der Vogelgesang in den überhandnehmenden Fichtenwaldungen mehr und

mehr erstirbt, bis wir zuletzt nur Geier und Habichte die Felszacken umkreisen sehen, und ihre

grellen Diebspfeifen sich hoch in der Luft antworten hören. – Überall starren uns die

schwarzen Eingänge der Stollen, Spalten und Stalaktitenhöhlen entgegen, deren Senkungen noch

zum Teil nicht ergründet sind, und an die sich Sagen von Wegelagerern, Berggeistern und

verhungerten Verirrten knüpfen. – Das Ganze steht den wildesten Gegenden des Schwarzwaldes

nicht nach – sonderlich wenn es zu dunkeln beginnt, gehört viel kaltes Blut dazu, um sich

eines mindestens poetischen Schauers zu erwehren, wenn das Volk der Eulen und Schuhue in den

Spalten lebendig wird, und das Echo ihr Gewimmer von Wand zu Wand laufen läßt, und wenn die

hohen Öfen wie glühende Rachen aus den Schluchten gähnen, wirre Funkensäulen über sich

aufblasen, und Baum und Gestein umher mit rotem Brandscheine überzittern. – In diesem Stile

nimmt die Landschaft immer an Wildheit zu, zuletzt Klippen bietend, auf denen man schon

verirrte Ziegen hat tagelang umherschwanken sehen, bis die Zackenform der Berge allmählich

kahlen Kegeln weicht, an denen noch wohl im hohen Mai Schneeflecke lagern, der Baumwuchs fast

gänzlich eingeht, und endlich bei »Winterberge« die Gegend nur noch das Bild trostloser Öde

beut, – kahle Zuckerhutformen, an denen hier und dort ein Fleckchen magerer Hafersaat mehr

gilbt als grünt.

II

Wir haben im vorhergehenden den Charakter der Eingebornen bereits flüchtig angedeutet, und

gesagt, daß dem gewöhnlichen Einflusse der Natur auf ihre Zöglinge entgegen, am,

verhältnismäßig in einem zahmen Lande aufgenährten, Paderbörner der Stempel des Bergbewohners,

sowohl moralisch als körperlich, weit entschiedener hervortritt, als an dem, durch seine

Umgebungen weit mehr dazu berechtigten Sauerländer. – Der Grund liegt nahe; in den

Handelsverhältnissen des letzteren, die seine Heimat den Fremden öffnen, und ihn selbst der

Fremde zutreiben, wo unter kaufmännischer Kultur die Sitten, durch auswärtige Heiraten das

Blut seines Stammes sich täglich mehr verdünnen, und wir müssen uns eher über die Kraft einer

Ader wundern, die, von so vielen Quellen verwässert, doch noch durchgängig einen scharfen,

festen Strich zeichnet, wie der Rhein durch den Bodensee. – Der Sauerländer ist ungemein groß

und wohlgebaut, vielleicht der größte Menschenschlag in Deutschland, aber von wenig

geschmeidigen Formen; kolossale Körperkraft ist bei ihm gewöhnlicher, als Behendigkeit

anzutreffen. Seine Züge, obwohl etwas breit und verflacht, sind sehr angenehm, und bei

vorherrschend lichtbraunem oder blonden Haare haben doch seine langbewimperten blauen Augen

alle den Glanz und den dunkeln Blick der schwarzen. – Seine Physiognomie ist kühn und offen,

sein Anstand ungezwungen, so daß man geneigt ist, ihn für ein argloseres Naturkind zu halten,

als irgendeinen seiner Mitwestfalen; dennoch ist nicht leicht ein Sauerländer ohne einen

starken Zusatz von Schlauheit, Verschlossenheit und praktischer Verstandesschärfe, und selbst

der sonst Beschränkteste unter ihnen wird gegen den gescheutesten Münsterländer fast immer

praktisch im Vorteil stehen. – Er ist sehr entschlossen, stößt sich dann nicht an

Kleinigkeiten, und scheint eher zum Handel und guten Fortkommen geboren, als dadurch und dazu

herangebildet. – Seine Neigungen sind heftig aber wechselnd, und so wenig er sie jemands

Wunsch zuliebe aufgibt, so leicht entschließt er sich, aus eigener Einsicht oder Grille

hierzu. – Er ist ein rastloser und zumeist glücklicher Spekulant, vom reichen Fabrikherrn, der

mit vieren fährt, bis zum abgerissenen Herumstreifer, der »Kirschen für Lumpen« ausbietet; und

hier findet sich der einzige Adel Westfalens, der sich durch Eisenhämmer, Papiermühlen und

Salzwerke dem Kaufmannsstande anschließt. – Obwohl der Konfession nach katholisch, ist das

Fabrikvolk doch an vielen Orten bis zur Gleichgültigkeit lau, und lacht nur zu oft über die

Scharen frommer Wallfahrter, die vor seinen Gnadenbildern bestäubt und keuchend ihre Litaneien

absingen, und an denen ihm der Klang des Geldes, das sie einführen, bei weitem die

verdienstvollste Musik scheint. – Übrigens besitzt der Sauerländer manche anziehende Seite; er

ist mutig, besonnen, von scharfem aber kühlen Verstande, obwohl im allgemeinen berechnend,

doch aus Ehrgefühl bedeutender Aufopferungen fähig; und selbst der Geringste besitzt einen

Anflug ritterlicher Galanterie und einen naiven Humor, der seine Unterhaltung äußerst angenehm

für denjenigen macht, dessen Ohren nicht allzu zart sind. – Daß in einem Lande, wo drei

Viertel der Bevölkerung, Mann, Weib und Kind, ihren Tag unter fremdem Dache (in den

Fabrikstuben) zubringen, oder auf Handelsfüßen das Land durchziehen, die häuslichen

Verhältnisse sehr locker, gewissermaßen unbedeutend sind, begreift sich wohl; so wie aus dem

Gesagten hervorgeht, daß nicht hier der Hort der Träume und Märchen, der charakteristischen

Sitten und Gebräuche zu suchen ist; denn obwohl die Sage manche Kluft und unheimliche Höhle

mit Berggeistern, und den Gespenstern Ermordeter, oder in den Irrgängen Verschmachteter

bevölkert hat, so lacht doch jedes Kind darüber, und nur der minder beherzte oder

phantasiereichere Reisende fährt zusammen, wenn ihm in dem schwarzen Schlunde etwa eine Eule

entgegenwimmert, oder ein kalter Tropfen von den Steinzapfen in seinen Nacken rieselt. – Kurz,

der Sohn der Industrie besitzt vom Bergbewohner nur die eiserne Gesundheit, Körperkraft und

Entschlossenheit, aber ohne den romantischen Anflug und die Phantasie, welche sich an

großartigen Umgebungen zu entwickeln pflegen, – er liebt sein Land, ohne dessen Charakter

herauszufühlen; er liebt seine Berge, weil sie Eisen und freien Atemzug; seine Felsen, weil

sie vortreffliches Material und Fernsichten; seine rauschenden Wasserfälle, weil sie den

Fabrikrädern rascheren Umschwung geben, und das Ganze endlich, weil es eben seine Heimat und

in dessen Luft ihm am wohlsten ist. – Seine Festlichkeiten sind, nach den Umständen des

Gastgebers, den städtischen möglichst nachgebildet; seine Trachten desgleichen. – Alles wie

anderwärts, – staubende Chausseen mit Frachtwagen und Einspännern bedeckt, – Wirtshäuser mit

Kellnern und gedruckten Speisezetteln, – einzelne Dörfer im tiefsten Gebirge sind noch

strohdachig und verfallen genug, die meisten jedoch, nett wie alle Fabrikorte, erhalten allein

durch die schwarze Schieferbekleidung und die mit Steinplatten beschwerten Dächer, die man

hier der Rauhigkeit des Klimas entgegensetzen muß, einen schwachen Anstrich von Ländlichkeit,

und nur die Kohlenbrenner in den Waldungen, die bleichen Hammerschmiede vor ihren

Höllenfeuern, und die an den Stollen, mit Lederschurz und blitzendem Bleierz auf ihrem

Kärrchen aus- und einfahrenden Bergknappen geben der Landschaft hier und dort eine passende

Staffage.

Anders ist’s im Hochstifte Paderborn, wo der Mensch eine Art wilder Poesie in die sonst

ziemlich nüchterne Umgebung bringt, und uns in die Abruzzen versetzen würde, wenn wir

Phantasie genug hätten, jene Gewitterwolke für ein mächtiges Gebirge, jenen Steinbruch für

eine Klippe zu halten. – Nicht groß von Gestalt, hager und sehnig, mit scharfen, schlauen,

tiefgebräunten, und vor der Zeit von Mühsal und Leidenschaft durchfurchten Zügen fehlt dem

Paderbörner nur das brandschwarze Haar zu einem entschieden südlichen Aussehen. – Die Männer

sind oft hübsch und immer malerisch, die Frauen haben das Schicksal der Südländerinnen, eine

frühe, üppige Blüte und ein frühes, zigeunerhaftes Alter. – Nirgends gibt es so rauchige

Dörfer, so dachlückige Hüttchen, als hier, wo ein ungestümes Temperament einen starken Teil

der Bevölkerung übereilten Heiraten zuführt, ohne ein anderes Kapital, als vier Arme und ein

Dutzend zusammengebettelter und zusammengesuchter Balken, aus denen dann eine Art von Koben

zusammengesetzt wird, eben groß genug für die Herdstelle, das Ehebett, und allenfalls einen

Verschlag, der den stolzen Namen Stube führt, in der Tat aber nur ein ungewöhnlich breiter und

hoher Kasten mit einem oder zwei Fensterlöchern ist. – Besitzt das junge Paar Fleiß und

Ausdauer, so mögen nach und nach einige Verschläge angezimmert werden; hat es ungewöhnlichen

Fleiß und Glück zugleich, so dürfte endlich eine bescheidene Menschenwohnung entstehen, häufig

aber lassen Armut und Nachlässigkeit es nicht hierzu kommen, und wir selbst sahen einen

bejahrten Mann, dessen Palast zu kurz war, um ausgestreckt darin zu schlafen, seine Beine ein

gutes Ende weit in die Straße recken. – Selbst der Roheste ist schlau und zu allen Dingen

geschickt, weiß jedoch selten nachhaltigen Vorteil daraus zu ziehen, da er sein Talent gar oft

in kleinen Pfiffigkeiten, deren Ertrag er sofort vergeudet, erschöpft, und sich dem Einflusse

von Winkeladvokaten hingibt, die ihm über jeden Zaunpfahl einen Prozeß einfädeln, der ihn

völlig aussaugt, fast immer zur Auspfändung, und häufig von Hof und Haus bringt. – Große Not

treibt ihn zu großen Anstrengungen, aber nur bis das dringendste Bedürfnis gestillt ist, –

jeder erübrigte Groschen, den der Münsterländer sorglich zurücklegen, der Sauerländer in

irgendein Geschäft stecken würde, wird hier am liebsten von dem Kind der Armut sofort dem

Wirte und Kleinhändler zugetragen, und die Schenken sind meist gefüllt mit Glückseligen, die

sich einen oder ein paar blaue Montage machen, um nachher wieder auf die alte Weise fort zu

hungern und taglöhnern. – So verleben leider viele, obwohl in einem fruchtbaren Lande, und mit

allen Naturgaben ausgerüstet, die sonst in der Welt voran bringen, ihre Jugend in Armut, und

gehen einem elenden Alter am Bettelstabe entgegen. – In ihrer Verwahrlosung dem Aberglauben

zugeneigt, glaubt der Unglückliche sehr fromm zu sein, während er seinem Gewissen die

ungebührlichsten Ausdehnungen zumutet. – Wirklich stehen auch manche Pflichten seinen mit der

Muttermilch eingesogenen Ansichten vom eigenen Rechte zu sehr entgegen, als daß er sie je

begreifen sollte, – jene gegen den Gutsherrn zum Beispiel, dem er nach seinem Naturrecht gern

als einen Erbfeind oder Usurpator des eigentlich ihm zuständigen Bodens betrachtet, dem ein

echtes Landeskind nur aus List, um der guten Sache willen, schmeichle, und übrigens Abbruch

tun müsse, wo es immer könne. – Noch empörender scheinen ihm die Forst- und Jagdgesetze, da ja

»unser Hergott das Holz von selbst wachsen läßt, und das Wild aus einem Lande in das andere

wechselt.« – Mit diesem Spruche im Munde glaubt der Frierende sich völlig berechtigt, jeden

Förster, der ihn in flagranti überrascht, mit Schnupftabak zu blenden, und wie er kann, mit

ihm fertig zu werden. – Die Gutsbesitzer sind deshalb zu einem erschöpfenden Aufwande an

Forstbeamten gezwungen, die den ganzen Tag und manche Nacht durchpatrouillieren, und doch die

massivsten Forstfrevel, z.B. das Niederschlagen ganzer Waldstrecken in einer Nacht, nicht

immer verhindern können. – Hier scheitern alle Anstrengungen der sehr ehrenwerten

Geistlichkeit, und selbst die Versagung der Absolution im Beichtstuhle verliert ihre Kraft,

wie bei dem Korsen, wenn es eine Vendetta gilt. – Noch vor dreißig Jahren war es etwas sehr

Gewöhnliches, beim Mondscheine langen Wagenreihen zu begegnen, neben denen dreißig bis vierzig

Männer hertrabten, das Beil auf der Schulter, den Ausdruck lauernder Entschlossenheit in den

gebräunten Zügen, und der nächste Morgen brachte dann gewiß – je nachdem sie mit den Förstern

zusammengetroffen, oder ihnen glücklich ausgewichen waren – die Geschichte eines blutigen

Kampfs, oder eines grandiosen Waldfrevels. – Die Überwachung der preußischen Regierung hat

allerdings dieser Öffentlichkeit ein Ziel gesetzt, jedoch ohne bedeutende Resultate in der

Sache selbst, da die Frevler jetzt durch List ersetzen, was sie an Macht einbüßen, und es ist

leider eine Tatsache, daß die Holzbedürftigen, sogar Beamte, von Leuten, denen doch, wie sie

ganz wohl wissen, kein rechtlicher Splitter eigen ist, ihren Bedarf so ruhig nehmen, wie

allerorts Strandbewohner ihren Kaffee und Zucker von den Schmugglern zu nehmen pflegen. – Daß

auch dieser letztere Erwerbszweig hier dem Charakter des Besitzlosen zu sehr zusagt, als daß

er ihn vernachlässigen sollte, selbst wenn die mehrstündige Entfernung der Grenze ihn mühsam,

gefahrvoll und wenig einträglich zugleich machen, läßt sich wohl voraussetzen, und fast bis im

Herzen des Landes sehen wir bei abendlichen Spaziergängen kleine Truppen von fünfen oder

sechsen, hastig und ohne Gruß, an uns vorüber der Wesergegend zustapfen, und können sie in der

Morgendämmerung mit kleinen Bündeln, schweißtriefend und nicht selten mit verbundenem Kopfe

oder Arme wieder in ihre Baracken schlüpfen sehen. Zuweilen folgen die Zollbeamten ihnen

stundenweit; die Dörfer des Binnenlandes werden durch nächtliche Schüsse und wüstes Geschrei

aufgeschreckt, – am nächsten Morgen zeigen Gänge durchs Kornfeld, in welcher Richtung die

Schmuggler geflohen; zerstampfte Flächen, wo sie sich mit den Zöllnern gepackt haben, und ein

halbes Dutzend Taglöhner läßt sich bei seinem Dienstherren krank melden. – Ihre Ehen meist aus

Leidenschaft, und mit gänzlicher Rücksichtslosigkeit auf äußere Vorteile, geschlossen, würden

anderwärts für höchst unglücklich gelten, da kaum eine Barackenbewohnerin ihr Leben

beschließt, ohne Bekanntschaft mit dem sogenannten »braunen Heinrich«, dem Stocke nämlich,

gemacht zu haben. Sie aber finden es ländlich, sittlich, und leben der Überzeugung, daß eine

gute Ehe, wie ein gutes Gewebe, zuerst des Einschlags bedarf, um nachher ein tüchtiges

Hausleinen zu liefern. Wollten wir eine Zusammenstellung der untern Volksklassen nach den drei

Hauptrassen Westfalens wagen, so würden wir sagen: Der Sauerländer freit, wie ein Kaufmann,

nämlich nach Geld oder Geschicklichkeit, und führt auch seine Ehe so, – kühl und auf

gemeinschaftlichen Erwerb gerichtet. – Der Münsterländer freit wie ein Herrnhuter, gutem Rufe

und dem Willen seiner Eltern gemäß, und liebt und trägt seine Ehe, wie ein aus Gottes Hand

gefallenes Los, in friedlicher Pflichterfüllung. – Der Paderbörner Wildling aber, hat

Erziehung und Zucht nichts an ihm getan, wirbt wie ein derbes Naturkind mit allem Ungestüm

seines heftigen Blutes. Mit seinen und den Eltern seiner Frau muß es daher auch oft zu

heftigen Auftritten kommen. Er geht unter die Soldaten, oder er läuft Gefahr, zu verkommen,

wenn seine Neigung unerwidert bleibt. Die Ehe wird in diesen dürftigen Hütten den Frauen zum

wahren Fegfeuer, bis sie sich zurechtgefunden; Fluch- und Schimpfreden haben, wie bei den

Matrosen, einen großen Teil ihrer Bedeutung verloren, und lassen eine rohe Art aufopfernder

Liebe wohl neben sich bestehen. Über das Verderbnis der dienenden Klassen wird sehr geklagt;

jedes noch so flüchtige Verhältnis zwischen den zwei Geschlechtern müsse streng überwacht

werden von denen, die ihr Haus rein von Skandal, und ihre weiblichen Dienstboten in

dienstfähigem Zustande zu erhalten wünschen; selbst die Unteraufseher, Leute von gesetzten

Jahren und sonst streng genug, schienen taub und blind, sobald nicht ein Verlöbnis, sondern

nur der Glaube an eine ernstliche Absicht vorhanden sei – »die beiden freien sich« – und damit

seien alle Schranken gefallen, obwohl aus zwanzig solcher Freiereien kaum eine Ehe hervorgehe

und die Folgen davon den Gemeinden zur Last fielen. Auch die Branntweinpest fordert hier nicht

wenige Opfer, und bei diesem heftigen Blut wirkt das Übermaß um so wilder und gefährlicher.

Diese Verwahrlosung ist um so mehr zu beklagen, da es auch dem letzten nicht leicht an

Talenten und geistigen Mitteln gebricht, und seine schlaue Gewandtheit, sein Mut, seine

tiefen, einbohrenden Leidenschaften, und vor allem seine reine Nationalität, verbunden mit dem

markierten Äußern, ihn zu einem allerdings würdigen Gegenstande der Aufmerksamkeit machen. –

Alter Gebräuche bei Festlichkeiten gibt es wenige, und in seltner Anwendung, da der

Paderborner jedem Zwange zu abgeneigt ist, als daß er sich eine Lust durch etwas, das nach

Zeremoniell schmeckt, verderben sollte. – Bei den Hochzeiten z.B. fällt wenig Besonderes vor,

das allwärts bekannte Schlüssel- und Brodüberreichen findet auch hier statt, d.h. wo es, außer

einer alten Truhe, etwas gibt, was des Schlüssels bedürfte, – nachher geht jeder seinem Jubel

bei Tanz und Flasche nach, bis sich alles zum »Papen von Istrup« stellt, einem beliebten

Nationaltanz, einem Durcheinanderwirbeln und Verschlingen, was erst nach dem Lichtanzünden

beginnt, und dem »Reisenden für Völker- und Länderkunde« den Zeitpunkt angibt, wo es für ihn

geratener sein möchte, sich zu entfernen, da fortan die Aufregung der Gäste bis zu einer Höhe

steigt, deren Kulminationspunkt nicht vorauszuberechnen ist. – Ist die Braut eine echte

»Flüggebraut«, eine Braut in Kranz und fliegenden Haaren, so tritt sie gewiß stolz, wie eine

Fürstin, auf, und dieses glorreiche Familienereignis wird noch der Ruhm ihrer Nachkommen, die

sich dessen wohl zu rühmen wissen, wie stattlich sie mit Spiegeln und Flittergold in den

Haaren einhergestrahlt sei. – Lieber als eine Hochzeit ist dem Paderbörner noch die Fastnacht,

an derem ersten Tage (Sonntag, Estomihi) der Bursche dahersteigt, in der Hand, auf goldenem

Apfel, einen befiederten Hahn aus Brodteig, den er seiner Liebsten verehrt, oder auch der

Edelfrau, nämlich, wenn es ihm an Geld für die kommenden nassen Tage fehlt. – Am Montag ist

der Jubel im tollsten Gange, selbst Bettler, die nichts anderes haben, hängen ihr geflicktes

Bettuch über den Kopf, und binden einen durchlöcherten Papierbogen vors Gesicht, und diese

machen, wie sie mit ihren, aus der weißen Umrändung blitzenden Augen und langen Nasenschnäbeln

die Mauern entlang taumeln, einen noch grausigeren Eindruck, wie die eigentlichen Maskenzüge,

die in scheußlichen Verkleidungen mit Geheul und Hurra auf Ackergäulen durch die Felder

galoppieren, alle hundert Schritte einen Sandreuter zurücklassend, der ihnen wüst nachjohlt,

oder als ein hinkendes Ungetüm ins Dorf zurückächzt. Sehr beliebt ist auch das Schützenfest,

zum Teil der Ironie wegen, da an diesem Tage der »Wildschütz« vor dem Auge der sein Gewerb

ignorierenden Herrschaft mit seinem sichern Blicke und seiner festen Hand paradieren darf, und

oft der schlimmste Schelm, dem die Förster schon wochenlang nachstellten, dem gnädigen

Fräulein Strauß und Ehrenschärpe als seiner Königin überreicht, und mit ihr die Zeremonie des

ersten Tanzes durchmacht. – Ihm folgt am nächsten Tage das Frauenschießen, eine galante Sitte,

die man hier am wenigsten suchen sollte, und die sich anmutig genug ausnimmt. Morgens in aller

Frühe ziehen alle Ehefrauen der Gemeinde, unter ihnen manche blutjunge und hübsche, von dem

Edelhofe aus, in ihren goldenen Häubchen und Stirnbinden, bebändert und bestraußt, jede mit

dem Gewehr ihres Mannes über die Schultern. – Voran die Frau des Schützenkönigs mit den

Abzeichen ihrer Würde, den Säbel an der Seite, wie weiland Maria Theresia auf den Kremnitzer

Dukaten; ihr zunächst die Fähnderichin mit der weißen Schützenfahne; – auf dem Hofe wird

haltgemacht, die Königin zieht den Säbel, kommandiert – rechts – links – kurz alle

militärischen Evolutionen; dann wird die Fahne geschwenkt, und das blanke Regiment zieht mit

einem feinen Hurra dem Schießplatze zu, wo jede – manche mit der zierlichsten Koketterie – ihr

Gewehr ein paarmal abfeuert, und unter klingendem Spiele der Schenke zu marschieren, wo es

heute keinen König gibt, sondern nur eine Königin und ihren Hof, die alles anordnen, und von

denen sich die Männer heute alles gefallen lassen. – Einen gleich starken Gegensatz zu den

derben Sitten des Landes gibt der Beginn des Erntefestes. – Dieses wird nur auf Edelhöfen und

großen Pachtungen im altherkömmlichen Stile gefeiert. – Der voranschreitenden Musik folgt der

Erntewagen mit dem letzten Fuder, auf dessen Garben die Großmagd thront, über sich auf einer

Stange den funkelnden Erntekranz, – dann folgen sämtliche Dienstleute, paarweise, mit

gefalteten Händen, die Männer barhaupt, so ziehen sie langsam über das Feld dem Edelhofe zu,

das Tedeum nach der schönen, alten Melodie des katholischen Ritus absingend, ohne Begleitung,

aber bei jedem dritten Verse von den Blasinstrumenten abgelöst, was sich überaus feierlich

macht, und gerade bei diesen Menschen, und unter freiem Himmel etwas wahrhaft Ergreifendes

hat. – Im Hofe angelangt, steigt die Großmagd ab, und trägt ihren Kranz mit einem artigen

Spruche zu jedem Mitgliede der Familie, vom Hausherrn an bis zum kleinsten Jünkerchen auf dem

Schaukelpferde, dann wird er über das Scheuertor an die Stelle des vorigjährigen gehängt, und

die Lustbarkeit beginnt. – Obwohl sich keiner ausgezeichneten Singorgane erfreuend, sind die

Paderbörner doch überaus gesangliebend; überall – in den Spinnstuben – auf dem Felde – hört

man sie quinkelieren und pfeifen, – sie haben ihre eigenen Spinn–, ihre Acker–, Flachsbrech-

und Rauflieder, – das letzte ist ein schlimmes Spottlied, was sie, nach dem Takte des Raufens,

jedem Vorübergehenden aus dem Stegreif zusingen. – Sonderlich junge Herren, die sich, dem

Verhältnisse nach, zu Freiern ihrer Fräulein qualifizieren, können darauf rechnen, nicht

ungeneckt vorbeizukommen, und sich von zwanzig bis dreißig Stimmen nachkrähen zu hören: »He!

he! he! er ist ihr zu dick, er hat kein Geschick«, – oder: »Er ist ihr zu arm, daß Gott

erbarm! Den Quinkel den quank, der Vogel der sang, das Jahr ist lang, oh! oh! oh! laßt ihn

gehn!« – Überhaupt rühmen sie sich gern, wo es ihnen Anlaß zum Streit verspricht, ihrer

Herrschaft, als ob sie aus Gold wäre; stehen auch in ernsteren Fällen, aus demselben Grunde,

bisweilen zu ihr gleich dem Besten, und es ist hier, wie bei der Pariser Polizei, nichts

Ungewöhnliches, die schlimmsten »Wildschützen« nach einigen Jahren als Forstgehilfen

wiederzufinden, denen es alsdann ein Herzensgaudium ist, sich mit ihren alten Kameraden zu

raufen, und den bekannten Listen neue entgegenzusetzen; und noch vor kurzem packten ein

Dutzend solcher Praktiker ihren Herzensfreund, den Dorfschulmeister, der sie früher in der

Taktik des »Holzsuchens« unterrichtet hatte, wie er eben daran war, die dritte oder vierte

Auflage der Rekruten einzuüben, etwa achtzig barfüßige Schlingel nämlich, die, wie junge

Wölfe, zuerst mit dem Blutaussaugen anfangen, mit ihren krummen Messern kunstfertig in dem

jungen Schlag wüteten, während der Pädagog, von einer breiten Buche herab, das Kommando

führte. – Wir haben bereits den Volksaberglauben erwähnt; dieser äußert sich, neben der

Gespensterfurcht und dem Hexenglauben, vorzugsweise in sympathetischen Mitteln und dem

sogenannten Besprechen, einem Akt, der manches zu denken gibt, und dessen wirklich seltsame

Erfolge sich durch bloßes Hinwegleugnen keineswegs beseitigen lassen. Wir selbst müssen

gestehen, Zeugen unerwarteter Resultate gewesen zu sein. – Auf die Felder, die der Besprecher

mit seinem weißen Stäbchen umschritten, und die Scholle eines verpfändeten Ackers darauf

geworfen hat, wagt sich in der Tat kein Sperling, kein Wurm, fällt kein Mehltau, und es ist

überraschend, diese Strecken mit schweren, niederhangenden Ähren zwischen weiten Flächen

leeren Strohes zu sehen. Ferner, ein prächtiger Schimmel, arabischer Rasse, und überaus

feurig, war, zu einem übermäßigen Sprunge gespornt, gestürzt, und hatte sich die Zunge dicht

an der Wurzel durchgebissen. – Da das Schlagen des wütenden Tieres es in den ersten Tagen

unmöglich machte, der Wunde beizukommen, war der Brand hinzugetreten, und ein sehr geschickter

Arzt erklärte das schöne Pferd für rettungslos verloren. – Jetzt ward zur »Waffensalbe«

geschritten, – keinem Arzneimittel, wie man wahrscheinlich glauben wird, sondern einem

geheimnisvollen, mir unbekannt gebliebenen Gebrauch, zu dessen Behuf dem mehrere Stunden

entfernten Besprecher nur ein von dem Blut des Tieres beflecktes Tuch gesandt wurde. – Man

kann sich denken, welches Vertrauen ich in dieses Mittel setzte! – Am nächsten Tage wurde das

Tier jedoch so ruhig, daß ich dieses als ein Zeichen seiner nahenden Auflösung ansah, – am

folgenden richtete es sich auf, zerbiß und verschluckte, obwohl etwas mühsam, einige

Brodscheiben ohne Rinde, – am dritten Morgen sahen wir, zu unserm Erstaunen, daß es sich über

das in der Raufe befindliche Futter hergemacht, und einen Teil desselben bereits verzehrt

hatte, während nur ein behutsames Auswählen der weicheren Halme, und ein leises Zucken um

Lippen und Nüstern die Empfindlichkeit der, wie wir uns durch den Augenschein überzeugen

mußten, völlig geschlossenen Wundstelle andeuteten; und seitdem habe ich den schönen Araber

manches Mal, frisch und feurig, wie zuvor, mit seinem Reiter durchs Feld stolzieren sehen. –

Dergleichen und ähnliches fällt täglich vor, und hiebei ist die Annäherung des Besprechers

oder seines Mittels an den zu besprechenden Gegenstand immer so gering (in manchen Fällen, wie

dem eben genannten, fällt sie gänzlich fort), daß eine Erklärung durch natürlich wirkende

Essenzen hier keine Statt haben kann, so wie die vielbesprochene Macht der Phantasie bei

Tieren, Kräutern und selbst Gestein wegfallen muß, und dem Erklärer wohl nur die Kraft des

menschlichen Glaubens, die magnetische Gewalt eines festen Willens über die Natur als letztes

Auskunftsmittel bleiben dürfte. – Folgenden Vorfall haben wir aus dem Munde eines

glaubwürdigen Augenzeugen: In dem Garten eines Edelhofes hatte die grüne Kohlraupe dermaßen

überhandgenommen, daß der Besitzer, obwohl Protestant, in seinem Überdrusse endlich zum

Besprecher schickte. – Dieser fand sich alsbald ein, umschritt die Gemüsefelder, leise vor

sich hin murmelnd, wobei er mit seinem Stäbchen hier und dort einen Kohlkopf berührte. Nun

stand unmittelbar am Garten ein Stallgebäude, an dessen schadhaftem Dache einige Arbeiter

flickten, die sich den Spaß machten, den Zauberer durch Spottreden, hinabgeworfene

Kalkstückchen etc. zu stören. – Nachdem dieser sie wiederholt gebeten hatte, ihn nicht zu

irren, sagte er endlich: »Wenn ihr nicht Ruhe haltet, so treibe ich euch die Raupen auf das

Dach«, und als die Neckereien dennoch nicht aufhörten, ging er an die nächste Hecke, schnitt

eine Menge fingerlanger Stäbchen, stellte sie horizontal an die Stallmauer und entfernte sich.

– Alsbald verließen sämtliche Raupen ihre Pflanzen, krochen in breiten, grünen Kolonnen über

die Sandwege, an den Stäbchen die Mauer aufwärts, und nach einer halben Stunde hatten die

Arbeiter das Feld geräumt, und standen im Hofe, mit Ungeziefer besäet, und nach dem Dache

deutend, was wie mit einer grünen, wimmelnden Decke überzogen war. – Wir geben das eben

Erzählte übrigens keineswegs als etwas Besonderes, da die oben berührte Erklärung, durch auf

den Geruch wirkende Essenzen, hier am ersten stattfinden dürfte, sondern nur als ein kleines

Genrebild aus dem Tun und Treiben eines phantasiereichen und eben besprochenen Volkes. – Ehe

wir von diesem zu andern übergehen, erlauben wir uns noch zum Schlusse die Mitteilung einer

vor etwa vierzig Jahren vorgefallenen Szene, die allerdings unter der jetzigen Regierung nicht

mehr stattfinden könnte, jedoch den Charakter des Volks zu anschaulich darstellt, als daß wir

sie am ungeeigneten Orte glauben sollten. – Zu jener Zeit stand den Gutsbesitzern die niedere

Gerichtsbarkeit zu, und wurde mitunter streng gehandhabt, wobei sich, wie es zu gehen pflegt,

der Untergebene mit der Härte des Herrn, der Herr mit der Böswilligkeit des Untergebenen

entschuldigte, und in dieser Wechselwirkung das Übel sich fortwährend steigerte. Nun sollte

der Vorsteher (Meier) eines Dorfes, allzu grober Betrügereien und Diebstähle halber, seines

Amts entsetzt werden. – Er hatte sich manchen verpflichtet, manchen bedrückt, und die Gemeinde

war in zwei bittere Parteien gespalten. – Schon seit mehreren Tagen war eine tückische Stille

im Dorfe bemerkt worden, und als am Gerichtstage der Gutsherr, aus Veranlassung des

Unwohlseins, seinen Geschäftsführer bevollmächtigte, in Verein mit dem eigentlichen Justitiar,

die Sache abzumachen, war den beiden Herren diese Abänderung keineswegs angenehm, da ihnen

wohl bewußt war, daß der Bauer seine Herrschaft zwar haßt, jeden Städter aber, und namentlich

»das Schreibervolk« aus tiefster Seele verachtet. Ihre Besorgnis ward nicht gemindert, als

einige Stunden vor der Sitzung ein Schwarm barfüßiger Weiber in den Schloßhof zog, wahre

Poissarden, mit fliegenden Haaren und Kindern auf dem Arm, sich vor dem Hauptgebäude

zusammendrängte, und wie ein Nest junger Teufel zu krähen anfing: »Wir revoltieren! wir

protestieren! wir wollen den Meier behalten! unsere Kerle sind auf dem Felde und mähen, und

haben uns geschickt, wir revoltieren!« – Der Gutsherr trat ans Fenster und rief hinaus:

»Weiber! macht euch fort, der Amtmann (Justitiar) ist noch nicht da«, worauf der Schwarm sich

allmählich, unter Geschrei und Fluchen, verlor. – Als nach einigen Stunden die Sitzung

begonnen hatte, und die bereits abgehaltenen Verhöre verlesen wurden, erhob sich unter den

Fenstern des Gerichtslokals ein dumpfes, vielstimmiges Gemurmel, was immer zunahm, – dann

drängten sich ein paar starkknochige Männer in die Stube, – wieder andere, in kurzem war sie

zum Ersticken überfüllt. – Der Justitiar, an solche Auftritte gewöhnt, befahl ihnen mit

ernster Stimme hinauszugehen; – sie gehorchten wirklich, stellten sich aber, wie er ganz wohl

sah, an der Türe auf; zugleich bemerkte er, daß einige, mit grimmigem Blicke auf die

Gegenpartei, ihre Kittel lüfteten, und kurze, schwere Knittel sichtbar werden ließen, was von

der andern Seite mit einer ähnlichen Pantomime erwidert wurde. – Dennoch las er das Urteil mit

ziemlicher Fassung ab, und schritt dann, seinen Gefährten am Kleide zupfend, hastig der Türe

zu. – Dort aber drängten sich die Außenstehenden hinein, und ließen ihre Knittel spielen, und

– daß wir es kurz machen – die heilige Justiz mußte froh sein, die Nähe eines Fensters zu

einem etwas unregelmäßigen Rückzuge benutzen zu können. – Dem Gutsherrn war indessen durch den

sich allmählich nach außen ziehenden Tumult die Lage der Dinge bereits klar geworden, und er

hatte die Schützengilde aufbieten lassen, lauter Angehörige der Beteiligten, die sich freuten,

bei dieser schönen Gelegenheit auch einmal darauf loswaschen zu können. – Sie waren eben

aufmarschiert, als die Sturmglocke erschallte. – Einige Schützen rannten nun spornstreichs in

den Turm, wo sie ein altes Weib fanden, das aus Leibeskräften den Strang zog, sofort aber

gepackt und auf Umwege ins Hundeloch spediert wurde. Indessen stand der Gutsherr am Fenster,

und überwachte mit seinem Tubus die Wege, welche zu den berüchtigtsten Dörfern führten, und

nicht lange, so sah er es von allen Bergen herunterwimmeln, wie die Beduinenschwärme, er

konnte deutlich die Knitteln in ihren Händen unterscheiden, und an ihren Gebärden sehen, wie

sie sich einander riefen und zuwinkten. Schnell besonnen, warf er einen Blick auf die

Windfahne des Schloßturms, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Luft den Lärm nicht

bis zu der Stelle führe, wo die Kommenden etwa in einer Viertelstunde angelangt sein konnten,

wurden eilends einige zuverlässige Leute abgefertigt, die in Hemdärmeln, mit Sense und Rechen,

wie Arbeiter, die aufs Feld ziehen, den verschiedenen Trupps entgegenschlendern und ihnen

erzählen mußten, das Geläute im Dorfe habe einem brennenden Schlote gegolten, der aber bereits

gelöscht sei. – Die List gelang, alle trollten sich fluchend heim, während drinnen die

Schützengilde auch ihr Bestes mit Faust und Kolben tat, und so der ganze Skandal mit einigen

ernstlich Verwundeten und einem Dutzend ins Loch Gesteckten endigte, zwei Drittel der Gemeinde

aber eine Woche lang wie mit Pestbeulen behaftet aussahen, und eine besondere Schwerfälligkeit

in ihren Bewegungen zeigten. – Ähnliche Auftritte waren früher so gewöhnlich, wie das tägliche

Brod; noch heute, trotz des langjährigen Zwanges, ist der gemeine Mann innerlich nicht um ein

Haar breit von seinen Gelüsten und Ansichten abgewichen, er kann wohl niedergehalten werden,

die Glut wird aber unter der Asche immer fortglimmen. – Erhöhter Wohlstand würde einiges

mildern, wären nicht Leichtsinn und die Leidenschaft, welche zuerst eine dürftige Bevölkerung

zuwege bringen, deren geringes Eigentum Schenkwirten und Winkeladvokaten zur Beute wird. –

Dennoch kann man sich des Bedauerns mit einem Volke nicht enthalten, das mit Kraft, Scharfsinn

und Ausdauer begabt, und im Besitze eines gesegneten Bodens, in so vielen seiner Glieder den

traurigsten Verhältnissen anheimgefallen ist.

III

Selten mögen wenige Meilen einen so raschen Übergang hervorbringen, als jene, welche die

Grenzstriche Paderborns und seines frommen Nachbarlandes, des Bistums Münster, bilden. – Noch

vor einer Stunde, hinter dem nächsten Hügel, haben kleine, schwarzbraune Schlingel, die, im

halben Naturzustande, ihre paar mageren Ziegen weniger hüteten, als bei ihnen diebswegen Wache

standen, auf deine Frage nach dem Wege, dich zuerst durch verstelltes Mißverstehen und

Witzeleien gehöhnt, und dir dann unfehlbar einen Pfad angegeben, wo du wie eine Unke im

Sumpfe, oder ein Abrahams-Widder in den Dornen gesteckt hast, – d.h. wenn du nicht mit Geld

klimpertest, denn in diesem Falle haben nicht einer, sondern sämtliche Buben ihre Ziegen, um

sie desto sicherer wiederzufinden, ins Kornfeld getrieben, und mindestens ein Dutzend Zäune

zerbrochen und Pfähle ausgerissen, um dir den nächsten Weg zu bahnen, und du hast dich, übel

und böse, zu einer vierfachen Abfindung entschließen müssen, – und jetzt stehst du, wie ein

Amerikaner, der soeben den Wigwams der Irokesen entschlüpft ist, und die ersten

Einfriedigungen einer Herrnhuterkolonie betritt, vor ein paar runden Flachsköpfen, in

mindestens vier Kamisölern, Zipfelmützen, Wollstrümpfen und den landesüblichen Holzschuhen,

die ihre Kuh ängstlich am Stricke halten, und vor Schrecken aufschreien, wenn sie nach einer

Ähre schnappt. – Ihre Züge, deren Milchhaut die Sonne kaum hat etwas anhaben können, tragen so

offen den Ausdruck der gutmütigsten Einfalt, daß du dich zu einer nochmaligen Nachfrage

entschließest. »Herr!« sagt der Knabe, und reicht dir eine Kußhand, »das Ort weiß ich nicht;«

– du wendest dich an seinen Nachbarn, der gar nicht antwortet, sondern dich nur anblinzt, als

dächte er, du wolltest ihn schlagen. – »Herr!« nimmt der erstere wieder das Wort, »der weiß es

auch nicht«; verdrießlich trab du fort, aber die Knaben haben zusammen geflüstert, und der

große Redner kömmt dir nachgeklappert. »Meint der Herr vielleicht –?« (hier nennt er den Namen

des Orts im Volksdialekt) – auf deine Bejahung stampft er herzhaft vor dir her, immer nach

seinen Kameraden umschauend, die ihm mit ihren Augen den Rücken decken, bis zum nächsten

Kreuzweg, dann hastig mit der Hand eine Richtung bezeichnend, springt er fort, so schnell es

sich in Holzschuhen galoppieren läßt, und du steckst deinen Dreier wieder ein, oder wirfst ihn

in den Sand, wo die kleinen Heidläufer, die dich aus der Ferne beobachten, ihn schon nicht

werden umkommen lassen. – In diesem Zuge hast du den Charakter des Landvolks in nuce, –

Gutmütigkeit, Furchtsamkeit, tiefes Rechtsgefühl, und eine stille Ordnung und Wirtlichkeit,

die, trotz seiner geringen Anlage zu Spekulationen und glücklichen Gedanken, ihm doch einen

Wohlstand zuwege gebracht hat, der selbst den seines gewerbtreibenden Nachbars, des

Sauerländers, weit übertrifft. – Der Münsterländer heiratet selten, ohne ein sicheres

Auskommen in der Hand zu haben, und verläßt sich, wenn ihm dieses nicht beschieden ist, lieber

auf die Milde seiner Verwandten, oder seines Brodherrn, der einen alten Diener nicht verstoßen

wird; und wirklich gibt es keine, einigermaßen bemittelte Wirtschaft, ohne ein paar solcher

Segenbringer, die ihre müden Knochen auf dem besten Platze, am Herde, auswärmen. – Die

illegitime Bevölkerung ist gar nicht in Anschlag zu bringen, obwohl jetzt eher, als wie vor

dreißig Jahren, wo wir in einer Pfarre von fünftausend Seelen ein einziges uneheliches Kind

antrafen, einen Burschen von 25 Jahren, den, zur Zeit der Demarkationslinie, ein fremder

Feldwebel einem armen Dienstmädchen als trauriges Andenken hinterlassen hatte. – Bettler gibt

es unter dem Landvolke nicht, weder dem Namen, noch der Tat nach, sondern nur in jeder

Gemeinde einige »arme Männer, arme Frauen«, denen in bemittelten Häusern nach der Reihe die

Kost gereicht wird, wo dann die nachlässigste Mutter ihr Kind strafen würde, wenn es an dem

»armen Manne« vorüberging, ohne ihn zu grüßen. – So ist Raum, Nahrung und Frieden für alle da,

und die Regierung möchte gern zu einer stärkern Bevölkerung anregen, die aber gewiß traurige

Folgen haben würde, bei einem Volke, was wohl ein Eigentum verständig zu bewirtschaften weiß,

dem es aber zum Erwerbe mit leerer Hand gänzlich an Geschick und Energie fehlt, und das

Sprichwort: »Not lehrt beten« (resp. arbeiten), würde sich schwerlich hinlänglich hier

bewähren, wo schon die laue, feuchte Luft den Menschen träumerisch macht, und seine

Schüchternheit zum Teil körperlich ist, so daß man ihn nur anzusehen braucht, um das langsame

Rollen seines Blutes gleichsam mitzufühlen.

Der Münsterländer ist groß, fleischig, selten von starker Muskelkraft; – seine Züge sind

weich, oft äußerst lieblich, und immer durch einen Ausdruck von Güte gewinnend, aber nicht

leicht interessant, da sie immer etwas Weibliches haben, und selbst ein alter Mann oft

frauenhafter aussieht, als eine Paderbörnerin in den mittleren Jahren, – die helle Haarfarbe

ist durchaus vorherrschend; man trifft alte Flachsköpfe, die vor Blondheit nicht haben

ergrauen können. – Dieses und alles Dazugehörige – die Hautfarbe – blendendweiß und rosig, und

den Sonnenstrahlen bis ins überreife Alter widerstehend. Die lichtblauen Augen, ohne kräftigen

Ausdruck – das feine Gesicht mit fast lächerlich kleinem Munde, hierzu ein oft sehr anmutiges

und immer wohlwollendes Lächeln, und schnelles Erröten stellen die Schönheit beider

Geschlechter auf sehr ungleiche Waage, – es gibt nämlich fast keinen Mann, den man als solchen

wirklich schön nennen könnte, während unter zwanzig Mädchen wenigstens fünfzehn als hübsch

auffallen, und zwar in dem etwas faden, aber doch lieblichen Geschmacke der englischen

Kupferstiche. – Die weibliche Landestracht ist mehr wohlhäbig, als wohlstehend, recht viele

Tuchröcke mit dicken Falten, recht schwere Goldhauben und Silberkreuze an schwarzem

Sammetbande, und bei den Ehefrauen Stirnbinden von möglichst breiter Spitze, bezeichnen hier

den Grad des Wohlstandes; da selten jemand in den Laden geht, ohne die nötigen blanken Taler

in der Hand, und noch seltner durch Putzsucht das richtige Verhältnis zwischen der Kleidung

und dem ungeschnittenen Leinen und andern häuslichen Schätzen gestört wird. – Der Hausstand in

den, zumeist vereinzelt liegenden Bauernhöfen ist groß, und in jedem Betracht reichlich, aber

durchaus bäurisch. – Das lange Gebäude von Ziegelsteinen, mit tief niederragendem Dache, und

von der Tenne durchschnitten, an der zu beiden Seiten eine lange Reihe Hornvieh,

ostfriesischer Rasse, mit ihren Ketten klirrt, – die große Küche, hell und sauber, mit

gewaltigem Kamine, unter dem sich das ganze Hauspersonale bergen kann; – das viele, zur Schau

gestellte blanke Geschirr, und die absichtlich an den Wänden der Fremdenstube aufgetürmten

Flachsvorräte erinnern ebenfalls an Holland, dem sich überhaupt diese Provinz, was Wohlstand

und Lebensweise betrifft, bedeutend nähert, obwohl Abgeschlossenheit und gänzlich auf den

innern Verkehr beschränktes Wirken ihre Bevölkerung von all den sittlichen Einflüssen, denen

handelnde Nationen nicht entgehen können, so frei gehalten haben, wie kaum einen andern

Landstrich. Ob starke Reibungen mit der Außenwelt dem Münsterländer den Mut und die

Betriebsamkeit des Batavers, – ein patriarchalisches Leben diesem die Sitteneinfalt und Milde

des Münsterländers geben könnten, müssen wir dahingestellt sein lassen, bezweifeln es aber, –

jetzt mindestens sind sie sich in den Zügen, die man als die nationellsten beider anzuführen

pflegt, fast feindlich entgegengesetzt, und verachten sich auch gegenseitig, wie es Nachbarn

zukömmt. Wir haben schon früher von dem überaus friedlichen Eindrucke eines münsterischen

Gehöftes gesprochen. – In den Sommermonaten, wo das Vieh im Felde ist, vernimmst du keinen

Laut außer dem Bellen des sich an seiner Kette abzappelnden Hofhundes, und wenn du dicht an

der offenen Haustüre herschreitest, das leise Zirpen der in den Mauernesseln aus- und

einschlüpfenden Küchlein, und den gemessenen Pendelschwung der Uhr, mit dessen Gewichten ein

paar junge Kätzchen spielen; – die im Garten jätenden Frauen sitzen so still gekauert, daß du

sie nicht ahndest, wenn ein zufälliger Blick über den Hagen sie dir nicht verrät, und die

schönen, schwermütigen Volksballaden, an denen diese Gegend überreich ist, hörst du etwa nur

auf einer nächtlichen Wanderung durch das Schnurren der Spinnräder, wenn die blöden Mädchen

sich vor jedem Ohre gesichert glauben. – Auch auf dem Felde kannst du im Gefühl der tiefsten

Einsamkeit gelassen fortträumen, bis ein zufälliges Räuspern, oder das Schnauben eines Pferdes

dir verrät, daß der Schatten, in den du soeben trittst, von einem halbbeladenen Erntewagen

geworfen wird, und du mitten durch zwanzig Arbeiter geschritten bist, die sich weiter nicht

wundern, daß der »nachdenkende Herr« ihr Hutabnehmen nicht beobachtet hat, da er, nach ihrer

Meinung, »andächtig ist«, d.h. den Rosenkranz aus dem Gedächtnisse hersagt. – Diese Ruhe und

Einförmigkeit, die aus dem Innern hervorgehen, verbreiten sich auch über alle

Lebensverhältnisse. – Die Toten werden mäßig betrauert, aber nie vergessen, und alten Leuten

treten noch Tränen in die Augen, wenn sie von ihren verstorbenen Eltern reden. – An den

Eheschlüssen hat frühere Neigung nur selten teil, Verwandte und achtbare Freunde empfehlen

ihre Lieblinge einander, und das Fürwort des Geachtetsten gibt in der Regel den Ausschlag, –

so kömmt es, daß manches Ehepaar sich vor der Kopulation kaum einmal gesehen hat, und unter

der französischen Regierung kam nicht selten der lächerliche Fall vor, daß Sponsen, die

meilenweit hergetrabt waren, um für ihre Bräute die nötigen Scheine bei der Behörde zu lösen,

weder Vor- noch Zunamen derjenigen anzugeben wußten, die sie in der nächsten Woche zu heiraten

gedachten, und sich höchlich wunderten, daß die Bezeichnung als Magd oder Nichte irgendeines

angesehenen Gemeindegliedes nicht hinreichend gefunden wurde. – Daß unter diesen Umständen die

möglichst große Anzahl der Anträge noch ehrenvoller und für den Ruf entscheidender ist, als

anderwärts, begreift sich, und wir selbst wohnten der Trauung eines wahren Kleinodes von

Brautpaaren bei, wo der Bräutigam unter achtundzwanzigen, die Braut unter zweiunddreißigen

gewählt hatte. Trotz der vorläufigen Verhandlungen ist jedoch selbst der Glänzendste hier

seines Erfolgs nicht sicher, da die Ehrbarkeit ein bestimmtes Eingehen auf die Anträge des

Brautwerbers verbietet, und jetzt beginnt die Aufgabe des Freiers. – Er tritt an einem

Nachmittage in das Haus der Gesuchten, und zwar jedesmal unter dem Vorwande, seine Pfeife

anzuzünden, – die Hausfrau setzt ihm einen Stuhl, und scharrt schweigend die Glut auf, dann

knüpft sie ein gleichgültiges Gespräch an vom Wetter, den Kornfrüchten etc., und nimmt

unterdessen eine Pfanne vom Gesimse, die sie sorgfältig scheuert und über die Kohlen hängt. –

Jetzt ist der entscheidende Augenblick gekommen. – Sieht der Freier die Vorbereitungen zu

einem Pfannenkuchen, so zieht er seine dicke silberne Uhr hervor, und behauptet, sich nicht

länger aufhalten zu können, werden aber Speckschnitzel und Eier in die Pfanne gelegt, so rückt

er kühnlich mit seinem Antrage heraus, die jungen Leute wechseln »die Treue«, nämlich ein Paar

alter Schaumünzen, und der Handel ist geschlossen.

Einige Tage vor der Hochzeit macht der Gastbitter mit ellenlangem Spruche seine Runde, oft

meilenweit, da hier, wie bei den Schotten, das verwandte Blut bis in das entfernteste Glied,

und bis zum Ärmsten hinab, geachtet wird. – Nächst diesem dürfen vor allem die sogenannten

Nachbarn nicht übergangen werden, drei oder vier Familien nämlich, die vielleicht eine halbe

Meile entfernt wohnen, aber in uralten Gemeinderegistern, aus den Zeiten einer noch viel

sparsameren Bevölkerung, als »Nachbarn« verzeichnet stehen, und gleich Prinzen vom Geblüte vor

den näheren Seitenverbindungen, so auch ihre Rechte und Verpflichtungen vor den, vielleicht

erst seit ein paar hundert Jahren Näherwohnenden wahren. – Am Tage vor der Hochzeit findet der

»Gabenabend« statt, – eine freundliche Sitte, um den jungen Anfängern über die schwerste Zeit

wegzuhelfen. – Abends, wenn es bereits stark dämmert, tritt eine Magd nach der andern ins

Haus, setzt mit den Worten: »Gruß von unserer Frau«, einen mit weißem Tuche verdeckten Korb

auf den Tisch, und entfernt sich sofort; dieser enthält die Gabe: Eier, Butter, Geflügel,

Schinken – je nach den Kräften eines jeden – und die Geschenke fallen oft, wenn das Brautpaar

unbemittelt ist, so reichlich aus, daß dieses um den nächsten Wintervorrat nicht sorgen darf.

– Eine liebenswürdige, das Volk bezeichnende Höflichkeit des Herzens verbietet die

Überbringung der Gabe durch ein Familienmitglied; wer keine Magd hat, schickt ein fremdes

Kind. – Am Hochzeitmorgen, etwa um acht, besteigt die Braut den mit einer weißen,

goldflunkernden Fahne geschmückten Wagen, der ihre Ausstattung enthält; – sie sitzt allein

zwischen ihren Schätzen, im besten Staate aber ohne besonderes Abzeichen, und weint aufs

jämmerlichste; auch die auf dem folgenden Wagen gruppierten Brautjungfern und Nachbarinnen

beobachten eine ernste, verschämte Haltung, während die, auf dicken Ackergäulen nebenher

trollenden Bursche durch Hutschwenken und hier und dort ein schwerfälliges Juchhei ihre

Lustigkeit auszudrücken suchen, und zuweilen eine alte, blindgeladene Flinte knallen lassen. –

Erst vor der Pfarrkirche findet sich der Bräutigam mit seinem Gefolge ein, besteigt aber nach

der Trauung nicht den Wagen der Braut, sondern trabt als einziger Fußgänger nebenher, bis zur

Türe seines Hauses, wo die junge Frau von der Schwiegermutter empfangen, und mit einem »Gott

segne deinen Aus- und Eingang« feierlich über die Schwelle geleitet wird. – Lebt die Mutter

nicht mehr, so vertritt der Pfarrer ihre Stelle, oder, wenn er zufällig gegenwärtig ist, der

Gutsherr, was für eine sehr glückliche Vorbedeutung gehalten wird, die den Neuvermählten und

ihren Nachkommen den ungestörten Genuß des Hofes sichert, nach dem Spruche: »Wen die

Herrschaft einleitet, den leitet sie nicht wieder heraus.« – Während dieser Zeremonie schlüpft

der Bräutigam in seine Kammer, und erscheint alsbald im Kamisol, Zipfelmütze und

Küchenschürze. In diesem Aufzuge muß er an seinem Ehrentage den Gästen aufwarten, nimmt auch

keinen Teil am Hochzeitmahle, sondern steht, mit dem Teller unterm Arme, hinter der Braut, die

ihrerseits keinen Finger rührt, und sich wie eine Prinzessin bedienen läßt. – Nach Tische

beginnen auf der Tenne die althergebrachten Tänze: »Der halbe Mond«, »Der Schustertanz«,

»Hinten im Garten« – manche mit den anmutigsten Verschlingungen. – Das Orchester besteht aus

einer oder zwei Geigen und einer invaliden Baßgeige, die der Schweinehirt, oder Pferdeknecht

aus dem Stegreif streicht. – Ist das Publikum sehr musikliebend, so kommen noch wohl ein Paar

Topfdeckel hinzu, und eine Kornschwinge, die abwechselnd von den Gästen mit einem Spane aus

Leibeskräften wider den Strich gekratzt wird. – Nimmt man hiezu das Gebrüll und Kettengeklirr

des Viehes, das erschrocken an seinen Ständen stampft, so wird man zugeben, daß die

unerschütterliche Gravität der Tänzer mindestens nicht dem Mangel an aufregendem Geräusche

zuzuschreiben ist. – Hier und dort läßt wohl ein Bursche ein Juchhei los, was aber so einsam

klingt, wie ein Eulenschrei in einer Sturmnacht. – Bier wird mäßig getrunken, Branntwein noch

mäßiger, aber siedender Kaffee »zur Abkühlung« in ganzen Strömen, und mindestens sieben blanke

Zinnkessel sind in steter Bewegung. – Zwischen den Tänzen verschwindet die Braut von Zeit zu

Zeit, und kehrt allemal in einem andern Anzuge zurück, so viel ihr derer zu Gebote stehen, vom

Traustaate an, bis zum gewöhnlichen Sonntagsputze, in dem sie sich noch stattlich genug

ausnimmt, in der damastenen Kappe mit breiter Goldtresse, dem schweren Seidenhalstuche, und

einem so imposanten Körperumfange, als ihn mindestens vier Tuchröcke übereinander

hervorbringen können. – Sobald die Hängeuhr in der Küche Mitternacht geschlagen hat, sieht man

die Frauen sich von ihren Bänken erheben und miteinander flüstern; gleichzeitig drängt sich

das junge Volk zusammen, nimmt die Braut in seine Mitte, und beginnt einen äußerst künstlichen

Schneckentanz, dessen Zweck ist, in raschem Durcheinanderwimmeln immer eine vierfache Mauer um

die Braut zu erhalten, denn jetzt gilt’s den Kampf zwischen Ehe und Jungfrauschaft. – Sowie

die Frauen anrücken, wird der Tanz lebhafter, die Verschlingungen bunter, die Frauen suchen

von allen Seiten in den Kreis zu dringen, die Junggesellen durch vorgeschobene Paare sie

wegzudrängen; die Parteien erhitzen sich, immer rascher wirbelt die Musik, immer enger zieht

sich die Spirallinie, Arme und Kniee werden zu Hülfe genommen, die Bursche glühen wie Öfen,

die ehrwürdigen Matronen triefen von Schweiß, und man hat Beispiele, daß die Sonne über dem

unentschiedenen Kampfe aufgegangen ist; endlich hat eine Veteranin, die schon einige und

zwanzig Bräute in den Ehestand gezerrt hat, ihre Beute gepackt; plötzlich verstummt die Musik,

der Kreis stäubt auseinander, und alles strömt den Siegerinnen und der weinenden Braut nach,

die jetzt zum letzten Male umgekleidet und mit Anlegung der fraulichen Stirnbinde symbolisch

von ihrem Mädchentum geschieden wird, – ein Ehrendienst, was den (sogenannten) Nachbarinnen

zusteht, dem sich aber jede anwesende Ehefrau, die Gattin des Gutsherrn nicht ausgenommen,

durch irgendeine kleine Dienstleistung, Darreichung einer Nadel oder eines Bandes, anschließt.

– Dann erscheint die Braut noch einmal in reinlicher Hauskleidung und Hemdärmeln, gleichsam

eine bezwungene und fortan zum Dienen willige Brünhildis, greift aber dennoch nach ihres

Mannes bereitliegendem Hute, und setzt ihn auf; die Frauen tun desgleichen, und zwar jede den

Hut ihres eigenen Mannes, den er ihr selbst ehrerbietig reicht, und eine stattliche

Frauenmenuett beschließt die Feier und gibt zugleich die Vorbedeutung eines ehrenhaften,

fleißigen, friedlichen Ehestandes, in dem die Frau aber nie vergißt, daß sie am Hochzeittage

ihres Mannes Hut getragen. Noch bleibt den Gästen, bevor sie sich zerstreuen, eine seltsame

Aufgabe, – der Bräutigam ist nämlich während der Menuette unsichtbar geworden, – er hat sich

versteckt, offenbar aus Furcht vor der behuteten Braut, und das ganze Haus wird umgekehrt, ihn

zu suchen; man schaut in und unter die Betten, raschelt im Stroh und Heu umher, durchstöbert

sogar den Garten, bis endlich jemand in einem Winkel voll alten Gerümpels den Quast seiner

Zipfelmütze oder ein Endchen der Küchenschürze entdeckt, wo er dann sofort gefaßt, und mit

gleicher Gewalt und viel weniger Anstand als seine schöne Hälfte der Brautkammer zugeschleppt

wird. – Bei Begräbnissen fällt wenig Ungewöhnliches vor, außer daß der Tod eines Hausvaters

seinen Bienen angesagt werden muß, wenn nicht binnen Jahresfrist alle Stöcke abzehren und

versiechen sollen, weshalb, sobald der Verscheidende den letzten Odemzug getan, sofort der

Gefaßteste unter den Anwesenden an den Stand geht, an jeden Korb pocht und vernehmlich

spricht: »Einen Gruß von der Frau, der Herr ist tot«, worauf die Bienen sich christlich in ihr

Leid finden, und ihren Geschäften nach wie vor obliegen. Die Leichenwacht, die in Stille und

Gebet abgehalten wird, ist eine Pflicht jener entfernten Nachbarn, so wie das Leichenmahl ihr

Recht, und sie sorgen mit dafür, daß der Tote ein feines Hemd erhält, recht viele schwarze

Schleifen, und einen recht flimmernden Kranz und Strauß von Spiegeln, Rauschgold und

künstlichen Blumen, da er unfehlbar am jüngsten Tage in demselben Aufzuge erscheinen wird, wo

sie dann Lob und Tadel mit den Hinterlassenen zu teilen haben. – Der Münsterländer ist

überhaupt sehr abergläubisch, sein Aberglaube aber so harmlos, wie er selber. Von

Zauberkünsten weiß er nichts, von Hexen und bösen Geistern wenig, obwohl er sich sehr vor dem

Teufel fürchtet, jedoch meint, daß dieser wenig Veranlassung finde, im Münsterlande umzugehen.

– Die häufigen Gespenster in Moor, Heide und Wald sind arme Seelen aus dem Fegfeuer, deren

täglich in vielen tausend Rosenkränzen gedacht wird, und ohne Zweifel mit Nutzen, da man zu

bemerken glaubt, daß die »Sonntagsspinnerin« ihre blutigen Arme immer seltener aus dem

Gebüsche streckt, der »diebische Torfgräber« nicht halb so kläglich mehr im Moore ächzt und

vollends der »kopflose Geiger« seinen Sitz auf dem Waldstege gänzlich verlassen zu haben

scheint. – Von den ebenfalls häufigen Hausgeistern in Schlössern und großen Bauernhöfen denkt

man etwas unklar, aber auch nicht schlimm, und glaubt, daß mit ihrem völligen Verschwinden die

Familie des Besitzers aussterben oder verarmen werde. – Diese besitzen weder die häuslichen

Geschicklichkeiten, noch die Tücke anderer Kobolde, sondern sind einsamer, träumerischer

Natur, schreiten, wenn es dämmert, wie in tiefen Gedanken, langsam und schweigend, an

irgendeiner verspäteten Milchmagd oder einem Kinde vorüber, und sind ohne Zweifel echte

Münsterländer, da man kein Beispiel hat, daß sie jemanden beschädigt oder absichtlich

erschreckt hätten. Man unterscheidet sie in »Timphüte« und »Langhüte«. Die ersteren kleine,

runzliche Männchen, in altmodischer Tracht, mit eisgrauem Barte und dreieckigen Hütchen; die

andern übernatürlich lang und hager, mit langem Schlapphut, aber beide gleich wohlwollend, nur

daß der Timphut bestimmten Segen bringt, der Langhut dagegen nur Unglück zu verhüten sucht.

Zuweilen halten sie nur in den Umgebungen, den Alleen des Schlosses, dem Wald- und

Wiesengrunde des Hofes, ihre philosophischen Spaziergänge; gewöhnlich haben sie jedoch

außerdem einen Speicher oder eine wüste Bodenkammer inne, wo man sie zuweilen nachts auf und

abgehen, oder einen knarrenden Haspel langsam umdrehen hört. – Bei Feuerbrünsten hat man den

Hausgeist schon ernsthaft aus den Flammen schreiten und einen Feldweg einschlagen sehen, um

nie wiederzukehren, und es waren dann hundert gegen eins zu wetten, daß die Familie bei dem

Neubau in einige Verlegenheit und Schulden geraten werde.

Größere Aufmerksamkeit als dieses verdient das sogenannte »Vorgesicht«, ein bis zum Schauen

oder mindestens deutlichem Hören gesteigertes Ahndungsvermögen, ganz dem Secondsight der

Hochschotten ähnlich, und hier so gewöhnlich, daß, obwohl die Gabe als eine höchst

unglückliche eher geheimgehalten wird, man doch überall auf notorisch damit Behaftete trifft,

und im Grunde fast kein Eingeborner sich gänzlich davon freisprechen dürfte. – Der Vorschauer

(Vorgucker) im höheren Grade ist auch äußerlich kenntlich an seinem hellblonden Haare, dem

geisterhaften Blitze der wasserblauen Augen, und einer blassen oder überzarten Gesichtsfarbe;

übrigens ist er meistens gesund, und im gewöhnlichen Leben häufig beschränkt und ohne eine

Spur von Überspannung. – Seine Gabe überkömmt ihn zu jeder Tageszeit, am häufigsten jedoch in

Mondnächten, wo er plötzlich erwacht, und von fieberischer Unruhe ins Freie oder ans Fenster

getrieben wird; dieser Drang ist so stark, daß ihm kaum jemand widersteht, obwohl jeder weiß,

daß das Übel durch Nachgeben bis zum Unerträglichen, zum völligen Entbehren der Nachtruhe

gesteigert wird, wogegen fortgesetzter Widerstand es allmählich abnehmen, und endlich gänzlich

verschwinden läßt. – Der Vorschauer sieht Leichenzüge – lange Heereskolonnen und Kämpfe, – er

sieht deutlich den Pulverrauch und die Bewegungen der Fechtenden, beschreibt genau ihre

fremden Uniformen und Waffen, hört sogar Worte in fremder Sprache, die er verstümmelt

wiedergibt, und die vielleicht erst lange nach seinem Tode auf demselben Flecke wirklich

gesprochen werden. – Auch unbedeutende Begebenheiten muß der Vorschauer unter gleicher

Beängstigung sehen: z.B. einen Erntewagen, der nach vielleicht zwanzig Jahren auf diesem Hofe

umfallen wird; er beschreibt genau die Gestalt und Kleidung der jetzt noch ungebornen

Dienstboten, die ihn aufzurichten suchen; die Abzeichen des Fohlens oder Kalbes, das

erschreckt zur Seite springt, und in eine, jetzt noch nicht vorhandene Lehmgrube fällt etc. –

Napoleon grollte noch in der Kriegsschule zu Brienne mit seinem beengten Geschicke, als das

Volk schon von »silbernen Reitern« sprach, mit »silbernen Kugeln auf den Köpfen, von denen ein

langer, schwarzer Pferdeschweif« flattere, sowie von wunderlich aufgeputztem Gesindel, was auf

»Pferden wie Katzen« (ein üblicher Ausdruck für kleine, knollige Rosse) über Hecken und Zäune

fliegen, in der Hand eine lange Stange, mit eisernem Stachel daran. – Ein längst verstorbener

Gutsbesitzer hat viele dieser Gesichte verzeichnet, und es ist höchst anziehend, sie mit

manchem späteren entsprechenden Begebnisse zu vergleichen. – Der minder Begabte und nicht bis

zum Schauen Gesteigerte »hört« – er hört den dumpfen Hammerschlag auf dem Sargdeckel und das

Rollen des Leichenwagens, hört den Waffenlärm, das Wirbeln der Trommeln, das Trappeln der

Rosse, und den gleichförmigen Tritt der marschierenden Kolonnen. – Er hört das Geschrei der

Verunglückten, und an Tür oder Fensterladen das Anpochen desjenigen, der ihn oder seinen

Nachfolger zur Hülfe auffordern wird. – Der Nichtbegabte steht neben dem Vorschauer und ahndet

nichts, während die Pferde im Stalle ängstlich schnauben und schlagen, und der Hund,

jämmerlich heulend, mit eingeklemmtem Schweife seinem Herrn zwischen die Beine kriecht. – Die

Gabe soll sich jedoch übertragen, wenn ein Nebenstehender dem Vorgucker über die linke

Schulter sieht, wo er zwar für dieses Mal nichts bemerkt, fortan aber für den andern die

nächtliche Schau halten muß. – Wir sagen dieses fast ungern, da dieser Zusatz einem

unleugbaren und höchst merkwürdigen Phänomen den Stempel des Lächerlichen aufdrückt. – Wir

haben den Münsterländer früher furchtsam genannt, dennoch erträgt er den eben berührten

Verkehr mit der übersinnlichen Welt mit vieler Ruhe, wie überall seine Furchtsamkeit sich

nicht auf passive Zustände erstreckt. – Gänzlich abgeneigt, sich ungesetzlichen Handlungen

anzuschließen, kömmt ihm doch an Mut, ja Hartnäckigkeit, des Duldens für das, was ihm recht

scheint, keiner gleich, und ein geistreicher Mann verglich dieses Volk einmal mit den Hindus,

die, als man ihnen ihre religiösen und bürgerlichen Rechte schmälern wollte, sich zu vielen

Tausenden versammelten, und auf den Grund gehockt, mit verhüllten Häuptern, standhaft den

Hungertod erwarteten. – Dieser Vergleich hat sich mitunter als sehr treffend erwiesen.

Unter der französischen Regierung, wo Eltern und, nachdem diese ausgeplündert waren, auch

Geschwister mit ihren Habseligkeiten für diejenigen einstehen mußten, die sich der

Militärpflicht entzogen hatten, haben sich zuweilen alle Zweige eines Stammes, ohne Rücksicht

auf ihre unmündigen Kinder, zuerst bis zum letzten Heller exequieren, und dann bis aufs Hemde

auspfänden lassen, ohne daß es einem eingefallen wäre, dem Versteckten nur mit einem Worte den

Wunsch zu äußern, daß er aus seinem Bretterverschlage oder Heuschober hervorkriechen möge, und

so verhaßt, ja entsetzlich jedem damals der Kriegsdienst war, dem manche sogar durch

freiwillige Verstümmelung, z.B. Abhacken eines Fingers, zu entgehen suchten, so häufig trat

doch der Fall ein, daß ein Bruder sich für den andern stellte, wenn er dachte, dieser werde

den Strapazen erliegen, er aber möge noch mit dem Leben davonkommen. – Kurz, der Münsterländer

besitzt den Mut der Liebe, und einer, unter dem Schein des Phlegmas versteckten,

schwärmerischen Religiösität, so wie er überhaupt durch Eigenschaften des Herzens ersetzt, was

ihm an Geistesschärfe abgeht, und der Fremde verläßt mit Teilnahme ein Volk, was ihn zwar

vielleicht mitunter langweilte, dessen häusliche Tugenden ihm aber immer Achtung einflößt, und

zuweilen ihn tief gerührt haben. – Müssen wir noch hinzufügen, daß alles bisher Gesagte nur

das Landvolk angeht? – ich glaube »nein«, Städter sind sich ja überall gleich, Kleinstädter

wie Großstädter. – Oder daß alle diese Zustände am Verlöschen sind, und nach vierzig Jahren

vielleicht wenig mehr davon anzutreffen sein möchte? – Auch leider »nein«, es geht ja überall

so!

Annette von Droste-Hülshoff – Ledwina

Annette von Droste-Hülshoff

Ledwina

Der Strom zog still seinen Weg und konnte keine der Blumen und Zweige auf seinem Spiegel

mitnehmen; nur eine Gestalt, wie die einer jungen Silberlinde, schwamm langsam seine Fluten

hinauf. Es war das schöne bleiche Bild Ledwinens, die von einem weiten Spaziergange an seinen

Ufern heimkehrte. Wenn sie zuweilen halb ermüdet, halb sinkend still stand, dann konnte er

keine Strahlen stehlen, auch keine hellen oder milderen Farbenspiele von ihrer jungen Gestalt,

denn sie war so farblos wie eine Schneeblume, und selbst ihre lieben Augen waren wie ein paar

verblichne Vergißmeinnicht, denen nur Treue geblieben, aber kein Glanz.

»Müde, müde«, sagte sie leise und ließ sich langsam nieder in das hohe, frischgrüne Ufergras,

daß es sie nun umstand, wie die grüne Einfassung ein Lilienbeet. Eine angenehme Frische zog

durch alle ihre Glieder, daß sie die Augen vor Lust schloß, als ein krampfhafter Schmerz sie

auftrieb. Im Nu stand sie aufrecht, die eine Hand fest auf die kranke Brust gepreßt, und

schüttelte unwillig ob sich das blonde Haupt, wandte sich rasch wie zum Fortgehn und kehrte

dann fast wie trotzend zurück; sie trat dicht an das Ufer und schaute anfangs hell, dann

träumend in den Strom.

Ein großer, aus dem Flusse ragender Stein sprühte bunte Tropfen um sich, und die Wellchen

strömten und brachen sich so zierlich, daß das Wasser hier wie mit einem Netze überzogen

schien und die Blätter der am Ufer neigenden Zweige im Spiegel wie grüne Schmetterlinge

davonflatterten. Ledwinens Augen aber ruhten aus auf ihrer eignen Gestalt, wie die Locken von

ihrem Haupte fielen und forttrieben, ihr Gewand zerriß und die weißen Finger sich ablösten und

verschwammen, und wie der Krampf wieder sich leise zu lösen begann, da wurde es ihr, als ob

sie wie tot sei und wie die Verwesung lösend durch ihre Glieder fresse und jedes Element das

Seinige mit sich fortreiße.

»Dummes Zeug!« sagte sie, sich schnell besinnend, und bog mit einem scharfen Zug in den milden

Mienen auf die dicht am Flusse hinlaufende Heerstraße, indem sie das Auge durch das weite,

leere Feld nach heitern Gegenständen aussandte. Ein wiederholtes Pfeifen vom Strome her blieb

ihr unbemerkt, und als daher bald darauf ein großer schwarzer Hund mit vorgestrecktem Kopfe

quer über den Anger grade auf sie einrannte, flüchtete sie, von einem Schrecken ergriffen, mit

einem Schrei auf den Strom zu und, da das Tier ihr auf der Ferse folgte, mit ebnen Füßen

hinein. »Pst, Sultan!« rief es neben ihr, und zugleich fühlte sie sich von zwei unzarten

Händen gefaßt und ans Ufer gesetzt. Sie wandte sich noch ganz betäubt und verschreckt um. Vor

ihr stand ein großer vierschrötiger Mann, den sie an einem Hammel, der ihm wie ein Palatin um

den Hals hing, als einen Fleischer erkannte. Beide betrachteten sich eine Weile, indem das

Gesicht des Mannes in die offenbarste, mit Verdruß gemischte Ironie überging.

»Was springt Sie denn so?« stieß er endlich heraus.

»Ach Gott«, sagte Ledwina ganz beschämt, »ich dachte, das Tier wäre toll.«

»Wer? mein Hund?« sagte der Kerl beleidigt, »der ist ja nicht mal bös, der hat niemals keinen

gebissen.«

Ledwina sah auf den Hund, der nun ganz verständig wie ein Sphinx neben seinem Herrn saß und

zuhörte.

»Ist Sie nun recht naß?« fing der Fleischer an.

»Nicht sehr«, erwiderte Ledwina, indes der Mann mit seinem Stabe die Tiefe des Wassers neben

dem großen Steine maß, auf den Ledwina bei ihrer Wasserreise geraten. »Aber ganz miserabel ist

Ihr, das sehe ich wohl«, sagte er dann, »ich will nur sehen, daß ich Sie in das Haus dort

bringe.«

In der Tat hatte Ledwina seines Beistandes sehr nötig, und sie erreichte nur mühsam das etwa

hundert Schritte vom Flusse entlegene Bauernhaus, indes ihr Führer sie beständig von den

Kennzeichen der tollen Hunde unterhielt.

Die alte Bäurin schob schnell ihren Rocken zurück, als Ledwina mit den Worten: »Macht Feuer,

Lisbeth, ich habe mich erkältet und erschreckt« in die Tür trat. Der Fleischer hob sogleich

die Geschichte des Abenteuers an.

»Macht Feuer!« wiederholte Ledwina, »ich habe mir im Sandloche nasse Füße geholt.«

Der Retter wollte die Sache mit der Mamsell gefährlicher machen.

»Es ist unser gnädiges Fräulein«, sagte die Alte beruhigt, legte Holz zum Feuer, stellte einen

Stuhl daneben, rückte ein Kissen darauf zurecht und ging, um in dem Keller ein Glas frischer

Milch zu holen.

Der Fleischer, in seiner besten Rede verlassen, rief ihr verdrießlich nach: »Einen Schnaps,

Wirtin!« – »Wir verschenken keinen Schnaps«, sagte die Frau in der Kellertür; »ein Glas Milch

könnt Ihr für einmal umsonst kriegen.«

»Mamsell«, hub der Fleischer von neuem an, »ich sage aber, sie hätte wohl vertrinken können.«

Ledwina mußte doch lächeln. »Wenn ich mich auf den Mund gelegt hätte«, antwortete sie vor sich

hin und suchte in ihrem Körbchen nach der Börse. »Sie ist auch nicht besonders bei Kräften«,

erwiderte er, und über Ledwinens Gesicht flog ein bittrer Zug, indem sie ihm ein Trinkgeld

reichte.

»Gott bewahre«, erhub er seine Stimme, »einem Menschen das Leben retten, das ist nicht zu

bezahlen«, wobei er beinah tat, als wollte er das Dargebotene etwas weniges abwehren. »Ihr

habt mich ja auch hieher geleitet«, sprach Ledwina fast verdrießlich. »Ja, wenn Sie das

meint«, sagte der Retter und faßte geschwind zu, denn da Ledwina sich nach ihrem Körbchen

neigte, meinte er, sie gedächte das Gebotne wieder einzustecken.

Die Bäurin brachte die Milch. Der Fleischer brummte: »Wenn es noch ein gut Glas Bier wäre.« Er

nahm jedoch vorlieb, sprach gegen die Wirtin noch allerhand von bezahlen und gut bezahlen

können und zog endlich ab.

»So geht es oft den ganzen Tag«, sprach die Bäurin zu Ledwina, der es ganz behaglich am Feuer

wurde, »wenn wir allerhand Leute im Hause leiden wollten, der Zulauf wäre groß genug für das

beste Wirtshaus. Die Leute denken: Geld regiert die Welt. Unser Klemens muß oft des Nachts aus

dem Bette und führen die Reisenden beim Grafenloche vorbei. Das ist ihm auch nicht zu gut,

aber man mag die Leute doch nicht so ins Wasser stürzen lassen.« – »Jawohl«, sagte Ledwina,

schon halb im Schlummer. »Die gnädige Fräulein ist schläfrig«, sprach die Alte lächelnd, »ich

will noch ein Küssen holen.« – »Bewahre«, rief Ledwina schnell, aus ihrem Stuhle auffahrend,

aber schon war die alte Lisbeth wieder da mit zwei Küssen, deren eines sie auf den Sims neben

den Herd legte, das andre auf die Stuhllehne. Ledwine, die sich aus einer Art Krankentrotzes

selten etwas zugute tat, lachte ordentlich vor Vergnügen, da es ihr so bequem wurde. »Erzählt

mir etwas von vorigen Zeiten, da Ihr auf dem Schlosse wohntet«, sagte sie freundlich, und die

Frau hub an zu erzählen von dem seligen Großpapa, und wie der Turm noch gestanden, der vor

vielen Jahren niedergebrannt, und immer tiefer neigte sich Ledwinens Haupt, und nur deutlicher

gestaltete sich, was sie noch jezuweilen von den Worten der Erzählenden vernahm, daß sie den

Großvater sah wie ein kleines, graues Männchen, gar freundlich, tot war er freilich, aber er

schoß doch noch mit seiner Vogelflinte nach den Raben im alten Turme, es knallte gar nicht,

aber sie fielen recht gut – und nur leiser und leiser wurden die Laute der Alten, die von Zeit

zu Zeit ihr Fräulein hinter dem Rocken hervor betrachtete, bis sie endlich auch ganz

einschliefen. Dann stand sie sachte auf, trippelte auf den Zehen zu Ledwina und beugte sich

langsam über sie, ihren Schlummer zu prüfen. Das war rührend zu sehn, wie das ernste, alte

Gesicht der Bäurin, über dem jungen, bleichen der Herrin stand, das eine in stiller

Traumeswehmut, das andre in den Tiefen des unabwendbaren nahen Vergehens für beide, die reife,

lebenssatte Ähre über der zarten, sonnenversengten Blüte. Dann hob sie sich, holte still

Flachs aus einem Wandschranke und begann ihn sehr leise zu bürsten; aber ihre Züge waren

ernster wie vorhin und doch sehr weich.

So dauerte es eine Weile, als die Tür ziemlich unsanft geöffnet ward und mit den Worten:

»Mutter, hier bring’ ich Euch einen neuen Stuhl«, ihr Sohn mit ein’gem polternden Anstande

einen im geheimen für sie verfertigten Spinnstuhl hereinbrachte; »der andre ist Euch ja doch

zu hoch«, fuhr er fort. Die Mutter winkte unwillig mit der Hand, indem sie auf Ledwina

deutete, aber diese war schon erwacht und sah ganz hell und erquickt um sich. »Ja, so wollt’

ich dich –!« fuhr die Alte heraus. »Ich habe sehr sanft geschlafen bei Eurem Feuer«, sagte das

Fräulein sehr freundlich, »es ist aber doch gut, daß ich geweckt bin, sonst hätt’ ich

nachtwandeln müssen; ich meine«, fuhr sie lächelnd fort, da die beiden sie fragend anblickten,

»wenn ich bei Tage ruhe, so habe ich in der Nacht keinen Schlaf; da stehe ich dann wohl

zuweilen auf und gehe in meiner Stube umher; es ist nicht zum besten, aber was soll man mit

der langen Nacht machen? Es wird bald fünf sein, nun wird’s meine Zeit zu gehn«, und wie sie

durch die Tür ging: »Den Stuhl hat wohl Euer Sohn gemacht, der ist doch recht geschickt.« –

»Auch bisweilen recht ungeschickt«, sprach die Alte, der der Ärger noch nicht aus den Gliedern

wollte, aber schon war Ledwine wie eine Gazelle den Fluß hinauf, denn sie dachte nur dann an

ihre arme kranke Brust, wenn heftige Schmerzen sie daran erinnerten, und dann war ihr dieses

traurige Hüten, dieses erbärmliche, sorgfältige Leben, wo der Körper den Geist regiert, bis er

siech und armselig wird wie er selber, so verhaßt, daß sie gern diese ganze in Funken zu

verglimmende Lebenskraft in einem einzigen recht lohhellen Tage hätte ausflammen lassen. Ihr

frommes Gemüt behielt auch hier die Oberhand über den furchtbar durchbrennenden Geist, aber

noch nie hat wohl ein Märtyrer Gott sein Leben reiner und schmerzlicher geopfert wie Ledwina

den schöneren Tod in der eignen Geistesflamme.

*

Im hellen Wohnzimmer mußte es etwas anders sein wie immer, da Ledwina eintrat, denn sie ward

gar nicht gescholten, die gewöhnliche bittre Frucht der ihr so süßen, aber zerrüttenden

Streifereien. Schwester Therese hatte freilich genug nach einer entfallenen Nähnadel zu

fischen, aber auch die Mutter sagte nichts, strickte still fort und winkte stark mit den

Augenlidern; das war immer ein besonderes Zeichen, dann war sie erzürnt oder gerührt oder gar

verlegen, denn diese kluge Frau, der ein allgemein beachtetes und oft verwickeltes Leben eine

völlige Herrschaft über alle unpassende Ausbrüche innerer Bewegungen in Handlungen und Worten

gesichert hatte, wußte selbst nicht, wie dünn der Schleier ihres Antlitzes über die Seele

hing, und es bedurfte für gesunde, ob auch noch ungeübte Augen nur sehr geringer

Bekanntschaft, um sie oft besser zu verstehen, als sie sich selbst in ihrer vielfachen

Zerstreuung durch Haus und Kinder. Ledwina hätte sich gern ganz still der Gesellschaft

eingeflickt, aber ihre Arbeit lag in der Schublade des Tisches, vor dem die Mutter saß. Das

war schlimm; sie setzte sich indes ganz sachte in den Sofa, der an der Schattenseite des

Zimmers stand, und sagte kein Wort. Die kleine Marie lief hinein und mit einem lauten, etwas

albernen Gelächter auf Ledwina los: »Ledwine, weißt du schon die ganz berühmte Neuigkeit?«

Ledwine verfärbte sich wie erschreckt in unnatürlich gespannter Erwartung, und die Mutter

sagte rasch: »Marie, hol mir mein Schnupftuch, ich habe es im Garten bei den Tannen liegen

lassen!« Marie drehte sich auf dem Fuße um, sagte aber noch: »Wenn ich wiederkomme, weißt du

es längst, denn Theresen springt das Herz, wenn sie es nicht sagt.« Sie lachte laut auf und

rannte etwas tölpisch hinaus.

»Ihr müßt euch mit dem Kinde in acht nehmen«, sagte die Mutter ernst, »Kinderohren sind

bekanntlich die schärfsten und wir Erwachsnen oft wahrhaft ruchlos in dieser Hinsicht; bei

Marien ist es zum Glück nur Impertinenz, kein erwachendes vorlautes Gefühl, was im besten

Falle die Seele leerbrennt. – Karl«, sie wandte sich zu Ledwinen, »hat heute Briefe erhalten,

woraus unter andrem erhellt, daß einer seiner Universitätsbekannten ihn vielleicht

durchreisend besuchen wird; du hast ihn wohl nennen hören, Römfeld, der sogenannte schöne

Graf. Karl hat zuweilen allerhand von ihm erzählt, was ganz romantisch lautete, und ihr seid

unvorsichtig genug gewesen, euch mit ihm zu necken; ich lasse so etwas passieren, obgleich es

überall nicht viel heißt. Ich denke, wenn das Böse nur ausbleibt, so muß man sich zuweilen in

das Unnütze in Gottes Namen schicken. Ich muß gestehn, daß ich alsdann so wenig an Marien

gedacht habe wie ihr, aber vorausgesetzt, daß dergleichen dunkle Dinge ihrem noch höchst

kindlichen Gemüte keinen weiteren Eindruck hinterlassen, wie soll man ihr beibringen, daß sie

derlei Gespräche nicht wiederholen dürfe, ohne eben diese gleichen Eindrücke fast gewaltsam zu

befördern, denn ihr wißt, sie wäre kindisch und lebhaft genug, den Grafen mit seiner eignen

Biographie zu regalieren.«

»Man muß ihr sagen«, versetzte Karl, der immer die Stube auf und ab maß, »daß sie überhaupt

nichts weiter bringt; das Klatschen ist an und für sich garstig genug.« – »Weißt du das einem

so lebhaften Kinde ohne Arg beizubringen?« erwiderte die Mutter scharf. »Wir haben doch nicht

geklatscht, wie wir klein waren«, sagte Karl. Die Mutter stockte einen Augenblick und sagte

dann mit schonender Stimme, wie ungern: »Sie ist vielleicht auch lebhafter wie ihr alle.« Karl

ward rot und sagte halb vor sich hin: »Auch ziemlich unartig bisweilen.« – »Etwas unartig sind

alle Kinder in dem Alter«, versetzte die Mutter streng, »und zudem gehorcht sie mir aufs Wort;

ist es mit andren nicht so, so mag die Schuld auf beiden Seiten stehn.«

Beide schwiegen verstimmt, und eine drückende Pause entstand. »Von wem hast du Briefe?« hub

Ledwina leise und ängstlich an. »Es ist nur einer«, sagte Karl, »von Steinheim; er hat eine

gute Anstellung bekommen zu Dresden und wird bei seiner Hinreise hier vorsprechen, da er über

Göttingen reist, um dem Studentenleben noch einmal ein ewiges, lustiges Valet zu bringen, und

Römfeld, der aus Dresden ist, eben von dort abgeht, so reisen sie zusammen. Steinheim scheint

der ungebetene Gast schon auf dem Herzen zu liegen.« Dies letztere sagte er halb zu der Mutter

gewandt, die mit der möglichsten und angenehmsten Gastfreiheit sich jedoch das Recht der

Einladung immer völlig vorbehielt.

»Wir kennen ihn ja schon«, sagte diese und dann schnell, ehe Karl seine Antwort, daß diese

Angst nicht Steinheim selbst, sondern Römfelden meine, anbringen konnte, »Ledwina, wo bist du

diesen Nachmittag gewesen?«

»Am Flusse hinunter«, entgegnete Ledwina.

»Du bist lange geblieben«, versetzte die Mutter.

»Ich habe lange«, erwiderte Ledwina, »bei der alten Lisbeth zugebracht; ich bin sehr gern

dort.«

»Es sind auch gute Leute«, sagte die Mutter; »etwas stolz, aber das schadet nicht in ihrem

Stande, es erhält sie ehrlich in jeder Hinsicht.«

»Es hat mich recht geschmerzt«, sprach Karl, »unser altes Domestikeninventarium fast ganz

zerstört zu finden.«

»Mich auch«, sagte die Mutter lebhaft, »ich wollte sie gern aus dem Grabe heben, und wenn ich

statt dessen ihren Sarg mit Golde füllen müßte. Wir haben sie so oft in freilich harmlosem

Spotte das Fideikommiß genannt, aber wahrlich, solche Leute sind nicht sowohl unserer Treue

von Gott vertraut wie wir der ihrigen, und nächst dem Schutzengel gibt es keine frömmeren

Hüter und nächst der Elternliebe keine reinere Neigung als die stille und innige Glut solcher

alten Getreuen gegen den Stamm, auf den sie einmal geimpft, worin alle andren Wünsche und

Neigungen, selbst die für und zu den eignen Angehörigen haben zerschmelzen müssen.«

Die Frau von Brenkfeld war gegen das Ende ihrer Worte sehr gerührt. Ihre Stimme war fest, aber

das leise Spiel der schönsten Gefühle in ihren ernsten Zügen gab ihnen eine unbeschreibliche

Anmut. Ledwina hatte währenddem ihre Mutter unablässig betrachtet und war bleich geworden, als

Zeichen, daß ein Gedanke sie ergriff.

»Ja«, sagte sie nun sehr langsam, als würden ihre Sinne erst allmählich unter dem Reden

geboren, »das ist wahr, wir sind doch Geschwister, aber ich bin leider gewiß, daß wir uns

nicht mit dem raschen, unerschütterlichen Entschlusse, der keine Wahl kennt, füreinander

aufzuopfern vermöchten, wie das Leben getreuer Diener uns so unzählige Beispiele gibt.«

Karl sah etwas quer nach ihr hinüber, und die liebe Therese reichte ihr versichernd die Hand,

und beider Augen blickten sanft ineinander. Ledwina sagte fest: »Ja, Therese, es ist doch so,

aber wir sind darum nicht schlechter; die Alten sind nur besser.«

»Dafür ist es auch Dienertreue«, hub Karl an, »und eine ganze besondere Sorte, ohngefähr wie

die Liebe gegen das Königshaus, dem sich auch jeder freudig opfert, ob auch die Äste gegen den

schönen, alten Stamme zuweilen recht dürr oder siech abstehen; mir sind indes alte Leute immer

merkwürdig, und ich rede vor allem gern mit ihnen. Es ist mir seltsam, eine ganze in ihren

Handlungen meistens unbedeutende Generation lange nach ihrem schon vergeßnen Tode in ihrer oft

so bedeutenden Persönlichkeit noch in diesen paar grauen verfallenden Denkmalen fortleben zu

sehn, nicht zu gedenken, wenn man so glücklich ist, das lebende Monument irgendeines großen

Geistes vergangener Zeit anzutreffen. Mir sind solche kleine Gemälde aus freier Hand immer

lieber wie die schönste Galerie berühmter Biographien.«

»Mir scheint auch«, sagte Therese, »als ob die Lieblingsfehler der alten Leute fast wie die

der Kinder zwar oft belästigend, aber doch im Grunde milder oder gleichsam oberflächlicher

wären wie die der Jugend. Mangel an Rücksicht auf die Bequemlichkeit anderer ist das erste,

was Alte durch allgemeine Sorgfalt und die bittre Vergleichung eigner Schwäche mit der

Jugendkraft der Umgebung verleitet, annehmen, die Wurzel alles Fatalen, eine kleine Sünde,

aber ein großes Leid für andere.«

»Das letztere ist wahr«, erwiderte Karl, »ohne das erstere zu begründen. Ich hingegen habe oft

manche Jugendfehler im Alter in einer Steigerung und vorzüglich wahrhaft unförmlicher

Versteinerung wiedergefunden, die für mich bei dieser Nähe des Grabes eine der greulichsten

Erscheinungen bleibt.«

Die Frau von Brenkfeld, noch aus der guten Zeit, wo man nicht nur die Eltern, sondern auch das

Alter ehrte, eine Zeit, jetzt von dieser Ansicht fast so spurlos verschwunden wie die

antediluvianische, rückte mit dem Stuhle.

Karl fuhr arglos deklamierend fort: »Bei den Vornehmen Ehrgeiz, dem man so leicht um des

Großen willen das etwa nicht Gute vergibt, als die empörendste, ruchloseste Ehrsucht, bei dem

Mittelstande die halb belachte, halb belobte Sparsamkeit als der greuliche Geiz, über dem man

nicht weiß, ob man mit Demokrit lachen oder mit Heraklit weinen soll, der bei den Geringen oft

angenehme Leichtsinn als die entsetzlichste Gefühllosigkeit und Nichtachtung des sonst

Nächsten und Liebsten, und oft alles zusammen in allen Ständen; und wie sie überhaupt selten

kindlich und gewöhnlich nur kindisch reden, so sind sie auch zuweilen kindisch und gemein vor

lauter Maliziösität.«

Er fing wieder an, heftiger auf und ab zu gehen.

»Alte Leute sind gut«, sagte Marie, die wieder neben der Mutter saß und ganz ordentlich

strickte, und Frau von Brenkfeld mußte mitten aus ihrem gereizten Gefühle beinahe lachen, da

nach der vorzeitigen Berechnungsart der Kinder diese Verteidigung ihr galt. »Ihr könnt euch

freuen«, sagte sie, »nicht vor dreißig Jahren jung gewesen zu sein, da wurden die Leute im

Verhältnis zu ihren Eltern nie groß. Widerspruch von der einen Seite gab es in der Ordnung gar

nicht, und nur selten dargelegte Gründe von der andren.«

»Es ist schlimm genug«, sagte Karl mit weicher Stimme, »daß es nun im Durchschnitt anders ist.

Der Gehorsam gegen die Eltern ist ein Naturgesetz und beinah so kostbar als das Gewissen. Ich

bin überzeugt, daß die Wurzel fast aller jetzt grassierenden moralischen Übel in der

Vernachlässigung desselben steht. Der Mensch ist zu vielem fähig und geneigt, sobald er es

auch noch so anständig mit Füßen tritt. Es ist etwas Seltsames und Rührendes um ein

Naturgesetz.« »Und zudem«, sagte Therese, »gehorchen muß der Mensch noch irgend jemanden außer

Gott, geistlich oder weltlich, das erhält ihn weich und christlich.« – »Ich glaube«, fügte

Ledwina hinzu, »daß, wenn das, was Karl vorhin über die Alten sagte, einigen Grund hat, er

gewiß in dem gänzlichen Mangel an einem Gegenstande des Gehorsams zu suchen ist; den gegen den

Regenten üben sie, aber ohne ihn zu fühlen, da man ihnen gewöhnlich alle Geschäfte abnimmt.« –

»Großenteils wahr«, versetzte Karl, »doch ist hier die Ehrsucht auszunehmen« – und dann

schnell: »Nota bene, der alte Franz ist ja tot; wie ist der zu Tode gekommen?« – »An einem

Brustfieber«, entgegnete Therese, und Ledwina, deren Gesicht wieder ein weißer Flor überzog,

setzte mit leiser Stimme hinzu: »Er hat sich erkältet, da er mir im vorigen Winter eine Bahn

durch den Schnee fegen wollte.«

Sie stand auf und trat an eine im Schatten stehende Kommode, als ob sie etwas suche, denn sie

fühlte, daß die Tropfen, die so leicht in ihre Augen traten, ihnen diesmal zu oschwer würden.

»Da wolltest du hundert Jahr alt werden«, lachte Marie, »denk mal, Karl, Ledwina meinte, sie

wollte hundert Jahr alt werden, wenn sie alle Tage spazierenging; das hat der alte Nobst aus

dem Kinderfreunde auch getan.«

Die Mutter sagte, als habe sie Ledwinens Worte nicht bemerkt: »Er war durch den Schnee nach

Emdorf gewesen.«

»Er ist alt genug geworden«, sagte Karl, »ich glaube, er war schon über achtzig, so alt werd’

ich nicht.«

Ledwina beugte indes tief verletzt über eine geöffnete Lade. Es war, als wolle man ihr das

herzzerreißende, aber teure Geschenk dieses geopferten Lebens entreißen, und sie hielt es fest

an sich gepreßt. In Wahrheit ließ die tödliche Krankheit dieses treuen Mannes, des Gatten der

alten Lisbeth, viele Gründe zu, wie dies bei dem Ableben sehr alter Leute fast immer der Fall,

und deshalb suchte die Frau von Brenkfeld mit jener beliebten, aber falschen Schonung, die das

Herz verletzt, statt es zu heilen, und empört, statt es zu rühren, jenem wahrscheinlichsten

Grunde seine eigentliche Heiligkeit zu stehlen und ihm nur die Glorie des letzten Zeichens der

Anhänglichkeit zu lassen.

Marie war indes zu Ledwinen hingelaufen und quälte sie durch die unter Lachen immer

wiederholte Frage: »Ledwina, du bist wohl recht bange vor dem Tode? Wie alt möchtest du wohl

werden, Ledwina?«

Ledwina, die sich in ihrer Rührung noch beachteter glaubte, wie sie war, wollte gern

antworten, aber sie fürchtete den zitternden Laut ihrer Stimme; sie beugte sich von einer

Seite zur andren, indes das unter ihren Armen durchgeschlüpfte und nun vor ihr an die Lade

gepreßte Kind unter ewiger Wiederholung seiner Fragen und lauten Kichern ihr immer in die

Augen sah. Endlich sagte sie ziemlich gefaßt und in der Anstrengung lauter wie gewöhnlich:

»Ich fürchte mich etwas vor dem Tode, wie ich glaube, daß fast alle Menschen es tun; denn das

Gegenteil ist gegen oder über die Natur. Im ersten Falle möcht’ ich mir es nicht wünschen, und

im zweiten ist es nur in einem sehr langen oder sehr frommen Leben zu erreichen.« Die Kleine

kroch wieder durch und sprang lachend zu ihrem Stuhle.

Auch Ledwina hatte sich unter dem Reden ermutigt und kehrte ziemlich frei zu ihrem Sofa. Karl,

für den, sobald er seine verlangte Auskunft hatte, das übrige Gespräch meistens tot war, indem

er für sich fortspann, stand nun still und sagte: »Der alte Kerl war ordentlich ein Philosoph;

er hätte unsren Gelehrten können zu schaffen machen. Ich habe nun drei Jahre studiert, und

unsere Professoren laufen doch den ganzen Tag wie Diogenes mit der Laterne nach unnützen

Fragen, aber so spitzfindige sind mir noch selten vorgekommen, wie das alte Genie aus den

Ecken zu bringen wußte. Er hatte auch von sich selbst die Klarinette spielen gelernt.« – »Die

hat er geblasen, da er noch jung war«, fiel Marie ein. Karl drehte die Pfeife ungeduldig in

den Händen und fuhr dann schnell fort: »Was aber lächerlich war, so wußte er auch auf alles

Antworten, und die waren ihm immer gut genug, obgleich der Scharfsinn der Antwort nie im

Verhältnis zu dem der Frage stand. Der Hochmut legt doch seine Eier in alle Nester.«

»Der alte Franz war deinem seligen Vater sehr lieb«, sagte Frau von Brenkfeld sanft, aber

ernst. Karl antwortete ganz arglos: »Ja, er ist ja, den Unterricht abgerechnet, fast mit ihm

erzogen, das hat ihm auch den Schwung gegeben.« Dann fuhr er von selbst erwacht und mit einem

seltnen, zarten Ausdrucke in den Mienen fort: »Wenn er so erzählte, wie sie zusammen heimlich

das Rauchen trieben aus gehöhlten Kastanien und sich treulich beistanden in Schuld und Strafe,

dann ist mir immer ganz wunderlich gewesen; wahrhaftig, es ist mir manche liebe Stunde in dem

Manne gestorben.«

»Mir auch«, sagte die Mutter und winkte die Tränen heftig zurück, »die alte Lisbeth ist auch

seitdem ganz kümmerlich geworden.«

»Es ist überhaupt etwas Kurioses und meist Unangenehmes um die Witwen«, versetzte Karl, wieder

abgeleitet, »besonders, solange die Kinder minorenn sind.« – »Was ist das, minorenn?« fiel

Marie ein: »Meistens fehlt ihnen die Kraft, und auf allen Fall nehmen ihnen die Augen der

Welt, denen sie immer ein Splitter sind, die Macht und die Herrlichkeit; man sieht sie die an

Verbrechen grenzendsten Härten gegen Schuldner ausüben, alles per Pflicht. Das geht nun wohl

nicht anders, aber es läßt gewöhnlich einige Verhärtungen. Das Regieren tut überall keinem

Weibe gut.«

»Witwen sind gut«, sagte Marie beleidigt, und Karl, der die Beziehung nicht faßte, fuhr auf:

»Kinder auch, wenn sie das Maul halten«, und fuhr dann mit einem Blick auf seine Mutter im

doppelten Schrecken zusammen. Frau von Brenkfeld kämpfte gewaltsam gegen eine mehr wehmütige

als erzürnte Empfindung, die sie für Unrecht hielt, da Karl im ganzen recht und gewiß arglos

geredet hatte, aber daß sie das Grelle jenes Verhältnisses, dem sie, bei den durch die

Gutmütigkeit ihres verstorbenen Gatten verwirrten Vermögensumständen, unter den härtesten

äußeren und inneren Kämpfen acht Jahre ihres Lebens ihre ganze Gesundheit und oft ihre

heiligste Empfindung hatte opfern müssen, eben von jenem so scharf und wie verurteilend mußte

auffassen hören, für den sie vor allem freudig geopfert hatte, das warf eine Wolke von Trauer

und Verlassenheit in ihre Seele, die sie durch alle Strahlen des Gehorsams und der Liebe ihrer

Kinder nicht zu zerstreuen vermochte. Eben ihr war der Witwenschleier aus einem Trauerflor zu

einem Bleimantel geworden, der fast sogar die Ehre niedergebeugt hätte, da ihr Gatte durch

unverhältnismäßige Schuldbeträge die Leute nach seinem Tode zugrunde richtete, denen er bei

seinem Leben gern helfen wollte. Er hatte den Segen mit sich genommen und ließ der

Vormundschaft und seiner bedrängten Witwe den Fluch. Zudem hing ihr sonst starkes Herz seit

ein’ger Zeit mit großer Schwäche an Marien, dem einzigen ihrer Kinder, dem sie alles in allem

war, indes die Herzen der übrigen sich stark an die fremden Götzen zu hängen begannen. Im

Verhältnis zu ihren Töchtern war dies Gefühl minder stechend gewesen, da eine vielseitige und

gewandte Weltkenntnis von seiten der Mutter und ein unbedingter Gehorsam von seiten der Kinder

ausglichen, was Ledwina an Tiefsinn und Zartheit und Therese an klarer und besonnener

Auffassung voraushaben mochten, aber die Zurückkunft Karls, den ihr die Universität nach

seiner persönlichen Empfänglichkeit völlig ausgebildet, aber außerdem oder vielleicht deshalb

etwas überreif und überfrei wiedergab, war ihr aus einem Jubiläum der Witwenherrschaft zu der

beklemmten Leichenfeier derselben geworden, obschon nur in der innren Überzeugung, da Karl

jetzt aus Pflicht und Vorsatz das zu sein strebte, wozu ihn früher die scheuste Ehrfurcht

gemacht hatte; aber eben dieses immer durchscheinende Streben, dies öftere Mißlingen durch

Mißverstehn, weil die scharfe angstvolle Beachtung des Kindes fehlte, dies seitdem offenbare

Zusammenhalten und Einanderaushelfen der Geschwister sagte ihr deutlich, wie locker die Krone

auf ihrem Haupte stehe, nur gehalten durch ein einsicht-, aber pflichtvolles Ministerium.

Karln hatte sie als eine üppige, aber zarte Treibhauspflanze unter Tränen, Sorgen und Segen in

die freie Luft gesendet, und sie konnte sich nicht bergen, daß, so sie ihn jetzt ohne eins von

allen entließ, er nur den letzteren vermissen würde, und auch dies nur in Überlegung und

Religiosität, nicht in jenem scheuen frommen Gefühle, was sich in der Welt ohne den

mütterlichen Segen wie zwischen reißenden Tieren dünkt. Marien duldete er offenbar nur in

Rücksicht ihrer, und sein gereiztes Gemüt mußte gerade bei einer Veranlassung hervorbrechen,

wo sie ihr fast wie das einzige ihrige Kind erschien, und doch konnte sie eben hier ohne die

äußerste Taktlosigkeit nichts sagen. Karl begriff ihre Gefühle auch jetzt nur so im groben in

der ersten Entstehung und folgte ihnen gar nicht; er ging auf und ab, rauchte und war noch

etwas verdutzt, aber völlig ruhig. Ledwina hätte wohl alles dieses am empfindlichsten

aufgefaßt, aber eine früherhin schmerzlich berührte Saite klang so hell nach, daß sie noch

jeden andern Laut übertönte. Sie konnte überhaupt sehr lange an einem Gedanken zehren und nahm

noch oft das Frühstück ein, wenn die andern schon ein wichtiges Mittagsmahl, einen

unbedeutenden Tee nebst einer Menge amüsanter Konditorwaren verzehrt hatten und sich nun zur

Abendtafel setzten. Nur Therese, die immer wie der Engel mit dem flammenden Schwerte vor und

mit dem Ölzweige über den Ihrigen stand, mußte die ganze Last dieses Augenblicks tragen und

suchte angstvoll nach einer klug beschwichtigenden Rede.

»Warum wählst du immer den verdrießlichen Weg am Flusse, Ledwina?« begann die Frau von

Brenkfeld gesammelt, da die Stille kein Ende nahm.

»Ich habe den Weg einmal sehr lieb«, versetzte Ledwina, »ich glaube, das Wasser tut viel

dazu.«

»Den Fluß hast du ja auch unter deinem Fenster«, sagte die Mutter, »aber es ist so ein

bequemer Gedankenschlender, deshalb geht man auch leicht weiter, wie man sollte.«

»Ich muß gestehn«, sprach Karl, »daß mir die Gegend hier besonders jetzt recht erbärmlich

vorkömmt. Man spaziert wie auf dem Tische, die Gegend vor uns wie hinter uns, oder vielmehr

gar keine. Der Himmel über uns und der Sand unter uns.« »Die Gegend könnte noch viel malerisch

schlechter sein, wie sie ist«, sagte Ledwina, »und mir bliebe sie doch lieb; von den

Erinnerungen, die in jedem Baume wohnen, will ich gar nicht reden, denn so kann nichts mit ihr

verglichen werden, aber so, wie sie da steht und überall, wär’ sie mir höchst ansprechend und

wert.«

»Chacun à son goût«, versetzte Karl, »nach deinen eben gemachten Ausnahmen weiß ich nicht, was

dich reizt: das stachlichte Heidekraut oder die langweiligen Weidenbäume oder die goldnen

Berge, die uns in einer Stunde ein zauberischer Wind schenkt.«

»Die Weiden zum Beispiel«, versetzte Ledwina, und in ihr Gesicht goß sich ein trübes, aber

bewegliches Leben, »haben für mich etwas Rührendes, eine sonderbare Verwechslung in der Natur:

die Zweige farbicht, die Blätter grau, sie kommen mir vor wie schöne, aber schwächliche

Kinder, denen der Schrecken in einer Nacht das Haar gebleicht. Und überhaupt die tiefe Ruhe

auf manchen Flächen dieser Landschaft: keine Arbeit, kein Hirt, nur allerhand größre Vögel und

das einsam weidende Vieh, daß man nicht weiß, ist man in einer Wildnis oder in einem Lande

ohne Trug, wo die Güter keinen Hüter kennen als Gott und das allgemeine Gewissen.«

»Es ist nicht schwer«, versetzte Karl lächelnd, »einer Sache, die so viel liebe Seiten hat,

auch eine schöne abzugewinnen, aber ich versichere dich, man darf keine zwanzig Meilen reisen,

sonst fallen die schönen romantischen Läppchen ab, und was nackt übrig bleibt, ist eine halbe

Wüste.«

»Die Wüste«, versetzte Ledwina, gleichfalls lächelnd und wie träumend, »die Wüste mag

vielleicht große und furchtbare Reize haben.«

»Kind, du rappelst«, sagte Karl und lachte laut auf.

Ledwina fuhr langsam fort: »So plötzlich hineinversetzt, ohne ähnliche und doch völlig

ungleiche Umgebungen zu kennen und hauptsächlich ohne früher von ihnen gelitten zu haben, und

nun weithin nichts als die gelbe glimmernde Sandfläche, keine Begrenzung als den Himmel, der

niedersteigen muß, um die Unendlichkeit zu hemmen, und nun flammend über ihr steht; statt der

Wolken die himmelhohen, wandelnden Glutsäulen, statt der Blumen die farbicht brennenden

Schlangen, statt der grünen Bäume die furchtbaren Naturkräfte der Löwen und Tiger, die durch

die rauschenden Sandwogen schießen wie die Delphine durch die schäumenden Fluten – überhaupt

muß es dem Ozean gleichen.«

Karl war vor Verwundrung stillgestanden, dann sagte er mit einem närrischen Gesichte: »Und

wenn nun die wandelnden Glutsäulen uns Visite machen oder die Blumen der Wüste uns umkränzen

oder die furchtbaren Naturkräfte sich an uns probieren wollen?«

Ledwina fühlte sich widrig erkältet. Sie beugte, ohne zu antworten, nieder, um ein Garnknäul

vom Boden aufzuheben.

»Aber mein Gott«, rief Frau von Brenkfeld, der durch diese rasche Bewegung ihre noch nicht

völlig getrockneten Schuhe sichtbar geworden waren, »du bist ja ganz naß!« – »Ich bin etwas

naß«, versetzte Ledwina, ganz herunter von widrigen Empfindungen. »Und das schon die ganze

Zeit«, versetzte die Mutter verweisend, »leg dich augenblicklich nieder, du weißt es ja in

Gottes Namen auch selbst wohl, wie wenig du vertragen kannst.« – »Ja«, sagte Ledwina kurz und

stand auf, um in ihrer Empfindlichkeit allen weitern Reden zu entgehn. »Daß du dich aber ja

niederlegst, und trinke Tee«, rief ihr die Mutter nach. Sie wendete sich in der Tür um und

sagte mit gewaltsamer Freundlichkeit: »Ja, gewiß.« Therese folgte ihr.

*

»Du hast noch nicht getrunken«, sprach Therese sanft verweisend, da sie nach einer

Viertelstunde mit einem Glase Wasser von neuem in die Kammer trat und die weislich vor dem

Fortgehn eingeschenkte Tasse noch unberührt sah; »wenn nun die Mutter käme«, fuhr sie fort,

»du weißt, wie sie auf ihr Wort hält.«

»Ach Gott, ich habe noch nicht getrunken? Wenn nun die Mutter käm’!« wiederholte Ledwina, aus

tiefem Sinnen auffahrend, und im Nu reichte sie Theresen die geleerte Tasse; »mir ist so

heiß«, sagte sie dann, warf unruhig die weißen Gardinen weit zurück und legte die brennenden

Hände in der Schwester Schoß.

»Du trinkst zu schnell«, sagte diese. – »Ich wollte, ich dürfte das Glas Wasser trinken«,

versetzte Ledwina. »Trink du deinen Tee, der bekömmt dir viel besser«, antwortete Therese

mitleidig, »das kannst du deiner Gesundheit wohl opfern, es ist ja nur ein kleiner Wunsch.« –

»O, er kömmt auch nur oben vom Herzen«, lächelte Ledwina, »und dann setz’ dich doch recht zu

mir und sprich mir etwas vor. Das Bettliegen ist so fatal; es ist noch lange nicht dunkel, und

dann die lange Nacht!«

Therese setzte sich auf den Rand des Bettes und seufzte unwillkürlich recht tief. Ledwina

lächelte von neuem und sehr freundlich, fast freudig. »Der heutige Tag«, sagte Therese dann

tiefsinnig, »ist äußerlich so unbedeutend gewesen und doch innerlich so reich; es ist so viel

durchgedacht und auch wohl ausgesprochen worden, was in Jahren nicht hat zu der Klarheit

kommen können, wie der Brennpunkt einer langen Zeit.« – »Jawohl, allerhand«, versetzte Ledwina

erwartend, der in diesem Augenblicke nur eins still bewegend im Sinn lag. »Ich wollte«, sprach

Therese weiter, »der Kerl säh’ etwas weniger imposant aus, damit er etwas minder geehrt würde.

Alles wendet sich an ihn, und die Mutter wird jedesmal rot, wenn er mit der gefälligen Miene

sagt: ›Tragt das meiner Mutter vor!‹«

Ledwina hatte, wie vorhin gesagt, den Teil des vorigen Gesprächs, auf den sich dieses bezog,

völlig überhört, und auch jetzt hielt ihr Geist eine andere Richtung fest. So faßte sie es gar

nicht in seinem tiefen Schmerze. »Ja«, sagte sie, noch immer still träumend, »es wurde so

vielerlei gesprochen, daß man das erste über dem letzten vergaß. Mich soll wundern, ob

Steinheim sich auch verändert hat.« Therese ward feuerrot. »Ich möchte es gar nicht«, fuhr sie

fort, »mir scheint immer, er könnte dabei nur verlieren.« Therese schenkte etwas mühsam eine

neue Tasse ein. »Mich dünkt, ich sehe ihn«, hub Ledwina wieder an, »wie er gefragt wird und

dann das liebe treue Gesicht so freundlich eine Antwort weiß; es wird einem ganz ruhig, wenn

man eine Zeitlang darauf weilt.« – »Das geht wohl an«, sagte Therese in der Angst. Ledwina sah

hoch auf. »Meinst du nicht?« fragte sie ernst. »O nein«, sagte Therese verwirrter und brach

sehr unpassend ab. Aber Ledwina hatte sich aufgerichtet und ihre Hände krampfhaft gefaßt.

»Bitte, bitte«, sagte sie in strenger Angst, »schweig, aber lüg nicht«, und mit einem leisen

Ton der tiefsten Wehmut lag Therese an ihrer Brust und weinte und zitterte, daß die Gardinen

bebten. Ledwina hielt sie fest an sich, und ihr Gesicht war aufgegangen wie ein Mond, der

leuchtend über die Schwester wachte. Beide ließen sich nach einer langen lebensreichen Pause

und suchten ihre verlorene Fassung, die eine auf der seidenen Bettdecke, die andere an dem

Bande des Teetopfes, was sie losknüpfte, statt es fester zu heften, denn es ist eben den

besten und herrlichsten Menschen eigen, daß sie sich schämen, wenn ein unbewachter Augenblick

verraten hat, wie weich sie sind, indes die Armen im Geiste von jener Art, der nicht der

Himmel verheißen ist, es in Ewigkeit nicht vergessen können, wenn sie einmal einen rührenden

Gedanken gefunden haben, wie das blinde Huhn die Erbse.

»Ich bin mir oft recht lächerlich und eitel vorgekommen«, fing Therese endlich an, »dir auch?«

– Ledwina mußte lachen und sah sie fragend an. Therese fuhr fort: »Allen dunkel und mir allein

hell; es ist betrübt, Ledwina, so etwas ganz allein zu merken, man wird ganz irr. Ich habe

immer innerlich glühn müssen, wenn ich diese oder jene unsrer Bekanntinnen mit geträumten

Eroberungen prunken sah. Es ist so häßlich und so allgemein. Die Bescheidenheit schützt

heutzutage gar nicht mehr, und für mich wär’ es so traurig. Ach, Ledwina, soll ich es mir wohl

nur einbilden? Ich kann ja auf nichts bauen als auf meinen innigsten Glauben.«

»Baue du dein Haus nur«, sagte Ledwina bewegt, »du hast einen guten Grund, einen verborgenen,

aber festen, der nicht unter dir einsinken wird.« – »Er hat mir nie etwas Derartiges gesagt«,

versetzte Therese, indes ihre Augen wie in den Boden brennen wollten. – Ledwina sagte

nachsinnend und lieblich: »Für einen anderen nichts, für ihn alles. Wär’s ein andrer, so

hättest du auch den Glauben nicht. Ach, Therese, du wirst sehr glücklich sein; das sage ich

frei und schäme mich nicht. Wir suchen doch alle einmal, wenn schon meistens inkognito, aber

ich habe aufgehört, denn ich weiß, daß ich nicht finde.« – Therese entgegnete demütig: »Ich

darf auch nicht so viel verlangen wie du.« – »Das heißt nun nichts«, versetzte Ledwina sanft

vorwerfend, »das kannst du selbst nicht glauben; du bist Gott und Menschen angenehmer, das

weiß ich wohl.« Therese erschrak ordentlich und wollte einfallen, aber Ledwina winkte ernst

mit der schmalen weißen Hand und fuhr fort: »Doch mein loses törichtes Gemüt hat so viele

scharfe Spitzen und dunkle Winkel, das müßte eine wunderlich gestaltete Seele sein, die da so

ganz hineinpaßte.« – Therese faßte erschüttert ihre beiden Hände und sagte, indem sie das

Gesicht wie scheu umherwandte, um die Zeichen der höchsten Bewegung zu verbergen: »Ach

Ledwina, ich mag jetzt gar nicht davon reden, wie lieb dich viele Menschen haben, aber auch du

wirst finden, was dir einzig lieb bleibt. Gott wird ein so reines und leises Flehn nicht

überhören.«

Ledwine, der das Gespräch zu angreifend wurde, sagte wie leichtsinnig: »Jawohl, man sagt ja,

es gibt keinen so schlechten Topf, daß sich nicht ein Deckel dazu fände, aber Gott weiß, wo

mein Erwählter lebt; vielleicht ist er in diesem Augenblick auf der Tigerjagd, es ist doch

grade die Zeit, und dann, du meinst, Steinheims Liebe sei unbemerkt geblieben? Glaub das ja

nicht! Hab’ ich dir je früherhin ein Wort gesagt? Und doch ist mir alles seit einem Jahr die

höchste Gewißheit, und ich kann euch gar nicht mehr in Gedanken trennen. Aber wie kannst du

glauben, daß unsre Mutter auf einen bloßen, auch noch so getreuen Schein sich über eine so

zarte Sache äußern sollte, oder Karl, dem die Ehre und der Anstand fast zu viel sind? Ich habe

oft und heimlich lachend den Kampf beider gesehn, wenn sie weder absichtlich störend noch

nachlässig erscheinen wollten. Glaub mir, könnte Steinheim dich vergessen oder übergehn, so

würden beide schweigen und sich fassen, aber ihr Glaube an die Menschen wär’ dahin, so gut wie

der deinige.«

»Aber auch heute, wo die Entscheidung so gar nahe gestellt ist«, versetzte Therese beklemmt,

»nicht das kleinste Zeichen in Miene oder Worten.«

»O Therese«, sagte Ledwina lächelnd, »ich sehe wohl, die Liebe macht die Leute dumm. Ist dir

dies Vermeiden seines Namens, dies behutsame, verräterische Umgehen des ganzen Besuches, der

doch bei weitem das Hauptsächlichste im Briefe war, nichts? Ich sage dir, Therese, ich wußte

von nichts, da ich in die Stube trat, aber ich bin zusammengefahren und habe in der höchsten

Spannung geharrt und geglaubt, jeder Laut werde das Geheimnis gebären, besonders im Gesichte

unsrer Mutter wogte ja die ganze offene See der Empfindungen.«

Therese hatte nach und nach das Haupt erhoben und sah nun peinlich hoffend auf Ledwina, wie

ein Kind auf den Vater, wenn es merkt, daß er ihm etwas schenken will. »Nun, ich will es so

denken, und ich kann auch nicht gut anderst«, sagte sie verschämt, »aber bitte, bitte, nun

nicht mehr davon reden!« Nach ein’gen Augenblicken fuhr sie wieder trübe fort: »Man muß sich

nicht so in eine Hoffnung eingraben, das Glück ist gar zu kugelrund.« Dann schwieg sie und

faßte die Schale und Teetopf, als wolle sie einschenken, sagte dann: »Ich komme gleich wieder«

und ging hinaus, denn sie zitterte so sehr, daß sie den Topf nicht hatte heben können.

Nach einer langen Weile trat sie wieder mit leisen Schritten herein und blickte weit

vorgebeugt mit angestrengter Sehkraft nach der Schwester hinüber, weil sie gedachte, sie

möchte schlummern, und es nicht wagte, ihr zu nahen um der frischen Abendluft willen, die aus

ihren Kleidern duftete, denn sie war im Freien gewesen, tief, tief im Gebüsche und hatte sich

einmal recht satt geweint und gesehnt, und nun war sie wieder still und sorgsam wie vorher,

denn diese süße, überteure Seele lebte ein doppeltes Leben, eins für sich, eins für andre,

wovon das erstere nur zum Kampf für das letztere vortrat, nur daß es statt des Schwertes die

Leidenspalme führte. So stand sie eine Weile, kein Vorhang rauschte, aber ein tiefer, schwerer

Atem zog hinüber und gab ihr mit der Gewißheit des Schlummers zugleich eine wehmütige Sorge.

Sie setzte sich ganz still in ein Fenster. Die Sonne ging unter, und ihre letzten Strahlen

standen auf einem Weidenbaum am jenseitigen Ufer. Der Abendwind regte seine Zweige, und so

traten sie aus dem Glanz und erschienen in ihrer natürlichen Farbe, dann bogen sie sich wieder

in die Goldglut zurück. Für Ledwinens krankes, überreiztes Gemüt hätte dies flimmernde

Naturspiel leicht zu einem finstern Bilde des Gefesseltseins in der sengenden Flamme, der man

immer vergeblich zu entrinnen strebt, da der Fuß in dem qualvollen Boden wurzelt, ausarten

können, aber Therese war es unbeschreiblich wohl geworden in Betrachtung des reinen wallenden

Himmelsgoldes und überhaupt der lieblichen gefärbten Landschaft, ihre Gedanken waren ein

leises und brünstiges Gebet geworden, und ihre Augen waren scharf auf den Abendglanz

gerichtet, als sei hier die Scheidewand zwischen Himmel und Erde dünner; es war ihr auch, als

zögen die Strahlen ihrer Seufzer mit hinauf, und sie legte das glühende Antlitz dicht an die

Scheibe, aber wie die Sonne nun ganz dahin war und auch der Abendhimmel begann, ihre Farbe zu

verleugnen, da sanken auch ihre Flügel, und sie ward wieder trüber und wußte nicht, warum. Das

Vieh zog langsam und brummend in den Hofraum, und zugleich stieg das Abendrot höher, und ein

frischer Wind trieb die rosenfarbne Herde auch nach dem Schlosse hinüber. »Nun wird es gut«,

sagte sie ziemlich laut, das Wetter meinend, und erschrak, daß sie der Schlummernden vergessen

hatte, aber eine unbeschreibliche Zuversicht umfing sie gleich, und diese unwillkürlichen,

ausgesprochnen Worte waren ihr wie durch Gottes Eingebung. Sie war von nun an völlig ruhig und

blieb es bis zu der Stunde, die ihr Schicksal entschied.

So haben auch die klarsten, sichersten Seelen ihre Augenblicke, wo der Glaube an eine

verborgene, geistige Abspiegelung aller Dinge ineinander, an das vielgeleugnete Orakel der

Natur sie mächtig berührt, und wer dem widerspricht, dessen Stunde ist noch nicht gekommen,

aber sie wird nicht ausbleiben, und wäre es die letzte.

Therese stand wie aus einem schönen Traum auf und schlich zum Lager Ledwinens. Unbeweglich, ja

fast starr lag die Schlafende, und ihr Antlitz war bleich wie Marmor, aber in ihrer Brust

arbeitete ein schweres, unruhiges Leben in tiefen Zügen. Therese sah sorgsam auf die Gegend

des Herzens und legte dann sachte die Hand darauf, die sich von den heftigen Schlägen hob.

Hätte sie nicht gewußt, daß plötzliches Erwecken bei der Schwester immer mit einem

erschütternden Schrecken verbunden sei, sie hätte sie nicht dieser angstvollen, betäubenden

Ruhe überlassen, aber nun blickte sie noch einmal sorgenvoll auf die Schlafende, segnete sie

zum ersten Male in ihrem Leben, zog die Vorhänge des Bettes weit los, schloß die der Fenster

und ging dann sachte und wehmütig zurückblickend hinaus mit dem Vorsatz, späterhin noch einmal

nachzusehn.

*

Es war tief in der Nacht, als Ledwina aus ihrem langen Schlummer erwachte. Sie hatte äußerlich

tief geruht, und Therese war unbemerkt vor ein’gen Stunden noch einmal an ihrem Lager gewesen,

wo sie die Schwester, die ihr nun erleichtert schien, beruhigt verlassen hatte. Aber in

Ledwinens Innrem hatte sich eine grauenvolle Traumwelt aufgeschlossen, und es war ihr, als

gehe sie zu Fuße mit einer großen Gesellschaft, worunter alle die Ihrigen und eine Menge

Bekannter waren, um einer theatralischen Vorstellung beizuwohnen. Es war sehr finster, und die

ganze Gesellschaft trug Fackeln, was einen gelben Brandschein auf alles warf, besonders

erschienen die Gesichter übel verändert. Ledwinens Führer, ein alter, aber unbedeutender

Bekannter, war sehr sorgsam und warnte sie vor jedem Stein. »Jetzt sind wir auf dem Kirchhof«,

sagte er, »nehmen Sie sich in acht, es sind ein’ge frische Gräber.« Zugleich flammten alle

Fackeln hoch auf, und Ledwinen wurde ein großer Kirchhof mit einer zahllosen Menge weißer

Leichensteine und schwarzer Grabhügel sichtbar, die nun regelmäßig eins ums andre wechselten,

daß ihr das Ganze wie ein Schachbrett vorkam und sie laut lachte, als ihr plötzlich einfiel,

daß hier ja ihr Liebstes auf der Welt begraben liege. Sie wußte keinen Namen und hatte keine

genauere Form dafür als überhaupt die menschliche, aber es war gewiß ihr Liebstes, und sie riß

sich mit einem furchtbar zerrißnen Angstgewimmer los und begann zwischen den Gräbern zu suchen

und mit einem kleinen Spaden die Erde hier und dort aufzugraben. Nun war sie plötzlich die

Zuschauende und sah ihre eigne Gestalt totenbleich mit wild im Winde flatternden Haaren an den

Gräbern wühlen, mit einem Ausdrucke in den verstörten Zügen, der sie mit Entsetzen füllte. Nun

war sie wieder die Suchende selber. Sie legte sich über die Leichensteine, um die Inschriften

zu lesen, und konnte keine herausbringen, aber das sah sie, keiner war der rechte. Vor den

Erdhügeln fing sie an sich zu hüten, denn der Gedanke des Einsinkens begann sich zu erzeugen;

dennoch ward sie im Zwang des Traumes zu einem wie hingestoßen, und kaum betrat sie ihn, so

stürzte er zusammen. Sie fühlte ordentlich den Schwung im Fallen und hörte die Bretter des

Sarges krachend brechen, in dem sie jetzt neben einem Gerippe lag. Ach, es war ja ihr

Liebstes, das wußte sie sogleich; sie umfaßte es fester, wie wir Gedanken fassen können, dann

richtete sie sich auf und suchte in dem grinsenden Totenkopfe nach Zügen, für die sie selbst

keine Norm hatte. Es war aber nichts, und zudem konnte sie nicht recht sehen, denn es fielen

Schneeflocken, obschon die Luft schwül war. Übrigens war es jetzt am Tage. Sie faßte eine der

noch frischen Totenhände, die vom Gerippe losließ. Das schreckte sie gar nicht. Sie preßte die

Hand glühend an ihre Lippen, legte sie dann an die vorige Stelle und drückte das Gesicht fest

ein in den modrichten Staub. Nach einer Weile sah sie auf; es war wieder Nacht, und ihr

voriger Begleiter stand sehr hoch am Grabe mit einer Laterne und bat sie mitzugehn. Sie

antwortete, sie werde nur hier liegen bleiben, bis sie tot sei; er möge gehn und die Laterne

dalassen, was er auch sogleich tat, und sie sah wieder eine Weile nichts als das Gerippe, dem

sie mit einer herzzerreißenden Zärtlichkeit liebkoste. Plötzlich stand ein Kind neben dem

Grabe mit einem Korb voll Blumen und Früchten, und sie besann sich, daß es eins derer sei, die

im Theater Erfrischungen umherbieten. Sie kaufte ihm seine Blumen ab, um den Toten damit zu

schmücken, wobei sie ganz ordentlich und ruhig die Früchte auslas und zurückgab. Da sie den

Korb umschüttete, wurden der Blumen so viele, daß sie das ganze Grab füllten. Des freute sie

sich sehr, und wie ihr Blut milder floß, formte sich die Idee, als könne sie den verweseten

Leib wieder aus Blumen zusammensetzen, daß er lebe und mit ihr gehe.

Über dem Aussuchen und Ordnen der Blumen erwachte sie, und, wie bei Träumen immer nur der

allerletzte Eindruck in das wache Leben übergeht, ziemlich frei, aber ihr war unerträglich

heiß. Sie richtete sich auf und sah noch etwas verstört im Zimmer umher. Das Mondlicht stand

auf den Vorhängen eines der Fenster, und da der Fluß unter ihm zog, schienen sie zu wallen wie

das Gewässer. Der Schatten fiel auf ihr Bett und teilte der weißen Decke dieselbe Eigenschaft

mit, daß sie sich wie unter Wasser vorkam.

Sie betrachtete dies eine Weile, und es wurde ihr je länger je grauenhafter; die Idee einer

Ondine ward zu der einer im Fluß versunknen Leiche, die das Wasser langsam zerfrißt, während

die trostlosen Eltern vergebens ihre Netze in das unzugängliche Reich des Elementes senden.

Ihr ward so schauerlich, daß sie sich nach ein’gen Skrupeln wegen der Glut in ihrem Körper

entschloß, aufzustehn und die Vorhänge loszuziehn. Die Nacht war überaus schön, der Mond stand

klar im tiefen Blau, die Wolken lagerten dunkel am Horizont in einer schweren getürmten Masse,

und der Donner hallte leise und doch mächtig herüber, wie das Gebrüll des Löwen.

Ledwina blickte lüstern durch die Scheiben, das graue Silberlicht lag wie ein feenhaftes

Geheimnis auf der Landschaft, und dünne, matte Schimmer wogten über die Gräser und Kräuter wie

feine Fäden, als bleichten die Elfen ihre duftigen Schleier. Am Flusse war die Luft ganz

still, denn die Weiden standen wie versteint, und kein Hauch bog die gesträubten Haare, aber

in der Ferne schüttelten sich die Pappeln und hielten dem Mondlicht die weißen Flächen

entgegen, daß sie schimmerten wie die silbernen Alleen in Träumen und Märchen. Ledwina sah und

sah, und ihr Fuß wurzelte immer fester an der lockenden Stelle, und bald stand sie, halb

unwillkürlich, halb mit leisen Vorwürfen, in ein dichtes Tuch gehüllt am offenen Fenster. Sie

schauderte linde zusammen vor der sehr frischen Luft und der geisterhaften Szene. Ihre Blicke

fielen auf das klare Licht über sich und das sanfte Licht unter sich im Strom, dann auf den

finstren lauernden Hintergrund, und das Ganze kam ihr vor wie der stolze und wilde Seegruß

zwei erleuchteter Fürstengondeln, indes das Volk gepreßt und wogend in der Ferne steht und

sein dumpfes Gemurmel über das Wasser hallt.

Da erschien fern am Strome noch ein drittes Licht, aber ein hüpfendes, trübes Flämmchen, wie

ein dunstiges Meteor, und sie wußte nicht, war es wirklich ein Irrlicht oder ward es von

Menschenhänden getragen, mehr zur Gesellschaft als zum Führer in der täuschenden Nachthelle.

Sie richtete die Blicke fest darauf, wie es langsam herantanzte, und sein unausgesetztes

Nähern bürgte für die letztere Meinung. Sie war so verloren in fremde Reiche, daß sie sich den

Wandrer als einen grauen Zaubermeister bildete, der in der Mondnacht die geheimnisvollen

Kräuter in den feuchten Heidgründen sucht. Wirklich gab es viele Beschwörer, sogenannte

Besprecher, in jener Gegend, wie überhaupt in allen flachen Ländern, wo Menschen die schwere

neblichte Luft mit der Schwermut und eine gewisse krankhafte Tiefe, den Geisterglauben,

einatmen; diese Zaubrer, meistens angeseßne, geachtete alte Leute, sind mit seltnen Ausnahmen

so truglos wie ihre Kinder, so wie sie auch das unheimliche Werk fast nie als Erwerb, sondern

meistens als ein zufällig erobertes, aber teures Arkanum in nachbarlichen Liebesdiensten

ausüben. Sie halten sonach auch vor sich selber streng auf alle die kleinen Umstände, die

dergleichen Dingen selbst bei völlig Ungläubigen etwas Schauderhaftes leihn, als das starre

Stillschweigen, das Pflücken der Kräuter oder Zweige im Vollmond oder in einer bestimmten

Nacht des Jahres usw., und so wär’ es nichts so Unmögliches gewesen, auf einer nächtlichen

Wanderung dergleichen unheimlichen Gefährten zu finden, aber das Flämmchen hüpfte näher, und

bald ward es Ledwinen kenntlich als der brennende Docht einer Laterne, die ein Mann trug,

indes eine Gestalt zu Pferde ihm folgte. Sie besann sich, daß es wohl ein nächtlich Reisender

sei, den ein Wegeskundiger an den trügerischen Buchten des Stromes vorüberleite. Das Feenreich

war zerstört, aber ein menschliches Gefühl der tiefsten Wehmut ergriff sie um den Unbekannten,

mit dem sie eine schöne Nacht erlebte, und der doch achtlos an ihr vorüberzog wie an den

Steinen des Weges und wußte nichts von ihr, wenn er einst ihren Tod las in den Blättern der

Zeitungen. Jetzt war er dem Schlosse gegenüber, wo der Fußsteig mit Steinen gepflastert war,

ein langsamer Hufschlag schallte zu ihr hinauf, und sie strengte ihre Sehkraft an, um eine

leichte Form festzuhalten von der flüchtigen Erscheinung.

Plötzlich zog eine Wolke, die die Verschwörung am Horizont als Herold aussandte, über den

Mond; es ward ganz finster, und zugleich schlug ein schwerer, klatschender Fall an ihr Ohr,

ihm folgte ein heftiges Plätschern und der laute Angstruf einer männlichen Stimme. Ledwina

sprang aus einem fürchterlichen Schrecken vom Fenster zurück und wollte nach Hülfe eilen, aber

ihre Knie trugen sie nur bis in die Mitte des Zimmers, wo sie zusammenbrach, doch ohne die

Besinnung zu verlieren. Sie schrie nun im höchsten Entsetzen anhaltend, fast über ihre Stimme,

und nach einer Minute war ihre Mutter, ihre Schwester und fast das ganze weibliche Personale

um sie versammelt. Man hob sie auf, trug sie ins Bett und meinte, sie rede irre, da sie

beständig und angstvoll rief: »Macht das Fenster auf! – im Flusse – er liegt im Flusse«, und

sich loszureißen strebte. Marie, die vor Schrecken hell weinte, war jedoch die erste, die den

Ruf vom Flusse her durch das laute Gewirr unterschied. Man riß das Fenster auf, und bald zogen

die Domestiken des Schlosses, noch ganz betäubt und mit Stangen und Haken an das Ufer. Den

Reisenden hatte sein rasches Pferd aus den Wellen getragen, in die er dem Irrlichte in der

Hand seines Führers gefolgt war, da er sehr dicht hinter ihm trabte. Er stand triefend neben

seinem schnaubenden Tiere und wollte eben in der Angst von neuem in den Strom, das

fortschwimmende Menschenleben zu retten, da ihm das fremde Land sonst keine Hülfe zu bieten

wußte.

Therese stand händeringend am Fenster und horchte auf Laute der Suchenden durch den Sturm, der

nun mit einer fürchterlichen Heftigkeit losgebrochen war, der Donner rollte sonder Aufhören,

das Wasser tanzte in greulicher Lust über der gefallnen Beute und warf sprühnden Schaum in die

Augen derer, die sie ihm zu entreißen suchten. Der Fremde stand am Ufer, bebend vor Frost. Er

wollte nicht ins Schloß, aber mit einem Kahn in die empörten Wogen. »Wollen Sie sich selbst

ums Leben helfen?« sagte der alte Verwalter. »Mich dünkt, an einem ist es genug.« – »O Gott!«

rief der Fremde schmerzlich, »ich habe ihn so beredet; er wollte nicht von seiner alten

Mutter, die sich vor dem Gewitter fürchtet. Um Gottes willen, einen Kahn, einen Kahn!« –

»Einen Kahn können Sie nicht kriegen, wir haben keinen«, sagte der Verwalter. Der Fremde hielt

ihm eine Laterne hoch vors Gesicht, und wie er ihm in dem falschen Schein zu lachen schien,

faßte er ihn wie wütend an die Brust und rief: »Einen Kahn, oder ich werfe dich auch ins

Wasser.« Der Verwalter blickte ihn fest an und sagte: »Wir haben keinen.« Der Fremde sprach

sehr zweifelnd und verwirrt: »Wie seid Ihr denn hergekommen?« – »Über die Brücke dort«,

versetzte der Verwalter. »Eine Brücke«, sagte der Fremde wie gelähmt, ließ ihn los und

gesellte sich in höchster Angst zu den Suchenden. »Hier habe ich etwas«, rief einer und warf

ein weißes Ding ans Ufer, was man als die Mütze des Verlornen erkannte. Man suchte hier

emsiger, aber die Haken fuhren vergebens durch das schäumende Wasser. »Wir finden ihn nicht«,

rief ein andrer, ermattet in der frucht- und fast zwecklosen Arbeit, »das Wetter ist zu toll.«

– »Das Wasser gibt ihn auch nicht her«, rief wieder einer, »es hat in diesem Jahr noch kein

Menschenfleisch gehabt.« – »Nicht?« versetzte ein andrer, und der Fremde sah mit Schrecken,

wie nach dieser Bemerkung aller Eifer sichtbar erlosch. Er bot Geld über Geld, und man fuhr

ihm zu Gefallen fort zu suchen, aber so mutlos, daß man bald nur noch zum Anschein mit den

Stangen und Haken ins Wasser klatschte.

Therese hatte indessen das Fenster nicht verlassen. »Ich höre nichts«, sagte sie jammernd zu

Ledwina gewandt, die sie zum Schrecken halb angekleidet und im Begriff aus dem Bette zu

steigen sah. Sie schloß das Fenster schnell und drängte die zitternde Schwester in das Bett

zurück, worin sich diese jedoch bald ergab mit dem Beding der schnellsten Mitteilung aller

Nachrichten. Therese versprach alles und meinte mit ihrem Gewissen wohl auszukommen. Sie hatte

sich mit großer Kraft gefaßt und redete jetzt viel Tröstliches, geistlich und irdisch, zu

Ledwina, daß diese endlich ganz stille ward und in der höchsten Ermattung wieder einschlief.

Dann ging sie, um ein warmes Zimmer und Bette für den Fremden zu besorgen, der endlich nach

mehrern Stunden durch und durch erfroren und innerlich bebend einzog. Dann legte sie sich

selbst nieder, ob der Morgen ihr vielleicht noch ein’ge Erholung schenken wolle, da der Tag

sie wieder in ihrer ganzen Kraft forderte, nachdem sie eine Zofe neben Ledwinens Gemach

gebettet hatte.

*

Es hatte sieben geschlagen, als Minchen auf den Zehen in die Kammer schlich und das Fräulein

ihr schon völlig gekleidet entgegentrat.

»Was gibt’s, Minchen?« sagte sie bewegt und heftete die letzte Nadel. »Der fremde Herr ist

ganz munter«, antwortete das Mädchen. »Aber der Bote?« fragte Ledwina. »Das weiß Gott«,

versetzte Minchen, und beide schwiegen. »Man brauch sich nicht viel Gutes zu denken«, sagte

Minchen dann und fing bitterlich an zu weinen. Ledwina sah starr vor sich nieder und fragte:

»Weiß man nicht, wer es gewesen ist?« »Freilich wohl«, versetzte das schluchzende Mädchen, »es

ist ja der Klemens von der alten Lisbeth; o mein Gott, was soll sich das arme alte Mensch

haben!« und weinte ganz laut. Ledwina setzte sich auf das Bett und legte das Gesicht in die

weißen Kissen, dann erhob sie sich schneeweiß und sagte: »Ja, Gott muß es wissen«, nahm ihr

Schnupftuch vom Tische und ging langsam hinaus. Im Wohnzimmer war alles um das Frühstück

versammelt, da Ledwina hereintrat. Der fast zu blendend schöne Fremde stand auf und verbeugte

sich. Karl sagte vornehm und höflich: »Das ist meine älteste Schwester«, und zu Ledwinen: »Der

Graf Hollberg.« Man saß wieder um den spendenden Tisch, und das Gespräch ging etwas gedrückt

fort über allerhand Göttinger Vorfälle, als einzig bekanntem Berührungspunkt der beiden.

»Fräulein Marie, nehmen Sie sich in acht«, sagte der Fremde ernst aus dem Gespräche zu Marien

gewandt, die ein geöffnetes Federmesser wiederholt an den Mund hielt, um den Stahl zu prüfen.

Marie ward rot und legte das Messer hin.

»Ganz recht, Marie heißt sie«, sagte die Frau von Brenkfeld höflich lächelnd.

»Ich glaube, ich werde Sie alle zu nennen wissen«, versetzte der Graf lebhaft und sandte die

leuchtenden Augen durch den Kreis, »Steinheim ist ein getreuer Maler; glauben Sie wohl, daß

ich Sie sämtlich sogleich wiedererkannte?«

»Sie haben Steinheim viel gesehn«, sagte Karl.

»O sehr«, versetzte Hollberg rasch, »in dem letzten Jahre täglich oder vielmehr fast den

ganzen Tag. Ich habe sogar ihm zu Gefallen ein mir sonst ganz unnötiges Kollegium mitgehört.«

Karl lachte ganz trocken.

»Solange Sie dort waren«, fuhr der Graf fort, »konnte man freilich nicht so recht an ihn

kommen, denn sein Herz ist wohl für mehrere Abwesende, aber immer nur für einen Gegenwärtigen

offen. Ich hatte keinen Vorwand, ihn zu besuchen, und auf unsern Commercen erschien er gar

nicht. Aber jetzt«, fuhr er mit einem blitzenden raschen Blicke fort, »jetzt glaube ich, weder

mich noch andre zu täuschen, wenn ich sage, wir haben uns beide sehr lieb.« – »Ich habe ihn

gleich so liebgewonnen, seit ich ihn zuerst in der Bibliothek traf. Er saß am Fenster und las

im ›Kaufmann von Venedig‹ von Shakespeare, ein Stück, was mich damals verkehrterweise nicht so

ansprach wie die übrigen Werke dieses Riesen; denn«, fuhr er kindlich lachend fort, »ich muß

leider immer eine kurze Weile die Livree der Zeit tragen, und so glänzte ich damals in der

wildromantischen, donnergrau mir Schlangen und Dämonen gestickt; ich mag mich herrlich

ausgenommen haben!«

Er blickte vergnügt umher und in das verlegne Gesicht der Frau von Brenkfeld, die durchaus

keine Antwort hierauf wußte, er nickte dann freundlich und sagte: »Ja gewiß, meine gnädige

Frau, in N. ist einmal eine Staatslivree gewesen, da legten die Leute den Kopf beiseite, zogen

herdeweis in die Wälder und suchten statt der Pilze Offenbarungen aus der Geisterwelt, da bin

ich mit beigewesen, und deshalb stand mir auch der ›Kaufmann von Venedig‹ nicht an, da gibt’s

nicht den mindesten Schauer. Ich machte mich also an den Lesenden und wollte recht mit meinem

Urteile glänzen, aber ein spanisches Sprichwort sagt: Mancher geht aus zu scheren und kommt

selber kahl wieder; nun sagen Sie mir, meine beste gnädige Frau, wie kann man bei sonst

unbestechlichem Verstande von Zeit zu Zeit so komplett irrsinnig sein?«

Karl suchte sich mit Lachen auszuhelfen und sagte: »Steinheim schreibt recht fleißig von

Ihnen. »Wissen Sie auch, wie ich heiße?« sagte die Frau von Brenkfeld in Verlegenheit, das

Ungehörige ihrer Frage nicht bedenkend. Der Fremde ward rot und sagte: »Sie meinen, gnädige

Frau?« Dann sah er nieder und sagte mit bescheidener Stimme: »Feiern Sie nicht Ihr Namensfest

am 19. November?« – »Ganz recht«, versetzte Frau von Brenkfeld, »ich heiße Elisabeth.« – »Die

drei Fräulein«, fuhr der Graf fort, »werden sich Fräulein Therese und Marie nennen. Der Name

der dritten ist nur schwer zu behalten, und ich fürchte, ihn zu verfehlen; es muß beinah wie

Lidwina oder Ledwina klingen.« – »Völlig wie das letztere«, sagte die Mutter und blickte auf

Ledwina, und der Graf neigte lächelnd und freundlich gegen sie, die es jedoch nicht bemerkte,

da sie eben an die Freude Theresens dachte, der sie so gern diesen milden Öl in die, wie sie

meinte, noch wogende See gegönnt hätte.

»Können Sie mir nicht sagen«, sagte Karl, »wann Steinheim hieher kommen wird?« – »Gewiß so

bald wie möglich«, versetzte der Graf mit einem langen, sprechenden Blicke. Karl zog die

Lippen und sagte: »Ich habe eine kleine Reise vor, so möchten wir uns verfehlen, aber ich

schiebe oder gebe sie auf, nachdem es fällt.« »Eine Reise, wohin?« fragte Ledwina verwundert,

und Karl versetzte kurz und verdrießlich: »Auf den Harz vielleicht«, und dann zum Grafen: »Wir

hofften Sie zugleich hier zu sehn.« Der Graf sagte freundlich, indem er die schwarzen Locken

aus der breiten Stirne schüttelte: »Sehn Sie, wie gut Steinheim es mit mir meint; aber ich muß

selbst wissen, was ich wagen darf. Wenn Sie mir nun den Stuhl vor die Tür gesetzt hätten –«

Die Frau von Brenkfeld wollte höflich einfallen, aber der Graf fuhr fort: »Mir ist eine liebe

Freude verdorben: ich wollte meine Schwester zu ihrem Geburtstage überraschen; daher der

unglückliche Gedanke, die schöne Nacht zu Hülfe zu nehmen.« Dann wurde er plötzlich finster,

stand auf und ging hinaus.

»Wie gefällt dir der?« sagte Frau von Brenkfeld, wie aus tiefer Beklemmung aufschauend, zu

Ledwina. Diese schüttelte seltsam lächelnd das Haupt und sagte: »Ich weiß noch nicht, aber

ganz eigen.« »Er hat etwas Kindisches«, fiel Karl ein, »aber das bringt seine Krankheit mit

sich.« – »Ist er krank?« sprach Ledwina gespannt, »er sieht ja ganz frisch aus, beinah zu

frisch.« – »Ach Gott, was wollte er frisch aussehn«, versetzte Karl, »es hat mich recht

erschreckt, wie ich ihn sah. Bei meinem Aufenthalt zu Göttingen war er immer leichenblaß; er

hat deshalb lange Pallidus geheißen, bis die Sache sich endlich nicht mehr für den Scherz

eignete, aber jetzt –« Karl schwieg ernst und fuhr dann fort: »Ich denke, wie wir einmal einen

guten Commerce in Ulrichs Garten hatten und, da mehrere aus uns Sträuße wilder Blumen im Gehn

pflückten, einer endlich die Frage aufwarf, was eigentlich die sogenannte Totenblume sei, da

viele die dunkelrote Klatschrose, andere den hellroten Widerstorz und noch andre nur gelbe,

hohe Blumen so nennen; wie er da so wehmütig sagte: ›Mir scheint die hellrote diesen Namen vor

allen zu verdienen, das Hellrot ist doch die rechte Totenfarbe. Lieber Gott, wie schön können

die Totenblumen blühen, so kurz vor dem Abfallen!‹ Dann blieb er zurück und war den ganzen

Abend still, denn sein Vater hat mit der schönen, geistreichen Mutter, gegen den Willen aller

Verwandten, die Auszehrung in die Familie geschleppt.«

»Das finde ich wahrhaft schlecht, du wählst harte Ausdrücke, Karl«, sagte Therese, die seit

den letzten Minuten wieder gegenwärtig war, »es ist wahrhaft genug Schlechtes in der Welt, man

brauch mit dem Worte nicht so zu wuchern.« Karl sagte beleidigt und deshalb kalt: »Vielleicht

kann ich es nach seiner Persönlichkeit auch verrückt nennen; ich müßte dann annehmen, daß er

in einer fixen Idee sie für gesund hielt. Mich mindestens würde die heftigste Leidenschaft

nicht verleiten, mein ganzes Geschlecht wissentlich zu vergiften.« Therese, die Hollberg aus

begreiflichen Gründen sehr wohlwollte, sagte diesmal rasch und ganz unüberlegt: »Wenn er aber

nun außerdem gar nicht lieben und deshalb auch nicht heiraten kann?« Karl blieb stehen, sah

sie spöttisch an, klopfte dann mit dem Finger sacht an ihre Stirn und sagte mit Nachdruck: »O,

du blinde Welt, wie stolperst du im Dunkeln!« Therese bog die Stirn unwillig zurück, aber sie

sagte nichts, denn es ärgerte sie unglaublich, grade jetzt etwas Albernes gesagt zu haben,

noch mehr Ledwina, die im Grunde die Schwester nicht allein an Herz und Gemüt reicher, sondern

auch in ihrer klaren Umsicht im ganzen für klüger hielt als den kenntnisreichen, kräftigen,

aber in seinem oft übertriebenen Selbstgefühl beschränkten Bruder. »Dem sei, wie ihm wolle«,

fuhr Karl ernst fort, »genug, die ganze Familie ist vor lauter Geist und Schwächlichkeit

ausgebrannt wie ein Meteor, bis auf ihn und eine Schwester, denen die Totenblumen auch bereits

auf den Wangen stehn. Der arme Junge hat feine Bemerkungen genug machen können. Ihm ist der

Tod schon oft recht hart ans Herz gefallen, und jetzt sitzt er ihm gar mittendrin.«

Es pochte an die Tür, und ein Ackerknecht trat auf den Socken herein. »Ihr Gnaden«, hub er an,

»der fremde Herr frägt nach Leuten im Dorfe, die ihm für Geld und gute Worte den Klemens

suchen sollen. Wenn das so sein soll, dann muß das geschehn, aber finden tun sie ihn nicht,

das Wasser ist zu lang, der mag schon wohl zehn Stunden weit sein.« – »Ich will mit dem

fremden Herrn sprechen«, sagte die Frau von Brenkfeld, »geht nur«, und wie der Knecht hinaus

war, sah sie ihre Kinder schweigend an und sagte dann: »Die entsetzliche Unruhe! Ich glaube,

wir vertragen uns nicht lange.« Dann ging sie hinaus, dem Grafen Vorstellungen zu machen.

Karl sah ihr nach und sagte dann peinlich lachend: »Es freut mich nur, daß dieser Aufenthalt

nicht mir gilt, ich habe das alles gefürchtet. Hollberg ist doch sein ganzes Leben verwöhnt

worden. Es waren wohl unsrer viere, denen er gefiel. Wir hatten uns vorgenommen, einen

ordentlichen flotten Suitier aus ihm zu machen. Er gab sich auch recht gut zu allem, aber

mitten im besten Commerce konnte ihn plötzlich etwas meistens ganz Unbedeutendes so tief und

seltsam ergreifen, daß er uns die ganze Lust verdarb mit seiner wunderlichen Stimmung; das ist

zuweilen interessant, aber immer ungeheuer unbequem, zudem konnte er nie einen rechten Begriff

vom Studentenleben fassen und blieb bei Zusammenkünften fein wie unter Philistern, bei

Ehrenpunkten arglos und zutraulich wie unter Brüdern und hätte können die ärgsten Händel

haben, aber jeder kannte und schonte ihn.« – »So ward er wohl sehr geliebt?« fragte Therese.

»O doch«, versetzte Karl, indem er seinen verlegten Tabaksbeutel in der Stube umsonst suchte,

»zudem ist zugleich arglos und nobel sein wohl der sicherste Weg zu allgemeiner

Berücksichtigung, es gibt so etwas Prinzenhaftes.«

Therese wandte sich zu Ledwine: »Es ist doch etwas Eigenes um das angeborene Vornehme.« – »Es

darf viel wagen«, versetzte Ledwina, »solange es nur an äußeren Formen, die das innre

Ehrgefühl gar nicht nennt, und auch die nur arglos verletzt.« – »Jawohl«, sagte Therese, »dann

ist es mir aber auch lieber als Schönheit; – nicht allein beim Manne«, fuhr sie freundlich

sinnend fort, »auch für mich selber würde es meine Wahl treffen.« – »O, freilich«, versetzte

Ledwina, und Karl, der wieder zu ihnen trat, sagte: »Ich möchte mich indessen nicht so

berücksichtigt sehen; es erinnert doch immer etwas an die Achtung für die Frauen.« Therese sah

unwillig auf; dann begann sie erst leise, dann immer herzlicher zu lachen. »Es ist doch

häßlich«, sagte sie, sich vergebens zu bezwingen suchend, »daß man so albern lachen muß.«

Die Mutter trat mit dem Grafen herein. »Sie sehn das wohl ein«, sagte sie eben. – »Ganz

gewiß«, versetzte derselbe und sah glühend um sich, »die gnädige Frau haben zu befehlen, es

ist mir nur um der Mutter willen.« – »Die Mutter«, sagte Frau von Brenkfeld, »wird den Anblick

der Leiche nach einigen Tagen vielleicht besser ertragen wie jetzt, wenigstens hoffe ich es.«

– »Ich glaube es nicht«, erwiderte der Graf bewegt, »sie kann sich nicht trösten, sie hat ja

nichts gehabt wie den Sohn.« Frau von Brenkfeld sprach ernst: »Sie irren; wir alle dürfen

nicht bestimmen, wieviel ein wahrhaft christliches und starkes Gemüt aus den niedern Ständen,

vor allem eine Frau, zu tragen vermag, so wenig wir die ununterbrochne Kette von Sorgen und

Entsagungen ahnden, aus denen ihr Leben fast immer besteht; glauben Sie mir, was man so sieht,

ist nichts.« Der Graf hob das brennende Antlitz und sagte: »Wie, meine gnädige Frau? Ach,

verzeihn Sie!« Er schwieg ein’ge Sekunden wie betrübt, dann fuhr er fort: »Denken Sie, wie ihn

das Wasser zurichten wird. Die alte Frau geht gewiß immer an den Strom, bis er ihn ausgespien

hat, und dann kennt sie ihn nicht.« Er stand hastig auf, sagte nochmals »Verzeihn Sie« und

ging hinaus.

Die Frau von Brenkfeld sah ihm verwundert nach und sagte dann: »Ist das Krankheit oder

Eigensinn?« – »Beides«, entgegnete Karl phlegmatisch, und so ging das Gespräch fort zwischen

Menschen, die man gut nennen mußte, in scharfen Strichen, oft ungerecht, immer verfehlt, über

ein Gemüt, das man nicht leise genug hätte berühren können und das bei der durchsichtigsten

Klarheit dennoch an ewig mißverstandenen Gefühlen verglühen mußte.

Frau von Brenkfeld sagte eben: »Ich sehe täglich mehr ein, wie dankbar ich Gott dafür sein

muß, daß ich zwischen sieben Schwestern geboren bin, und zwar so recht mitten in, weder die

älteste noch die jüngeste«, als Marie angstvoll hereineilend rief: »O Mutter, der Graf sitzt

auf den Altan und ist schneeweiß.« – »Mein Gott«, sagte Frau von Brenkfeld, »sollte ihm unwohl

werden?« – »Jawohl«, versetzte Marie, »er hat den Kopf auf den steinernen Tisch gelegt und sah

mich gar nicht.«

Man eilte hinaus, der Graf wollte noch mit einigen mühsamen, verwirrten Worten seine offenbare

Schwäche verleugnen, aber die Sinne schienen ihn immer mehr zu verlassen, und bald ließ er

sich geduldig und unter Anstrengung seiner letzten Besinnung, noch etwas Beruhigendes zu

sagen, zu seiner Stube mehr tragen als führen. Nach einer halben Stunde zeigte sich

entschieden ein heftiges Fieber, und der Vormittag verging unter angstvoller Erwartung des

Hausarztes, nach dem man sofort geschickt hatte.

*

»Was sagen Sie zu dem Kranken?« fragte Frau von Brenkfeld den wieder Hereintretenden. Der

Doktor Toppmann langte langsam seinen Hut vom Spiegeltische neben den Blumentöpfen, und putzt

bedächtlich ein wenig Blütenstaub mit dem Ärmel herab. Dazu sagte er: »Nicht viel; ich kenne

seine Konstitution zu wenig, und ich kann nicht mit ihm sprechen, da er ganz irre ist.« –

»Mein Gott, seit wann?« rief Frau von Brenkfeld; »davon weiß ich ja nichts.« – »Es soll auch

früher nicht gewesen sein«, entgegnete der Doktor, »erst seit er jetzt erwacht ist.« – »Das

ist ja höchst traurig«, versetzte Frau von Brenkfeld heftig, »er wird doch, um Gottes willen,

nicht gar sterben können?« Der Doktor Toppmann schnitt seine seltsamsten Gesichter und sagte:

»Wir können alle sterben; übrigens muß man so etwas nicht eher denken, bis das Gegenteil

unmöglich ist.« – »Keineswegs«, fiel Therese ein, »ich bitte sehr, täuschen Sie uns hierin

nicht.« Toppmann kniff das linke Auge zu und fragte: »Warum denn das?« – »Man ist doch

sorgsamer«, versetzte Therese; »man weiß doch auf jeden Fall, was man zu tun hat.« – »Was hat

man denn zu tun?« fragte Toppmann. »Ach Gott«, entgegnete Therese, »wir haben noch tausend

andre Gründe, bleiben Sie doch bei der Sache!« Toppmann schwieg ein Weilchen, dann sagte er

ernst und zu allen Anwesenden gewandt: »Ich weiß, Sie werden nichts versäumen, was in Ihren

Kräften und Wissen steht; deshalb halten Sie die Stube kühl, aber vor allem ohne Zugwind, und

sorgen Sie ja, daß die Arznei ordentlich genommen wird; auch darf der Patient vorerst nicht

allein gelassen werden. Morgen früh komme ich wieder, wenn nichts Besonderes früherhin

vorfällt.« Er machte eine Verbeugung und wollte fortgehn, dann wandte er sich um und sagte:

»Notabene, nähern Sie sich ihm nicht mehr als unumgänglich nötig, die Sache könnte leicht

nervös sein.« Er verbeugte sich nochmals und ging hinaus.

Karl sagte: »Ich glaube, ich kann mich gelegentlich noch jedes Worts erinnern, was ich den

Toppmann mein lebelang habe reden hören, das macht das unvergeßliche Mienenspiel, dem die

Worte wie angegossen sind, oder vielmehr umgekehrt.« – »Er redet wohl auch überall sehr

wenig«, versetzte die Mutter, »heute war er nach seiner Art recht los.« – »Therese hat ihn

auch ehrlich geschraubt«, entgegnete Karl und sah nach Theresen, die eben mit den Zeichen der

äußersten Unruhe das Zimmer verließ. Karl fuhr fort: »Ich habe mir mal eine Sammlung von den

verschiedenen Abarten seines Grundgesichts machen wollen, vorzeiten, eh ich nach Göttingen

ging, und machte deshalb einen Strich auf ein dazu bestimmtes Papier, sooft ich etwas Neues zu

entdecken glaubte, verwirrte mich jedoch dermaßen, daß ich es nur bis auf etwa vierzig bringen

konnte, und ich muß gestehn, daß dies scharfe Merken auf allerhand Verzerrungen in Phantasie

und Wirklichkeit, dem ich mich hiedurch nach und nach mit wahrer Leidenschaft ergab, mir

endlich anfing eine Schwäche und solche dumpfe Zersteutheit zuzuziehn, daß ich dies für eine

der gefährlichsten Beschäftigungen halte. Ich begreife nur nicht, wie die Karikaturmaler vor

dem Tollhause vorbeikommen.«

»Es ist eine alte Erfahrung«, versetzte Frau von Brenkfeld, »daß dergleichen Künstler, die

Satiriker in Literatur und Leben und die berühmtesten Buffonen der Theater mit eingerechnet,

gewöhnlich mindestens sehr hypochondrisch sind.«

Ledwina hatte sich unter diesen Gesprächen leise hinaus und ins Freie geschlichen, um einen

sie überwältigenden so körperlichen als geistigen Druck zu verhehlen, vielleicht zu lindern.

Es zog sie gewaltsam zu dem Ufer des Flusses, als sei noch etwas zu retten, und tausend

wunderbare Möglichkeiten, die nur für sie so heißen konnten, tanzten in greulichen Bildern um

ihr brennendes Haupt. Bald sah sie den Verlornen, wie ein Dornstrauch das blasse Gesicht noch

an einem Teile seines Haares über dem Wasser erhielt, während der andere vom Haupte gerissen

an den schwankenden Zweigen des Strauchs wehte; seine blutenden Glieder wurden in grausamem

Takte von den Wellen an das steinichte Ufer geschleudert. Er lebte noch, aber seine Kräfte

waren hin, und er mußte harren in gräßlicher Todesangst, bis der Wellenstoß das letzte Haar

zerrissen. Bald ein anderes gleich gräßliches und angstvolles Gesicht. Sie schmiegte sich

leise an der Mauer her unter dem Fenster, wo ihre Mutter saß, aber die sah weder auf noch um

sich, sondern redete rasch und angelegentlich mit Karin über allerhand Dinge, die ihr durchaus

gleichgültig waren, um die Verstimmung zu verbergen, die sich ihrer seit der Ankunft des

Grafen unwiderstehlich bemächtigt hatte und durch den Bericht des Arztes auf einen Grad

gestiegen war, den sie selber als Unrecht fühlen mußte. Der arme Klemens war gewiß der Grund

dessen, was in dieser Stimmung von wahrem Kummer lag; außerdem gehörte zu der festen Ordnung

ihres Hauses eine übertriebne Angst und fast kindisches Hüten vor aller Ansteckung, und in der

Frau von Brenkfeld nahm demnach eine leise Abneigung und feststehende Ungerechtigkeit gegen

den Grafen Platz, der ihr zu aller Sorge und Not ihr reines Haus zu verpesten drohte, und auf

den sein freilich schuldloser Anteil am Tode des guten Burschen schon gleich einen leisen

Schatten geworfen hatte, den sie damals nicht in seinem Grunde oder überhaupt nicht genug

fühlte, um ihn zu verwischen. Sie war jedoch auch jetzt billig genug, etwas Ungerechtes in

sich zu beachten, und hätte nach ihrer tiefen, verborgenen Güte jetzt um keinen Preis über ihn

urteilen oder auch nur von ihm reden mögen. Mit Karln stand es ebenso, nur aus andren Gründen,

und es hätte für einen Beobachter höchst unterhaltend sein müssen, ein beiden Teilen so völlig

langweiliges Zweigespräch dennoch mit so großer Lebhaftigkeit und oft so anziehenden

Bemerkungen sich bewegen zu hören.

*

Eine Kutsche rasselte über die Zugbrücke, und sechs langgespannte Goldfüchse trabten auf den

Vorhof.

»Bendraets!« sagte Karl. »Ich desertiere«, versetzte seine Mutter, über und über rot vor

Unmut, und ging, diese jederzeit unwillkommenen Gäste zu empfangen. Die beiden kleinen

geschminkten Fräulein waren schon am Arme des langen Referendarius, wie der junge semper

freundliche Herr von Türk überall in der Gegend genannt wurde, ins Haus gestrichen, um, wie

sie sich ausdrückten, Ledwinchen und Thereschen ein bißchen mobil zu machen, als ihre Mutter,

langsam aus dem Wagen steigend, den Gruß der Frau von Brenkfeld erwiderte.

Die Frauen nahmen den Sofa ein, und das Auge der Hausfrau ruhte immer gemilderter auf den

welken, wehmütigen Zügen der Nachbarin, die auf ihre Nachfrage mit verlegener Leichtigkeit

erzählte, daß ihr Mann und ihre Söhne zu einer kleinen Jagdpartie nebst dem jungen Warneck

ausgezogen, jedoch gegen Mittag in diese Gegend kommen und alsdann vorsprechen würden.

Mitleiden mit der immer Gedrückten ließ die Frau von Brenkfeld sehr gütig antworten, und ein

sanftes, leises Gespräch begann zwischen den beiden Frauen, die sich so gern gegenseitig

getraut hätten und es doch nie konnten, da vielfach drückende Familienverhältnisse eine gute

arglose Seele zwingen, ihr Heil in der Intrige zu suchen. Die Rede fiel auf den Baron Warneck,

den seit einigen Monden von mehrjährigen Reisen zurückgekehrten Besitzer der benachbarten

Güter.

»Es ist ein Mann von vielem Verstande«, sagte die Frau von Brenkfeld. »Gewiß, von ganz

vorzüglichen Gaben«, versetzte die Bendraet, »und sehr brav.« – »Meinst du damit mutig oder

rechtlich?« – »Eigentlich das letztere«, lächelte die Bendraet, »doch glaube ich es in beidem

Sinne.« – »Wir kennen ihn wenig«, versetzte die Brenkfeld, »doch denke ich gern alles Gute von

ihm. Mein Karl ist neulich herübergeritten wegen kleiner Jagdverstöße und rühmt seine

Billigkeit und nachbarlichen Sinn. Die Besitzer von Schnellenfort sind immer sehr interessant

für uns; unsre beiderseitigen Besitzungen und Rechte durchkreuzen sich auf eine unangenehme

Weise. Gott gebe ihm eine gute friedliche Frau«, fügte sie bedeutend hinzu. »Was meinst du«,

sagte die Bendraet fixierend, »man spricht von der Claudine Triest.« – »So?« versetzte Frau

von Brenkfeld lächelnd, »ich denke, man spricht von der Julie Bendraet.« – »Er hat uns doch

keinen Grund gegeben, das zu glauben«, versetzte die Bendraet errötend, »im Gegenteile scheint

er eher ein kleine Vorliebe für Elisen zu verraten, aber auf jeden Fall« – sie stockte und

faßte die Hand der Freundin – »es ist eigentlich lächerlich, in solchen Dingen abzusprechen,

eh man um seine Meinung gefragt wird, aber in jedem Falle würde sich Elise auch schwerlich für

Warneck bestimmen. Der Baron hat sich zu gern und viel herumgetrieben, um je ruhig zu werden.

Er muß eine lebhafte und lebenslustige Frau haben, die die Mühe und die Begeisterung seiner

Liebhabereien mit ihm teilt. Das wär’ nichts für mein Hausmütterchen. Der gebe Gott«, fügte

sie weich hinzu, »ein stilles, häusliches Los, wo sie es nicht empfindet, daß sie weniger

hübsch und lebhaft ist als Julie.« Frau von Brenkfeld drückte sanft die Hand der Redenden, und

diese fuhr lebhafter fort: »Aber daß ich dir mit gleicher Münze bezahle, den guten Türk habe

ich wohl recht glücklich mit der kleinen Tour hieher gemacht. Sein volles Herz ergießt sich

täglich in den schönsten Gedichten zu Ehren Ledwinens.« – »So, dichtet der?« lachte die

Brenkfeld. »O doch«, versetzte die Frau von Bendraet, »sehr artig, und ich glaube wirklich, er

zieht jetzt auf der Freite umher.« – »Aber für Ledwinen paßt er nicht; die ist zu sanft für

ihn. Solange Türk nicht besser zu leben hat, paßt er für keine seinesgleichen.« – »Er hat doch

ein Gut«, sagte Frau von Bendraet. »Ach liebes Kind, nenne es doch lieber einen Bauernhof. Die

kleinen ritterlichen Freiheiten werden es nicht sehr verbessern.« – »Er wird gut angestellt

werden«, sagte die Nachbarin. »Wir wollen es hoffen, aber er hat noch Zeit bis dahin; der

Referendariusposten ist noch nicht bedeutend.« Die Bendraet errötete sehr und sprach: »Er ist

munter und artig, er kann gefallen. Soll denn eine Mutter ihrer Kinder Glück und Fortkommen

verhindern und der Familie ein Haus voll unversorgter Töchter hinterlassen? – zwar«,

unterbrach sie sich, »deine Töchter sind präbendiert, allein den Vorteil hat nicht jede

Familie.« »Auch in dem entgegengesetzten Falle«, versetzte die Brenkfeld, »ist der Entschluß,

eine Tochter zu unterhalten, besser, als die Wahrscheinlichkeit, dereinst auf mehrere

Generationen an den trostlosen Umständen ihrer Nachkommen vergebens zu flicken. Sie ist ja

auch nicht gesund«, sagte die Frau von Brenkfeld mit kämpfendem Tone. »O doch«, versetzte die

Bendraet rasch und ängstlich; »ich denke, sie bessert sich sehr und sieht viel wohler aus.«

Beide schwiegen eine kleine Weile, dann sagte die Frau von Brenkfeld: »Du hast sie ja kürzlich

nicht gesehn.« – »Ich habe es aber gehört«, versetzte die Bendraet, »von dem schwarzen

Musikmeister zu Erlenburg; der sagte neulich, sie sähe schöner und wohler aus wie je.« »So,

der Wildmeister?« sagte die Frau von Brenkfeld und ward noch trüber; dann fuhr sie rasch und

gefaßt fort.

Der lange Referendarius und Julie unterbrachen dieses Gespräch. Der Lange erzählte, Fräulein

Therese sei so eifrig am Kochen und Braten für den Unglücklichen, daß ihr keine Rede

abzugewinnen gewesen sei, und Fräulein Elise habe der Freundin ihre schönen Pflichten

erleichtern wollen und sei deshalb bei ihr zurückgeblieben.

Die Frau von Brenkfeld erzählte jetzt die Geschichte der vorigen Nacht. Die Bendraet wunderte

sich, daß sie ihrer noch nicht erwähnt.

»Ich unterhalte meine Gäste nicht gern mit unangenehmen Dingen«, versetzte die Hausfrau. »Herr

von Türk«, rief Julie von Theresens Stickrahmen, bei dem sie sich gesetzt, »Sie müssen der

Frau von Brenkfeld Fehde ankündigen, sie nennt einen jungen schönen Mann ein unangenehmes

Ding.« Frau von Brenkfeld sah ernst aus, und Türk wußte sich nicht zu nehmen. »Verdirb nur

nichts, liebes Kind«, rief die Mutter. »Gott bewahre«, versetzte Julie, »ich werde mich nicht

daran wagen.«

Nun stand sie auf und begann, den armen Türk mit oft fadem, oft treffendem Witze aufs

unbarmherzigste zu schrauben, wobei sie öfters auf leichtsinnig unehrerbietige Art die beiden

Frauen hineinzog und dadurch den Langen, der es gern mit der ganzen Welt gut stehen hatte,

sehr ängstigte.

Therese stand indes wie auf Kohlen vor der Tür des Kranken, dem sie eben ein Glas Limonade

hineingesandt, und suchte leise mit den besten Worten Elisen fortzubringen, die von einer

Türritze zur andren trat, um eine Ansicht des Fremden zu erlauschen.

»Elise«, sagte Therese, »der Bediente wird heraustreten und dir die Tür vor die Stirn stoßen.«

– »Ich bitte dich«, flüsterte Elise, »suche einen Vorwand, mich hereinzubringen.« – »Mein

Gott, wie kann es dergleichen Vorwand geben«, versetzte Therese und vertröstete sie auf Karln,

der drinnen sei und ihr alles erzählen solle.

Nun wollte Elise aufpassen, wann Karl herauskomme. Therese ward ungeduldig und ließ Karln

durch einen Bedienten herausrufen. Er erschien verstimmt und eilig, grüßte Elisen flüchtig,

gab schnellen, kurzen Bericht und trat in das Krankenzimmer zurück. Elise schien beleidigt

oder verlegen, verließ die Tür mit Theresen, und sie gingen zur Gesellschaft.

Elise setzte sich sogleich an Theresens Stickrahmen und arbeitete eifrig. Türk machte ihr die

schuldigen Komplimente über ihren Fleiß und mußte für jedes eine Spötterei von Julien

einstecken. So verging der Morgen. Man vermißte plötzlich Ledwinen und tröstete sich, da man

wußte, sie sei spazieren. »Unsre Herrn bleiben aus«, sagte die Frau von Bendraet eben, da rief

Marie: »Sieh, Mutter, ein Reuter!« – »Das ist mein Mann«, sagte die Bendraet. »Und noch

einer«, rief Marie, »und noch einer«, sagte sie mit Nachdruck. »Es wird noch einer kommen,

liebes Kind«, sagte die Bendraet und wandte sich entschuldigend zur Hausfrau.

Die Ankommenden stiegen von den Pferden. Herr von Bendraet küßte der Hausdame mit vielen

höflichen Reden die Hand. Baron Warneck brachte noch auf dem Hofe etwas an seinen Stiefeln in

Ordnung, wobei Junker Klemens Bendraet nicht unterließ, ihm die Sporen unter die Sohlen zu

drehen.

»Mach kein dummes Zeug«, sagte sein Bruder, aber Warneck lachte, brachte alles in Ordnung, und

man trat ein. Jagdgeschichten und Politik kamen zur Sprache, und der Mittag war da, ersehnt

und doch unerwartet.

Therese hatte schon die Tür des Speisesaals, in dem die Gesellschaft bereits die englischen

Kupferstiche an den Wänden musterte, geöffnet, als sie umschaute, weil sie Ledwinens Tritte

auf der Treppe vernahm. Sie wollte hastig umkehren, denn glühend und erschöpft ließ sich

soeben die Schwester auf eine der Stufen nieder, aber jene winkte rasch bittend mit der Hand,

und Therese trat in die geöffnete Tür. Nicht lange, so erschien auch Ledwina, und man setzte

sich zu Tisch. Elise wollte sich durchaus neben Ledwinchen setzen, aber Therese zog sie zu

sich hinüber.

»Du sollst mir vorlegen helfen«, sagte sie, und dies war Elisen auch sehr recht.

Tischgespräche begannen und stockten wieder. Herr von Bendraet sprach von einer Reise, die er

vorhabe.

»Wenn ich einmal das große Los gewinne«, rief Julie, »so will ich immer reisen; ich kann mir

kein größeres Glück denken.« – »Ich glaube«, versetzte Elise, »daß das gar zu viele Reisen

Frauenzimmern nicht gut tut und sie unstet und unzufrieden im Hause macht; ich will lieber zu

Hause bleiben und lasse mir andrer Leute Reisen erzählen. Ach, wie schön hat uns Baron Warneck

nicht gestern unterhalten! Sie müssen auch vieles erzählen können, Herr von Brenkfeld.« – »Hat

Ihnen Warneck öfters erzählt?« fragte Karl. »Ich mag nicht daran denken, wie oft wir oder

eigentlich ich den Herrn von Warneck schon belästigt haben. Wirklich, je weniger ich selbst zu

sehn hoffe und wünsche, je weniger kann ich mir den Ersatz einer lebhaften Beschreibung

versagen.« – »Der Warneck ist ein gequälter Mann«, lachte Julie, »ich fürchte immer, er bleibt

noch ganz fort, denn was der für Anfechtungen von der Elise zu erleiden hat!«

Elise sah scharf aus, und Karl sagte: »Wenn Ihnen Warneck viel erzählt hat, so sind meine

kleinen Erfahrungen brodlos; denn er hat dieselben Gegenden beachtet und durchsucht, die nur

an mir vorübergeflogen sind wie in der Laterna magica.«

Er neigte sich zu Warneck, der aus dem Gespräche mit Louis Bendraet auflauschte, da er seinen

Namen nennen hörte. »Ich sage, Sie haben nicht nur viel mehreres, sondern auch alles jene

gesehn, wovon ich erzählen könnte.« – »Auf die Weise«, versetzte Warneck, »würden uns die

vielen Reisebeschreibungen eben von jenen Gegenden gewiß nichts übriggelassen haben. Es sind

die verschiedenartigen Ansichten und Empfindungen, die kleinen Unfälle und Begebenheiten der

Reise, die eine Reiseerzählung aus dem hundertsten Munde so merkwürdig machen wie aus dem

zweiten, und zudem in der Schweiz, wo die ergreifendsten Naturbilder so gemein wie das

tägliche Brod sind; wer kann da glauben, alles gesehn zu haben? Gesetzt, ich habe den

Schaffhauser Wasserfall in der Sonne schimmern gesehn, Sie aber sahn ihn beim Sturm oder im

Nebel, welches verschiedenartige und doch gleich wunderbare Schauspiel! Und von den herrlichen

Schluchten und Höhlen hab’ ich nur wenig gesehn, da ich sehr zum Schwindel geneigt bin.« – »In

den Höhlen bin ich tüchtig umhergestiegen«, sagte Karl. »Es muß ein seltsam angenehmes Gefühl

sein«, fiel Louis Bendraet ein, »so in voller Lebenskraft unter der Erde zu wandeln, wie

begraben, in dem feuchten, modrichten Gesteine. Ich möchte es mitmachen.« – »Du bist mir der

rechte Held«, rief sein Bruder, »willst halsbrechende Klettereien unternehmen und bist so

schwindlicht wie eine Eule; ich müßte dich wie eine Kuh am Stricke führen und nötigenfalls

über die Schulter hängen.« – »Was meinst du, Louis«, lachte Warneck, »das würde doch

unpoetisch aussehn, und zudem bedenk mal die Höhlenfrauen und Bergmännchen und Erdmännchen und

die Gnomen, die den Leuten einen Buckel anzaubern. Ich fürchte, das würde keinen guten Effekt

in deiner Figur machen.«

Man lachte, Türk und Louis mit.

»Einmal«, sagte Karl, »hätte ich doch beinahe geglaubt, ein Höhlengespenst zu sehn. Wir waren

zu sechsen in eine Kluft am *** gestiegen. Die beiden Briehls, die beiden Herdrings, Rolling

und ich. Die übrigen hatten sich müde gelaufen und lagen in einer schäbichten Bergkneipe. Der

Eingang war niedrig und schmal, und sehr hoher Schwarzwald machte ihn noch dunkler. Wir waren

kaum einige Schritte gegangen, als wir in dichter Finsternis standen. Unser Führer wollte also

die mitgebrachten Fackeln anzünden. Das zögerte etwas.« – »Das war Unvorsichtigkeit von dem

guten Mann«, rief Klemens Bendraet dazwischen, »das hätte er vor der Höhle tun sollen.« Seine

Mutter winkte ihm unwillig, und Karl fuhr fort: »Ich habe zu sagen vergessen, daß es etwas

regnete; also, indem der Mann sich mit Feuerschlagen quält, höre ich durch das Rufen meiner

Begleiter, die den Schall versuchten, etwas über den Boden rutschen, und plötzlich schlingt es

sich um die Knie und grunzt und zupft mir an den Kleidern und sucht mich niederzureißen. Ich

gesteh’, daß ich zusammenschauderte. ›Guter Freund‹, rief ich, ›macht, daß Ihr Licht bekommt!

Hier ist etwas, aber ich will es halten.‹ Dabei griff ich nach nieder in einen struppichten

Haarbusch oder Pelz, ich wußte nicht, was. Da fing es an zu grunzen und um sich zu schlagen

und brummte: ›Ich rufe den Apostel Petrus.‹ – ›Wie, bist du da?‹ rief unser Führer; ›sein Sie

nicht furchtsam, meine Herren, das ist nur so ein armes Blut, der tut Ihnen nichts.‹

Indem brannte die Fackel an, und ich erblickte einen zerlumpten, abgezehrten Kerl von etwa

vierzig Jahren, der vor mir auf den Knien lag und mich fest umklammert hatte. Ich hielt sein

Haupt am Haar zurückgebogen, und das ockergelbe, entstellte Gesicht starrte mich grunzend an.

Der Führer sagte: ›Sei doch ruhig, Seppi, das sind ja die lieben Apostel‹; dann zeigte er auf

den jüngsten Herdring mit den langen Locken und sagte: ›Sieh, das ist Marie Magdalene.‹ Der

arme Kerl ließ mich gleich los und kroch bis in einen Winkel der Höhle, wo, wie wir nun sahn,

etwas Stroh lag. Der Führer entschuldigte sich nachher, daß er uns nicht von diesem

Wahnsinnigen gesagt. Er hielt sich für den Engel Gabriel und diese Höhle für das Grab Christi,

das er bewache; er ließ niemand hinein als die Apostel und heiligen Frauen; dafür könnte sich

aber jeder ausgeben. Er war krank gewesen, und unser Wirt hatte ihn noch nicht wieder in der

Höhle geglaubt.«

»Der arme Kerl hatte eine höllisch langweilige Arbeit«, sagte Klemens.

»Dabei«, sagte Karl, »glaubte er als Engel nichts genießen zu dürfen als Kräuter und Früchte –

anfangs roh – und was er im Gebirge fand, nachher hatte man ihn unter dieser Rubrik an alle

Arten von Gemüse und Obst gewöhnt, außer Äpfel, die er für die Früchte vom Baum der Erkenntnis

hielt, und Erbsen; warum diese nicht, kann ich nicht sagen.«

»Wahrscheinlich«, rief Klemens, »um der unschuldigen Erbsenläuse willen, die sich zuweilen

drin finden.«

»Gingen Sie auch noch weiter in die Höhle?« sagte Julie.

»Ja, Fräulein«, versetzte Karl, »wir schämten uns, umzukehrn, was im Grunde wohl jeder von uns

lieber getan hätte, denn wir waren alle erschüttert von dem Anblick des Schrecklichsten, was

die Natur hat. Aber wie denn – ich weiß nicht, soll ich gottlob oder leider sagen –, wie sich

denn solche traurige Eindrücke, die unser eignes Schicksal nicht berühren, so leicht

verwischen, so dachten wir in ein paar Tagen nicht ferner daran, als um den Fritz Herdring

›Marie Magdalene‹ zu nennen, und so blieb von der ganzen greulichen Geschichte nichts übrig

als ein fader Scherz.«

Eine kurze Stille entstand. Dann begann Warneck: »Der Wahnsinn ist eine Sache, worüber

geistliche und weltliche Gesetze verbieten sollten, nicht gar zu scharf zu grübeln und

untersuchen. Ich glaube, daß nichts leichter zur Freigeisterei führt.« – »Ich sollte eher

meinen«, fiel Türk ein, »ins Tollhaus.« Warneck versetzte: »Eins von beiden, und sehr leicht

beides zugleich.«

Wieder eine Stille, dann sagte Warneck: »Ich habe in dieser Art auch manche greuliche

Erfahrung gemacht, aber nichts ist mir lebhafter als das Bild einer alten Frau in Westfalen,

die ich in Begleitung eines schon nicht mehr jüngsten, düstern, grämlichen Mädchens an der Tür

des Gasthofs, in dem ich wohnte, fand. Die verkümmerte Phisiognomie der Alten, irr, aber ohne

eine Spur von Wildheit, machte mein Mitleid rege, und ich hielt mich einen Augenblick bei ihr

auf. Sie benagte langsam eine harte, trockne Brodkruste; dann hielt sie wie erschrocken inne,

steckte die Finger in den Mund und hielt die Trümmer eines ihr eben ausgefallenen Zahns in

ihrer Hand. Nun zog sie ein schmutziges Papier aus der Tasche, wickelte es auf und legte den

Zahn zu ein’gen andren alten Stücken von Zähnen. Das Mädchen sagte auf meine Nachfrage, die

Base hebe alle ihre Zähne auf, wie sie ihr von nach und nach ausfielen, um – hier zog die

Kreatur das Gesicht zum Lachen, mir wurde ganz schlimm dabei – nun also – um, wenn sie

dereinst hinkäme, wo Heulen und Zähneklappern sei, sie doch auch nicht immer zu heulen

brauche, sondern zuweilen zähneklappern könne. Mein Wirt sagte mir späterhin, sie sei immer

eine sehr brave Frau gewesen, aber da ihr Mann, ein kleiner Krämer, einen einigermaßen

verschuldeten Banquerout gemacht und da einige dabei zu Schaden gekommene Familien sie in der

ersten Wut mit Verwünschungen überhäuft, sei sie wahnsinnig geworden und meine nun, für den

Banquerout verdammt zu sein. Nur im Frühling, wenn die Himmelsschlüssel blühn, sei sie

fröhlich und trage Tag und Nacht große Sträuße davon bei sich, weil sie meint, wenn sie in

dieser Zeit stürbe, könne sie damit den Himmel aufschließen. Wenn die Blumen anfangen

abzunehmen, werde sie immer ängstlicher und suche zuletzt mit der größten Anstrengung nach den

letzten Blumen, auch wenn zuletzt die Blütezeit schon vorüber; nachher müsse sie immer lange

liegen, so habe sie sich abgequält.«

Warneck schwieg, und ein allgemeines Gespräch über Wahnsinn, menschliche Geisteskräfte usw.

entstand und verlor sich bald in andre Gegenstände. –

Der Nachmittag verging unter Spaziergängen, Ballschlagen, Schaukeln und überhaupt den

unruhigstem Umhertreiben. Herr von Bendraet spielte Pikett mit Warneck, und Julie hetzte sich

mit Türk, der bald verliebt, bald gänzlich ermattet schien und in den kurzen Zwischenpausen

vergebens mit Ledwinen anzuknüpfen suchte.

Elise saß am Rahmen und zeigte ihr einen neuen Stich, den Ledwine sogleich versuchte.

»Fräulein Ledwine«, sagte Türk, »können doch alles nachmachen.« – »Und Herr von Türk«,

versetzte Julie, »über alles etwas sagen, aber es steht ihm nicht so gut.« Karl und Louis

traten herein und fragten nach Klemens.

»Ich dachte, er sei bei Ihnen«, sagte Elise. »Nicht doch«, entgegnete Karl, »wir sprachen von

den Kunstwerken Italiens. Da sagte er, wenn wir die schönen Künste vorreiten wollten, so gehe

er zum Henker. Nachher kam er noch einmal wieder, brachte ein paar ausgefallne Gänsefedern und

etwas Birkenrinde und bat, unsren schönen Gedanken die Ewigkeit zu schenken. Gleich werde eine

Hirtin vorüberwandeln, noch obendrein mit den Attributen der Künste und Weisheit, wir möchten

nur gut aufpassen, er wolle indessen mit den Schnitterinnen dort auf dem Felde idyllisieren.

Darauf lief er fort.«

»Und ein altes schmutziges Baurenweib schleppte ihren Milcheimer vorüber«, sagte Louis

lachend, »der Henker weiß, wie sie aussah. Sie hatte ihren Rock wohl mit zwanzig Lappen von

verschiednen Farben dekoriert. Unter den Attributen verstand er wahrscheinlich einen alten

verdorrten Gänseflügel, den sie draußen irgendwo aufgelesen hatte.«

»So ist er wohl jetzt auf dem Felde«, sagte Therese.

»Ich habe von der Mauer das ganze Feld übersehn und kann ihn nicht bemerken.«

Das Pikettspiel war geendigt; Bendraet hatte verloren und stand mißmutig auf. Da trat Klemens

herein, die blonden Locken verwirrt um das glühende Gesicht.

»Marie Magdalene«, rief Julie, »wo bist du so lange gewesen?« fragte Elise. »In meinem Rocke«,

antwortete er. »Aber, mein Gott, wie ist dir, hast du Lust zu lachen oder zu weinen?« – »Ich

habe Lust, dir die Haut über die Ohren zu ziehn«, versetzte er noch halb unwirsch und brach

nun je mehr und mehr in ein unaufhaltsames Gelächter aus. Er rettete sich in das Fenster zu

den übrigen jungen Leuten, redete leise und lebhaft zu ihnen. Die lustige Stimmung nahm auch

dort überhand, und man sah, daß er geneckt wurde. Die Schloßuhr schlug fünf. Warneck wollte

Abschied nehmen und nach Schnellenfort kehren, aber Frau von Bendraet bat ihn, zuvor mit ihnen

zu Abend zu essen.

»Wenn Sie nicht zu Nacht bleiben«, versetzte er. »Es ist doch nur ein halbes Stündchen von

Lünden bis Schnellenfort, und der Mond scheint ja hell.« »Sie müssen uns auch noch allerlei

erzählen von Ihren Reisen«, fiel Elise ein. »Ach, das meiste wissen Sie«, versetzte Warneck,

»doch«, setzte er lachend hinzu, »die merkwürdigste mir auf meinen Reisen vorgekommene

Erscheinung habe ich noch nicht erwähnt. Ich habe sie in den südlichsten Gegenden Frankreichs

beobachtet, wo sie sich noch seltsamer ausnahm, wie wenn es sich hier fände.« – »Nun?« sagte

Julie.

Warneck stockte lächelnd ein Weilchen, dann sagte er: »Eine Frau, die ihrem Manne nie

widersprochen hat.« – »Führen Sie die Leute nicht an«, sagte Julie getäuscht lachend, und Türk

rief: »Hören Sie wohl, Warneck? Fräulein Julie hält Ihre Seltenheit für erdichtet.« – »Ich

glaube es auch nicht«, sagte Klemens, »oder hatte ihr der Mann einen Maulkorb angehängt?« –

»Nicht viel besser«, sagte Warneck; »sie war taubstumm und zwar von ihrer Geburt an.« – »Und

doch verheiratet!« sprach Therese. »Das, mein Fräulein«, versetzte Warneck, »ist eigentlich

das Merkwürdige und zugleich Abscheuliche an der Sache. Sie war nicht viel besser als ein

Tier, aber sie hatte ein paar hundert Gulden.« – »Das ist ganz recht«, rief KIemens, »es ist

unmöglich, sich eine bequemere Frau zu denken.« – »Klemens, Klemens,« sagte Frau von Bendraet,

»wie redest du wieder in den Tag hinein!« – »Er hat sich nur verredet, gnädige Frau«,

entgegnete Warneck, »sehn Sie nur, wie rot er wird.« Dabei legte er seine Hand an die Wange

des jungen Bendraet. Klemens schlug ihm halb verlegen, halb scherzend auf die Finger.

»Übrigens«, hub Karl an, »gibt es in hiesiger Gegend in allem Ernste eine Bäurin, die aus

Vorsatz, um mit ihrem Manne in Frieden zu leben, vierzehn Jahre lang keine Silbe geredet hat.«

– »Das ist richtig«, sprach Frau von Brenkfeld, »wir kennen diese Frau sehr wohl. Sie hatte

lange und viel durch den zänkischen Geist ihres Mannes gelitten. Auf einmal hört sie auf zu

reden; man hält sie erst für aufgebracht, dann für wahnsinnig, dann für stumm. So währt es

vierzehn Jahre. Der Mann stirbt. Auf seinem Begräbnistage fängt sie wieder an zu reden und

versichert, es werde sie noch in ihrer Todesstunde trösten, ihren Vorsatz durchgehalten zu

haben. Sie könne nun ohne Unruhe und Reue an ihren seligen Mann denken, denn seit vierzehn

Jahren sei keine Uneinigkeit zwischen ihnen gewesen.« – »Das ist viel«, sagte Warneck. »Lebt

die Frau noch?« fragte Louis. »Jawohl«, entgegnete Frau von Brenkfeld, »nahe bei Emdorf in dem

kleinen roten Häuschen an der Heerstraße.« »Die Frau kenne ich wohl«, sagte Klemens. »Ich

nicht«, versetzte Louis, »aber ich möchte sie wohl kennen.« Klemens beugte zu ihm und sagte

halbleise: »Strapazier dich nicht, mein Söhnchen, es ist eine alte Hexe, und an hübsche

Töchter ist auch gar nicht zu denken.« – »Geh!« sagte Louis. Warneck lachte und drohte ihm mit

dem Finger. »Nun, was ist es denn weiter?« sagte Klemens laut, »ich sagte eben, die Frau hat

keine Kinder, aber so ein Dutzend Schreihälse würden ihr die Worte schon von der Zunge

gebracht haben.« Warneck versetzte neckend: »Es kam mir beinahe vor, als hätte, was du

sagtest, anderst geklungen; aber ich will dich nicht noch röter machen; du blühst doch schon

wie eine Rose.« – »Beinahe, als wenn man ihn zu Claudinens Füßen ertappte«, rief Julie. »Hm«,

brummte Klemens halbleise vor sich hin, »die Blankenau gefällt mir in kurzem vielleicht besser

als die Triest. Man wird des ewigen Silbenstechens doch endlich hundemüde.« – »Vorzüglich«,

versetzte Julie, »wenn ein bißchen Handwerksneid dazukömmt.« – »Ich merke wohl«, rief Klemens,

»du arbeitest darauf, daß ich widernecken soll, aber ich wüßte wahrhaftig nicht, womit, ich

müßte denn deine unglückliche Liebe zu dem Wohlgeflickten ans Licht ziehn.« – »Darüber

brauchst du nichts zu sagen«, entgegnete Julie lachend, »hätte der arme Schelm besser zu

leben, so würde er gewiß die alten Röcke nicht so lange flicken lassen.« – »Es ist Schande

genug, daß die Kunst so nach Brod gehn muß«, rief Louis dazwischen. »Und eigentlich«, sagte

Julie, »ist er Louis’ Ideal und nicht das meinige.« – »Ideal will viel sagen«, antwortete

Louis, »ich kann, gottlob! noch höher hinauf denken, aber daß ich Anteil an dem Wengenberg

nehme, das finde ich sehr natürlich und nur wunderbar, daß ich der einzige in unsrem Hause

bin; die Musik ist doch sonst eine Sprache, die sogar Kinder und Wilde verstehn.« – »Für

welches von beiden hältst du mich denn?« fragte Julie. Louis neigte zu ihr und sagte leise:

»Für ein Kind und wild dazu.«

Julie sprang rasch auf und griff ihn mit großer Schnelligkeit an. Louis wollte sich

verteidigen, aber die Schläge fielen wie Schneeflocken auf Wangen und Schultern und Rücken,

daß Louis, den Kopf zwischen die Schultern gedrückt, bald diesen, bald jenen der Gesellschaft

vergebens vorschob und nur endlich am Sofa neben den Frauen Ruhe fand. Dabei rief sie: »Nach

Erlenburg solltest du ziehn, dahin gehörst du, du Troubadour, du Mondhase!«

Der kleine Krieg war geendigt. Louis schöpfte Atem. Julie sah auf ihre rotgewordenen Händchen

und trat vor den Baron Warneck: »Sein Sie nicht böse, ich habe Sie tüchtig gestoßen. Warum

machen Sie sich zur Mauer? Die muß nieder, wenn der Feind dahinter steckt.«

Warneck sah in das zarte, glühende Antlitz, und eine leise Bewegung zuckte über sein Gesicht.

Er senkte seine scharfen Blicke in ihre Augen und sagte: »Sollte Fräulein Julie sich selbst so

wenig kennen?«

Dann wandte er sich rasch zu den übrigen.

Der Wagen fuhr vor, und die schönen, reichgezäumten Reitpferde scharrten ungeduldig auf dem

Pflaster. Die Reuter ließen sie die schönsten Fensterparaden machen, und der Besuch war zu

Ende.

»Der Klemens kann doch seine eigne Schande nicht verschweigen«, hub Karl an zu seinen

Schwestern, indem sie dem Zuge durch die Scheiben nachblickten. »Wißt ihr, was das Necken mit

seiner Röte bedeutet? Er hat sich auf dem Felde von einem hübschen Bauernmädchen eine tüchtige

Maulschelle geholt, und wie er es recht betrachtet, da wird es ihm so lächerlich, daß er es

nicht verschweigen kann. So macht er’s immer. Er ist eigentlich nicht schlimmer als andre

Leute, aber er sagt immer alles Üble, was er von sich selber weiß, und noch ein’ges und andre

dazu, woran er nicht denkt.«

»Mir ist er sehr fatal«, versetzte Therese.

Die Mutter saß indes an dem andern Fenster und dachte an die arme, gedrückte Nachbarin, Mutter

und Gattin und doch verwaist, und sah sie im Geiste schleichen, alt und verkümmert, in dem

dürren, rasselnden Laube ihrer liebsten, letzten Hoffnungen. Sie dachte an ihre eignen Kinder,

an ihre Zucht, ihren Gehorsam, ihre kindliche Sorgfalt, und ihr Herz ward vor Rührung durch

und durch weich in Wehmut und Reue. Sie nahm ein Gebetbuch aus der Lade des Tisches und ging

hinaus in ihre Kammer.

Karl unterhielt indessen Theresen von dem Zustande des Patienten, der ihm sehr beruhigend

schien. Der Kranke war völlig bei Sinnen und hatte mehrere Stunden sehr ruhig geschlummert.

»Ich bitte dich«, sagte Therese, »nimm dich seiner doch recht an; wir können es nicht.«

Karl entgegnete noch manches, und Therese wurde zerstreut, denn sie hatte Ledwinen soeben über

den Vorhof in den Garten wandeln sehn, und ihr langsamer matter Gang, die feine, sanft

gebeugte Gestalt, der wie dem blühenden Schneeballe das farblose, reich umflochtne Haupt zu

schwer zu werden schien, hatte sich mit wehmütiger Angst auf ihr Herz gelegt. Karl sagte eben:

»Ich will wieder hinauf zu dem Kranken gehn.« – »Das tu«, versetzte sie rasch und schritt dann

gedankenvoll und unruhig hinaus in den weiten, schön angelegten Garten des Schlosses. Sie sah

Ledwinen von fern, wie sie am Rande des Parks unter der alten Linde saß, die Arme übereinander

auf den steinernen Tisch gelegt und das Gesicht fest darauf gedrückt. Da fiel ihr ein, wie sie

den Grafen Hollberg am Morgen in ähnlicher Lage gesehn, bleich in der Ohnmacht, und alles, was

Karl über seine Krankheit gesagt, und sie erschrak vor der Ähnlichkeit, denn wie hätte sie

sich je bei Ledwina das eingestehn sollen, was sie bei dem Grafen sogleich als unleugbar

anerkannte! Es ist ja ein schönes Wahrzeichen liebender Herzen, so, wie ohne Not für das

Geliebte zu sorgen, so auch mit glühender, herzzerreißender Blindheit die Hoffnung zu

umklammern, wenn sie für einen jeden andern längst dahin ist. Eine Stimmung der Angst überfiel

sie, in der sie nicht vor Ledwina treten mochte. Sie wollte sich eben umwenden, als die

Schwester aufsah und nach ihr hinüber. Sie suchte sich nun zu ermannen, nahte sich der Linde

und saß nieder neben ihr.

Ledwina sah auf und sagte ganz matt: »Mein Gott, wenn Lünden so nah wäre wie Erlenburg!« – »Es

ist aber, gottlob!« versetzte Therese, »mehr als noch einmal so weit bis dahin; wir haben doch

jetzt gewiß für ein paar Monate Ruh.« – »Zum Beispiel der Klemens«, sagte Ledwina, »und ich

glaube wahrlich, die Adolfine Dobronn könnte ihn nehmen.« – »O, ungezweifelt«, entgegnete

Therese. Ledwina versetzte: »Und die Linchen Blankenau vielleicht auch – mein Gott, wenn ich

des Menschen Frau werden müßte, ich könnte unmöglich lange leben.« Sie lehnte das Haupt, wie

ermüdet von dem Gedanken, an Theresens Schulter und fuhr fort: »Nein, sterben würde ich wohl

vielleicht nicht, aber verkrüppeln an jeder Kraft des Geistes, alle Gedanken verlieren, die

mir lieb sind, halb wahnsinnig, eigentlich stumpfsinnig würde ich werden.« Sie sann ein

Weilchen, dann sagte sie: »Überhaupt, Therese, ich bin so ungenügsam und habe so wenig Sinn

für fremde Ansichten, das ist einer meiner größten Fehler. Gott weiß, welche Schule mir

vielleicht noch vorbehalten ist. Ich gestehe, daß ich mich sehr vor einer Schwägerin fürchte.

Vielleicht wird sie kein Herz für mich haben.« Dann sagte sie mit einem raschen Blitze in den

matten Augen: »Nein, so ist es nicht, aber ich fürchte, ich habe keins für sie. Es wird wie

eine Mauer zwischen uns stehn, daß sie mir die Mutter und dich ersetzen soll und nicht kann,

denn du bist dann längst fort und glücklich.«

Therese legte sanft ihren Arm um die seltsam Bewegte und ward selbst trüber: »Liebe Ledwina,

verkümmere dir doch dein Leben nicht mit der Zukunft; sie kömmt von selbst, ohne daß wir sie

in Angst und Sorgen herbeischleppen.« – »Eben darum«, antwortete Ledwina lebhaft, »müssen wir

uns im voraus mit dem Gedanken vertraun, damit es nachher nicht zu schwer fällt. Weißt du

wohl, daß es sündlich ist, aus eigener Schuld einem Geschicke unterliegen, das so allgemein

getragen wird? Aber«, fuhr sie dann langsamer fort, »wenn ich mir das so denke, daß eine andre

hier regiert an der Mutter Stelle und in dem Bette schläft, vor dem wir so oft gestanden und

ihr eine gute Nacht gewünscht…« Sie wandte sich unruhig nach allen Seiten umher. »So wird es

aber gar nicht kommen«, sagte Therese, »die Mutter wird wahrscheinlich hier bleiben. Karl ist

ja so vernünftig; seine Wahl wird nicht leicht so schlimm ausfallen, daß die Mutter fortziehn

müßte.« – »Aber wenn die Mutter nun tot ist?« versetzte Ledwina. »Die Mutter«, sagte Therese

wehmütig, »kann, gottlob, wohl länger leben wie wir.« – »Aber die Zeit kommt doch endlich«,

unterbrach sie Ledwina. Dann legte sie sanft ihren Arm um Theresens Nacken und fuhr, nah an

ihrer Schulter gelehnt, leise und beklemmt fort: »Sieh, Therese, auf unsrem Boden stehn so

viele alte Bilder aus der Familie, aber wir wissen doch fast von keinem recht, wen es

vorstellt, und es sind doch alles unsre Voreltern und haben hier gewohnt, Gott weiß, in

welchen Zimmern, und haben Geschwister und Kinder gehabt, die diese Bilder mit Freude und

Verehrung betrachtet und bewahrt und vielleicht späterhin mit der teuersten, rührendsten

Erinnerung, und nun? Wie sehn sie aus! Der alten Frau, du weißt wohl, mit der schwarzen Kappe,

sind jetzt auch die Nase und die Augen ausgestoßen. Das ist gewiß absichtlich geschehn, weil

sie eigentlich so häßlich aussieht.« Sie fuhr tief atmend fort: »Die Vergangenheit, die

liebsten, teuersten Überbleibsel werden endlich mit Füßen getreten. Denk, wenn Mutter ihr Bild

–« Sie fing heftig an zu weinen und klammerte sich fest um ihre Schwester. Therese mußte sich

gewaltsam innehalten; denn alle Fasern ihres Herzens schmerzten, aber sie hielt sich fest und

sagte: »Ledwine, sei ruhig, schade dir nicht selber. Warum suchst du gewaltsam Gegenstände

auf, die dich erschüttern und krank machen müssen? Nun bitte ich dich, wenn du mich lieb hast,

so nimm dich zusammen und sprich und denk etwas andres.« Beide schwiegen. Ledwine stand auf

und wandelte ein paarmal den Garten auf und nieder. Dann setzte sie sich wieder zu Theresen,

die über allerlei Dinge zu reden begann. Sie antwortete so, daß Therese sowohl ihren guten

Willen als seine gänzliche Schwäche sehn mußte. Die Sonne begann sich zu neigen, und ihre

milden Lichter tanzten durch die Zweige der Linde auf den Gewändern der Mädchen und Ledwinens

leise bebendem Antlitz.

»Wie schön der Abend wird!« sagte Therese. »Gestern um diese Stunde lebte der arme Klemens

noch«, seufzte Ledwine. »Suchst du wieder das Trübe?« sagte Therese sanft. »Ist denn«,

versetzte Ledwine beklemmt, »ein Tag Andenken zuviel für seiner Mutter einzigsten Trost? Hör

mich an!«

Nun erzählte sie, wie sie an dem Flusse gewandelt, immer hinauf, kämpfend mit greulichen,

sinnlosen Bildern, wie sie sich fast besiegt und umkehren wollen, nur noch diese eine Bucht

vorüber, – und ein matter, flimmernder Schein sah durch dichte Brombeerranken aus dem Gewässer

zu ihr hinüber. Heimlich schaudernd nannte sie es den Widerschein der Sonne. Da wehten leichte

Wolken herauf, das Sonnengold schwand vom Strome, und heller flammte das heimliche Licht durch

die dunklen Blätter.

»Begreifst du wohl, Therese«, sagte sie, »daß ich an die Sagen dachte von Lichtern, die über

den Versunknen wachen? Indes ergab ich mich nicht und schritt rasch darauf zu; da flammte es

hoch auf und schwand, und wie ich an das Gestrippe trat, da war es die Laterne des armen

Klemens, die, ausgebrannt und in die Ranken verschlungen, auf dem Wasser schwankte. Ich kniete

an das Ufer und löste sie aus den Dornen, aber wie ich sie so kalt und naß und erloschen in

der Hand hielt, da war es mir, als sei sie ein toter, erstarrter Teil des Verlornen. Ich habe

sie am Ufer stehen lassen.« Sie drückte sich leise schaudernd an Theresen. »Aber was ist denn

das?« sagte sie und deutete auf den Boden. »Was meinst du?« versetzte Therese. »Mich dünkt,

ich sehe mehr als die Schatten der Bäume.« – »Auch die unsrigen«, sagte Therese. – »Es wird

nichts sein; hör zu, und wie ich zurückgehe und an das Sandloch komme, da seh ich von weitem

die alte Lisbeth aus ihrem Hause gehn. O Therese, sie ist so klein geworden, ich hätte sie

fast nicht erkannt. Sie ging lange vor mir, ohne mich zu sehn, sondern immer starr in das

Wasser. Du weißt, sie ist immer so ordentlich. O Gott, sie sah so verstört aus. Die Hälfte

ihrer grauen Haare hing unter der Mütze hervor. Ich konnte es nicht mehr aushalten und ging

vorüber. Da schlug es Mittag im Dorfe, und die Betglocke begann zu läuten. Ich sagte im

Vorübergehn: ›Gelobt sei Jesus Christus!‹ Sie sah nicht auf, sondern preßte die Hände zusammen

und sagte: ›In alle Ewigkeit, in alle Ewigkeit, Amen‹ laut und oft nacheinander. Ich hörte es

noch, wie ich schon eine Strecke von ihr war.«

»Gott wird sie trösten«, sagte Therese und sah bewegt vor sich nieder. Da war es ihr selber,

als sehe sie durch den Schlagschatten der Bäume noch eine andre Gestalt lauschen. Sie sah

rasch um sich, aber es war nichts.

»Es wird zu kühl für dich, Ledwine«, sagte sie aufstehend, und die von heimlichen

Fieberschauern Durchbebte folgte ihr willig. Auf dem Hofe begegnete ihnen Karl. Therese ließ

die Schwester vorangehn und teilte ihm ihre Bemerkung mit, und er schritt sogleich in den

Garten, dann eilte sie der trauernd Wandelnden nach.

Annette von Droste-Hülshoff – Die Judenbuche

Annette von Droste-Hülshoff

Die Judenbuche

Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen

Wo ist die Hand so zart, daß ohne Irren

Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,

So fest, daß ohne Zittern sie den Stein

Mag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?

Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,

Zu wägen jedes Wort, das unvergessen

In junge Brust die zähen Wurzeln trieb,

Des Vorurteils geheimen Seelendieb?

Du Glücklicher, geboren und gehegt

Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,

Leg hin die Waagschal’, nimmer dir erlaubt!

Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! –

Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder

Grundeigentümers geringerer Klasse im Dorfe B., das, so schlecht gebaut und rauchig es sein

mag, doch das Auge jedes Reisenden fesselt durch die überaus malerische Schönheit seiner Lage

in der grünen Waldschlucht eines bedeutenden und geschichtlich merkwürdigen Gebirges. Das

Ländchen, dem es angehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdwinkel ohne Fabriken und

Handel, ohne Heerstraßen, wo noch ein fremdes Gesicht Aufsehen erregte, und eine Reise von

dreißig Meilen selbst den Vornehmeren zum Ulysses seiner Gegend machte – kurz, ein Fleck, wie

es deren sonst so viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tugenden, all der

Originalität und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen. Unter höchst

einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und

Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten, oder vielmehr, es hatte sich neben dem

gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit

und der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung. Die Gutsbesitzer, denen die niedere

Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen

Einsicht; der Untergebene tat, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiten Gewissen

verträglich schien, und nur dem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubichten

Urkunden nachzuschlagen. Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen; sie ist

seit ihrem Verschwinden entweder hochmütig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie

erlebte, zuviel teure Erinnerungen blenden und der Spätergeborene sie nicht begreift. Soviel

darf man indessen behaupten, daß die Form schwächer, der Kern fester, Vergehen häufiger,

Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wer nach seiner Überzeugung handelt, und sei sie noch

so mangelhaft, kann nie ganz zugrunde gehen, wogegen nichts seelentötender wirkt, als gegen

das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch nehmen.

Ein Menschenschlag, unruhiger und unternehmender als alle seine Nachbarn, ließ in dem kleinen

Staate, von dem wir reden, manches weit greller hervortreten als anderswo unter gleichen

Umständen. Holz-und Jagdfrevel waren an der Tagesordnung, und bei den häufig vorfallenden

Schlägereien hatte sich jeder selbst seines zerschlagenen Kopfes zu trösten. Da jedoch große

und ergiebige Waldungen den Hauptreichtum des Landes ausmachten, ward allerdings scharf über

die Forsten gewacht, aber weniger auf gesetzlichem Wege, als in stets erneuten Versuchen,

Gewalt und List mit gleichen Waffen zu überbieten.

Das Dorf B. galt für die hochmütigste, schlauste und kühnste Gemeinde des ganzen Fürstentums.

Seine Lage inmitten tiefer und stolzer Waldeinsamkeit mochte schon früh den angeborenen

Starrsinn der Gemüter nähren; die Nähe eines Flusses, der in die See mündete und bedeckte

Fahrzeuge trug, groß genug, um Schiffbauholz bequem und sicher außer Land zu führen, trug sehr

dazu bei, die natürliche Kühnheit der Holzfrevler ermutigen, und der Umstand, daß alles umher

von Förstern wimmelte, konnte hier nur aufregend wirken, da bei den häufig vorkommenden

Scharmützeln der Vorteil meist auf seiten der Bauern blieb. Dreißig, vierzig Wagen zogen

zugleich aus in den schönen Mondnächten, mit ungefähr doppelt soviel Mannschaft jedes Alters,

vom halbwüchsigen Knaben bis zum siebzigjährigen Ortsvorsteher, der als erfahrener Leitbock

den Zug mit gleich stolzem Bewußtsein anführte, als er seinen Sitz in der Gerichtsstube

einnahm. Die Zurückgebliebenen horchten sorglos dem allmähligen Verhallen des Knarrens und

Stoßens der Räder in den Hohlwegen und schliefen sacht weiter. Ein gelegentlicher Schuß, ein

schwacher Schrei ließen wohl einmal eine junge Frau oder Braut auffahren; kein anderer achtete

darauf. Beim ersten Morgengrau kehrte der Zug ebenso schweigend heim, die Gesichter glühend

wie Erz, hier und dort einer mit verbundenem Kopf, was weiter nicht in Betracht kam, und nach

ein paar Stunden war die Umgegend voll von dem Mißgeschick eines oder mehrerer Forstbeamten,

die aus dem Walde getragen wurden, zerschlagen, mit Schnupftabak geblendet und für einige Zeit

unfähig, ihrem Berufe nachzukommen.

In diesen Umgebungen ward Friedrich Mergel geboren, in einem Hause, das durch die stolze

Zugabe eines Rauchfangs und minder kleiner Glasscheiben die Ansprüche seines Erbauers, sowie

durch seine gegenwärtige Verkommenheit die kümmerlichen Umstände des jetzigen Besitzers

bezeugte. Das frühere Geländer um Hof und Garten war einem vernachlässigten Zaune gewichen,

das Dach schadhaft, fremdes Vieh weidete auf den Triften, fremdes Korn wuchs auf dem Acker

zunächst am Hofe, und der Garten enthielt, außer ein paar holzichten Rosenstöcken aus besserer

Zeit, mehr Unkraut als Kraut. Freilich hatten Unglücksfälle manches hiervon herbeigeführt;

doch war auch viel Unordnung und böse Wirtschaft im Spiel. Friedrichs Vater, der alte Hermann

Mergel, war in seinem Junggesellenstande ein sogenannter ordentlicher Säufer, d.h. einer, der

nur an Sonn- und Festtagen in der Rinne lag und die Woche hindurch so manierlich war wie ein

anderer. So war denn auch seine Bewerbung um ein recht hübsches und wohlhabendes Mädchen ihm

nicht erschwert. Auf der Hochzeit ging’s lustig zu. Mergel war gar nicht zu arg betrunken, und

die Eltern der Braut gingen abends vergnügt heim; aber am nächsten Sonntage sah man die junge

Frau schreiend und blutrünstig durchs Dorf zu den Ihrigen rennen, alle ihre guten Kleider und

neues Hausgerät im Stich lassend. Das war freilich ein großer Skandal und Ärger für Mergel,

der allerdings Trostes bedurfte. So war denn auch am Nachmittage keine Scheibe an seinem Hause

mehr ganz, und man sah ihn noch bis spät in die Nacht vor der Türschwelle liegen, einen

abgebrochenen Flaschenhals von Zeit zu Zeit zum Munde führend und sich Gesicht und Hände

jämmerlich zerschneidend. Die junge Frau blieb bei ihren Eltern, wo sie bald verkümmerte und

starb. Ob nun den Mergel Reue quälte oder Scham, genug, er schien der Trostmittel immer

bedürftiger und fing bald an, den gänzlich verkommenen Subjekten zugezählt zu werden.

Die Wirtschaft verfiel; fremde Mägde brachten Schimpf und Schaden; so verging Jahr auf Jahr.

Mergel war und blieb ein verlegener und zuletzt ziemlich armseliger Witwer, bis er mit

einemmale wieder als Bräutigam auftrat. War die Sache an und für sich unerwartet, so trug die

Persönlichkeit der Braut noch dazu bei, die Verwunderung zu erhöhen. Margareth Semmler war

eine brave, anständige Person, so in den Vierzigen, in ihrer Jugend eine Dorfschönheit und

noch jetzt als sehr klug und wirtlich geachtet, dabei nicht unvermögend; und so mußte es jedem

unbegreiflich sein, was sie zu diesem Schritte getrieben. Wir glauben den Grund eben in dieser

ihrer selbstbewußten Vollkommenheit zu finden. Am Abend vor der Hochzeit soll sie gesagt

haben: »Eine Frau, die von ihrem Manne übel behandelt wird, ist dumm oder taugt nicht: wenn’s

mir schlecht geht, so sagt, es liege an mir.« Der Erfolg zeigte leider, daß sie ihre Kräfte

überschätzt hatte. Anfangs imponierte sie ihrem Manne; er kam nicht nach Haus oder kroch in

die Scheune, wenn er sich übernommen hatte; aber das Joch war zu drückend, um lange getragen

zu werden, und bald sah man ihn oft genug quer über die Gasse ins Haus taumeln, hörte drinnen

sein wüstes Lärmen und sah Margreth eilends Tür und Fenster schließen. An einem solchen Tage –

keinem Sonntage mehr – sah man sie abends aus dem Hause stürzen, ohne Haube und Halstuch, das

Haar wild um den Kopf hängend, sich im Garten neben ein Krautbeet niederwerfen und die Erde

mit den Händen aufwühlen, dann ängstlich um sich schauen, rasch ein Bündel Kräuter brechen und

damit langsam wieder dem Hause zugehen, aber nicht hinein, sondern in die Scheune. Es hieß, an

diesem Tage habe Mergel zuerst Hand an sie gelegt, obwohl das Bekenntnis nie über ihre Lippen

kam.

Das zweite Jahr dieser unglücklichen Ehe ward mit einem Sohne, man kann nicht sagen erfreut,

denn Margreth soll sehr geweint haben, als man ihr das Kind reichte. Dennoch, obwohl unter

einem Herzen voll Gram getragen, war Friedrich ein gesundes, hübsches Kind, das in der

frischen Luft kräftig gedieh. Der Vater hatte ihn sehr lieb, kam nie nach Hause, ohne ihm ein

Stückchen Wecken oder dergleichen mitzubringen, und man meinte sogar, er sei seit der Geburt

des Knaben ordentlicher geworden; wenigstens ward der Lärmen im Hause geringer.

Friedrich stand in seinem neunten Jahre. Es war um das Fest der heiligen drei Könige, eine

harte, stürmische Winternacht. Hermann war zu einer Hochzeit gegangen und hatte sich schon

beizeiten auf den Weg gemacht, da das Brauthaus Dreiviertelmeilen entfernt lag. Obgleich er

versprochen hatte, abends wiederzukommen, rechnete Frau Mergel doch um so weniger darauf, da

sich nach Sonnenuntergang dichtes Schneegestöber eingestellt hatte. Gegen zehn Uhr schürte sie

die Asche am Herde zusammen und machte sich zum Schlafengehen bereit. Friedrich stand neben

ihr, schon halb entkleidet und horchte auf das Geheul des Windes und das Klappen der

Bodenfenster.

»Mutter, kommt der Vater heute nicht?« fragte er. – »Nein, Kind, morgen.« – »Aber warum nicht,

Mutter? er hat’s doch versprochen.« – »Ach Gott, wenn der alles hielte, was er verspricht!

Mach, mach voran, daß du fertig wirst.«

Sie hatten sich kaum niedergelegt, so erhob sich eine Windsbraut, als ob sie das Haus

mitnehmen wollte. Die Bettstatt bebte und im Schornstein rasselte es wie ein Kobold. – »Mutter

– es pocht draußen!« – »Still, Fritzchen, das ist das lockere Brett im Giebel, das der Wind

jagt.« – »Nein, Mutter, an der Tür!« – »Sie schließt nicht; die Klinke ist zerbrochen. Gott,

schlaf doch! Bring mich nicht um das armselige bißchen Nachtruhe.« – »Aber wenn nun der Vater

kommt?« – Die Mutter drehte sich heftig im Bett um. – »Den hält der Teufel fest genug!« – »Wo

ist der Teufel, Mutter?« – »Wart du Unrast! Er steht vor der Tür und will dich holen, wenn du

nicht ruhig bist!«

Friedrich ward still; er horchte noch ein Weilchen und schlief dann ein. Nach einigen Stunden

erwachte er. Der Wind hatte sich gewendet und zischte jetzt wie eine Schlange durch die

Fensterritze an seinem Ohr. Seine Schulter war erstarrt; er kroch tief unters Deckbett und lag

aus Furcht ganz still. Nach einer Weile bemerkte er, daß die Mutter auch nicht schlief. Er

hörte sie weinen und mitunter: »Gegrüßt seist du, Maria!« und: »Bitte für uns arme Sünder!«

Die Kügelchen des Rosenkranzes glitten an seinem Gesicht hin. – Ein unwillkürlicher Seufzer

entfuhr ihm. – »Friedrich, bist du wach?« – »Ja, Mutter.« – »Kind, bete ein wenig – du kannst

ja schon das halbe Vaterunser – daß Gott uns bewahre vor Wasser- und Feuersnot.«

Friedrich dachte an den Teufel, wie der wohl aussehen möge. Das mannigfache Geräusch und

Getöse im Hause kam ihm wunderlich vor. Er meinte, es müsse etwas Lebendiges drinnen sein und

draußen auch. »Hör, Mutter, gewiß, da sind Leute, die pochen.« – »Ach nein, Kind; aber es ist

kein altes Brett im Hause, das nicht klappert.« – »Hör! hörst du nicht? Es ruft! Hör doch!«

Die Mutter richtete sich auf; das Toben des Sturms ließ einen Augenblick nach. Man hörte

deutlich an den Fensterläden pochen und mehrere Stimmen: »Margreth! Frau Margreth, heda,

aufgemacht!« – Margreth stieß einen heftigen Laut aus: »Da bringen sie mir das Schwein

wieder!«

Der Rosenkranz flog klappernd auf den Brettstuhl, die Kleider wurden herbeigerissen. Sie fuhr

zum Herde und bald darauf hörte Friedrich sie mit trotzigen Schritten über die Tenne gehen.

Margreth kam gar nicht wieder; aber in der Küche war viel Gemurmel und fremde Stimmen. Zweimal

kam ein fremder Mann in die Kammer und schien ängstlich etwas zu suchen. Mit einemmale ward

eine Lampe hereingebracht. Zwei Männer führten die Mutter. Sie war weiß wie Kreide und hatte

die Augen geschlossen. Friedrich meinte, sie sei tot; er erhob ein fürchterliches Geschrei,

worauf ihm jemand eine Ohrfeige gab, was ihn zur Ruhe brachte, und nun begriff er nach und

nach aus den Reden der Umstehenden, daß der Vater vom Ohm Franz Semmler und dem Hülsmeyer tot

im Holze gefunden sei und jetzt in der Küche liege.

Sobald Margreth wieder zur Besinnung kam, suchte sie die fremden Leute loszuwerden. Der Bruder

blieb bei ihr und Friedrich, dem bei strenger Strafe im Bett zu bleiben geboten war, hörte die

ganze Nacht hindurch das Feuer in der Küche knistern und ein Geräusch wie von Hin- und

Herrutschen und Bürsten. Gesprochen ward wenig und leise, aber zuweilen drangen Seufzer

herüber, die dem Knaben, so jung er war, durch Mark und Bein gingen. Einmal verstand er, daß

der Oheim sagte: »Margreth, zieh dir das nicht zu Gemüt; wir wollen jeder drei Messen lesen

lassen, und um Ostern gehen wir zusammen eine Bittfahrt zur Muttergottes von Werl.«

Als nach zwei Tagen die Leiche fortgetragen wurde, saß Margreth am Herde, das Gesicht mit der

Schürze verhüllend. Nach einigen Minuten, als alles still geworden war, sagte sie in sich

hinein: »Zehn Jahre, zehn Kreuze. Wir haben sie doch zusammen getragen, und jetzt bin ich

allein!« dann lauter: »Fritzchen, komm her!« – Friedrich kam scheu heran; die Mutter war ihm

ganz unheimlich geworden mit den schwarzen Bändern und den verstörten Zügen. »Fritzchen,«

sagte sie, »willst du jetzt auch fromm sein, daß ich Freude an dir habe, oder willst du

unartig sein und lügen, oder saufen und stehlen?« – »Mutter, Hülsmeyer stiehlt.« – »Hülsmeyer?

Gott bewahre! Soll ich dir auf den Rücken kommen? wer sagt dir so schlechtes Zeug?« – »Er hat

neulich den Aaron geprügelt und ihm sechs Groschen genommen.« – »Hat er dem Aaron Geld

genommen, so hat ihn der verfluchte Jude gewiß zuvor darum betrogen. Hülsmeyer ist ein

ordentlicher, angesessener Mann, und die Juden sind alle Schelme.« – »Aber, Mutter, Brandis

sagt auch, daß er Holz und Rehe stiehlt.« – »Kind, Brandis ist ein Förster.« – »Mutter, lügen

die Förster?«

Margreth schwieg eine Weile; dann sagte sie: »Höre, Fritz, das Holz läßt unser Herrgott frei

wachsen und das Wild wechselt aus eines Herren Lande in das andere; die können niemand

angehören. Doch das verstehst du noch nicht; jetzt geh in den Schoppen und hole mir Reisig.«

Friedrich hatte seinen Vater auf dem Stroh gesehen, wo er, wie man sagt, blau und fürchterlich

ausgesehen haben soll. Aber davon erzählte er nie und schien ungern daran zu denken. Überhaupt

hatte die Erinnerung an seinen Vater eine mit Grausen gemischte Zärtlichkeit in ihm

zurückgelassen, wie denn nichts so fesselt, wie die Liebe und Sorgfalt eines Wesens, das gegen

alles Übrige verhärtet scheint, und bei Friedrich wuchs dieses Gefühl mit den Jahren, durch

das Gefühl mancher Zurücksetzung von seiten anderer. Es war ihm äußerst empfindlich, wenn,

solange er Kind war, jemand des Verstorbenen nicht allzu löblich gedachte; ein Kummer, den ihm

das Zartgefühl der Nachbarn nicht ersparte. Es ist gewöhnlich in jenen Gegenden, den

Verunglückten die Ruhe im Grabe abzusprechen. Der alte Mergel war das Gespenst des

Brederholzes geworden; einen Betrunkenen führte er als Irrlicht bei einem Haar in den

Zellerkolk (Teich); die Hirtenknaben, wenn sie nachts bei ihren Feuern kauerten und die Eulen

in den Gründen schrieen, hörten zuweilen in abgebrochenen Tönen ganz deutlich dazwischen sein:

»Hör mal an, feins Lieseken,« und ein unprivilegierter Holzhauer, der unter der breiten Eiche

eingeschlafen und dem es darüber Nacht geworden war, hatte beim Erwachen sein geschwollenes

blaues Gesicht durch die Zweige lauschen sehen. Friedrich mußte von andern Knaben vieles

darüber hören; dann heulte er, schlug um sich, stach auch einmal mit seinem Messerchen und

wurde bei dieser Gelegenheit jämmerlich geprügelt. Seitdem trieb er seiner Mutter Kühe allein

an das andere Ende des Tales, wo man ihn oft stundenlang in derselben Stellung im Grase liegen

und den Thymian aus dem Boden rupfen sah.

Er war zwölf Jahre alt, als seine Mutter einen Besuch von ihrem jüngern Bruder erhielt, der in

Brede wohnte und seit der törichten Heirat seiner Schwester ihre Schwelle nicht betreten

hatte. Simon Semmler war ein kleiner, unruhiger, magerer Mann mit vor dem Kopf liegenden

Fischaugen und überhaupt einem Gesicht wie ein Hecht, ein unheimlicher Geselle, bei dem

dicktuende Verschlossenheit oft mit ebenso gesuchter Treuherzigkeit wechselte, der gern einen

aufgeklärten Kopf vorgestellt hätte und statt dessen für einen fatalen, Händel suchenden Kerl

galt, dem jeder um so lieber aus dem Wege ging, je mehr er in das Alter trat, wo ohnehin

beschränkte Menschen leicht an Ansprüchen gewinnen, was sie an Brauchbarkeit verlieren.

Dennoch freute sich die arme Margreth, die sonst keinen der Ihrigen mehr am Leben hatte.

»Simon, bist du da?« sagte sie, und zitterte, daß sie sich am Stuhle halten mußte. »Willst du

sehen, wie es mir geht und meinem schmutzigen Jungen?« – Simon betrachtete sie ernst und

reichte ihr die Hand: »Du bist alt geworden, Margreth!« – Margreth seufzte: »Es ist mir

derweil oft bitterlich gegangen mit allerlei Schicksalen.« – »Ja, Mädchen, zu spät gefreit,

hat immer gereut! Jetzt bist du alt und das Kind ist klein. Jedes Ding hat seine Zeit. Aber

wenn ein altes Haus brennt, dann hilft kein Löschen.« – Über Margreths vergrämtes Gesicht flog

eine Flamme so rot wie Blut.

»Aber ich höre, dein Junge ist schlau und gewichst,« fuhr Simon fort. – »Ei nun so ziemlich,

und dabei fromm.« – »Hum, ‘s hat mal einer eine Kuh gestohlen, der hieß auch Fromm. Aber er

ist still und nachdenklich, nicht wahr? Er läuft nicht mit den andern Buben?« – »Er ist ein

eigenes Kind,« sagte Margreth wie für sich; »es ist nicht gut.« – Simon lachte hell auf: »Dein

Junge ist scheu, weil ihn die andern ein paarmal gut durchgedroschen haben. Das wird ihnen der

Bursche schon wieder bezahlen. Hülsmeyer war neulich bei mir; der sagte, es ist ein Junge wie

‘n Reh.«

Welcher Mutter geht das Herz nicht auf, wenn sie ihr Kind loben hört? Der armen Margreth ward

selten so wohl, jedermann nannte ihren Jungen tückisch und verschlossen. Die Tränen traten ihr

in die Augen. »Ja, gottlob, er hat gerade Glieder.« – »Wie sieht er aus?« fuhr Simon fort. –

»Er hat viel von dir, Simon, viel.«

Simon lachte: »Ei, das muß ein rarer Kerl sein, ich werde alle Tage schöner. An der Schule

soll er sich wohl nicht verbrennen. Du läßt ihn die Kühe hüten? Ebenso gut. Es ist doch nicht

halb wahr, was der Magister sagt. Aber wo hütet er? Im Telgengrund? im Roderholze? im

Teutoburger Wald? auch des Nachts und früh?« – »Die ganzen Nächte durch; aber wie meinst du

das?«

Simon schien dies zu überhören; er reckte den Hals zur Türe hinaus. »Ei, da kommt der Gesell!

Vaterssohn! er schlenkert gerade so mit den Armen wie dein seliger Mann. Und schau mal an!

Wahrhaftig, der Junge hat meine blonden Haare!«

In der Mutter Züge kam ein heimliches, stolzes Lächeln; ihres Friedrichs blonde Locken und

Simons rötliche Bürsten! Ohne zu antworten, brach sie einen Zweig von der nächsten Hecke und

ging ihrem Sohne entgegen, scheinbar, eine träge Kuh anzutreiben, im Grunde aber, ihm einige

rasche, halbdrohende Worte zuzuraunen; denn sie kannte seine störrische Natur, und Simons

Weise war ihr heute einschüchternder vorgekommen als je. Doch ging alles über Erwarten gut;

Friedrich zeigte sich weder verstockt, noch frech, vielmehr etwas blöde und sehr bemüht, dem

Ohm zu gefallen. So kam es denn dahin, daß nach einer halbstündigen Unterredung Simon eine Art

Adoption des Knaben in Vorschlag brachte, vermöge deren er denselben zwar nicht gänzlich

seiner Mutter entziehen, aber doch über den größten Teil seiner Zeit verfügen wollte, wofür

ihm dann am Ende des alten Junggesellen Erbe zufallen solle, das ihm freilich ohnedies nicht

entgehen konnte. Margreth ließ sich geduldig auseinandersetzen, wie groß der Vorteil, wie

gering die Entbehrung ihrerseits bei dem Handel sei. Sie wußte am besten, was eine kränkliche

Witwe an der Hülfe eines zwölfjährigen Knaben entbehrt, den sie bereits gewöhnt hat, die

Stelle einer Tochter zu ersetzen. Doch sie schwieg und gab sich in alles. Nur bat sie den

Bruder, streng, doch nicht hart gegen den Knaben zu sein.

»Er ist gut,« sagte sie, »aber ich bin eine einsame Frau; mein Kind ist nicht, wie einer, über

den Vaterhand regiert hat.« Simon nickte schlau mit dem Kopf: »Laß mich nur gewähren, wir

wollen uns schon vertragen, und weißt du was? Gib mir den Jungen gleich mit, ich habe zwei

Säcke aus der Mühle zu holen; der kleinste ist ihm grad recht, und so lernt er mir zur Hand

gehen. Komm, Fritzchen, zieh deine Holzschuh’ an!« – Und bald sah Margreth den beiden nach,

wie sie fortschritten, Simon voran, mit seinem Gesicht die Luft durchschneidend, während ihm

die Schöße des roten Rocks wie Feuerflammen nachzogen. So hatte er ziemlich das Ansehen eines

feurigen Mannes, der unter dem gestohlenen Sacke büßt; Friedrich ihm nach, fein und schlank

für sein Alter, mit zarten, fast edlen Zügen und langen blonden Locken, die besser gepflegt

waren, als sein übriges Äußere erwarten ließ; übrigens zerlumpt, sonneverbrannt und mit dem

Ausdruck der Vernachlässigung und einer gewissen rohen Melancholie in den Zügen. Dennoch war

eine große Familienähnlichkeit beider nicht zu verkennen, und wie Friedrich so langsam seinem

Führer nachtrat, die Blicke fest auf denselben geheftet, der ihn gerade durch das Seltsame

seiner Erscheinung anzog, erinnerte er unwillkürlich an jemand, der in einem Zauberspiegel das

Bild seiner Zukunft mit verstörter Aufmerksamkeit betrachtet.

Jetzt nahten die beiden sich der Stelle des Teutoburger Waldes, wo das Brederholz den Abhang

des Gebirges niedersteigt und einen sehr dunkeln Grund ausfüllt. Bis jetzt war wenig

gesprochen worden. Simon schien nachdenkend, der Knabe zerstreut, und beide keuchten unter

ihren Säcken. Plötzlich fragte Simon: »Trinkst du gern Branntwein?« – Der Knabe antwortete

nicht. »Ich frage, trinkst du gern Branntwein? Gibt dir die Mutter zuweilen welchen?« – »Die

Mutter hat selbst keinen,« sagte Friedrich. – »So, so, desto besser! – Kennst du das Holz da

vor uns?« – »Das ist das Brederholz.« – »Weißt du auch, was darin vorgefallen ist?« –

Friedrich schwieg. Indessen kamen sie der düstern Schlucht immer näher. »Betet die Mutter noch

so viel?« hob Simon wieder an. – »Ja, jeden Abend zwei Rosenkränze.« – »So? Und du betest

mit?« – Der Knabe lachte halb verlegen mit einem durchtriebenen Seitenblick. – »Die Mutter

betet in der Dämmerung vor dem Essen den einen Rosenkranz, dann bin ich meist noch nicht

wieder da mit den Kühen, und den andern im Bette, dann schlaf’ ich gewöhnlich ein.« – »So, so,

Geselle!«

Diese letzten Worte wurden unter dem Schirme einer weiten Buche gesprochen, die den Eingang

der Schlucht überwölbte. Es war jetzt ganz finster; das erste Mondviertel stand am Himmel,

aber seine schwachen Schimmer dienten nur dazu, den Gegenständen, die sie zuweilen durch eine

Lücke der Zweige berührten, ein fremdartiges Ansehen zu geben. Friedrich hielt sich dicht

hinter seinem Ohm; sein Odem ging schnell, und wer seine Züge hätte unterscheiden können,

würde den Ausdruck einer ungeheuren, doch mehr phantastischen als furchtsamen Spannung darin

wahrgenommen haben. So schritten beide rüstig voran, Simon mit dem festen Schritt des

abgehärteten Wanderers, Friedrich schwankend und wie im Traum. Es kam ihm vor, als ob alles

sich bewegte und die Bäume in den einzelnen Mondstrahlen bald zusammen, bald voneinander

schwankten. Baumwurzeln und schlüpfrige Stellen, wo sich das Wegwasser gesammelt, machten

seinen Schritt unsicher; er war einige Male nahe daran, zu fallen. Jetzt schien sich in

einiger Entfernung das Dunkel zu brechen, und bald traten beide in eine ziemlich große

Lichtung. Der Mond schien klar hinein und zeigte, daß hier noch vor kurzem die Axt

unbarmherzig gewütet hatte. Überall ragten Baumstümpfe hervor, manche mehrere Fuß über der

Erde, wie sie gerade in der Eile am bequemsten zu durchschneiden gewesen waren; die verpönte

Arbeit mußte unversehens unterbrochen worden sein, denn eine Buche lag quer über dem Pfad, in

vollem Laube, ihre Zweige hoch über sich streckend und im Nachtwinde mit den noch frischen

Blättern zitternd. Simon blieb einen Augenblick stehen und betrachtete den gefällten Stamm mit

Aufmerksamkeit. In der Mitte der Lichtung stand eine alte Eiche, mehr breit als hoch; ein

blasser Strahl, der durch die Zweige auf ihren Stamm fiel, zeigte, daß er hohl sei, was ihn

wahrscheinlich vor der allgemeinen Zerstörung geschützt hatte. Hier ergriff Simon plötzlich

des Knaben Arm.

»Friedrich, kennst du den Baum? Das ist die breite Eiche.« – Friedrich fuhr zusammen und

klammerte sich mit kalten Händen an seinen Ohm. – »Sieh,« fuhr Simon fort, »hier haben Ohm

Franz und der Hülsmeyer deinen Vater gefunden, als er in der Betrunkenheit ohne Buße und Ölung

zum Teufel gefahren war.« – »Ohm, Ohm!« keuchte Friedrich. – »Was fällt dir ein? Du wirst dich

doch nicht fürchten? Satan von einem Jungen, du kneipst mir den Arm! Laß los, los!« – Er

suchte den Knaben abzuschütteln. – »Dein Vater war übrigens eine gute Seele; Gott wird’s nicht

so genau mit ihm nehmen. Ich hatt’ ihn so lieb wie meinen eigenen Bruder.« – Friedrich ließ

den Arm seines Ohms los; beide legten schweigend den übrigen Teil des Waldes zurück und das

Dorf Brede lag vor ihnen, mit seinen Lehmhütten und den einzelnen bessern Wohnungen von

Ziegelsteinen, zu denen auch Simons Haus gehörte.

Am nächsten Abend saß Margreth schon seit einer Stunde mit ihrem Rocken vor der Tür und

wartete auf ihren Knaben. Es war die erste Nacht, die sie zugebracht hatte, ohne den Atem

ihres Kindes neben sich zu hören, und Friedrich kam noch immer nicht. Sie war ärgerlich und

ängstlich und wußte, daß sie beides ohne Grund war. Die Uhr im Turm schlug sieben, das Vieh

kehrte heim; er war noch immer nicht da und sie mußte aufstehen, um nach den Kühen zu schauen.

Als sie wieder in die dunkle Küche trat, stand Friedrich am Herde; er hatte sich

vornübergebeugt und wärmte die Hände an den Kohlen. Der Schein spielte auf seinen Zügen und

gab ihnen ein widriges Ansehen von Magerkeit und ängstlichem Zucken. Margreth blieb in der

Tennentür stehen, so seltsam verändert kam ihr das Kind vor.

»Friedrich, wie geht’s dem Ohm?« – Der Knabe murmelte einige unverständliche Worte und drängte

sich dicht an die Feuermauer. – »Friedrich, hast du das Reden verlernt! Junge, tu das Maul

auf! Du weißt ja doch, daß ich auf dem rechten Ohr nicht gut höre.« – Das Kind erhob seine

Stimme und geriet dermaßen ins Stammeln, daß Margreth es um nichts mehr begriff. – »Was sagst

du? Einen Gruß von Meister Semmler? Wieder fort? Wohin? Die Kühe sind schon zu Hause.

Verfluchter Junge, ich kann dich nicht verstehen. Wart, ich muß einmal sehen, ob du keine

Zunge im Munde hast!« – Sie trat heftig einige Schritte vor. Das Kind sah zu ihr auf, mit dem

Jammerblick eines armen, halbwüchsigen Hundes, der Schildwacht stehen lernt, und begann in der

Angst mit den Füßen zu stampfen und den Rücken an der Feuermauer zu reiben.

Margreth stand still; ihre Blicke wurden ängstlich. Der Knabe erschien ihr wie

zusammengeschrumpft, auch seine Kleider waren nicht dieselben, nein, das war ihr Kind nicht!

Und dennoch – »Friedrich, Friedrich!« rief sie.

In der Schlafkammer klappte eine Schranktür und der Gerufene trat hervor, in der einen Hand

eine sogenannte Holzschenvioline, d.h. einen alten Holzschuh, mit drei bis vier zerschabten

Geigensaiten überspannt, in der andern einen Bogen, ganz des Instruments würdig. So ging er

gerade auf sein verkümmertes Spiegelbild zu, seinerseits mit einer Haltung bewußter Würde und

Selbständigkeit, die in diesem Augenblicke den Unterschied zwischen beiden sonst merkwürdig

ähnlichen Knaben stark hervortreten ließ.

»Da, Johannes!« sagte er und reichte ihm mit einer Gönnermiene das Kunstwerk; »da ist die

Violine, die ich dir versprochen habe. Mein Spielen ist vorbei, ich muß jetzt Geld verdienen.«

– Johannes warf noch einmal einen scheuen Blick auf Margreth, streckte dann langsam seine Hand

aus, bis er das Dargebotene fest ergriffen hatte, und brachte es wie verstohlen unter die

Flügel seines armseligen Jäckchens.

Margreth stand ganz still und ließ die Kinder gewähren. Ihre Gedanken hatten eine andere, sehr

ernste Richtung genommen, und sie blickte mit unruhigem Auge von einem auf den andern. Der

fremde Knabe hatte sich wieder über die Kohlen gebeugt mit einem Ausdruck augenblicklichen

Wohlbehagens, der an Albernheit grenzte, während in Friedrichs Zügen der Wechsel eines

offenbar mehr selbstischen als gutmütigen Mitgefühls spielte und sein Auge in fast glasartiger

Klarheit zum erstenmale bestimmt den Ausdruck jenes ungebändigten Ehrgeizes und Hanges zum

Großtun zeigte, der nachher als so starkes Motiv seiner meisten Handlungen hervortrat. Der Ruf

seiner Mutter störte ihn aus Gedanken, die ihm ebenso neu als angenehm waren. Sie saß wieder

am Spinnrade.

»Friedrich,« sagte sie zögernd, »sag einmal –« und schwieg dann. Friedrich sah auf und wandte

sich, da er nichts weiter vernahm, wieder zu seinem Schützling. »Nein, höre –« und dann

leiser: »Was ist das für ein Junge? Wie heißt er?« – Friedrich antwortete ebenso leise: »Das

ist des Ohms Simon Schweinehirt, der eine Botschaft an den Hülsmeyer hat. Der Ohm hat mir ein

Paar Schuhe und eine Weste von Drillich gegeben; die hat mir der Junge unterwegs getragen;

dafür hab’ ich ihm meine Violine versprochen; er ist ja doch ein armes Kind; Johannes heißt

er.« – »Nun –?« sagte Margreth. – »Was willst du, Mutter?« – »Wie heißt er weiter?« – »Ja –

weiter nicht – oder, warte – doch: Niemand, Johannes Niemand heißt er. – Er hat keinen Vater,«

fügte er leiser hinzu.

Margreth stand auf und ging in die Kammer. Nach einer Weile kam sie heraus, mit einem harten,

finstern Ausdruck in den Mienen. – »So, Friedrich«, sagte sie, »laß den Jungen gehen, daß er

seine Bestellung machen kann. – Junge, was liegst du da in der Asche? Hast du zu Hause nichts

zu tun?« – Der Knabe raffte sich mit der Miene eines Verfolgten so eilfertig auf, daß ihm alle

Glieder im Wege standen und die Holschenvioline bei einem Haar ins Feuer gefallen wäre.

»Warte, Johannes,« sagte Friedrich stolz, »ich will dir mein halbes Butterbrod geben, es ist

mir doch zu groß, die Mutter schneidet allemal übers ganze Brod.« – »Laß doch,« sagte

Margreth, »er geht ja nach Hause.« – »Ja, aber er bekommt nichts mehr; Ohm Simon ißt um sieben

Uhr.« Margreth wandte sich zu dem Knaben: »Hebt man dir nichts auf? Sprich, wer sorgt für

dich?« – »Niemand,« stotterte das Kind. – »Niemand?« wiederholte sie; »da nimm, nimm!« fügte

sie heftig hinzu; »du heißt Niemand und Niemand sorgt für dich! Das sei Gott geklagt! Und nun

mach dich fort! Friedrich, geh nicht mit ihm, hörst du, geht nicht zusammen durchs Dorf.« –

»Ich will ja nur Holz holen aus dem Schuppen,« antwortete Friedrich. – Als beide Knaben fort

waren, warf sich Margreth auf einen Stuhl und schlug die Hände mit dem Ausdruck des tiefsten

Jammers zusammen. Ihr Gesicht war bleich wie ein Tuch. »Ein falscher Eid, ein falscher Eid!«

stöhnte sie. »Simon, Simon, wie willst du vor Gott bestehen!«

So saß sie eine Weile, starr mit geklemmten Lippen, wie in völliger Geistesabwesenheit.

Friedrich stand vor ihr und hatte sie schon zweimal angeredet. »Was ist’s? Was willst du?«

rief sie auffahrend. – »Ich bringe Euch Geld,« sagte er, mehr erstaunt als erschreckt. –

»Geld? Wo?« Sie regte sich und die kleine Münze fiel klingend auf den Boden. Friedrich hob sie

auf. »Geld vom Ohm Simon, weil ich ihm habe arbeiten helfen. Ich kann mir nun selber was

verdienen.« – »Geld vom Simon? Wirf’s fort, fort! – Nein, gib’s den Armen. Doch, nein,

behalt’s,« flüsterte sie kaum hörbar; »wir sind selber arm. Wer weiß, ob wir bei dem Betteln

vorbeikommen!« – »Ich soll Montag wieder zum Ohm und ihm bei der Einsaat helfen.« – »Du wieder

zu ihm? Nein, nein, nimmermehr!« – Sie umfaßte ihr Kind mit Heftigkeit. – »Doch,« fügte sie

hinzu, und ein Tränenstrom stürzte ihr plötzlich über die eingefallenen Wangen; »geh, er ist

mein einziger Bruder, und die Verleumdung ist groß! Aber halt Gott vor Augen und vergiß das

tägliche Gebet nicht!«

Margreth legte das Gesicht an die Mauer und weinte laut. Sie hatte manche harte Last getragen,

ihres Mannes üble Behandlung, noch schwerer seinen Tod, und es war eine bittere Stunde, als

die Witwe das letzte Stück Ackerland einem Gläubiger zur Nutznießung überlassen mußte und der

Pflug vor ihrem Hause stillestand. Aber so war ihr nie zumute gewesen; dennoch, nachdem sie

einen Abend durchgeweint, eine Nacht durchwacht hatte, war sie dahin gekommen, zu denken, ihr

Bruder Simon könne so gottlos nicht sein, der Knabe gehöre gewiß nicht ihm, Ähnlichkeiten

wollen nichts beweisen. Hatte sie doch selbst vor vierzig Jahren ein Schwesterchen verloren,

das genau dem fremden Hechelkrämer glich. Was glaubt man nicht gern, wenn man so wenig hat und

durch Unglauben dies wenige verlieren soll!

Von dieser Zeit an war Friedrich selten mehr zu Hause. Simon schien alle wärmern Gefühle,

deren er fähig war, dem Schwestersohn zugewendet zu haben; wenigstens vermißte er ihn sehr und

ließ nicht nach mit Botschaften, wenn ein häusliches Geschäft ihn auf einige Zeit bei der

Mutter hielt. Der Knabe war seitdem wie verwandelt, das träumerische Wesen gänzlich von ihm

gewichen, er trat fest auf, fing an, sein Äußeres zu beachten und bald in den Ruf eines

hübschen, gewandten Burschen zu kommen. Sein Ohm, der nicht wohl ohne Projekte leben konnte,

unternahm mitunter ziemlich bedeutende öffentliche Arbeiten, z.B. beim Wegbau, wobei Friedrich

für einen seiner besten Arbeiter und überall als seine rechte Hand galt; denn obgleich dessen

Körperkräfte noch nicht ihr volles Maß erreicht hatten, kam ihm doch nicht leicht jemand an

Ausdauer gleich. Margreth hatte bisher ihren Sohn nur geliebt, jetzt fing sie an, stolz auf

ihn zu werden und sogar eine Art Hochachtung vor ihm zu fühlen, da sie den jungen Menschen so

ganz ohne ihr Zutun sich entwickeln sah, sogar ohne ihren Rat, den sie, wie die meisten

Menschen, für unschätzbar hielt und deshalb die Fähigkeiten nicht hoch genug anzuschlagen

wußte, die eines so kostbaren Förderungsmittels entbehren konnten.

In seinem achtzehnten Jahre hatte Friedrich sich bereits einen bedeutenden Ruf in der jungen

Dorfwelt gesichert, durch den Ausgang einer Wette, infolge deren er einen erlegten Eber über

zwei Meilen weit auf seinem Rücken trug, ohne abzusetzen. Indessen war der Mitgenuß des Ruhms

auch so ziemlich der einzige Vorteil, den Margreth aus diesen günstigen Umständen zog, da

Friedrich immer mehr auf sein Äußeres verwandte und allmählich anfing, es schwer zu verdauen,

wenn Geldmangel ihn zwang, irgend jemand im Dorf darin nachzustehen. Zudem waren alle seine

Kräfte auf den auswärtigen Erwerb gerichtet; zu Hause schien ihm, ganz im Widerspiel mit

seinem sonstigen Rufe, jede anhaltende Beschäftigung lästig, und er unterzog sich lieber einer

harten, aber kurzen Anstrengung, die ihm bald erlaubte, seinem frühern Hirtenamte wieder

nachzugehen, was bereits begann, seinem Alter unpassend zu werden, und ihm gelegentlichen

Spott zuzog, vor dem er sich aber durch ein paar derbe Zurechtweisungen mit der Faust Ruhe

verschaffte. So gewöhnte man sich daran, ihn bald geputzt und fröhlich als anerkannten

Dorfelegant an der Spitze des jungen Volks zu sehen, bald wieder als zerlumpten Hirtenbuben

einsam und träumerisch hinter den Kühen herschleichend, oder in einer Waldlichtung liegend,

scheinbar gedankenlos und das Moos von den Bäumen rupfend.

Um diese Zeit wurden die schlummernden Gesetze doch einigermaßen aufgerüttelt durch eine Bande

von Holzfrevlern, die unter dem Namen der Blaukittel alle ihre Vorgänger so weit an List und

Frechheit übertraf, daß es dem Langmütigsten zuviel werden mußte. Ganz gegen den gewöhnlichen

Stand der Dinge, wo man die stärksten Böcke der Herde mit dem Finger bezeichnen konnte, war es

hier trotz aller Wachsamkeit bisher nicht möglich gewesen, auch nur ein Individuum namhaft zu

machen. Ihre Benennung erhielten sie von der ganz gleichförmigen Tracht, durch die sie das

Erkennen erschwerten, wenn etwa ein Förster noch einzelne Nachzügler im Dickicht verschwinden

sah. Sie verheerten alles wie die Wanderraupe, ganze Waldstrecken wurden in einer Nacht

gefällt und auf der Stelle fortgeschafft, so daß man am andern Morgen nichts fand, als Späne

und wüste Haufen von Topholz, und der Umstand, daß nie Wagenspuren einem Dorfe zuführten,

sondern immer vom Flusse her und dorthin zurück, bewies, daß man unter dem Schutz und

vielleicht mit dem Beistande der Schiffeigentümer handelte. In der Bande mußten sehr gewandte

Spione sein, denn die Förster konnten wochenlang umsonst wachen; in der ersten Nacht,

gleichviel, ob stürmisch oder mondhell, wo sie vor Übermüdung nachließen, brach die Zerstörung

ein. Seltsam war es, daß das Landvolk umher ebenso unwissend und gespannt schien, als die

Förster selber. Von einigen Dörfern ward mit Bestimmtheit gesagt, daß sie nicht zu den

Blaukitteln gehörten, aber keines konnte als dringend verdächtig bezeichnet werden, seit man

das verdächtigste von allen, das Dorf B., freisprechen mußte. Ein Zufall hatte dies bewirkt,

eine Hochzeit, auf der fast alle Bewohner dieses Dorfes notorisch die Nacht zugebracht hatten,

während zu eben dieser Zeit die Blaukittel eine ihrer stärksten Expeditionen ausführten.

Der Schaden in den Forsten war indes allzu groß, deshalb wurden die Maßregeln dagegen auf eine

bisher unerhörte Weise gesteigert; Tag und Nacht wurde patrolliert, Ackerknechte, Hausbediente

mit Gewehren versehen und den Forstbeamten zugesellt. Dennoch war der Erfolg nur gering und

die Wächter hatten oft kaum das eine Ende des Forstes verlassen, wenn die Blaukittel schon zum

andern einzogen. Das währte länger als ein volles Jahr, Wächter und Blaukittel, Blaukittel und

Wächter, wie Sonne und Mond, immer abwechselnd im Besitz des Terrains und nie

zusammentreffend.

Es war im Juli 1756 früh um drei; der Mond stand klar am Himmel, aber sein Glanz fing an zu

ermatten und im Osten zeigte sich bereits ein schmaler gelber Streif, der den Horizont

besäumte und den Eingang einer engen Talschlucht wie mit einem Goldbande schloß. Friedrich lag

im Grase, nach seiner gewohnten Weise, und schnitzelte an einem Weidenstabe, dessen knotigem

Ende er die Gestalt eines ungeschlachten Tieres zu geben versuchte. Er sah übermüdet aus,

gähnte, ließ mitunter seinen Kopf an einem verwitterten Stammknorren ruhen und Blicke,

dämmeriger als der Horizont, über den mit Gestrüpp und Aufschlag fast verwachsenen Eingang des

Grundes streifen. Ein paarmal belebten sich seine Augen und nahmen den ihnen eigentümlichen

glasartigen Glanz an, aber gleich nachher schloß er sie wieder halb und gähnte und dehnte

sich, wie es nur faulen Hirten erlaubt ist. Sein Hund lag in einiger Entfernung nah bei den

Kühen, die unbekümmert um die Forstgesetze ebenso oft den jungen Baumspitzen als dem Grase

zusprachen und in die frische Morgenluft schnaubten. Aus dem Walde drang von Zeit zu Zeit ein

dumpfer, krachender Schall; der Ton hielt nur einige Sekunden an, begleitet von einem langen

Echo an den Bergwänden und wiederholte sich etwa alle fünf bis acht Minuten. Friedrich achtete

nicht darauf; nur zuweilen, wenn das Getöse ungewöhnlich stark oder anhaltend war, hob er den

Kopf und ließ seine Blicke langsam über die verschiedenen Pfade gleiten, die ihren Ausgang in

dem Talgrunde fanden.

Es fing bereits stark zu dämmern an; die Vögel begannen leise zu zwitschern und der Tau stieg

fühlbar aus dem Grunde. Friedrich war an dem Stamm hinabgeglitten und starrte, die Arme über

den Kopf verschlungen in das leise einschleichende Morgenrot. Plötzlich fuhr er auf: über sein

Gesicht fuhr ein Blitz, er horchte einige Sekunden mit vorgebeugtem Oberleib wie ein Jagdhund,

dem die Luft Witterung zuträgt. Dann schob er schnell zwei Finger in den Mund und pfiff

gellend und anhaltend. – »Fidel, du verfluchtes Tier!« – Ein Steinwurf traf die Seite des

unbesorgten Hundes, der, vom Schlafe aufgeschreckt, zuerst um sich biß und dann heulend auf

drei Beinen dort Trost suchte, von wo das Übel ausgegangen war. In demselben Augenblicke

wurden die Zweige eines nahen Gebüsches fast ohne Geräusch zurückgeschoben und ein Mann trat

heraus, im grünen Jagdrock, den silbernen Wappenschild am Arm, die gespannte Büchse in der

Hand. Er ließ schnell seine Blicke über die Schlucht fahren und sie dann mit besonderer

Schärfe auf dem Knaben verweilen, trat dann vor, winkte nach dem Gebüsch, und allmählich

wurden sieben bis acht Männer sichtbar, alle in ähnlicher Kleidung, Weidmesser im Gürtel und

die gespannten Gewehre in der Hand.

»Friedrich, was war das?« fragte der zuerst Erschienene. – »Ich wollte, daß der Racker auf der

Stelle krepierte. Seinetwegen können die Kühe mir die Ohren vom Kopf fressen.« – »Die Kanaille

hat uns gesehen,« sagte ein anderer. – »Morgen sollst du auf die Reise mit einem Stein am

Halse,« fuhr Friedrich fort und stieß nach dem Hunde. – »Friedrich, stell dich nicht an wie

ein Narr! Du kennst mich und du verstehst mich auch!« – Ein Blick begleitete diese Worte, der

schnell wirkte. – »Herr Brandis, denkt an meine Mutter!« – »Das tu ich. Hast du nichts im

Walde gehört?« – »Im Walde?« – Der Knabe warf einen raschen Blick auf des Försters Gesicht. –

»Eure Holzfäller, sonst nichts.« – »Meine Holzfäller!«

Die ohnehin dunkle Gesichtsfarbe des Försters ging in tiefes Braunrot über. »Wie viele sind

ihrer, und wo treiben sie ihr Wesen?« – »Wohin Ihr sie geschickt habt; ich weiß es nicht.«–

Brandis wandte sich zu seinen Gefährten: »Geht voran; ich komme gleich nach.«

Als einer nach dem andern im Dickicht verschwunden war, trat Brandis dicht vor den Knaben:

»Friedrich,« sagte er mit dem Ton unterdrückter Wut, »meine Geduld ist zu Ende; ich möchte

dich prügeln wie einen Hund, und mehr seid ihr auch nicht wert. Ihr Lumpenpack, dem kein

Ziegel auf dem Dach gehört! Bis zum Betteln habt ihr es, gottlob, bald gebracht, und an meiner

Tür soll deine Mutter, die alte Hexe, keine verschimmelte Brodrinde bekommen. Aber vorher

sollt ihr mir noch beide ins Hundeloch!«

Friedrich griff krampfhaft nach einem Aste. Er war totenbleich und seine Augen schienen wie

Kristallkugeln aus dem Kopfe schießen zu wollen. Doch nur einen Augenblick. Dann kehrte die

größte, an Erschlaffung grenzende Ruhe zurück. – »Herr,« sagte er fest, mit fast sanfter

Stimme; »Ihr habt gesagt, was Ihr nicht verantworten könnt, und ich vielleicht auch. Wir

wollen es gegeneinander aufgehen lassen, und nun will ich Euch sagen, was Ihr verlangt. Wenn

Ihr die Holzfäller nicht selbst bestellt habt, so müssen es die Blaukittel sein; denn aus dem

Dorfe ist kein Wagen gekommen; ich habe den Weg ja vor mir, und vier Wagen sind es. Ich habe

sie nicht gesehen, aber den Hohlweg hinauffahren hören.« – Er stockte einen Augenblick. –

»Könnt Ihr sagen, daß ich je einen Baum in Eurem Revier gefällt habe? Überhaupt, daß ich je

anderwärts gehauen habe, als auf Bestellung? Denkt nach, ob Ihr das sagen könnt?«

Ein verlegenes Murmeln war die ganze Antwort des Försters, der nach Art der meisten rauhen

Menschen leicht bereute. Er wandte sich unwirsch und schritt dem Gebüsche zu. – »Nein, Herr,«

rief Friedrich, »wenn Ihr zu den andern Förstern wollt, die sind dort an der Buche

hinaufgegangen.« – »An der Buche?« sagte Brandis zweifelhaft, »nein, dort hinüber, nach dem

Mastergrunde.« – »Ich sage Euch, an der Buche; des langen Heinrich Flintenriemen blieb noch am

krummen Ast dort hängen; ich hab’s ja gesehen!«

Der Förster schlug den bezeichneten Weg ein. Friedrich hatte die ganze Zeit hindurch seine

Stellung nicht verlassen, halb liegend, den Arm um einen dürren Ast geschlungen, sah er dem

Fortgehenden unverrückt nach, wie er durch den halbverwachsenen Steig glitt, mit den

vorsichtigen weiten Schritten seines Metiers, so geräuschlos wie ein Fuchs die Hühnerstiege

erklimmt. Hier sank ein Zweig hinter ihm, dort einer; die Umrisse seiner Gestalt schwanden

immer mehr. Da blitze es noch einmal durchs Laub. Es war ein Stahlknopf seines Jagdrocks; nun

war er fort. Friedrichs Gesicht hatte während dieses allmähligen Verschwindens den Ausdruck

seiner Kälte verloren und seine Züge schienen zuletzt unruhig bewegt. Gereute es ihn

vielleicht, den Förster nicht um Verschweigung seiner Angaben gebeten zu haben? Er ging einige

Schritte voran, blieb dann stehen. »Es ist zu spät,« sagte er vor sich hin und griff nach

seinem Hute. Ein leises Picken im Gebüsche, nicht zwanzig Schritte von ihm. Es war der

Förster, der den Flintenstein schärfte. Friedrich horchte. – »Nein!« sagte er dann mit

entschlossenem Tone, raffte seine Siebensachen zusammen und trieb das Vieh eilfertig die

Schlucht entlang.

Um Mittag saß Frau Margreth am Herd und kochte Tee. – Friedrich war krank heimgekommen, er

klagte über heftige Kopfschmerzen und hatte auf ihre besorgte Nachfrage erzählt, wie er sich

schwer geärgert über den Förster; kurz den ganzen eben beschriebenen Vorgang, mit Ausnahme

einiger Kleinigkeiten, die er besser fand, für sich zu behalten. Margreth sah schweigend und

trübe in das siedende Wasser. Sie war es wohl gewohnt, ihren Sohn mitunter klagen zu hören,

aber heute kam er ihr so angegriffen vor, wie sonst nie. Sollte wohl eine Krankheit im Anzuge

sein? Sie seufzte tief und ließ einen eben ergriffenen Holzblock fallen.

»Mutter!« rief Friedrich aus der Kammer. – »Was willst du?« – »War das ein Schuß?« – »Ach

nein, ich weiß nicht, was du meinst.« – »Es pocht mir wohl nur so im Kopfe,« versetzte er.

Die Nachbarin trat herein und erzählte mit leisem Flüstern irgendeine unbedeutende

Klatscherei, die Margreth ohne Teilnahme anhörte. Dann ging sie. – »Mutter!« rief Friedrich.

Margreth ging zu ihm hinein. »Was erzählte die Hülsmeyer?« – »Ach gar nichts, Lügen, Wind!« –

Friedrich richtete sich auf. – »Von der Gretchen Siemers; du weißt ja wohl die alte

Geschichte; und ist doch nichts Wahres dran.« – Friedrich legte sich wieder hin. »Ich will

sehen, ob ich schlafen kann,« sagte er.

Margreth saß am Herde; sie spann und dachte wenig Erfreuliches. Im Dorfe schlug es halb zwölf;

die Türe klinkte und der Gerichtsschreiber Kapp trat herein. – »Guten Tag, Frau Mergel,« sagte

er; »könnt Ihr mir einen Trunk Milch geben? Ich komme von M.« – Als Frau Mergel das Verlangte

brachte, fragte er: »Wo ist Friedrich?« Sie war gerade beschäftigt, einen Teller

hervorzulangen und überhörte die Frage. Er trank zögernd und in kurzen Absätzen. »Wißt Ihr

wohl,« sagte er dann, »daß die Blaukittel in dieser Nacht wieder im Masterholze eine ganze

Strecke so kahl gefegt haben, wie meine Hand?« – »Ei, du frommer Gott!« versetzte sie

gleichgültig. »Die Schandbuben,« fuhr der Schreiber fort, »ruinieren alles; wenn sie noch

Rücksicht nähmen auf das junge Holz, aber Eichenstämmchen wie mein Arm dick, wo nicht einmal

eine Ruderstange drin steckt! Es ist, als ob ihnen andrer Leute Schaden ebenso lieb wäre wie

ihr Profit!« – »Es ist schade!« sagte Margreth.

Der Amtsschreiber hatte getrunken und ging noch immer nicht. Er schien etwas auf dem Herzen zu

haben. »Habt Ihr nichts von Brandis gehört?« fragte er plötzlich. – »Nichts; er kommt niemals

hier ins Haus.« – »So wißt Ihr nicht, was ihm begegnet ist?« – »Was denn?« fragte Margreth

gespannt. – »Er ist tot!« – »Tot!« rief sie, »was, tot? Um Gotteswillen! Er ging ja noch heute

morgen ganz gesund hier vorüber mit der Flinte auf dem Rücken!« – »Er ist tot,« wiederholte

der Schreiber, sie scharf fixierend; »von den Blaukitteln erschlagen. Vor einer Viertelstunde

wurde die Leiche ins Dorf gebracht.«

Margreth schlug die Hände zusammen. – »Gott im Himmel, geh nicht mit ihm ins Gericht! Er wußte

nicht, was er tat!« – »Mit ihm!« rief der Amtsschreiber, »mit dem verfluchten Mörder, meint

Ihr?« Aus der Kammer drang ein schweres Stöhnen. Margreth eilte hin und der Schreiber folgte

ihr. Friedrich saß aufrecht im Bette, das Gesicht in die Hände gedrückt und ächzte wie ein

Sterbender. – »Friedrich, wie ist dir?« sagte die Mutter. – »Wie ist dir?« wiederholte der

Amtsschreiber. – »O mein Leib, mein Kopf!« jammerte er. – »Was fehlt ihm?« – »Ach, Gott weiß

es,« versetzte sie; »er ist schon um vier mit den Kühen heimgekommen, weil ihm so übel war. –

Friedrich – Friedrich, antworte doch, soll ich zum Doktor?« – »Nein, nein,« ächzte er, »es ist

nur Kolik, es wird schon besser.«

Er legte sich zurück; sein Gesicht zuckte krampfhaft vor Schmerz; dann kehrte die Farbe

wieder. – »Geht,« sagte er matt; »ich muß schlafen, dann geht’s vorüber.« – »Frau Mergel,«

sagte der Amtsschreiber ernst, »ist es gewiß, daß Friedrich um vier zu Hause kam und nicht

wieder fortging?« – Sie sah ihn starr an. »Fragt jedes Kind auf der Straße. Und fortgehen? – –

wollte Gott, er könnt’ es!« – »Hat er Euch nichts von Brandis erzählt?« – »In Gottes Namen,

ja, daß er ihn im Walde geschimpft und unsere Armut vorgeworfen hat, der Lump! – Doch Gott

verzeih mir, er ist tot! – Geht!« fuhr sie heftig fort; »seid Ihr gekommen, um ehrliche Leute

zu beschimpfen? Geht!« – Sie wandte sich wieder zu ihrem Sohne; der Schreiber ging. –

»Friedrich, wie ist dir?« sagte die Mutter; »hast du wohl gehört? Schrecklich, schrecklich!

Ohne Beichte und Absolution!« – »Mutter, Mutter, um Gottes willen laß mich schlafen; ich kann

nicht mehr!«

In diesem Augenblick trat Johannes Niemand in die Kammer; dünn und lang wie eine Hopfenstange,

aber zerlumpt und scheu wie wir ihn vor fünf Jahren gesehen. Sein Gesicht war noch bleicher

als gewöhnlich. »Friedrich,« stotterte er, »du sollst sogleich zum Ohm kommen; er hat Arbeit

für dich; aber sogleich.« – Friedrich drehte sich gegen die Wand. – »Ich komme nicht,« sagte

er barsch, »ich bin krank.« – »Du mußt aber kommen,« keuchte Johannes; »er hat gesagt, ich

müßte dich mitbringen.« – Friedrich lachte höhnisch auf: »Das will ich doch sehen!« – »Laß ihn

in Ruhe, er kann nicht,« seufzte Margreth, »du siehst ja, wie es steht.« – Sie ging auf einige

Minuten hinaus; als sie zurückkam, war Friedrich bereits angekleidet. – »Was fällt dir ein?«

rief sie, »du kannst, du sollst nicht gehen!« – »Was sein muß, schickt sich wohl,« versetzte

er und war schon zur Türe hinaus mit Johannes. – »Ach Gott,« seufzte die Mutter, »wenn die

Kinder klein sind, treten sie uns in den Schoß, und wenn sie groß sind, ins Herz!«

Die gerichtliche Untersuchung hatte ihren Anfang genommen, die Tat lag klar am Tage; über den

Täter aber waren die Anzeigen so schwach, daß, obschon alle Umstände die Blaukittel dringend

verdächtigten, man doch nicht mehr als Mutmaßungen wagen konnte. Eine Spur schien Licht geben

wollen: doch rechnete man aus Gründen wenig darauf. Die Abwesenheit des Gutsherrn hatte den

Gerichtschreiber genötigt, auf eigene Hand die Sache einzuleiten. Er saß am Tische; die Stube

war gedrängt voll von Bauern, teils neugierigen, teils solchen, von denen man in Ermangelung

eigentlicher Zeugen einigen Aufschluß zu erhalten hoffte. Hirten, die in derselben Nacht

gehütet, Knechte, die den Acker in der Nähe bestellt, alle standen stramm und fest, die Hände

in den Taschen, gleichsam als stillschweigende Erklärung, daß sie nicht einzuschreiten

gesonnen seien. Acht Forstbeamte wurden vernommen. Ihre Aussagen waren völlig gleichlautend:

Brandis habe sie am zehnten abends zur Runde bestellt, da ihm von einem Vorhaben der

Blaukittel müsse Kunde zugekommen sein; doch habe er sich nur unbestimmt darüber geäußert. Um

zwei Uhr in der Nacht seien sie ausgezogen und auf manche Spuren der Zerstörung gestoßen, die

den Oberförster sehr übel gestimmt; sonst sei alles still gewesen. Gegen vier Uhr habe Brandis

gesagt: »Wir sind angeführt, laßt uns heimgehen.« – Als sie nun um den Bremerberg gewendet und

zugleich der Wind umgeschlagen, habe man deutlich im Masterholz fällen gehört und aus der

schnellen Folge der Schläge geschlossen, daß die Blaukittel am Werk seien. Man habe nun eine

Weile beratschlagt, ob es tunlich sei, mit so geringer Macht die kühne Bande anzugreifen, und

sich dann ohne bestimmten Entschluß dem Schalle langsam genähert. Nun folgte der Auftritt mit

Friedrich. Ferner: nachdem Brandis sie ohne Weisung fortgeschickt, seien sie eine Weile

vorangeschritten und dann, als sie bemerkt, daß das Getöse im noch ziemlich weit entfernten

Walde gänzlich aufgehört, stille gestanden, um den Oberförster zu erwarten. Die Zögerung habe

sie verdrossen, und nach etwa zehn Minuten seien sie weitergegangen und so bis an den Ort der

Verwüstung. Alles sei vorüber gewesen, kein Laut mehr im Walde, von zwanzig gefällten Stämmen

noch acht vorhanden, die übrigen bereits fortgeschafft. Es sei ihnen unbegreiflich, wie man

dieses ins Werk gestellt, da keine Wagenspuren zu finden gewesen. Auch habe die Dürre der

Jahreszeit und der mit Fichtennadeln bestreute Boden keine Fußstapfen unterscheiden lassen,

obgleich der Grund ringsumher wie festgestampft war. Da man nun überlegt, daß es zu nichts

nützen könne, den Oberförster zu erwarten, sei man rasch der andern Seite des Waldes

zugeschritten, in der Hoffnung, vielleicht noch einen Blick von den Frevlern zu erhaschen.

Hier habe sich einem von ihnen beim Ausgange des Waldes die Flaschenschnur in Brombeerranken

verstrickt, und als er umgeschaut, habe er etwas im Gestrüpp blitzen sehen; es war die

Gurtschnalle des Oberförsters, den man nun hinter den Ranken liegend fand, grad ausgestreckt,

die rechte Hand um den Flintenlauf geklemmt, die andere geballt und die Stirn von einer Axt

gespalten.

Dies waren die Aussagen der Förster; nun kamen die Bauern an die Reihe, aus denen jedoch

nichts zu bringen war. Manche behaupteten, um vier Uhr noch zu Hause oder anderswo beschäftigt

gewesen zu sein, und keiner wollte etwas bemerkt haben. Was war zu machen? sie waren sämtlich

angesessene, unverdächtige Leute. Man mußte sich mit ihren negativen Zeugnissen begnügen.

Friedrich ward hereingerufen. Er trat ein mit einem Wesen, das sich durchaus nicht von seinem

gewöhnlichen unterschied, weder gespannt noch keck. Das Verhör währte ziemlich lange und die

Fragen waren mitunter ziemlich schlau gestellt; er beantwortete sie jedoch alle offen und

bestimmt und erzählte den Vorgang zwischen ihm und dem Oberförster ziemlich der Wahrheit

gemäß, bis auf das Ende, das er geratener fand, für sich zu behalten. Sein Alibi zur Zeit des

Mordes war leicht erwiesen. Der Förster lag am Ausgange des Masterholzes; über dreiviertel

Stunden Weges von der Schlucht, in der er Friedrich um vier Uhr angeredet und aus der dieser

seine Herde schon zehn Minuten später ins Dorf getrieben. Jedermann hatte dies gesehen; alle

anwesenden Bauern beeiferten sich, es zu bezeugen; mit diesem hatte er geredet, jenem

zugenickt.

Der Gerichtsschreiber saß unmutig und verlegen da. Plötzlich fuhr er mit der Hand hinter sich

und brachte etwas Blinkendes vor Friedrichs Auge. »Wem gehört dies?« – Friedrich sprang drei

Schritt zurück. »Herr Jesus! Ich dachte Ihr wolltet mir den Schädel einschlagen.« Seine Augen

waren rasch über das tödliche Werkzeug gefahren und schienen momentan auf einem ausgebrochenen

Splitter am Stiele zu haften. »Ich weiß es nicht,« sagte er fest. – Es war die Axt, die man in

dem Schädel des Oberförsters eingeklammert gefunden hatte. – »Sieh sie genau an,« fuhr der

Gerichtschreiber fort. Friedrich faßte sie mit der Hand, besah sie oben, unten, wandte sie um.

»Es ist eine Axt wie andere,« sagte er dann und legte sie gleichgültig auf den Tisch. Ein

Blutfleck ward sichtbar; er schien zu schaudern, aber er wiederholte noch einmal sehr

bestimmt: »Ich kenne sie nicht.« Der Gerichtschreiber seufzte vor Unmut. Er selbst wußte um

nichts mehr, und hatte nur einen Versuch zu möglicher Entdeckung durch Überraschung machen

wollen. Es blieb nichts übrig, als das Verhör zu schließen.

Denjenigen, die vielleicht auf den Ausgang dieser Begebenheit gespannt sind, muß ich sagen,

daß diese Geschichte nie aufgeklärt wurde, obwohl noch viel dafür geschah und diesem Verhöre

mehrere folgten. Den Blaukitteln schien durch das Aufsehen, das der Vorgang gemacht und die

darauf folgenden geschärften Maßregeln der Mut genommen; sie waren von nun an wie

verschwunden, und obgleich späterhin noch mancher Holzfrevler erwischt wurde, fand man doch

nie Anlaß, ihn der berüchtigten Bande zuzuschreiben. Die Axt lag zwanzig Jahre nachher als

unnützes Corpus delicti im Gerichtsarchiv, wo sie wohl noch jetzt ruhen mag mit ihren

Rostflecken. Es würde in einer erdichteten Geschichte unrecht sein, die Neugier des Lesers so

zu täuschen. Aber dies alles hat sich wirklich zugetragen; ich kann nichts davon oder dazutun.

Am nächsten Sonntage stand Friedrich sehr früh auf, um zur Beichte zu gehen. Es war Mariä

Himmelfahrt und die Pfarrgeistlichen schon vor Tagesanbruch im Beichtstuhle. Nachdem er sich

im Finstern angekleidet, verließ er so geräuschlos wie möglich den engen Verschlag, der ihm in

Simons Hause eingeräumt war. In der Küche mußte sein Gebetbuch auf dem Sims liegen und er

hoffte, es mit Hülfe des schwachen Mondlichts zu finden; es war nicht da. Er warf die Augen

suchend umher und fuhr zusammen; in der Kammertür stand Simon, fast unbekleidet, seine dürre

Gestalt, sein ungekämmtes, wirres Haar und die vom Mondschein verursachte Blässe des Gesichts

gaben ihm ein schauerlich verändertes Ansehen. »Sollte er nachtwandeln?« dachte Friedrich, und

verhielt sich ganz still. – »Friedrich, wohin?« flüsterte der Alte. – »Ohm, seid Ihr’s? Ich

will beichten gehen.« – »Das dacht’ ich mir; geh in Gottes Namen, aber beichte wie ein guter

Christ.« – »Das will ich,« sagte Friedrich. – »Denk an die zehn Gebote: du sollst kein Zeugnis

ablegen gegen deinen Nächsten.« – »Kein falsches!« – »Nein, gar keines; du bist schlecht

unterrichtet; wer einen andern in der Beichte anklagt, der empfängt das Sakrament unwürdig.«

Beide schwiegen. – »Ohm, wie kommt Ihr darauf?« sagte Friedrich dann; »Eur Gewissen ist nicht

rein; Ihr habt mich belogen.« – »Ich? So?« – »Wo ist Eure Axt?« – »Meine Axt? Auf der Tenne.«

– »Habt Ihr einen neuen Stiel hineingemacht? Wo ist der alte?« – »Den kannst du heute bei Tag

im Holzschuppen finden. Geh,« fuhr er verächtlich fort, »ich dachte du seist ein Mann; aber du

bist ein altes Weib, das gleich meint, das Haus brennt, wenn ihr Feuertopf raucht. Sieh,« fuhr

er fort, »wenn ich mehr von der Geschichte weiß, als der Türpfosten da, so will ich ewig nicht

selig werden. – Längst war ich zu Haus,« fügte er hinzu. – Friedrich stand beklemmt und

zweifelnd. Er hätte viel darum gegeben, seines Ohms Gesicht sehen zu können. Aber während sie

flüsterten, hatte der Himmel sich bewölkt.

»Ich habe schwere Schuld,« seufzte Friedrich, »daß ich ihn den unrechten Weg geschickt –

obgleich – doch, dies hab’ ich nicht gedacht, nein, gewiß nicht. Ohm, ich habe Euch ein

schweres Gewissen zu danken.« – »So geh, beicht!« flüsterte Simon mit bebender Stimme;

»verunehre das Sakrament durch Angeberei und setze armen Leuten einen Spion auf den Hals, der

schon Wege finden wird, ihnen das Stückchen Brod aus den Zähnen zu reißen, wenn er gleich

nicht reden darf – geh!« – Friedrich stand unschlüssig; er hörte ein leises Geräusch; die

Wolken verzogen sich, das Mondlicht fiel wieder auf die Kammertür: sie war geschlossen.

Friedrich ging an diesem Morgen nicht zur Beichte. –

Der Eindruck, den dieser Vorfall auf Friedrich gemacht, erlosch leider nur zu bald. Wer

zweifelt daran, daß Simon alles tat, seinen Adoptivsohn dieselben Wege zu leiten, die er

selber ging? Und in Friedrich lagen Eigenschaften, die dies nur zu sehr erleichterten:

Leichtsinn, Erregbarkeit, und vor allem ein grenzenloser Hochmut, der nicht immer den Schein

verschmähte, und dann alles daran setzte, durch Wahrmachung des Usurpierten möglicher

Beschämung zu entgehen. Seine Natur war nicht unedel, aber er gewöhnte sich, die innere

Schande der äußern vorzuziehen. Man darf nur sagen, er gewöhnte sich zu prunken, während seine

Mutter darbte.

Diese unglückliche Wendung seines Charakters war indessen das Werk mehrerer Jahre, in denen

man bemerkte, daß Margreth immer stiller über ihren Sohn ward und allmählich in einen Zustand

der Verkommenheit versank, den man früher bei ihr für unmöglich gehalten hätte. Sie wurde

scheu, saumselig, sogar unordentlich, und manche meinten, ihr Kopf habe gelitten. Friedrich

ward desto lauter; er versäumte keine Kirchweih oder Hochzeit, und da ein sehr empfindliches

Ehrgefühl ihn die geheime Mißbilligung mancher nicht übersehen ließ, war er gleichsam immer

unter Waffen, der öffentlichen Meinung nicht sowohl Trotz zu bieten, als sie den Weg zu

leiten, der ihm gefiel. Er war äußerlich ordentlich, nüchtern, anscheinend treuherzig, aber

listig, prahlerisch und oft roh, ein Mensch, an dem niemand Freude haben konnte, am wenigsten

seine Mutter, und der dennoch durch seine gefürchtete Kühnheit und noch mehr gefürchtete Tücke

ein gewisses Übergewicht im Dorfe erlangt hatte, das um so mehr anerkannt wurde, je mehr man

sich bewußt war, ihn nicht zu kennen und nicht berechnen zu können, wessen er am Ende fähig

sei. Nur ein Bursch im Dorfe, Wilm Hülsmeyer, wagte im Bewußtsein seiner Kraft und guter

Verhältnisse ihm die Spitze zu bieten; und da er gewandter in Worten war, als Friedrich, und

immer, wenn der Stachel saß, einen Scherz daraus zu machen wußte, so war dies der einzige, mit

dem Friedrich ungern zusammentraf.

–––––––––––

Vier Jahre waren verflossen; es war im Oktober; der milde Herbst von 1760, der alle Scheunen

mit Korn und alle Keller mit Wein füllte, hatte seinen Reichtum auch über diesen Erdwinkel

strömen lassen, und man sah mehr Betrunkene, hörte von mehr Schlägereien und dummen Streichen,

als je. Überall gab’s Lustbarkeiten; der blaue Montag kam in Aufnahme, und wer ein paar Taler

erübrigt hatte, wollte gleich eine Frau dazu, die ihm heute essen und morgen hungern helfen

könne. Da gab es im Dorfe eine tüchtige, solide Hochzeit, und die Gäste durften mehr erwarten,

als eine verstimmte Geige, ein Glas Branntwein und was sie an guter Laune selber mitbrachten.

Seit früh war alles auf den Beinen; vor jeder Tür wurden Kleider gelüftet, und B. glich den

ganzen Tag einer Trödelbude. Da viele Auswärtige erwartet wurden, wollte jeder gern die Ehre

des Dorfes oben halten.

Es war sieben Uhr abends und alles in vollem Gange; Jubel und Gelächter an allen Enden, die

niedern Stuben zum Ersticken angefüllt mit blauen, roten und gelben Gestalten, gleich

Pfandställen, in denen eine zu große Herde eingepfercht ist. Auf der Tenne ward getanzt, das

heißt, wer zwei Fuß Raum erobert hatte, drehte sich darauf immer rundum und suchte durch

Jauchzen zu ersetzen, was an Bewegung fehlte. Das Orchester war glänzend, die erste Geige als

anerkannte Künstlerin prädominierend, die zweite und eine große Baßviole mit drei Saiten von

Dilettanten ad libitum gestrichen; Branntwein und Kaffee im Überfluß, alle Gäste von Schweiß

triefend; kurz, es war ein köstliches Fest. Friedrich stolzierte umher wie ein Hahn, im neuen

himmelblauen Rock, und machte sein Recht als erster Elegant geltend. Als auch die

Gutsherrschaft anlangte, saß er gerade hinter der Baßgeige und strich die tiefste Saite mit

großer Kraft und vielem Anstand.

»Johannes!« rief er gebieterisch, und heran trat sein Schützling von dem Tanzplatze, wo er

auch seine ungelenken Beine zu schlenkern und eins zu jauchzen versucht hatte. Friedrich

reichte ihm den Bogen, gab durch eine stolze Kopfbewegung seinen Willen zu erkennen und trat

zu den Tanzenden. »Nun lustig, Musikanten: den Papen van Istrup!« – Der beliebte Tanz ward

gespielt und Friedrich machte Sätze vor den Augen seiner Herrschaft, daß die Kühe an der Tenne

die Hörner zurückzogen und Kettengeklirr und Gebrumm an ihren Ständern herlief. Fußhoch über

die andern tauchte sein blonder Kopf auf und nieder, wie ein Hecht, der sich im Wasser

überschlägt; an allen Enden schrien Mädchen auf, denen er zum Zeichen der Huldigung mit einer

raschen Kopfbewegung sein langes Flachshaar ins Gesicht schleuderte.

»Jetzt ist es gut!« sagte er endlich und trat schweißtriefend an den Kredenztisch; »die

gnädigen Herrschaften sollen leben und alle die hochadeligen Prinzen und Prinzessinnen, und

wer’s nicht mittrinkt, den will ich an die Ohren schlagen, daß er die Engel singen hört!« –

Ein lautes Vivat beantwortete den galanten Toast. – Friedrich machte seinen Bückling. –

»Nichts für ungut, gnädige Herrschaften; wir sind nur ungelehrte Bauersleute!« In diesem

Augenblick erhob sich ein Getümmel am Ende der Tenne, Geschrei, Schelten, Gelächter, alles

durcheinander. »Butterdieb, Butterdieb!« riefen ein paar Kinder, und heran drängte sich, oder

vielmehr ward geschoben, Johannes Niemand, den Kopf zwischen die Schultern ziehend und mit

aller Macht nach dem Ausgange strebend. – »Was ist’s? Was habt ihr mit unserem Johannes?« rief

Friedrich gebieterisch.

»Das sollt Ihr früh genug gewahr werden,« keuchte ein altes Weib mit der Küchenschürze und

einem Wischhader in der Hand. – Schande! Johannes, der arme Teufel, dem zu Hause das

Schlechteste gut genug sein mußte, hatte versucht, sich ein halbes Pfündchen Butter für die

kommende Dürre zu sichern, und ohne daran zu denken, daß er es, sauber in sein Schnupftuch

gewickelt, in der Tasche geborgen, war er ans Küchenfeuer getreten und nun rann das Fett

schmählich die Rockschöße entlang. Allgemeiner Aufruhr; die Mädchen sprangen zurück, aus

Furcht, sich zu beschmutzen, oder stießen den Delinquenten vorwärts. Andere machten Platz,

sowohl aus Mitleid als Vorsicht. Aber Friedrich trat vor: »Lumpenhund!« rief er; ein paar

derbe Maulschellen trafen den geduldigen Schützling; dann stieß er ihn an die Tür und gab ihm

einen tüchtigen Fußtritt mit auf den Weg.

Er kehrte niedergeschlagen zurück; seine Würde war verletzt, das allgemeine Gelächter schnitt

ihm durch die Seele, ob er sich gleich durch einen tapfern Juchheschrei wieder in den Gang zu

bringen suchte – es wollte nicht mehr recht gehen. Er war im Begriff, sich wieder hinter die

Baßviole zu flüchten; doch zuvor noch ein Knalleffekt: er zog seine silberne Taschenuhr

hervor, zu jener Zeit ein seltener und kostbarer Schmuck. »Es ist bald zehn,« sagte er. »Jetzt

den Brautmenuett! Ich will Musik machen.«

»Eine prächtige Uhr!« sagte der Schweinehirt und schob sein Gesicht in ehrfurchtsvoller

Neugier vor. – »Was hat sie gekostet?« rief Wilm Hülsmeyer, Friedrichs Nebenbuhler. – »Willst

du sie bezahlen?« fragte Friedrich. – »Hast du sie bezahlt?« antwortete Wilm. Friedrich warf

einen stolzen Blick auf ihn und griff in schweigender Majestät zum Fidelbogen. – »Nun, nun,«

sagte Hülsmeyer, »dergleichen hat man schon erlebt. Du weißt wohl, der Franz Ebel hatte auch

eine schöne Uhr, bis der Jude Aaron sie ihm wieder abnahm.« Friedrich antwortete nicht,

sondern winkte stolz der ersten Violine, und sie begannen aus Leibeskräften zu streichen.

Die Gutsherrschaft war indessen in die Kammer getreten, wo der Braut von den Nachbarfrauen das

Zeichen ihres neuen Standes, die weiße Stirnbinde, umgelegt wurde. Das junge Blut weinte sehr,

teils weil es die Sitte so wollte, teils aus wahrer Beklemmung. Sie sollte einem verworrenen

Haushalt vorstehen, unter den Augen eines mürrischen alten Mannes, den sie noch obendrein

lieben sollte. Er stand neben ihr, durchaus nicht wie der Bräutigam des Hohen Liedes, der »in

die Kammer tritt wie die Morgensonne.« – »Du hast nun genug geweint,« sagte er verdrießlich;

»bedenk, du bist es nicht, die mich glücklich macht, ich mache dich glücklich!« – Sie sah

demütig zu ihm auf und schien zu fühlen, daß er recht habe. – Das Geschäft war beendigt; die

junge Frau hatte ihrem Manne zugetrunken, junge Spaßvögel hatten durch den Dreifuß geschaut,

ob die Binde gerade sitze, und man drängte sich wieder der Tenne zu, von wo unauslöschliches

Gelächter und Lärm herüberschallte. Friedrich war nicht mehr dort. Eine große, unerträgliche

Schmach hatte ihn getroffen, da der Jude Aaron, ein Schlächter und gelegentlicher Althändler

aus dem nächsten Städtchen, plötzlich erschienen war, und nach einem kurzen, unbefriedigenden

Zwiegespräch ihn laut vor allen Leuten um den Betrag von zehn Talern für eine schon um Ostern

gelieferte Uhr gemahnt hatte. Friedrich war wie vernichtet fortgegangen und der Jude ihm

gefolgt, immer schreiend: »O weh mir! Warum hab’ ich nicht gehört auf vernünftige Leute! Haben

sie mir nicht hundertmal gesagt, Ihr hättet all Eur Gut am Leibe und kein Brod im Schranke!« –

Die Tenne tobte von Gelächter; manche hatten sich auf den Hof nachgedrängt. – »Packt den

Juden! Wiegt ihn gegen ein Schwein!« riefen einige; andere waren ernst geworden. – »Der

Friedrich sah so blaß aus wie ein Tuch,« sagte eine alte Frau, und die Menge teilte sich, wie

der Wagen des Gutsherrn in den Hof lenkte.

Herr von S. war auf dem Heimwege verstimmt, die jedesmalige Folge, wenn der Wunsch, seine

Popularität aufrecht zu erhalten, ihn bewog, solchen Festen beizuwohnen. Er sah schweigend aus

dem Wagen. »Was sind denn das für ein paar Figuren?« – Er deutete auf zwei dunkle Gestalten,

die vor dem Wagen rannten wie Strauße. Nun schlüpften sie ins Schloß. – »Auch ein paar selige

Schweine aus unserm eigenen Stall!« seufzte Herr von S. Zu Hause angekommen, fand er die

Hausflur vom ganzen Dienstpersonal eingenommen, das zwei Kleinknechte umstand, welche sich

blaß und atemlos auf der Stiege niedergelassen hatten. Sie behaupteten, von des alten Mergels

Geist verfolgt worden zu sein, als sie durchs Brederholz heimkehrten. Zuerst hatte es über

ihnen an der Höhe gerauscht und geknistert; darauf hoch in der Luft ein Geklapper wie von

aneinander geschlagenen Stöcken; plötzlich ein gellender Schrei und ganz deutlich die Worte:

»O weh, meine arme Seele!« hoch von oben herab. Der eine wollte auch glühende Augen durch die

Zweige funkeln gesehen haben, und beide waren gelaufen, was ihre Beine vermochten.

»Dummes Zeug!« sagte der Gutsherr verdrießlich und trat in die Kammer, sich umzukleiden. Am

andern Morgen wollte die Fontäne im Garten nicht springen, und es fand sich, daß jemand eine

Röhre verrückt hatte, augenscheinlich um nach dem Kopfe eines vor vielen Jahren hier

verscharrten Pferdegerippes zu suchen, der für ein bewährtes Mittel wider allen Hexen-und

Geisterspuk gilt. »Hm,« sagte der Gutsherr, »was die Schelme nicht stehlen, das verderben die

Narren.«

Drei Tage später tobte ein furchtbarer Sturm. Es war Mitternacht, aber alles im Schlosse außer

dem Bett. Der Gutsherr stand am Fenster und sah besorgt ins Dunkle, nach seinen Feldern

hinüber. An den Scheiben flogen Blätter und Zweige her; mitunter fuhr ein Ziegel hinab und

schmetterte auf das Pflaster des Hofes. – »Furchtbares Wetter!« sagte Herr von S. Seine Frau

sah ängstlich aus. »Ist das Feuer auch gewiß gut verwahrt?« sagte sie; »Gretchen, sieh noch

einmal nach, gieß es lieber ganz aus! – Kommt, wir wollen das Evangelium Johannis beten.«

Alles kniete nieder und die Hausfrau begann: »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott

und Gott war das Wort.« Ein furchtbarer Donnerschlag. Alle fuhren zusammen; dann furchtbares

Geschrei und Getümmel die Treppe heran. – »Um Gottes willen! Brennt es?« rief Frau von S. und

sank mit dem Gesichte auf den Stuhl. Die Türe ward aufgerissen und herein stürzte die Frau des

Juden Aaron, bleich wie der Tod, das Haar wild um den Kopf, von Regen triefend. Sie warf sich

vor dem Gutsherrn auf die Knie. »Gerechtigkeit!« rief sie, »Gerechtigkeit! Mein Mann ist

erschlagen!« und sank ohnmächtig zusammen.

Es war nur zu wahr, und die nachfolgende Untersuchung bewies, daß der Jude Aaron durch einen

Schlag an die Schläfe mit einem stumpfen Instrumente, wahrscheinlich einem Stabe, sein Leben

verloren hatte, durch einen einzigen Schlag. An der linken Schläfe war der blaue Fleck, sonst

keine Verletzung zu finden. Die Aussagen der Jüdin und ihres Knechtes Samuel lauteten so:

Aaron war vor drei Tagen am Nachmittage ausgegangen, um Vieh zu kaufen, und hatte dabei

gesagt, er werde wohl über Nacht ausbleiben, da noch einige böse Schuldner in B. und S. zu

mahnen seien. In diesem Falle werde er in B. beim Schlächter Salomon übernachten. Als er am

folgenden Tage nicht heimkehrte, war seine Frau sehr besorgt geworden und hatte sich endlich

heute um drei nachmittags in Begleitung ihres Knechtes und des großen Schlächterhundes auf den

Weg gemacht. Beim Juden Salomon wußte man nichts von Aaron; er war gar nicht da gewesen. Nun

waren sie zu allen Bauern gegangen, von denen sie wußten, daß Aaron einen Handel mit ihnen im

Auge hatte. Nur zwei hatten ihn gesehen, und zwar an demselben Tage, an welchem er

ausgegangen. Es war darüber sehr spät geworden. Die große Angst trieb das Weib nach Haus, wo

sie ihren Mann wiederzufinden eine schwache Hoffnung nährte. So waren sie im Brederholz vom

Gewitter überfallen worden und hatten unter einer großen, am Berghange stehenden Buche Schutz

gesucht; der Hund hatte unterdessen auf eine auffallende Weise umhergestöbert und sich

endlich, trotz allem Locken, im Walde verlaufen. Mit einemmale sieht die Frau beim Leuchten

des Blitzes etwas Weißes neben sich im Moose. Es ist der Stab ihres Mannes, und fast im selben

Augenblicke bricht der Hund durchs Gebüsch und trägt etwas im Maule: es ist der Schuh ihres

Mannes. Nicht lange, so ist in einem mit dürrem Laube gefüllten Graben der Leichnam des Juden

gefunden. – Dies war die Angabe des Knechtes, von der Frau nur im allgemeinen unterstützt;

ihre übergroße Spannung hatte nachgelassen und sie schien jetzt halb verwirrt oder vielmehr

stumpfsinnig. – »Aug’ um Auge, Zahn um Zahn!« dies waren die einzigen Worte, die sie zuweilen

hervorstieß.

In derselben Nacht noch wurden die Schützen aufgeboten, um Friedrich zu verhaften. Der Anklage

bedurfte es nicht, da Herr von S. selbst Zeuge eines Auftritts gewesen war, der den

dringendsten Verdacht auf ihn werfen mußte; zudem die Gespenstergeschichte von jenem Abende,

das Aneinanderschlagen der Stäbe im Brederholz, der Schrei aus der Höhe. Da der Amtsschreiber

gerade abwesend war, so betrieb Herr von S. selbst alles rascher, als sonst geschehen wäre.

Dennoch begann die Dämmerung bereits anzubrechen, bevor die Schützen so geräuschlos wie

möglich das Haus der armen Margreth umstellt hatten. Der Gutsherr selber pochte an; es währte

kaum eine Minute, bis geöffnet ward und Margreth völlig gekleidet in der Türe erschien. Herr

von S. fuhr zurück; er hätte sie fast nicht erkannt, so blaß und steinern sah sie aus.

»Wo ist Friedrich?« fragte er mit unsicherer Stimme. – »Sucht ihn,« antwortete sie und setzte

sich auf einen Stuhl. Der Gutsherr zögerte noch einen Augenblick. »Herein, herein!« sagte er

dann barsch; »worauf warten wir?« Man trat in Friedrichs Kammer. Er war nicht da, aber das

Bett noch warm. Man stieg auf den Söller, in den Keller, stieß ins Stroh, schaute hinter jedes

Faß, sogar in den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in den Garten, sahen hinter den

Zaun und in die Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden. – »Entwischt!« sagte der Gutsherr

mit sehr gemischten Gefühlen: der Anblick der alten Frau wirkte gewaltig auf ihn. »Gebt den

Schlüssel zu jenem Koffer.« – Margreth antwortete nicht. – »Gebt den Schlüssel!« wiederholte

der Gutsherr, und merkte jetzt erst, daß der Schlüssel steckte. Der Inhalt des Koffers kam zum

Vorschein: des Entflohenen gute Sonntagskleider und seiner Mutter ärmlicher Staat; dann zwei

Leichenhemden mit schwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das andere für eine Frau

gemacht. Herr von S. war tief erschüttert. Ganz zu unterst auf dem Boden des Koffers lag die

silberne Uhr und einige Schriften von sehr leserlicher Hand, eine derselben von einem Manne

unterzeichnet, den man in starkem Verdacht der Verbindung mit den Holzfrevlern hatte. Herr von

S. nahm sie mit zur Durchsicht, und man verließ das Haus, ohne daß Margreth ein anderes

Lebenszeichen von sich gegeben hätte, als daß sie unaufhörlich die Lippen nagte und mit den

Augen zwinkerte.

Im Schlosse angelangt, fand der Gutsherr den Amtsschreiber, der schon am vorigen Abend

heimgekommen war und behauptete, die ganze Geschichte verschlafen zu haben, da der gnädige

Herr nicht nach ihm geschickt. – »Sie kommen immer zu spät,« sagte Herr von S. verdrießlich.

»War denn nicht irgendein altes Weib im Dorfe, das Ihrer Magd die Sache erzählte? Und warum

weckte man Sie dann nicht?« – »Gnädiger Herr,« versetzte Kapp, »allerdings hat meine Anne

Marie den Handel um eine Stunde früher erfahren als ich; aber sie wußte, daß Ihre Gnaden die

Sache selbst leiteten, und dann,« fügte er mit klagender Miene hinzu, »daß ich so todmüde

war.« – »Schöne Polizei!« murmelte der Gutsherr, »jede alte Schachtel im Dorf weiß Bescheid,

wenn es recht geheim zugehen soll.« Dann fuhr er heftig fort: »Das müßte wahrhaftig ein dummer

Teufel von Delinquenten sein, der sich packen ließe!«

Beide schwiegen eine Weile. – »Mein Fuhrmann hatte sich in der Nacht verirrt,« hob der

Amtsschreiber wieder an; ȟber eine Stunde lang hielten wir im Walde; es war ein Mordwetter;

ich dachte, der Wind werde den Wagen umreißen. Endlich, als der Regen nachließ, fahren wir in

Gottes Namen darauf los, immer in das Zellerfeld hinein, ohne eine Hand vor den Augen zu

sehen. Da sagte der Kutscher: wenn wir nur nicht den Steinbrüchen zu nahe kommen! Mir war

selbst bange; ich ließ halten und schlug Feuer, um wenigstens etwas Unterhaltung an meiner

Pfeife zu haben. Mit einemmale hörten wir ganz nah, perpendikulär unter uns die Glocke

schlagen. Ew. Gnaden mögen glauben, daß mir fatal zu Mut wurde. Ich sprang aus dem Wagen, denn

seinen eigenen Beinen kann man trauen, aber denen der Pferde nicht. So stand ich, in Kot und

Regen, ohne mich zu rühren, bis es gottlob sehr bald anfing zu dämmern. Und wo hielten wir?

dicht an der Heerser Tiefe und den Turm von Heerse gerade unter uns. Wären wir noch zwanzig

Schritt weiter gefahren, wir wären alle Kinder des Todes gewesen.« – »Das war in der Tat kein

Spaß,« versetzte der Gutsherr, halb versöhnt.

Er hatte unterdessen die mitgenommenen Papiere durchgesehen. Es waren Mahnbriefe um geliehene

Gelder, die meisten von Wucherern. – »Ich hätte nicht gedacht,« murmelte er, »daß die Mergels

so tief drin steckten.« – »Ja, und daß es so an den Tag kommen muß,« versetzte Kapp; »das wird

kein kleiner Ärger für Frau Margreth sein,« – »Ach Gott, die denkt jetzt daran nicht!« – Mit

diesen Worten stand der Gutsherr auf und verließ das Zimmer, um mit Herrn Kapp die

gerichtliche Leichenschau vorzunehmen. – Die Untersuchung war kurz, gewaltsamer Tod erwiesen,

der vermutliche Täter entflohen, die Anzeigen gegen ihn zwar gravierend, doch ohne

persönliches Geständnis nicht beweisend, seine Flucht allerdings sehr verdächtig. So mußte die

gerichtliche Verhandlung ohne genügenden Erfolg geschlossen werden.

Die Juden der Umgegend hatten großen Anteil gezeigt. Das Haus der Witwe ward nie leer von

Jammernden und Ratenden. Seit Menschengedenken waren nicht so viel Juden beisammen in L.

gesehen worden. Durch den Mord ihres Glaubensgenossen aufs Äußerste erbittert, hatten sie

weder Mühe noch Geld gespart, dem Täter auf die Spur zu kommen. Man weiß sogar, daß einer

derselben, gemeinhin der Wucherjoel genannt, einem seiner Kunden, der ihm mehrere Hunderte

schuldete und den er für einen besonders listigen Kerl hielt, Erlaß der ganzen Summe angeboten

hatte, falls er ihm zur Verhaftung des Mergel verhelfen wolle; denn der Glaube war allgemein

unter den Juden, daß der Täter nur mit guter Beihülfe entwischt und wahrscheinlich noch in der

Umgegend sei. Als dennoch alles nichts half und die gerichtliche Verhandlung für beendet

erklärt worden war, erschien am nächsten Morgen eine Anzahl der angesehensten Israeliten im

Schlosse, um dem gnädigen Herrn einen Handel anzutragen. Der Gegenstand war die Buche, unter

der Aarons Stab gefunden und wo der Mord wahrscheinlich verübt worden war. – »Wollt ihr sie

fällen? So mitten im vollen Laube?« fragte der Gutsherr. – »Nein, Ihro Gnaden, sie muß

stehenbleiben im Winter und Sommer, solange ein Span daran ist.« – »Aber wenn ich nun den Wald

hauen lasse, so schadet es dem jungen Aufschlag.« – »Wollen wir sie doch nicht um gewöhnlichen

Preis.« – Sie boten 200 Taler. Der Handel ward geschlossen und allen Förstern streng

eingeschärft, die Judenbuche auf keine Weise zu schädigen. Darauf sah man an einem Abende wohl

gegen sechzig Juden, ihren Rabbiner an der Spitze, in das Brederholz ziehen, alle schweigend

und mit gesenkten Augen. Sie blieben über eine Stunde im Walde und kehrten dann ebenso ernst

und feierlich zurück, durch das Dorf B. bis in das Zellerfeld, wo sie sich zerstreuten und

jeder seines Weges ging. Am nächsten Morgen stand an der Buche mit dem Beil eingehauen:

Und wo war Friedrich? Ohne Zweifel fort, weit genug, um die kurzen Arme einer so schwachen

Polizei nicht mehr fürchten zu dürfen. Er war bald verschollen, vergessen. Ohm Simon redete

selten von ihm, und dann schlecht; die Judenfrau tröstete sich am Ende und nahm einen andern

Mann. Nur die arme Margreth blieb ungetröstet.

Etwa ein halbes Jahr nachher las der Gutsherr einige eben erhaltene Briefe in Gegenwart des

Amtsschreibers. – »Sonderbar, sonderbar!« sagte er. »Denken Sie sich, Kapp, der Mergel ist

vielleicht unschuldig an dem Morde. Soeben schreibt mir der Präsident des Gerichtes zu P.: ›Le

vrai n’est pas toujours vraisemblable; das erfahre ich oft in meinem Berufe und jetzt

neuerdings. Wissen Sie wohl, daß Ihr lieber Getreuer, Friedrich Mergel, den Juden mag

ebensowenig erschlagen haben, als ich oder Sie? Leider fehlen die Beweise, aber die

Wahrscheinlichkeit ist groß. Ein Mitglied der Schlemmingschen Bande (die wir jetzt, nebenbei

gesagt, größtenteils unter Schloß und Riegel haben), Lumpenmoises genannt, hat im letzten

Verhöre ausgesagt, daß ihn nichts so sehr gereue, als der Mord eines Glaubensgenossen, Aaron,

den er im Walde erschlagen und doch nur sechs Groschen bei ihm gefunden habe. Leider ward das

Verhör durch die Mittagsstunde unterbrochen, und während wir tafelten, hat sich der Hund von

einem Juden an seinem Strumpfband erhängt. Was sagen Sie dazu? Aaron ist zwar ein verbreiteter

Name usw.‹ – Was sagen Sie dazu?« wiederholte der Gutsherr; »und weshalb wäre der Esel von

einem Burschen denn gelaufen?« – Der Amtsschreiber dachte nach. – »Nun, vielleicht der

Holzfrevel wegen, mit denen wir ja gerade in Untersuchung waren. Heißt es nicht: der Böse

läuft vor seinem eigenen Schatten? Mergels Gewissen war schmutzig genug auch ohne diesen

Flecken.«

Dabei beruhigte man sich. Friedrich war hin, verschwunden und – Johannes Niemand, der arme,

unbeachtete Johannes, am gleichen Tage mit ihm.

Eine schöne, lange Zeit war verflossen, achtundzwanzig Jahre, fast die Hälfte eines

Menschenlebens; der Gutsherr war sehr alt und grau geworden, sein gutmütiger Gehülfe Kapp

längst begraben. Menschen, Tiere und Pflanzen waren entstanden, gereift, vergangen, nur Schloß

B. sah immer gleich grau und vornehm auf die Hütten herab, die wie alte hektische Leute immer

fallen zu wollen schienen und immer standen. Es war am Vorabende des Weihnachtfestes, den

24sten Dezember 1788. Tiefer Schnee lag in den Hohlwegen, wohl an zwölf Fuß hoch, und eine

durchdringende Frostluft machte die Fensterscheiben in der geheizten Stube gefrieren.

Mitternacht war nahe, dennoch flimmerten überall matte Lichtchen aus den Schneehügeln, und in

jedem Hause lagen die Einwohner auf den Knien, um den Eintritt des heiligen Christfestes mit

Gebet zu erwarten, wie dies in katholischen Ländern Sitte ist, oder wenigstens damals

allgemein war. Da bewegte sich von der Breder Höhe herab eine Gestalt langsam gegen das Dorf;

der Wanderer schien sehr matt oder krank; er stöhnte schwer und schleppte sich äußerst mühsam

durch den Schnee.

An der Mitte des Hanges stand er still, lehnte sich auf seinen Krückenstab und starrte

unverwandt auf die Lichtpunkte. Es war so still überall, so tot und kalt; man mußte an

Irrlichter auf Kirchhöfen denken. Nun schlug es zwölf im Turm; der letzte Schlag verdröhnte

langsam und im nächsten Hause erhob sich ein leiser Gesang, der, von Hause zu Hause

schwellend, sich über das ganze Dorf zog:

Ein Kindelein so löbelich

Ist uns geboren heute,

Von einer Jungfrau säuberlich,

Des freun sich alle Leute;

Und wär’ das Kindelein nicht geborn,

So wären wir alle zusammen verlorn:

Das Heil ist unser aller.

O du mein liebster Jesu Christ,

Der du als Mensch geboren bist,

Erlös uns von der Hölle!

Der Mann am Hange war in die Knie gesunken und versuchte mit zitternder Stimme einzufallen; es

ward nur ein lautes Schluchzen daraus, und schwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee. Die

zweite Strophe begann; er betete leise mit; dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt

und die Lichter in den Häusern begannen sich zu bewegen. Da richtete der Mann sich mühselig

auf und schlich langsam hinab in das Dorf. An mehreren Häusern keuchte er vorüber, dann stand

er vor einem still und pochte leise an.

»Was ist denn das?« sagte drinnen eine Frauenstimme; »die Türe klappert und der Wind geht doch

nicht.« – Er pochte stärker: »Um Gottes willen, laßt einen halberfrorenen Menschen ein, der

aus der türkischen Sklaverei kommt!« – Geflüster in der Küche. »Geht ins Wirtshaus,«

antwortete eine andere Stimme, »das fünfte Haus von hier!« – »Um Gottes Barmherzigkeit willen,

laßt mich ein! Ich habe kein Geld.« – Nach einigem Zögern ward die Tür geöffnet und ein Mann

leuchtete mit der Lampe hinaus. – »Kommt nur herein!« sagte er dann, »Ihr werdet uns den Hals

nicht abschneiden.«

In der Küche befanden sich außer dem Manne eine Frau in den mittlern Jahren, eine alte Mutter

und fünf Kinder. Alle drängten sich um den Eintretenden her und musterten ihn mit scheuer

Neugier. Eine armselige Figur! Mit schiefem Halse, gekrümmtem Rücken, die ganze Gestalt

gebrochen und kraftlos; langes, schneeweißes Haar hing um sein Gesicht, das den verzogenen

Ausdruck langen Leidens trug. Die Frau ging schweigend an den Herd und legte frisches Reisig

zu. – »Ein Bett können wir Euch nicht geben,« sagte sie; »aber ich will hier eine gute Streu

machen; Ihr müßt Euch schon so behelfen.« – »Gott’s Lohn!« versetzte der Fremde; »ich bin’s

wohl schlechter gewohnt.« – Der Heimgekehrte ward als Johannes Niemand erkannt, und er selbst

bestätigte, daß er derselbe sei, der einst mit Friedrich Mergel entflohen.

Das Dorf war am folgenden Tage voll von den Abenteuern des so lange Verschollenen. Jeder

wollte den Mann aus der Türkei sehen, und man wunderte sich beinahe, daß er noch aussehe wie

andere Menschen. Das junge Volk hatte zwar keine Erinnerungen von ihm, aber die Alten fanden

seine Züge noch ganz wohl heraus, so erbärmlich entstellt er auch war. »Johannes, Johannes,

was seid Ihr grau geworden!« sagte eine alte Frau. »Und woher habt Ihr den schiefen Hals?« –

»Vom Holz- und Wassertragen in der Sklaverei,« versetzte er. – »Und was ist aus Mergel

geworden? Ihr seid doch zusammen fortgelaufen?« – »Freilich wohl; aber ich weiß nicht, wo er

ist, wir sind voneinander gekommen. Wenn Ihr an ihn denkt, betet für ihn,« fügte er hinzu, »er

wird es wohl nötig haben.«

Man fragte ihn, warum Friedrich sich denn aus dem Staube gemacht, da er den Juden doch nicht

erschlagen? – »Nicht?« sagte Johannes und horchte gespannt auf, als man ihm erzählte, was der

Gutsherr geflissentlich verbreitet hatte, um den Fleck von Mergels Namen zu löschen. »Also

ganz umsonst,« sagte er nachdenkend, »ganz umsonst so viel ausgestanden!« Er seufzte tief und

fragte nun seinerseits nach manchem. Simon war lange tot, aber zuvor noch ganz verarmt, durch

Prozesse und böse Schuldner, die er nicht gerichtlich belangen durfte, weil es, wie man sagte,

zwischen ihnen keine reine Sache war. Er hatte zuletzt Bettelbrod gegessen und war in einem

fremden Schuppen auf dem Stroh gestorben. Margreth hatte länger gelebt, aber in völliger

Geistesdumpfheit. Die Leute im Dorf waren es bald müde geworden, ihr beizustehen, da sie alles

verkommen ließ, was man ihr gab, wie es denn die Art der Menschen ist, gerade die Hülflosesten

zu verlassen, solche, bei denen der Beistand nicht nachhaltig wirkt und die der Hülfe immer

gleich bedürftig bleiben. Dennoch hatte sie nicht eigentlich Not gelitten; die Gutsherrschaft

sorgte sehr für sie, schickte ihr täglich das Essen und ließ ihr auch ärztliche Behandlung

zukommen, als ihr kümmerlicher Zustand in völlige Abzehrung übergegangen war. In ihrem Hause

wohnte jetzt der Sohn des ehemaligen Schweinehirten, der an jenem unglücklichen Abende

Friedrichs Uhr so sehr bewundert hatte. – »Alles hin, alles tot!« seufzte Johannes.

Am Abend, als es dunkel geworden war und der Mond schien, sah man ihn im Schnee auf dem

Kirchhofe umherhumpeln; er betete bei keinem Grabe, ging auch an keines dicht hinan, aber auf

einige schien er aus der Ferne starre Blicke zu heften. So fand ihn der Förster Brandis, der

Sohn des Erschlagenen, den die Gutsherrschaft abgeschickt hatte, ihn ins Schloß zu holen.

Beim Eintritt in das Wohnzimmer sah er scheu umher, wie vom Licht geblendet, und dann auf den

Baron, der sehr zusammengefallen in seinem Lehnstuhl saß, aber noch immer mit den hellen Augen

und dem roten Käppchen auf dem Kopfe wie vor achtundzwanzig Jahren; neben ihm die gnädige

Frau, auch alt, sehr alt geworden.

»Nun, Johannes,« sagte der Gutsherr, »erzähl mir einmal recht ordentlich von deinen

Abenteuern. Aber,« er musterte ihn durch die Brille, »du bist ja erbärmlich mitgenommen in der

Türkei!« Johannes begann: wie Mergel ihn nachts von der Herde abgerufen und gesagt, er müsse

mit ihm fort. – »Aber warum lief der dumme Junge denn? Du weißt doch, daß er unschuldig war?«

– Johannes sah vor sich nieder: »Ich weiß nicht recht, mich dünkt, es war wegen

Holzgeschichten. Simon hatte so allerlei Geschäfte; mir sagte man nichts davon, aber ich

glaube nicht, daß alles war, wie es sein sollte.« – »Was hat denn Friedrich dir gesagt?« –

»Nichts, als daß wir laufen müßten, sie wären hinter uns her. So liefen wir bis Heerse; da war

es noch dunkel und wir versteckten uns hinter das große Kreuz am Kirchhofe, bis es etwas

heller würde, weil wir uns vor den Steinbrüchen am Zellerfelde fürchteten; und wie wir eine

Weile gesessen hatten, hörten wir mit einem Male über uns schnauben und stampfen und sahen

lange Feuerstrahlen in der Luft gerade über dem Heerser Kirchturm. Wir sprangen auf und

liefen, was wir konnten in Gottes Namen gerade aus, und wie es dämmerte, waren wir wirklich

auf dem rechten Wege nach P.«

Johannes schien noch vor der Erinnerung zu schaudern, und der Gutsherr dachte an seinen

seligen Kapp und dessen Abenteuer am Heerser Hange. – »Sonderbar!« lachte er, »so nah wart ihr

einander! Aber fahr fort.« – Johannes erzählte nun, wie sie glücklich durch P. und über die

Grenze gekommen. Von da an hatten sie sich als wandernde Handwerksbursche durchgebettelt bis

Freiburg im Breisgau. »Ich hatte meinen Brodsack bei mir,« sagte er, »und Friedrich ein

Bündelchen; so glaubte man uns.« – In Freiburg hatten sie sich von den Österreichern anwerben

lassen; ihn hatte man nicht gewollt, aber Friedrich bestand darauf. So kam er unter den Train.

»Den Winter über blieben wir in Freiburg,« fuhr er fort, »und es ging uns ziemlich gut; mir

auch, weil Friedrich mich oft erinnerte und mir half, wenn ich etwas verkehrt machte. Im

Frühling mußten wir marschieren, nach Ungarn, und im Herbst ging der Krieg mit den Türken los.

Ich kann nicht viel davon nachsagen, denn ich wurde gleich in der ersten Affaire gefangen und

bin seitdem sechsundzwanzig Jahre in der türkischen Sklaverei gewesen!« – »Gott im Himmel! Das

ist doch schrecklich!« sagte Frau von S. – »Schlimm genug; die Türken halten uns Christen

nicht besser als Hunde; das schlimmste war, daß meine Kräfte unter der harten Arbeit

vergingen; ich ward auch älter und sollte noch immer tun wie vor Jahren.«

Er schwieg eine Weile. »Ja,« sagte er dann, »es ging über Menschenkräfte und Menschengeduld;

ich hielt es auch nicht aus. – Von da kam ich auf ein holländisches Schiff.« – »Wie kamst du

denn dahin?« fragte der Gutsherr. – »Sie fischten mich auf, aus dem Bosporus,« versetzte

Johannes. Der Baron sah ihn befremdet an und hob den Finger warnend auf; aber Johannes

erzählte weiter. Auf dem Schiffe war es ihm nicht viel besser gegangen. »Der Skorbut riß ein;

wer nicht ganz elend war, mußte über Macht arbeiten, und das Schiffstau regierte ebenso streng

wie die türkische Peitsche. Endlich,« schloß er, »als wir nach Holland kamen, nach Amsterdam,

ließ man mich frei, weil ich unbrauchbar war, und der Kaufmann, dem das Schiff gehörte, hatte

auch Mitleiden mit mir und wollte mich zu seinem Pförtner machen. Aber« – er schüttelte den

Kopf – »ich bettelte mich lieber durch bis hieher.« – »Das war dumm genug,« sagte der

Gutsherr. – Johannes seufzte tief: »O Herr, ich habe mein Leben zwischen Türken und Ketzern

zubringen müssen, soll ich nicht wenigstens auf einem katholischen Kirchhofe liegen?« Der

Gutsherr hatte seine Börse gezogen: »Da, Johannes, nun geh und komm bald wieder. Du mußt mir

das alles noch ausführlicher erzählen; heute ging es etwas konfus durcheinander. Du bist wohl

noch sehr müde?« – »Sehr müde,« versetzte Johannes; »und,« er deutete auf seine Stirn, »meine

Gedanken sind zuweilen so kurios, ich kann nicht recht sagen, wie es so ist.« – »Ich weiß

schon,« sagte der Baron, »von alter Zeit her. Jetzt geh. Hülsmeyers behalten dich wohl noch

die Nacht über, morgen komm wieder.«

Herr von S. hatte das innigste Mitleiden mit dem armen Schelm; bis zum folgenden Tage war

überlegt worden, wo man ihn einmieten könne; essen sollte er täglich im Schlosse, und für

Kleidung fand sich auch wohl Rat. »Herr,« sagte Johannes, »ich kann auch noch wohl etwas tun;

ich kann hölzerne Löffel machen, und Ihr könnt mich auch als Boten schicken.« Herr von S.

schüttelte mitleidig den Kopf: »Das würde doch nicht sonderlich ausfallen.« – »O doch Herr,

wenn ich erst im Gange bin – es geht nicht schnell, aber hin komme ich doch, und es wird mir

auch nicht so sauer, wie man denken sollte.« – »Nun,« sagte der Baron zweifelnd, »willst du’s

versuchen? Hier ist ein Brief nach P. Es hat keine sonderliche Eile.«

Am folgenden Tage bezog Johannes sein Kämmerchen bei einer Witwe im Dorfe. Er schnitzelte

Löffel, aß auf dem Schlosse und machte Botengänge für den gnädigen Herrn. Im ganzen ging’s ihm

leidlich; die Herrschaft war sehr gütig, und Herr von S. unterhielt sich oft lange mit ihm

über die Türkei, den österreichischen Dienst und die See. – »Der Johannes könnte viel

erzählen,« sagte er zu seiner Frau, »wenn er nicht so grundeinfältig wäre.« – »Mehr tiefsinnig

als einfältig,« versetzte sie; »ich fürchte immer, er schnappt noch über.« – »Ei bewahre!«

antwortete der Baron, »er war sein Leben lang ein Simpel; simple Leute werden nie verrückt.«

Nach einiger Zeit blieb Johannes auf einem Botengange über Gebühr lange aus. Die gute Frau von

S. war sehr besorgt um ihn und wollte schon Leute aussenden, als man ihn die Treppe

heraufstelzen hörte. – »Du bist lange ausgeblieben, Johannes,« sagte sie; »ich dachte schon,

du hättest dich im Brederholz verirrt.« – »Ich bin durch den Föhrengrund gegangen.« – »Das ist

ja ein weiter Umweg; warum gingst du nicht durchs Brederholz?« – Er sah trübe zu ihr auf: »Die

Leute sagten mir, der Wald sei gefällt, und jetzt seien so viele Kreuz- und Querwege darin, da

fürchtete ich, nicht wieder hinauszukommen. Ich werde alt und duselig,« fügte er langsam

hinzu. – »Sahst du wohl,« sagte Frau von S. nachher zu ihrem Manne, »wie wunderlich und quer

er aus den Augen sah? Ich sage dir, Ernst, das nimmt noch ein schlimmes Ende.«

Indessen nahte der September heran. Die Felder waren leer, das Laub begann abzufallen und

mancher Hektische fühlte die Schere an seinem Lebensfaden. Auch Johannes schien unter dem

Einflusse des nahen Äquinoktiums zu leiden; die ihn in diesen Tagen sahen, sagen, er habe

auffallend verstört ausgesehen und unaufhörlich leise mit sich selber geredet, was er auch

sonst mitunter tat, aber selten. Endlich kam er eines Abends nicht nach Hause. Man dachte, die

Herrschaft habe ihn verschickt, am zweiten auch nicht, am dritten Tage ward seine Hausfrau

ängstlich. Sie ging ins Schloß und fragte nach. – »Gott bewahre,« sagte der Gutsherr, »ich

weiß nichts von ihm; aber geschwind den Jäger gerufen und Försters Wilhelm! Wenn der armselige

Krüppel,« setzte er bewegt hinzu, »auch nur in einen trockenen Graben gefallen ist, so kann er

nicht wieder heraus. Wer weiß, ob er nicht gar eines von seinen schiefen Beinen gebrochen hat!

– Nehmt die Hunde mit,« rief er den abziehenden Jägern nach, »und sucht vor allem in den

Gräben; seht in die Steinbrüche!« rief er lauter.

Die Jäger kehrten nach einigen Stunden heim; sie hatten keine Spur gefunden. Herr von S. war

in großer Unruhe: »Wenn ich mir denke, daß einer so liegen muß wie ein Stein, und kann sich

nicht helfen! Aber er kann noch leben; drei Tage hält’s ein Mensch wohl ohne Nahrung aus.« –

Er machte sich selbst auf den Weg; in allen Häusern wurde nachgefragt, überall in die Hörner

geblasen, gerufen, die Hunde zum Suchen angehetzt – umsonst! – Ein Kind hatte ihn gesehen, wie

er am Rande des Brederholzes saß und an einem Löffel schnitzelte; »er schnitt ihn aber ganz

entzwei,« sagte das kleine Mädchen. Das war vor zwei Tagen gewesen. Nachmittags fand sich

wieder eine Spur: abermals ein Kind, das ihn an der andern Seite des Waldes bemerkt hatte, wo

er im Gebüsch gesessen, das Gesicht auf den Knien, als ob er schliefe. Das war noch am vorigen

Tage. Es schien, er hatte sich immer um das Brederholz herumgetrieben.

»Wenn nur das verdammte Buschwerk nicht so dicht wäre! da kann keine Seele hindurch,« sagte

der Gutsherr. Man trieb die Hunde in den jungen Schlag; man blies und hallote und kehrte

endlich mißvergnügt heim, als man sich überzeugt, daß die Tiere den ganzen Wald abgesucht

hatten. – »Laßt nicht nach! laßt nicht nach!« bat Frau von S.; »besser ein paar Schritte

umsonst, als daß etwas versäumt wird.« – Der Baron war fast ebenso beängstigt wie sie. Seine

Unruhe trieb ihn sogar nach Johannes’ Wohnung, obwohl er sicher war, ihn dort nicht zu finden.

Er ließ sich die Kammer des Verschollenen aufschließen. Da stand sein Bett noch ungemacht, wie

er es verlassen hatte; dort hing sein guter Rock, den ihm die gnädige Frau aus dem alten

Jagdkleide des Herrn hatte machen lassen; auf dem Tische ein Napf, sechs neue hölzerne Löffel

und eine Schachtel. Der Gutsherr öffnete sie; fünf Groschen lagen darin, sauber in Papier

gewickelt, und vier silberne Westenknöpfe; der Gutsherr betrachtete sie aufmerksam. »Ein

Andenken von Mergel,« murmelte er und trat hinaus, denn ihm ward ganz beengt in dem dumpfen,

engen Kämmerchen. Die Nachsuchungen wurden fortgesetzt, bis man sich überzeugt hatte, Johannes

sei nicht mehr in der Gegend, wenigstens nicht lebendig. So war er denn zum zweitenmal

verschwunden; ob man ihn wiederfinden würde – vielleicht einmal nach Jahren seine Knochen in

einem trockenen Graben? Ihn lebend wieder zu sehen, dazu war wenig Hoffnung, und jedenfalls

nach achtundzwanzig Jahren gewiß nicht.

Vierzehn Tage später kehrte der junge Brandis morgens von einer Besichtigung seines Reviers

durch das Brederholz heim. Es war ein für die Jahreszeit ungewöhnlich heißer Tag; die Luft

zitterte, kein Vogel sang, nur die Raben krächzten langweilig aus den Ästen und hielten ihre

offenen Schnäbel der Luft entgegen. Brandis war sehr ermüdet. Bald nahm er seine von der Sonne

durchglühte Kappe ab, bald setzte er sie wieder auf. Es war alles gleich unerträglich, das

Arbeiten durch den kniehohen Schlag sehr beschwerlich. Ringsumher kein Baum außer der

Judenbuche. Dahin strebte er denn auch aus allen Kräften und ließ sich todmatt auf das

beschattete Moos darunter nieder. Die Kühle zog so angenehm durch seine Glieder, daß er die

Augen schloß. »Schändliche Pilze!« murmelte er halb im Schlaf. Es gibt nämlich in jener Gegend

eine Art sehr saftiger Pilze, die nur ein paar Tage stehen, dann einfallen und einen

unerträglichen Geruch verbreiten. Brandis glaubt solche unangenehmen Nachbarn zu spüren, er

wandte sich ein paarmal hin und her, mochte aber doch nicht aufstehen; sein Hund sprang

unterdessen umher, kratzte am Stamm der Buche und bellte hinauf. – »Was hast du da, Bello?

Eine Katze?« murmelte Brandis. Er öffnete die Wimper halb und die Judenschrift fiel ihm ins

Auge, sehr ausgewachsen, aber doch noch ganz kenntlich. Er schloß die Augen wieder; der Hund

fuhr fort zu bellen und legte endlich seinem Herrn die kalte Schnauze ans Gesicht. – »Laß mich

in Ruh’! Was hast du denn?« Hiebei sah Brandis, wie er so auf dem Rücken lag, in die Höhe,

sprang dann mit einem Satze auf und wie besessen ins Gestrüpp hinein. Totenbleich kam er auf

dem Schlosse an: in der Judenbuche hänge ein Mensch; er habe die Beine gerade über seinem

Gesichte hängen sehen. – »Und du hast ihn nicht abgeschnitten, Esel?« rief der Baron. –

»Herr,« keuchte Brandis, »wenn Ew. Gnaden dagewesen wären, so wüßten Sie wohl, daß der Mensch

nicht mehr lebt. Ich glaubte anfangs, es seien die Pilze.« Dennoch trieb der Gutsherr zur

größten Eile und zog selbst mit hinaus.

Sie waren unter der Buche angelangt. »Ich sehe nichts,« sagte Herr von S. – »Hierher müssen

Sie treten, hierher, an diese Stelle!« – Wirklich, dem war so: der Gutsherr erkannte seine

eigenen abgetragenen Schuhe. – »Gott, es ist Johannes! – Setzt die Leiter an! – So – nun

herunter! – Sacht, sacht! Laßt ihn nicht fallen! – Lieber Himmel, die Würmer sind schon daran!

Macht dennoch die Schlinge auf und die Halsbinde.« – Eine breite Narbe ward sichtbar; der

Gutsherr fuhr zurück. – »Mein Gott!« sagte er; er beugte sich wieder über die Leiche,

betrachtete die Narbe mit großer Aufmerksamkeit und schwieg eine Weile in tiefer

Erschütterung. Dann wandte er sich zu den Förstern: »Es ist nicht recht, daß der Unschuldige

für den Schuldigen leide; sagt es nur allen Leuten: der da« – er deutete auf den Toten – »war

Friedrich Mergel.« – Die Leiche ward auf dem Schindanger verscharrt.

Dies hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September des Jahrs 1788. – Die

hebräische Schrift an dem Baume heißt:

»Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.«

Annette von Droste-Hülshoff – Bei uns zulande auf dem Lande

Annette von Droste-Hülshoff

Bei uns zulande auf dem Lande

Nach der Handschrift eines Edelmannes aus der Lausitz

Einleitung des Herausgebers

Ich bin ein Westfale, und zwar ein Stockwestfale, nämlich ein Münsterländer, – Gott sei Dank!

füge ich hinzu und denke gut genug von jedem Fremden, wer er auch sei, um ihm zuzutrauen, daß

er gleich mir den Boden, wo »seine Lebenden wandeln und seine Toten ruhen«, mit keinem andern

auf Erden vertauschen würde, obwohl seit etwa zwei Jahrzehnten, d.h. seit der Dampf sein

Bestes tut, das Landeskind in einen Weltbürger umzublasen, die Furcht, beschränkt und

eingerostet zu erscheinen, es fast zur Sitte gemacht hat, die Schwächen der Alma mater, welche

man sonst Vaterland nannte und bald nur als den zufälligen Ort der Geburt bezeichnen wird, mit

möglichst schonungsloser Hand aufzudecken und so einen glänzenden Beweis seiner Vielseitigkeit

zu geben. Es ist bekanntlich ja unendlich trostloser, für albern als für schlimm zu gelten.

Möge die zivilisierte Welt also getröstet sein, denn ihre Fortschritte zu der alles

nivellierenden Unbefangenheit der wandernden Schauspieler, Scherenschleifer und vazierenden

Musikanten sind schnell und unwidersprechlich. – Dennoch bleiben Erbübel immer schwer

auszurotten, und ich glaube bemerkt zu haben, daß, sobald man auf die Redeweisen dieser

grandiosen Parteilosen fein kräftig eingeht und etwa hier und dort noch den rechten Drücker

aufsetzt, sie geradeso vergnügt lächeln als ein Bauer, der Zahnweh hat.

Gott besser’s, sage ich und überlasse die beliebige Auslegung jedem. – Was mich anbelangt, so

bin ich, wie gesagt, ein Mensch nullius iudicii, nämlich ein Münsterländer, sonst guter Leute

Kind, habe studiert in Bonn, in Heidelberg, auch auf einer Ferienreise vom Rigi geschaut und

die Welt nicht nur weitläufig, sondern sogar überaus schön gefunden – ein in der Tat wunderbar

köstlicher Moment, und für den armen Studenten, der um jeden zu diesem Zwecke heimgelegten

Taler irgendeine andere Freude hat totschlagen müssen, ein tief, fast heilig bewegender –

dennoch nichts gegen das erste Knistern des Heidekrauts unter den Rädern, nichts gegen das

mutwillige Andringen der ersten Blütenstaubwolke, die die erste Nußhecke uns in den Wagen

wirbelte, nach drei langen auswärts verlebten Jahren. Da habe ich mich mal weit aus dem

Schlage gelehnt und mich gelb einpudern lassen, wie ein Römer aus den Zeiten Augusts, und so

wie berauscht die erstickenden Küsse meiner Heimat eingesogen. Dann kamen meine klaren,

stillen Weiher mit den gelben Wasserlilien, meine Schwärme von Libellen, die wie glänzende

Zäpfchen sich überall anhängen, meine blauen, goldenen, getigerten Schmetterlinge, die wie

flatternde Miniaturen aufstiegen. Wie gern wäre ich ausgestiegen und ein Weilchen

nebenhergetrabt, aber es kam mir vor, als müßte ich mich schämen vor den Leuten im

Schnellwagen und vor allen machte mir ein bleicher, winddürrer Herr not, der ganz aussah wie

ein Genie, was auf Menschenkenntnis reist, denn ich bin ehrlicher Leute Kind und möchte nicht

gern als empfindsame Heidschnucke in einem Journale figurieren. Deshalb will ich denn auch

hier abbrechen und nur noch sagen, daß ich seit zwölf Jahren wieder bei uns zulande bin und

mein friedliches Brot habe, als Rentmeister meines guten gnädigen Herrn, der keine Schwalbe an

seinem Dache belästigen mag, wieviel weniger seine Leute überladet, so daß ich meine Arbeit in

der Tat ganz wohl zwingen kann und um vieles an gutem, ich meine gesundem Aussehen gewonnen

habe, sonderlich in den letzten fünf Jahren, seit ich das obere Turmzimmer bewohne, was das

gesundeste im Hause ist und mir noch allerlei kleine Ergötzlichkeiten, als aus dem Fenster zu

angeln und die Reiher über dem Schloßweiher wegzuschießen, bietet. – Die Zeitungen werden mir

auch gebracht, wenn der Herr sie gelesen, und die Bücher aus der Leihbibliothek; so füllt sich

mein Überschuß an Zeit ganz behaglich aus, und ich bleibe hinlänglich in Rapport mit der

politischen und belletristischen Außenwelt. – Sehr wunderlich war mir zumute, als ich vor etwa

zehn Jahren zum erstenmal mein gutes Ländchen in van der Veldens Roman unverhofft begegnete,

es war mir fast, als sei ich nun ein Lion geworden und könne fortan nicht mehr in meinem

ordinären Rocke ausgehen. In den letzten Jahren habe ich mich indessen dagegen verhärtet, seit

wir Westfalen in der Literatur wie Ameisen umherwimmeln. Ich will nichts gegen diese Schriften

sagen, da ich wohl weiß, wie es mir ergehen würde, wenn ich z.B. einen Russen oder Kalmücken

in die Szene setzen sollte, aber soviel ist gewiß, daß ich in den Figuren, die dort unsere

Straßen durchwandeln, höchstens meine Nebenmenschen erkannt habe. Mir fiel dabei ein, wie ich

in den Gymnasialjahren bei einer stillen honetten Familie wohnte, wo jeden Abend Walter Scotts

Romane, einer nach dem andern, andächtig vorgenommen wurden; mein Wirt war Forstmann, sein

Bruder Militär, und seiner Frauen Bruder, der sich pünktlich um sieben mit der langen Pfeife

und einem starken Salbenduft einstellte, Wundarzt – Gott, wie haben wir uns an dem

Schottländer ergötzt, aber nur ich ganz rein, weil ich von allem, was er verhandelte, eben

kaum oberflächliche Kenntnisse hatte, die andern hingegen fanden alles unübertrefflich, bis

auf die greulichen Schnitzer in jedes eignem Fach, und lagen sich oft in den Haaren, daß sie

im Eifer das Licht ausdampften und mir in Rauch und Angst der Atem ausging, denn mein Held lag

derweil hart verwundet am Boden, und mir war, als müsse er sich verbluten, oder er hing über

einem schaudernden Abgrund, und mir war, als sähe ich ein Steinchen nach dem andern unter

seinen Fußen wegbröckeln; daraus habe ich mir denn den Schluß gezogen, nicht damals, sondern

nachträglich, daß man sowohl aus Billigkeit als um sich nicht unnötig zu verstimmen, zuweilen

eine Krähe für einen Raben muß gelten lassen, und es ist nicht zu genau zu nehmen mit Leuten,

die vielleicht aus Not als gute Familienväter sich mit Gegenständen befaßt haben, zu deren

Durchdringen ihnen nun einmal die Gelegenheit nicht ist gegeben worden. Dennoch war es mir,

sooft ich las, als rufe alles Totgeschlagene um Hülfe und fordere sein Leben von mir. Ich

hatte seitdem keine Ruhe, weniger vor dem, was besteht, als vor dem, was für immer hin ist.

Alte, nebelhafte Erinnerungen aus meinen frühsten Jahren tauchten auf, glitten mir tages über

die Rechnungen und kamen nachts in einer lebendigen Verkörperung wieder; ich war wieder ein

Kind und knieete neugierig und andächtig auf dem grünen Stiftsanger, während die Prozession an

mir vorüberzog, die Kirchenfahnen, die breite Sodalitätsfahne; ich sah genau die seit dreißig

Jahren vergessenen Zieraten des Reliquienkastens, und Fräulein, die ich schon so lange als alt

und verkümmert kannte, daß es mir war, als könnten sie nie jung und selbständig gewesen sein,

traten in ihrer weißen Ordenstracht so stattlich und sittsam hinter dem hochwürdigen Gute her,

wie es christlichen Herrschaften geziemt. Seltsam genug war in diesen Träumen auch alle Scheu

und Beschränktheit eines Kindes wieder über mich gekommen; ich fürchtete mich etwas weniges

vor den Bärten der Kapuziner, nahm nur zögernd und doch begierig das Heiligenbild, was sie mir

mit resolutem Nicken aus ihren Ärmel hervorsuchten, sah verstört hinter mich, wenn meine

Tritte in den Kreuzgängen widerhallten, und horchte mit offenem Munde auf die eintönigen

Responsorien der Domherren, die aus dem geschlossenen Chore mir wie eine Wirkung ohne Ursache

hervorzudröhnen schienen. Wachte ich dann auf, so war mir zumute wie einem Geplünderten,

verarmt und tiefbetrübt, daß alles dieses und auch soviel anderes Landesgetreue, was so reich

und wahrhaftig gelebt, fortan kein anderes Dasein haben sollte als in dem Gedächtnisse weniger

Alternder, die auch nach und nach abfallen wie das Laub vom Baume, bis der kalte Zugwind der

Ereignisse auch kein Blatt mehr zu verwehen findet. Träumen macht närrisch, pflegt man zu

sagen; mich hat es närrisch genug gemacht (soll ich’s gestehen? und warum nicht, irren ist

kein Schade). An einem schönen Tage, wo blöder Sonnenschein mir gute Courage machte, schnitt

ich entschlossen ein Dutzend Federn, nahm mich gewissermaßen selber bei den Ohren und dachte:

Schreib auf, was du weißt, wäre es auch nur für die Kinder des Herrn, Karl und Klärchen –

besser ein halbes Ei als eine leere Schale; angefangen habe ich denn auch, aber wenn ich

sagte, es sei gut geworden, so hätte ich mich selber zum Narren. Solange ich schrieb, kam es

mir schon leidlich vor, und ich hatte mitunter Freude an eignen netten Einfällen und, wie mich

dünkte, ganz poetischen Gedanken, aber wenn ich es mir nun vor anderer Augen oder gar gedruckt

dachte, dann schoß es mit einem Male zum Herzen, als sei ich doch ganz und gar kein Genie und,

obwohl gleichsam mit der Feder hinterm Ohre geboren, doch wohl nur, um Register zu führen und

Rechnungen auszuschreiben. In meinem Leben habe ich mich nicht so geschämt, als wenn ich dann,

wie dies ein paarmal geschah, die Tischglocke überhörte und der Bediente mich überraschte,

der, gottlob, kein Geschriebenes lesen kann. Aller Augen sahen auf mich, ich schluckte meine

Suppe nachträglich hinunter wie ein Reiher, und es war mir, als ob alle mit dem Finger auf

mich wiesen, die doch nichts von meiner Heimlichkeit wußten, sonderlich die beiden Kinder. Bei

Gott! es muß ein angstvolles Metier sein, das Schriftstellern, und ich gönne es keinem Hunde.

– Darum bin ich auch so herzlich froh, daß ich dieses Manuskript gefunden, was alles und weit

mehr enthält, als ich zu sagen gewußt hätte, dabei in einem netten Stile, wie er mir

schwerlich würde gelungen sein. Das Heft lag im Archive unter dem Lagerbuche, und ich habe

dies wohl hundertmal daran hinein- und hinausgeschoben, ohne es je zu beachten, aber an jenem

Tage – morgen werden es drei Wochen her sein – polterte es einem Bündel Papiere nach auf den

Boden, und eine glückliche Neugier trieb mich an hineinzusehen. Der Verfasser ist ein Edelmann

aus der Lausitz, Lehnsvetter einer angesehenen, seit zwanzig Jahren erloschenen Familie, deren

Güter meinem Herrn zugekommen sind – das Hauptgut als Allodium durch Erbschaft, da des Herrn

Mutter eine Tochter jenes Hauses war, die geringern Besitzungen durch Kauf vom Bruder dieses

Lausitzers im Zeitpunkt der Aufhebung des Lehnsrechts durch Napoleon. Wie das Manuskript

hierhergekommen, weiß ich nicht, und der Herr, dem ich’s vorgelegt, wußte ebenfalls nichts

darüber; vielleicht hat es mein Vorgänger im Amte, der aufgeweckten, wißbegierigen Geistes

gewesen sein soll, von einer seiner Inspektionsreisen mitgebracht. Es lagen noch zwei

vergilbte Briefe darin, woraus erhellt, daß jener Edelmann unerwartet abreisen mußte, weil

sein Bruder am Nervenfieber schwer erkrankt war, daß er, in der Heimat angekommen, über der

Pflege desselben gleichfalls erkrankte und starb, während der andere aufkam; so mag er wohl

sein Manuskript in der Angst und Eil’ vergessen haben. Er scheint ein munterer und

wohlmeinender Mann gewesen zu sein, billig genug für einen Ausländer, mit der so seltenen

Gabe, eine fremde Nationalität rein aufzufassen, freilich nur halb fremd, denn das

westfälische Blut dringt noch bis ins hundertste Glied, und ich würde bedauern, daß er so früh

sterben mußte, wenn ich nicht bedächte, daß er jetzt doch schwerlich noch im Leben sein könnte

– sechsundfünfzig Jahre sind eine lange Zeit, wenn man schon vorher in den Dreißigen war. –

Die angesehene und fromme Familie, bei der er den einen Sommer zugebracht, hat auch, man

möchte sagen, unzeitig verlöschen müssen: zuerst der alte Herr, der sich beim Botanisieren

erkältete und, so glatt und wohlerhalten für seine Jahre er aussah, sich doch als sehr schwach

erwies, denn er schwand hin an der leichten Erkältung wie ein Hauch; dann der junge Herr

Baron, den man bis zu seiner Majorennität auf Reisen schickte, und der in Wien ein trauriges,

vorzeitiges Ende fand, im Duell, um einer eingebildeten Beleidigung willen, die das

freundliche Gemüt des jungen Mannes nicht beabsichtigte; Fräulein Sophie starb ihnen bald

nach, sie war nie recht gesund gewesen und diese beiden Stöße zu hart für sie; meines Herrn

Mutter mußte die Geburt ihres Kindes mit dem Leben bezahlen; aber wer sie alle überlebte, war

die Frau Großmutter, die nach dem Verluste der Ihrigen hierher zog und sich mit großer

Elastizität an dem Gedeihen ihres Enkels wieder aufrichtete; ich habe sie noch gekannt als

eine steinalte Frau, aber lebendig, heftig und aller ihrer Geisteskräfte mächtig bis zum

letzten Atemzuge; man hätte fast denken sollen, sie werde nimmer sterben, und doch war es am

Ende ein leichtes Magenübel, was sie hinnahm – ihr Andenken ist in Ehren und Segen und der

gnädige Herr noch immer still und nachdenklich an ihrem Todestage. Als ich ihm das Manuskript

gab, war er sehr bewegt, und ich glaubte nicht, daß er dessen Veröffentlichung zugeben werde;

nachdem es aber vierzehn Tage auf seinem Nachttische gelegen und er in dieser Zeit kein Wort

zu mir darüber geredet hatte, gab er es mir am verwichenen Sonnabend, den 29. Mai, zurück mit

dem Zusatze, von einem Westfalen geschrieben, würde es weniger bedeutend sein, aus dem Munde

eines Fremden sei es ein klares und starkes Zeugnis, was im Familienarchive nicht unterdrückt

werden dürfe. So mag es denn sein! und ich gebe es dem Publikum zum Gefallen oder Mißfallen;

es ist kein Roman, es ist unser Land, unser Glaube, und was diesen trifft an Lob oder Tadel,

was die Lebenden tragen müssen, das möge auch über diese toten Blätter kommen.

Erstes Kapitel

Der Edelmann aus der Lausitz und das Land seiner Vorfahren

Soeben hat die Schloßglocke halb zehn geschlagen – es ist eigentlich noch gar nicht Nacht –

ein schmaler Lichtstreifen steht im Westen, und zuweilen fährt noch ein Vogel im Gebüsche

drüben aus seinem Halbschlafe auf und träumt halbe Kadenzen seines Gesanges nach – dennoch

ist’s hier fast schon Nacht – soeben hat man mir eine schöne neue Talgkerze gebracht – Holz

ans Kamin gelegt, um einen Ochsen zu braten, und nun soll ich ohne Gnade in die Daunen. –

Unmöglich, ich emanzipiere mich, heimlich, aber desto sicherer, und niemand sieht es mir

morgens an, daß ich allnächtlich den stillen Wohltäter des Hauses mache und auf Wasser und

Feuer zwar nicht achte, aber doch achten würde, wenn dergleichen Dinge hierzulande nicht

unschädlich wären, wie ich wohl schließen muß, wenn ich jeden Abend Knecht und Magd mit

flackernden Lampen in Heuböden und Ställen umherwirtschaften sehe. Diese alten Mauern, die

doch wenigstens ihre drei Jahrhunderte auf dem Rücken zu tragen scheinen! seltsames,

schlummerndes Land! so sachte Elemente! so leiser, seufzender Strichwind, so träumende

Gewässer! so kleine friedliche Donnerwetterchen ohne Widerhall! und so stille, blonde

Leutchen, die niemals fluchen, selten singen oder pfeifen, aber denen der Mund immer zu einem

behaglichen Lächeln steht, wenn sie unter der Arbeit nach jeder fünften Minute die Wolken

studieren und aus ihrem kurzen Stummelchen gen Himmel schmöken, mit dem sie sich im besten

Einverständnisse fühlen. Vor einer Viertelstunde hörte ich die Zugbrücke aufknarren, ein

Zeichen, daß alles ab und tot ist und das Haus fortan unter dem Schutze Gottes und des breiten

Schloßteiches steht, der, nebenbei gesagt, an einigen Stellen nur knietiefe Furten hat; das

macht aber nichts, es ist doch blankes Wasser, was darüber steht, und man könnte nicht

durchwaten, ohne bedeutend naß zu werden: Schutz genug gegen Diebe und Gespenster! – Die Nacht

wird sehr sternhell werden, ich sehe zahllose milchichte Punkte allmählich hervordämmern; drei

Hühnerhunde und zwei Dachse lagern auf dem Estrich unter meinem Fenster und schnappen nach den

Mücken, die die dekretierte Nacht noch nicht wollen gelten lassen; aus den Ställen dröhnt

zuweilen das leise Murren einer schlaftrunkenen Kuh oder der Hufschlag eines Pferdes, das mit

Fliegen kämpft; im Zimmer meines guten Vetters von Noahs Arche her brennt das einzige

Nachtlicht; was soll ein ehrlicher Lausitzer machen, der um elf seine letzte Pikettpartie

anzufangen gewöhnt ist? Um mich liegen zwar die Schätze der Bibliothek: Hochbergs »Adliges

Landleben«, Kerßenbrocks »Geschichte der Wiedertäufer«, Werner Rolewinks »De moribus

Westphalorum« und meines Wirtes nicht genug zu preisendes »Liber mirabilis« – aber mir geht es

wie den Israeliten, die sich bei dem blanken Manna nach den Fleischtöpfen Egyptis sehnten; o

Dresdener Staatszeitung, o Frankfurter Postreiter, die ihr mich so manches Mal in den Schlaf

gewiegt habt, wann werden meine Augen euch wiedersehen? Können die Heringe und Schellfische

des Münsterschen Intelligenzblattes meine politischen Stockfische ersetzen? Aber warum

schreibe ich nicht oder vielmehr, warum habe ich nicht geschrieben diese zwei Monate lang? Bin

ich nicht im Lande meiner Vorfahren? Das Land, was mein Ahn Hans Everwin so betrübten Herzens

verließ und in sauberm Mönchslatein besang wie eine Nachtigall in der Perücke? O angulus

ridens! o prata fontesque susurro etc. etc. – Ich weiß es, wie mich einst freuen wird, diese

Blätter zu lesen, wenn dieses fremdartige Intermezzo meines Lebens weit hinter mir liegt,

vielleicht mehr, als ich jetzt noch glaube, denn es ist mir zuweilen, als wolle das

zwanzigfach verdünnte westfälische Blut sich noch geltend in mir machen. Gott bewahre! ich bin

ein echter Lausitzer – vive la Lusace! und nun! das hat Mühe gekostet, bis ich an diesen Kamin

gelangt bin – schlechte, schlechte Wege habe ich durchackert und Gefahren ausgestanden zu

Wasser und Lande. Dreimal habe ich den Wagen zerbrochen und einmal dabei auf dem Kopfe

gestanden, was weder angenehm noch malerisch war. Mit einem Spitzgespann (so nennt man hier

ein Dreigespann) von langhaarigen Bauernpferden habe ich mich durch den Sand gewühlt und mit

einem Male den vordern Renner in einer sogenannten Welle versinken sehen, einer tückischen,

wandernden Rasse von Quellen, die ich sonst nirgends angetroffen und die hier manchen

Fahrwegen Annex ist, sich das ganze Jahr stille hält, um im Frühlinge irgendeine gute

münsterische Seele zu packen, zur Strafe der Sünde, die sie nicht begangen hat. Ich bin aus

dem Wagen gesprungen wie ein Pfeil, denn – bei Gott – mir war so konfus, daß ich an die

Nordsee und Unterspülen dachte; von meinem Pferdchen war nur noch ein Stück Nase und die Ohren

sichtbar, mit denen es erbärmlich zwinkerte; zum Glück waren Bauern in der Nähe, die Heidrasen

stachen und geschickt genug Hand anlegten: »He! Hans! up! up!« Ja – Hans konnte nicht auf und

spartelte sich immer tiefer hinein; endlich ward er doch herausgegabelt und zog

niedergeschlagen und kläglich triefend weiter voran, wie der bei der Serenade übel begossene

Philister. – Ich fand vorläufig den Boden unter meinen Füßen sicherer und stapfte nebenher

durch das feuchte Heidekraut, immer an unsern Ahn denkend und sein horazisches »o angulus

ridens!« und was denn hier wohl lachen möge? der Sand? oder das kotige Pferd? oder mein

Fuhrmann in seinem bespritzten Kittel, der das Ave-Maria pfiff, daß die Heidschnucken davon

melancholisch werden sollten? oder vollends ich, der wie ein Storch von einem Maulwurfshügel

zum andern stelzte? – Doch – ich war es, der am Ende lachend in den Wagen stieg, dreimal

selig, schon vor Jahrhunderten im kleinsten Keime diesem glückseligen Arabien entflohen zu

sein, was sich mir in diesem Augenblicke von dem klassischen durch nichts zu unterscheiden

schien, als nur durch den Mangel an Sträußen und Überfluß an Pfützen. O Gott! dachte ich, wie

mag die Halle deiner Väter beschaffen sein, du guter Everwin! – Eine halbe Tagereise weiter,

und die Gegend klärte sich allmählich auf; die Heiden wurden kleiner, blumicht und beinahe

frisch und fingen an, sich mit ihren auffallend bunten Viehherden und unter Baumgruppen

zerstreuten Wohnungen fast idyllisch auszunehmen; rechts und links Gehölz und, soweit ich es

unterscheiden konnte, frischer, kräftiger Baumschlag, aber überall traten dem Blick mannshohe

Erdwälle entgegen, die, vom Gebüsch überschattet, jeden Fahrweg unerläßlich einengten – wozu?

wahrscheinlich um den Kot desto länger zu konservieren; ich befragte meinen Fuhrmann, einen

gereisten Mann, der sogar einmal Düsseldorf gesehen hatte und mich mindestens immer um mein

drittes Wort verstand: »O Herr«, sagte er, »wenn wir keine Wallhecken hätten, was würden wir

dann für schelmhaftige Wege haben?« Vivat Westphalia, dachte ich! – Wir ackerten voran – aus

allen Häusern belferten uns Kläffer an, die ich allemal, die langhaarigen »Rüden«, die glatten

ohne Ausnahme »Teckel« locken hörte; vor den Eingängen einzelner größerer Höfe zerwüteten sich

greuliche Zerberusse an ihrer Kette und es schien mir unmöglich, unzerrissen hinein- oder

hinauszukommen. – Was man nicht alles bemerkt auf einer Tagfahrt zwischen Wallhecken, den

Himmel über, die Pfütze unter sich! Der Wagen hielt einen Augenblick an, vier kleine Buben,

sämtlich in Troddelmützen und drei Kamisöler übereinander, rot wie Äpfelchen, stolperten eilig

herzu und langten mit der Hand nach dem Schlage; ich suchte nach ein paar Stübern und

Matieren, die man mir auf der letzten Station zugewechselt, und rief, indem ich sie aus dem

Schlage warf: »Habt acht, ihr Buben!« Da aber nahmen sie Reißaus, und wie verscheuchte Hasen

krabbelten sie den Erdwall hinan. Gotts Wunder, was mochte das für ein Krabat oder Slowak

sein, der kein Deutsch konnte und sein Geld in den Dreck warf? Ich sah sie noch lange aus

ihrem Hafen meinem Wagen nachstarren, wie, sans comparaison, einem abziehenden Kamele. Einem

war beim Ansatz zur Flucht sein Holzschuh abhanden gekommen, und ich hörte ihn unter dem Rade

ein unzeitiges Ende nehmen; mein Trost waren die herrenlosen Stüber und Matiere, mit denen

sich das dicke Henrichjännchen oder Jannberndchen (so heißt hier nämlich immer der dritte

Mann) bezahlt machen konnte, wenn dieses nicht außer seinem Gedankenkreise lag. Jetzt weiß

ich, daß die armen Dinger mir nur eine Kußhand geben, und schon damals begriff ich, daß sie

mindestens nicht betteln wollten. Überhaupt sah ich keine Straßenbettler am Wege, und das Land

meiner Vorfahren fing an, mir mindestens ganz nährend und behaglich vorzukommen, obwohl meine

Augen noch immer vergeblich nach dem »Fette der Erde« ausschauten, bei dem die Leute so

vollständige runde Köpfe und stämmige Schultern ansetzen konnten, bis ich durch die Lücken der

Wallhecken über die schweren Schlagbäume weg in das Geheimnis der Kämpe und Wiesengründe

drang, wo ich die eigentliche Elite der Ställe erblickte: schönes schweres Vieh ostfriesischer

Rasse, was übersatt und schnaubend in dem wie von einem Goldregen überzitterten Grasewalde

lag. – Schau mir einer die pfiffigen Münsterländer, die ihr eure dicken Taler auf vier Beinen

hinter Erdhaufen und Dornen versteckt, damit kein reisender Diplomat in der Seele seines

gnädigsten Herrn etwa Appetit dazu bekomme! Ich bin zu sehr Landwirt, als daß dieser Anblick

mich unbewegt gelassen hätte; ich dachte an mein liebes Dobbritz und meine krauslockigen

Lämmerchen und fühlte das Blut meines Ahns den Urenkeln seiner Ställe entgegenrollen –

seltsam! ich kann dies niederschreiben, als dächte ich noch heute so, und doch ist mir so gar

anders zumute. Nun weiter – zum Ziele! wenn die Lehmchausseen meiner so müde sind als ich

ihrer, so werden sie sich freuen, daß wir auseinander kommen, und ich fühle mich noch

innerlich zerschlagen von der Erinnerung und schmachte dem Ziele entgegen.

Doch zuvor noch ein Reiseabenteuer – kein kleines für meinen Fuhrmann – und was mir den ersten

dämmernden Begriff von dem Charakter dieses Volkes gab. Wir hatten einen derben Schock

überstanden – unsere Pferde verschnauften in der Heide und dampften aus Nüstern und Flanken.

Mein Bauer schlug Feuer an einer Art Lunte in messingener Scheide, die er seinen »perfekt

guten Tüntelpott« nannte, – in der Ferne bewegte sich etwas grell Rotes zwischen den Kühen –

es kam näher – es war ein Mensch in Scharlachlivree von grauschwarzer Gesichtsfarbe. Ich sagte

nichts und beobachtete meinen Bauern; der nahm langsam die Pfeife aus dem Munde, zog langsam

einen Rosenkranz aus seiner Tasche, griff nach seinem Hute zweimal, ohne ihn zu lüften, und

sah noch nicht auf, als das Unding ihm fast parallel war – es stand – es redete ihn an in

fremdartigem Dialekt: »Wo führt der Weg nach Lasbeck?« Mein Bauer winkte mit der Hand einen

breidünnen Fahrweg entlang, der Schwarze schüttelte den Kopf und sah auf seine Stiefeln, die

schon Schlimmeres überstanden hatten. – »Kann ich denn nicht dort herunter?« auf einen Fußweg

deutend, der dieselbe Richtung direkter nahm. »Das möchte nicht gut sein«, sagte der Fuhrmann

bedächtig. »Warum nicht?« mein Schwarzer kurz angebundenen, cholerischen Temperaments. Nie

werde ich den Ausdruck von, ich möchte sagen, ruhigem Schauder und tiefem Mitleid vergessen,

mit dem mein Bauer erwiderte: »Da steht ein Kruzifix.« Der Mohr stieß ein paar Sacredieus und

Coquins hervor, und fort trabte er mit seinem Briefbündel unterm Arm. Ist das nun lächerlich

oder rührend? Es kommt darauf an, wie man es auffaßt – ich gestehe, daß ich meinem Weißkittel

gern irgendeine Güte angetan hätte in diesem Augenblick, und seine religiöse Scheu ohne Furcht

und Haß, seine tiefe, überschwengliche Gutmütigkeit, die selbst den Teufel nicht ins Labyrinth

führen mochte, lag so rührend vor mir, daß ich seinem breiten Rücken, wie er so langsam, den

Rosenkranz abzählend, neben den Pferden herschritt, die ersten Liebesblicke in diesem Lande

zugewendet habe. Möge Gott dich behüten, du gutes, patriarchalisches Ländchen, Land meiner

Vorfahren, wie ich dich gern nenne, wenn man mir mein Anteil Lausitzer Blut ungekränkt läßt.

Mit der Ironie ist’s ab und tot; ich fahre durch die lange, weite Eichenhalle, wo die

schlanken Stämme ihre noch schwachbelaubten Wipfel über mich breiten; ich sah zwischen den

Lücken der Bäume einen weiten Wasserspiegel, graue Türme vortreten, – bei Gott! es war mir

doch seltsam zumut, als ich über die Zugbrücke rollte und über dem Tore den steinernen

Kreuzritter mit seinem Hunde sah, dessen der alte Everwin so wohlredend gedenkt: »Eques

vexillum crucis sublevans, cum molosso ad aquam hiante« – alter Hans Heinrich! schwenkst du

deine Fahne auch schützend über deinen verarteten Zweig, dem dein Glaube und Land fremd

geworden sind? Im Schlosse war ich so halbwege erwartet, d.h. so in Bausch und Bogen, wo es

auf eine Handvoll Wochen nicht ankommt; ein schlau aussehender, schwärzlicher Bursche in

himmelblau und gelber Livree, streng nach dem Wappenbuch, öffnete den Schlag und erkannte mich

sofort für den fremden Vetter, als ich vom »Schlosse« redete und nach dem »Baron« fragte. »Der

Herr sind auf dem Vogelfang, aber die gnädige Frau sind zu Hause« – zugleich hörte ich

drinnen: »Ihro Gnaden, he ist do, he ist do, de Herr ut de Lauswick!« und sah beim Eintritt

noch zwei dicke, passablement schiefe, himmelblaue Beine. – Das war also der Eintritt in die

Halle meiner Väter; ja, hört, wie es erging, ihr Wände, meine ich, und du, jammernder Scheit

im Kamin – denn auf die drei Spione und zwei Dachse kann ich nicht rechnen, da das Fenster

geschlossen ist. Die gnädige Frau empfing mich stattlich, aber verlegen, das Bäschen stumm

verlegen, der junge Vetter neugierig verlegen, der eigentliche Herr, der fast mit mir zugleich

eintrat und bei unserer ersten Bewillkommnung einen piependen und flatternden Vogel in der

Hand hielt, war auch verlegen, aber auf eine überaus teilnehmende Weise. Verlegen waren alle,

und so blieb mir nichts übrig, als es am Ende mit zu werden; man sah, wie in allen eine

unterdrückte Herzlichkeit kämpfte mit einem Etwas, das ich nicht ergründen konnte, und mich

verstohlen vom Kopfe bis zu den Füßen musterte. Meine Augen hatten den rechten Weg

eingeschlagen – der galonierte Rock – die Ringe an den Fingern, so tragen sich hierzulande die

Windbeutel, und womit ich, unter uns gesagt, diesen Leuten an der Welt Ende zu imponieren

glaubte und auf der letzten Station wenigstens eine gute Stunde verwendet hatte, das gab mir

hier das Ansehen eines, der nächstens zum Bankerott umkippen will und Kredit auf seine Tressen

sucht; hier ist alles so feststehend, man weiß so genau, was jeder gilt, daß dergleichen

Nachhülfe und Augenverblendung immer nur wie Notschüsse herauskommen, und ich bin jetzt

überzeugt, daß mein guter Vetter, unter seinen Grüßen und Verbeugungen, alle seine Gefälle und

Zehnten überzählte, und wieviel davon wohl zur Aushülfe eines verlorenen Sohnes im 20sten

Gliede möchte ritterlich, christlich und doch ohne Unverstand zu verwenden sein. Jetzt weiß

ich dieses, und es demütigt mich nicht; hätte ich es damals gewußt, so würde es mich

allerdings in einen kläglichen, innern Zustand von Scham und Zorn versetzt haben, – dennoch

ging der erste Tag mühsam hin, obwohl der Vetter mich in alle seine Freuden und Schätze

einweihte: seine nie gesehenen Blumenarten eigener Fabrik, seine Rüstkammer, seine

landwirtschaftlichen Reichtümer, sogar den Augapfel seines Geistes, sein unschätzbares Liber

mirabilis – ich dachte zu meiner Unterhaltung, jetzt weiß ich aber, daß es ein schlauer

Streich vom alten Herrn war, der mir so heimlich auf den Zahn fühlte, wie es mit adligen

Künsten bei mir beschaffen sei – nämlich Latein, Öconomia und Ritterschaftsverhältnissen. Mir

ging’s wie dem Nachtwandler, und ich trat um so blinder, desto sicherer auf. Acht Tage kann

ich auf mein Noviziat rechnen, wo täglich eine neue Schleuse des Wohlwollens sich zögernd

öffnete, das ganz eigentümliche milde Lächeln des Herrn täglich milder, die scharfen Augen

seiner Frau täglich strahlender und offener wurden, und als mich am achten Tage der junge Herr

Everwin auf seine Stube geführt und Fräulein Sophie abends aus freien Stücken ein schönes,

etwas altmodiges Lied zum Klaviere gesungen hatte, da war ich absolviert und fortan ein Kind

und Bruder des Hauses. Ich fühlte dieses, als ich am nächsten Morgen von Abreise sprach, um

meinem Bleiben einen festen Boden zu geben, der auch sogleich unter mir aufstieg. »Mich

dünkt«, sagte der alte Herr (»der Herr« sagt man hier kurzweg, »Baron« ist ausländisch und

windbeutelig) mit einem triumphierenden Lächeln, »mich dünkt, Sie blieben nett hier in Numero

Sicher, bis Sie Ihr Recht in der Tasche haben. Der Hund des alten Hans Heinrich hat uns so

manchen Prozeß weggebellt, der wird Ihnen auch keinen durchs Tor lassen.« – Ich dachte an

meine Gedanken, als ich unter dem Steinbilde einfuhr, und der alte Herr mußte mir etwas

dergleichen ansehen, denn er schüttelte meine Hand und sagte: »Lieber Herr Vetter!« So bin ich

denn nun seit zwei Monaten hier – Boten gehen und kommen, und meine Geschäfte ziehen sich in

die Länge; ich helfe dem Herrn botanisieren, Vögel fangen und sein Liber mirabilis auslegen,

wobei ich schlecht genug bestehe und manche Eselsbrücke schlage, die der Vetter gütig

unbemerkt läßt; besser komme ich fort in den gelegentlichen Gesprächen über ernste Gegenstände

und Klassische Wissenschaften, in denen der alte Herr vortrefflich beschlagen ist und ich eben

auch kein Hund bin – was mich aber zumeist ergötzt, ist die lebendige, frische Teilnahme, die

kräftige Phantasie, mit der alles meinen Erzählungen von Städten, Ländern und vor allem den

Wundern des grünen Gewölbes horcht. Diese stillen Leute sitzen unbewußt auf dem Pegasus, ich

will sagen, sie leben in einer innern Poesie, die ihnen im Traume mehr von dem gibt, was ihre

leiblichen Augen nie sehen werden, als wir andern übersättigten Menschen mit unsern Händen

davon ergreifen können. Ich bin gern hier, es wäre Fadheit, es zu leugnen, und Undank

zugleich; auch langweile ich mich keineswegs, man treibt hier allerlei Gutes, etwas

altfränkisch und beengt, aber gründlich. Auch gibt es hier von den seltsamsten Originalen, und

zwar rein naturwüchsigen, sich völlig unbewußten; wenn ich bedenke, was ich noch alles

nachzuholen und zu erläutern habe, ehe ich wieder bis zu diesem Abende, diesem Kamin und

diesen Mücken gelange, die mich unbarmherzig molestieren, so scheinen mir alle Gänseflügel auf

dem Hofe in Gefahr, – aber jetzt ist’s spät – meine Kerze hat sich mehr schön als dauerhaft

bewiesen; sie ist mehr verlaufen als verbrannt, und auf dem Tische schwimmt’s von Talge, den

ich noch vor Schlafengehen mit eigenen Händen reinigen muß, um nicht morgen von meinem Freunde

Dirk als der schmierige Herr aus der Lauswick bezeichnet zu werden. – Das Licht im Zimmer des

Vetters brennt dämmerig wie ein Traum – die Sterne sind desto klarer, welch schöne Nacht! –

Zweites Kapitel

Der Herr und seine Familie

Honneur aux dames! Ich fange an mit der gnädigen Frau, einem fremden Gewächs auf diesem Boden,

wo sie sich mit ihrer südlichen Färbung, dunkeln Haaren, dunkeln Augen ausnimmt wie eine

Burgundertraube, die in einen Pfirsichkorb geraten ist, – sie stammt aus einer der reichen

rheinländischen Familien, die man hier für ebenbürtig gelten läßt, und der Vetter, der vor

zwanzig Jahren nach Düsseldorf landtagen ging und von einer plötzlichen Lust, die Welt zu

sehen, befallen wurde, lernte sie in Köln vor dem Schreine der Heiligen Drei Könige kennen und

fühlte dort zuerst den vorläufig noch äußerst embryonischen Wunsch, sie zur Königin seines

Hauses zu machen. Das ist sie denn auch im vollen Sinn des Wortes: eine kluge, rasche,

tüchtige Hausregentin, die dem Kühnsten wohl zu imponieren versteht und, was ihr zur Ehre

gereicht, eine so warme, bis zur Begeistrung anerkennende Freundin des Mannes, der eigentlich

keinen Willen hat als den ihrigen, daß alle Frauen, die Hosen tragen, sich wohl daran spiegeln

möchten. Es ist höchst angenehm, dieses Verhältnis zu beobachten; ohne Frage steht diese Frau

geistig höher als ihr Mann, aber selten ist das Gemüt so vom Verstande hochgeachtet worden;

sie verbirgt ihre Obergewalt nicht, wie schlaue Frauen wohl tun, sondern sie ehrt den Herrn

wirklich aus Herzensgrunde, weiß jede klarere Seite seines Verstandes, jede festere seines

Charakters mit dem Scharfsinn der Liebe aufzufassen und hält die Zügel nur, weil der Herr eben

zu gut sei, um mit der schlimmen Welt auszukommen. Nie habe ich bemerkt, daß ein Mangel an

Welterfahrung seinerseits sie verlegen gemacht hätte, dagegen strahlten ihre schwarzen Augen

wie Sterne, wenn er seine guten Kenntnisse entwickelt, Latein spricht wie Deutsch, und sich in

alten Tröstern bewandert zeigt wie ein Cicerone. Die gnädige Frau hat südliches Blut, sie ist

heftig, ich habe sie sogar schon sehr heftig gesehen, wenn sie bösen Willen voraussetzt, aber

sie faßt sich schnell und trägt nie nach. Sehr stattlich und vornehm sieht sie aus, muß sehr

schön gewesen sein und wäre dies vielleicht noch, wenn ihre bewegten Gefühle sie etwas mehr

Embonpoint ansetzen ließen; so sieht sie aus wie ein edles, arabisches Pferd. Ihr neues

Vaterland hat sie liebgewonnen und macht gern dessen Vorzüge geltend, nur mit der Art

Überschätzung, die oft gescheiten Leuten von starker Phantasie eigen ist: so hat sie alle

alten, mitunter verwunderlichen Gewohnheiten und Rechte des Hauses bestehen lassen und wacht

nur über Ordnung und ein billiges Gleichgewicht; ich werde noch auf die respektablen

Müßiggänger kommen, über die man hier bei jedem Schritte fällt, und die ich bei mir zu Hause

würde mit dem Ochsenziemer bedienen lassen; hier möchte ich sie selbst nicht gekränkt sehen.

Bettler in dem Sinne wie anderwärts gibt es hier keine, aber arme Leute, alte oder schwache

Personen, denen wöchentlich und öfter eine Kost so gut wie den Dienstboten gereicht wird; ich

sehe sie täglich zu dreien oder mehren auf der Stufe der steinernen Flurtreppe gelagert,

ärmlich, aber ehrbar, und keinen vorübergehen, ohne sie zu grüßen. Die gnädige Frau tut mehr,

sie geht hinunter und macht die schönste Konversation mit ihnen über Welthändel, Witterung,

die ehrbare Verwandtschaft und wovon man sich sonst nachbarlich unterhält; darum gilt sie denn

auch für eine brave, gemeine Frau, was soviel gilt als populär, und sie ist immer mit gutem

Rat zur Hand, wo sie denn auch, wie billig, der Ausführung nachhilft. Sehr habe ich ihre

Geduld bewundern müssen mit einem Verrückten, dem Sohn des Müllerhauses, dessen Licht ich eben

durch die Mauerluke herüberscheinen sehe. Der arme Mensch ist irre geworden über eine

Heiratsgeschichte, obwohl nicht eben aus Liebe. Er war einziger Sohn, sie einzige Tochter, und

beide Eltern am Leben; so zog die Aussicht sich ins Blaue, da jedes die Seinigen mitbringen

mußte und für vier alte Leute in keinem der Häuser Raum war; dennoch hatten die Eltern sie

unterderhand verlobt mit dem ruhigen Zusatze, daß, wenn zweie von ihnen gestorben seien, was

bei ihrem Alter wohl nicht lange ausbleiben werde, die Heirat vor sich gehen könne. So lebten

alle friedlich und ohne Ungeduld voran, bis der Brautvater, ein Tischler, sehr kränklich,

zugleich etwas schwach im Kopfe, anfing, sich lebhaft nach einem Gehülfen zu sehnen. Sein

Geselle, ein schlauer Sauerländer, machte sich dieses zunutze, so viel vom Verfall der

Kundschaft und dem übermäßigen Wohlbefinden des Müllerpaares zu reden, denen er wenigstens

Methusalems Alter prophezeite, wobei er schlau die Verpflichtung gegen Kind und Gutsherrn auf

das geängstigte Gemüt des alten Mannes wirken ließ, bis er diesen ganz konfus über Recht und

Unrecht gemacht hatte. Die Folge war eine zweite und dieses Mal rechtskräftige Verlobung mit

Stempelpapier und Siegel zwischen dem betrübten, eingeschüchterten Mädchen und dem

Sauerländer. Zwei Tage später, und der alte Mann lag tot am Schlagflusse, und fast mit ihm

zugleich starb der Vater des Bräutigams an einer leichten Erkältung, was wahrlich kein zähes

Leben bewies. In der ersten Trauerzeit hielt jedes sich still zu Hause, dann aber trieb die

Müllerin ihren Sohn an, mit der Braut jetzt das Nähere zu bereden; als er hinkam, stand sie im

Garten, und er sah sie schon von weitem die Schürze vors Gesicht schlagen und ins Haus gehen;

darauf kam die Mutter heraus und erzählte ihm mit vielem Stottern die ganze Bescherung, worauf

er stille wieder nach Hause ging. Seitdem konnte er aber den Schimpf nicht verwinden; zugleich

drängte ihn die Mutter, deren Kräfte schnell abnahmen, zum Heiraten. Zwei neue Pläne, die

übereilt angelegt waren, schlugen fehl. Franz hatte einen tiefen, heimlichen Hochmut auf seine

ehrenwerte Familie, die seit vielen Generationen des Herrn Mühle mit Lob versehen hatte, und

noch mehr, weil er als älterer Spielkamerad und halber Aufseher der Herrschaft aufgewachsen

war und noch jetzt zu den Auserwählten gehörte, die auf Hochzeiten mit den Fräuleins einen

Tanz machten. Die Scham quälte ihn, das Drängen seiner Mutter und die Furcht, eine schlimme

Wahl zu treffen oder gar mit einem neuen Korbe aufzuziehen, ließen ihm Tag und Nacht keine

Ruhe; seine Augen bekamen nach und nach etwas Stieres im Blick, und mit einem Male fing er an,

allerlei wirres Zeug zu reden – jetzt ist er ganz irre, obwohl voll Höflichkeit und, wenn man

ihn auf ganz fremde Gegenstände lenkt, von recht verständigem Urteile; aber dazu kommt es

selten, seine fixen Ideen halten ihn wie mit eisernen Klammern und fahren in jedes beruhigende

Gespräch wie Sporenstiche hinein. Jetzt ist seine größte Not eine Prinzessin von England, die

man ihm zufreien will, was ihn als guten Katholiken ängstigt, er hält sich ihr ganz

ebenbürtig, doch hat er ein halbes Bewußtsein von ihrer hohen Stellung, und daß sie ihn, wenn

er sich sperrt, könnte wohl einstecken oder auf die Tortur bringen lassen, und er bereitet

sich durch Lesen in der Bibel auf sein einstiges Martyrtum vor, dem er doch womöglich noch

entschlüpfen möchte, und täglich mit der gnädigen Frau lange Beratungen darüber hält, die mit

himmlischer Geduld ihm schlaue Ausflüchte erfinden hilft und wirklich, wie ich glaube, allein

bis dahin ihn vor völliger Raserei gerettet hat. Mich durchrieselt jedesmal ein Schauder, wenn

ich dieses Angstbild sehe; hier erregt es nur tiefe, ruhige Teilnahme. – Aber ich bin von

meinem Thema abgekommen, also der junge Herr: Everwin heißt er, in getreuer Reihenfolge wie

die Heinriche von Reuß, steckt noch ein wenig in der Schale. Neunzehn Jahr ist er alt und lang

aufgeschossen wie eine Erle, blond, mit hellblauen Augen, durch die man glaubt, bis ins Gehirn

sehen zu können. Ich höre ihn oft im Nebenzimmer gefährlich stöhnen und räuspern über den

Klassikern und alten Geschichtswerken, an denen er eine Mühe hat, daß ihm mittags zuweilen die

Haare davon zu Berge stehen. Ich profitiere auch zur vollen Genüge von seinem Geigenspiel,

zuweilen, wenn ich gerade gutgelaunt und recht im Dolcefarniente bin, nicht ohne Vergnügen: er

streicht seinen Viotti so sanft und reinlich ab und an manchen Stellen mit so kindlich mildem

Ausdruck, daß ich oft denke: er ist doch der Papa en herbe, der nur noch nicht zum Durchbruch

kommen kann – dieses geringe, leider täglich an Wert verlierende Vergnügen wird mir aber

reichlich versalzen durch die Übungsstunden, wo absichtlich zu Schwieriges vorgenommen wird;

von all dem Wasser, was mir diese Doppelpassagen, bei denen immer ein falscher Ton nebenher

läuft, schon um die Zähne getrieben haben, könnten wenigstens zwei Mühlen gehen; zuweilen gibt

Karo, des Vetter sehr geliebter Spion, noch die dritte Stimme dazu, und dann ist der Moment

da, wo ein spleeniger Engländer sich ohne Gnade erhängen würde. Mein Zimmer ist indessen der

Ehrenplatz im Hause, und Hoffart will Not leiden; zudem kann mir nicht entgehen, daß Everwin,

wo es ohrengefährlich wird, den Bogen so leise ansetzt wie ein menschlicher Wundarzt die

Sonde, und sogar zuweilen mir zuliebe seinem Karo einen Fußtritt gibt, der ihm gewiß selber

wie ein Pfahl durchs Herz geht; er ist überhaupt ein bescheidener, jüngferlicher Nachbar, der

morgens auf den Zehen umherschleicht und sich abends gleichsam ins Bette stiehlt, daß ich kaum

die Decken rispeln höre. Sein Freund und Gefährte in allem ist der Neffe des Rentmeisters,

Wilhelm Friese, ein wunderlich begabter junger Mann, an dem Everwin sich festgesogen hat wie

die Auster an der Koralle; ich sehe sie beide oft morgens um sechs nach dem Dohnenstrich

ziehen in knappen Jagdröckchen und Lederkäppchen, fröhlich und mädchenhaft wie ein paar

Klosternovizen in den Freistunden. – Vor Frauen hat er noch eine wahre Josephsscheu und würde

einen unchristlichen Haß auf die Unglückliche werfen, mit der man ihn neckte; zwei Münstersche

Schilling gebe ich drum, ihn dereinst auf Freiersfüßen zu sehen; ohne Zweifel muß da sein

Wilhelm voran, und der wird sich ebenfalls alle zehn Nägel abkauen vor Angst, obgleich er

gegen ihn gerechnet für einen Schalk gelten kann. Neulich frühe saß ich am Ausgange der neuen

Anlagen, die diesen Landsitz umgeben wie Nester mit jungen Vögeln eine graue Warte. Everwin

kam über Feld, Wilhelm hinterdrein, ich hörte, daß sie sprachen, aber Everwin sah nicht

zurück. »Ich sage es dir nochmals«, rief Wilhelm, »wenn du dir keinen bessern Rock anschaffst,

so bekömmst du dein Lebtag keine Frau!« – »Ach, bah!« brummte Everwin und rannte wie ein

Kurier und war bereits dicht neben mir, ohne mich zu sehen. »Lauf doch nicht so, laß uns das

Ding überlegen, du kömmst doch nicht vorbei, was scheint dir blau mit Tressen, das steht gut

zu blonden Haaren.« – »Wilhelm!« drohte Everwin zurück und trat bis über die Knöchel in eine

Lache. – »Guten Morgen, Vetter!« sagte ich. – »Sieh, sind Sie da? ich habe ins Wasser

getreten!« – »Das sehe ich« – und fort trabten beide wie begossene Hunde, Wilhelm am

betroffensten; er hatte aber auch gottlose Reden geführt! Fräulein Sophie gleicht ihrem Bruder

aufs Haar, ist aber mit ihren achtzehn Jahren bedeutend ausgebildeter und könnte interessant

sein, wenn sie den Entschluß dazu faßte. Ob ich sie hübsch nenne? Sie ist es zwanzigmal im

Tage und ebensooft wieder fast das Gegenteil; ihre schlanke, immer etwas gebückte Gestalt

gleicht einer überschossenen Pflanze, die im Winde schwankt, ihre nicht regelmäßigen, aber

scharf geschnittenen Züge haben allerdings etwas höchst Adliges und können sich, wenn sie

meinen Erzählungen von blauen Wundern lauscht, bis zum Ausdruck einer Seherin steigern, aber

das geht vorüber, und dann bleibt nur etwas Gutmütiges und fast peinlich Sittsames zurück;

einen eignen Reiz und gelegentlichen Nichtreiz gibt ihr die Art ihres Teints, was, für

gewöhnlich bleich bis zur Entfärbung der Lippen, ganz vergessen macht, daß man ein junges

Mädchen vor sich hat – aber bei der kleinsten Erregung, geistiger sowie körperlicher, fliegt

eine leichte Röte über ihr ganzes Gesicht, die unglaublich schnell kömmt, geht und wiederkehrt

wie das Aufzucken eines Nordlichts über den Winterhimmel; dies ist vorzüglich der Fall, wenn

sie singt, was jeden Nachmittag zur Ergötzung des Papas geschieht. Ich bin kein natürlicher

Verehrer der Musik, sondern ein künstlicher – mein Geschmack ist, ich gestehe es, ein im

Opernhause mühsam eingelernter, dennoch meine ich, das Fräulein singt schön – über ihre Stimme

bin ich sicher, daß sie voll, biegsam, aber von geringem Umfange ist, da läßt sich ein Maßstab

anlegen, – aber dieses seltsame Modulieren, diese kleinen, nach der Schule verbotenen

Vorschläge, dieser tieftraurige Ton, der, eher heiser als klar, eher matt als kräftig,

schwerlich Gnade auswärts fände, können vielleicht nur einem geborenen Laien wie mir den

Eindruck von gewaltsam Bewegenden machen; die Stimme ist schwach, aber schwach wie ein fernes

Gewitter, dessen verhaltene Kraft man fühlt – tief, zitternd wie eine sterbende Löwin: es

liegt etwas Außernatürliches in diesem Ton, sonderlich im Verhältnis zu dem zarten Körper. Ich

bin kein Arzt, aber wäre ich der Vetter, ich ließe das Fräulein nicht singen; unter jeder

Pause stößt ein leiser Husten sie an, und ihre Farbe wechselt, bis sie sich in roten, kleinen

Fleckchen festsetzt, die bis in die Halskrause laufen – mir wird todangst dabei, und ich suche

dem Gesange oft vorzubeugen.

Fräulein Anna, in die man mich etwas verliebt glaubt, darf sich wohl sehen lassen; sie ist ein

schönes, braunes Rheinkind mit brennenden Augen, blitzenden Zähnen, Elfenfüßchen, zitternd von

verhaltenem Mutwillen wie eine Granate, über der die Lunte brennt; sie möchte gern immer reden

und schweigt doch zumeist, weil sie den rechten Ton auf der hiesigen Skala nicht finden kann;

wenn wir abends unsere stillen, ehrbaren Gespräche führen, sitzt sie gewöhnlich am Fenster und

seufzt ungeduldig Wolken und Winde an, die nach den Rebhügeln ziehen, wo ihre jungen Gefährten

sich’s wohl und lustig sein lassen, während sie hier bei der Tante die Klosterjungfer spielen

muß. Wozu? Sie begreift es nicht und klagt den Himmel und das Geschick an; ich denke, man hat

einen Dämpfer für diese üppige Wasserorgel nötig gefunden. Den Onkel ehrt sie, weiß ihn aber

nicht zu schätzen, der Tante wendet sie eine zornige Liebe zu, da sie das verwandte Element

fühlt und vor Ungeduld überschäumt, es so beengt zu sehen; dabei hat sie eine Regung von

Empfindsamkeit, liebt den Wald und schält alle Bäume, um ihre Klagen darauf auszuhauchen. Mir

ist eine dergleichen formlose Ergießung neulich zu Händen gekommen, wo in sechszehn Zeilen

dreimal »Sehnsucht«, zweimal »unverstanden« und viermal »der Friede« vorkam. Sophie ist ihr

fast fatal, und Everwin, den sie »unsre Mamsell« oder Langewin (lang, schmal) oder Gradewein

nennt, der ewige unfreiwillige Tröster ihrer Langenweile; sie gibt ihm Salz mit auf die Jagd,

macht, daß seine Leintücher eingeschlagen werden, so daß er nachts wie in einem kurzen Sacke

steckt, oder nimmt seine Dohnen aus und hängt Maulwürfe oder schwarze Hadern hinein, was ihm

allemal wirklich nahgeht und empfindlicher ist als die schlaflose Nacht. Da ihm zur Revanche

Geschick und Kühnheit fehlen, ist’s ein einseitiger Spaß, der in Everwins Herzen allmählich

einen Sauerteig von verkniffener Schadenfreude ansetzt: ich sehe allemal etwas wie einen

falschen Sonnenstrahl über sein Gesicht zucken, wenn sie mit ihrer halbbewußten Koketterie bei

einem Kameraden abfährt oder Karo, nach einem Wasserbade, sich zunächst bei ihr abschüttelt,

und ich habe ihn in Verdacht, ihn vorzugsweise auf ihrer Seite apportieren zu lassen. Dem

Wilhelm scheint sie gewogener, nennt ihn einen gebildeten, jungen Mann, und es kommt mir vor,

als ob sie seinetwegen zuweilen ein Schleifchen mehr ansteckte, was er leider nicht zu

bemerken scheint. Ich glaube überhaupt, daß zwei Drittel ihrer Seufzer dem Verkanntsein

gelten; ist’s z.B. nicht hart, daß sie, die Französisch spricht wie Deutsch und den Gellert

zitieren kann, hier noch Rechnenstunde nehmen muß bei einem invaliden Unteroffizier, der am

Ausgange des Parks wohnt? – Wäre seine fuchsige Perücke nicht und sein schönes Französisch, in

dem er sich nach ihrem »ton pêre« erkundigt, sie führe aus ihrer Sammethaut – nun aber hat sie

an ihm wenigstens einen Souffre-douleur, ein schlechtes Äpfelchen gegen den Durst, und mag ihm

Zeug sagen und tun, daß der Onkel den Kopf schüttelt und doch lachen muß. – Es ist

unerquicklich, hier jemanden zu sehen, der die Landesweise nicht aufzufassen versteht, der

Spott ärgert einen, und doch wird man sich dadurch des Entbehrten bewußt und fühlt die

Einförmigkeit wie einen schläfernden Hauch an sich streifen.

Ich bemerke eben, daß ich den Fehler habe, mich in Stimmungen hinein- und hinauszuschreiben,

so hat mich der Paragraph Anna fast rebellisch gemacht gegen das Haus meines guten Vetters,

den ich mir, als einen Bissen pour la bonne bouche, in diesem Abschnitt zuletzt aufgehoben

habe. – Gott segne ihn alle Stunden seines Lebens; ein Unglück kann ihn nur zur Läuterung

treffen, verdient hat er es nie und nimmer. Ich halte es für unmöglich, diesen Mann nicht

liebzuhaben; seine Schwächen selbst sind liebenswürdig. – Denkt euch einen großen stattlichen

Mann, gegen dessen breite Schultern und Brust fast weibliche Hände und der kleinste Fuß

seltsam abstechen, ferner eine sehr hohe, freie Stirn, überaus lichte Augen, eine starke

Adlernase und darunter Mund und Kinn eines Kindes, die weißeste Haut, die je ein Männergesicht

entstellte, und der ganze Kopf voll Kinderlöckchen, aber grauen, und das Ganze von einem

Strome von Milde und gutem Glauben überwallt, daß es schon einen Viertelschelm reizen müßte,

ihn zu betrügen, und doch einem doppelten es fast unmöglich macht; gar adlig sieht der Herr

dabei aus, gnädig und lehnsherrlich, trotz seines grauen Landrocks, von dem er sich selten

trennt, und hat Mut für drei: ich habe ihn bei einem Spaziergange, wo man auf verbotene Wege

geraten war, fast fünf Minuten lang einen wütenden Stier mit seinem Bambusrohr parieren sehen,

bis alle sich hinter Wall und Graben gesichert hatten, und da sah, wie Wilhelm sagt, der mit

seinem Spazierstöckchen zur Hülfe herbeirannte, was er vermochte, der Herr aus wie ein

Leonidas bei Thermopilae; er ist ein leidenschaftlicher Zeitungsleser und Geschichtsfreund und

liebt das gedruckte Blutvergießen – Eugen und Marlborough sind Namen, die seine Augen wie

Laternen leuchten lassen; dennoch bin ich zweifelhaft, ob im vorkommenden Falle der Herr den

Feind tapferlich erschlagen oder sich lieber selbst gefangengeben würde, um keinen Mord auf

seine Seele zu laden. Von Räubern und Mordbrennern träumt er gern, und wenn die Hofhunde

nachts ungewöhnlich anschlagen und gegen irgendeinen dunkeln Winkel vor- und rückwärts fahren,

hat man ihn wohl schon unbegleitet im Schlafrock mit blankem Degen in das verdächtige Verlies

dringen sehen, mit wahrhaft acharnierter Wut, den Schelm zu packen und einzuspunden, den er

dann freilich am andern Morgen hätte laufen lassen. Den Verstand des Herrn habe ich anfangs zu

gering angeschlagen, er hat sein reichliches Anteil an der stillnährenden Poesie dieses

Landes, der den Mangel an eigentlichem Geiste fast ersetzt, dabei ein klares Judizium und

jenes haarfeine Ahnen des Verdächtigen, was aus eigner Reinheit entspringt: sein erstes Urteil

ist immer überraschend richtig, sein zweites schon bedeutend vom Mantel der christlichen Liebe

verdunkelt, und wer ihn heute als erklärter Filou anschauert, ist morgen vielleicht ein

gewandter Mann, den man etwas weniger schlau wünschen möchte. Der Herr liest viel, täglich

mehre Stunden, und immer Belehrendes, Sprachliches, Geschichtliches, zur Abwechselung

Reisebeschreibungen, wo seine naive Phantasie immer den Autor überflügelt und er heimlich auf

jedem Blatte ein neues Eldorado oder die Entdeckung des Paradiesgartens erwartet – überhaupt

kommt mir diese Familie vor wie die Scholastiker des Mittelalters mit ihrem rastlosen,

gründlichen Fleiße und bodenlosen Dämmerungen. Alles bildet an sich und lernt zu bis in die

grauen Haare hinein, und alles glaubt an Hexen, Gespenster und den Ewigen Juden. – Ich habe

schon gesagt, wie stark die Musik hier getrieben wird; die Anregung geht zumeist von der

gnädigen Frau aus, die gern aus den Leuten alles holen möchte, was irgend darin steckt, das

Talent aber vom Herrn, und es ist nichts lieblicher, als ihn abends in der Dämmerung auf dem

Klaviere phantasieren zu hören: ein wahres adliges Idyll, denn eine gewisse Grandezza fährt

immer in diese unschuldige, reizende Musik hinein und Stöße ritterlicher Courage in

Marschtempo – es wird mir nie zu lang zuzuhören, und allerlei Bilder steigen in mir auf aus

Thomsons »Jahreszeiten«, aus den Kreuzzügen. Sonst hat der Herr noch viele Liebhabereien, alle

von der kindlichsten Originalität, zuerst eine lebende Ornithologie (denn der Herr greift

alles wissenschaftlich an); neben seiner Studierstube ist ein Zimmer mit fußhohem Sand und

grünen Tannenbäumchen, die von Zeit zu Zeit erneuert werden. Die immer offenen Fenster sind

mit Draht verwahrt, und darin piept und schwirrt das ganze Sängervolk des Landes, von jeder

Art ein Exemplar, von der Nachtigall bis zur Meise; es ist dem Herrn eine Sache von

Wichtigkeit, die Reihe vollständig zu erhalten: der Tod eines Hänflings ist ihm wie der

Verlust eines Blattes aus einem naturhistorischen Werke. Er hat ein wahres Spionieren nach

jedem seltenen Durchzügler: früh um fünf sehe ich ihn schon über die Brücken schreiten nach

seinen Weidenklippen und Leimstangen, und wieder in der brennenden Mittagshitze, sieben- bis

achtmal in einem Tage; möchte ich ihm zuweilen die Mühe abnehmen und verspreche, die Klippe

wohlgeschlossen zu lassen oder den Vogel mitsamt der Leimstange in mein Schnupftuch gewickelt

fein sauber herzutragen, so gibt er mir wohl nach, um mir keine Schmach anzutun, aber er trabt

nebenher, und es ist, als ob er meinte, meine profane Gegenwart allein könne schon den

erwischten Vogel echappieren machen. Dann ist der Herr ein gründlicher Botanikus und hat

manche schöne Tulpe und Schwertlilie in seinem Garten; das ist ihm aber nicht genug, seine

reiche, innere Poesie verlangt nach dem Wunderbaren, Unerhörten – er möchte gern eine Art

unschuldigen Hexenmeister spielen und ist auf die seltsamsten Einfälle geraten, die sich

mitunter glücklich genug bewähren und für die Wissenschaft nicht ohne Wert sein möchten: so

trägt er mit einem feinen Sammetbürstchen den Blumenstaub sauber von der blauen Lilie zu der

gelben, von der braunen zur rötlichen, und die hieraus entspringenden Spielarten sind sein

höchster Stolz, die er mit einem wahren Prometheus-Ansehen zeigt; die wilden Blumen, seine

geliebten Landsleute, deren Verkanntsein er bejammert, pflegt er nach allen Verschiedenheiten

in netten Beetchen, wie Reihen kleiner Grenadiere. Manchen Schweißtropfen hat der gute Herr

vergossen, wenn er mit seinem kleinen Spaten halbe Tage lang nach einer seltenen Orchis

suchte, und manches in seiner Domäne ist ihm dabei sichtbar geworden, was er sonst nie weder

gesucht noch gefunden hätte; darum lieben die Bauern auch nichts weniger als des Herrn

botanische Exkursionen, bei denen er immer heimlich auf Unerhörtes hofft, z.B. ein

scharlachrotes Vergißmeinnicht oder blaues Maßliebchen, obwohl er als ein verständiger Mann

dies nicht eigentlich glaubt, aber man kann nicht wissen! Die Natur ist wunderbar! Nichts

zeigt die reiche, kindlich frische Phantasie des Herrn deutlicher als sein schon oft genanntes

Liber mirabilis, eine mühsam zusammengetragene Sammlung alter prophetischer Träume und

Gesichte, von denen dieses Land wie mit einem Flor überzogen ist: fast der zehnte Mann ist

hier ein Prophet – ein Vorkieker (Vorschauer, wie man es nennt); wie ich fürchte, einer oder

der andre dem Herrn zulieb. – Seltsam ist’s, daß diese Menschen alle eine körperliche

Ähnlichkeit haben: ein lichtblaues, geisterhaftes Auge, was fast ängstlich zu ertragen ist;

ich meine, so müsse Swedenborg ausgesehen haben; sonst sind sie einfach, häufig beschränkt,

des Betrugs unfähig, in keiner Weise von andern Bauern unterschieden; ich habe mit manchen von

ihnen geredet, und sie gaben mir verständigen Bescheid über Wirtschaft und Witterung, aber

sobald meine Fragen übers Alltägliche hinausgingen, waren sie ihnen unverständlich, und doch

verraten manche dieser sogenannten Prophezeiungen und Gesichte eine großartige

Einbildungskraft, streifen an die Allegorie und gehen überall weit über das Gewöhnliche, so

daß ich gezwungen bin, eine momentane geistige Steigerung anzunehmen – wie Mesmer sie jetzt in

seiner neuen Theorie aufstellt. Der Vetter nun hat alle diese in der Tat merkwürdigen

Träumereien gesammelt und teils aus scholastischem Triebe, teils um sie für alle Zeiten

verständlich zu erhalten, in sehr fließendes Latein übersetzt und sauber in einer buchförmigen

Kapsel verwahrt, und »Liber mirabilis« steht breit auf dem Rücken mit goldenen Lettern; dies

ist sein Schatz und Orakel, bei dem er anfrägt, wenn es in den Welthändeln konfus aussieht,

und was nicht damit übereinstimmt, wird vorläufig mit Kopfschütteln abgefertigt. Guter Vetter,

du hast mir deinen Schatz anvertraut, obwohl ich weiß, daß du lieber ein Mal auf deinem

Gesicht als einen Flecken auf den Blättern erträgst; da liegt er, rot, golden und stattlich

wie ein englischer Stabsoffizier, und ich sitze hier wie ein schlechter Spion und nehme eine

geheime Karte von deiner Person. Gute Nacht! würde ich sagen, aber du hast immer gute Nächte,

denn du bist gesund und reinen Herzens; ich muß früh auf – wir haben sieben Meisenkästen

abzusuchen. –

Drittes Kapitel

Der Morgen war so schön! Nachtigallen rechts und links antworteten sich so schmetternd aus dem

blühenden Gesträuch und Hagen, daß ich um fünf Uhr im engsten Sinne des Wortes davon geweckt

worden bin und es mir unmöglich war, wieder einzuschlafen; so habe ich denn bis zum Frühstück

mich in den Anlagen umhergetrieben und die erste Blüte an des Herrn neuster Iris mit meinem

profanen Auge eher erblickt als der gute Prometheus selbst. Es war in diesen Tagen viel Rede

und Erwartung wegen dieser Blume aus des Herrn Fabrik, die mir nur etwas tiefer blau scheint

als die gewöhnliche Schwertlilie – ich denke aber, er wird sie »atropurpurea« oder

»mirabilissima« taufen; jedenfalls sah die Blume in ihrem Tauperlenschleier reizend genug aus,

und überall hatten die Anlagen in ihrem jungen, von der Sonne vergoldeten Grün, ihrem Tau und

Blütenstaat eine solche beauté du diable, daß ich glaubte, nie etwas Lieblicheres gesehen zu

haben. Der feuchte Boden ist dem Blumenwuchs und den Singvögeln so zuträglich, daß man in der

schönen Jahreszeit von Düften, Farbe und Gesang berauscht vergißt, daß alles fehlt, was man

sonst von schöner Gegend zu fordern pflegt – Gebirg, Strom, Felsen. Ich muß der Seltsamkeit

wegen anmerken, daß mir ganz poetisch zumute ward und ich mich beinah auf den nassen Rasen

gesetzt hätte, wirklich mich auf eine Bank hingoß und, sehr dazu gestimmt, ein paar Gedichte

von Wilhelm hervorzog, die Fräulein Anna mir gestern abend mit verschmitztem Lächeln und ein

wenig Erröten zugesteckt hatte. Irre ich nicht, so ruhen ihre dunkeln Augen zuweilen mit einer

Teilnahme auf dem jungen Dichter, wie Langeweile und etwas Empfindsamkeit sie leicht auf dem

Lande erzeugen. Der schüchterne Junge scheint indessen nichts hiervon zu ahnen, und ich bin

ungewiß, ob eine etwaige Entdeckung dem Fräulein zum Schaden oder Vorteil gereichen würde, da

seine blauen, jungfräulichen Augen ganz anderes zu suchen scheinen als so rheinisches Blut.

Also ein Dichter ist der Wilhelm! Ich hätte es mir denken können nach seinen verklärten

Blicken, wenn wir am Weiher stehen, und die Schwäne durch den glitzernden Sonnenspiegel

segeln, wo er dann wirklich schön aussieht, die übrige Zeit aber unbehülflich und

verschüchtert, wie es einem jungen Schreiber zukömmt, den die Güte des Herrn höchst

überflüssig seinem Onkel zugesellt hat, nur um das arme Blut in freie Kost und Wohnung zu

bringen. Die Verse sind auf schlechtes Konzeptpapier geschrieben, häufig durchstrichen und

gewiß nicht für das Auge des Fräuleins bestimmt; das eine schien sie mir mit einiger Ziererei

vorenthalten zu wollen – dieses wird zuerst gelesen:

(Hier folgt »Das Mädchen am Bache«.)

Ei, ei, Wilhelmus, was sind das für gefährliche Gedanken, paßt sich dergleichen für einen

armen Studenten, der erst in zehn Jahren vielleicht lieben darf? Nun zum zweiten:

(»Der Knabe im Rohr«.)

Der junge Mensch hat wirklich Talent, und in einer günstigern Umgebung… doch nein – bleib in

deiner Heide, laß deine Phantasie ihre Fasern tief in deine Weiher senken und wie eine

geheimnisvolle Wasserlilie darüber schaukeln, – sei ein Ganzes, ob nur ein Traum, ein

halbverstandenes Märchen – es ist immer mehr wert als die nüchterne Frucht vom Baum der

Erkenntnis. – Beim Heimzuge fand ich seinen Onkel, den Rentmeister Friese, in Hemdärmeln am

Brunnen vor dem Nebengebäude, eifrig bemüht, seine Stubenfenster mit Hülfe eines Strohwisches

und endloser Wassergüsse zu säubern; seine Glatze glänzte wie frischer Speck, und ich hörte

ihn schon auf dreißig Schritt stöhnen wie ein dämpfiges Pferd. Er sah mich nicht, und so

konnte ich den wunderlichen Mann mit Muße in seinem Negligé betrachten, das an allen Stellen,

die der Rock sonst in Verborgenheit bringt, mit den vielfarbigsten Lappen verziert war und ihm

das Ansehen einer Musterkarte gab; es ist mir selten ein harpagonähnlicheres Gesicht

vorgekommen! Spitz wie ein Schermesser, mit Lippen wie Zwirnfäden, die fast immer geschlossen

sind, als fürchteten sie, etwas Brauchbares entwischen zu lassen, und nur, wenn er gereizt

wird, Witzfunken sprühen wie ein Kater, den man gegen den Strich streichelt. Dennoch ist

Friese ein redlicher Mann, dem jeder Groschen aus seines Herrn Tasche wie ein Blutstropfen vom

Herzen fällt, aber ein Spekulant sondergleichen, der mit allem, was als unbrauchbar verdammt

ist: Lumpen, Knochen, verlöschten Kohlen, rostigen Nägeln, den weißen Blättern an verworfenen

Briefen, Handel treibt und sich im Verlauf von dreißig Jahren ein hübsches, rundes Sümmchen

aus dem Kehricht gewühlt haben soll. Seine Kammer ist niemanden zugänglich als seinen

Handelsfreunden und dem Wilhelm; er fegt sie selber, macht sein Bett selber, die reine Wäsche

muß ihm ans Türschloß gehängt werden. – Nitimur in vetitum, ich wagte einen Sturm, nahte mich

höflich und bat um ein paar geschnittene Federn, – er wurde doch blutrot und zog sich wie ein

Krebs der Tür zu, um seine Hinterseite zu verbergen, – ich ihm nach und ließ ihm nur so weit

den Vortritt, daß ihm gelingen konnte, in seinen grauen Flaus zu fahren, dann stand ich vor

ihm, er sah mich an mit einem Blick des Entsetzens, wie weiland der Hohepriester ihn auf den

Tempelschänder, der ins Allerheiligste drang, mag geschleudert haben, deckte hastig eine

baumwollene Schlafmütze über ein Etwas in der babylonischen Verwirrung seines Tisches, suchte

nach einem Federbunde, dann, in verdrießlicher Eile, nach einem Federmesser – es war nicht da

– er mußte sich entschließen, in einen Alkoven zu treten, ich warf schnell meine Augen umher –

das ganze, weite Zimmer war wie mit Maulwurfshügeln bedeckt, durch die ein Labyrinth von

Pfaden führte, – saubere Knöchelchen für die Drechsler, Lumpen für die Papiermühle, altes

Eisen, auf dem Tische leere Nadelbriefe, schon zur Hälfte wieder gefüllt mit Stecknadeln,

denen man es ansah, daß sie gradegebogen und neu angeschliffen wurden; ich hörte ihn einen

Schrank öffnen und hob leise den Zipfel der blauen Mütze, – beschriebene Hefte in den

verschiedensten Formaten, offenbar Memoiren: »Heute hat der lutherische Herr wieder eine ganze

Flasche Franzwein getrunken, das Faß à 48 Taler ist fast leer.« Ich stand steif wie eine

Schildwacht, denn Herr Friese trat herein, und machte mich dann bald davon, so triumphierend

wie ein begossener Hund, – guter Vetter, wird dir deine Freundlichkeit so schändlich

kontrolliert! Ich habe den Friese nie leiden können, obendrein, ist er ein alter Narr, der

sich von der Zofe Katharina, einem schlauen, lustigen Mädchen und der gnädigen Frau Liebling,

aufs albernste hänseln läßt. Diese junge Rheinländerin stiftet überhaupt einen greulichen

Brand im Schlosse: drei westfälische Herzen seufzen ihretwegen wie Öfen; zuerst des Herrn

geliebter Johann (von ihm nur Jan Fiedel genannt), der mit ihm eigens zu seinem Kammerdiener

erzogen worden ist, recht artig die Geige mit dem Herrn Everwin streicht und in seinen

graumelierten, mit Talg glattgestrichenen Haarresten, die in einem ausgemergelten Zöpfchen

enden, einem geschundenen Hasen gleicht, dann ein paderbornischer Schlingel, derselbe, der

mich zuerst am Wagen begrüßte, ein nichtsnutziger Bursch, der sich durch tausend Foppereien an

seinen Gesellen für die Langeweile, die sie ihm machen, schadlos hält. Den Herrn beschwätzt er

zu allem, wie er will, und ist ihm erst vor kurzem etwas fatal geworden, seit er der Köchin,

einer armen, gichtischen Person, drei bunte Seidenfäden als sympathetisches Mittel gab mit dem

Zusatze, es wirke nur, wenn sie täglich einen Korb voll Holz vor des Herrn Zimmer trage (bis

dahin sein Amt). Der Spaß kam aus, und der Herr war sehr ungehalten über diese Grausamkeit

seines Johanns; doch meine ich, daß er ihn seitdem auch sonst mit mißtrauischen Blicken

betrachtet, »denn«, wie der Herr sagt, »dergleichen Dinge sind nicht ganz zu leugnen, man

trifft im Paderbörnischen seltsame Beispiele an […«]