Ein Mittagsmahl aus der alten Zeit
Die zweite Zusammenkunft der alten Musketiere war nicht förmlich und bedrohlich, wie die erste. Athos hatte vorgeschlagen, sich bei einer gut bestellten Tafel einzufinden, wo jeder rückhaltlos und ungeniert seinem eigenen Genius folgen könnte.
Der Vorschlag war allen angenehm, besonders d’Artagnan, der ein großes Verlangen hatte, den guten Geschmack und die Heiterkeit ihrer früheren Unterhaltung wieder aufleben zu lassen. Porthos, dem eine Baronie winkte, war hoch erfreut über eine solche Gelegenheit, in Athos und Aramis den Ton und die Manieren der Leute von Stand zu studieren. Aramis wollte Neuigkeiten aus dem Palais-Royal in Erfahrung bringen. Athos war der einzige, der von den andern nichts zu empfangen und nichts zu erwarten hatte und nur von dem einfachen Gefühl reiner Freundschaft geleitet wurde.
Die ersten Worte, welche die vier Freunde austauschten, erhielten gerade durch die absichtliche Begeisterung, die jeder in seine Kundgebungen legte, etwas Gezwungenes, und das Mahl begann mit einer gewissen Steifheit. Man sah, daß d’Artagnan sich Gewalt antat, um zu lachen, Athos, um zu trinken, Aramis, um zu erzählen, und Porthos, um zu schweigen.
Athos gewahrte diese Verlegenheit und bestellte, um ein rasches Gegenmittel anzuwenden, vier Flaschen Champagner.
Bei diesem mit der gewöhnlichen Ruhe von Athos gegebenen Befehl sah man das Gesicht des Gascogners sich entrunzeln und Porthos‘ Stirne sich aufhellen.
Aramis war erstaunt; er wußte nicht nur, daß Athos nicht mehr trank, sondern auch, daß er einen gewissen Widerwillen gegen den Wein hegte. Dieses Erstaunen wuchs, als er sah, wie Athos sich ein volles Glas einschenkte und es mit seiner ehemaligen Begeisterung austrank. D’Artagnan füllte und leerte sein Glas ebenfalls. Porthos und Aramis stießen mit den ihrigen an. Im Nu waren die vier Flaschen leer. Man hätte glauben sollen, es dränge die Gäste, sich von ihren Hintergedanken loszusagen.
Im Augenblick hatte dieses vortreffliche Spezifikum auch die kleinste Wolke zerstreut, die im Grunde ihres Herzens zurückbleiben konnte. Sie fingen an, lauter zu sprechen, ohne daß der eine wartete, bis der andere vollendet hatte, und jeder nahm seine Lieblingsstellung bei Tische ein. Bald knüpfte Aramis – eine unerlebte Erscheinung – zwei Nesteln von seinem Wamse auf; als Porthos dies sah, öffnete er seins völlig.
Die Schlachten, die langen Ritte, die Stiche und Stöße, die sie empfangen und gegeben hatten, bestritten die ersten Kosten der Unterhaltung. Dann ging man zu den Kämpfen gegen den großen Kardinal über.
Meiner Treu! sagte Aramis lachend, die Toten sind nun sattsam gelobt, laßt uns jetzt die Lebenden durchhecheln. Ich möchte gern über Mazarin herfallen. Ist es erlaubt?
Immerhin, erwiderte d’Artagnan, ebenfalls lachend, immerhin; erzählt Eure Geschichte, und ich klatsche Euch Beifall, wenn sie gut ist.
Ein großer Fürst, sprach Aramis, mit dem Mazarin ein Bündnis abzuschließen wünschte, wurde von diesem aufgefordert, ihm das Verzeichnis der Bedingungen zu schicken, unter denen er ihm die Ehre erzeigen würde, sich mit ihm zu vertragen. Der Fürst, dem es einigermaßen widerstrebte, mit einem solchen Knauser zu unterhandeln, machte nur ungern sein Verzeichnis und schickte es ihm. In diesem Verzeichnis standen drei Dinge, die Mazarin mißfielen; er ließ dem Fürsten zehntausend Taler anbieten, wenn er darauf Verzicht leiste.
Ah! ah! ah! riefen die drei Freunde, das war nicht teuer, und er hatte nicht zu fürchten, daß man ihn beim Worte nehmen könnte. Was tat der Fürst?
Der Fürst schickte sogleich 50 000 Livres an Mazarin, mit der Bitte, nie mehr an ihn zu schreiben, und bot ihm zugleich weitere 20 000 Livres, wenn er sich verbindlich machen würde, nie mehr mit ihm zu sprechen.
Was tat Mazarin?
Er ärgerte sich, sprach Athos.
Er ließ den Boten durchprügeln, meinte Porthos.
Er nahm die Summe an, versetzte d’Artagnan.
Ihr habt’s erraten, d’Artagnan, erwiderte Aramis.
Und sie brachen insgesamt in ein so schallendes Gelächter aus, daß der Wirt heraufkam und fragte, ob die Herren etwas nötig hätten.
Darf man auch Herrn von Beaufort etwas an der Nase zupfen, sprach d’Artagnan, ich habe große Lust dazu.
Tut es, antwortete Aramis.
Und Ihr, Athos? sagte d’Artagnan.
Ich schwöre Euch, so wahr ich ein Edelmann bin, daß wir lachen, wenn Ihr komisch seid.
Man lachte in der Tat viel über d’Artagnans Erzählung. Dieser gab nämlich eine Geschichte zum besten, wonach Herr von Beaufort, dessen sprachliche Verstöße sprichwörtlich waren, zwei ähnlich klingende, aber ganz Verschiedenes bedeutende Wörter miteinander verwechselt hatte.
Die Freunde faßten darauf einhellig den Beschluß, es solle aller Parteigeist für immer von ihren Versammlungen verbannt bleiben und d’Artagnan und Porthos zwanglos die Prinzen verspotten dürfen, unter der Bedingung, daß es Athos und Aramis gestattet sei, ihrerseits Mazarin zu striegeln.
Meiner Treu, sagte d’Artagnan zu seinen zwei Freunden, Ihr habt recht, Mazarin zu grollen, denn ich schwöre Euch, daß er Euch ebenfalls nicht wohl will. – Wirklich? sagte Athos! wenn ich glaubte, der Kerl kenne mich dem Namen nach, so ließe ich mich umtaufen, nur damit man nicht annehmen könnte, ich kenne auch ihn. – Er kennt Euch nicht bei Euren Namen, sondern durch Eure Taten. Er weiß, daß es zwei Edelleute gibt, die ganz besonders zu der Flucht des Herrn Beaufort beigetragen haben, und er läßt sie sehr emsig suchen, dafür stehe ich Euch. – Durch wen? – Durch mich. – Wie, durch Euch? – Ja, er hat mich noch heute früh holen lassen, um mich zu fragen, ob ich irgend eine Spur habe. – Von diesen zwei Edelleuten? – Ja. – Und was habt Ihr ihm geantwortet? – Ich habe keine, aber ich würde mit zwei Personen zu Mittag speisen, die mir vielleicht Auskunft geben könnten. – Dies habt Ihr ihm gesagt? sprach Porthos, und eine unbeschreibliche Heiterkeit verbreitete sich über seinem Gesicht. Bravo, und das macht Euch nicht bange, Athos? – Nein, sagte Athos, die Nachforschung Mazarins fürchte ich nicht. – Ihr? versetzte Aramis. Was solltet Ihr fürchten? – Nichts, in diesem Augenblick wenigstens, das ist wahr. – Und in der Vergangenheit? sagte Porthos. – Ah, in der Vergangenheit, das ist etwas anderes, sprach Athos mit einem Seufzer; in der Vergangenheit und in der Zukunft. – Fürchtet Ihr etwa für Euern jungen Raoul? fragte Aramis. – Bah! rief d’Artagnan, man wird nie im ersten Gefechte getötet.– Und auch nicht im zweiten, versetzte Aramis. – Und ebensowenig im dritten, sprach Porthos. Überdies kommt man zurück, wenn man tot ist, der Beweis davon sind wir. – Nein, entgegnete Athos, auch Raoul beunruhigt mich nicht, denn er wird sich hoffentlich wie ein Edelmann betragen, und wenn er fällt, so stirbt er als tapferer Krieger. Doch hört, wenn ihm dieses Unglück begegnete … Athos fuhr mit der Hand über seine bleiche Stirne.
Nun? fragte Aramis. – Nun ja, ich würde dieses Unglück als eine Sühnung betrachten. – Ah! ah! rief d’Artagnan, ich weiß, was Ihr sagen wollt. – Und ich auch, sprach Aramis, aber man muß nicht daran denken, Athos. Was geschehen ist, ist geschehen. – Ich verstehe Euch nicht, sagte Porthos. – Die Geschichte von Armentières, flüsterte d’Artagnan. – Die Geschichte von Armentières! sagte Porthos. – Mylady … – Ach ja, das hatte ich vergessen.
Athos schaute ihn mit seinem tiefen Auge an und sprach:
Ihr habt es vergessen, Porthos? – Meiner Treu, ja, es ist schon lange her. – Die Sache lastet also nicht auf Eurem Gewissen? – Wahrhaftig, nein, antwortete Porthos. – Und Ihr, Aramis? – Ich denke zuweilen daran, als an einen der Gewissensfälle, die sich ganz besonders zur Diskussion eignen. – Und Ihr, d’Artagnan? – Ich gestehe, wenn mein Geist bei dieser furchtbaren Epoche stille steht, so habe ich nur Erinnerungen für den eisigen Leichnam der armen Madame Bonacieux. Ja, ja, murmelte er, ich habe oft ein Bedauern wegen des Opfers, nie Gewissensbisse wegen der Mörderin gehabt.
Athos schüttelte zweifelhaft den Kopf.
Das beruhigendste bei alledem ist, daß von diesem Vorfall keine Spur mehr übrig bleibt, sprach d’Artagnan.
Sie hatte einen Sohn, sagte Athos.
Ach! ja, ich weiß es, versetzte d’Artagnan, Ihr habt mir davon gesprochen. Aber wer weiß, was aus ihm geworden ist? Tot die Schlange, tot die Brut! Glaubt Ihr, Winter, als Oheim, werde diese junge Schlange aufgezogen haben? Lord Winter hat sicherlich den Sohn verdammt, wie er die Mutter verdammte.
Dann wehe Lord Winter, denn das Kind hatte ihm nichts getan.
Das Kind ist tot, oder der Teufel soll mich holen, rief Porthos. Es gibt so viel Nebel in diesem abscheulichen Lande, wie d’Artagnan versichert …
In dem Augenblick, wo diese Schlußfolgerung von Porthos vielleicht die mehr oder minder verdüsterten Stirnen wieder entwölkt hätte, vernahm man Tritte auf der Treppe, und es wurde an die Tür geklopft.
Herein! sagte Athos. – Meine Herren, sprach der Wirt, es ist ein Mann da, der große Eile hat und einen von Ihnen zu sprechen wünscht. – Wen? fragten die vier Freunde. – Den Grafen de la Fère. – Das bin ich, sagte Athos. Und wie heißt der Bursche? – Grimaud. – Ah, murmelte Athos erbleichend, was ist Bragelonne begegnet? – Laßt ihn eintreten, sprach d’Artagnan.
Aber Grimaud war bereits die Treppe heraufgelaufen und wartete auf der Schwelle. Bald stürzte er ins Zimmer und schickte sogleich den Wirt mit einer Gebärde weg. Der Wirt verschloß die Tür wieder. Die vier Freunde harrten in gespannter Erwartung – die Aufregung Grimauds, seine Blässe, der Schweiß, der über sein Gesicht lief, der Staub, mit dem feine Kleider überzogen waren, alles verkündete, daß er eine wichtige, furchtbare Botschaft zu überbringen hatte.
Meine Herren, sagte er, diese Frau hatte ein Kind, das Kind ist ein Mann geworden. Die Tigerin hatte ein Junges, der Tiger ist aufgeschossen. Er kommt, seid auf Eurer Hut.
Athos schaute seine Freunde mit einem schwermütigen Lächeln an; Porthos suchte sein Schwert, das an der Wand hing; Aramis ergriff sein Messer; d’Artagnan stand auf.
Was willst du damit sagen, Grimaud? fragte der letztere.
Daß Myladys Sohn England verlassen hat, daß er sich in Frankreich befindet, daß er nach Paris kommt, wenn er nicht schon hier ist.
Diese Erklärung wurde mit einem langen Stillschweigen aufgenommen. Grimaud keuchte dermaßen und war so ermattet, daß er auf einen Stuhl sank.
Athos füllte ein Glas mit Champagner und brachte es ihm.
Nun ja, was wäre es denn, sagte d’Artagnan, wenn er lebte, wenn er nach Paris käme … Wir haben wohl schon andere gesehen. Er mag kommen.
Ja, versetzte Porthos, indem er mit seinem an der Wand hängenden Degen liebäugelte, er mag kommen!
Überdies ist er noch ein Junge, sprach Aramis.
Grimaud stand auf.
Ein Junge! rief er. Wißt Ihr, was dieser Junge getan hat? Als Mönch verkleidet, hat er dadurch, daß er dem Henker von Bethune die Beichte abnahm, die ganze Geschichte herausgebracht, und hat ihm hierauf statt der Absolution den Dolch ins Herz gestoßen. Seht, er ist noch rot und feucht; denn es sind nicht mehr als dreißig Stunden, daß man ihn aus der Wunde gezogen hat.
Und Grimaud warf den vom Mönche in der Wunde des Henkers zurückgelassenen Dolch auf den Tisch.
D’Artagnan, Porthos und Aramis erhoben sich und liefen mit einer gleichzeitigen Bewegung nach ihren Degen.
Athos allein blieb ruhig und träumerisch auf seinem Stuhle.
Und du sagst, er sei als Mönch verkleidet, Grimaud? – Ja, als Augustinermönch. – Was für ein Mensch ist es? – Von meinem Wuchse, wie mir der Wirt mitgeteilt hat, mager, bleich, mit hellblauen Augen und blonden Haaren. – Und … er hat Raoul nicht gesehen? – Im Gegenteil, sie haben sich begegnet, und der Vicomte selbst führte ihn an das Bett des Sterbenden.
Athos stand auf, ohne ein Wort zu sprechen, und nahm ebenfalls seinen Degen von der Wand.
Ah, meine Herren! rief d’Artagnan, indem er zu lachen versuchte, wißt Ihr, daß wir uns wie schwachherzige Weiblein gebärden? Wie können vier Männer wie wir, die, ohne eine Miene zu verziehen, ganzen Armeen stand gehalten haben, vor einem Kinde zittern!
Ja, sprach Athos, aber dieses Kind kommt im Namen Gottes.