XLIII. Das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads


Die Krankheit.

In dem Jahr, wo Niels Holgersen mit den Wildgänsen umherflog, war viel die Rede von ein Paar Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, die durch das Land wanderten. Sie waren aus Smaaland, aus dem Bezirk Sunderbo, und sie hatten einmal mit ihren Eltern und vier Geschwistern in einem kleinen Haus draußen auf einer großen Heide gewohnt. Als die Kinder noch ganz klein waren, kam einmal spät am Abend eine arme Frau und klopfte an und bat um Obdach. Obwohl die Stube kaum die Menschen fassen konnte, die dort wohnten, ließen sie sie ein, und die Mutter bereitete ihr ein Lager auf dem Fußboden. Die ganze Nacht hindurch lag sie da und hustete so arg, daß die Kinder meinten, das ganze Haus bebe, und am Morgen wurde sie so krank, daß sie nicht imstande war, ihre Wanderung fortzusetzen.

Der Mann und die Frau waren so gut gegen sie wie nur möglich. Sie gaben ihr ihr eigenes Bett und lagen selbst auf dem Fußboden, und der Mann ging zum Doktor und holte Tropfen für sie. Die ersten Tage war die Kranke wie von Sinnen und Verstand, tat nichts weiter als fordern und verlangen und hatte kein Wort des Dankes, nach und nach aber taute sie auf und wurde demütig und dankbar. Schließlich bat und bettelte sie fortwährend, sie möchten sie aus dem Hause hinaustragen auf die Heide, so daß sie da liegen und sterben könne. Als die Leute ihr hierin nicht ihren Willen tun wollten, erzählte sie ihnen, sie sei im letzten Jahr mit einer Zigeunertruppe umhergezogen. Sie selber stamme nicht von Zigeunern ab, sie sei die Tochter eines Hofbesitzers, aber sie sei von Hause weggelaufen und mit den Zigeunern umhergezogen. Und nun glaube sie, daß ein Zigeunerweib, das böse auf sie geworden war, ihr diese Krankheit geschickt habe. Aber nicht genug damit: die Zigeunerin habe ihr gedroht und gesagt, ebenso schlimm, wie es ihr selbst ergehe, solle es allen ergehen, die ihr Obdach gewährten und gut gegen sie seien. Daran glaube sie und deshalb bitte sie, daß man sie zum Hause hinausjagen und sich nicht um sie kümmern möge. Sie wolle kein Unglück über so gute Menschen bringen. Aber die Eltern hatten nicht getan, um was sie sie bat. Es ist nicht unmöglich, daß sie nicht ein wenig bange geworden waren, aber sie konnten es nicht übers Herz bringen, eine arme, totkranke Person zur Tür hinauszujagen.

Bald darauf starb sie und dann begann das Unglück. Bisher hatten sie dort im Häuschen nichts als Freude gekannt. Arm waren sie ja freilich, aber ganz verarmt waren sie denn doch nicht. Der Vater verfertigte Webekämme, und die Mutter und die Kinder halfen ihm bei der Arbeit. Der Vater schnitzte selbst die Kämme, und die Mutter und die große Schwester fügten sie zusammen. Die kleineren Kinder hobelten die Zähne und schnitzten sie zurecht. Sie arbeiteten vom Morgen bis zum Abend, aber sie waren immer fröhlich und guter Dinge, namentlich wenn der Vater von der Zeit erzählte, als er in fernen Ländern umhergewandert war und Webekämme verkauft hatte. Der Vater hatte einen köstlichen Humor und erzählte oft so lustig, daß die Mutter und alle Kinder sich beinahe krank lachten.

Die Zeit nach dem Tode der armen Frau erschien den Kindern wie ein böser Traum, Sie wußten nicht, ob sie kurz oder lang gewesen war; sie wußten nur noch, daß daheim ein Begräbnis dem andern gefolgt war. Ihre Geschwister starben und wurden zu Grabe getragen, eins nach dem andern. Sie hatten ja nicht mehr als vier Geschwister gehabt, folglich konnten es nicht mehr als vier Begräbnisse gewesen sein, aber den Kindern kam es so vor, als seien es viel mehr gewesen. Schließlich war es so still und drückend daheim in der Stube gewesen. Es war, als würde jeden Tag ein Begräbnis abgehalten.

Die Mutter hielt den Mut einigermaßen aufrecht, aber der Vater war wie umgewandelt. Er konnte weder mehr scherzen noch arbeiten, sondern saß vom Morgen bis zum Abend da, den Kopf in den Händen und grübelte.

Einmal – es war nach dem dritten Begräbnis – brach er in wilde, verzweifelte Worte aus, die die Kinder bange machten. Er könne nicht verstehen, sagte er, warum so ein Unglück über sie kommen müsse. Sie hatten ja doch ein gutes Werk getan, als sie der Kranken beistanden. War denn das Böse hier in der Welt mächtiger als das Gute? Die Mutter hatte versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, aber es war ihr nicht möglich, ihn ruhig und ergeben in sein Schicksal zu machen, so wie sie selbst es war.

Ein paar Tage später verloren sie den Vater. Aber er starb nicht; er ging davon. Es kam so, daß die älteste Schwester krank wurde, und die hatte der Vater immer am meisten geliebt. Und als er sah, daß auch sie sterben mußte, entfloh er dem ganzen Elend. Die Mutter sagte nur, es sei am besten für den Vater, daß er fort sei. Sie wäre bange, daß er sonst verrückt geworden wäre. Er grübele sich ja von Sinn und Verstand, indem er fortwährend darüber nachdachte, warum Gott es einem bösen Menschen erlauben könne, all dies Unglück über sie zu bringen.

Als der Vater auf und davon gegangen war, wurden sie sehr arm. Anfangs schickte er ihnen Geld, aber dann war es ihm wohl schlecht ergangen, und er schickte nichts mehr. Und an dem Tage, als die älteste Schwester begraben wurde, schloß die Mutter das Haus ab und verließ mit den beiden Kindern, die ihr noch geblieben waren, die Heimat. Sie ging nach Schonen, um Arbeit auf den Rübenfeldern zu suchen und bekam einen Platz in der Jordbergaer Zuckerfabrik. Die Mutter war eine tüchtige Arbeiterin und hatte ein munteres und offenes Wesen. Alle hatten sie gern. Viele wunderten sich, daß sie so ruhig sein konnte nach allem, was sie durchgemacht hatte. Aber sie war sehr stark und geduldig. Wenn jemand mit ihr über ihre beiden prächtigen Kinder sprach, sagte sie nur: »Die sterben auch bald.« Das sagte sie, ohne daß ihre Stimme zitterte und ohne daß ihr Tränen in die Augen traten. Sie hatte sich daran gewöhnt, nichts anderes mehr zu erwarten.

Aber es kam nicht so, wie sie erwartete. Statt dessen wurde sie selbst krank. Es ging schnell mit ihr, noch schneller als mit den kleinen Geschwistern. Sie war zu Anfang des Sommers nach Schonen gekommen, und als der Herbst kam, waren die Kinder allein.

Wahrend die Mutter krank lag, sagte sie oft zu den Kindern, sie sollten stets daran denken, daß sie niemals bereut habe, die kranke Frau bei sich aufzunehmen. Denn es sei nicht schwer zu sterben, wenn man recht gehandelt habe, sagte sie. Alle Menschen müßten sterben, dem könne man nicht entgehen. Aber man könne selbst darüber bestimmen, ob man mit einem guten Gewissen sterben wolle oder mit einem schlechten.

Ehe die Mutter starb, suchte sie noch ein wenig für die Kinder zu sorgen. Sie bat, daß die Kinder in der Kammer bleiben dürften, in der sie alle drei den Sommer über gewohnt hatten. Wenn die Kinder nur eine Stelle hätten, wo sie wohnen konnten, würden sie niemand zur Last fallen. Sie könnten sich selbst versorgen, das wisse sie. Die Kinder erhielten die Erlaubnis, die Kammer zu behalten, wenn sie dafür versprechen wollten, die Gänse zu hüten, denn es ist immer schwer, Kinder zu finden, die diese Arbeit übernehmen wollen. Es ging wirklich so, wie die Mutter gesagt hatte: sie versorgten sich selbst. Das kleine Mädchen konnte Brustzucker kochen, und der Junge konnte allerlei Spielzeug aus Holz anfertigen, das er ringsumher auf den Bauernhöfen verkaufte. Sie hatten Handelstalent, und es währte nicht lange, und da fingen sie an, bei den Bauern Butter und Eier zu kaufen, die sie dann an die Arbeiter in der Zuckerfabrik wieder verkauften. Sie waren so ordentlich und zuverlässig, daß man ihnen alles anvertrauen konnte, was es auch war. Das Mädchen war die Ältere, und mit dreizehn Jahren war sie schon so zuverlässig wie ein erwachsener Mensch. Sie war still und ernsthaft, der Junge aber war redselig und munter. Die Schwester pflegte von ihm zu sagen, er schnattere um die Wette mit den Gänsen draußen auf dem Felde.

Als die Kinder ein paar Jahre in Jordberga gewohnt hatten, wurde eines Abends in der Schule ein Vortrag gehalten. Der Vortrag war wohl im Grunde für Erwachsene bestimmt, aber die beiden smaaländer Kinder saßen auch unter den Zuhörern. Sie rechneten sich selbst nicht zu den Kindern, und kaum taten die Erwachsenen das. Der Redner sprach über die traurige Krankheit, die Tuberkulose, die alljährlich so viele Menschen in Schweden töte. Er sprach sehr klar und leicht verständlich, und die Kinder verstanden jedes Wort.

Nach dem Vortrag blieben sie draußen vor der Schule stehen und warteten. Als der Redner kam, gingen sie Hand in Hand feierlich auf ihn zu und baten, mit ihm reden zu dürfen.

Der Redner sah die beiden ja ein wenig verwundert an, die da mit runden und rotwangigen Kindergesichtern standen und mit einem Ernst redeten, der dreimal so alten Leuten angestanden haben würde. Er hörte sie aber sehr freundlich an.

Die Kinder erzählten, was sie daheim in ihrem Hause erlebt hatten, und sie fragten nun den Redner, ob er glaube, daß ihre Mutter und die Geschwister an der Krankheit gestorben seien, die er geschildert hatte. Es könne ja kaum eine andere Krankheit gewesen sein.

Aber wenn nun ihre Mutter und ihr Vater das gewußt hätten, was die Kinder heute abend gehört hatten, so hätten sie sich ja in acht nehmen können. Falls sie die Kleider der kranken Frau verbrannt und das Haus gründlich gescheuert und die Betten nicht mehr benutzt hätten, würden dann vielleicht noch alle die am Leben sein, um die die Kinder jetzt trauerten?

Der Redner sagte, eine bestimmte Antwort könne niemand darauf geben, aber es wäre höchstwahrscheinlich, daß keins von ihren Angehörigen hätte zu sterben brauchen, wenn sie es verstanden hätten, sich gegen die Krankheit zu schützen.

Nun besannen sich die Kinder ein wenig auf die nächste Frage, aber sie rührten sich nicht vom Fleck, denn das, worauf sie jetzt eine Antwort haben wollten, war das Allerwichtigste. War es denn nicht wahr, daß das Zigeunerweib die Krankheit über sie gebracht hatte, weil sie der geholfen hatten, auf die sie böse war? War es nicht etwas Besonderes, das niemand als nur sie getroffen hatte? – Nein, das war nicht der Fall, dessen konnte der Redner sie getrost versichern. Kein Mensch besaß die Macht, auf solche Weise Krankheit über einen andern zu bringen. Und sie wüßten ja doch, daß die Krankheit im ganzen Lande verbreitet sei. Sie habe ihren Besuch in fast allen Häusern abgestattet, wenn sie auch nicht überall so viele hingerafft habe wie bei ihnen.

Und dann bedankten sich die Kinder und gingen nach Hause. An diesem Abend sprachen sie noch lange miteinander.

Am nächsten Tage gingen sie hin und kündigten ihre Stelle. Sie könnten in diesem Jahr die Gänse nicht hüten, sie müßten anderswo hin. Wohin sie denn wollten? – Sie wollten sich aufmachen und ihren Vater suchen. Sie müßten ihm sagen, daß ihre Mutter und die Geschwister an einer gewöhnlichen Krankheit gestorben seien, und daß es nichts sei, was von bösen Menschen über sie gebracht worden war. Sie wären so froh darüber, daß sie das erfahren hatten. Und nun fanden sie, es sei ihre Pflicht, es, ihrem Vater zu erzählen, denn er grüble gewiß noch heutigen Tages darüber nach.

Zuerst gingen die Kinder nach ihrer alten Heimat auf der Heide bei Sunnerbo, und zu ihrer großen Verwunderung fanden sie das Haus in hellen Flammen stehen.

Dann gingen sie nach dem Pfarrhaus, und dort hörten sie, daß ein Mann, der bei der Eisenbahn angestellt war, ihren Vater bei Malmberget hoch oben in Lappland gesehen habt. Damals habe er in der Erzgrube gearbeitet, und das tue er vielleicht noch, aber ganz sicher sei es ja nicht. Als der Pfarrer hörte, daß die Kinder ausziehen wollten, um ihren Vater zu suchen, holte er eine Landkarte und zeigte ihnen, wie weit es bis Malmberget war, und riet ihnen von der Reise ab. Aber die Kinder sagten, es sei ganz notwendig, daß sie versuchten, ihren Vater zu finden. Er sei von Hause fortgegangen, weil er etwas glaubte, was nicht wahr sei. Nun müßten sie ihm sagen, daß er sich geirrt habe.

Die Kinder hatten ein wenig Geld mit ihrem Handel verdient, das wollten sie jedoch nicht ausgeben, um Fahrkarten dafür zu kaufen, sondern sie entschlossen sich, den ganzen Weg zu Fuß zu gehen. Und das bereuten sie nicht. Sie hatten eine so wunderbar schöne Wanderung.

Ehe sie noch aus Smaaland herausgekommen waren, gingen sie eines Tages in einen Bauernhof hinein, um etwas zu essen zu kaufen. Die Bäuerin war munter und redselig. Sie fragte die Kinder, wer sie seien und woher sie kämen, und die Kinder erzählten ihr ihre ganze Geschichte. »Aber nein! Aber nein!« sagte die Frau mehrmals, während sie erzählten. Dann tischte sie ihnen viel gutes Essen auf, und sie durften durchaus nichts dafür bezahlen. Als sie aufstanden, um sich zu bedanken und weiterzugehen, fragte die Bäuerin, ob sie nicht im nächsten Dorf bei ihrem Bruder einkehren wollten, und sie sagte ihnen, wie er hieß und wo er wohnte. Ja, das wollten die Kinder natürlich gern. »Ihr müßt von mir grüßen und erzählen, was ihr erlebt habt,« sagte die Bäuerin.

Das taten die Kinder, und der Bruder nahm sie freundlich auf. Er fuhr sie nach einem Hof im nächsten Dorf, und auch dort ward ihnen eine gute Aufnahme zuteil. Jedesmal, wenn sie nun von einem Hof weggingen, hieß es immer: »Wenn ihr in diese oder jene Gegend kommt, so geht nur da oder dorthin und erzählt, was ihr erlebt habt.«

Auf den Höfen, wohin die Kinder gewiesen wurden, war immer jemand brustkrank. Und ohne daß sie selbst es wußten, wanderten nun diese beiden Kinder durch das Land und belehrten die Leute darüber, was für eine gefährliche Krankheit es war, die sich in die Familien eingeschlichen hatte, und wie sie sie am besten bekämpfen konnten.

In alter Zeit, als die Pest, die der schwarze Tod genannt wurde, das Land verheerte, sollen, wie man erzählt, ein Junge und ein Mädchen von einem Hof zum andern gegangen sein.

Der Junge hatte einen Rechen in der Hand, und wenn er vor ein Haus kam und dort harkte, so bedeutete das, daß viele dadrinnen sterben würden, aber nicht alle, denn die Zähne eines Rechens stehen weit von einander und nehmen nicht alles mit. Das Mädchen hatte einen Besen in der Hand, und kam sie und kehrte vor einer Tür, so bedeutete dies, daß alle, die hinter der Tür wohnten, sterben müßten, denn der Besen ist ein Gerät, das reinen Tisch macht.

War es nun nicht merkwürdig, daß in unsern Tagen zwei Kinder um einer schweren und gefährlichen Krankheit willen durch das Land ziehen mußten? Aber diese Kinder schreckten die Leute nicht mit Rechen und Besen; sie sagten im Gegenteil: »Ihr sollt euch nicht damit begnügen, nur den Hof zu harken und den Fußboden zu fegen. Ihr müßt auch den Schrubber und die Scheuerbürste und Seife gebrauchen. Wir müssen es rein vor unserer Tür und rein innerhalb derselben halten, und wir müssen selbst rein sein. Auf die Weise werden wir schließlich Herr über die Krankheit werden.«

Das Begräbnis des kleinen Mads.

Der kleine Mads war tot. Das erschien allen denen, die ihn noch vor ein paar Stunden frisch und fröhlich gesehen hatten, unglaublich. Und doch war es so. Der kleine Mads war tot und sollte begraben werden.

Der kleine Mads starb eines Morgens in der Frühe und niemand weiter als seine Schwester Aase war in der Stube und sah ihn sterben. »Hole niemand,« sagte der kleine Mads, als es zu Ende ging, und die Schwester tat, was er sagte. »Ich freue mich nur, daß ich nicht an der Krankheit sterbe, Aase,« sagte der kleine Mads. »Du nicht auch?« Und als Aase nichts erwiderte, fuhr er fort: »Ich finde, es macht gar nichts, daß ich sterbe, wenn ich nur nicht auf dieselbe Weise sterben muß, wie die Mutter und die Geschwister. Wäre das geschehen, so, glaube ich, würde es dir nie gelungen sein, den Vater zu überzeugen, daß nur eine gewöhnliche Krankheit sie hingerafft hat, aber du sollst sehen, jetzt wird es schon gehen.«

Als alles vorüber war, saß Aase lange da und dachte darüber nach, was ihr Bruder, der kleine Mads, während er auf dieser Erde lebte, hatte durchmachen müssen. Es war ihr, als habe er alles Ungemach mit dem Mut eines Erwachsenen getragen. Sie dachte an seine letzten Worte. So tapfer war er immer gewesen. Und sie war sich ganz klar darüber, daß, wenn der kleine Mads nun in die Erde gesenkt werden würde, er mit denselben Ehren begraben werden müsse, wie ein erwachsener Mensch.

Sie sah sehr wohl ein, daß es schwer werden würde, dies durchzusetzen, aber sie wollte es doch so gern. Sie mußte ihr Äußerstes für den kleinen Mads tun.

Das Gänsemädchen Aase war zu jener Zeit hoch oben in Lappland bei dem großen Grubenfeld, das Malmberget genannt wird. Es war ein merkwürdiger Ort, aber es war vielleicht gerade gut für sie, so wie es war.

Ehe sie soweit gelangt waren, hatten sie und der kleine Mads große, endlose Waldgegenden durchwandert.

Mehrere Tage lang hatten sie weder Felder noch Höfe gesehen, nur kleine, elende Poststationen, bis sie auf einmal nach dem großen Dorf Gellivare gekommen waren. Es lag mit seiner Kirche und seinem Bahnhof, seinem Gerichtsgebäude, der Bank, der Apotheke und den Gasthäusern am Fuße eines hohen Berges, der noch jetzt zur Sommerzeit, als die Kinder dahergewandert kamen, mit Schneestreifen bedeckt war. Fast alle Häuser in Gellivare waren neu, aber sie waren gut und solide gebaut und wären nicht die Schneeflocken oben auf den Bergen gewesen und hätten die Birken nicht ganz kahl dagestanden, so würden die Kinder nicht daran gedacht haben, daß die Stadt hoch oben in Lappland lag. Und doch sollten sie nicht in Gellivare nach ihrem Vater suchen, sondern in Malmberget, das noch eine Strecke weiter nördlich lag, und dort sah es nicht so ordentlich aus.

Das kam daher, daß, obwohl die Leute schon lange gewußt hatten, daß in der Nähe von Gellivare viel Erz zu finden sei, man erst, als die Eisenbahn vor ein paar Jahren fertig geworden, dazu gekommen war, dies richtig auszubeuten. Da strömten mehrere tausend Menschen auf einmal da hinauf, und da war Arbeit genug für sie, aber keine Häuser; die mußten sie sich dann selbst schaffen, so gut sie konnten. Einige zimmerten sich Hütten aus unbehauenen Balken, andere wohnten in Schuppen, die sie sich aus Kisten und leeren Dynamitbehältern bauten, indem sie diese wie Ziegelsteine aufeinander legten. Jetzt hatte man allmählich eine ganze Menge ordentlicher Häuser gebaut, aber der ganze Ort sah trotzdem höchst wunderlich aus. Da waren große Viertel mit schönen, hellen Häusern, aber mitten dazwischen stieß man auf ungerodeten Waldboden mit Baumstümpfen und Steinen. Da waren große, schöne Villen für den Inspektor und die Ingenieure, und da waren niedrige, komische Hütten, die aus der ersten Zeit stehen geblieben waren. Da waren Eisenbahnen und elektrisches Licht und große Maschinenhäuser; man konnte mit der Straßenbahn durch einen mit Glühlichtern erleuchteten Tunnel tief in die Berge hineinfahren. Überall herrschte ein gewaltiges Treiben, und ein Zug nach dem anderen verließ erzbeladen den Bahnhof. Aber ringsumher lag noch das große Ödeland, wo kein Acker gepflügt und kein Haus gebaut wurde, wo nichts weiter war als Lappen, die mit ihren Renntieren umherzogen.

Nun saß Aase da und dachte darüber nach, daß das Leben hier ebenso war wie der Ort. Meistens ging es ja wohl ganz ordentlich und friedlich zu, aber sie hatte doch so mancherlei gesehen, was wild und sonderbar war. Sie hatte ein Gefühl, daß es hier vielleicht leichter sein würde, etwas durchzusetzen, was außerhalb des Gewöhnlichen lag, als an anderen Orten.

Sie dachte daran, wie es ihnen ergangen war, als sie nach Malmberget kamen und nach einem Arbeiter fragten, der Jon Assarsson hieß und zusammengewachsene Augenbrauen hatte. Diese zusammengewachsenen Augenbrauen waren das Auffallendste in dem Äußern des Vaters. Sie bewirkten, daß sich die Leute seiner leicht erinnerten. Die Kinder erfuhren auch, daß ihr Vater mehrere Jahre in Malmberget gearbeitet hatte, jetzt aber auf die Wanderschaft gegangen sei. Es geschah oft, daß er auf die Wanderschaft ging, wenn die Unruhe über ihn kam. Wohin er gegangen war, wußte niemand, aber sie waren alle fest überzeugt, daß er in einigen Wochen wiederkommen würde. Und da sie Jon Assarssons Kinder waren, könnten sie ja, während sie auf ihn warteten, gern in der Hütte wohnen, die er bewohnt hatte. Und dann holte einer den Haustürschlüssel hervor, der unter der Türschwelle lag und ließ die Kinder hinein. Niemand wunderte sich darüber, daß sie gekommen waren, und niemand schien sich darüber zu wundern, daß ihr Vater bisweilen in die Einöde ging. Hier oben waren sie wohl daran gewöhnt, daß jeder nach seinem eigenen Kopf handelte.

Aase war bald mit sich im reinen, wie sie das Begräbnis haben wollte. Am letzten Sonntag hatte sie gesehen, wie einer der Grubenaufseher beerdigt wurde. Er war von des Inspektors eigenen Pferden nach der Kirche in Gellivare gefahren worden, und ein langer Zug von Grubenarbeitern war dem Sarge gefolgt. Am Grabe hatte eine Musikkapelle gespielt und ein Singchor gesungen. Und nach dem Begräbnis wurden alle, die mit in der Kirche gewesen waren, zum Kaffee in die Schule geladen. Etwas Ähnliches wünschte das Gänsemädchen Aase für ihren kleinen Bruder Mads.

Sie hatte sich schon so lebhaft dahinein gedacht, daß sie beinahe den ganzen Leichenzug vor Augen sah, aber dann sank ihr Mut wieder, und sie sagte sich selbst, daß es wohl nicht so werden könne, wie sie es wünschte. Nicht weil es zu teuer geworden wäre. Sie hatten soviel Geld zusammengespart, sie und der kleine Mads, daß sie ihm ein so schönes Begräbnis bereiten konnte, wie sie es nur wünschen mochte. Die Schwierigkeit lag darin, daß erwachsene Menschen – das wußte sie – sich nie nach einem Kinde richten würden. Sie war nur ein Jahr älter als der kleine Mads, der so klein und schmächtig aussah, wie er da tot neben ihr lag. Und sie selber war ja auch nur ein Kind.

Die erste, mit der sie über das Begräbnis sprach, war die Krankenpflegerin. Schwester Hilma kam gleich nachdem der kleine Mads gestorben war, und schon ehe sie die Tür öffnete, wußte sie, daß es um diese Zeit vorbei sein mußte. Am vorhergehenden Nachmittag war der kleine Mads in der Nähe der Gruben umhergelaufen. Er war einem großen Luftschacht zu nahe gekommen, als gerade eine Sprengung vorgenommen wurde, und einige Steine hatten ihn getroffen. Er war ganz allein und blieb lange bewußtlos am Boden liegen, ohne daß jemand wußte, was geschehen war. Schließlich bekamen einige Männer, die unter dem Luftschacht arbeiteten, auf eine wunderliche Weise Kenntnis davon. Sie behaupteten, ein kleiner Wicht, der nicht viel größer als eine Spanne hoch gewesen, an den Rand der Grube gekommen sei und ihnen zugerufen habe, sie sollten dem kleinen Mads schleunigst zu Hilfe kommen, er liege oben vor der Grube und sei nahe daran, zu verbluten. Darauf wurde der kleine Mads nach Hause getragen und verbunden, aber es war schon zu spät. Er hatte einen so großen Blutverlust erlitten, daß er nicht mehr leben konnte.

Als die Krankenpflegerin ins Zimmer trat, dachte sie nicht so sehr an den kleinen Mads als an seine Schwester. »Was soll ich nur mit dem armen Kinde anfangen?« fragte sie sich, »Sie ist gewiß ganz untröstlich.«

Aber Schwester Hilma sah, daß Aase weder weinte noch klagte, sie half ihr ganz ruhig bei allem, was getan werden mußte. Die Krankenpflegerin wunderte sich sehr darüber, aber sie erhielt Aufklärung, als Aase mit ihr über das Begräbnis zu sprechen begann.

»Wenn man mit jemand, wie der kleine Mads, zusammengewesen ist,« sagte Aase, die sich gern ein wenig altklug und feierlich ausdrückte, »so muß man vor allem daran denken, wie man ihn ehren kann. Hinterher ist Zeit genug zum Trauern.«

Und dann bat sie die Krankenpflegerin, ihr behilflich zu sein, dem kleinen Mads ein ehrenvolles Begräbnis zu verschaffen. Niemand habe das mehr verdient als er.

Die Krankenpflegerin meinte, daß, wenn das arme, verlassene Kind darin Trost finden könne, dies nur ein Glück sei. Sie versprach ihr zu helfen, und das war eine große Sache für Aase. Jetzt war es ihr, als sei das Ziel fast erreicht, denn Schwester Hilma hatte viel zu sagen. In dem großen Grubenfeld, wo die Sprengschüsse jeden Tag ertönen, wußte ja jeder Arbeiter, daß er jeden Augenblick von einem Stein oder von einem herabstürzenden Felsblock getroffen werden könne, und darum wollten sich alle gern gut mit der Krankenschwester stellen.

Als daher Schwester Hilma und Aase bei den Grubenarbeitern herumgingen und baten, ob sie nicht am nächsten Sonntag dem kleinen Mads das letzte Geleite geben wollten, waren da nicht viele, die nein sagten. »Ja, wenn Schwester Hilma uns darum bittet, dann wollen wir es schon tun,« sagten sie.

Die Krankenpflegerin brachte auch die Sache mit dem Quartett von Blasinstrumenten, das am Grabe spielen sollte und mit dem kleinen Singechor glücklich in Ordnung. Dahingegen tat sie keine Schritte wegen des Schulhauses; da noch das schönste Sommerwetter war, wurde beschlossen, daß das Trauergefolge draußen im Freien Kaffee trinken sollte. Bänke und Tische sollten aus dem Goodtemplersaal geliehen werden und Tassen und Teller von den Kaufleuten. Einige Arbeiterfrauen, die in ihren Truhen allerlei Sachen hatten, die sie nicht benutzten, solange sie hier in der Einöde wohnten, holten der Schwester zuliebe ihre feinen Gedecke hervor, um sie auf den Kaffeetischen auszubreiten.

Dann wurden Zwieback und Kringel bei einem Bäcker in Boden bestellt und schwarz-weißes Konfekt bei einem Konditor in Luleå.

Es herrschte eine solche Aufregung aus Anlaß des Begräbnisses, das Aase für ihren kleinen Bruder veranstalten wollte, daß ganz Malmberget davon sprach. Und schließlich erfuhr auch der Inspektor, was im Schwange war.

Als er hörte, daß fünfzig Grubenarbeiter einen zwölfjährigen Knaben zu Grabe geleiten wollten, obwohl dieser, soviel er wußte, nur ein umherstreifender Betteljunge gewesen war, fand er, daß das der reine Wahnsinn sei. Und Gesang und Musik und Kaffeegesellschaft wollten sie haben, und das Grab sollte mit Grün bekleidet werden, und Konfekt aus Luleå! Er schickte sofort zu der Krankenpflegerin und bat sie, dies alles zu verhindern. »Es ist unrecht, ein armes Kind sein Geld so vergeuden zu lassen,« sagte er. »Es kann ja nicht angehen, daß sich erwachsene Menschen nach dem Einfall eines Kindes richten. Sie machen sich ja alle miteinander lächerlich!«

Der Inspektor war weder zornig noch heftig. Er sprach ganz ruhig und bat die Krankenpflegerin, den Gesang und die Musik und das lange Leichengefolge abzubestellen. Es würde ja genügen, wenn ein Dutzend Menschen den Jungen zu Grabe geleiteten. Und die Krankenpflegerin widersprach dem Inspektor mit keinem Wort, teils aus Respekt und teils weil sie selbst fühlte, daß er recht hatte. Es war zu viel Wesens von so einem Betteljungen machen! Aus Mitleid mit dem armen Mädchen war ihr Herz mit dem Verstand durchgegangen.

Von der Villa des Inspektors ging die Krankenpflegerin nach dem Barackenviertel, um Aase zu sagen, daß sie es nicht so ausrichten könne, wie sie es wünschte, aber sie tat das nicht leichten Herzens, denn niemand wußte besser als sie, was dies Begräbnis für das arme Kind bedeutete. Auf dem Wege begegnete sie ein paar Arbeiterfrauen und sprach mit ihnen über diese Schwierigkeiten. Sie sagten sofort, sie fänden, daß der Inspektor recht habe. Es sei ein Unsinn, so viel Aufhebens von einem Betteljungen zu machen. Natürlich tue ihnen das kleine Mädchen leid, aber es sei widersinnig, daß ein Kind auf diese Weise alles ordnen und einrichten wolle. Es wäre gut, daß aus dem Ganzen nichts würde.

Die Frauen gingen nach Hause und erzählten es weiter, und bald lief das Gerücht, daß aus dem großen Begräbnis für den kleinen Mads nichts werden könne, vom Barackenviertel bis zum Grubenschacht. Und alle stimmten darin überein, daß es das einzig Richtige sei.

In ganz Malmberget war wohl nur eine, die anderer Ansicht war, nämlich das Gänsemädchen Aase. Die Krankenpflegerin hatte wirklich einen harten Kampf mit ihr zu bestehen. Aase weinte weder, noch klagte sie, aber sie wollte sich nicht fügen. Sie sagte, sie habe den Inspektor nicht um Hilfe gebeten, folglich habe er auch nichts mit der Sache zu tun. Er könne ihr ja nicht verbieten, ihren Bruder so zu begraben, wie sie wollte.

Erst als mehrere von den Frauen bei ihr gewesen waren und ihr erklärt hatten, daß jetzt, wo der Inspektor nichts davon wissen wolle, niemand zum Begräbnis kommen werde, wurde es ihr klar, daß sie seine Erlaubnis haben mußte.

Sie saß einen Augenblick da und überlegte, dann stand sie plötzlich auf. »Wo willst du hin?« fragte die Krankenpflegerin. »Ich muß zu dem Inspektor gehen und selbst mit ihm reden,« erwiderte Aase. – »Du glaubst doch wohl nicht, daß er sich an das kehrt, was du sagst?« meinten die Frauen. – »Ich glaube, der kleine Mads will, daß ich zu ihm gehen soll,« antwortete Aase. »Der Inspektor hat wahrscheinlich nie gehört, was für ein Mensch er gewesen ist.«

Das Gänsemädchen Aase machte sich schnell fertig und war bald auf dem Wege zum Inspektor. Es erschien nun aber allen ganz unglaublich, daß ein Kind wie sie daran denken konnte, den Inspektor, den mächtigsten Mann in ganz Malmberget, von dem abzubringen, was er einmal als seinen Willen geäußert hatte. Und die Krankenpflegerin wie auch die andern Frauen konnten es sich nicht versagen, ihr aus der Entfernung zu folgen, um zu sehen, ob sie wirtlich den Mut hatte, zu ihm zu gehen.

Das Gänsemädchen Aase ging mitten auf dem Wege, und während sie so dahin schritt, lag etwas über ihr, das die Menschen veranlaßte, sich nach ihr umzusehen. Sie kam so ernsthaft und würdig dahergegangen, wie ein junges Mädchen, das an ihrem Konfirmationstag durch die Kirche schreitet. Auf dem Kopf hatte sie ein großes schwarzseidenes Tuch, ein Erbstück von ihrer Mutter, in der Rechten trug sie ein zusammengefaltetes Taschentuch und in der Linken einen Korb mit Spielzeug, das der kleine Mads verfertigt hatte.

Als die Kinder, die auf dem Wege spielten, sie kommen sahen, liefen sie hinter ihr drein und riefen: »Wo willst du hin, Aase? Wo willst du hin?« Aber Aase antwortete nicht. Sie hatte ihre Fragen nicht einmal gehört. Sie ging nur weiter. Und als die Kinder wieder und wieder fragten, und an ihrem Rock zerrten, packten die Frauen, die hinter ihr hergingen, die Kinder beim Arm und hielten sie zurück. – »Laßt sie gehen,« sagten sie. »Sie will zum Inspektor und bitten, ob sie nicht ein großes Begräbnis für ihren Bruder, den kleinen Mads veranstalten darf.« Da wurden auch die Kinder von Erstaunen ergriffen, daß sich Aase auf etwas so Verwegenes einlassen wollte, und eine kleine Schar von ihnen lief mit, um zu sehen, wie es ihr ergehen werde.

Dies trug sich gegen sechs Uhr nachmittags zu, als die Arbeit in den Gruben beendet war, und als Aase eine Strecke gegangen war, kamen mehrere hundert Arbeiter mit langen, hastigen Schritten des Weges daher. Sie pflegten sonst weder nach recht noch nach links zu sehen, wenn sie von der Arbeit kamen, als sie aber Aase begegneten, konnten einige von ihnen merken, daß hier etwas Besonderes vor sich ging, und sie fragten sie, was ihr fehle. Aase erwiderte kein Wort, aber die andern Kinder riefen laut durcheinander, wohin sie wollte. Da fanden auch einige von den Arbeitern, daß dies ein sehr mutiges Vorhaben für ein Kind sei, und sie gingen mit, um zu sehen, wie die Sache ablaufen würde.

Aase ging nach dem Kontorgebäude, wo der Inspektor um diese Zeit noch bei seiner Arbeit zu sitzen pflegte. Als sie in den Flur trat, öffnete sich eine Tür, und der Inspektor stand, den Hut auf dem Kopf und den Stock in der Hand, vor ihr, auf dem Wege zu seiner Wohnung, um zu Mittag zu essen. »Mit wem willst du sprechen?« fragte er, als er das kleine Mädchen sah, das so feierlich daherkam mit dem seidnen Tuch um den Kopf und dem zusammengefalteten Taschentuch. »Ich möchte gern mit dem Herrn Inspektor selbst sprechen,« sagte Aase. – »Du willst mit mir sprechen? Ja, dann komm nur herein!« sagte der Inspektor und trat wieder in das Kontor. Er ließ die Tür offen stehen, denn es kam ihm nicht in den Sinn, daß das kleine Mädchen lange dableiben würde. So ging es zu, daß alle, die dem Gänsemädchen Aase gefolgt waren und nun in dem Flur und auf der Treppe standen, hörten, was im Kontor vor sich ging.

Als das Gänsemädchen Aase da hinein kam, richtete sie sich auf, schob ihr Kopftuch zurück und sah den Inspektor mit ihren runden Kinderaugen an, die einen so ernsten Blick hatten, daß es einem ins Herz schnitt. »Der kleine Mads ist tot,« sagte sie, und ihre Stimme bebte, so daß sie nicht weiter sprechen konnte. Aber nun wußte der Inspektor, wen er vor sich hatte. »Ach, du bist das kleine Mädchen, das das große Begräbnis veranstalten will,« sagte er freundlich. »Das darfst du wirklich nicht tun, mein Kind. Die Sache wird zu teuer für dich. Hätte ich nur früher davon gehört, so würde ich es gleich verhindert haben.«

Es zuckte in dem Gesicht des kleinen Mädchens, und der Inspektor glaubte, nun würde sie zu weinen anfangen, aber statt dessen sagte sie: »Ich möchte fragen, ob ich dem Herrn Inspektor ein wenig von dem kleinen Mads erzählen darf?«

»Ich habe eure Geschichte schon gehört,« sagte der Inspektor in seiner gewöhnlichen ruhigen, sanften Weise. »Du tust mir sehr leid, das kannst du mir glauben. Aber ich will nur dein Bestes.«

Da richtete sich das Gänsemädchen Aase noch straffer auf und fügte mit lauter, klarer Stimme: »Seit der kleine Mads neun Jahre alt war, hat er weder Vater noch Mutter gehabt und hat ganz für sich selbst sorgen müssen wie ein erwachsener Mensch. Er hat sich für zu gut gehalten, auch nur um eine Mahlzeit zu betteln, er wollte immer alles bezahlen. Er sagte, es schicke sich nicht für einen Mann zu betteln. Er ging auf dem Lande herum und kaufte Eier und Butter auf, und er war so gewiegt im Handeln wie ein alter Kaufmann. Er war nie fahrlässig und er steckte nie auch nur einen Pfennig beiseite, sondern brachte mir alles. Der kleine Mads nahm seine Arbeit mit, wenn er Gänse auf dem Felde hütete und war so fleißig, als wäre er ein erwachsener Mann. Die Bauern da unten m Schonen gaben dem kleinen Mads oft viel Geld mit, wenn er von einem Hof zum andern ging, denn sie wußten, daß sie sich auf ihn verlassen konnten wie auf sich selbst. Darum ist es nicht richtig zu sagen, daß der kleine Mads nur ein Kind gewesen sei, denn es gibt viele Erwachsene, die nicht –«

Der Inspektor stand da und sah zu Boden; keine Muskel in seinem Gesicht bewegte sich, und das Gänsemädchen Aase schwieg, denn sie glaubte, daß ihre Worte keinen Eindruck auf ihn machten. Daheim war es ihr gewesen, als hätte sie so viel von dem kleinen Mads zu sagen, aber jetzt erschien es ihr so gar wenig. Wie sollte sie dem Inspektor begreiflich machen, daß der kleine Mads es verdiente, mit denselben Ehren begraben zu werden wie ein Erwachsener?

»Und wenn ich doch das ganze Begräbnis selbst bezahlen will …« sagte Aase und dann schwieg sie wieder.

Da erhob der Inspektor den Kopf und sah dem Gänsemädchen Aase in die Augen. Er maß und wog sie, wie es der zu tun pflegt, der viele Menschen unter sich hat. Er dachte daran, was sie alles durchgemacht hatte, indem sie ihr Heim und die Eltern und Geschwister verlor; aber das hatte ihren Mut nicht gebrochen, und es würde sicher ein prächtiges Menschenkind aus ihr werden. Er wagte nicht, der Last, die sie zu tragen hatte, noch mehr hinzuzufügen, denn es könnte ja sein, daß dies der Strohhalm würde, unter dem sie zusammenbrach. Er begriff, welch Entschluß es sie gekostet hatte, zu ihm zu kommen, um mit ihm zu reden. Sie mußte diesen Bruder ja über alles in der Welt geliebt haben. Einer solchen Liebe durfte man nicht mit einem Abschlag begegnen.

»Es geschehe, wie du willst,« sagte der Inspektor.

XL. In Medelpad

Freitag, 17. Juni.

Am nächsten Morgen waren der Adler und Niels Holgersen in aller Frühe unterwegs, und Gorgo hoffte, daß er an diesem Tage weit nach Västerbotten hinaufkommen würde, aber da geschah es, daß er den Jungen zu sich selbst sagen hörte, in so einem Lande wie dies, über das er nun hinfliege, müsse es doch für Menschen unmöglich sein zu leben.

Das Land, das unter ihnen lag, war das südliche Medelpad, und sie sahen nicht das Geringste weiter als wilde Wälder. Sobald aber der Adler hörte, was Niels sagte, rief er sofort: »Hier oben ist der Wald der Äcker!«

Der Junge dachte darüber nach, welch großer Unterschied doch sei zwischen den hellen, gelben Roggenfeldern mit ihren weichen Halmen, die in einem Sommer in die Höhe schossen, und dem dunklen Nadelwald mit den harten Stämmen, die Jahre brauchten, ehe sie zur Ernte reiften. »Der muß eine gute Geduld haben, der sein Auskommen von so einem Acker haben will,« sagte er.

Mehr wurde nicht gesprochen, bis sie an einen Ort kamen, wo der Wald gefällt und die Erde nur mit Baumstümpfen und abgehauenen Zweigen bedeckt war. Als sie über dies Stoppelfeld hinflogen, hörte der Adler den Jungen zu sich selbst sagen, das sei doch eine schrecklich häßliche und armselige Gegend.

»Das ist ein Acker, der im letzten Winter gemäht wurde,« rief der Adler sofort.

Der Junge dachte daran, wie die Schnitter in seiner Heimat an den schönen, hellen Sommermorgen mit ihren Mähmaschinen hinausfuhren und in ganz kurzer Zeit ein Feld mähten. Aber der Waldacker wurde im Winter gemäht. Wenn der Schnee den Erdboden hoch bedeckte und die Kälte am strengsten war, zogen die Holzfäller in das Ödland hinaus. Es war ein hartes Stück Arbeit, nur einen einzigen Baum zu fällen, und um eine Waldstrecke, so groß wie diese, zu fällen, mußten sie sicher mehrere Wochen draußen im Walde gelegen haben. »Es müssen tüchtige Leute sein, die einen solchen Acker mähen können,« sagte er.

Nachdem der Adler ein paar Flügelschläge gemacht hatte, gewahrten sie eine kleine Hütte, die am Rande des gefällten Waldes lag. Sie war aus groben, unbehauenen Baumstämmen gebaut, hatte keine Fenster und als Tür nur ein paar lose Bretter. Das Dach war mit Baumrinde und Zweigen gedeckt gewesen, es war jetzt aber eingefallen, so daß der Junge sehen konnte, daß drinnen in der Hütte nur ein paar große Steine waren, die als Herd gedient hatten und einige breite, hölzerne Bänke. Als sie über die Hütte hinflogen, hörte der Adler den Jungen sich darüber wundern, wer wohl in einer so elenden Hütte gewohnt haben könne.

»Die Schnitter, die den Waldacker gemäht haben, sie haben hier gewohnt!« rief der Adler sogleich.

Der Junge dachte daran, wie die Schnitter daheim in seiner Gegend am Abend fröhlich und vergnügt von der Arbeit heimkehrten, und wie ihnen das Beste aufgetischt wurde, was seine Mutter in der Speisekammer hatte. Hier mußten sie sich nach der harten Arbeit in einer Hütte zur Ruhe legen, die schlechter war als ein Schuppen. Und was sie hier zu essen bekamen, das konnte er wirklich nicht begreifen. »Ich fürchte, für diese Schnitter werden keine Erntefeste gefeiert!« sagte er.

Etwas weiter hin sahen sie unter sich einen schrecklich schlechten Weg, der sich durch den Wald schlängelte. Er war schmal und schief, uneben und winklig, steinig und voller Löcher und an mehreren Stellen von Bächen durchschnitten. Als sie über den Waldweg hinflogen, hörte der Adler, daß sich der Junge darüber wunderte, was wohl auf einem solchen Wege gefahren sein könne.

»Auf diesem Wege ist die Ernte in Schober gefahren,« sagte der Adler.

Wieder konnte der Junge nicht umhin daran zu denken, welch munteres Leben es daheim war, wenn die großen, mit zwei starken Pferden bespannten Erntewagen, das Korn vom Felde nach Hause brachten. Der Knecht, der fuhr, saß kerzengerade oben auf dem Fuder. Die Pferde warfen sich stolz in die Brust, und die Kinder, die Erlaubnis bekommen hatten, auf das Fuder hinaufzuklettern, saßen da oben und schrien laut, halb fröhlich, halb ängstlich. Hier aber wurden schwere Baumstämme auf steilen Hügeln hinauf und hinunter gefahren. Die Pferde mußten sich wie gerädert fühlen, und der Kutscher war gewiß manch liebes Mal in heller Verzweiflung! »Ich fürchte, man hört nicht viel muntere Reden hier auf diesem Wege,« sagte der Junge.

Der Adler schwang sich mit mächtigen Flügelschlägen durch die Luft, und nach einer Weile langten sie am Ufer eines Elfs an.

Hier sahen sie einen Platz, der ganz mit Spänen, Holzstücken und Baumrinde bedeckt war. Der Adler hörte, wie sich der Junge darüber wunderte, daß es dort unten so unordentlich aussah.

»Hier hat die Ernte in Schobern gestanden,« rief der Adler.

Der Junge dachte daran, wie die Kornschober daheim in seiner Gegend dicht neben den Höfen errichtet wurden, als seien sie ihre beste Zier. Hier fuhr man die Ernte an ein einsames Flußufer hinab und ließ sie da liegen. »Ich möchte wohl wissen, ob wohl jemand hier in die Wildnis hinauskommt und seine Schober zählt und sie mit denen des Nachbars vergleicht!« sagte er.

Nach einer Weile kamen sie an den großen Elf Ljungan, der in einem breiten Tal floß. Und wie mit einem Schlage war alles so verwandelt, daß sie hätten glauben können, sie seien in ein anderes Land gekommen. Der Nadelwald war auf den steilen Hügeln oberhalb des Tals zurückgelassen, und die Abhänge waren mit weißstämmigen Birken und mit Pappeln bewachsen. Das Tal war so breit, daß sich der Elf an vielen Stellen zu einem See erweitern konnte. Die Ufer waren mit großen, stattlichen Höfen dicht bebaut. Als sie über das Tal hinflogen, hörte der Adler, wie sich der Junge darüber wunderte, daß die Wiesen und Felder, die da lagen, für eine so große Bevölkerung ausreichen konnten.

»Hier wohnen die Schnitter, die den Waldacker mähen,« sagte der Adler.

Der Junge dachte an die niedrigen Häuser und die eng zusammengebauten Höfe in Schonen. Hier wohnten die Bauern gleichsam auf Herrenhöfen. »Es scheint, als lohne sich die Arbeit im Walde gut,« sagte er.

Der Adler hatte beabsichtigt, nordwärts, quer über den Ljungan zu fliegen, aber als er eine Strecke über den Elf hinausgekommen war, hörte er, wie der Junge sich darüber wunderte, wer sich wohl der gefällten Baumstämme annehme, nachdem sie am Flußufer in Schobern aufgeschichtet waren. Da machte Gorgo kehrt und flog in östlicher Richtung den Fluß hinab. »Der Elf nimmt sich der Baumstämme an und führt sie nach der Mühle hinab,« sagte er.

Der Junge dachte daran, wie sorgfältig man daheim acht gab, daß auch nicht ein Korn verloren ging. Hier kamen nun die großen Mengen gefällter Baumstämme den Elf hinabgeschwommen, ohne daß jemand für sie sorgte. Er war überzeugt, daß nicht mehr als die Hälfte davon anlangte, wohin sie sollten. Einige schwammen mitten in der Stromfurche, und für die ging es ganz leicht, aber da waren andere, die am Ufer entlang trieben, und die stießen gegen Landzungen an, oder sie blieben in dem stehenden Wasser der Buchten liegen. In den Seen sammelten sich die Baumstämme zu solchen Mengen, daß sie die ganze Oberfläche bedeckten. Es sah so aus, als könnten sie da liegen und sich ausruhen, so lange sie wollten. An den Brücken stauten sie sich zuweilen, und in den Wasserfällen konnte es wohl geschehen, daß sie mitten durch brachen, in den Gießbächen gerieten sie zwischen den Steinen in die Klemme und türmten sich zu hohen, wackelnden Stapeln auf. »Ich möchte wohl wissen, wie lange diese Ernte gebraucht, um bis zur Mühle zu kommen,« sagte der Junge.

Der Adler flog langsam am Ljungan entlang. An vielen Stellen ruhte er auf den Flügeln, damit der Junge Zeit hatte zu sehen, wie die Erntearbeit hierzulande vor sich ging.

Als sie eine Strecke geflogen waren, kamen sie an einen Platz, wo die Flößer arbeiteten. Und der Adler hörte den Jungen zu sich selbst sagen, was das Wohl für Leute seien, die dort am Ufer entlang liefen.

»Die sorgen für das Getreide, das unterwegs aufgehalten ist,« rief der Adler.

Der Junge dachte daran, wie ruhig und still die Leute ihr Korn daheim zur Mühle fuhren. Hier mußten Männer mit langen Bootshaken in den Händen am Ufer entlang laufen, und nur mit Not und Mühe brachten sie die Baumstämme wieder flott. Sie wateten ins Wasser hinaus und sie wurden von Kopf zu Fuß naß. Sie sprangen von Stein zu Stein weit in die Gießbäche hinein, sie spazierten auf den schaukelnden Baumstämmen so ruhig umher, als bewegten sie sich auf ebener Erde. Es waren kühne und umsichtige Männer. »Wenn ich dies sehe, muß ich an die Schmiede im Bergwerkdistrikt denken, die mit dem Feuer umgingen, als könne es nicht den geringsten Schaden anrichten,« sagte der Junge. »Diese Flößer spielen mit dem Wasser, als seien sie Herren darüber. Es sieht so aus, als hätten sie es unterjocht, so daß es ihnen nichts mehr anzuhaben wagt.«

Nach einer Weile hatten sie sich der Mündung des Elf genähert, und vor ihnen lag der Bottnische Meerbusen. Gorgo flog jedoch nicht geradeaus, sondern in nördlicher Richtung am Ufer entlang. Er war noch nicht weit geflogen, als sie unter sich ein Sägewerk sahen, das so groß war wie eine kleine Stadt. Während der Adler darüber hin und her schwebte, hörte er den Jungen zu sich selbst sagen, daß das ein großer und prächtiger Ort sei.

»Hier siehst du die große Sägemühle, die Svartrik heißt,« sagte der Adler.

Niels Holgersen dachte an die Windmühlen in seiner Heimat, die so friedlich mitten im Grünen lagen und ihre Flügel ganz langsam bewegten. Diese Mühle, wo die Waldernte gemahlen werden sollte, lag dicht am Ufer. Auf der See davor schwammen eine Menge Baumstämme, die einer nach dem andern mit eisernen Ketten eine schräge Brücke hinauf und in ein Haus geschleppt wurden, das einer großen Scheune glich. Was da drinnen mit ihnen geschah, konnte Niels nicht sehen, aber er hörte ein lautes Klappern und Bullern, und auf der andern Seite des Hauses kamen kleine, mit weißen Brettern hochbeladene Wagen herausgerollt. Die Wagen liefen auf blanken Schienen nach dem Zimmerplatz, wo die Bretter zu Stapeln aufgeschichtet wurden, die Straßen bildeten, so wie die Häuser in einer Stadt. An einer Stelle wurden neue Stapel gebaut, an einer andern Stelle wurden die alten heruntergerissen, und die Bretter an Bord von ein paar großen Schiffen geschafft, die da lagen und auf Ladung warteten. Es wimmelte hier von Arbeitern, und hinter dem Zimmerplatz lagen die Häuser, in denen sie wohnten.

»Hier wird ja so gearbeitet, daß der ganze Wald in Medelpad schließlich zersägt werden wird!« sagte der Junge.

Der Adler bewegte die Flügel ein wenig, und bald sahen sie ein neues, großes Sägewerk, das mit Sägemühle, Zimmerplatz, Hafenmole und Arbeiterwohnungen dem ersten ganz ähnlich war.

»Hier siehst du noch eine von den großen Mühlen. Sie heißt Kubikenburg,« sagte der Adler.

»Ich sehe, der Wald gibt mehr Ertrag, als ich mir vorstellen konnte,« sagte Niels. »Aber mehr Holzmühlen gibt es doch wohl nicht?«

Der Adler bewegte leise die Flügel und flog an ein paar Sägewerken vorüber, bis sie an eine große Stadt gelangten. Als der Adler hörte, wie sich der Junge darüber wunderte, was für eine Stadt das wohl sein könne, rief er ihm zu: »Das ist Sundsvall. Das ist der Hauptplatz des Bezirks.«

Der Junge dachte an die Städte unten in Schonen, die so alt und ernsthaft und grau aussahen. Hier oben in dem kalten Norden lag Sundsvall ganz drinnen in einer schönen Bucht und sah so lustig und strahlend aus. Es lag etwas weit Vergnüglicheres über dieser Stadt, wenn man sie von oben sah, denn in der Mitte ragte eine Gruppe hoher, steinerner Häuser auf, so prächtig, daß sie kaum in Stockholm ihresgleichen haben konnten. Rings um die steinernen Häuser herum war ein leerer Raum, und dann kam ein Kranz von hölzernen Häusern, die so traulich und freundlich inmitten kleiner Gärten lagen, jedoch ganz genau zu wissen schienen, daß sie viel geringer waren als die steinernen Gebäude, so daß sie sich nicht in ihre Nähe hinwagen durften. »Dies ist wohl eine reiche und mächtige Stadt,« sagte Niels. »Es ist doch nicht möglich, daß der magere Waldboden dies alles hervorgebracht haben kann?«

Der Adler bewegte die Flügel und flog nach der Insel Alnö hinüber, die Sundsvall gerade gegenüber lag. Hier geriet der Junge ganz außer sich vor Verwunderung über alle die Sägewerke, die dort am Ufer entlang lagen, eins neben dem andern, und drüben auf dem Festlande lag auch Sägewerk neben Sägewerk; Zimmerplatz neben Zimmerplatz. Er zählte mindestens vierzig, aber er glaubte, daß es noch mehr seien. »Es ist doch sonderbar, daß es hier oben so aussehen kann,« sagte er. »So ein Leben und so eine Bewegung habe ich sonst nirgends auf der ganzen Reise gesehen. Unser Land ist doch ein wunderbares Land! Wohin ich auch komme, überall ist da etwas, wovon die Menschen leben können!«

XLI. Ein Morgen in Ångermanland.


Das Brot.

Sonnabend, 18. Juni.

Als der Adler am nächsten Morgen eine Strecke nach Ångermanland hineingekommen war, sagte er, heute sei er hungrig und müsse sich etwas zu fressen verschaffen. Er setzte Niels Holgersen auf einer mächtigen Tanne ab, die auf einem hohen Bergrücken stand, und flog davon.

Der Junge suchte sich einen guten Sitzplatz in einem gegabelten Ast und saß da und sah über Ångermanland hinab. Es war ein herrlicher Morgen, die Sonne vergoldete die Baumwipfel, ein leiser Wind bewegte die Nadeln wie im Spiel und der lieblichste Duft stieg aus dem Walde auf. Eine prachtvolle Landschaft lag vor Niels ausgebreitet, und ihm selber war froh und sorglos zumute. Niemand, meinte er, könne es besser haben, als er.

Er hatte eine freie Aussicht nach allen Seiten. Das Land westlich von ihm war voller Felsgipfel und Bergkuppen, die höher und wilder wurden, je ferner sie lagen. Östlich von ihm waren auch Bergabhänge, aber sie senkten sich und wurden niedriger, bis das Land unten am Meer ganz flach wurde. Überall blinkten Bäche und Flüsse, die, so lange sie zwischen den Bergen flossen, einen gefährlichen Lauf hatten mit Gießbächen und Wasserfällen, sich aber breit und blank ausdehnten, sobald sie sich dem Meeresufer näherten. Auch den Bottnischen Meerbusen konnte er sehen. In der Nahe des Landes war er mit Inseln übersät und von Landzungen ausgezackt, weiter draußen aber lag er klar und dunkelblau da wie ein Sommerhimmel.

»Dies Land sieht aus wie ein Bach, wenn es eben geregnet hat und eine Menge kleiner Rinnsale zu ihm hinabgelaufen kommen und Furchen in den Boden graben, die sich winden und krümmen und schließlich zusammenlaufen,« dachte der Junge. »Und schön ist es hier. Ich entsinne mich noch, daß der alte Lappe auf Skansen immer sagte, der liebe Gott habe Schweden, als er es auf der Erde ausbreitete, auf den Kopf gestellt. Die anderen lachten über ihn, aber er behauptete, wenn sie nur gesehen hätten, wie schön es da oben im Norden sei, so würden sie schon begreifen, daß es nicht von Anfang an beabsichtigt gewesen sei, daß ein solches Land so abseits liegen sollte. Und ich glaube wirklich, darin hat er recht gehabt.« Als der Junge sich an der Landschaft satt gesehen hatte, nahm er den Ränzel vom Rücken, holte ein Stück feines Weißbrot heraus und begann zu essen. »Ich glaube, ich habe niemals so gutes Brot gekostet,« sagte er. »Und wieviel ich noch davon habe! Das kann noch für mehrere Tage ausreichen. Gestern um diese Zeit ahnte ich nicht, daß ich in den Besitz eines solchen Reichtums kommen würde.«

Während er aß und kaute, dachte er daran, auf welche Weise er das Brot bekommen hatte. »Es schmeckt mir gewiß so gut, weil ich es auf eine so schöne Weise bekommen habe.«

Schon am vorhergehenden Abend hatte der Königsadler Medelpad verlassen, und kaum war er über die Grenze von Ångermanland gekommen, als Niels Holgersen ein Tal und einen Fluß erblickte, die an Größe alles übertrafen, was er bisher an Ähnlichem gesehen hatte.

Das Tal lag so breit zwischen den Bergrücken, daß der Junge auf den Gedanken kam, ob es nicht in früheren Zeiten von einem anderen Fluß gegraben sei, der viel größer und breiter war als der Elf, der es jetzt durchströmte. Das Tal mußte, als es fertig war, auf irgendeine Weise mit Sand und Erde angefüllt sein, nicht ganz, aber doch ein gutes Stück an den Bergen hinauf. Und durch den losen Sand hindurch hatte sich dann ein anderer Elf, der jetzt durch das Tal lief, und der ebenfalls sehr breit und wasserreich war, eine tiefe Furche gegraben. Er hatte seine Ufer auf das prächtigste zugeschnitten, bald waren es weiche Abhänge, die so köstlich blühten, daß es ganz bis zu dem Jungen hinauf rot und blau und gelb schimmerte, bald stiegen die Teile des Ufers, die so hart waren, daß das Wasser sie nicht wegwaschen konnte, gleich steilen Mauern und Türmen vom Flußufer auf.

Dort oben in der Höhe, wo Niels Holgersen flog, glaubte er auf einmal in drei verschiedene Arten Welten hinabsehen zu können. Ganz unten in der Tiefe des Tales, wo der Elf floß, war die eine Welt. Da wurden Baumstämme geflößt, da gingen Dampfschiffe von einer Brücke zur anderen, da klapperten Sägewerke, da wurden große Frachtschiffe beladen, da wurde der Lachs gefangen, da wurde gerudert und gesegelt, da flogen eine Menge Schwalben von ihren Nestern am Flußufer hin und her.

Aber ein Stockwerk höher, sozusagen zur ebenen Erde, das sich ganz bis an den Rand der Berge erstreckte, da war eine andere Welt. Da lagen Höfe, Dörfer, Kirchen, da bestellten die Bauern ihre Äcker, da graste das Vieh, da grünten die Wiesen, da waren die Frauen in ihren kleinen Gemüsegärten beschäftigt, da schlängelten sich die Landstraßen, da brausten Eisenbahnzüge dahin.

Und dann, weit entfernt von diesem allen, hoch oben auf den waldbedeckten Bergkuppen, erblickte er eine dritte Welt. Da lag das Auerhahnweibchen auf seinen Eiern, da stand der Elch versteckt in dem tiefen Waldesdickicht, da lauerte der Luchs, da knabberte das Eichhörnchen, da dufteten die Tannen, da standen die Blaubeeren in Blüte, da schlug die Drossel ihre Triller.

Als Niels Holgersen das reiche Flußtal erblickte, fing er an, über Hunger zu klagen. Zwei Tage lang hatte er nichts zu essen bekommen, sagte er, und nun sei er ganz ausgehungert.

Gorgo konnte sich nicht darein finden, daß gesagt werden könne, der Junge habe es schlechter gehabt, als er mit ihm gereist sei, als bei den Wildgänsen, und er flog sogleich langsamer. »Warum hast du nicht früher davon gesagt?« fragte er. »Du sollst soviel zu essen haben, wie du nur willst. Du brauchst nicht zu hungern, wenn du einen Adler zum Reisekameraden hast.«

Gleich darauf gewahrte der Adler einen Bauern, der ganz unten am Ufer des Flusses ein Feld besäte. Das Korn war in einem Korb, der dem Mann vorn auf der Brust herabhing, und jedesmal, wenn der Korb leer war, holte er neues Saatkorn aus einem Sack, der am Ackerrain stand. Der Adler konnte sich wohl ausrechnen, daß der Sack voll von dem Besten war, was sich der Junge nur wünschen konnte, und er ließ sich hinabsinken.

Ehe aber der Adler noch den Boden erreicht hatte, entstand ein entsetzlicher Lärm rings um die beiden. Da kamen Krähen und Spatzen und Schwalben dahergeschossen und schrien ganz ohrenbetäubend, in dem Glauben, daß sich der Adler auf einen Vogel stürzen wolle. »Weg, weg, du Räuber! Weg, weg, du Vogelmörder!« riefen sie. Sie machten einen solchen Spektakel, daß der Bauer aufmerksam darauf wurde und herbeigelaufen kam. Da sah sich der Adler genötigt zu fliehen. Der Junge hatte nicht ein einziges Körnchen bekommen.

Es war ganz merkwürdig mit diesen kleinen Vögeln. Nicht genug, daß sie den Adler zwangen, zu fliehen, sie verfolgten ihn auch noch eine ganze Strecke das Tal entlang, und überall hörten die Leute ihr Geschrei, die Frauen kamen auf den Hofplatz hinaus und klatschten in die Hände, so daß es knallte wie Gewehrsalven, und die Männer kamen, die Büchse in der Hand, herbeigestürzt.

Und so erging es jedesmal, wenn sich der Adler auf die Erde herabsinken ließ. Der Junge hatte die Hoffnung, daß ihm der Adler Nahrung verschaffen könne, schon ganz aufgegeben. Er hatte nie gewußt, daß Gorgo so verhaßt und verabscheut war. Er war nahe daran, Mitleid mit ihm zu haben.

Nach einer Weile flogen sie über einen großen Bauerhof, wo die Hausfrau offenbar einen großen Backtag gehabt hatte. Sie hatte eine Platte mit frischgebackenem Weißbrot zum Abkühlen auf den Hofplatz gestellt, und stand selbst daneben und gab acht, daß weder der Hund noch die Katze kamen und die Brote stahlen.

Der Adler ließ sich auf den Hof hinab, aber er wagte nicht, sich gerade vor den Augen der Bäuerin niederzulassen. Er flog ratlos hin und her. Ein paarmal war er ganz dicht über dem Schornstein, flog aber wieder in die Höhe.

Aber dann gewahrte die Bäuerin den Adler. Sie erhob den Kopf und verfolgte ihn mit den Augen. »Wie sonderbar sich doch der Vogel gebärdet!« sagte sie. »Ich glaube, er will eins von meinen Weißbroten haben!«

Es war eine schöne Frau, groß und blond mit einem offenen und fröhlichen Gesicht. Sie lachte so herzlich, nahm ein Brot von der Platte und hielt es hoch über ihrem Kopf. »Wenn du das haben willst, so nimm es!« sagte sie.

Der Adler konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber er war sich doch gleich klar darüber, daß sie ihm das Brot schenken wollte. In sausender Fahrt schoß er herunter, schnappte nach dem Brot und hob sich wieder in die Luft empor.

Als der Junge den Adler das Brot ergreifen sah, traten ihm Tränen in die Augen. Teils weinte er aus Freude, weil er nun mehrere Tage nicht zu hungern brauchte, teils war er gerührt darüber, daß die Bäuerin dem wilden Raubvogel ihr Brot gegeben hatte.

Und während er nun hier in dem Tannenwipfel saß, konnte er, sobald er nur wollte, die große, blonde Frau vor sich sehen, wie sie da auf dem Hofplatz stand und das Brot in die Höhe hob.

Sie wußte sicher, daß der große Vogel ein Königsadler war, ein Räuber, den die Leute sonst mit scharfen Schüssen begrüßten, und sie sah wohl auch den wunderlichen Wechselbalg, den er auf dem Rücken trug, aber sie hatte sich nicht daran gekehrt, wer sie waren; sobald sie begriff, daß sie hungrig waren, teilte sie ihr gutes Brot mit ihnen.

»Wenn ich jemals wieder ein Mensch werde,« dachte der Junge, »so will ich hinaufreisen und sehen, daß ich die schöne Bäuerin an dem großen Elf finde, und dann will ich ihr danken, weil sie so gut gegen uns gewesen ist.«

Waldbrand

Während Niels Holgersen noch mit seinem Frühstück beschäftigt war, spürte er einen schwachen Brandgeruch, der von Norden kam. Er wendete sich gleich nach dieser Seite um und sah eine ganz dünne Rauchsäule wie einen weißen Nebel von einer bewaldeten Bergkuppe aufsteigen, nicht von der nächsten, sondern von der zweiten aus der dahinterliegenden Bergreihe. Es sah merkwürdig aus, dieser Rauch mitten in dem wilden Wald, aber es war ja möglich, daß dort eine Sennhütte lag, und daß die Sennerinnen ihren Morgenkaffee kochten.

Sonderbar war es doch, wie der Rauch zunahm und sich ausbreitete. Von einer Sennhütte konnte er nicht kommen, aber es waren vielleicht Köhler im Walde. Auf Skansen hatte er eine Köhlerhütte und einen Kohlenmeiler gesehen, und er hatte gehört, daß es etliche davon hier in diesen Wäldern gäbe. Aber sonst hatten die Köhler doch nur im Herbst und im Winter brennende Meiler.

Der Rauch nahm mit jedem Augenblick zu. Jetzt wogte er über die ganze Bergkuppe hin. Es war ja gar nicht möglich, daß ein Kohlenmeiler so viel Rauch geben konnte! Irgendwo mußte eine Feuersbrunst sein, denn eine Menge Vögel flogen auf und zogen nach der nächsten Bergkuppe hinüber. Habichte und Auerhähne und andere Vögel, die so klein waren, daß man sie unmöglich erkennen konnte, flohen vor dem Brande.

Die kleine, weiße Rauchsäule war zu einer schweren, weißen Wolke herangewachsen, die sich über den Rand der Bergkuppe wälzte und in das Tal hinabsenkte. Und aus der Wolke heraus flogen Funken und Rußflocken, und hin und wieder konnte man drinnen in dem Rauch auch eine rote Flamme sehen. Es mußte eine gewaltige Feuersbrunst da drüben ausgebrochen sein. Aber was in aller Welt brannte denn dort? Es konnte doch unmöglich ein großer Bauerhof im Walde versteckt liegen?

Aber es mußte auch mehr als ein Hof sein, was diese große Feuersbrunst verursachte. Jetzt kam nicht nur Rauch von der Bergkuppe herunter, sondern auch aus dem Tal, das er nicht sehen konnte, weil es von dem zunächstliegenden Bergrücken verdeckt wurde, stiegen große Rauchmassen auf. Es war nicht anders möglich, der Wald selbst mußte brennen.

Es ward dem Jungen schwer, den Gedanken in seinen Kopf hineinzubringen, daß der frische, grüne Wald brennen könne, aber es hing doch wohl so zusammen. Wenn der Wald aber wirklich brannte, da konnte das Feuer vielleicht auch zu ihm herüberkommen? Sehr wahrscheinlich war das ja nicht, aber es würde doch angenehm sein, wenn der Adler bald zurückkäme. Es war sicher am besten, hier wegzukommen. Schon allein der Brandgeruch, den er mit jedem Atemzuge einsaugen mußte, war unleidlich.

Welch ein entsetzliches Knattern und Krachen jetzt auf einmal! Es kam von der ihm zunächst liegenden Bergkuppe. Ganz oben stand dort eine Tanne, ebenso hoch wie die, auf der er saß. Sie war so hoch, daß sie über alle die andern Bäume herausragte. Eben noch stand sie errötend in der Morgensonne da, jetzt glühten auf einmal alle ihre Nadeln; das Feuer hatte sie erreicht. So schön war sie wohl nie zuvor gewesen, aber es war auch das letztemal, daß sie ihre Schönheit zeigen konnte. Sie war der erste Baum auf dieser Bergkuppe, der Feuer fing, und es war nicht zu begreifen, wie das Feuer bis zu ihr hatte gelangen können. War es auf roten Schwingen dahergeflogen, oder war es zischend am Boden entlang gekrochen wie eine Schlange? Das war nicht gut zu sagen, aber nun war es einmal da. Die ganze Tanne flammte auf wie ein Haufen Reisig.

So! Nun schlug weißer Rauch an verschiedenen Stellen der Kuppe durch. Der Waldbrand war Vogel und Schlange zugleich. Er konnte sich ein weites Stück durch die Luft schleudern, wie auch am Erdboden entlangkriechen. Er zündete den ganzen Wald auf einmal an.

Die Vögel flohen in wilder Hast. Gleich großen Rußflocken kamen sie aus dem Rauch herausgeflattert, flogen quer über das Tal und kamen nach dem Berg hinüber, auf dem der Junge saß. Ein Uhu setzte sich neben ihn in die Tanne, und gerade über ihm ließ sich ein Habicht auf einem Zweig nieder. Zu andern Zeiten wären es gefährliche Nachbarn gewesen, aber jetzt sahen sie ihn nicht einmal. Sie starrten nur in das Feuer und konnten wohl nicht begreifen, was da im Walde vor sich ging. Ein Marder kam auch in den Wipfel der Tanne hinaufgesprungen, stellte sich auf die äußerste Spitze eines Zweiges und sah mit seinen blanken Augen nach der brennenden Waldkuppe hinüber. Dicht neben dem Marder saß ein Eichhörnchen, aber die beiden schienen einander gar nicht zu sehen.

Jetzt wälzte sich das Feuer den Abhang hinunter ins Tal. Es fauchte und dröhnte wie ein brausender Sturm. Durch den Rauch hindurch konnte man die Flammen von Baum zu Baum fliegen sehen. Ehe eine Tanne in Brand geriet, wurde sie erst in einen dünnen Rauchschleier gehüllt, dann wurden alle Nadeln auf einmal rot, und dann begann es zu knistern und zu brennen.

Unten im Tal unter ihm floß ein kleiner Bach, dessen Ufer mit Erlen und kleinen Birken bekränzt war. Es sah aus, als wolle das Feuer hier haltmachen. Die Laubbäume gerieten nicht so schnell in Brand wie die Nadelbäume. Der Waldbrand blieb hier stehen wie vor einer Mauer, und konnte nicht weiterkommen. Er glühte und sprühte Funken und versuchte, nach dem Fichtenwald auf der andern Seite des Baches hinüber zu springen; aber es gelang ihm nicht.

Für eine Weile war das Feuer zum Stillstand gebracht, dann aber sprang eine lange Flamme nach der großen, abgestorbenen Fichte hinüber, die am Abhang wuchs, und sofort stand sie in hellen Flammen. Und damit war das Feuer über den Bach hinübergelangt. Die Hitze war so stark, daß jeder Baum am ganzen Abhang bereit war. Feuer zu fangen. Und mit Brausen und Bullern wie der heftigste Sturm und der wildeste Wasserfall flog der Waldbrand zur Bergkuppe hinauf.

Da flogen der Habicht und der Uhu davon, und der Marder schoß von dem Baum herunter. In wenigen Augenblicken würde das Feuer den Wipfel der Fichte erreicht haben. Der Junge mußte wohl auch sehen, daß er herunterkam. Aber es war nicht leicht, an dem hohen, geraden Stamm der Tanne herabzuklettern. Er hielt sich daran fest, so gut er konnte; ließ sich lange Strecken wie von einem Zweig zum andern gleiten und stürzte schließlich heftig zu Boden. Aber er hatte keine Zeit, um nachzufühlen, ob er sich verletzt hatte. Es galt jetzt zu entkommen. Gleich einem zischenden Blitz schlug das Feuer in die Fichte. Der Boden unter ihm war heiß und fing an zu rauchen. An der einen Seite neben ihm rannte ein Luchs, an der andern ringelte sich eine lange Kreuzotter und dicht neben der Kreuzotter gluckte eine Birkhenne, die mit ihren kleinen flaumigen Jungen davon eilte.

Als die Flüchtlinge den Abhang hinunter und in das Tal gekommen waren, stießen sie auf Leute, die ausgezogen waren, um das Feuer zu löschen. Sie waren wohl schon lange dagewesen, aber der Junge hatte so beharrlich nach der andern Richtung gestarrt, aus der das Feuer kam, daß er sie nicht bemerkt hatte. Auch hier unten in diesem Tal floß ein Bach, den ein breiter Rand von Laubbäumen umsäumte, und in diesem Schutz arbeiteten die Leute. Sie fällten die Nadelbäume, die den Erlen zunächst standen, schöpften Wasser aus dem Bach und gossen es auf den Erdboden und rissen Heidekraut und Maiblumen aus, damit sich das Feuer nicht durch das Gestrüpp seinen Weg bahnen sollte.

Auch sie dachten an nichts anderes als an den Waldbrand, der sich ihnen entgegenwälzte. Die fliehenden Tiere liefen ihnen zwischen den Beinen durch, aber sie sahen sie nicht. Sie schlugen nicht nach der Kreuzotter, sie suchten nicht die Birkhenne zu fangen, die dort am Bach mit den kleinen piepsenden Jungen hin und her lief, sie beachteten nicht einmal Däumling. Sie standen mit großen Fichtenzweigen da, die sie in den Bach getaucht hatten, und die sie offenbar als Waffen gegen das Feuer gebrauchen wollten. Es waren ihrer nicht gar viele. Es war ein merkwürdiger Anblick, wie sie so dastanden, um zu kämpfen, während alles andere flüchtete.

Als das Feuer mit Bullern und Dröhnen und unleidlicher Hitze und erstickendem Rauch den Abhang hinunterkam, bereit, über den Bach mit seiner Mauer aus Laubbäumen zu springen und nach dem andern Ufer hinüber zu gelangen, ohne auch nur haltzumachen, da wichen im ersten Augenblick die Menschen zurück, als könnten sie ihm keinen Einhalt gebieten. Aber sie flohen nicht weit; sie kehrten wieder um.

Mit gewaltiger Kraft stürmte der Waldbrand drauf los. Die Funken stürzten wie ein Feuerregen auf die Laubbäume nieder, die langen Flammen schlugen zischend aus dem Rauch heraus, als wenn der Wald sie auf der andern Seite einsöge.

Aber die Laubbäume hemmten das Feuer, und hinter ihnen arbeiteten die Menschen. Wo die Erde zu rauchen begann, holten sie Wasser in ihren Eimern und kühlten sie ab. Wenn ein Baum in Rauch eingehüllt wurde, griffen sie ihn mit eiligen Axtschlägen an, hieben ihn um und löschten die Flammen. Wo das Feuer im Heidekraut schwälte, schlugen sie es mit den nassen Fichtenzweigen nieder und erstickten es.

Der Rauch wurde so dicht, daß er alles einhüllte. Es war nicht zu sehen, wie es mit dem Kampf vorwärts ging, aber man konnte ja freilich wissen, daß er hart werden würde, und mehrmals war es nahe daran, daß der Brand sich weiter ausbreiten würde.

Aber endlich, nach einer Weile, nahm das heftige Knistern des Feuers ab, und der Rauch verteilte sich ein wenig. Da hatten die Laubbäume alle ihre Blätter verloren, die Erde unter ihnen war versengt, die Menschen waren schwarz von Rauch und in Feuer gebadet, aber dem Waldbrand war Einhalt getan. Er flammte nicht mehr. Weiß und weich glitt der Rauch am Boden hin, und eine Menge schwarzer Stangen tauchten daraus auf. Das war alles, was von dem prächtigen Wald übriggeblieben war.

Der Junge war auf einen Stein hinaufgeklettert, und dort hatte er gestanden und zugesehen, wie das Feuer gelöscht wurde. Aber jetzt, wo der Wald gerettet war, begann für ihn die Gefahr; der Uhu und der Habicht richteten auf einmal ihre Blicke auf ihn.

Da hörte er eine wohlbekannte Stimme seinen Namen rufen. Der Königsadler Gorgo kam durch den Wald heruntergesaust. Und bald schaukelte der Junge hoch oben in den Wolken, von jeder Gefahr erlöst.

XXVII. Das Eisenwerk

Donnerstag, 28. April.

Fast den ganzen Tag, als die Wildgänse über den Bergwerkdistrikt hinflogen, wehte ein starker Westwind, und sobald sie versuchten, gen Norden zu steuern, wurden sie gen Osten geworfen. Akka aber glaubte, daß Reineke in dem östlichen Teil des Landes umherlief. Aus diesem Grunde wollte sie nicht nach der Seite fliegen, sondern kehrte einmal über das andere um und kämpfte sich mühselig nach Westen zurück. Auf diese Weise kamen die wilden Gänse nur langsam vorwärts, und gegen Nachmittag waren sie noch nicht weitergekommen als bis an den Bergwerkdistrikt von Westmanland. Gegen Abend legte sich der Wind plötzlich, und die müden Reisenden faßten Hoffnung auf eine Stunde ruhigen Fluges vor Sonnenuntergang. Aber da kam ein heftiger Windstoß gefahren, der trieb die Gänse vor sich her wie Bälle, und Niels Holgersen, der ganz sorglos dasaß und von keiner Gefahr träumte, ward von dem Gänserücken gehoben und in den leeren Luftraum geschleudert.

Der Junge war so klein und so leicht, daß er in dem mächtigen Sturm nicht gleich auf die Erde fallen konnte, er flog noch eine Weile mit dem Wind weiter und sank dann langsam und flatternd hinab, wie ein Blatt, das vom Baume weht.

»Ach, das hat keine Not!« dachte der Junge noch während er fiel. »Ich sinke so langsam hinab, als wäre ich ein Stück Papier. Der Gänserich Martin wird sich schon beeilen und mich wieder aufsammeln.«

Das erste, was er tat, als er auf die Erde hinabkam, war die Mütze vom Kopf zu reißen und damit zu winken, damit der große, weiße Gänserich sehen sollte, wo er war. »Hier bin ich, wo bist du? Hier bin ich, wo bist du?« rief er und war ganz erstaunt, daß der Gänserich Martin noch nicht neben ihm war.

Aber der große Weiße war nicht zu sehen, und er sah auch die Schar der Wildgänse sich nicht vom Himmel abzeichnen. Sie war ganz verschwunden.

Er fand das ja freilich ein wenig sonderbar, aber er wurde nicht bange oder unruhig. Es fiel ihm auch nicht einen Augenblick ein, daß Akka oder Martin ihn im Stich lassen könnten. Der heftige Windstoß hatte sie wohl mitgenommen. Sobald sie imstande waren, zu wenden, würden sie schon zurückkommen und ihn holen.

Aber was war denn das? Wo in aller Welt war er hingeraten? Bisher hatte er nur dagestanden und nach den Gänsen zum Himmel emporgesehen, aber jetzt blickte er plötzlich um sich. Er war nicht auf die flache Erde hinabgefallen, sondern in eine tiefe, breite Bergschlucht, oder was es nun sein mochte. Es war ein Raum so groß wie eine Kirche, mit fast lotrechten Felsenwänden nach allen Seiten und ganz ohne Decke. An der Erde lagen einige große Felsblöcke und dazwischen wuchsen Moos und Preißelbeergrün und kleine, niedrige Birken. Hier und da an den Felswänden waren vorspringende Ecken, von denen zerbrochene Leitern herabhingen. Nach der einen Seite erschloß sich ein finsteres Gewölbe, das tief in den Berg hineinzuführen schien.

Der Junge war nicht umsonst einen ganzen Tag über den Bergwerkdistrikt dahingeflogen. Er begriff sofort, daß die große Schlucht dadurch entstanden war, daß man in früheren Zeiten an dieser Stelle Erz in dem Berge gebrochen hatte. »Aber ich muß sofort versuchen, ob ich nicht wieder auf die Erde hinaufklettern kann,« dachte er, »denn sonst fürchte ich, daß meine Reisegefährten mich nicht finden können.«

Er wollte eben an die Felswand gehen, als jemand kam und ihn von hinten packte, und er hörte eine grobe Stimme in sein Ohr brummen: »Was für einer bist du denn?«

Der Junge wandte sich schnell um, und im ersten Schrecken glaubte er, einem großen Felsblock gegenüberzustehen, der mit graubrauner Bartflechte bedeckt war; dann aber gewahrte er, daß der Felsblock breite Füße hatte, auf denen er gehen konnte, und einen Kopf und Augen und einen großen, brummenden Mund.

Er konnte kein Wort der Entgegnung hervorbringen, aber das schien das große Tier auch gar nicht zu erwarten. Er warf ihn um, rollte ihn mit der Pfote hin und her und beschnüffelte ihn. Es sah so aus, als wolle es ihn verschlingen, da aber kam es auf andere Gedanken und rief: »Murre und Brumme, kommt schnell, meine Kleinen! Hier ist was Leckeres für euch!«

Augenblicklich kamen zwei zottige Junge dahergestürzt, sie standen schlecht auf den Beinen und hatten ein weiches Fell so wie junge Hunde.

»Was habt Ihr da gefunden, Bärenmutter? Dürfen wir sehen, was es ist?«

»Also Bären sind es, unter die ich geraten bin,« dachte der Junge. »Dann fürchte ich, braucht sich Reineke Fuchs keine Mühe mehr zu geben, hinter mir drein zu jagen.«

Die Bärin schob den Jungen mit der Tatze den Kleinen hin, und eins von ihnen schnappte ihn weg und lief mit ihm davon. Aber es biß nicht hart zu, denn es war ausgelassen und wollte mit dem Däumling spielen, ehe es ihn tot biß. Das andere lief hinterdrein, um den Jungen zu ergattern, und kam so watschelnd und taumelnd daher, daß es dem mit dem Jungen gerade auf den Kopf fiel. Und so rollten sie über- und untereinander und rissen sich und bissen sich und brummten.

Währenddessen entkam der Junge, lief an die Felswand und begann hinaufzuklettern. Aber die beiden Bärenkinder kamen hinter ihm drein gestürzt, kletterten schnell und behende den Berg hinauf, holten ihn ein und warfen ihn auf das Moos hinab wie einen Ball. »Jetzt weiß ich, was eine arme kleine Maus empfindet, wenn sie in die Krallen der Katze geraten ist,« dachte der Junge.

Er versuchte mehrmals zu entschlüpfen. Er lief tief in den alten Grubengang hinein, verbarg sich hinter den Steinen und kletterte in die Birken hinauf, aber die Bärenkinder fanden ihn, wo er sich auch versteckte. Sobald sie ihn eingefangen hatten, ließen sie ihn wieder los, damit er ihnen wieder fortlaufen sollte, denn dann hatten sie das Vergnügen, ihn wieder einzufangen.

Schließlich wurde der Junge so müde und hatte das Ganze so satt, daß er sich an die Erde warf. »Lauf! Lauf!« riefen die Bärenkinder, »sonst fressen wir dich!« – »Meinetwegen!« sagte der Junge, »ich kann nicht mehr laufen.« Sofort stürzten die Kleinen zu der Bärenmutter. »Mutter, Mutter, er will nicht mehr spielen,« klagten sie. – »Ja, dann nehmt ihn und teilt ihn unter euch, aber ganz gerecht,« sagte die Bärenmutter. Als der Junge das hörte, wurde er so bange, daß er gleich wieder zu spielen anfing.

Als es Schlafenszeit war und die Bärin ihre Jungen rief, damit sie dicht an sie herankriechen und sich schlafen legen sollten, hatten sie sich so köstlich unterhalten, daß sie morgen dasselbe Spiel spielen wollten. Sie nahmen den Jungen zwischen sich und legten die Tatzen auf ihn, so daß er sich nicht rühren konnte, ohne sie zu wecken. Sie schliefen bald ein, und der Junge dachte, nach einer Weile wolle er versuchen, zu entschlüpfen. Aber nie in seinem Leben war so mit ihm herumgeworfen und getründelt und gejagt und gedreht worden, und er war so todmüde, daß er auch einschlief.

Ein wenig später kam der Bärenvater die Felswand hinabgeklettert. Der Junge erwachte davon, daß er Steine und Kies losriß, indem er sich in die alte Grube hinuntergleiten ließ. Der Junge wagte ja kaum, sich zu rühren, aber er drehte und wendete sich so, daß er den Bären sehen konnte. Es war ein mächtig großer, starkgliedriger Bär mit gewaltigen Tatzen, großen, schimmernd weißen Eckzähnen und kleinen, boshaften Augen. Der Junge konnte nichts dafür, daß es ihm kalt den Rücken hinablief, als er den alten König des Waldes erblickte.

»Es riecht hier nach Menschen!« sagte der Bärenvater, sobald er zu der Bärenmutter gelangt war, und dabei brummte er wie ein Gewitter.

»Wie kannst du nur auf solche Dummheiten verfallen!« sagte die Bärenmutter und blieb ruhig liegen, wo sie lag. »Es ist ja eine Verabredung, daß wir den Menschen kein Leid mehr zufügen wollen. Aber käme einer hier hinab, wo ich und die Kleinen hausen, so würde nicht so viel von ihm übrigbleiben, daß du es riechen könntest.«

Der Bärenvater legte sich neben die Bärenmutter, schien aber nicht ganz zufrieden mit der Antwort zu sein, denn er konnte es nicht lassen zu schnobern und zu wittern.

»Laß doch das alte Geschnober noch!« sagte die Bärenmutter. »Du solltest mich doch nachgerade genug kennen, um zu wissen, daß ich nichts, was Unheil anrichten kann, in die Nähe der Kleinen kommen lasse. Erzähle mir lieber, was du unternommen hast? Ich habe dich eine ganze Woche nicht gesehen.«

»Ich bin ausgewesen und habe mich nach einer neuen Wohnung umgesehen,« sagte der Bärenvater. »Zuerst ging ich nach Wärmland hinüber, um unsere Verwandten im Neuwald zu fragen, wie sie sich da im Lande befänden, aber die Mühe hätte ich mir sparen können. Sie waren alle fort. Da war auch nicht ein Bärenlager im ganzen Walde.«

»Ich glaube, die Menschen wollen die ganze Erde für sich haben,« sagte die Bärenmutter. »Wenn wir auch Menschen und Vieh in Ruhe lassen und nur von Preißelbeeren und Ameisen und Pflanzen leben, so werden sie uns doch nicht erlauben, im Walde zu bleiben. Ich möchte wohl wissen, wo wir hinziehen und sicher sein könnten, daß man uns wohnen ließe.« – »Hier in dieser Grube haben wir uns ja so viele Jahre wohlgefühlt,« sagte der Bärenvater, »aber ich kann mich nicht darin finden, hier zu wohnen, nachdem das große Bullerwerk ganz dicht neben uns gebaut ist. Ich bin jetzt zuletzt östlich vom Dalelf gewesen, nach Garpenberg zu, um mich dort umzusehen. Auch dort waren viele alte Grubenlöcher und andere gute Schlupfwinkel, und es schien mir, als wenn man da so ziemlich Ruhe vor Menschen haben würde …«

Während der Bärenvater das sagte, erhob er sich und schnoberte nach allen Seiten. »Es ist sonderbar, jedesmal, wenn ich von Menschen spreche, spüre ich wieder den Geruch,« sagte er.

»Sieh selbst nach, wenn du mir nicht glauben willst,« sagte die Bärenmutter. »Ich möchte wohl wissen, wo ein Mensch hier versteckt liegen sollte.«

Der Bär machte die Runde durch die Höhle und schnoberte. Schließlich legte er sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder neben die Bärenmutter. »Aber du glaubst natürlich nicht, daß auch andere als du Nase und Ohren haben.«

»Man kann nie vorsichtig genug mit so einer Nachbarschaft sein, wie wir sie haben,« sagte der Bärenvater ruhig. Aber dann fuhr er mit einem Gebrüll in die Höhe. Es traf sich so unglücklich, daß eins der Bärenkinder seine Tatze auf Niels Holgersens Gesicht gelegt hatte, so daß der arme Junge nicht atmen konnte, sondern niesen mußte. Jetzt war es der Bärenmutter nicht mehr möglich, den Bärenvater ruhig zu halten. Er warf die Kleinen nach rechts und nach links und gewahrte den Jungen, ehe er sich noch erhoben hatte.

Er würde ihn sofort verschlungen haben, wenn sich die Bärenmutter nicht ins Mittel gelegt hätte. »Rühr‘ ihn nicht an! Das ist das Spielzeug der Kinder!« sagte sie, »Sie haben sich den ganzen Abend so herrlich mit ihm belustigt, daß sie es nicht übers Herz bringen konnten, ihn zu fressen, sondern ihn zu morgen aufheben wollten.« Der Bär aber schob die Bärin beiseite. »Mische dich nicht in Dinge, für die du kein Verständnis hast,« brüllte er. »Kannst du denn nicht merken, daß es nach Menschen riecht? Den fresse ich sofort auf, sonst spielt er uns noch irgendeinen schlimmen Streich.«

Er öffnete schon den Rachen, nun aber hatte der Junge Zeit gehabt, sich zu besinnen, und er hatte in größter Eile seine Streichhölzer aus dem Ranzen geholt – sie waren das einzige Verteidigungsmittel, das er besaß. Er strich ein Streichholz an seinen Lederhosen an, und als es mit heller Flamme brannte, steckte er es dem Bären in den Rachen.

Der Bär schnob, als er den Schwefelgeruch in die Nase bekam, und dann erlosch die Flamme. Der Junge hatte ein neues Streichholz bereit, aber merkwürdigerweise wiederholte der Bärenvater seinen Angriff nicht.

»Kannst du viele von den kleinen, blauen Rosen anzünden?« fragte er.

»Ich kann so viele anzünden, daß sie dem ganzen Walde den Garaus machen könnten,« erwiderte der Junge, denn er glaubte, daß er auf die Weise dem Bären bangemachen könne.

»Könntest du vielleicht Haus und Gehöft anzünden?« sagte der Bärenvater.

»Ja, das ist eine Kleinigkeit für mich,« prahlte der Junge und hoffte, daß der Bärenvater Respekt vor ihm bekommen würde.

»Das ist gut,« sagte der Bärenvater. »Dann sollst du mir einen Dienst leisten. Nun freue ich mich wirklich, daß ich dich nicht aufgefressen habe.«

Dann nahm der Bär den Jungen ganz vorsichtig zwischen die Zähne und kletterte mit ihm aus der Höhle heraus. Das ging erstaunlich leicht und schnell, obwohl er so groß und schwer war. Oben angelangt, lief er sogleich in den Wald. Auch das ging sehr schnell. Es unterlag keinem Zweifel, daß der Bärenvater wie dazu geschaffen war, sich den Weg durch dichte Wälder zu bahnen. Sein schwerer Körper schoß durch das Dickicht wie ein Boot durch das Wasser.

Der Bärenvater lief weiter, bis er an einen Hügel am Waldessaum anlangte, von wo aus er das große Eisenwerk sehen konnte. Dort legte er sich nieder, stellte den Jungen vor sich hin und hielt ihn mit beiden Tatzen fest.

»Sieh dir nun das große Bullerwerk da unten an,« sagte er zu dem Jungen.

Das Eisenwerk lag mit seinen vielen hohen und großen Gebäuden am Ufer eines Wasserfalls. Hohe Schornsteine spien schwarze Rauchwolken aus, das Feuer aus den Schmelzöfen flammte, und aus allen Fenstern und Luken schimmerte Licht. Dadrinnen waren Hämmer und Walzwerke im Gange, und sie arbeiteten mit so großer Kraft, daß die Luft widerhallte von Lärm und Gebuller. Rings um das Fabrikgebäude selbst lagen mächtige Kohlenschuppen, große Haufen von Schlacken, Speicher, Bretterstapel und Gerätschaftshäuser. Ein wenig weiterhin stand eine lange Reihe von Arbeiterwohnungen, nette Villen, Schulen, Versammlungshäuser und Läden. Aber all das andere war still und schien zu schlafen. Der Junge sah gar nicht nach der Seite, er hatte nur Auge für das Eisenwerk. Die Erde rings um das Werk war schwarz, der Himmel wölbte sich herrlich dunkelblau über den Flammen aus dem Schmelzofen, der Gießbach glitt weißschäumend vorüber, und das Werk selbst stand da und sandte Licht und Rauch und Feuer und Funken in die Nacht hinaus. Nie hatte er etwas so Gewaltiges gesehen.

»Willst du nun auch behaupten, daß du eine so große Einrichtung anstecken kannst?« fragte der Bär.

Da stand nun der Junge eingeklemmt zwischen den Bärentatzen und glaubte, das Einzige, das ihn retten könne, sei, daß der Bär hohe Gedanken von seiner Macht und Tüchtigkeit bekam. »Es ist ganz einerlei, ob es groß oder klein ist,« sagte er deswegen. »Ich kann es trotzdem zum Brennen bringen.«

»Dann will ich dir etwas sagen,« erwiderte der Bären-Vater. »Meine Vorfahren haben in dieser Gegend gehaust, seit hier im Lande Wald zu wachsen begann, und ich habe Jagdgefilde und Grasfelder und Höhlen und Schlupfwinkel von ihnen geerbt und habe hier mein Lebelang in Ruhe und Frieden gewohnt. Zu Anfang wurde ich nicht viel von den Menschen gestört. Sie gingen in die Berge und hackten darin herum und sammelten ein wenig Erz heraus, und hier unten am Gießbach hatten sie ein Hammerwerk und einen Schmelzofen. Aber der Hammer bullerte nur ein paarmal am Tage, und in dem Schmelzofen war nur ein paar Monate hintereinander Feuer.

Darin konnte ich mich allenfalls finden. Aber jetzt in den letzten Jahren, seit sie dies Bullerwerk hier gebaut haben, das ununterbrochen Tag und Nacht lärmt, kann ich es hier nicht mehr aushalten. Früher wohnten hier nur ein Verwalter und einige Schmiede, aber jetzt ist es hier so voll von Menschen, daß ich nie sicher vor ihnen sein kann. Ich glaubte schon, ich müßte von hier fortziehen, aber nun habe ich einen besseren Ausweg gefunden.«

Der Junge dachte bei sich, welchen Ausweg der Bärenvater wohl gefunden haben könne, aber er hatte keine Zeit zu fragen, denn nun nahm ihn der Bärenvater wieder zwischen die Zähne und trottelte mit ihm den Hügel hinab. Der Junge konnte nichts sehen, aber aus dem zunehmenden Lärm begriff er, daß sie sich dem Eisenwerk näherten.

Der Bärenvater kannte das Eisenwerk gut. Er war in manch einer dunklen Nacht da umhergegangen, hatte beobachtet, was da vor sich ging und sich selbst gefragt, ob denn die Arbeit nie unterbrochen werden würde. Er hatte die Mauern mit den Tatzen untersucht und gewünscht, so stark zu sein, daß er das ganze Gebäude mit einem einzigen Schlag zu Boden schlagen könne.

Es war nicht leicht, ihn von der schwarzen Erde zu unterscheiden, und da er sich obendrein in dem Schatten der Mauern hielt, war keine besondere Gefahr vorhanden, daß er entdeckt werden würde. Jetzt ging er ohne Furcht zwischen die Werkstätten hinein und kletterte auf einen Schlackenhaufen. Hier richtete er sich auf den Hinterbeinen auf, nahm den Jungen zwischen die Vordertatzen und hob ihn in die Höhe. »Versuche, ob du in das Haus hineinsehen kannst!« sagte er.

Drinnen im Eisenwerk waren sie beim Bessemerblasen. Oben unter der Decke hing eine große, runde Kugel, die mit geschmolzenem Eisen gefüllt war; in die preßten sie einen starken Luftstrom hinein. Und als die Luft mit einem schrecklichen Lärm in die Eisenmasse hineindrang, stoben große Schwärme von Funken daraus heraus. Die Funken kamen in Bündeln, in Garben, in langen Trauben. Sie hatten viele verschiedene Farben, waren groß und klein, fuhren gegen eine Wand und flogen über den ganzen großen Raum hinaus. Der Bärenvater ließ den Jungen das prachtvolle Schauspiel ansehen, bis sie mit dem Blasen fertig waren, und der rote, fließende, schön schimmernde Strahl aus der runden Kugel in die Eimer hinabströmte. Der Junge fand das, was er sah, so schön, daß er ganz außer sich geriet und nahe daran war zu vergessen, daß er zwischen zwei Bärentatzen gefangen saß.

Der Bärenvater ließ den Jungen auch in das Walzwerk hineingucken. Ein Arbeiter war gerade dabei, ein kurzes und dickes Stück Eisen aus einem Ofen zu nehmen und es unter eine Walze zu legen. Als das Eisen wieder aus der Walze herauskam, war es lang und zusammengedrückt. Sogleich ergriff ein anderer Arbeiter es und legte es unter eine härtere Walze, die es noch länger und dünner machte. So ging es von Walze zu Walze, wurde gereckt und gestreckt und schlängelte sich schließlich als viele Ellen langer, rotglühender Faden am Fußboden entlang. Aber während das erste Stück Eisen gepreßt wurde, nahmen sie ein neues aus dem Ofen und legten es unter die Walzen, und wenn es ein wenig in Bewegung gekommen war, holten sie ein drittes. Unablässig schlängelten sich neue, rote Fäden gleich zischenden Schlangen am Boden entlang. Der Junge fand, daß es schön war, das Eisen zu sehen, noch schöner aber, die Arbeiter zu beobachten, die leicht und behende die glühenden Schlangen mit ihren Zangen packten und sie unter die Walzen zwangen. Es war für sie gleichsam ein Spiel, das siedende Eisen zu handhaben. »Das muß ich sagen, dies ist eine Arbeit für Männer,« dachte der Knabe.

Der Bär ließ ihn auch in den Schmelzofen hineinsehen und in die Stangeneisenschmiede, und der Junge staunte mehr und mehr, als er sah, wie die Schmiede Feuer und Glut handhabten. »Die Leute sind nicht bange vor Feuer und Hitze,« dachte er. Rußig und schwarz waren sie auch. Dem Jungen erschienen sie wie eine Art Feuermenschen, so wie sie das Eisen nach Belieben zu biegen und formen vermochten. Er konnte sich nicht denken, daß gewöhnliche Menschen eine solche Macht haben konnten.

»So arbeiten sie hier Tag für Tag und Nacht für Nacht,« sagte der Bärenvater und legte sich auf die Erde nieder. »Du kannst wohl begreifen, daß das nicht zum Aushalten ist. Ein Glück, daß ich dem Treiben jetzt ein Ende machen kann.«

»Könnt Ihr das?« fragte der Junge. »Wie wollt Ihr das nur machen?«

»Ich habe mir gedacht, daß du die Gebäude hier anstecken sollst,« sagte der Bärenvater. »Auf die Weise würde ich den ewigen Spektakel los werden und könnte in meiner Heimat wohnen bleiben.«

Dem Jungen lief es kalt wie Eis über den ganzen Körper. Darum also hatte der Bärenvater ihn hierhergebracht! »Wenn du das Bullerwerk ansteckst, verspreche ich dir, daß du dein Leben behalten sollst,« sagte der Bärenvater. »Tust du aber nicht, was ich will, so wird es bald mit dir aus sein.«

Die großen Werkstätten hatten starke Mauern, und der Junge dachte, der Bärenvater kann soviel befehlen, wie er wollte, es war ja ganz unmöglich, ihm zu gehorchen. Gleich darauf aber sah er, daß es am Ende doch nicht so ganz unmöglich sein würde. Dicht neben ihm lag ein Haufen Stroh und Hobelspäne, den er leicht anstecken konnte, neben den Spänen befand sich ein Bretterstapel, und der Bretterstapel stieß an den großen Kohlenschuppen. Der Kohlenschuppen aber ging ganz bis an die Werkstätten heran, und wenn der zu brennen anfing, würde das Feuer bald auf das Dach des Eisenwerks hinüberspringen. Das Feuer würde alles ergreifen, was es an Brennbarem gab. Die Mauern würden vor Hitze bersten und die Maschinen würden zerstört werden.

»Nun, willst du, oder willst du nicht?« fragte der Bärenvater.

Der Junge wußte recht gut, daß er gleich antworten müsse, er wolle nicht, aber er wußte auch, daß die Bärentatzen, die ihn umklammert hielten, ihn mit einer einzigen Bewegung totdrücken würden. So sagte er denn: »Ich bitte um Erlaubnis, mich einen Augenblick zu besinnen.«

»Nun ja, meinetwegen,« sagte der Bärenvater. »Aber ich will dir auch sagen, daß gerade das Eisen den Menschen eine solche Übermacht über uns Bären gegeben hat, daß ich auch aus dem Grunde der Arbeit hier ein Ende machen möchte.«

Der Junge dachte, er wolle die Bedenkzeit dazu benutzen, um auf irgendeine Weise zu entkommen, aber er war so bange, daß er seine Gedanken nicht zu zwingen vermochte, den Weg zu gehen, den er wollte, statt dessen mußte er daran denken, welch eine gute Hilfe das Eisen für die Menschen war. Sie brauchten Eisen zu allem. Eisen war in dem Pflug, der die Furchen auf dem Felde zog, in der Axt, die das Holz schlug, in der Sense, die das Korn mähte, in dem Messer, das zu allem möglichen benutzt werden konnte. Eisen war in dem Zaum, mit dem das Pferd gelenkt wurde, in dem Schloß, das die Tür verschloß, in den Nägeln, die die Möbel zusammenhielten, in den Platten, mit denen das Dach gedeckt war. Die Büchse, die die wilden Tiere ausgerottet hatte, war aus Eisen und ebenso die Hacke, die das Erz in den Gruben gebrochen hatte. Mit Eisen waren die Kriegsschiffe bekleidet, die er in Karlskrona gesehen hatte, auf Eisenschienen rollten die Lokomotiven durch das Land, aus Eisen war die Nadel, die den Rock nähte, die Schere, die die Schafe schur, der Kessel, in dem das Essen gekocht wurde. Groß und Klein, alles, was nützlich und unentbehrlich war, bestand aus Eisen. Der Bärenvater hatte ja recht, daß das Eisen den Menschen ihre Übermacht über die Bären gegeben hatte.

»Na, willst du nun, oder willst du nicht?« fragte der Bärenvater.

Der Junge fuhr aus seinen Gedanken auf. Hier stand er und dachte an ganz unnötige Dinge und hatte noch nicht ausfindig gemacht, wie er entkommen sollte. »Ihr müßt nicht so ungeduldig sein,« sagte er. »Es ist eine wichtige Sache für mich, und ich muß Zeit haben, sie mir zu überlegen.«

»Ja, dann überlege nur noch eine Weile,« entgegnete der Bärenvater. »Das will ich dir aber doch sagen, das Eisen ist schuld daran, daß die Menschen so viel klüger geworden sind als wir Bären, und allein aus dem Grunde will ich ihm den Garaus machen.«

Als der Junge diese neue Frist erhalten hatte, wollte er sie benutzen, um einen Rettungsplan zu ersinnen. Aber die Gedanken gingen in jener Nacht, wie sie wollten, und sie fingen wieder an, sich mit dem Eisen zu beschäftigen. Nach und nach wurde es ihm klar, wieviel die Menschen hatten denken und grübeln müssen, ehe sie ausfindig gemacht hatten, wie sie das Eisen aus dem Erz herausschmelzen konnten, und er sah deutlich die alten, schwarzen Schmiede vor sich, wie sie über die Esse gebeugt standen und darüber nachgrübelten, wie sie es am besten einrichten konnten. Vielleicht weil sie solange gegrübelt hatten, war der Verstand bei den Menschen gewachsen, bis sie es schließlich dahin brachten, so große Fabriken zu bauen. Es unterlag wohl keinem Zweifel, daß die Menschen dem Eisen mehr schuldeten als sie selbst ahnten.

»Nun, wie steht es?« fragte der Bärenvater. »Willst du, oder willst du nicht?«

Der Knabe zuckte zusammen. Hier stand er und dachte überflüssige Gedanken und wußte noch nicht, wie er es anfangen sollte zu entkommen. »Es ist nicht so leicht, sich zu entscheiden, wie Ihr glaubt,« sagte er. »Ihr müßt mir Bedenkzeit geben.«

»Ja, ein wenig will ich noch auf dich warten,« sagte der Bärenvater. »Aber dann erhältst du keinen Aufschub mehr. Du mußt wissen, das Eisen ist schuld daran, daß die Menschen hier im Bärenlande wohnen, da wirst du wohl verstehen, daß ich ihm gern zuleibe will.«

Der Junge wollte die letzte Frist benutzen, um einen Ausweg zu finden, aber so unruhig und verwirrt, wie er war, gingen die Gedanken ihre eigenen Wege, und nun beschäftigten sie sich mit alledem, was er gesehen hatte, während er über den Bergwerkdistrikt dahinflog. Wie wunderbar wer es doch, daß es draußen in der Wildnis so viel Leben und Bewegung, so viel Arbeit gab! Wie leer und öde würde es hier ohne das Eisen gewesen sein! Er dachte an dies Eisenwerk, das, seit es erbaut war, so vielen Menschen Arbeit geliefert hatte, und das jetzt so viele Häuser voller Menschen um sich geschart und Eisenbahnen und Telegraphendrähte an sich gezogen hatte, und das …

»Nun, wie steht es?« fragte der Bär. »Willst du, oder willst du nicht?«

Der Junge strich sich mit der Hand über die Stirn. Er hatte keinen Ausweg gefunden, soviel aber wußte er, dem Eisen wollte er nichts Böses zufügen, es war eine so gute Hilfe für reich und arm, es schaffte so vielen Menschen im Lande Brot.

»Ich will nicht,« sagte er.

Der Bärenvater klemmte die Tatzen ein wenig härter zusammen, ohne etwas zu sagen.

»Ihr werdet mich nie dazu bewegen, ein Eisenwerk zu zerstören.« sagte der Junge. »Denn das Eisen ist zu einem so großen Segen, daß es unrecht ist, sich daran zu vergreifen.«

»Dann erwartest du wohl auch nicht, daß ich dich am Leben lasse?« fragte der Bär.

»Nein, das erwarte ich nicht,« sagte der Junge und sah dem Bären gerade in die Augen.

Der Bärenvater klemmte die Tatzen noch ein wenig fester zusammen. Es tat so weh, daß dem Jungen Tränen in die Augen traten, aber er kniff den Mund zusammen und sagte kein Wort.

»Gut! Eins, zwei, dr…!« sagte der Bärenvater und hob langsam die eine Tatze, denn er hoffte bis zuletzt, daß der Junge sich ergeben werde.

Im selben Augenblick hörte der Junge etwas in der Nähe klirren, und er sah einen blanken Büchsenlauf ein paar Schritte von ihnen entfernt. Er wie auch der Bärenvater waren so von ihren eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen, daß sie nicht beachtet hatten, wie ein Mensch ganz dicht an sie herangeschlichen war.

»Bärenvater!« rief der Junge, »hört Ihr nicht, daß jemand den Hahn eines Gewehrs spannt? Lauft! Sonst werdet Ihr totgeschossen!«

Der Bärenvater machte sich schleunigst aus dem Staube, hatte aber doch Zeit genug, den Jungen mitzunehmen. Ein paar Schüsse knallten, als er davonstürzte, und die Kugeln pfiffen ihm um die Ohren, aber er entkam glücklich.

Wie der Junge jetzt da hing und aus dem Rachen des Bären herausbaumelte, fiel es ihm ein, daß er sich wohl noch nie so töricht benommen hatte wie in dieser Nacht. Hätte er nur geschwiegen, so wäre der Bär erschossen, und er selbst wäre frei gewesen. Aber er hatte sich so daran gewöhnt, den Tieren zu helfen, daß er tat, ohne darüber nachzudenken.

Als der Bärenvater eine Strecke in den Wald hineingekommen war, blieb er stehen und setzte den Jungen an die Erde. »Hab‘ Dank, kleiner Mann,« sagte er. »Die Kugeln hätten sicher besser getroffen, wenn du nicht gewesen wärest. Und nun will ich dir dafür einen Dienst erweisen. Solltest du jemals wieder einem Bären begegnen, so sage ihm nur, was ich dir jetzt zuflüstere. Dann rührt er dich nicht an.«

Damit flüsterte der Bär dem Jungen ein paar Worte ins Ohr und eilte davon, denn er glaubte zu hören, daß die Hunde und Jäger ihn verfolgten.

Der Junge aber stand allein im Walde, frei und unbeschädigt, und konnte kaum begreifen, wie das möglich war.

*

Die Wildgänse waren den ganzen Abend hin und her geflogen, hatten gespäht und gerufen, ohne jedoch Däumeling finden zu können. Sie suchten noch lange, nachdem die Sonne untergegangen war, und als es schließlich so dunkel wurde, daß sie sich hinstellen und schlafen mußten, waren sie sehr mißmutig. Alle ohne Ausnahme glaubten sie, der Junge habe sich im Fall verletzt und läge nun tot im Unterholz, wo sie ihn nicht sehen konnten. Aber am nächsten Morgen, als die Sonne über die Berge guckte und die wilden Gänse weckte, lag der Junge wie gewöhnlich mitten zwischen ihnen und schlief, und er konnte sich des Lachens nicht enthalten, als er erwachte und sie vor Erstaunen schreien und gackern hörte.

Sie waren so neugierig zu erfahren, was sich mit ihm zugetragen hatte, daß sie nicht auf die Weide fliegen wollten, ehe er alles erzählt hatte, was ihm begegnet war. Schnell und munter erzählte der Junge sein ganzes Abenteuer mit den Bären, aber dann war es, als wolle er nicht mehr erzählen. »Wie ich zu euch zurückgekommen bin, das wißt ihr wohl schon?« sagte er. – »Nein, wir wissen nichts. Wir glaubten, du hättest dich totgefallen.« – »Das ist doch sonderbar,« sagte der Junge. »Ja, als der Bärenvater von mir ging, kletterte ich in eine Tanne und schlief ein. Aber beim ersten Tagesgrauen erwachte ich davon, daß ein Adler über mich dahinsauste, mich in seine Fänge nahm und mich entführte. Ich dachte natürlich, jetzt sei es aus mit mir. Aber er tat mir nichts, flog nur hierher und ließ mich mitten zwischen euch fallen.«

»Sagte er nicht, wer er sei?« fragte der große, weiße Gänserich.

»Er war verschwunden, ehe ich auch nur danke hatte sagen können. Ich glaubte, Mutter Akka habe ihn gesandt, um mich zu holen.«

»Das ist doch sonderbar!« sagte der weiße Gänserich. »Bist du auch sicher, daß es ein Adler war?«

»Nie in meinem Leben habe ich einen Adler gesehen,« antwortete der Junge. »Aber er war so groß, daß ich ihm keinen geringeren Namen geben kann.«

Der Gänserich Martin wandte sich nach den Wildgänsen um, er wollte hören, wie die hierüber dachten. Aber sie standen da und sahen in die Luft hinauf, und es sah so aus, als dächten sie an ganz andere Dinge. »Wir dürfen aber doch nicht ganz vergessen, heute zu frühstücken,« sagte Akka und erhob die Flügel zu schnellem Flug.

XXXVI. Stockholm

Sonnabend, 7. Mai.

Vor einigen Jahren wohnte auf »der Schanze«, in dem großen Park bei Stockholm, wo man so viele merkwürdige Dinge gesammelt hat, ein altes Männchen namens Klement Larsson. Er stammte aus Helsingland und war nach der Schanze gekommen, um Volkstänze und andere alte Melodien auf seiner Violine zu spielen. Als Spielmann trat er hauptsächlich des Nachmittags auf, am Vormittag hatte er in der Regel die Aufsicht in einem der kleinen Bauerhäuser, die aus allen Teilen des Landes nach der Schanze geschafft sind.

Zu Anfang fand Klement, daß er in seinen alten Tagen besser gestellt sei, als er es sich jemals hatte träumen lassen, aber nach einiger Zeit fing er an, sich entsetzlich zu langweilen, namentlich wenn er die Aufsicht führen sollte. Es ging allenfalls an, wenn Leute kamen, um das Haus anzusehen, aber es konnte geschehen, daß Klement viele Stunden ganz allein dasaß. Dann befiel ihn ein solches Heimweh, daß er fürchtete, er werde sich gezwungen sehen, seine Stellung aufzugeben. Er war aber sehr arm und wußte, daß er daheim ins Armenhaus kommen würde. Daher suchte er so lange wie möglich auszuhalten, obwohl er mit jedem Tage, der verging, unglücklicher wurde.

Eines schönen Nachmittags in den ersten Maientagen hatte Klement einige Stunden frei und war auf dem Wege, der über einen steilen Hügel von der Schanze abwärts führt, als er einem Schärenfischer begegnete, der einen Kasten auf dem Rücken trug. Es war ein junger, rüstiger Mann, der nach der Schanze zu kommen pflegte, um Seevögel feilzubieten, die er lebendig gefangen hatte, und Klement hatte schon oft mit ihm geplaudert.

Der Fischer hielt Klement an, um zu fragen, ob der Vorsteher auf der Schanze zu Hause sei, und als Klement hierauf geantwortet hatte, fragte er seinerseits, was denn der Fischer in seinem Kasten habe. »Du darfst sehen, was ich habe,« sagte der Fischer, »wenn du mir dafür einen guten Rat geben und mir sagen willst, was ich für meinen Fang fordern kann.«

Er reichte Klement den Kasten. Der guckte erst einmal hinein und dann noch einmal und zog sich darauf schleunigst ein paar Schritte zurück. »Was in aller Welt ist denn das, Asbjörn?« fragte er. »Wo hast du den gekapert?«

Er mußte daran denken, daß ihm seine Mutter, als er noch klein war, von den »Männlein« erzählt hatte, die unter dem Estrich der Scheune wohnten. Er durfte nicht weinen und nicht unartig sein, denn dann wurden die Männlein böse. Als er erwachsen war, glaubte er, die Mutter habe dies mit den Männlein ersonnen, um ihn in Schock zu halten. Das war also nicht der Fall gewesen, denn dort in Asbjörns Kasten lag so ein Männlein.

Es war etwas von der Angst des Kindes bei Klement zurückgeblieben, und es lief ihm kalt den Rücken hinab, sobald er in den Kasten sah. Asbjörn merkte, daß er bange war, und fing an zu lachen, Klement aber nahm die Sache sehr ernst. »Erzähle mir doch, wo du ihn gefunden hast, Asbjörn,« sagte er. – »Ich habe ihm nicht aufgelauert,« sagte Asbjörn, »er ist zu mir gekommen. Ich fuhr heute morgen in aller Frühe hinaus und nahm meine Flinte mit ins Boot. Kaum war ich auf offener See, als ich einige Wildgänse erblickte, die mit lautem Geschrei von Osten kamen. Ich sandte ihnen einen Schuß nach, traf aber keine. Statt dessen stürzte dieser kleine Kerl herab und fiel so dicht bei dem Boot ins Wasser, daß ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu fangen.« – »Du hast ihn doch nicht verletzt, Asbjörn?« – »Nicht die Spur, er ist munter und gesund. Aber gleich nachdem er angeflogen kam, war er nicht bei Besinnung, und das benutzte ich, um ihm Hände und Füße mit einem Stück Bindfaden zusammenzubinden, damit er mir nicht entfliehen sollte. Denn ich dachte mir ja gleich, daß es etwas für die Schanze sein würde.«

Während der Fischer erzählte, wurde Klement merkwürdig unruhig. Alles, was er in seiner Kindheit von den Männlein gehört hatte, von ihrer Rachsucht gegen Feinde und ihrer Güte gegen Freunde, fiel ihm wieder ein. Wer einen von ihnen gefangen hatte, dem war es nie im Leben gut ergangen. »Du hättest ihm sofort seine Freiheit schenken sollen, Asbjörn,« sagte er.

»Fast hätte ich ihn wirklich wieder laufen lassen müssen,« sagte der Fischer. »Denn, denk‘ nur, Klement, die Wildgänse verfolgten mich bis nach Hause, und den ganzen Morgen flogen sie über der Schäre hin und her und schrien, als verlangten sie, daß ich ihn zurückgeben sollte. Und nicht genug damit, auch das ganze Vogelvolk draußen bei uns, Möwen und Seeschwalben und alle die anderen, die keinen ehrlichen Schuß Pulver wert sind, kamen und ließen sich auf der Schäre nieder und machten einen fürchterlichen Spektakel, und sobald ich aus dem Hause ging, umflatterten sie mich, so daß ich wieder umkehren mußte. Meine Frau bat mich, ihn laufen zu lassen, aber ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, daß er hierher, nach der Schanze sollte. Und da stellte ich denn eine von den Puppen der Kinder ins Fenster, versteckte den Kleinen ganz unten im Kasten und machte mich auf den Weg. Und die Vögel glaubten offenbar, daß er da am Fenster stünde, denn sie ließen mich gehen, ohne mich zu verfolgen.«

»Sagt er denn gar nichts?« fragte Klement. – »Ja, zuerst versuchte er, den Vögeln etwas zuzurufen, aber davon wollte ich nichts wissen, da hab‘ ich ihm einen Knebel in den Mund gesteckt.« – »Aber Asbjörn!« sagte Klement, »wie kannst du nur so gegen ihn handeln! Begreifst du denn nicht, daß er etwas Übernatürliches ist?« – »Ich weiß nicht, welcher Art er ist, das auszutüfteln überlasse ich anderen. Ich bin zufrieden, wenn ich nur gut für ihn bezahlt bekomme. Sag‘ du mir jetzt, Klement, was, meinst du, wird mir der Doktor auf der Schanze für ihn geben?«

Klement besann sich lange, ehe er antwortete. Aber es hatte ihn eine so sonderbare Unruhe um des Kleinen willen befallen. Es war ganz, als stünde seine Mutter neben ihm und sagte, er müsse immer gut gegen die Männlein sein. »Ich weiß nicht, was es dem Doktor da oben belieben mag, dir zu bezahlen, Asbjörn,« sagte er. »Aber wenn du ihn mir lassen willst, so will ich dir zwanzig Kronen dafür bezahlen.«

Als der Spielmann die große Summe nannte, sah Asbjörn ihn mit grenzenlosem Staunen an. Er dachte, Klement glaube, daß der Kleine eine heimliche Macht besitze und ihm von Nutzen sein könne. Er war keineswegs sicher, daß der Doktor eine so hohe Meinung von seinem Fang haben und ihm einen so hohen Preis dafür bezahlen werde. Und so nahm er denn Klements Anerbieten an.

Der Spielmann steckte seinen Kauf in eine seiner geräumigen Taschen, kehrte nach der Schanze zurück und ging in eine der Sennhütten, wo weder Besuch noch Aufsicht war. Er zog die Tür hinter sich zu, nahm den Kleinen heraus und legte ihn vorsichtig auf eine Bank; der war noch an Händen und Füßen gebunden und sein Mund war zugestopft.

»Höre jetzt, was ich sage,« begann Klement. »Ich weiß sehr wohl, daß Leute deiner Art nicht gern von Menschen gesehen werden, sondern lieber still umhergehen und die Dinge auf eigene Hand ordnen mögen. Darum habe ich gedacht, dir deine Freiheit zu geben, jedoch nur unter der Bedingung, daß du hier im Park bleibst, bis ich dir erlaube, von hier fortzugehen. Gehst du darauf ein, so nicke dreimal mit dem Kopf.«

Klement sah den Kleinen erwartungsvoll an, der aber rührte sich nicht.

»Du sollst es schon gut haben,« sagte Klement. »Ich will dir jeden Tag Essen hinstellen, und ich glaube, du wirst hier viel zu tun bekommen, so daß dir die Zeit nicht lang wird. Aber du darfst nirgends hinreisen, ehe ich dir die Erlaubnis dazu gebe. Wir können ein Zeichen verabreden. Solange ich dir Essen in einer weißen Schale hinsetze, sollst du hierbleiben. Stelle ich dir aber eine blaue Schale hin, so darfst du reisen.«

Wieder schwieg Klement und er wartete, daß der Kleine ein Zeichen geben sollte, der aber rührte sich nicht.

»Ja,« sagte Klement, »dann bleibt mir wohl nichts weiter übrig, als dich dem Herrn hier zu zeigen. Und dann wirst du in einen Glasschrank gesetzt, und alle Menschen in ganz Stockholm kommen, um dich zu sehen.«

Dies schien den Kleinen jedoch zu erschrecken, und kaum hatte Klement ausgeredet, als er das Zeichen gab.

»Das ist recht,« sagte Klement, nahm sein Messer und durchschnitt die Schnur, mit der die Hände des Kleinen gebunden waren. Dann ging er schnell auf die Tür zu.

Der Junge löste das Band um seine Knöchel und nahm den Knebel aus dem Munde, ehe er an etwas anderes dachte. Als er sich dann nach Klement Larsson umwandte, um ihm zu danken, war der schon verschwunden.

*

Klement war kaum zur Tür hinausgekommen, als er einem schönen und vornehmen alten Herrn begegnete, der sich offenbar auf dem Wege nach einem herrlichen Aussichtspunkt dort in der Nähe befand. Klement konnte sich nicht entsinnen, den vornehmen alten Herrn schon früher gesehen zu haben, der aber hatte Klement offenbar einmal bemerkt, als er Violine spielte, denn er hielt ihn an und ließ sich auf ein Gespräch mit ihm ein.

»Guten Tag, Klement,« sagte er. »Wie geht es dir? Du bist doch nicht krank? Ich finde, du bist in der letzten Zeit so mager geworden.«

Der alte Herr hatte etwas so unbeschreiblich Freundliches, daß Klement Mut faßte und ihm erzählte, wie sehr er unter dem Heimweh leide.

»Aber hör‘ einmal!« sagte der alte vornehme Herr. »Du sehnst dich nach Hause, wenn du in Stockholm bist? Das kann doch nicht möglich sein!«

Und der vornehme alte Herr sah beinahe beleidigt aus. Aber dann mochte ihm wohl einfallen, daß der, zu dem er sprach, nur ein unwissender alter Bauersmann aus Helsingland war, und da wurde er wieder so wie vorher.

»Du hast wohl noch nie gehört, wie Stockholm entstanden ist, Klement. Wüßtest du das, so würdest du verstehen, daß es nur eine Einbildung von dir ist, wenn du dich von hier wegsehnst. Komme mit mir nach der Bank da, dann will ich dir ein wenig von Stockholm erzählen.«

Als der vornehme alte Mann sich auf die Bank gesetzt hatte, sah er erst eine Weile auf Stockholm hinab, das in all seiner Pracht unter ihm ausgebreitet lag, und dann atmete er tief auf, als wolle er die ganze Schönheit der Stadt einatmen. Darauf wandte er sich an den Spielmann.

»Sieh einmal, Klement,« sagte er, und während er sprach, zeichnete er in dem Kiesgang zu ihren Füßen eine kleine Karte. »Hier liegt Uppland, und hier schiebt es nach Süden zu eine Landzunge vor, in die eine Menge Buchten einschneiden. Und hier kommt Sörmland mit einer anderen Landzunge, die ebenso eingeschnitten ist und schnurgerade nach Norden geht. Und hier kommt ein See von Westen her, der ist voller Inseln: das ist der Mälar. Und hier kommt von Osten her ein anderes Gewässer, das vor lauter Inseln und Schären kaum weiterkommen kann, das ist die Ostsee. Und hier, Klement, wo Uppland sich mit Sörmland begegnet, und der Mälarsee mit der Ostsee zusammentrifft, läuft ein kleiner Fluß, der heißt Norrström, und mitten im Norrström liegen drei Werder.

Anfangs waren diese Werder nichts weiter als gewöhnliche Werder mit ein paar Bäumen darauf, von der Art, wie sie noch heute zahlreich im Mälar liegen, und sie lagen lange Zeit ganz unbewohnt da. Eine gute Lage hatten sie ja freilich, da sie mitten zwischen zwei Gewässern und zwei Landschaften lagen, aber das beachtete niemand. Ein Jahr nach dem anderen ging dahin. Die Leute siedelten sich auf den Mälarinseln und draußen in den Schären an, aber die drei Werder im Strom bekamen keine Einwohner. Ausnahmsweise konnte es wohl einmal geschehen, daß ein Schiffer bei einem von ihnen anlegte und sein Zelt für die Nacht dort aufschlug.

Niemand aber blieb dauernd dort.

Es war schon spät im Sommer, und das Wetter war noch schön, obwohl die Abende bereits anfingen, dunkel zu werden. Der Fischer zog sein Boot an Land, legte sich daneben, den Kopf auf einem Stein und schlief ein. Als er erwachte, war der Mond schon lange aufgegangen. Er stand gerade über seinem Kopf und leuchtete gar prächtig, so daß es fast ganz hell war.

Der Mann fuhr in die Höhe und wollte eben das Boot ins Wasser schieben, als er eine Menge schwarzer Punkte sich draußen auf dem Meer bewegen sah. Es war eine große Schar Seehunde, die in voller Fahrt auf den Werder zukamen. Als der Fischer sah, daß die Seehunde scheinbar an Land kriechen wollten, duckte er sich nieder, um nach seinem Spieß zu suchen, den er immer im Boot bei sich hatte. Als er sich aber wieder aufrichtete, waren keine Seehunde mehr zu sehen; statt ihrer standen am Ufer des Sees die schönsten jungen Mädchen in schleppenden, grünen seidenen Gewändern und mit Perlenkränzen im Haar. Da begriff der Fischer, daß es Meerjungfrauen waren, die auf den öden Schären, weit draußen im Meer wohnten, und die nun Seehundkleider angelegt hatten, um an Land zu schwimmen und sich im Mondschein auf den grünen Werdern zu belustigen.

Ganz leise legte er den Spieß wieder hin, und als die Meerjungfrauen auf den Werder hinaufkamen, um zu spielen, schlich er hinterdrein und betrachtete sie. Er hatte gehört, daß die Meerjungfrauen so schön und anmutig sein sollten, daß niemand sie sehen könne, ohne von ihrer Schönheit bezaubert zu sein, und er mußte zugeben, daß dies keine Übertreibung war.

Als er ihrem Tanz unter den Bäumen eine Weile zugesehen hatte, ging er an den Strand hinab, nahm eines der Seehundkleider, die dort lagen, und versteckte es unter einem Stein. Dann kehrte er nach seinem Boot zurück, legte sich daneben und stellte sich schlafend.

Bald darauf sah er die Meerjungfrauen an den Strand hinab kommen, um die Seehundkleider anzuziehen. Anfangs war alles Spiel und Fröhlichkeit, bald aber verwandelte es sich in Jammer und Klagen, weil eine von ihnen ihr Gewand nicht finden konnte. Sie liefen alle am Ufer hin und her und halfen ihr suchen, keine aber fand es. Während sie so liefen und suchten, sahen sie, daß der Himmel hell wurde und daß der Tag nahe war. Da schien es, als könnten sie nicht länger bleiben, sie schwammen alle davon bis auf diejenige, die kein Seehundkleid hatte. Die blieb am Strande sitzen und weinte.

Der Fischer hatte ja freilich großes Mitleid mit ihr, aber er zwang sich, ruhig liegen zu bleiben, bis es heller Tag geworden war. Da stand er auf und schob das Boot in die See hinaus, und als er die Ruder schon erhoben hatte, tat er so, als erblicke er sie ganz zufällig. ›Was für eine bist denn du?‹ rief er. ›Bist du eine Schiffbrüchige?‹

Sie stürzte auf ihn zu und fragte, ob er nicht ihr Seehundkleid gesehen habe, der Fischer aber tat so, als verstehe er nicht einmal, wonach sie ihn fragte. Da setzte sie sich wieder hin und weinte, aber nun schlug er ihr vor, zu ihm in sein Boot zu kommen. ›Komm mit nach Hause in meine Hütte,‹ sagte er. ›Dann kann meine Mutter sich deiner annehmen. Du kannst doch nicht hier auf dem Werder sitzen bleiben, wo du weder ein Bett noch einen Bissen Essen bekommen kannst!‹ Und er sprach so gut, daß sie sich überreden ließ, zu ihm in das Boot zu kommen.

Der Fischer wie auch seine Mutter waren unbeschreiblich gut gegen die arme Meerjungfrau, und sie schien sich sehr wohl bei ihnen zu befinden. Mit jedem Tage wurde sie fröhlicher, sie half der Alten bei der Arbeit und war ganz so wie ein Fischermädchen, nur daß sie viel schöner war als alle die anderen. Eines Tages fragte der Fischer sie, ob sie seine Frau werden wolle, und dagegen hatte sie nichts einzuwenden; sie sagte sogleich ja.

Da rüstete man zur Hochzeit, und als die Meerjungfrau als Braut geschmückt werden sollte, zog sie ihr grünes, seidenes Kleid an und flocht den schimmernden Perlenkranz in ihr Haar, so wie sie gekleidet gewesen war, als der Fischer sie zum erstenmal gesehen hatte. In jenen Zeiten gab es in den Schären weder Pfarrer noch Kirche. Die Brautleute setzten sich in ein Boot und ruderten auf den Mälar und ließen sich in der ersten Kirche trauen, zu der sie kamen.

Der Fischer hatte seine Braut und seine Mutter im Boot und er segelte so gut, daß er allen anderen voraus war. Als er so weit gekommen war, daß er den Werder im Strom sehen konnte, wo er seine Braut gewonnen hatte, die nun so stolz und geschmückt an seiner Seite saß, konnte er sich eines Lachens nicht erwehren. ›Worüber lachst du?‹ fragte sie. – ›Ach, ich denke an die Nacht, als ich dein Seehundkleid versteckte,‹ antwortete der Fischer, denn nun fühlte er sich ihrer so sicher, daß er meinte, er brauche ihr nichts mehr zu verbergen. – ›Was sagst du da?‹ fragte die Braut. ›Ich habe doch nie ein Seehundkleid besessen.‹ Es war, als habe sie alles vergessen. ›Weißt du denn nicht mehr, wie du mit den Meerjungfrauen getanzt hast?‹ fragte er. – ›Ich weiß nicht, was du meinst,‹ sagte die Braut. ›Ich glaube, du hast über Nacht einen wunderlichen Traum gehabt.‹

›Wenn ich dir nun dein Seehundkleid zeige, wirst du mir dann glauben?‹ fragte der Fischer und steuerte im selben Augenblick auf die Insel zu. Sie gingen an Land und sie fanden das Gewand unter dem Stein, wo er es versteckt hatte.

Kaum aber sah die Braut das Seehundkleid, als sie es ihm entriß und sich über den Kopf warf. Es umschloß sie, als sei es lebend, und sie stürzte sich sofort in den Strom.

Der Bräutigam sah sie davon schwimmen; er sprang ihr nach ins Wasser, konnte sie aber nicht erreichen. Als er sah, daß er sie auf keine andere Weise zurückhalten konnte, griff er in seiner Verzweiflung nach dem Spieß und warf ihn nach ihr. Er traf besser, als er gewollt hatte, denn die arme Seejungfrau stieß einen klagenden Schrei aus und verschwand in der Tiefe.

Der Fischer blieb am Strande stehen und wartete darauf, daß sie wieder zum Vorschein kommen würde. Da aber sah er, daß sich ein milder Schein ringsumher über das Wasser verbreitete. Es strahlte in einer Schönheit, wie er nie zuvor etwas Ähnliches gesehen hatte. Es schimmerte und glitzerte rosenrot und weiß, so wie die Farben im Innern einer Muschel schillern.

Als die glitzernden Wellen gegen das Ufer schlugen, war es dem Fischer, als wenn auch die sich veränderten. Sie waren voller Blumen und Duft, ein milder Glanz lag über ihnen, so daß sie eine Schönheit erhielten, wie sie sie nie zuvor besessen hatten.

Und er verstand, woher dies alles kam. Denn mit den Seejungfrauen verhält es sich so, daß, wer sie sieht, sie schöner finden muß als alle anderen, und als sich nun das Blut der Meerjungfrauen mit dem Wasser vermischte und an den Ufern hinaufschlug, ging ihre Schönheit auch auf die Ufer über, und fortan mußten alle, die sie sahen, sie lieben und sich von Sehnsucht zu ihnen hingezogen fühlen.«

Als der vornehme alte Herr in seiner Erzählung so weit gekommen war, wandte er sich nach Klement um und sah ihn an, und Klement nickte ihm ernsthaft zu, sagte aber nichts, um die Erzählung nicht zu unterbrechen.

»Nun mußt du achtgeben, Klement,« fuhr der alte Herr fort, und es kam auf einmal ein schelmisches Aufblitzen in seine Augen, »daß seit jener Zeit die Leute anfingen, sich auf den Werdern niederzulassen. Zuerst waren es nur Fischer und Bauern, die sich da draußen ansiedelten, aber eines schönen Tages kamen der König und sein Jarl den Strom hinaufgefahren. Sie sprachen sogleich von den drei Werdern, und sie machten einander darauf aufmerksam, daß jedes Schiff, das in den Mälarsee hineinsegeln wollte, an ihnen vorüberfahren müsse. Und der Jarl sagte, hier müsse man ein Schloß vor das Fahrwasser legen, das man nach Belieben öffnen und schließen könne: die Handelsschiffe müßten hineingelassen und die Seeräuberflotten ausgeschlossen werden.

»Und siehst du, daraus wurde Ernst,« sagte der alte Herr und erhob sich und begann wieder mit seinem Stock im Sand zu zeichnen. »Auf der größten von den Inseln hier baute der Jarl eine Burg mit einem großen Wachtturm, der Kärnan genannt wurde. Und rings um den Werder baute er Mauern, wie du es hier siehst. Und hier nach Süden zu setzte er ein Tor in die Mauer und einen starken Turm darüber. Er baute Brücken zu den anderen Werdern hinüber und versah auch die mit hohen Türmen. Und draußen im Wasser, rings um das alles herum, errichtete er einen Kreis von Pfählen mit Schlagbäumen, die geöffnet und geschlossen werden konnten, so daß keine Schiffe ohne seine Erlaubnis vorübersegeln konnten.

Du siehst also, Klement, daß die drei Werder, die hier so lange unbeachtet gelegen haben, sehr bald eine starke Festung wurden. Aber nicht genug damit. Diese Küsten und Sunde ziehen Menschen an, und bald kamen von allen Seiten Leute herbei und siedelten sich auf den Werdern an. Um dieser Menschen willen erbaute der Jarl eine Kirche, die bald den Namen Storkyrka erhielt. Sie lag hier, dicht neben der Burg, und hier innerhalb der Mauern lagen die kleinen Hütten, die sich die Ansiedler zimmerten. Viel Staat war nicht damit zu machen, aber mehr war zu jener Zeit nicht erforderlich, um als Stadt zu gelten. Und die Stadt wurde Stockholm genannt, und so heißt sie noch heutigen Tages.

Und dann kam die Zeit, Klement, wo der Jarl nach seiner großen Arbeit zur Ruhe gehen mußte, und doch sollte es Stockholm nicht an Baumeistern fehlen. Es kamen Mönche ins Land – Schwarze Brüder nannten sie sich – und Stockholm zog sie an sich, so daß sie um Erlaubnis baten, sich dort ein Kloster bauen zu dürfen. Es wurde auch auf dem Stadtholm, auf der anderen Seite der Storkyrka gebaut. Und es kamen andere Mönche, die sich die Grauen Brüder nannten. Auch sie baten um Erlaubnis, in Stockholm zu bauen, aber es war wohl kein Platz zu ihrem Kloster auf dem großen Werder. Deswegen wurde es auf einem der kleineren errichtet, auf dem, der nach dem Malar hinaus liegt, und der seit jener Zeit Graamunkeholmen heißt. Der dritte Werder wurde von frommen Brüdern bebaut, die sich Heiligegeistbrüder nannten und sich hauptsächlich mit Krankenpflege beschäftigten. Sie bauten hier ein Krankenhaus, und nach ihnen heißt der Werder Helgandsholm.

Sieh, nun waren die drei Werder schon voller Häuser, Klement, aber es strömten noch immer Leute herbei, denn diese Küsten und Sunde sind, wie du weißt, so, daß sie die Menschen anziehen. Da kamen fromme Frauen vom Sankte-Klara-Orden, und baten um Baugrund. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als sich am nördlichen Ufer anzusiedeln, auf Nörrmalm, wie es hieß. Sie waren sicher nicht übermäßig zufrieden hiermit, denn über Nörrmalm läuft ein hoher Bergrücken, und dort hatte die Stadt ihren Galgenberg, so daß dies eine verachtete Gegend war. Trotzdem bauten die Klaraschwestern ihre Kirche und ihr großes Klostergebäude an dem Ufer, gerade unter dem Bergrücken. Und als sie sich erst in dieser Gegend niedergelassen hatten, bekamen sie bald Nachahmer. Ein gutes Stück nördlich von der Stadt, oben auf dem Bergrücken selbst, baute man ein Krankenhaus mit einer Kirche, die Sankt Jörgen geweiht wurde, und gerade unter dem Bergrücken wurde eine Kirche für Sankt Jakob errichtet.

Auch auf Södermalm, wo sich die Felsenklippe steil aus dem See erhebt, begann man zu bauen. Dort errichtete man eine Kirche zu Ehren der Jungfrau Maria.

Aber du mußt nicht glauben, daß nur Klosterleute nach Stockholm zogen, Klement. Da waren auch viele andere. Vor allem waren da eine Menge deutscher Kaufleute und Handwerker. Sie waren tüchtiger als die schwedischen und wurden gut aufgenommen. Sie ließen sich in der Stadt innerhalb der Mauern nieder, rissen die armseligen kleinen Häuser herunter, die schon dort standen und bauten neue, prächtige, steinerne Häuser. Aber es war nur ein wenig Platz in den Häusern, sie mußten sie dicht nebeneinander legen, mit den Giebeln nach den schmalen Gassen hinaus.

Ja, du siehst, Klement, Stockholm übte eine große Anziehungskraft auf die Menschen aus.«

Jetzt ward ein anderer Herr sichtbar, der schnell den Gang hinabgegangen kam, gerade auf die beiden zu. Aber der Herr, der mit Klement sprach, winkte mit der Hand, und der andere blieb in einiger Entfernung stehen. Der vornehme alte Herr kam wieder nach der Bank und setzte sich neben den Spielmann.

»Jetzt sollst du mir einen Gefallen tun, Klement,« sagte er. »Ich habe keine Zeit, länger mit dir zu sprechen, aber ich will dafür sorgen, daß dir ein Buch über Stockholm zugeschickt wird, und das sollst du von Anfang bis zu Ende durchlesen. Nun habe ich, sozusagen, den Grund von Stockholm für dich gelegt, Klement. Studiere nun selbst weiter und mache dich bekannt damit, wie die Stadt gelebt und sich verändert hat! Lies, wie die kleine, enge, mauerumschlossene Stadt auf den Werdern sich ausbreitete und zu diesem großen Häusermeer wurde, das wir hier unter uns sehen. Lies, wie der dunkle Turm Kärnan das schöne helle Schloß hier unten geworden ist, und wie die Kirche der Grauen Mönche die Grabstätte der schwedischen Könige wurde. Lies, wie der eine Werder nach dem anderen sich mit Gebäuden füllte! Lies, wie die Kohlgärten auf Södermalm und Nörrmalm zu Parks oder zu bebauten Stadtvierteln wurden! Lies, wie die Bergrücken abgetragen und die Sunde ausgefüllt wurden! Lies, wie der abgesperrte Tierpark der Könige die liebste Zufluchtsstätte des Volkes wurde! Du mußt dich bemühen, vertraut mit Stockholm zu werden, Klement. Diese Stadt ist nicht nur die Stadt der Stockholmer. Sie gehört dir und ganz Schweden.

Und wenn du dann von Stockholm liest, Klement, so denke daran, daß ich die Wahrheit gesprochen habe, und daß die Stadt die Kraft besitzt, alle an sich zu ziehen! Zuerst zog der König hierher, dann bauten die vornehmen Herren ihre Paläste hier. Darauf ward einer nach dem anderen angezogen, so daß Stockholm jetzt, wie du siehst, nicht mehr eine Stadt für sich selbst oder für die nähere Umgegend ist. Es ist eine Stadt für das ganze Land geworden.

Du weißt ja, Klement, daß in jeder Landgemeinde ein Gemeinderat abgehalten wird, in Stockholm aber wird der Reichstag für das ganze Volk abgehalten. Du weißt, daß im ganzen Lande in jeder Harde Richter angestellt sind, in Stockholm aber ist ein Gericht, das über alle die anderen das Urteil spricht. Du weißt, daß überall im Lande Reserven und Truppen sind, in Stockholm aber sitzen die, die den Befehl über das ganze Heer haben. Überall im Lande gehen Eisenbahnen, von Stockholm aus wird aber das Ganze geleitet. Hier ist die Oberhoheit für Geistliche, für Ärzte, für Lehrer, für Hardesvögte und Ortsvorsteher. Hier ist der Mittelpunkt dieses Landes, Klement. Von hier kommt das Geld, das du in deiner Tasche hast, von hier kommen die Briefmarken, die wir auf unsere Briefe kleben. Von hier kommt für einen jeden Schweden etwas. Und hier haben alle Schweden etwas zu tun. Hier braucht sich niemand fremd zu fühlen und sich nach Hause zu sehnen. Hier sind alle Schweden zu Hause.

Und wenn du von alledem liesest, was hier in Stockholm vereint ist, Klement, so vergiß nicht das letzte, was diese Stadt an sich gezogen hat. Das sind diese alten Bauerhäuser auf der Schanze. Das sind Spielleute und Märchenerzähler. Alles, was alt und gut ist, hat Stockholm hier nach der Schanze hinaufgezogen, um es zu ehren, und damit es draußen im Volk zu Ehren kommen soll.

Vor allen Dingen aber, Klemmt, vergiß nicht, daß, wenn du von Stockholm liest, du hier an diesem Platz sitzen mußt. Du sollst das muntere, glitzernde Spiel der Wellen und die strahlenden, grünen Küsten anschauen. Du mußt dafür sorgen, daß du von dem Zauber erfaßt wirst, Klement!«

Der schöne, alte Herr hatte die Stimme erhoben, so daß sie stark und gebieterisch klang, und seine Augen blitzten. Nun erhob er sich, machte eine Bewegung mit der Hand und verließ Klement. Und im selben Augenblick wurde es Klement klar, daß es ein sehr vornehmer Herr sein müsse, der mit ihm geredet hatte, und er verbeugte sich, so tief er konnte.

*

Am nächsten Tag kam ein königlicher Lakai mit einem großen, roten Buch und einem Brief an Klement, und in dem Briefe stand, daß das Buch vom König sei.

Von diesem Augenblick an war der kleine, alte Klement Larsson viele Tage lang ganz aus dem Häuschen, und es war fast unmöglich, ein vernünftiges Wort aus ihm herauszubringen. Als eine Woche vergangen war, ging er zu Doktor Hagelius und kündigte seine Stellung. Er sei gezwungen, nach Hause zu reisen. »Was hast du da zu suchen? Plagt dich noch immer das Heimweh?« fragte der Doktor, – »Ach nein,« sagte Klement, »damit hat es jetzt nichts mehr auf sich, aber ich muß trotzdem nach Hause.«

Klement war sehr mit sich zu Rate gegangen, denn der König hatte gesagt, er solle sich mit Stockholm vertraut machen und suchen, sich dort zurecht zu finden, aber Klement konnte es nicht aushalten, ehe er denen daheim nicht erzählt hatte, daß der König ihm dies gesagt habe. Er konnte nicht anders, er mußte daheim auf dem Kirchenhügel stehen und vornehm und gering erzählen, daß der König so gut gegen ihn gewesen sei, daß er auf derselben Bank mit ihm gesessen und ihm ein Buch geschenkt und sich Zeit gelassen habe, mit ihm, einem armen, alten Spielmann, eine ganze Stunde zu reden, um ihn von seinem Heimweh zu kurieren. Es war etwas Großes, es den Lappen und den Mädchen aus Dalarna hier auf der Schanze zu erzählen, aber das war doch nichts dagegen, es daheim zu erzählen!

Wenn Klement auch im Armenhause stranden sollte, so würde das nach diesem nicht so hart sein. Er war jetzt ein ganz anderer Mann als vorher, und würde auf ganz andere Weise geachtet und geehrt werden.

Und dies neue Sehnen wurde Klement zu stark. Er mußte zum Doktor und ihm sagen, daß er gezwungen sei, zu reisen.

XXXVII. Der Adler Gorgo


Im Felsental.

Hoch oben im lappländischen Gebirge, auf einem Felsenvorsprung, der über eine schroffe Bergwand hinausragte, lag ein alter Adlerhorst. Das Nest bestand aus Tannenzweigen, die schichtenweise quer übereinandergelegt waren. Jahr für Jahr war es erweitert und erhöht worden und lag nun dort auf seinem Felsgesims mehrere Ellen breit und fast so hoch wie eine Lappenhütte.

Der Grat, auf dem das Adlernest lag, türmte sich über einem ziemlich großen Tal auf, das im Sommer von einer Schar Wildgänse bewohnt wurde. Das Tal war ein ausgezeichneter Zufluchtsort für sie. Es lag so gut versteckt zwischen den Bergen, daß nur vereinzelte Leute davon wußten, selbst von den Lappen kamen nur wenige dorthin. Mitten im Tal lag ein kleiner, runder See, der reichlich Nahrung für die jungen Gänse lieferte, und an den Ufern, die voll von Erderhöhungen waren und an denen niedriges Weidengestrüpp und verkrüppelte Birken wuchsen, gab es die besten Brutplätze, die sich die Gänse nur wünschen konnten.

Seit undenklichen Zeiten hatten Adler dort oben auf dem Felsgrat gewohnt und Wildgänse unten im Tal. Jedes Jahr raubten die Adler einige von den Wildgänsen, sie hüteten sich jedoch, so viele zu rauben, daß die Wildgänse aus dem Tal verscheucht worden wären. Die Wildgänse ihrerseits hatten auch keinen geringen Nutzen von den Adlern. Räuber waren sie freilich, aber sie hielten andere Räuber fern.

Einige Jahre vor der Zeit, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen umherreiste, stand die alte Führergans Akka von Kebnekajse eines Morgens unten in dem Felsental und sah zu dem Adlerhorst hinauf. Die Adler pflegten kurz nach Sonnenuntergang auf die Jagd hinauszuziehen, und in allen den Sommern, die Akka in dem Tal gewohnt hatte, war sie jeden Morgen auf dem Posten gewesen und hatte acht gegeben, ob die Adler im Tale bleiben würden, um dort zu jagen, oder ob sie nach anderen Jagdgefilden hinausflogen.

Sie brauchte nicht lange zu warten, bis die beiden stattlichen Vögel die Felsplatte verließen. Schön, aber schreckeinflößend schwebten sie in die Luft hinaus. Sie schlugen die Richtung nach dem Flachlande ein, und Akka atmete erleichtert auf.

Die alte Führergans war jetzt zu alt, um Eier zu legen und Junge auszubrüten, und sie pflegte sich im Sommer die Zeit damit zu vertreiben, daß sie von einem Gänsenest zum anderen ging und Ratschläge in bezug auf das Ausbrüten und Aufziehen der Jungen erteilte. Sie hielt außerdem Ausguck nach den Adlern wie auch nach den Bergfüchsen, den Eulen und allen den anderen Feinden, die möglicherweise den Wildgänsen und ihrer Brut nachstellen konnten.

Um die Mittagszeit spähte Akka abermals nach den Adlern aus. Das hatte sie nun alle die Sommer, die sie dort im Tal gewohnt hatte, jeden Tag getan. Sie konnte es ihrem Fluge immer gleich ansehen, ob sie eine gute Jagd gehabt hatten, und dann fühlte sie sich in bezug auf ihr Volk beruhigt. Heute aber sah sie die Adler nicht zurückkehren. »Ich muß alt und stumpfsinnig geworden sein,« dachte sie, nachdem sie eine Weile gewartet hatte. »Jetzt müssen die Adler doch längst nach Hause gekommen sein.«

Am Nachmittag lugte sie wieder zu der Felswand hinauf und erwartete, die Adler auf dem schroffen Vorsprung sitzen zu sehen, wo sie ihre Nachmittagsruhe zu halten pflegten; und am Abend, um die Zeit, wo sie ihr Bad im Bergsee zu nehmen pflegten, spähte sie wieder nach ihnen aus, aber es gelang ihr nicht, sie zu entdecken. Wieder jammerte sie, daß sie alt werde. Sie war es so gewohnt, daß die Adler auf dem Felsgrat über ihr hausten, daher konnte sie es sich gar nicht denken, daß sie nicht wieder zurückgekehrt sein sollten.

Am nächsten Morgen war Akka rechtzeitig wach, um nach den Adlern auszulugen. Aber auch jetzt gewahrte sie sie nicht. Dahingegen vernahm sie in der Morgenstille einen Schrei, der wütend und klagend zugleich klang und aus dem Adlerhorst zu kommen schien. »Ob da oben im Adlernest wirklich ein Unglück geschehen sein sollte?« dachte sie. Sie breitete die Flügel aus und stieg so hoch, daß sie in das Adlernest hineinsehen konnte.

Da oben entdeckte sie nichts von dem Adlerpaar. In dem ganzen Nest war nur ein halbnacktes Junges, das da lag und nach Nahrung schrie.

Akka senkte sich langsam und zögernd zu dem Adlerhorst hinab. Es war ein unheimlicher Ort! Man konnte gleich sehen, was für Räuber da hausten. In dem Nest und auf der Felsenplatte lagen gebleichte Knochen, blutige Federn, Hasenköpfe, Vogelschnäbel und mit Federn bekleidete Schneehühnerfüße. Auch der junge Adler, der mitten in allen diesen Überbleibseln lag, sah widerlich aus mit seinem großen, weit aufgesperrten Schnabel, seinem plumpen, flaumigen Körper und seinen unfertigen Flügeln.

Schließlich überwand Akka ihr Grauen und ließ sich auf den Rand des Nestes nieder, sah sich dabei aber unruhig nach allen Seiten um, denn sie erwartete jeden Augenblick, die alten Adler heimkehren zu sehen.

»Gut, daß endlich jemand kommt!« rief der junge Adler. »Schaff‘ mir gleich was zu essen!«

»Na, na, so große Eile hat es wohl nicht!« sagte Akka. »Erzähle mir erst, wo dein Vater und deine Mutter sind!«

»Ja, wenn ich das nur wüßte! Sie sind gestern morgen fortgeflogen und haben mir als einzige Nahrung für die Zeit ihrer Abwesenheit nur eine Wanderratte dagelassen. Daß die längst verzehrt ist, kannst du dir doch wohl denken. Es ist unverschämt von Mutter, mich so liegen und hungern zu lassen.«

Nun begriff Akka, daß die alten Adler wirklich erschossen sein mußten, und sie dachte bei sich, wenn sie das Junge jetzt verhungern ließe, so würde sie in Zukunft die ganze Räuberbande los sein. Aber sie konnte sich doch nicht entschließen, so ein verlassenes Junges elendiglich umkommen zu lassen, wenn es in ihrer Macht stand, ihm zu helfen.

»Was sitzt du da und glotzt?« fragte der junge Adler. »Hörst du nicht, daß ich was zu fressen haben will?«

Akka breitete die Flügel aus und flog nach dem kleinen See unten im Talgrund hinab. Nach einer Weile kehrte sie mit einer Lachsforelle im Schnabel nach dem Adlerhorst zurück.

Der junge Adler geriet ganz außer sich vor Wut, als sie ihm den Fisch ins Nest legte. »Glaubst du, daß ich so was fresse?« schrie er, stieß den Fisch beiseite und hieb mit seinem scharfen Schnabel nach Akka. »Schaff‘ mir ein Schneehuhn oder eine Wanderratte, hörst du!«

Aber nun streckte Akka den Kopf vor und zwickte den jungen Adler gehörig in die Nackenhaut, »Daß du es weißt,« sagte die Alte, »wenn ich dir in Zukunft Futter verschaffen soll, so mußt du zufrieden sein mit dem, was ich dir geben kann. Dein Vater und deine Mutter sind tot, von denen kannst du also keine Hilfe mehr erwarten; wenn du aber Lust hast, hier zu liegen und zu verhungern, während du auf Schneehühner und Wanderratten wartest, so soll es mir recht sein!«

Nachdem Akka das gesagt hatte, flog sie gleich davon und ließ sich erst nach einer ganzen Weile wieder bei dem Adlerhorst sehen. Da hatte der junge Adler den Fisch verzehrt, und als Akka ihm einen neuen Fisch hinlegte, verschlang er ihn sofort, obwohl man es ihm gut anmerken konnte, daß er ihn ganz abscheulich fand.

Es wurde ein schweres Stück Arbeit für Akka. Die alten Adler ließen sich nie wieder blicken, und sie mußte nun allein dem Jungen alle die Nahrung beschaffen, die es nötig hatte. Sie brachte ihm Fische und Frösche, und diese Kost schien ihm nicht schlecht zu bekommen, denn es wurde groß und kräftig. Bald vergaß es seine Eltern, die Adler, und glaubte, daß Akka seine rechte Mutter sei. Akka ihrerseits liebte das Junge wie ihr eigenes Kind. Sie erteilte ihm eine gute Erziehung und gab sich Mühe, ihm seinen wilden Sinn und seinen Hochmut abzugewöhnen.

Nachdem ein paar Wochen vergangen waren, merkte Akka, daß die Zeit kam, wo sie mausere und folglich nicht imstande sein würde, nach dem Horst hinaufzufliegen. Da konnte sie dem jungen Adler während eines ganzen Monats kein Fressen hinaufbringen und er mußte elendiglich verhungern.

»Hör‘ einmal, Gorgo,« sagte Akka eines Tages zu dem jungen Adler. »Jetzt kann ich nicht mehr mit Fischen zu dir hinaufkommen. Es handelt sich nun darum, ob du den Mut hast, dich ins Tal hinunterzuwagen, so daß ich dir auch ferner Nahrung verschaffen kann. Du mußt jetzt wählen, ob du hier oben verhungern oder dich ins Tal hinunterwerfen willst, freilich kann dich das auch dein Leben kosten.«

Ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, stieg der junge Adler auf den Rand des Nestes. Er nahm sich nicht einmal die Mühe, die Entfernung mit dem Blick zu messen, sondern breitete die kleinen Flügel aus und flog hinunter. Er überschlug sich ein paarmal in der Luft, wußte aber doch seine Flügel so geschickt zu benutzen, daß er einigermaßen unbeschädigt unten im Tale anlangte.

Hier verbrachte nun Gorgo seinen Sommer zusammen mit den kleinen Gösseln und ward ihnen bald ein guter Kamerad. Da er sich selbst für ein Gössel hielt, gab er sich alle Mühe, so zu leben wie sie, und wenn sie in den See hinausschwammen, watete er hinter ihnen her, bis er nahe daran war zu ertrinken. Er schämte sich ganz schrecklich, daß er nicht schwimmen lernen konnte, und er ging zu Akka und beklagte sich. »Warum kann ich nicht ebensogut schwimmen lernen wie die anderen?« fragte er, – »Du hast zu krumme Zehen und zu große Klauen bekommen, während du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Aber darum brauchst du dich nicht zu grämen, du wirst trotzdem ein tüchtiger Vogel werden.«

Die Flügel des jungen Adlers wurden bald so groß, daß sie ihn tragen konnten, aber es währte doch noch bis zum Herbst, wo die jungen Gänse fliegen lernen sollten, ehe es ihm einfiel, daß er die Flügel zum Fliegen gebrauchen konnte. Aber dann kam eine stolze Zeit für ihn, denn bei diesen Übungen war er bald der erste. Seine Gefährten blieben nie länger oben in der Luft, als sie mußten, während er sich fast den ganzen Tag dort aufhielt und sich in der Kunst des Fliegens übte. Noch war es ihm nicht klar geworden, daß er von anderer Art war als die jungen Gänse, aber er konnte nicht umhin mancherlei zu bemerken, was ihn erstaunte, und er kam immer wieder mit Fragen zu Akka. »Warum laufen die Schneehühner und Wanderratten davon, sobald sich mein Schatten über dem Felsen zeigt?« fragte er. »Vor den anderen jungen Gänsen sind sie doch nicht so bange.« – »Deine Flügel sind zu groß geworden, während du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Das jagt den kleinen Tieren Furcht ein. Gräme dich aber deswegen nicht, du wirst doch ein tüchtiger Vogel werden!«

Nachdem der Adler Fliegen gelernt hatte, übte er sich auch, Fische und Frösche zu fangen, bald begann er aber auch darüber nachzugrübeln. »Woher kommt es, daß ich von Fischen und Fröschen lebe?« fragte er. »Das tut ja keins von meinen Geschwistern.« – »Das kommt daher, weil ich dir keine andere Nahrung bringen konnte, als du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Aber deswegen brauchst du dich nicht zu grämen! Du wirst trotzdem ein tüchtiger Vogel werden!«

Als die Wildgänse ihre Herbstreise antraten, flog Gorgo mit ihrer Schar. Er betrachtete sich beständig als zu ihnen gehörig. Aber die Luft war voll von Vögeln, die sich auf dem Wege nach Süden befanden, und es entstand eine große Bewegung unter ihnen, als Akka mit einem Adler in ihrem Gefolge erschien. Scharen von Neugierigen umkreisten fortwährend das Volk der Wildgänse und gaben ihre Verwunderung kund. Akka bat sie, zu schweigen, aber es war unmöglich, so viele böse Zungen im Zaum zu halten. »Warum nennen sie mich einen Adler?« fragte Gorgo wieder und wieder. Er fühlte sich tief beleidigt. »Können sie denn nicht sehen, daß ich eine Wildgans bin? Ich bin kein Vogelräuber, der seinesgleichen auffrißt! Wie kommen sie nur einmal auf den Einfall, mir einen so häßlichen Namen zu geben?«

Eines Tages flogen sie über einen Bauerhof hin, wo eine Menge Hühner auf dem Misthaufen scharrten. »Ein Adler! Ein Adler!« riefen alle Hühner und liefen davon, um Schutz zu suchen. Gorgo aber, der von den Adlern immer als von wilden Bösewichtern hatte reden hören, vermochte seinen Zorn nicht zu meistern. Er faltete die Flügel zusammen, stieß mit Blitzesgeschwindigkeit hinunter und schlug die Fänge in eins von den Hühnern. »Ich will dich lehren, daß ich kein Adler bin!« rief er wütend und hieb mit dem Schnabel auf sein Opfer ein.

Im selben Augenblick hörte er Akka hoch oben aus der Luft nach ihm rufen; er gehorchte sofort und flog hinauf. Die alte Wildgans kam ihm entgegengeflogen und erteilte ihm eine Züchtigung, »Was fällt dir ein?« rief sie, während sie mit dem Schnabel nach ihm schlug. »Hattest du etwa die Absicht, das arme Huhn zu zerreißen? Du solltest dich schämen!« Als aber der Adler die Züchtigung, ohne sich zu wehren, hinnahm, erhob sich unter den großen Vogelscharen ringsumher ein Sturm von Hohn und spöttischen Bemerkungen. Der Adler hörte es und wandte sich mit einem zornigen Blick gegen Akka, wie wenn er sie anfallen wolle. Aber er änderte schnell sein Vorhaben, warf sich mit starkem Flügelschlag in die Luft hinaus, stieg so hoch empor, daß kein Ruf ihn erreichen konnte, und segelte da oben umher, so lange die Wildgänse ihn noch sehen konnten.

Drei Tage später erschien er wieder in der Schar der Wildgänse.

»Jetzt weiß ich, wer ich bin,« sagte er zu Akka. »Und wenn ich ein Adler bin, so muß ich auch leben, wie es sich für einen Adler geziemt, aber deswegen, meine ich, können wir doch gute Freunde bleiben. Dich oder eine aus deiner Schar werde ich niemals angreifen.«

Aber Akka hatte ihren ganzen Stolz darin gesetzt, daß es ihr gelingen würde, einen Adler zu einem frommen und friedlichen Vogel zu erziehen, und sie konnte sich nicht darin finden, daß er auf seine eigene Art leben wollte. »Glaubst du, daß ich Freundschaft mit einem Vogelräuber halten werde?« sagte sie. »Lebe so, wie ich es dich gelehrt habe, dann darfst du, wie bisher, mit unserer Schar fliegen.«

Sie waren beide stolz und unbeugsam, und keines von beiden wollte nachgeben. So endete es denn damit, daß Akka dem Adler verbot, sich in ihrer Nähe blicken zu lassen, ja, sie war so böse auf ihn, daß niemand es wagte, in ihrer Gegenwart seinen Namen zu nennen.

Seit dieser Stunde zog Gorgo im Lande umher, einsam und von allen gescheut, wie es große Räuber sind. Ihm war oft finster zu Sinn, und sicherlich sehnte er sich gar manches Mal nach der Zeit zurück, wo er sich für eine Wildgans gehalten und mit den munteren jungen Gösseln gespielt hatte. Unter den Tieren erlangte er einen großen Ruf wegen seines Mutes und seiner Kühnheit. Sie pflegten zu sagen, er fürchte sich vor niemand außer vor seiner Pflegemutter, Akka. Sie wußten auch von ihm zu erzählen, daß er sich nie an einer Wildgans vergriffen habe.

In Gefangenschaft.

Gorgo war erst drei Jahre alt und hatte noch nicht daran gedacht, sich eine Frau zu nehmen und einen Hausstand zu begründen, als er eines Tages von einem Jäger gefangen und nach dem Freiluftmuseum Skansen verkauft wurde. Dort waren bereits zwei Adler. Sie wurden in einem Käfig aus eisernen Stangen und Stahldraht gefangen gehalten. Dieser Käfig stand im Freien und war so groß, daß man darin ein paar Bäume hatte pflanzen und einen ziemlich hohen Hügel aus Steinen errichten können, damit die Adler sich dort heimisch fühlen sollten. Trotz alledem aber gediehen die Vögel nicht. Sie saßen fast den ganzen Tag regungslos auf demselben Fleck. Ihr schönes, dunkles Federkleid war zerzaust und glanzlos, und ihre Augen starrten mit hoffnungslosem Sehnen in die Luft hinaus.

In der ersten Woche, nachdem Gorgo in die Gefangenschaft geraten war, fühlte er sich noch kräftig und lebendig, allmählich aber befiel ihn eine dumpfe Schlaffheit. Er blieb still auf demselben Fleck sitzen wie die anderen Adler, starrte in die Luft hinaus, ohne etwas zu sehen und wußte nichts davon, daß die Tage vergingen.

Eines Morgens, als Gorgo wie gewöhnlich in seinem Halbschlaf da saß, hörte er, daß ihn jemand außerhalb des Käfigs anrief. Er war so stumpfsinnig, daß er sich kaum entschließen konnte, die Augen dahin zu wenden, woher der Laut kam. »Wer ruft mich?« fragte er. – »Aber, Gorgo, kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin es ja, Däumling, der mit den Wildgänsen flog.« – »Ist Akka auch gefangen?« fragte Gorgo in einem Ton, als strenge er sich an, nach einem langen Schlaf seine Gedanken zu sammeln. – »Nein, Akka und der weiße Gänserich und die ganze Schar fliegen jetzt wahrscheinlich wohlbehalten oben in Lappland herum,« antwortete der Junge. »Nur ich bin hier gefangen.«

Während der Junge sprach, sah er, daß Gorgo den Blick von ihm abwandte und in die Luft hinausstarrte so wie vorher. »Königsadler!« rief der Junge. »Ich habe nicht vergessen, daß du mich einmal zu den Wildgänsen zurückgetragen und daß du das Leben des weißen Gänserichs geschont hast. Sage mir doch, ob ich dir nicht auf irgendeine Weise helfen kann!« Gorgo erhob kaum den Kopf. »Störe mich nicht, Däumling!« sagte er. »Ich sitze hier und träume, daß ich frei oben in der Luft umherschwebe. Ich mache mir nichts daraus, zu erwachen.« – »Du solltest dich ein wenig bewegen und achtgeben, was um dich her vorgeht,« ermahnte der Junge, »sonst, fürchte ich, wirst du bald ebenso elendig aussehen wie die anderen Adler.« – »Ich wollte, ich wäre schon so wie die. Sie gehen so völlig in ihren Träumen auf, daß sie nichts mehr stören kann,« sagte Gorgo.

Als die Nacht anbrach und alle Adler schliefen, vernahm man ein leises Kratzen an dem Stahldrahtnetz, das den Käfig überdachte. Die beiden alten, stumpfsinnigen Gefangenen ließen sich nicht durch das Geräusch stören, Gorgo aber erwachte. »Wer ist da? Wer ist da oben auf dem Dach?« fragte er.

»Ich bin es, Gorgo, – Däumling!« antwortete der Junge. »Ich sitze hier und feile den Draht durch, damit du hinausfliegen kannst.«

Der Adler hob den Kopf und konnte in der hellen Nacht sehen, wie der Junge dasaß und an dem Netz feilte, das über den Käfig gespannt war. Einen Augenblick huschte ein Schimmer von Hoffnung über sein Gesicht, gleich aber gewann die Hoffnungslosigkeit wieder die Überhand. »Ich bin ein großer Vogel, Däumling,« sagte er. »Wie glaubst du nur, daß du so viele Maschen durchfeilen kannst, daß ich entweichen könnte? Es ist am besten, wenn du aufhörst und mich in Frieden läßt.« – »Schlafe du nur weiter und kümmere dich nicht um mich!« erwiderte der Junge. »Ich werde weder heute nacht noch morgen nacht fertig, aber ich will trotzdem versuchen, dich zu befreien, denn hier gehst du ja ganz zugrunde.«

Gorgo schlief wieder ein, aber als er am nächsten Morgen erwachte, sah er gleich, daß eine Menge Maschen durchgefeilt waren. An dem Tage fühlte er sich gar nicht so schläfrig wie an den vorhergehenden Tagen. Er schlug mit den Flügeln und hüpfte auf den Ästen der Bäume umher, um die Steifheit aus den Gliedern zu vertreiben.

Eines Morgens in aller Frühe, gerade als das erste Morgenlicht am Himmel angezündet wurde, weckte Däumling den Adler. »Versuche jetzt einmal, Gorgo!« sagte er.

Der Adler sah in die Höhe. Däumling hatte wirklich so viele Maschen durchgefeilt, daß ein großes Loch in dem Stahldrahtnetz entstanden war. Gorgo schlug mit den Flügeln und schwang sich empor. Ein paarmal mißlang der Versuch und er fiel in den Käfig zurück, schließlich aber gelangte er glücklich ins Freie.

In stolzem Flug stieg er hoch über die Wolken empor. Der kleine Däumling saß da und sah ihm mit wehmütiger Miene nach und wünschte, daß jemand käme und ihm die Freiheit schenkte.

Niels Holgersen war jetzt ganz heimisch auf Skansen. Er hatte Bekanntschaft mit allen Tieren gemacht, die da waren, und hatte viele Freunde unter ihnen. Und er mußte ja einräumen, daß hier viel zu sehen und zu lernen war, so daß es ihm nicht schwer wurde, sich die Zeit zu vertreiben. Trotzdem wanderten seine Gedanken jeden Tag voll Sehnsucht hinaus zu dem Gänserich Martin und den anderen Reisegefährten. »Wäre ich nur nicht durch mein Versprechen gebunden,« dachte er, »so würde ich schon einen Vogel finden, der mich zu den Wildgänsen trüge!«

Es mag vielleicht wunderlich erscheinen, daß Klement Larsson dem Jungen seine Freiheit nicht wiedergegeben hatte, aber man muß bedenken, wie verwirrt der kleine Spielmann war, als er Skansen verließ. An dem Morgen, an dem er abreiste, hatte er allerdings daran gedacht, dem Jungen sein Essen in einem blauen Napf hinzustellen, unglücklicherweise konnte er aber keinen solchen finden. Dann kamen alle die Leute von Skansen, die Lappen, die Dalekarlier, die Zimmerleute und die Gärtner, um ihm Lebewohl zu sagen, und da hatte er keine Zeit mehr gehabt, einen blauen Napf zu beschaffen. Die Stunde zur Abreise kam heran und schließlich wußte er keinen anderen Ausweg, als einen der Lappen zu bitten, ihm behilflich zu sein. »Du mußt nämlich wissen,« sagte Klement, »hier auf Skanien wohnt eins von den ›Männlein‹, und dem pflege ich jeden Morgen Essen hinzustellen. Hier hast du ein paar Groschen; willst du mir den Gefallen tun, einen blauen Napf dafür zu kaufen und ihn morgen früh mit etwas Grütze und Milch unter die Treppe der Bollnäshütte stellen?« Der Lappe machte ein erstauntes Gesicht, aber Klement hatte keine Zeit, ihm die Sache näher zu erklären, denn er mußte nach dem Bahnhof.

Der Lappe ging auch wirklich in die Stadt, um den Napf zu laufen, da er aber keinen blauen finden konnte, der ihm für den Zweck passend erschien, kaufte er einen weißen, und darin stellte er gewissenhaft jeden Morgen Milch und Grütze hin.

So kam es denn, daß Niels Holgersen nicht von seinem Versprechen entbunden wurde. Er wußte, daß Klement fort war, aber er selbst durfte nicht weggehen.

In dieser Nacht sehnte er sich noch mehr als sonst nach der Freiheit, und das kam daher, daß jetzt allen Ernstes Sommer geworden war. Auf der Reise hatte er oft sehr unter Sturm und Regen gelitten, und in der ersten Zeit auf Skansen hatte er oft gedacht, es sei am Ende gar nicht so übel, daß die Reise unterbrochen war, denn er würde gewiß erfroren sein, falls er im Mai mit nach Lappland hinaufgekommen wäre. Jetzt aber war die Luft warm, die Erde war mit frischem Grün bedeckt, Birken und Pappeln trugen ein seidenweiches Blättergewand, die Kirschbäume, ja alle möglichen Obstbäume standen mit Blüten übersät da, die Stachelbeerbüsche hatten schon ganz kleine grüne Beeren, die Eichen wickelten mit großer Vorsicht ihre Blätter aus, Erbsen, Kohl und Bohnen wuchsen üppig auf den Gemüsebeeten. »Jetzt ist es gewiß auch da oben in Lappland gut und warm,« dachte der Junge. »In einer so schönen Morgenstunde wie heute möchte ich wohl auf Gänserich Martins Rücken sitzen. Es muß herrlich sein, jetzt in der warmen, stillen Luft umherzureiten und auf die Erde hinabzusehen, die nun mit grünem Gras und bunten Blumen geschmückt da liegt.«

Er saß da und dachte an dies alles, als der Adler plötzlich aus der Luft herunterstieß und sich neben ihn auf das Dach des Käfigs niederließ. »Ich wollte nur meine Flügel einmal versuchen, um zu sehen, ob sie auch noch taugten,« sagte Gorgo. »Du hast doch nicht geglaubt, daß ich dich hier in der Gefangenschaft zurücklassen wollte? Setz‘ dich jetzt auf meinen Rücken, dann will ich dich zu deinen Reisegefährten zurückbringen.«

»Nein, das ist unmöglich,« sagte der Junge. »Ich habe mein Wort gegeben, daß ich hier bleiben wolle, bis man mich freigibt,«

»Was für Dummheiten sind das?« entgegnete Gorgo. »Erst hat man dich gegen deinen Willen hierhergebracht, und dann hat man dich gezwungen, hier zu bleiben! Du kannst doch begreifen, daß man so ein Versprechen nicht zu halten braucht!« – »Das muß ich aber doch tun,« sagte der Junge. »Hab‘ Dank, daß du es so gut mit nur meinst, aber helfen kannst du mir nicht.«

»Kann ich dir nicht helfen?« erwiderte Gorgo. »Das will ich dir bald beweisen.« Und im selben Augenblick packte er Niels Holgersen mit seinen großen Fängen, schwang sich mit ihm zu den Wolken empor und verschwand in nördlicher Richtung.

XXXVIII. Über Gästrikland dahin


Der kostbare Gürtel.

Mittwoch, 15. Juli.

Ohne Aufenthalt flog der Adler nordwärts, bis er ein gutes Stück über Stockholm hinausgekommen war. Dort ließ er sich auf einen Hügel hinab und lockerte den Griff, mit dem er den Jungen hielt.

Aber kaum fühlte sich dieser frei, als er, so schnell er nur konnte, nach der Stadt zurücklief.

Da machte der Adler einen langen Sprung, holte Niels ein und legte seine Klaue auf ihn. »Ist es deine Absicht, wieder in dein Gefängnis zurückzukehren?« fragte er. – »Was geht das dich an? Ich kann doch wohl gehen, wohin ich will, ohne dich um Erlaubnis zu fragen,« sagte der Junge und versuchte zu entschlüpfen. Da packte ihn der Adler fest und sicher mit seinen starken Fängen, hob die Flügel und flog wieder nordwärts.

Nun flog der Adler mit dem Jungen über ganz Uppland hin und machte nicht eher halt, als bis er an einen großen Wasserfall bei Älvkarleby kam. Er ließ sich auf einem Stein nieder, der gerade unter dem brausenden Wasserfall lag, und ließ dann seinen Gefangenen wieder los.

Niels erkannte sogleich, daß es ganz unmöglich war, dem Adler hier zu entkommen. Von oben her kam die weiße Schaumwand auf sie herabgestürzt, und rings um sie brauste der Elf. Er war sehr erbost, daß er auf diese Weise gezwungen wurde, wortbrüchig zu werden. Er wandte dem Adler den Rücken zu und wollte kein Wort mit ihm reden.

Aber jetzt, wo der Adler den Jungen an eine Stelle niedergesetzt hatte, wo er ihm nicht entweichen konnte, erzählte er ihm, daß er von Akka von Kebbnekajse aufgezogen worden sei, daß aber jetzt Feindschaft zwischen ihm und seiner Pflegemutter herrsche. »Und nun verstehst du wohl, Däumling, weshalb ich dich zu den Wildgänsen zurückbringen will,« sagte er schließlich. »Ich habe sagen hören, du stündest in hoher Gunst bei Akka, und nun wollte ich dich bitten, den Frieden zwischen uns beiden zu vermitteln.«

Sobald der Junge begriff, daß ihn der Adler nicht nur aus Eigensinn fortgetragen hatte, wurde er wieder freundlich gegen ihn. »Ich würde dir gern in dieser Angelegenheit helfen,« sagte er, »aber ich bin ja durch mein Versprechen gebunden.« Und nun erzählte er seinerseits dem Adler, wie er in die Gefangenschaft geraten war, und daß Klement Larsson Skansen verlassen hatte, ohne ihm seine Freiheit zu schenken.

Aber der Adler wollte seine Pläne nicht aufgeben. »Hör‘ einmal, was ich dir sagen werde, Däumling!« begann er. »Meine Flügel können dich tragen, wohin du willst, und meine Augen können erspähen, was du auch suchst. Erzähle mir, wie der Mann aussah, der dir das Versprechen abgenommen hat, und ich will ihn aufsuchen und dich zu ihm bringen! Dann ist es deine Sache, daß du ihn dazu bringst, dich freizugeben!«

Niels Holgersen fand, daß dieser Vorschlag gut war. »Man kann merken, daß du in Akka einen guten Vogel als Pflegemutter gehabt hast, Gorgo,« sagte er. Dann beschrieb er Klement Larsson ganz genau und fügte hinzu, er habe auf Skansen gehört, der kleine Spielmann sei aus Hälsingeland.

»Gut, dann suchen wir ganz Hälsingeland ab von Lingbo bis zum Mellansee, vom Storberg bis Hornsland,« sagte der Adler. »Morgen, noch bevor es Abend ist, sollst du mit dem Mann reden.« – »Jetzt versprichst du gewiß mehr, als du halten kannst,« meinte der Junge. – »Ich wäre ein schlechter Adler, wenn ich das nicht vermöchte,« entgegnete Gorgo.

Als Gorgo und Däumling von Älvkarleby aufbrachen, waren sie gute Freunde, und Niels setzte sich nun zum Reiten auf dem Rücken des Adlers zurecht. Auf diese Weise hatte er wieder Gelegenheit, etwas von den Gegenden zu sehen, über die sie dahinflogen. Solange der Adler ihn in seiner Klaue gepackt hatte, war ihm das unmöglich gewesen. Es war eigentlich ein Glück für ihn gewesen, daß er nicht gewußt hatte, wo er war, denn wenn ihm jemand erzählt hätte, daß er an jenem Tage über so schöne Orte wie die Uppsalaer Hügel, die große Österbyer Fabrik, die Grube von Dannemora und das alte Schloß Örbyhus hingeflogen war, so würde er sich gewiß sehr gegrämt haben, daß er von allem diesen nichts zu sehen bekommen hatte.

Der Adler trug ihn nun in schnellem Flug über Gästrikland hin. In dem südlichen Teil war nicht viel zu sehen, was seinen Blick hätte fesseln können. Dort breitete sich eine Ebene aus, die fast überall mit Tannenwäldern bestanden war. Aber weiter nach Norden zu zog sich quer durch das Land von der Dalagrenze bis an die botnische Bucht ein schöner Landstrich mit bewaldeten Hügeln, blanken Seen und brausenden Flüssen. Hier lagen dichtbevölkerte Kirchspiele rings um ihre weißen Kirchen herum, Landstraßen und Eisenbahnen kreuzten sich, grüne Bäume umgaben traulich die Häuser und blühende Gärten sandten liebliche Düfte bis hoch in die Luft hinauf.

An den Ufern der Flüsse lagen mehrere große Eisenhämmer, wie sie Niels im Bergwerkdistrikt gesehen hatte, in ungefähr gleichen Zwischenräumen in einer Reihe bis zum Meer hin. Dort aber breitete eine große Stadt ihre weißen Häusermassen aus. Nördlich von dieser dichtbevölkerten Gegend setzten die dunklen Wälder wieder ein; hier war jedoch das Land nicht flach, es erhob sich zu Hügeln und fiel in Tälern ab gleich einem aufgeregten Meer.

»Dies Land hat einen Rock aus Tannen und eine Jacke aus Feldsteinen,« dachte der Junge bei sich. »Um die Taille aber trägt es einen Gürtel, der an Kostbarkeit seinesgleichen nicht hat, denn er ist mit blauenden Seen und blumigen Hügeln bestickt, die großen Eisenhämmer schmücken ihn wie eine Reihe edler Steine, und als Schnalle dient ihm eine Stadt mit Schlössern und Kirchen und großen Häusergruppen.«

Als die Reisenden eine Strecke in die nördliche Waldgegend hineingelangt waren, ließ sich Gorgo oben auf dem Gipfel eines kahlen Felsens nieder, und sobald der Junge von seinem Rücken heruntergesprungen war, sagte der Adler: »Hier im Walde gibt es Wild, und ich glaube, ich kann die Gefangenschaft nicht vergessen, und mich so recht frei fühlen, ehe ich nicht einmal wieder auf Jagd gewesen bin. Du wirst wohl nicht bange, wenn ich fortfliege?« – »Nein, das glaube ich nicht,« sagte der Junge. – »Du kannst herumlaufen, so viel du willst, aber um Sonnenuntergang mußt du wieder hier sein,« sagte der Adler und flog davon.

Niels Holgersen fühlte sich recht einsam und verlassen, als er da auf einem Stein saß und über die kahlen Felsen und die großen Wälder, die ihn umgaben, hinschaute. Aber er hatte noch nicht lange dagesessen, als er von unten aus dem Walde Gesang vernahm und etwas Helles erblickte, das sich zwischen den Bäumen bewegte. Er war sich bald klar darüber, daß es eine blau-gelbe Fahne war, und aus dem Gesang und den fröhlichen Stimmen schloß er, daß die Fahne an der Spitze eines Zuges von Menschen getragen wurde, es währte jedoch lange, ehe er sehen konnte, was für eine Art von Zug es war. Die Fahne wurde auf gewundenen Wegen getragen, und er saß da und war sehr gespannt, welchen Weg sie und die Leute, die ihr folgten, einschlagen würden. Er konnte sich doch nicht denken, daß sie auf die häßliche, öde Bergebene, auf der er saß, hinaufkommen würden. Aber das taten sie dennoch. Jetzt tauchte die Fahne am Waldsaum auf und hinter ihr drein flutete ein Gewimmel von Menschen, denen sie den Weg gewiesen hatte. Auf dem ganzen Berge entstand Leben und Bewegung, und an diesem Tage hatte der Junge so viel zu sehen, daß er sich keinen Augenblick langweilte.

Der große Tag des Waldes

Auf dem breiten Gebirgsrücken, auf dem Gorgo Däumling zurückgelassen, hatte vor ungefähr zehn Jahren ein Waldbrand gewütet. Die verkohlten Bäume waren gefällt und weggefahren worden, und da, wo der große Brandplatz an den frischen Wald stieß, fing es schon wieder an zu grünen. Der größte Teil des Felsens aber lag unheimlich öde und kahl da. Schwarze Baumstümpfe waren zwischen den Steinen stehen geblieben als Zeugen dafür, daß einst ein großer und prächtiger Wald hier gestanden hatte, aber keine jungen Schößlinge sproßten aus dem Brandplatz hervor.

Die Leute wunderten sich darüber, daß es so lange dauerte, bis sich der Berg wieder mit Wald bekleidete, aber sie dachten nicht daran, daß es dem Erdboden, gerade als der Waldbrand wütete, nach einer langen Dürre an Feuchtigkeit gefehlt hatte. Daher waren nicht nur alle Bäume verbrannt, und alles was auf dem Waldboden wuchs: Heidekraut und Maiblumen und Moos und Preißelbeerengestrüpp verschwunden, sondern auch die schwarze Fruchterde, die den Felsengrund bedeckte, war nach dem Brande trocken und lose wie Asche geworden. Jeder Windhauch, der kam, wirbelte sie in die Luft auf, und da der Berg durch seine Lage, dem Wind sehr ausgesetzt war, wurde eine Felsplatte nach der andern reingefegt. Das Regenwasser trug natürlich dazu bei, die Erde wegzuschwemmen, und nachdem nun Wind und Wasser sich zehn Jahre lang redlich bemüht hatten, den Berg reinzufegen, sah er so kahl aus, daß man im Grunde denken mußte, er würde bis an den letzten Tag der Welt so öde da liegen.

Aber eines Tages zu Anfang des Sommers versammelten sich alle Kinder aus dem Kirchspiel, in dem der abgebrannte Berg lag, vor einer der Schulen. Jedes Kind trug eine Hacke oder einen Spaten auf der Schulter und ein Päckchen Butterbrot in der Hand. Sobald alle versammelt waren, zogen sie in einem langen Zuge nach dem Wald hinauf. Die Fahne wurde vorausgetragen, Lehrer und Lehrerinnen gingen nebenher, und den Beschluß machten ein Paar Waldwärter und ein Pferd, das eine Fuhre kleiner Tannen und Tannensamen zog.

Dieser Zug hielt in keinem der Birkenwälder, die dem Dorf zunächst lagen, nein, es ging hoch oben in den Wald hinauf, auf alten Sennpfaden, und die Füchse steckten die Köpfe aus ihrem Bau heraus und fanden, daß dies doch wunderliche Senner seien. Der Zug zog vorüber an alten Köhlerplätzen, wo ehedem in jedem Herbst Meiler errichtet waren, und die Kreuzschnabel wendeten den krummen Schnabel dem Zuge zu und konnten nicht begreifen, was für Köhler das waren, die da in den Wald eindrangen.

Dann kam der Zug endlich nach der großen, abgesengten Bergebene. Da lagen die Steine ganz nackt ohne die feinen Lineenranken, die sie einstmals bedeckt hatten, und die Felsplatten waren ihres schönen, silberweißen Mooses und der feinen, niedlichen Renntierflechten entkleidet. An den schwarzen Wassertümpeln, die sich in Felsspalten und Vertiefungen angesammelt hatten, wuchsen weder Kallablätter noch Sauerklee. In den kleinen Fleckchen Erde, die noch zwischen den Steinen und den Rissen zurückgeblieben waren, standen keine Farrenkräuter, keine Sternblumen, keine weißen Pyrolas, nirgends etwas von all dem Grünen und Roten und Weichen und Sanften und Feinen, das sonst den Waldboden bedeckt.

Es war, als husche plötzlich ein heller Schimmer über die graue Hochebene, als alle die Kinder aus den umliegenden Dörfern sich darüber ergossen. Das war doch wieder etwas Fröhliches und Feines, Frisches und Rosiges, etwas Junges, das im Wachsen begriffen war. Vielleicht konnten sie der armen, verlassenen Gegend wieder etwas Leben schenken!

Als die Kinder ausgeruht und gegessen hatten, griffen sie nach Hacken und Spaten und begannen zu arbeiten. Der Waldwärter zeigte ihnen, wie sie es machen mußten, und dann steckten sie ein kleines Pflänzchen nach dem andern in alle die kleinen Fleckchen Erde, die sie entdecken konnten.

Während die Kinder pflanzten, schwatzten sie ganz altklug miteinander darüber, wie die kleinen Pflanzen, die sie in die Erde hineinsteckten, das Erdreich festhalten würden, so daß es nicht weggeweht werden könne. Und nicht genug damit, denn es würde sich auch neue Fruchterde unter den Bäumen bilden. Und dahinein fiel dann der Same, und in wenigen Jahren würden sie hier, wo jetzt nichts war als kahles Felsgestein, Himbeeren und Heidelbeeren pflücken können. Und die kleinen Pflanzen, die sie hier einsetzten, würden so nach und nach zu großen Bäumen werden. Man konnte vielleicht einstmals große Häuser und stolze Schiffe daraus bauen.

Wären aber die Kinder nicht jetzt auf den Berg hinaufgekommen und hätten gepflanzt, so lange noch ein wenig Erde in den Felsspalten lag, so hätten der Wind und das Wasser jede Möglichkeit zerstört, und es würde nie wieder ein Wald auf dem Berge gewachsen sein.

»Ja, es war wirklich Zeit, daß wir heraufgekommen sind,« sagten die Kinder. »Es war die höchste Zeit!« Und sie kamen sich ungeheuer wichtig vor.

Während die Kinder oben auf dem Berge arbeiteten, waren Vater und Mutter daheim, und als eine Weile vergangen war, sehnten sie sich danach zu erfahren, wie es den Kindern wohl gehen möge. Es war ja natürlich nur Unsinn, daß Kinder einen Wald pflanzen sollten, aber es konnte doch auf alle Fälle ganz lustig sein zu sehen, wie es damit ging. Und siehe da, auf einmal waren Vater und Mutter auf dem Wege zum Walde hinauf. Als sie auf den Sennpfad kamen, begegneten sie mehreren von ihren Nachbarn. »Wollt‘ ihr zum Brandplatz hinauf?« – »Ja, dahin wollen wir.« – »Und euch nach den Kindern umsehen?« – »Ja, wir wollen einmal sehen, was sie treiben.« – »Es wird natürlich nichts als Spielerei sein!« – »Viele Bäume werden sie doch nicht pflanzen können!« – »Wir haben den Kaffeekessel mitgenommen, damit sie etwas Warmes bekommen können, sonst müßten sie ja den ganzen Tag von trockner Kost leben.«

So kamen denn Vater und Mutter auf den Berg hinauf, und zuerst dachten sie an nichts weiter, als wie hübsch es doch aussah mit allen den roten Wangen auf dem grauen Berge. Aber dann beobachteten sie, wie die Kinder arbeiteten, wie einige die Pflanzen hineinsetzten, während andere Furchen zogen und Samen säten, und wieder andere das Heidekraut herausrissen, damit es die jungen Bäumchen nicht ersticken sollte. Und sie sahen, daß die Kinder es ernsthaft mit der Arbeit nahmen, und so eifrig waren, daß sie kaum Zeit hatten, aufzusehen.

Der Vater stand eine Weile da und sah zu, dann fing auch er an, Heidekraut herauszureißen. Nur zum Scherz, natürlich! Die Kinder waren die Lehrmeister, denn jetzt kannten sie die Kunst, und sie mußten Vater und Mutter zeigen, wie sie es zu machen hatten.

Es endete damit, daß alle Erwachsenen, die gekommen waren, um nach den Kindern zu sehen, teil an der Arbeit nahmen. Nun wurde es natürlich noch lustiger als vorher. Und es währte nicht lange, da bekamen die Kinder noch mehr Hilfe.

Sie brauchten mehr Gerätschaften da oben, und ein paar Jungen mit langen Beinen wurden in das Dorf hinabgeschickt, um Hacken und Spaten zu holen. Als sie an den Häusern vorbeirannten, kamen die Leute, die daheim saßen, heraus und fragten: »Was ist da los? Ist ein Unglück geschehen?« – »Nein, nein, aber das ganze Dorf ist da oben auf dem Brandplatze und pflanzt Wald!« – »Wenn das ganze Dorf dort da oben ist, dann wollen wir auch nicht daheimbleiben!«

So strömten sie denn alle zusammen nach dem abgesengten Berg hinauf. Anfänglich standen sie nur da und sahen zu, dann aber konnten sie es nicht lassen, sich an der Arbeit zu beteiligen. Denn es kann ja vergnüglich sein im Frühling, auf das Feld zu gehen und die Saat auszustreuen und daran zu denken, wie sie nun aus dem Boden aufsprossen wird, aber dies hier war doch noch viel verlockender.

Aus dieser Saat sollten nicht nur schwache Halme emporsprossen, sondern starke Bäume mit hohen Stämmen und mächtigen Zweigen. Hier rief man nicht nur die Ernte eines Sommers hervor, sondern Wachstum für viele Jahre. Es handelte sich darum, Insektengesumm und Drosselgesang und Auerhahnbalzen und zahlloses Leben auf dem öden Brandplatze wachzurufen. Und außerdem war es gleichsam ein Denkmal, das man für die kommenden Geschlechter errichtete. Man hätte ihnen einen kahlen, nackten Berg als Erbe hinterlassen können, statt dessen erhielten sie nun einen stolzen Wald. Und wenn die Nachkommen das einst erkannten, dann würden sie verstehen, daß ihre Vorfahren gute und kluge Leute gewesen waren, und sie würden mit Ehrfurcht und Dankbarkeit ihrer gedenken.

XXXIX. Ein Tag in Hälsingeland


Ein großes, grünes Blatt.

Donnerstag, 16. Juni.

Am nächsten Tag flog Niels Holgersen über Hälsingeland. Mit lichtgrünen Schossen an den Nadelbäumen, frischbelaubten Birkengehölzen, jungem Gras auf den Wiesen und saftig sprossender Saat auf den Feldern lag es unter ihm. Es war ein hochgelegenes, bergiges Land, aber mitten hindurch zog sich ein offenes, helles Tal, und von diesem aus erstreckten sich nach beiden Seiten andere Täler, einige kurz und eng, andere breit und lang. »Dies Land werde ich wohl mit einem Blatt vergleichen müssen,« dachte Niels Holgersen, »denn es ist grün wie ein Blatt, und die Täler verzweigen sich ungefähr auf dieselbe Weise wie die Rippen in der Blattfläche.«

Von dem großen Haupttal zweigten sich zuerst zwei mächtige Seitentäler ab, eins nach Osten und eins nach Westen. Dann schickte es nur noch kleine Täler aus, bis es ziemlich hoch nach Norden kam. Dort streckte es wieder zwei starke Arme aus. Nun lief es noch ein gutes Stück länger hinauf, wurde dann aber immer schmäler und verlor sich schließlich in der Wildnis.

Mitten in dem großen Tal floß ein breiter, prächtiger Fluß, der sich an vielen Stellen zu Seen erweiterte. An dem Fluß entlang lagen Wiesen, die ganz mit kleinen, grauen Scheunen übersät waren, an diese Wiesen grenzten Äcker und an der Talgrenze, dort wo der Wald begann, lagen die Höfe. Sie waren groß und gut gebaut, und ein Hof lag neben dem andern in einer fast ununterbrochenen Reihe. Unten am Flußufer ragten Kirchen empor, und um diese scharten sich die Höfe zu großen Dörfern. Andere Häusergruppen lagen um die Bahnhöfe herum und bei den Sägewerken, die hier und da an Seen und Flüssen errichtet waren und die man an den Bretterstapeln, die sich rings um sie auftürmten, leicht erkennen konnte.

Die Seitentäler waren ebenso wie das mittlere Tal voll von Seen, Feldern, Dörfern und Höfen. Leicht und lächelnd glitten sie zwischen die dunklen Berge hinein, bis sie nach und nach von ihnen zusammengepreßt wurden und schließlich so schmal waren, daß sie nur noch für einen kleinen Bach Platz hatten.

Die Bergkuppen zwischen den Tälern waren mit Nadelwald bestanden. Der fand keinen ebenen Boden, in dem er wachsen konnte, eine Menge Felsblöcke lagen dort oben wild durcheinander, der Wald aber bedeckte das alles wie eine Pelzdecke, die über einen eckigen Körper gebreitet ist.

Es war ein schönes Land, wenn man so darauf hinab sah. Und der Junge bekam auch ein gut Teil davon zu sehen, denn der Adler spähte nach dem alten Spielmann Klement Larsson aus und flog suchend von Tal zu Tal.

Als der Morgen anbrach, entstand Leben und Bewegung auf den Höfen. Die Türen der Kuhställe, die dort in der Gegend groß und hoch waren, und einen Schornstein wie auch hohe, breite Fenster hatten, wurden weit geöffnet, und man ließ die Kühe hinaus. Es waren schöne, weiße, feingebaute und geschmeidige Tiere, sicher auf den Füßen und so munter, daß sie die lustigsten Sprünge machten. Die Kälber und die Schafe kamen auch heraus, und man konnte sehen, daß sie in allerbester Laune waren.

Mit jedem Augenblick, der verging, wurde es lebhafter auf den Hofplätzen. Ein paar junge Mägde mit Ranzen auf dem Rücken gingen zwischen dem Vieh umher. Ein Junge mit einem langen Stecken in der Hand hielt die Schafe zusammen. Ein kleiner Hund lief zwischen den Kühen herum und kläffte sie bissig an, sobald sie stoßen wollten. Der Bauer spannte ein Pferd vor einen Karren, und belud ihn mit Butterkübeln, Käseformen und allerlei Lebensmitteln. Alles sang und lachte. Menschen wie Tiere waren so vergnügt, als sei ein großer Festtag angebrochen.

Bald darauf waren sie alle miteinander auf dem Wege zu den Wäldern hinauf. Eine der Mägde ging voran und lockte das Vieh mit wohlklingenden Jodlern. Hinter ihr kamen die Kühe in langer Reihenfolge. Der Hirtenjunge und der Hirtenhund liefen hin und her, um acht zu geben, daß keins der Tiere vom Pfad abwich. Den Beschluß machten der Bauer und sein Knecht. Sie gingen neben dem Karren her, um ihn am Umfallen zu verhindern, denn der Weg, den sie verfolgten, war nur ein schmaler, steiniger Waldpfad.

Entweder ist es Sitte, daß die Bauern in Hälsingeland ihr Vieh an ein und demselben Tage in die Wälder hinaufschicken, oder es traf sich nur in diesem Jahr so. Soviel aber ist sicher, Niels Holgersen sah die fröhlichen Züge von Menschen und Vieh aus jedem Tal und aus jedem Haus herausziehen, in den öden Wald einbiegen und ihn mit Leben erfüllen. Aus der dunklen Tiefe der Wälder vernahm er den ganzen Tag das Jodeln der Sennerinnen und den Klang der Glocken. Die meisten hatten einen langen, beschwerlichen Weg vor sich, und der Junge sah, wie sie mühselig über sumpfige Moore zogen und Umwege machen mußten, um Windfälle zu umgehen, während die Karren oft gegen Steine stießen und mit allem, was darin war, umstürzten. Aber die Senner begegneten allen Schwierigkeiten mit fröhlichem Lachen und bester Laune.

Im Laufe des Nachmittags langte der Zug auf ausgerodeten Plätzen im Walde an, wo ein niedriger Kuhstall und kleine, graue Hütten standen. Als die Kühe auf den Platz zwischen den Hütten kamen, brüllten sie vergnügt, als erkennten sie den Ort wieder, und machten sich gleich daran, von dem grünen, saftigen Gras zu fressen. Unter Scherzen und fröhlichem Geplauder holten die Leute Wasser und Brennholz und trugen alles, was sie auf dem Karren mitgebracht hatten, in die größte der Hütten. Bald stieg Rauch aus dem Schornstein auf. Und dann setzten sich die Sennerinnen, der Hirtenjunge und die erwachsenen Männer rings um einen flachen Stein und hielten draußen im Freien ihre Mahlzeit.

Der Adler Gorgo war fest überzeugt, daß er Klement Larsson unten den Leuten finden würde, die sich auf dem Weg in den Wald befanden. Sobald er einen Sennerzug erblickte, ließ er sich hinabsinken und untersuchte ihn mit scharfem Auge. Aber es verging Stunde auf Stunde, ehe er ihn fand.

Nach vielem Hin- und Herfliegen kam der Adler gegen Abend in eine bergige und einsame Gegend, die östlich von dem großen Haupttal lag. Wieder sah er eine Sennhütte unter sich. Die Leute und das Vieh waren schon angekommen. Die Männer waren damit beschäftigt, Holz zu hauen, und die Mägde molken die Kühe.

»Sieh doch!« sagte Gorgo. »Ich glaube, jetzt haben wir den Mann!«

Er ließ sich hinab, und Niels sah zu seiner großen Verwunderung, daß der Adler recht hatte. Da stand wirklich der kleine Klement Larsson und spaltete Holz auf der Wiese.

Gorgo flog in den dichten Wald, eine Strecke vom Hause entfernt, hinab. »Jetzt habe ich ausgeführt, was ich übernommen hatte,« sagte er und machte eine stolze Bewegung mit dem Kopf. »Nun mußt du sehen, daß du mit dem Manne sprichst. Ich werde mich da oben in den dichten Tannenwipfel setzen und auf dich warten.«

Die Neujahrsnacht der Tiere.

Auf der Sennhütte war die Arbeit beendet und das Abendbrot gegessen, aber die Leute blieben noch sitzen und plauderten. Es war lange her, seit sie eine Sommernacht im Walde zugebracht hatten, und sie fanden, es sei ein Jammer, sich hinzulegen und zu schlafen. Es war so hell wie am lichten Tage, und die Sennerinnen waren mit ihrer Handarbeit beschäftigt, von Zeit zu Zeit aber sahen sie auf, schauten in den Wald hinein und lächelten still vor sich hin. »Ja, nun sind wir wieder hier,« sagten sie. Das Dorf mit all seiner Unruhe entschwand aus ihrer Erinnerung und der tiefe Friede des Waldes umfing sie. Wenn sie daheim auf dem Hof daran dachten, daß sie den ganzen Sommer hier oben im Walde allein zubringen müßten, konnten sie kaum begreifen, wie sie das aushalten sollten, sobald sie aber in die Sennhütte hinaufgekommen waren, fühlten sie, daß dies ihre allerbeste Zeit war.

Von den in der Nähe gelegenen Sennhütten waren einige junge Mädchen und Burschen zu Besuch gekommen, so war es denn eine ganz stattliche Anzahl, die sich in dem Gras vor den Hütten gelagert hatte, aber es wollte keine richtige Unterhaltung in Gang kommen. Die Burschen mußten am nächsten Tag wieder in das Dorf hinab, und die Sennerinnen gaben ihnen allerlei kleine Aufträge und schickten Grüße an die zu Hause Gebliebenen durch sie ins Tal hinab. Viel mehr wurde nicht geredet.

Da sah die Älteste der Sennerinnen von ihrer Arbeit auf und sagte munter: »So still braucht es hier auf der Alm doch heute abend nicht zuzugehen, denn wir haben doch zwei Männer unter uns, die sonst gern etwas erzählen. Der eine ist Klement Larsson, der hier neben mir sitzt, und der andere ist Bernhard von Sunnansee, der da drüben steht und nach dem Blackaasen hinaufsieht. Ich finde wirklich, wir sollten sie bitten, daß uns jeder eine Geschichte erzählt, und wer die schönste erzählt, der soll das Halstuch haben, an dem ich hier stricke.«

Dieser Vorschlag fand großen Beifall. Die beiden, die miteinander wetteifern sollten, machten natürlich anfangs Einwendungen, fügten sich jedoch bald. Klement schlug vor, daß Bernhard beginnen sollte, und dieser hatte nichts dagegen. Er kannte Klement Larsson kaum, ging aber von der Voraussetzung aus, daß dieser irgendeine alte Geschichte von Gespenstern und Kobolden zum besten geben würde, und da er wußte, daß die Leute dergleichen gern hörten, hielt er es für das klügste, auch so etwas zu wählen.

»Vor mehreren hundert Jahren,« begann er, »geschah es, daß ein Propst hier in Delsbo in einer Neujahrsnacht mitten durch den dichten Wald ritt. Er saß in seinem Pelz und mit einer Pelzmütze auf seinem Pferd und an dem Sattelknopf hing eine Tasche, in der er die Altargeräte, die Agende und seinen Talar gepackt hatte. Spät am Abend war er zu einem Kranken tief drinnen im Walde geholt worden, und er hatte bis in die Nacht hinein bei ihm gesessen und mit ihm gesprochen. Jetzt befand er sich endlich auf dem Heimwege, aber er fürchtete, daß er erst weit nach Mitternacht den Propsthof wieder erreichen würde.

Wenn er nun doch einmal die Nacht auf dem Pferderücken zubringen sollte, statt ruhig in seinem Bett zu liegen, so war er wenigstens froh, daß die Nacht nicht gar zu arg war. Es war mildes Wetter und stille Luft bei bedecktem Himmel. Der Vollmond stand groß und rund hinter den Wolken und leuchtete, wenn er selbst auch nicht zu sehen war. Wäre das bißchen Mondschein nicht gewesen, so hätte er den Weg nur schwer von dem Erdboden unterscheiden können, denn es lag kein Schnee und alles hatte dieselbe graubraune Farbe.

Der Propst ritt in dieser Nacht ein Pferd, auf das er große Stücke hielt. Es war sowohl kräftig als auch ausdauernd und fast so klug wie ein Mensch. So hatte der Propst zum Beispiel wiederholt bemerkt, daß das Pferd von jedem beliebigen Ort in dem weiten Kirchspiel sich wieder nach Hause zurückfinden konnte. Darauf verließ er sich so fest, daß er sich eigentlich nie mehr die Mühe machte, an den Weg zu denken, wenn er dies Pferd ritt. Und so kam er auch jetzt mit schlaff herabhängendem Zügel mitten durch die graue Nacht und den wilden Wald geritten, während seine Gedanken weitab schweiften.

Während der Propst so dasaß, dachte er an die Predigt, die er am nächsten Tage halten wollte, und noch an mancherlei anderes, und es währte ziemlich lange, bis es ihm einfiel, sich klar darüber zu werden, wie weit es noch bis nach Hause sei. Als er dann schließlich aufsah und gewahrte, daß ihn der Wald noch ebenso dicht umgab wie zu Anfang des Rittes, fing er allmählich an, sich zu verwundern. Er war jetzt so lange unterwegs gewesen, daß er meinte, er müsse den bebauten Teil des Kirchspiels bereits erreicht haben.

Delsbo sah damals nicht so aus, wie heutzutage. Die Kirche und der Propsthof und alle die großen Höfe und Dörfer lagen in dem nördlichen Teil des Kirchspiels um den Del herum, und im Süden gab es nichts als Berge und Wälder. Als der Propst sah, daß er sich noch in einer unbebauten Gegend befand, wußte er also, daß er in dem südlichen Teil des Kirchspiels war, und daß er, um nach Hause zu gelangen, nach Norden reiten mußte. Aber gerade das schien er nicht zu tun. Da waren weder Mond noch Sterne, nach denen er sich hätte richten können, aber er gehörte zu denen, die den Kompaß im Kopf haben, und er hatte das bestimmte Gefühl, daß er gen Süden oder vielleicht gen Osten reite.

Er war schon im Begriff, das Pferd zu wenden, aber dann besann er sich. Das Pferd war noch niemals irregegangen und tat es sicher auch jetzt nicht. Viel eher würde er selbst sich geirrt haben. Seine Gedanken waren ja weit abgeschweift, da hatte er des Weges wohl nicht geachtet. Er ließ das Pferd in der bisherigen Richtung weitergehen und versank bald wieder in seine Gedanken.

Gleich darauf aber traf ihn ein großer Zweig mit einer solchen Gewalt, daß er ihn fast vom Pferde gerissen hätte. Da sah er denn ein, daß er sich klar darüber werden müsse, wohin er geraten war.

Er guckte auf den Weg hinab und entdeckte, daß er über weichen Moorboden ritt, wo kein getretener Pfad zu entdecken war. Das Pferd ging aber ohne Zögern weiter. Doch so wie vorhin war der Propst auch jetzt überzeugt, daß er die verkehrte Richtung eingeschlagen hatte.

Diesmal entschloß er sich einzugreifen. Er griff fest in die Zügel, um das Tier zum Umkehren zu zwingen, und es gelang ihm auch, es auf den Weg zurückzutreiben. Kaum jedoch dort angelangt, benutzte das Pferd einen Richtpfad zwischen zwei Bäumen und lief geradeswegs wieder in den Wald hinein.

Der Propst war so fest überzeugt, daß die Richtung verkehrt war, wie man überhaupt nur von etwas überzeugt sein kann; da das Pferd aber so sicher zu sein schien, glaubte er, daß es jetzt vielleicht einen besseren Weg aufsuchen wolle, und so ließ er es denn laufen.

Das Pferd kam schnell vorwärts, obwohl es auf keinem Wege lief. Kam es an einen Bergabhang, so kletterte es geschickt wie eine Ziege hinauf, und wenn es dann wieder bergab ging, setzte es alle vier Füße dicht nebeneinander und rutschte die steile Bergwand hinab.

›Fände es doch nur bis zur Kirchzeit den Weg nach Hause,‹ dachte der Propst. ›Ich möchte wohl wissen, was meine Delsboer sagen würden, wenn ich nicht rechtzeitig in die Kirche käme.‹

Er hatte nicht lange Zeit, hierüber nachzudenken, denn plötzlich kam er an einen Ort, der ihm bekannt war. Es war ein kleiner, dunkler Waldsee, wo er im letzten Sommer gefischt hatte. Nun war er sich klar darüber, daß es sich wirklich so verhielt, wie er gefürchtet hatte. Er befand sich tief drinnen in den Wäldern, und das Pferd ging in südöstlicher Richtung weiter. Es schien, als sei es darauf versessen, ihn so weit wie möglich vom Pfarrhause wegzuführen.

Der Propst sprang augenblicklich aus dem Sattel. Er konnte sich nicht so von dem Pferd in die Wildnis tragen lassen. Er mußte nach Hause, und da das Pferd mit aller Macht irregehen wollte, beschloß er, zu Fuß zu gehen und das Pferd zu führen, bis sie auf bekannten Wegen angelangt waren. So wickelte er denn den Zügel um den Arm und trat die Wanderung an. Es war keine leichte Sache, in einem schweren Pelz durch den wilden Wald zu gehen, aber der Propst war ein starker und abgehärteter Mann, der sich vor nichts fürchtete.

Bald aber erschwerte ihm das Pferd von neuem die Wanderung. Es wollte ihm nicht folgen, sondern stemmte die Hufe fest gegen den Boden und sträubte sich.

Schließlich wurde der Propst zornig. Er pflegte sonst nie dies Pferd zu schlagen, darum wollte er auch jetzt nicht zu diesem Mittel greifen. Statt dessen warf er ihm die Zügel über den Hals und ging seiner Wege. ›Dann müssen wir uns hier wohl trennen‹, sagte er, ›da du deinen eigenen Weg gehen willst.‹

Kaum hatte er jedoch ein paar Schritte gemacht, als das Pferd hinter ihm dreinkam, ihn behutsam am Ärmel zupfte und ihn zurückzuhalten suchte. Der Propst wandte sich um und sah dem Pferd in die Augen, um zu erforschen, warum es sich so wunderlich gebärdete.

Später konnte der Propst nie recht begreifen, wie es möglich war, aber das steht fest, trotz der Dunkelheit konnte er das Gesicht des Pferdes ganz deutlich sehen und darin lesen, als sei es das Antlitz eines Menschen gewesen. Er konnte sehen, daß sich das Pferd in der fürchterlichsten Angst und Not befand. Es sah ihn mit einem zugleich flehenden und vorwurfsvollen Blick an. ›Ich habe dir gedient und dir Tag für Tag gehorcht,‹ schien es zu sagen, ›kannst du mir nicht diese eine Nacht folgen?‹

Der Propst wurde gerührt durch die Bitte, die er in den Augen des Tieres las. Es war klar, daß das Pferd in dieser Nacht in irgendeiner Weise seiner Hilfe bedurfte, und da er ein kühner und mutiger Mann war, beschloß er sofort, ihm zu folgen. Ohne zu zögern führte er das Pferd an einen Stein, um wieder aufzusteigen. ›Geh jetzt nur!‹ sagte er, ›ich will dich nicht verlassen, wenn du mich mithaben willst. Niemand soll dem Delsboer Propst nachsagen, daß er sich weigert, jemand zu folgen, der in Not ist.‹

Und fortan ließ er das Pferd laufen, wie es wollte, und dachte an nichts weiter, als sich im Sattel festzuhalten. Es wurde ein gefährlicher und anstrengender Ritt, und fast die ganze Zeit ging es bergauf. Der Wald war rings um ihn her so dicht, daß er kaum zwei Schritte weit sehen konnte, aber es schien ihm, als ritten sie einen sehr hohen Berg hinan. Das Pferd arbeitete sich die halsbrecherischsten Abhänge empor. Hätte der Propst selbst die Zügel geführt, so würde er es sich nicht im Traum haben einfallen lassen, ein Pferd einen solchen Weg bergan zu zwingen. ›Du hast doch wohl nicht die Absicht, dich auf den Blocksaas selbst hinaufzuwagen?‹ sagte der Propst zu dem Pferd und lachte. Er wußte, daß der Blacksaas dort in der Nahe lag, aber es war einer der höchsten Berge in Helsingeland.

Wie sie so weiterritten, merkte der Propst, daß er und das Pferd nicht die einzigen waren, die in dieser Nacht unterwegs waren. Er hörte Steine rollen und Zweige knacken. Es klang, als wenn sich große Tiere einen Weg durch den Wald bahnten. Er wußte, daß es dort in der Gegend von Wölfen wimmelte, und dachte, ob ihn das Pferd wohl zum Kampf gegen die wilden Tiere führen wolle.

Bergan ging es, beständig bergan, und je höher sie kamen, um so lichter wurde der Wald.

Endlich ritten sie an einem fast kahlen Bergrücken entlang, so daß der Propst nach allen Seiten um sich sehen konnte.

Er schaute über unermeßliche Strecken Landes hinaus, wo Felsklippen und Berggrate abwechselten, und die überall mit dunklen Wäldern bedeckt waren. Es war nicht leicht, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, bald aber konnte er nicht darüber in Zweifel sein, wo er sich befand.

›Ja, wahrlich,‹ dachte er, ›wahrlich, dies ist der Blacksaas, den ich hinanreite; es kann nicht anders sein. Nach Westen zu sehe ich den Järsüflack liegen und im Osten schimmert das Meer da draußen bei Agö. Nach Norden zu sehe ich auch etwas, das glitzert. Das ist gewiß der Del. Und hier tief unter mir sehe ich den weißen Schaumgischt des Niamfoß. Ja, ich bin auf den Blacksaas hinaufgekommen. Das ist wahrlich ein Abenteuer!‹

Als sie auf den Gipfel des Berges hinaufkamen, blieb das Pferd hinter einer buschigen Tanne stehen, als wenn es sich da verbergen wolle. Der Propst beugte sich vor und bog die Zweige auseinander, so daß er eine freie Aussicht hatte.

Der kahle, flache Gipfel des Berges lag vor ihm ausgebreitet, aber es war dort nicht öde und leer, so wie er es sich gedacht hatte. Mitten auf dem offenen Platz lag ein großer Felsblock, und ringsherum war eine große Schar von Tieren versammelt. Es wollte dem Propst scheinen, als seien sie dahingekommen, um eine Art Ting abzuhalten.

Dem großen Stein zunächst sah der Propst die Bären, stark und schwer gebaut, so daß sie pelzbekleideten Felsblöcken glichen. Sie hatten sich hingelegt und blinzelten ungeduldig mit ihren kleinen Augen. Man konnte deutlich sehen, daß sie eben aus dem Winterschlaf aufgestanden waren, um zum Ting zu gehen, und daß es ihnen schwer wurde, sich wach zu halten. Hinter ihnen saßen einige hundert Wölfe in dichten Reihen. Sie waren nicht schläfrig, sondern mitten in dem winterlichen Dunkel viel lebhafter als jemals im Sommer. Sie saßen auf den Hinterfüßen wie Hunde, peitschten den Boden mit dem Schwanz und schnappten nach Luft, während ihnen die Zunge lang zum Rachen heraushing. Hinter den Wölfen schlichen die Luchse herum, steifbeinig und ungeschlacht, gleich großen, mißgestalteten Katzen. Sie schienen den anderen Tieren gegenüber scheu zu sein und fauchten, wenn jemand in ihre Nähe kam. In der Reihe hinter den Luchsen sah man die Vielfraße, die ein Hundegesicht und einen Bärenpelz hatten. Sie fühlten sich nicht wohl auf dem Erdboden, sondern stampften ungeduldig mit ihren breiten Füßen und sehnten sich danach, in die Bäume hinaufzukommen. Und wiederum hinter diesen, auf dem ganzen freien Platz bis an den Waldessaum wimmelte es von Füchsen, Wieseln, Mardern, klein und niedlich von Gestalt, aber mit noch wilderen und blutdürstigeren Augen als die größeren Tiere.

Der Propst konnte alle diese Tiere ganz deutlich sehen, denn der ganze Platz war erhellt. Auf dem hohen Stein in der Mitte stand nämlich der König des Waldes und hielt eine Fichtenfackel in der Hand, die mit einer hohen, roten Flamme brannte. Der König des Waldes war so groß wie der höchste Baum im Walde, er trug einen Mantel aus Tannenzweigen, und seine Haare waren aus Tannenzapfen. Er stand ganz still, das Gesicht dem Walde zugewendet. Er spähte und lauschte.

Obwohl der Propst das Ganze deutlich sah, war er so erstaunt, daß er sich förmlich dagegen sträubte und seinen Augen nicht recht trauen wollte. ›Dies ist ja ganz unmöglich,‹ dachte er. ›Ich muß nicht recht bei Verstand sein. Ich bin zu lange in dem dunklen Walde umhergeritten. Meine Phantasie ist mit mir durchgegangen.‹

Trotzdem beobachtete er alles mit der größten Aufmerksamkeit und wartete in Spannung auf das, was er zu sehen bekommen würde und was sich hier ereignen sollte.

Es vergingen nur ein paar Minuten, da vernahm er vom Walde her das Klingeln einer kleinen Kuhglocke. Und gleich darauf hörte er von neuem das Geräusch von Schritten und von knackenden Zweigen, als bahne sich ein großes Rudel von Tieren den Weg durch die Wildnis.

Es war eine große Schar Haustiere, die dahergewandert kamen. Sie gingen in derselben Ordnung, wie wenn sie sich auf dem Wege zur Alm hinauf befänden. Zuerst kam die Glockenkuh, dann der Stier, darauf kamen die anderen Kühe, und den Beschluß machten das Jungvieh und die Kälber. Dann folgten die Schafe in einer dichten Herde, dann die Ziegen und zu allerletzt ein paar Pferde und Füllen. Der Hirtenhund ging neben der Herde, aber da war weder ein Hirtenjunge noch eine Sennerin bei dem Vieh.

Es schnitt dem Propst ins Herz, als er die zahmen Tiere so geradeswegs auf die Raubtiere zukommen sah. Er war schon im Begriff, sich ihnen in den Weg zu stellen und ihnen zuzurufen, daß sie innehalten sollten, aber er sah ja ein, daß es in keines Menschen Macht stand, die Schritte der Tiere in dieser Nacht zu hemmen, und so verhielt er sich denn ruhig.

Es war ganz klar, daß die zahmen Tiere sich vor dem ängstigten, dem sie entgegengingen. Sie sahen bange und unglücklich aus. Selbst die Glockenkuh kam mit hängendem Kopf und zögerndem Schritt daher. Die Ziegen hatten weder Lust zum Spielen noch zum Bocken. Die Pferde bemühten sich, mutig zu scheinen, aber sie zitterten am ganzen Leibe vor Angst. Am jammervollsten aber sah der Hirtenhund aus. Er hatte den Schwanz eingezogen und kroch beinahe am Boden hin.

Die Glockenkuh führte die Schar bis dicht an den Waldkönig, der auf dem Felsblock oben auf dem Gipfel des Berges stand. Sie ging rings um ihn herum, kehrte dann aber um, ohne daß nur eines der wilden Tiere sie angerührt hätte. Auf die gleiche Weise wanderte die ganze Herde unangetastet an den wilden Tieren vorüber.

Und der Propst sah, daß der Waldgeist, als das Vieh an ihm vorüberzog, bald über dem einen, bald über dem andern seine Fackel senkte und abwärts kehrte.

Jedesmal, wenn sich dies wiederholte, stimmten die Raubtiere ein lautes und freudiges Gebrüll an, namentlich wenn sich die Fackel über einer Kuh oder sonst einem größeren Tier gesenkt hatte; das Tier aber, das die Fackel über sich herabsinken sah, stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, als habe man ihm ein Messer in den Leib gepreßt, und die ganze Schar, zu der es gehörte, brach gleichfalls in ein Klagegeschrei aus.

Und plötzlich wurde es dem Propst klar, was er hier sah. Er hatte ja schon davon gehört, daß sich die Tiere in Delsbo in jeder Neujahrsnacht auf dem Blacksaasen versammelten, damit der Waldkönig die Haustiere bezeichnete, die im Laufe des Jahres die Beute der Raubtiere werden sollten. Er empfand das größte Mitleid mit dem armen Vieh, das sich in der Gewalt der wilden Tiere befand, obwohl es ja keinen andern Herrn haben sollte als den Menschen.

Kaum war die erste Herde abgezogen, als abermals Kuhglocken unten vom Walde her ertönten, und der Viehbestand eines anderen Hofes den Berg hinaufgewandert kam. Sie kamen in derselben Ordnung daher wie der erste Zug und gingen auf den Waldkönig zu, der strenge und ernsthaft dastand und ein Tier nach dem andern als dem Tode verfallen bezeichnete. Und dieser Herde folgte ohne Aufenthalt eine Schar nach der andern. Einige davon waren so klein, daß sie nur aus einer einzigen Kuh und einigen Schafen bestanden, andere nur aus ein paar Ziegen. Diese kamen offenbar aus armen, kleinen Waldhütten, aber zum Waldkönig hin mußten sie alle, und er schonte keine von ihnen.

Der Propst dachte an die Bauern in Delsbo, die ihre Haustiere so lieb hatten. ›Wenn sie dies nur wüßten, würden sie es sicher nicht so weiter gehen lassen,‹ dachte er. ›Sie würden eher ihr eigenes Leben wagen, als ihr Vieh zwischen Bären und Wölfen gehen lassen, um sich ihr Todesurteil von dem Waldkönig zu holen.‹

Die letzte Schar, die daherkam, war das Vieh vom Pfarrhofe. Der Propst konnte schon von weitem die Glocke der Glockenkuh erkennen, und das tat das Pferd offenbar ebenfalls. Es zitterte an allen Gliedern und stand in Schweiß gebadet da. ›Ja, jetzt kommt also die Reihe an dich an dem Waldkönig vorüberzugehen und dir dein Urteil zu holen,‹ sagte der Propst zu dem Pferde. ›Fürchte dich aber nicht! Ich verstehe sehr wohl, warum du mich hierhergeführt hast, und ich werde dich nicht im Stich lassen.‹

Der schöne Viehbestand vom Pfarrhofe kam jetzt in einer langen Reihe aus dem Walde heraus und ging auf den Waldkönig und die wilden Tiere zu. Den Beschluß machte das Pferd, das seinen Herrn den Blacksaasen hinaufgetragen hatte. Der Propst stieg nicht ab, sondern blieb sitzen und ließ sich von dem Tier zu dem Waldkönig tragen.

Er hatte weder eine Flinte noch ein Messer, um sich zu verteidigen. Aber er hatte die Agende herausgeholt und drückte sie fest gegen seine Brust, als er sich nun auf den Kampf mit dem Zauberer einließ.

Zu Anfang schien es, als habe niemand ihn bemerkt. Ganz so wie die andere Herde wanderte auch das Vieh vom Pfarrhof an dem Waldkönig vorüber. Der Waldkönig ließ die Fackel auf keins der Tiere herabsinken. Erst als das kluge Pferd kam, machte er eine Bewegung, als wolle er es für den Tod kennzeichnen.

Im selben Augenblick aber hob der Propst die Agende in die Höhe, und der Fackelschein fiel auf das Kreuz, das den Einband des Buches zierte. Der Waldkönig stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, die Fackel entfiel seiner Hand und lag am Erdboden.

Die Flamme erlosch augenblicklich, und in dem plötzlichen Übergang von Licht und Dunkel konnte der Propst nichts sehen. Er hörte auch nichts. Rings um ihn her herrschte dasselbe tiefe Schweigen wie immer im Winter in der Wildnis.

Da teilten sich plötzlich die schweren Wolken, die den Himmel bedeckten, und durch den Riß trat der Vollmond und warf seine Strahlen auf die Erde herab. Und nun sah der Propst, daß er und das Pferd ganz allein auf dem Gipfel des Blacksaasen standen. Nicht ein einziges von den wilden Tieren war mehr da. Die Erde war zerstampft von den vielen Viehherden, die darüber hingewandert waren. Er selbst aber saß da, die Agende in den ausgestreckten Händen, und das Pferd, das ihn trug, zitterte und war in Schweiß gebadet.

Als der Propst wieder den Berg hinabgeritten war und auf seinem Hof anlangte, wußte er nicht recht, ob das, was er gesehen hatte, ein Traum gewesen war oder eine Vision oder Wirklichkeit. Daß es aber eine Mahnung für ihn war, an das arme Vieh zu denken, das sich in der Gewalt der wilden Tiere befand, das verstand er. Und er predigte den Bauern von Delsbo so nachdrücklich, daß zu seiner Zeit alle Wölfe und Bären hier im Kirchspiel ausgerottet wurden, – wenn sie auch vielleicht zurückgekommen sein können, nachdem er heimgegangen war.«

Hier endete Bernhard seine Geschichte. Alle fanden, daß sie ausgezeichnet war, und es schien eine abgemachte Sache, daß er den Preis bekommen würde. Die meisten fanden, daß Klement zu bedauern sei, weil er den Wettstreit mit Bernhard aufnehmen sollte.

Klement aber begann unverzagt: »Eines Tages ging ich auf Skansen vor Stockholm und hatte Heimweh,« sagte er, und dann erzählte er von dem Männlein, das er freigekauft hatte, damit es nicht in einen Käfig gesperrt und wie ein wildes Tier zur Schau gestellt werden solle. Und er erzählte weiter, wie er kaum diese gute Tat getan hatte, als er auch schon dafür belohnt wurde. Er erzählte und erzählte, und das Staunen der Zuhörer wuchs beständig und als er schließlich bis zu dem königlichen Lakai und dem schönen Buch kam, ließen alle Sennerinnen ihre Arbeit in den Schoß sinken und starrten unbeweglich Klement an, der so merkwürdige Dinge erlebt hatte.

Sobald Klement geendet hatte, sagte die Sennerin, er solle das Halstuch haben. »Bernhard hat etwas erzählt, was ein anderer erlebt hat, Klement aber hat selbst ein wirkliches Abenteuer erlebt, und das scheint mir mehr zu sein,« sagte sie.

Darin stimmten sie alle mit ihr überein. Sie betrachteten Klement nun, wo sie erfahren hatten, daß er mit dem König geredet hatte, mit ganz andern Augen als bisher, und der kleine Spielmann wagte kaum zu zeigen, wie stolz er sich fühlte. Aber mitten in der großen Begeisterung fragte ihn plötzlich jemand, was er denn mit dem kleinen Wicht gemacht habe.

»Ich hatte keine Zeit, ihm den blauen Napf selbst hinzustellen,« sagte Klement. »Aber ich habe den alten Lappen gebeten, es zu tun. Was später aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.«

Kaum hatte Klement dies gesagt, als ein kleiner Tannenzapfen geflogen kam und ihn an die Nase traf. Er kam nicht aus den Bäumen, und er kam auch nicht von einem Menschen. Es war nicht zu begreifen, woher er kam.

»Ha, ha, Klement!« lachte die Sennerin. »Es scheint, daß die Männlein hören, was wir sprechen. Ihr hättet es gewiß nicht einem andern überlassen sollen, ihm das Essen in dem blauen Napf hinzustellen!«

VIII. Am Rönneberger Bach

Freitag, den 1. April.

Weder die wilden Gänse noch Reineke Fuchs hatten sich gedacht, daß sie einander jemals wieder begegnen sollten, wenn sie erst Schonen verlassen hatten. Aber nun traf es sich ja so, daß die wilden Gänse den Weg über Blekinge nehmen mußten, und dahin hatte sich Reineke Fuchs ebenfalls begeben. Anfangs hatte er sich in dem nördlichen Teil aufgehalten, und er hatte bisher weder die Schloßparke noch die Tiergärten voller Rehe und leckerer Rehkitzchen gesehen. Er war so mißvergnügt wie nur möglich.

Eines Nachmittags, als Reineke in einer einsamen Waldgegend nicht weit vom Rönneberger Bach umherstreifte, sah er eine Schar wilder Gänse durch die Luft ziehen. Er bemerkte sofort, daß die eine von den Gänsen weiß war, und da wußte er ja, mit wem er es zu tun hatte.

Reineke machte sich sogleich daran, hinter den Gänsen drein zu jagen, ebensosehr aus Verlangen nach einem guten Bissen, wie um sich an ihnen für all den Schaden zu rächen, den sie ihm zugefügt hatten. Er sah, daß sie gen Osten zogen, bis sie an den Rönneberger Bach gelangten. Dann wechselten sie die Richtung und folgten dem Bach nach Süden zu. Er begriff, daß sie einen Schlafplatz am Ufer des Baches suchen wollten, und er dachte, daß er wohl ein paar Stück von ihnen ohne große Schwierigkeit ergattern könne.

Aber als Reineke endlich den Platz erblickte, wo sich die Gänse niedergelassen hatten, sah er wohl, daß sie eine Stelle gewählt hatten, die so gut geschützt war, daß er nicht zu ihnen gelangen konnte.

Der Rönneberger Bach ist ja kein sehr großes oder starkes Gewässer, aber er ist doch sehr bekannt wegen seiner schönen Ufer. An mehreren Stellen bahnt er sich seinen Weg durch steile Felswände, die lotrecht aus dem Wasser aufsteigen und ganz mit Gaisblatt und Faulbaum, mit Weißdorn und Erlengestrüpp, mit Ebereschen und Weiden bewachsen sind. Und es gibt kaum etwas Erfreulicheres an einem schönen Sommertag, als den kleinen dunklen Bach hinabzurudern und all das weiche Grün zu sehen, das sich in den rauhen Felswänden festklammert.

Aber jetzt, als die wilden Gänse und Reineke an den Bach kamen, war es noch früh im Lenz, es war naßkalt und windig, alle Bäume standen kahl und niemand achtete darauf, ob das Bachufer häßlich war oder schön. Die wilden Gänse priesen sich glücklich, daß sie unter so einer steilen Felswand einen schmalen Streifen Sand entdeckt hatten, gerade so groß, daß sie Platz darauf fanden. Vor ihnen der brausende Bach, der jetzt in der Schneeschmelze breit und reißend war, hinter ihnen die unerklimmbare Felswand, und sie selber von herabhängendem Gras verborgen. Sie konnten es nicht besser haben.

Die Gänse schliefen sofort ein, aber der Junge schloß kein Auge. Sobald die Sonne verschwunden war, ergriff ihn die Angst vor der Dunkelheit und Einsamkeit, und er sehnte sich zu den Menschen zurück. Wie er da so unter dem Gänseflügel lag, konnte er nichts sehen und nur schlecht hören; stieß dem Gänserich etwas zu, so war er nicht imstande, ihn zu retten. Rascheln und Pusseln hörte er von allen Seiten, und es überkam ihn eine solche Unruhe, daß er unter dem Flügel hervorkriechen und sich neben die Gänse an den Erdboden setzen mußte.

Oben am Rande des Felsens stand Reineke, machte ein langes Gesicht und sah auf die wilden Gänse hinab. »Du kannst es nur gleich aufgeben, sie zu verfolgen,« sagte er zu sich selbst. »Eine lotrechte Felswand kannst du doch nicht hinabklettern, in einem so reißenden Strom kannst du nicht schwimmen, und unterhalb des Berges ist nicht der geringste Streifen Erde, der zu dem Schlafplatz führt. Die Gänse sind zu klug für dich. Denk‘ nur gar nicht mehr daran, sie zu jagen.«

Aber es wurde Reineke, wie allen andern Füchsen, schwer, ein Vorhaben aufzugeben, das er begonnen hatte, und er legte sich deswegen an den äußersten Rand der Klippe und verwandte kein Auge von den wilden Gänsen. Während er da lag und sie ansah, dachte er an all das Böse, das sie ihm zugefügt hatten. Um ihretwillen war er ja aus Schonen verwiesen, war er gezwungen worden, nach dem armseligen Bleking zu ziehen. Er erregte sich selbst derartig, daß er den wilden Gänsen den Tod wünschte, selbst wenn er nicht den Vorteil haben sollte, sie aufzufressen.

Als Reinekes Zorn eine solche Höhe erreicht hatte, hörte er neben sich in einer großen Fichte etwas rascheln und sah ein Eichhörnchen von dem Baum herabspringen, scharf verfolgt von einem Marder. Keins von beiden hatte Reineke bemerkt, und er saß still da und schaute der Jagd zu, die von Baum zu Baum ging. Er sah zu dem Eichhörnchen hinüber, das so leicht zwischen den Zweigen umhersprang, als könne es fliegen. Er sah den Marder an, der lange nicht so gut kletterte wie das Eichhörnchen, aber doch sicher an den Baumstämmen auf und nieder lief, als seien es ebene Steige im Walde. »Kletterte ich nur halb so gut wie eins von den beiden,« dachte der Fuchs, »so sollten die da unten nicht lange ruhig schlafen.«

Sobald das Eichhörnchen gefangen und die Jagd beendet war, ging Reineke zu dem Marder, blieb aber in Entfernung von zwei Schritten stehen, zum Zeichen, daß er ihm die Jagdbeute nicht entreißen wollte. Er begrüßte den Marder sehr freundlich und wünschte ihm Glück zu dem Fang. Reineke hatte das Wort sehr in der Gewalt, so wie alle Füchse. Aber der Marder, der mit seinem langen und schmalen Körper, seinem feinen Kopf, seinem weißen Fell und seinem hellbraunen Fleck am Halse aussieht wie ein kleines Wunder von Schönheit, ist in Wirklichkeit nur ein roher Waldbewohner, und er antwortete ihm kaum. »Es wundert mich doch,« sagte Reinecke, »daß ein so gewaltiger Jäger wie du sich damit begnügt, Eichhörnchen zu jagen, wenn da so viel besseres Wild in deinem Bereich ist.« Hier machte er eine Pause und wartete auf eine Antwort, aber als ihm der Marder ganz frech die Zähne zeigte, fuhr er fort: »Ist es möglich, daß du die wilden Gänse nicht gesehen hast, die hier unter der Felswand stehen? Oder kletterst du nicht gut genug, um zu ihnen hinabzugelangen?«

Diesmal brauchte er nicht auf die Antwort zu warten. Der Marder fuhr auf ihn ein – sein Rücken war krumm und alle seine Haare sträubten sich. »Hast du wilde Gänse gesehen?« fauchte er. »Wo sind sie? Sag‘ es mir sofort, sonst beiß‘ ich dir die Kehle durch!« – »Vergiß nur ja nicht, daß ich doppelt so groß bin wie du; sei nur lieber ein wenig höflich. Ich verlange ja nichts Besseres, als dir die wilden Gänse zu zeigen.«

Einen Augenblick später war der Marder auf dem Wege nach dem Abhang hinab, und während Reineke dasaß und zusah, wie er seinen langen, schlangenähnlichen Körper von Zweig zu Zweig wand, dachte er: »Der schöne Baumjäger dort hat das grausamste Herz im ganzen Walde. Ich denke, die wilden Gänse werden mir für ein blutiges Erwachen danken können.«

Aber gerade als Reincke gespannt auf das Todesgeschrei der Gänse horchte, sah er den Marder von einem Zweig fallen und in den Bach hinabplumpsen, so daß das Wasser hoch aufspritzte. Gleich darauf erscholl ein klatschendes Geräusch von harten Flügeln, und alle Gänse stiegen in eilsamer Flucht in die Höhe.

Reineke wollte sofort hinter den Gänsen drein eilen, aber er war so neugierig, zu erfahren, wodurch sie errettet waren, daß er sitzen blieb, bis der Marder wieder heraufgeklettert kam. Der Ärmste war klatschnaß und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um sich das Gesicht mit den Vorderpfoten zu reiben. »Hab‘ ich mir es doch gedacht,« sagte Reineke verächtlich. »So ein Tolpatsch und in den Bach zu fallen!«

»Ich bin kein Tolpatsch gewesen. Du sollst mich nicht ausschelten!« sagte der Marder. »Ich saß schon auf einem der untersten Zweige und dachte darüber nach, wie ich es anfangen sollte, eine ganze Menge Gänse zu zerreißen, als ein kleiner Knirps, der nicht größer war als ein Eichhörnchen, herbeigestürzt kam und mir mit einer solchen Gewalt einen Stein gegen den Kopf schleuderte, daß ich ins Wasser fiel, und ehe es mir gelungen war, wieder herauszuklettern …«

Das weitere konnte sich der Marder ersparen. Er hatte keinen Zuhörer mehr, Reineke war schon lange über alle Berge, hinter den Gänsen drein.

Akka war indessen südwärts geflogen, auf der Umschau nach einem neuen Schlafplatz. Das Tageslicht war noch nicht ganz entschwunden, und außerdem stand der Halbmond hoch am Himmel, so daß sie einigermaßen sehen konnte. Glücklicherweise kannte sie die Gegend gut, denn es war mehr als einmal geschehen, daß sie vom Sturm nach Bleking hineingetrieben war, wenn sie im Frühling über die Ostsee zog.

Sie folgte dem Bach, solange sie ihn sich durch die mondhelle Landschaft gleich einer glänzend schwarzen Schlange winden sah. So gelangte sie bis ganz nach Djupafors, wo sich der Bach zuerst in einer unterirdischen Rinne versteckte und sich dann, klar und durchsichtig wie Glas, in eine enge Schlucht hinabstürzt, auf deren Grund er zu blitzenden Tropfen weitspritzenden Schaumes zerstiebt. Unter dem weißen Wasserfall lagen einige Steine, zwischen denen das Wasser mit wildem Brausen dahin stürzte, und hier ließ Akka sich nieder. Dies war wieder ein guter Schlafplatz, namentlich so spät am Abend, wenn keine Menschen unterwegs waren. Bei Sonnenuntergang hätten sich die Gänse kaum dort niederlassen können, denn Djupafors liegt nicht in einer einsamen Gegend. An der einen Seite des Wasserfalles liegt eine Papiermassefabrik, und an der andern, die steil und mit Bäumen bestanden ist, liegt der Djupataler Park, wo es stets von Leuten wimmelt, die auf den glatten und steilen Steigen umherstreifen, um sich an dem Anblick des unten zwischen Felsenklippen dahinbrausenden wilden Flusses zu erfreuen.

Es war hier wie an dem ersten Lagerplatz: nicht eine von den Gänsen dachte daran, daß sie sich an einem schönen und bekannten Aussichtsort befanden. Sie fanden wohl vielmehr, daß es unheimlich und gefährlich war, auf glatten, nassen Steinen mitten in einem lärmenden Gießbach zu stehen und zu schlafen. Aber sie mußten ja zufrieden sein, wenn sie nur gegen Raubtiere beschützt waren.

Die Gänse schliefen bald ein, der Junge hingegen hatte keine Ruhe zum Schlafen, er saß neben ihnen, um acht auf den Gänserich zu geben.

Nach einer Weile kam Reineke am Ufer entlang gelaufen. Er erblickte die Gänse sogleich draußen in den Schaumwirbeln und sah ein, daß er ihnen auch jetzt nichts anhaben konnte. Aufgeben wollte er sie aber doch nicht; er setzte sich am Ufer nieder und sah sie an. Er fühlte sich sehr gedemütigt und fand, daß sein ganzes Ansehen als Jäger auf dem Spiel stehe.

Plötzlich sah er einen Otter aus dem Gießbach herauskriechen; der trug einen Fisch im Maul. Reineke ging auf ihn zu, blieb aber in einer Entfernung von zwei Schritten stehen, um zu zeigen, daß es nicht seine Absicht sei, ihm die Jagdbeute wegzunehmen. »Du bist ein wunderlicher Kauz, daß du dich damit begnügst, Fische zu fangen, wenn es da draußen auf den Steinen von wilden Gänsen wimmelt,« sagte Reineke. Er war so eifrig, daß er sich keine Zeit ließ, in so wohlgesetzten Worten zu reden wie sonst. Der Otter drehte nicht einmal den Kopf nach Reineke um. Er war ein Landstreicher wie alle Ottern, hatte oft im Bombsee gefischt und kannte Reineke Fuchs sehr wohl. »Ich weiß recht gut, wie du es machst, um eine Lachsforelle zu ergattern, Reineke,« sagte er. »Ach, du bist es, Gripe,« sagte Reineke und freute sich, denn er wußte, daß dieser Otter ein mutiger und tüchtiger Schwimmer war. »Es ist ja nicht so zu verwundern, daß du dich nicht nach den wilden Gänsen umsehen willst, da du ja doch nicht zu ihnen hinauskommen kannst.« Aber der Otter, der eine Schwimmhaut zwischen den Zehen hatte und einen steifen Schwanz, der so gut wie ein Ruder war, und außerdem auch einen wasserdichten Pelz, wollte es nicht auf sich sitzen lassen, daß es einen Gießbach gebe, mit dem er nicht anzubinden wagte. Er wandte sich nach dem Strom um, und sobald er die wilden Gänse erblickt, warf er den Fisch hin und stürzte sich das steile Felsenufer hinab, in den Strom hinein.

Wäre der Frühling ein wenig weiter vorgeschritten, so daß die Nachtigallen im Djupadaler Park zu Hause gewesen wären, so würden sie noch viele Nächte hinterher von Gripes Kampf mit dem Wasserfall gesungen haben. Denn der Otter wurde wieder und wieder von den Wellen mit fortgerissen, arbeitete sich aber jedesmal wieder in die Höhe. Er schwamm durch seichtes Wasser, er kletterte über Steine, und nach und nach kam er den wilden Gänsen näher. Es war ein Wagestück, das wohl verdient hätte, von den Nachtigallen besungen zu werden.

Reineke folgte ihm mit den Augen, so gut er konnte. Schließlich sah er, daß der Otter im Begriff war, zu den wilden Gänsen hinaufzuklettern. Aber im selben Augenblick ertönte ein wilder, gellender Schrei, der Otter stürzte rücklings ins Wasser und wurde von den Wellen mit fortgerissen, als sei er ein blindes junges Kätzchen. Gleich darauf ertönte abermals der harte Flügelschlag der wilden Gänse. Sie schwangen sich empor und flogen davon, um sich einen neuen Schlafplatz zu schaffen.

Der Otter kam gleich an Land. Er sagte nichts, machte sich aber daran, seine eine Vorderpfote zu lecken. Als Reineke ihn verhöhnte, weil er Unglück gehabt hatte, rief er aus: »Das kam nicht daher, weil ich nicht schwimmen kann, Reineke. Ich war ganz bis zu den Gänsen gelangt und wollte gerade zu ihnen hinaufklettern, als ein kleiner Knirps gelaufen kam und mich mit einem scharfen Eisen in den Fuß stach. Das tat so weh, daß ich ins Gleiten geriet, und da entführte der Gießbach mich.«

Er konnte es sich ersparen, mehr zu sagen. Reineke war schon weit weg, hinter den Gänsen drein.

Noch einmal mußten Akka und ihre Schar in die dunkle Nacht hinausfliehen. Glücklicherweise war der Mond noch nicht untergegangen, und mit Hilfe seines Scheines gelang es ihr, noch einen der Schlafplätze zu finden, die ihr dort in der Gegend bekannt waren. Sie folgte abermals dem glitzernden Bach gen Süden. Ohne sich niederzulassen, schwebte sie über Schloß Djupdal und über den dunklen Dächern von Rönneberg dahin. Aber ein Stück südlich von der Stadt, nicht weit von der See, liegt Bad Rönneberg mit Badehaus und Kurhaus, mit großen Hotels und Sommerwohnungen für die Kurgäste. Dies alles steht den ganzen Winter leer und öde, worüber alle Vögel genau Bescheid wissen und gar manch eine Vogelschar sucht in strengen Sturmzeiten Schutz auf den Balkons und Veranden der leeren Häuser.

Hier ließen sich die wilden Gänse auf einen Balkon nieder und schliefen wie gewöhnlich sofort ein. Der Junge aber wollte nicht schlafen, denn er wollte nicht unter den Flügel des Gänserichs kriechen.

Der Balkon lag nach Süden, so daß der Junge Aussicht über die See hatte. Und da er nicht schlafen konnte, saß er da und beobachtete, wie schön es sich ausnahm, wenn Meer und Land sich hier in Bleking begegneten.

Nun können sich ja Meer und Land auf viele verschiedene Art begegnen. An vielen Stellen geht das Land mit flachen Wiesen voll kleinen Erderhöhungen an das Meer hinab, und das Meer nimmt das Land mit Flugsand in Empfang, den es zu Schanzen und Dünen auftürmt. Es ist, als könnten die beiden einander so wenig leiden, daß sie sich nur von ihrer allerschlechtesten Seite zeigen wollten. Aber es kann auch geschehen, daß das Land, wenn es nach dem Meer hinabgeht, eine Felswand vor sich aufrichtet, als sei das Meer etwas Gefährliches, und wenn das Land das tut, geht ihm das Meer mit erzürnten Brandungen entgegen, schäumt und bullert und schlägt gegen die Felsen und sieht so aus, als wolle es den Erdboden in Stücke zerreißen.

Aber in Blekinge geht es ganz anders zu, wenn Meer und Land sich begegnen. Da zersplittert sich das Land in Landspitzen und Inseln und Weiden, und das Meer teilt sich in Buchten und Föhrden und Sunde, und daher kommt es wohl, daß es so aussieht, als begegneten sie sich in Freude und Eintracht.

Denke nun zuvörderst an das Meer! Weit da draußen liegt es öde und leer und schwarz und tut nichts weiter als seine grauen Wogen rollen. Wenn es sich dem Lande nähert, begegnet es der ersten Schäre. Über die macht es sich gleich zum Herrn, reißt all das Grün ab und macht sie ebenso kahl und grau, wie es selber ist. Dann begegnet es noch einer Schäre. Mit der geht es ebenso. Und noch einer. Ja, auch mit der geht es nicht anders. Sie wird entkleidet und geplündert, als sei sie unter Räuber gefallen. Aber dann kommen immer mehr Schären, und nun versteht das Meer wohl, daß das Land ihm seine kleinsten Kinder entgegensendet, um es zu Milde zu bewegen. Es wird auch freundlicher und freundlicher, je weiter es hineingelangt, rollt seine Wellen weniger hoch, dämpft seine Stürme, läßt das Grün in Rissen und Spalten stehen, teilt sich in kleine Sunde und Buchten und wird schließlich ganz in der Nähe des Landes so wenig Furcht einflößend, daß sich kleine Boote darauf hinaus wagen. Es kann sich gewiß kaum selbst wiedererkennen, so licht und freundlich ist es geworden.

Und dann denke an das Land! Es liegt so einförmig da, und ein Fleck gleicht dem andern. Es besteht aus flachen Feldern, hier und da mit einem Birkenhain dazwischen, oder auch aus langen waldbedeckten Höhenzügen. Es sieht aus, als dächte es an nichts weiter als an Hafer und Rüben und Kartoffeln und Tannen und Fichten. Dann kommt ein Fjord, der sich tief hineinschneidet. Es macht kein Aufhebens davon, sondern säumt ihn mit Birken und Erlen, ganz als sei er ein gewöhnlicher Süßwassersee. Dann kommt noch ein Fjord dahergefahren. Auch von dem macht das Land kein Aufhebens, aber er erhält dieselbe Bekleidung wie der erste. Nun aber beginnen die Fjorde sich zu erweitern und zu teilen. Sie zersplittern die Felder und Wälder, und dann kann das Land nicht umhin, sie zu beachten. »Ich glaube wahrhaftig, da kommt das Meer selber,« sagt das Land, und dann fängt es an, sich zu schmücken. Es bekränzt sich mit Blumen, schlängelt sich in Hügeln und Tälern und wirft Inseln ins Meer hinaus. Es will nichts mehr wissen von Fichten und Tannen, es wirft sie weg wie ein vertragenes Alltagsgewand und prangt statt dessen mit großen Eichen und Linden und Kastanien und mit blühenden Hainen und wird so zierlich wie ein Schloßpark. Und als es sich mit dem Meer begegnet, ist es so verändert, daß es sich selbst nicht mehr wieder zu erkennen vermag.

Das alles kann man ja nicht wirklich sehen, ehe es Sommer wird, aber der Junge konnte doch merken, wie mild und freundlich die Natur war und ihm war ruhiger zumute wie sonst während der Nacht. Da vernahm er plötzlich ein lautes, unheimliches Heulen unten vom Kurpark her, und als er sich erhob, sah er in dem weißen Mondlicht auf dem Platz vor dem Balkon einen Fuchs stehen. Denn Reineke verfolgte die Gänse noch einmal. Als er aber den Platz sah, auf dem sie sich aufgestellt hatten, begriff er, daß es diesmal unmöglich war, ihnen etwas anzuhaben, und da konnte er sich nicht bezwingen, er mußte vor Wut heulen.

Als der Fuchs so heulte, erwachte die alte Akka, die Führergans, und obwohl sie fast nichts sehen konnte, war es ihr doch, als müsse sie die Stimme kennen. »Bist du es, Reineke, der in dieser Nacht auf Raub ausgeht?« sagte sie. – »Ja,« antwortete Reineke, »ich bin es, und ich möchte euch jetzt fragen, wie ihr Gänse über die Nacht denkt, die ich euch bereitet habe?« – »Willst du damit sagen, daß du uns sowohl den Marder als auch den Otter auf den Hals geschickt hast?« fragte Akka. – »Eine gute Tat soll man nicht abstreiten,« sagte Reineke. »Ihr habt einmal Gänsespiel mit mir gespielt. Jetzt habe ich angefangen, Fuchsspiel mit euch zu spielen, und ich bin nicht gesonnen, aufzuhören, solange noch eine einzige von euch am Leben ist, und sollte ich auch gezwungen sein, euch durch das ganze Land zu folgen.« – »Ja, Reineke, du solltest doch bedenken, ob es recht von dir ist, der du mit Zähnen und Krallen bewaffnet bist, uns, die wir wehrlos sind, so zu verfolgen,« sagte Akka. Reineke fand, daß es so klang, als sei Akka bange, und er sagte schnell: »Wenn du diesen Däumling nehmen und mir herunterwerfen willst, ihn, der mir nun schon so manches Mal in die Quere gekommen ist, dann verspreche ich dir, Frieden mit dir zu machen, Akka. Dann will ich weder dich noch eine von den Deinen je wieder verfolgen.« – »Däumling kann ich dir nicht geben,« sagte Akka. »Von der Jüngsten bis zur Ältesten würden wir alle gern unser Leben für ihn wagen.« – »Haltet ihr so große Stücke auf ihn,« sagte Reineke, »dann verspreche ich dir, daß er der erste von euch sein soll, an dem ich Rache üben werde.«

Akka sagte nichts mehr, und als Reineke noch ein paar heulende Töne ausgestoßen hatte, wurde alles still. Der Junge aber lag noch immer wach. Jetzt hinderten ihn die Worte, die Akka zu dem Fuchs gesagt hatte, am Schlafen. Nie hatte er sich träumen lassen, etwas so Großes zu hören, daß nämlich jemand sein Leben für ihn wagen wollte. Von dem Augenblick an konnte man von Niels Holgersen nicht mehr sagen, daß er niemand lieb hatte.

IX. Karlskrona

Sonnabend, den 2. April.

Es war an einem Abend in Karlskrona, und es war Mondschein. Es war still und schön, aber früherhin am Tage hatte es gestürmt und geregnet, und die Leute glaubten wohl, daß noch schlechtes Wetter sei, denn kaum ein Mensch hatte sich auf die Straße hinausgewagt.

Wie nun die Stadt so verlassen dalag, kamen die wilde Gans Akka und ihre Schar über die Vämmö und den Pantorholm auf Karlskrona zugeflogen. Sie waren in der späten Abendstunde darauf aus, einen sichern Schlafplatz in den Schären zu suchen. Sie konnten nicht an Land bleiben, weil Reineke Fuchs sie störte, wo sie sich auch niederließen.

Als nun der Junge hoch oben in der Luft dahergeritten kam und das Meer und die Schären sah, die sich vor ihm ausbreiteten, fand er, daß alles so wunderlich und gespensterhaft aussah. Der Himmel war nicht mehr blau, er wölbte sich über ihm wie eine Kuppel aus grünem Glas. Das Meer lag milchweiß. So weit er sehen konnte, kamen kleine, weiße Wellen mit Silberglanz auf dem Kamm dahergerollt. Mitten in all dem Weiß lagen die vielfachen Schäreninseln ganz kohlschwarz. Mochten sie groß sein oder klein, mochten sie flach sein wie Wiesen oder voll von Klippen, sie waren gleich schwarz. Ja, selbst Häuser und Kirchen und Windmühlen, die sonst weiß oder rot sind, heben sich schwarz gegen den grünen Himmel ab. Der Junge fand, es war so, als sei die Erde unter ihm vertauscht, als sei er in eine andere Welt gekommen.

Er sagte zu sich selbst, heute nacht wolle er tapfer aushalten und nicht bange sein, aber dann erblickte er sogleich etwas, das ihm einen großen Schrecken einjagte. Es war eine hohe Felseninsel, die mit großen, eckigen Steinblöcken bedeckt war, und zwischen den schwarzen Steinblöcken glitzerten Punkte von klarem, schimmerndem Gold. Er konnte es nicht lassen, an den Maglestein bei Trolle-Ljungby zu denken, den die Kobolde einstmals auf hohen goldenen Säulen errichtet hatten, und er dachte, daß dies vielleicht etwas von derselben Art sei.

Aber das mit den Steinen und dem Gold hätte noch angehen können, wenn da nur nicht so viel Teufelkram rings um die Insel herum im Wasser gelegen hätte. Das sah aus wie Walfische und Haie und andere große Meerestiere, aber der Junge wußte ja sehr wohl, daß es Wassergeister waren, die sich um die Insel geschart hatten und nun da hinaufklettern und mit den Landgeistern kämpfen wollten, die dort wohnten. Und die da oben an Land waren gewiß bange, denn er konnte einen großen Riesen oben auf der Spitze der Insel stehen und, wie in Verzweiflung über all das Unglück, das über ihn und die Insel kommen würde, die Arme ausstrecken sehen.

Der Junge war nicht wenig erschrocken, als er merkte, daß Akka den Flug abwärts nahm, sobald sie über der Insel waren. »Huh! Wir wollen uns doch nicht dort niederlassen!« sagte er.

Aber die Gänse schwebten ruhig abwärts, und bald mußte der Junge staunen, daß er sich so geirrt hatte. Denn erstens waren die großen Steinblöcke nichts weiter als Häuser. Die ganze Insel war eine Stadt, und die schimmernden goldenen Punkte waren Laternen und Reihen von erleuchteten Fenstern. Der Riese, der oben auf der Spitze der Insel stand und die Arme in die Höhe streckte, war eine Kirche mit zwei viereckigen Türmen, und alle die Meeresgeister und Ungeheuer, die er zu sehen geglaubt, waren Boote und Schiffe jeglicher Art, die rings um die Insel vertäut lagen. Auf der Seite, die dem Lande zunächst lag, waren die meisten Ruderboote und Segelboote und kleinen Küstendampfer, aber auf der Seite nach dem Meere zu lagen gepanzerte Kriegsschiffe, einige breit, mit mächtig dicken, hintenüberliegenden Schornsteinen, andere lang und schmal und so gebildet, daß sie wie Fische durchs Wasser gleiten mußten.

Was für eine Stadt konnte dies nur einmal sein? Ja, der Junge ward sich klar darüber, sobald er die vielen Kriegsschiffe sah. Er hatte Schiffe geliebt, seit er klein war, obwohl er mit keinen anderen zu schaffen gehabt, als mit den Fahrzeugen, die er zum Segeln in den Gräben ausgesetzt hatte. Es unterlag keinem Zweifel, daß die Stadt, wo so viele Kriegsschiffe lagen, keine andere als Karlskrona sein konnte.

Der Junge hatte einen alten Großvater mütterlicherseits gehabt, der in der Marine gedient und so lange er lebte, jeden Tag von Karlskrona erzählt hatte, von der großen Marinewerft und von all dem andern, das in dieser Stadt zu sehen war. Hier fühlte sich der Junge ganz wie zu Hause, und er freute sich, daß er nun all das zu sehen bekam, wovon er so viel hatte reden hören.

Aber er bekam nicht mehr als einen Schimmer von den Türmen und Festungswerken, die die Einfahrt des Hafens sperrten, und von den vielen Gebäuden auf der Werft zu sehen, denn Akka ließ sich auf einem der beiden flachen Kirchtürme nieder.

Das war ja freilich ein sicherer Ort für jemand, der einem Fuchs entkommen wollte, und der Junge meinte, diese Nacht könne er gewiß ruhig unter den Flügel des Gänserichs schlüpfen. Ja, das konnte er wohl, es würde gut tun, ein wenig zu schlafen. Sobald es hell wurde, wollte er versuchen, etwas mehr von der Werft und von den Schiffen zu sehen.

Der Junge fand es selber wunderlich, daß er sich nicht ruhig verhalten und den nächsten Morgen abwarten konnte, bis er die Schiffe sah. Er hatte wohl kaum fünf Minuten geschlafen, als er schon unter dem Flügel hervorkroch und an dem Blitzableiter und den Dachrinnen auf die Straße hinabglitt.

Bald stand er auf einem großen Marktplatz, der vor der Kirche lag. Er war mit spitzigen Steinen gepflastert, und es war für ihn ebenso schwer dort zu gehen wie für Erwachsene auf einer Wiese voller Erderhöhungen. Leuten, die in der Einöde hausen oder weit draußen auf dem Lande wohnen, wird immer unheimlich zumute, wenn sie in eine Stadt kommen, wo die Häuser schnurgerade stehen und die Straßen offen liegen, so daß ein jeder den sehen kann, der darin geht. Und so erging es jetzt dem Jungen. Als er auf dem großen Karlskronaer Marktplatz stand, und die deutsche Kirche und das Rathaus und die große Kirche sah, von der er eben herabgestiegen war, da konnte er sich nicht enthalten, zu wünschen, daß er wieder oben auf dem Turm bei den Gänsen sein könne.

Zum Glück war es ganz leer auf dem Marktplatz. Da war kein Mensch, wenn man nicht eine Statue mitrechnen will, die auf einem erhöhten Sockel stand. Der Junge sah die Statue lange an, sie stellte einen großen, starkknochigen Mann dar mit dreieckigem Hut, langem Rock, Kniehosen und dicken Schuhen. Er grübelte nach, wer das wohl sein könne. Der Mann hatte einen langen Stock in der Hand und sah auch wohl aus, als ob er ihn gebrauchen könne, denn er hatte ein schrecklich strenges Gesicht mit einer großen, krummen Nase und einem häßlichen Mund.

»So eine Langlippe!« sagte der Junge. »Was will der Kerl hier?« Nie war er sich selbst so klein und elend vorgekommen wie an diesem Abend. Er suchte sich Mut zu machen, indem er ein flottes Wort sagte. Dann dachte er nicht mehr an die Statue, sondern ging eine breite Straße hinab, die an die See führte.

Aber er war noch nicht weit gegangen, als er hörte, daß jemand hinter ihm drein kam. Es ging einer hinter ihm und stampfte mit schweren Schritten und stieß mit einem eisenbeschlagenen Stock hart auf das Pflaster. Es klang so, als sei es der große Bronzemann vom Marktplatz selber, der sich auf die Wanderschaft begeben hatte.

Der Junge lauschte den Schritten, während er die Straße hinabging, und er wurde immer mehr davon überzeugt, daß es der Bronzemann war. Die Erde bebte und die Häuser zitterten. Kein anderer als er konnte so schwer auftreten, und der Junge wurde bange und dachte daran, was er eben noch zu ihm gesagt hatte. Er wagte nicht, den Kopf umzudrehen, um zu sehen, ob er es wirklich sei.

»Vielleicht geht er nur zu seinem Vergnügen spazieren,« dachte der Junge. »Er kann doch unmöglich böse auf mich sein, weil ich das vorhin sagte. Ich habe ja nichts Böses damit gemeint.«

Statt geradeaus zu gehen und den Versuch zu machen, zur Werft hinabzugelangen, bog der Junge in eine Straße ein, die nach Osten führte. Vor allen Dingen mußte er dem entkommen, der ihm folgte.

Aber gleich darauf hörte er den Bronzemann in dieselbe Straße einbiegen, und der Junge wurde so bange, daß er sich nicht zu helfen wußte. Und wie schwer war es doch, ein Versteck in einer Stadt zu finden, wo alle Türen geschlossen waren! Da sah er zu seiner Rechten eine alte hölzerne Kirche, die ein wenig abseits von der Straße in einer großen Gartenanlage lag. Er besann sich keinen Augenblicks sondern stürzte auf die Kirche zu. »Gelange ich nur dahin, so bin ich gegen alles Böse beschützt,« dachte er.

Wie er so davonlief, gewahrte er plötzlich einen Mann, der mitten im Kiesgang stand und ihm zuwinkte. »Das ist gewiß einer, der mir helfen will,« dachte der Junge, freute sich sehr und eilte dahin. Er war wirklich so bange, daß ihm das Herz heftig in der Brust schlug.

Aber als er zu dem Manne hinkam, der auf einem Sockel hart an dem Kiesgang stand, wurde er ganz stutzig. »Der kann mir doch nicht gewinkt haben,« dachte er, denn er sah, daß der ganze Mann aus Holz war.

Er blieb stehen und starrte ihn an. Es war ein vierschrötiger, kurzbeiniger Mann mit einem breiten, rotscheckigen Gesicht, blankem, schwarzem Haar und einem schwarzen Vollbart. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen, hölzernen Hut, auf dem Leibe einen braunen, hölzernen Rock, um die Taille einen schwarzen, hölzernen Gürtel, an den Beinen weite, graue, hölzerne Kniehosen und hölzerne Strümpfe und an den Füßen schwarze, hölzerne Stiefel. Er war frisch gemalt und frisch lackiert, so daß er im Mondschein schimmerte und glitzerte, was vielleicht dazu beitrug, ihm einen gutmütigen Ausdruck zu verleihen, so daß der Junge sofort Vertrauen zu ihm faßte.

Er stand mit einer hölzernen Tafel in der linken Hand da, und auf der Tafel las der Junge:

So herzlich flehe ich dich an,
Wenn auch nur matt ist meine Stimm‘:
Leg‘ einen Schilling nieder hier,
Doch meinen Hut erst ab mir nimm!

Ach so, der Mann war also nichts weiter als eine Armenbüchse! Der Junge war enttäuscht. Er hatte sich etwas Merkwürdigeres hiervon versprochen. Und nun fiel ihm ein, daß der Großvater auch von einem hölzernen Mann erzählt und gesagt hatte, daß alle Kinder in Karlskrona ihn so liebten. Und das verhielt sich offenbar wirklich so, denn auch ihm wurde es schwer, sich von dem hölzernen Mann zu trennen. Er hatte etwas so Altmodisches an sich, daß man ihn gut mehrere hundert Jahre alt halten konnte, und doch sah er so stark und keck und lebensfroh aus, gerade so, wie man sich vorstellt, daß die Leute in alten Zeiten ausgesehen haben.

Es belustigte den Jungen so sehr, den hölzernen Mann anzusehen, daß er den andern, vor dem er geflohen war, ganz darüber vergaß. Aber jetzt hörte er ihn. Er bog von der Straße ab und gelangte auf den Kirchhof. Auch dort kam er hinter ihm drein. Was sollte der Junge doch nur anfangen?

Im selben Augenblick sah er, wie der hölzerne Mann sich zu ihm hinabbeugte und seine große, breite Hand ausstreckte. Es war unmöglich, ihm etwas Böses zuzutrauen, und mit einem Satz stand der Junge auf der flachen Hand. Und der hölzerne Mann hob ihn an seinen Hut und steckte ihn darunter.

Kaum war der Junge versteckt, und kaum hatte der hölzerne Mann seinen Arm wieder an Ort und Stelle, als der Bronzemann vor ihm stehen blieb und seinen Stock hart auf die Erde stieß, so daß der hölzerne Mann auf seinem Sockel erbebte. Und dann sagte der Bronzemann mit starker, gellender Stimme: »Was für einer ist Er?«

Der Arm des hölzernen Mannes fuhr in die Höhe, so daß es in dem alten Holzwerk krachte, und er griff an die Hutkrempe, als er antwortete: »Rosenbom, mit Ew. Majestät Erlaubnis. Seinerzeit Oberbootsmann auf dem Linienschiff Kühnheit, nach beendetem Kriegsdienst Kirchendiener an der Admiralitätskirche, jetzt, zuletzt, in Holz geschnitzet und als Armenbüchse auf dem Kirchhof aufgestellet.«

Es durchzuckte den Jungen, als er den hölzernen Mann Ew. Majestät sagen hörte. Denn jetzt, als er nachdachte, wußte er sehr wohl, daß die Statue auf dem Marktplatz den Gründer der Stadt vorstellte. Es war kein Geringerer als Karl der Elfte in höchsteigener Person, mit dem er aneinandergeraten war.

»Er gibt klaren Bescheid,« sagte der Bronzemann, »Kann Er mir nun auch sagen, ob Er einen kleinen Knirps gesehen hat, der zu nächtlicher Zeit in der Stadt herumläuft? Es ist eine naseweise Canaille, und wenn ich seiner nur habhaft werden kann, will ich ihn schon Mores lehren.« Und dann stieß er noch einmal mit dem Stock auf die Erde und sah fürchterlich zornig aus.

»Ich habe ihn gesehen, mit Ew. Majestät Erlaubnis,« sagte der hölzerne Mann, und der Junge wurde so bange, daß er in seinem Versteck unter dem Hut zitterte. Er konnte den Bronzemann durch einen Riß im Holz sehen. Aber er beruhigte sich wieder, als der hölzerne Mann fortfuhr: »Ew. Majestät sind auf falscher Spur. Der Junge hatte offenbar die Absicht, nach der Werft zu laufen und sich dort zu verstecken.«

»Sagt Er das, Rosenbom? Aber dann darf Er nicht länger ruhig auf seinem Sockel stehen. Komme Er lieber mit und helfe Er mir, ihn suchen. Vier Augen sehen mehr als zwei, Rosenbom.«

Aber der hölzerne Mann antwortete mit kläglicher Stimme: »Ich bitte untertänigst, daß ich stehenbleiben darf, wo ich stehe. Ich bin frisch angemalt, und daher sehe ich neu und glänzend aus, aber ich bin alt und gebrechlich und kann es nicht vertragen, mich zu rühren.«

Der Bronzemann gehörte nicht zu den Leuten, die Widerspruch dulden. »Was sind das für Ausflüchte? Will Er nicht sofort mitkommen, Rosenbom!« Und er erhob seinen langen Stock und versetzte dem andern einen Schlag auf den Rücken, so daß es dröhnte. »Sieht Er wohl, daß Er noch hält, Rosenbom?«

Damit machten sie sich auf den Weg und schritten groß und mächtig die Straßen von Karlskrona dahin, bis sie an ein hohes Tor gelangten, das zur Werft führte. Draußen ging ein Matrose von der Flotte Wache, aber der Bronzemann schritt nur an ihm vorüber und stieß das Tor mit dem Fuß auf, ohne daß der Matrose es zu sehen schien.

Sobald sie auf die Werft gekommen waren, sahen sie einen großen und breiten Hafen vor sich, der mit Bollwerken abgeteilt war. In den verschiedenen Hafenbassins lagen Kriegsschiffe und sahen hier aus der Nähe viel größer und schreckeinflößender aus als vorhin, da der Junge sie von oben herab gesehen hatte. »Es war gar nicht so dumm, zu glauben, daß es Seegeister seien,« dachte er.

»Wo, meint Er, ist es am vernünftigsten, mit dem Suchen zu beginnen, Rosenbom?« fragte der Bronzemann.

»So ein kleiner Wicht könnte sich wohl am ersten in dem Modellsaal verstecken,« antwortete der hölzerne Mann.

Auf einem schmalen Streifen Land, der sich rechts vom Torweg an dem ganzen Hafen entlang erstreckte, lagen einige altmodische Gebäude. Der Bronzemann ging auf ein Haus mit niedrigen Mauern, kleinen Fenstern und einem hohen Dach zu. Er stieß mit seinem Stock gegen die Tür, so daß sie aufsprang und trampelte eine Treppe mit ausgetretenen Stufen hinauf. Dann kamen sie in einen großen Saal, der mit aufgetakelten und vollgerickten kleinen Schiffen angefüllt war. Der Junge begriff, ohne daß es ihm jemand sagte, daß dies Modelle von den für die schwedische Flotte erbauten Schiffen waren.

Da waren Schiffe von mancherlei Art. Da waren alte Linienschiffe, die Seiten mit Kanonen gespickt, mit hohen Überbauten vorne und achtern und mit Masten, die beschwert waren von einem Wirrwarr aus Segeln und Tauwerk. Da waren kleine Schärenfahrzeuge mit Ruderbänken längs der Schiffsseiten, da waren Kanonenboote ohne Deck und reichvergoldete Fregatten, die Modelle zu denjenigen, die von den Königen auf ihren Reisen benutzt waren. Endlich waren da auch die schweren, breiten Panzerschiffe mit Türmen und Kanonen an Deck, wie sie heutzutage gebraucht werden, und schmale, blanke Torpedoboote, die langen, dünnen Fischen glichen.

Als der Junge zwischen all diesem herumgetragen wurde, war er sehr verwundert.

»Nein, daß wir hier in Schweden so schöne, große Schiffe gebaut haben!« dachte er bei sich.

Er hatte gute Zeit, sich alles anzusehen, was da drinnen war, denn als der Bronzemann die Modelle sah, vergaß er alles andere. Er betrachtete sie alle, vom ersten bis zum letzten, und stellte Fragen darüber. Und Rosenbom, der Oberbootsmann auf der Kühnheit, erzählte alles, was er von den Baumeistern der Schiffe wußte und von denen, die sie geführt hatten, und was ihr Los gewesen war. Er erzählte von Chapman und von Puke und Trolle, von Hogland und Svendsksund bis hinab zu 1809, denn nach jener Zeit war er nicht mehr mit dabei gewesen.

Sowohl er als auch der Bronzemann fanden am meisten Gefallen an den schönen, alten hölzernen Schiffen. Auf die neuen Panzerschiffe verstanden sie sich offenbar nicht so recht.

»Ich merke, Rosenbom weiß nichts von diesen neuen Dingern,« sagte der Bronzemann. »Sehen wir uns deswegen lieber etwas anderes an, denn dies interessiert mich, Rosenbom!«

Es schien, als habe er den Jungen ganz vergessen, und der saß sicher und ruhig oben in dem hölzernen Hut.

Darauf wanderten die beiden Männer durch die großen Werkstättenräume: die Segelmacherwerkstatt und die Ankerschmiede, die Maschinen- und Tischlerwerkstätten. Sie besahen die Mastenkräne und die Docks, die großen Speicher, den Artilleriehof, das Zeughaus, die lange Reiferbahn und das große, verlassene Dock, das in die Klippe gesprengt war. Sie gingen auf die Bollwerke hinaus, wo die Kriegsschiffe vertäut lagen, gingen an Bord derselben und besahen sie wie zwei alte Seebären, staunten und tadelten, und bewunderten und ärgerten sich.

Der Junge saß ganz ruhig unter dem hölzernen Hut und hörte darüber reden, wie man an diesem Ort gekämpft und gearbeitet hatte, um alle die Flotten auszurüsten, die von hier ausgegangen waren. Er hörte, wie man Blut und Leben gewagt, wie man sein letztes Scherflein geopfert hatte, um Kriegsschiffe zu bauen, wie kluge Männer alle ihre Kräfte eingesetzt hatten, um diese Schiffe, die der Schutz des Vaterlandes waren, zu verbessern und zu vervollkommnen. Ein paarmal fehlte nicht viel, daß dem Jungen Tränen in die Augen traten, wenn er von alledem reden hörte. Und er freute sich, daß er so gut Bescheid darüber erhielt.

Zu allerletzt gingen sie in einen offenen Hof hinaus, wo die Gallionsfiguren von den alten Linienschiffen aufgestellt waren. Und etwas Merkwürdigeres hatte der Junge noch nie gesehen, denn diese Figuren hatten mächtige, schreckeinflößende Gesichter. Sie waren groß, dreist und wild, erfüllt von demselben stolzen Geist, der die großen Schiffe ausgerüstet hatte. Sie stammten aus einer andern Zeit als der seinen. Er fühlte sich so klein ihnen gegenüber.

Aber als sie da hinauskamen, sagte der Bronzemann zu dem hölzernen Mann: »Nehm‘ Er jetzt den Hut ab, Rosenbom, vor denen, die hier stehen! Sie sind alle für das Vaterland im Kampf gewesen.«

Und Rosenbom hatte ebenso wie der Bronzemann vergessen, weshalb sie hierhergekommen waren. Ohne sich zu besinnen, nahm er den Hut ab und rief:

»Ich nehme meinen Hut ab vor dem, der den Hafen auserwählte und die Werft gründete und die Flotte neu erschuf, vor dem König, der dies alles ins Leben rief!«

»Danke, Rosenbom! Das war gut gesagt. Rosenbom ist ein Ehrenmann. Aber was ist denn das, Rosenbom?«

Denn da stand Niels Holgersen mitten auf Rosenboms kahlem Scheitel. Aber jetzt war er nicht mehr bange; er nahm seine weiße Mütze ab und rief:

»Hurra! Du sollst leben, Langlippe!«

Der Bronzemann stieß den Stock hart auf die Erde, aber der Junge erfuhr nie, was er zu tun beabsichtigt hatte, denn jetzt ging die Sonne auf, und im selben Augenblick verschwand sowohl der Bronzemann als auch der hölzerne Mann, als seien sie aus Nebel geschaffen. Während er noch dastand und ihnen nachstarrte, flogen die wilden Gänse vom Kirchturm auf und schwebten hin und her über der Stadt. Plötzlich erblickten sie Niels Holgersen, und der große weiße Gänserich schoß aus den Wolken herab und holte ihn.