XLVIII. Ein kleiner Herrenhof

Donnerstag, 6. Oktober.

Die Wildgänse flogen an dem Klarelf entlang, bis sie zu der großen Fabrik bei Munkefors kamen. Dann bogen sie nach Westen, dem Frydstal zu, ab. Ehe sie noch den Frykensee erreicht hatten, begann es zu dunkeln, und sie ließen sich auf einem flachen Moor eben in einem Bergwald nieder. Das Moor war ein vorzügliches Nachtquartier für Wildgänse, aber Niels Holgersen fand, daß es kalt und ungemütlich war, und er hätte gern einen besseren Platz zum Schlafen gehabt. Während sie noch hoch oben in der Luft gewesen waren, hatte er am Fuß des Bergrückens einige Höfe liegen sehen, und nun beeilte er sich, sie aufzusuchen.

Der Weg war länger, als er geglaubt hatte, und er war mehrmals nahe daran, wieder umzukehren. Aber endlich wurde der Wald lichter, und er kam auf eine Landstraße, die am Waldessaume entlang lief. Von der Straße führte eine schöne Birkenallee nach einem Herrenhofe, und er lenkte sogleich seine Schritte dahin.

Zuerst kam er auf einen Hofplatz, der von langen, roten Wirtschaftsgebäuden umgeben und so groß war wie ein Marktplatz. Als er ihn durchschritten hatte, kam er auf einen zweiten Hof, und dort sah er das Wohnhaus mit einem Seitenflügel, und davor einen Kiesweg und einen großen Rasen; hinter dem Hause aber lag ein Garten voller Bäume. Das Wohnhaus selbst war klein und unansehnlich, der Rasen aber war von einer Reihe mächtiger Ebereschen umkränzt, die so dicht nebeneinander standen, daß sie eine förmliche Wand bildeten, und dem Jungen war es, als sei er in einen prächtigen, gewölbten Saal gekommen. Über dem Ganzen wölbte sich ein blaßblauer Himmel; die Ebereschen waren gelb mit großen, roten Beerenbüscheln, das Gras war noch grün, aber das starke, klare Nordlicht warf einen solchen Glanz darauf, daß es so weiß wie Silber schimmerte.

Kein Mensch war zu sehen, so konnte der Junge frei umhergehen, wo er wollte, und als er in den Garten kam, entdeckte er etwas, das ihn sofort in gute Laune versetzte. Er war auf eine kleine Eberesche geklettert, um sich ein paar Beeren zu pflücken, ehe er aber noch einen Büschel abgebrochen hatte, gewahrte er einen Faulbaum, der ebenfalls voller Früchte stand. Schnell ließ er sich von der Eberesche herabgleiten und kletterte auf den Faulbaum hinauf, kaum aber saß er dort, als er einen Johannisbeerbusch erblickte, an dem noch lange, rote Trauben hingen. Und nun sah er, daß der ganze Garten voll von Stachelbeeren, Himbeeren und Hagebutten war. Im Küchengarten standen Rüben und Kohlrabi in Hülle und Fülle, alle Büsche waren voller Beeren, jede Pflanze trug Samen, und die Grashalme hatten kleine Ähren voller Körner. Und dort auf dem Gang – er hatte sich doch nicht geirrt? – nein, da lag wirklich ein großer, roter, schimmernder Apfel!

Der Junge setzte sich auf die Rasenkante und machte sich daran, mit seinem Messer kleine Stücke von dem Apfel abzuschneiden. »Wenn man nur immer so leicht zu einer guten Mahlzeit kommen könnte wie hier auf dem Hofe, dann wäre es nicht gar so schlimm, ein Heinzelmännchen zu sein,« dachte er.

Während er dasaß und aß, überlegte er, und schließlich fragte er sich selbst, ob es nicht vielleicht das beste wäre, wenn er gleich hier bliebe und die Wildgänse allein gen Süden ziehen ließe. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich es dem Gänserich Martin erklären soll, daß ich nicht nach Hause reisen kann,« dachte er. »Es wäre gewiß besser, wenn ich mich ganz von ihm trennte. Ich könnte es ja machen wie die Eichhörnchen, könnte mir einen Wintervorrat sammeln, daß ich nicht zu verhungern brauchte, und ein warmes Eckchen im Kuhstall oder im Pferdestall würde ich schon finden, damit ich nicht zu erfrieren brauchte!«

Wie er so dasaß und darüber nachdachte, hörte er ein leichtes Rauschen über seinem Kopf, und im nächsten Augenblick stand etwas neben ihm, das einem kleinen Birkenstumpf glich. Der Stumpf drehte und wendete sich, und zwei helle Punkte an dem oberen Ende schimmerten wie ein Paar glühende Kohlen. Es sah so aus wie der schrecklichste Zauberspuk, aber der Junge entdeckte sogleich, daß der Stumpf einen gekrümmten Schnabel hatte und ein Paar schwarze Federkränze um die glühenden Augen, und da beruhigte er sich wieder.

»Wie angenehm, ein lebendes Wesen zu treffen,« sagte er. »Vielleicht könnten Sie, Frau Nachteule, mir erzählen, wie dieser Ort heißt, und was für Leute hier wohnen?«

Die Nachteule hatte an diesem Abend wie an allen vorhergehenden Abenden auf einer Sprosse der großen Leiter gesessen, die an das Dach gelehnt stand und hatte auf die Kiesgänge und Rasenplätze herniedergelugt, um nach Mäusen auszuspähen. Aber zu ihrer Verwunderung hatte sich nicht einmal der Schwanz einer Maus blicken lassen. Statt dessen sah sie etwas, was einem Menschen glich, wenngleich es viel kleiner war, sich im Garten bewegen. »Da haben wir wohl den, der die Mäuse wegscheucht,« dachte die Nachteule. »Was für ein Wesen mag das nur sein?«

»Es ist kein Eichhörnchen, und ein junges Kätzchen ist es auch nicht, und auch kein Wiesel,« dachte sie weiter. »Ich sollte doch denken, daß ein Vogel, der so lange wie ich auf einem alten Herrenhof gewohnt hat, alles kennen sollte, was es auf der Welt gibt. Aber dies hier geht über meinen Verstand.«

Und sie starrte unverwandt auf das Ding nieder, das sich dort unten auf dem Kiesgang bewegte, bis ihre Augen glühten. Schließlich siegte doch die Neugier, und sie flog auf die Erde hinab, um den Fremden näher in Augenschein zu nehmen

Als Niels Holgersen zu sprechen begann, beugte sich die Eule vor und betrachtete ihn genau. »Er hat weder Klauen noch Stacheln,« dachte sie, »aber wer kann wissen, ob er nicht einen Giftzahn hat oder eine andere Waffe, die noch gefährlicher ist? Es wird wohl das beste sein, wenn ich versuche, erst ein wenig Näheres über ihn zu erfahren, ehe ich mich mit ihm einlasse.«

»Der Herrenhof heißt Mårbacka,« erwiderte die Eule, »und hier haben in alten Zeiten gute Menschen gewohnt. Aber was für einer bist denn du?« – »Ich gehe mit dem Gedanken um, hierher zu ziehen,« sagte der Junge, ohne die Frage der Eule geradezu zu beantworten. »Glaubst du, daß sich das machen ließe?« – »Ach ja, es ist übrigens jetzt nicht weit her mit dem Hof, im Vergleich zu dem, was er früher gewesen ist,« entgegnete die Eule, »aber es läßt sich hier ja immerhin leben. Es kommt freilich darauf an, wovon du zu leben beabsichtigst. Denkst du daran, dich auf die Mäusejagd zu legen?« – »Nein, Gott soll mich bewahren!« sagte der Junge. »Die Gefahr ist wohl größer, daß mich die Mäuse auffressen, als daß ich ihnen Schaden zufüge.«

»Ob er wohl wirklich so wenig gefährlich sein sollte, wie er sagt?« dachte die Nachteule. »Ich will doch lieber einen Versuch machen.« Sie schwang sich in die Luft empor, und einen Augenblick später hatte sie die Krallen in Niels Holgersens Schulter geschlagen und hackte nach seinen Augen. Niels hielt eine Hand vor die Augen und suchte sich mit der anderen zu befreien. Gleichzeitig schrie er aus Leibeskräften um Hilfe. Er merkte, daß er sich wirklich in Lebensgefahr befand, und er sagte zu sich selbst, daß es diesmal sicher mit ihm aus sein würde.

*

Aber nun muß ich erzählen, wie merkwürdig es sich traf, daß gerade in demselben Jahr, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen reiste, in Schweden eine Schriftstellerin war, die ein Buch über ihre Heimat schreiben sollte. Es sollte so ein Buch sein, das die Kinder in den Schulen lesen konnten. Hierüber hatte sie nun von Weihnacht bis zum Herbst nachgedacht, aber sie hatte noch nicht eine einzige Zeile von dem Buch geschrieben, und schließlich war sie des Ganzen so überdrüssig gewesen, daß sie zu sich selbst sagte: »Hierzu bist du nicht zu gebrauchen, setze dich lieber hin und dichte Geschichten und Märchen, wie du es sonst getan hast, und laß jemand anders dies Buch schreiben, denn es soll lehrreich und ernsthaft sein, und es darf kein unwahres Wort darin stehen!«

Sie war eigentlich entschlossen, ihr Vorhaben aufzugeben, aber sie hatte sich so darauf gefreut, etwas Schönes über Schweden zu schreiben, daß es ihr schwer wurde, den Gedanken ganz aufzugeben. Schließlich kam es ihr in den Sinn, daß sie vielleicht deswegen nicht mit der Arbeit zustande kommen könne, weil sie in einer Stadt saß und nichts weiter vor sich sah als Straßen und Mauern. Wenn sie aufs Land hinausreiste, wo sie Wälder und Felder sehen könne, würde es vielleicht besser gehen.

Sie stammte aus Värmland und war sich ganz klar darüber, daß sie das Buch mit dieser Landschaft beginnen lassen wollte. Und vor allen Dingen wollte sie von dem Hof erzählen, auf dem sie herangewachsen war. Es war ein altmodischer Herrenhof, der weltabgeschieden dalag, und auf dem sich viele altertümliche Sitten erhalten hatten. Sie dachte, es würde die Kinder amüsieren, von den vielen verschiedenen Beschäftigungen zu hören, die einander im Laufe des Jahres ablösten. Sie wollte ihnen erzählen, wie Weihnacht und Neujahr und Ostern und das Johannisfest in ihrem Hause gefeiert worden war, was für Möbel und Hausgerät sie gehabt hatten, und wie es in Küche und Vorratskammer, auf der Tenne und in der Scheune, im Stall und in der Backstube ausgesehen hatte. Aber als sie sich dann anschickte, darüber zu schreiben, wollte die Feder nicht vom Fleck. Sie konnte nicht begreifen, woher es kam, aber es war nun einmal so.

Es stand ja freilich im Geiste alles so deutlich vor ihr, als lebe sie noch mitten dazwischen. Aber sie sagte sich selbst, wenn sie nun doch einmal aufs Land reisen wolle, so könne sie ebensogut nach dem alten Hof hinausfahren und sich dort noch einmal umsehen, ehe sie darüber schrieb. Sie war seit vielen Jahren nicht dort gewesen, und eine Veranlassung, dahin zu reisen, war ihr willkommen. Im Grunde hatte sie immer Heimweh nach dem Heim ihrer Kindheit, wo sie auch sein mochte. Sie sah sehr wohl ein, daß es andere Orte gab, die schöner und auch besser waren, aber nirgends fand sie den Frieden und die Traulichkeit, die stets auf dem alten Herrenhof gewaltet hatte.

Es war indessen nicht so ganz leicht für sie, in die alte Heimat zu reisen, wie man hatte glauben sollen, denn der Hof war an Leute verkauft, die sie nicht kannte. Sie zweifelte freilich nicht daran, daß man sie freundlich aufnehmen würde, aber sie kam ja nicht nach dem alten Heim, um da zu sitzen und mit fremden Leuten zu schwatzen, sondern um sich so recht in das zu vertiefen, wie es in alten Zeiten gewesen war. Deswegen richtete sie es so ein, daß sie eines Abends spät dort eintraf, als die Arbeit beendet und das Gesinde schon ins Haus gegangen war.

Sie hätte nie gedacht, daß es so wunderlich sein könne, nach Hause zu kommen. Während sie im Wagen saß und sich auf dem Wege nach dem alten Hof befand, hatte sie ein Gefühl, als werde sie mit jeder Minute jünger und jünger, und bald war sie nicht mehr eine alte Person, deren Haar zu ergrauen begann, sondern ein kleines Mädchen mit kurzen Röcken und einem langen flachsblonden Zopf, der ihr auf dem Rücken hinabfiel. Wie sie so dahinfuhr und jedes Gehöft, an dem sie vorüberfuhr, wieder erkannte, war es ihr, als müsse alles daheim wieder ganz so werden wie in alten Zeiten. Der Vater und die Mutter und die Geschwister würden auf der Treppe stehen und sie empfangen, und die alte Haushälterin würde ans Fenster laufen, um zu sehen, wer da gefahren kam, und Nero und Freya und noch ein paar andere Hunde würden herbeistürzen und an ihr emporspringen.

Je mehr sie sich dem Hofe näherte, um so fröhlicher wurde sie. Es war Herbst und eine geschäftige Zeit mit einer Menge Arbeit stand bevor, aber gerade diese verschiedenen Arbeiten bewirkten, daß es daheim nie langweilig oder einförmig wurde. Auf dem Wege dahin hatte sie gesehen, daß die Leute dabei waren, Kartoffeln aufzunehmen, und das würden sie jetzt daheim wohl auch tun. Dann mußten zuerst Kartoffeln gerieben und Kartoffelmehl gemacht werden. Es war ein milder Herbst gewesen. Sie hätte gern gewußt, ob die Ernte aus dem Garten schon eingebracht war. Der Kohl stand jedenfalls noch draußen. Ob wohl der Hopfen schon gepflückt war, und ob man schon alle Äpfel abgenommen hatte?

Wenn sie nur nicht gerade beim großen Hausputz waren! Denn der Herbstmarkt stand vor der Tür. Zum Jahrmarkt mußte das ganze Haus blitzblank sein, der wurde als großes Fest angesehen, namentlich von dem Gesinde. Es war auch wirklich ein Vergnügen, am Abend vor dem Markt in die Küche hinauszukommen und den frisch gescheuerten, mit Wacholderzweigen bestreuten Fußboden zu sehen und die frisch getünchten Wände und das blanke Kupfergerät oben unter der Decke.

Aber wenn der Jahrmarkt vorüber war, kehrte noch keine Ruhe ein. Dann mußte ja der Flachs gebrochen werden. Der Flachs hatte während der Hundstage zum Trocknen auf einer Wiese ausgebreitet gelegen. Jetzt wurde er in die alte Backstube geschafft, und der große Backstubenofen wurde geheizt, damit der Flachs dörren sollte. Und wenn er dürre genug war, wurde eines Tages zu allen Nachbarfrauen geschickt. Sie setzten sich vor die Backstube und machten sich daran, den Flachs zu brechen. Sie schlugen mit Hecheln darauf los, um die feinen, weißen Fasern aus dem dürren Stroh herauszulösen. Die Frauen wurden bei der Arbeit ganz grau von Staub. Ihr Haar und ihre Kleider saßen voll von Spreu, aber sie waren trotzdem vergnügt. Den ganzen Tag lärmten die Hecheln und die Münder standen keinen Augenblick still. Wenn man in die Nähe der alten Backstube kam, klang es, als hause ein gewaltiger Sturm dadrinnen.

Nach dem Flachshecheln kamen die große Hartbrotbackerei, die Schafschur und der Umzugtag des Gesindes an die Reihe. Im November standen dann arbeitsreiche Schlachttage bevor, wo Fleisch eingesalzen wurde, wo man Blutwurst stopfte, Blutbrot buk und Lichte goß. Die Nähterin, die die eigengewebten, wollenen Kleider nähte, pflegte auch um diese Zeit zu kommen, und es waren ein paar fröhliche Wochen, wenn alle Dienstmädchen im Hause zusammen saßen und nähten. Der Schuster, der die Schuhe für den ganzen Hausstand anfertigte, saß zur selben Zeit drüben in der Knechtstube und arbeitete, und man war’s nie müde, ihm zuzusehen, wie er das Leder zuschnitt und versohlte und Flicken aufsetzte und Ringe in die Schnürlöcher einschlug.

Aber die größte Geschäftigkeit kam doch um Weihnachten. Der Luzientag, an dem das Stubenmädchen in weißem Kleide mit brennenden Lichtern im Haar umherging und das ganze Haus um fünf Uhr des Morgens zum Kaffee einlud, war gleichsam das Zeichen, daß man in den nächsten vierzehn Tagen nicht auf viel Schlaf würde rechnen können. Jetzt mußte Weihnachtsbier gebraut und Fische ausgelaugt und die Weihnachtsbäckerei und das Weihnachtsreinemachen vorgenommen werden.

Sie stand in ihren Erinnerungen mitten zwischen dem Backen, umgeben von Honigkuchen und Pfeffernüssen, als der Kutscher bei der Einfahrt in die Allee die Pferde anhielt, wie sie ihn gebeten hatte. Sie fuhr wie aus einem Traum in die Höhe. Ihr war ganz unheimlich zumute, wie sie am späten Abend ganz allein dasaß; eben hatte sie sich noch von allen ihren Lieben umgeben geglaubt. Als sie aus dem Wagen stieg und die Allee hinaufging, um unbemerkt in ihr altes Heim zu gelangen, empfand sie so bitter den Unterschied zwischen ehedem und jetzt, daß sie die größte Lust hatte, wieder umzukehren. »Was kann es nützen, daß ich hierher komme? Es kann hier ja doch nicht so sein wie in alten Zeiten,« dachte sie.

Aber da sie nun soweit gekommen war, meinte sie, den Hof müsse sie sich doch einmal ansehen, und sie ging weiter, obwohl ihr mit jedem Schritt schwerer ums Herz wurde.

Sie hatte gehört, der Hof solle sehr verfallen und verändert sein, und das war er auch wirklich. Aber jetzt am Abend konnte sie das nicht sehen. Sie fand im Gegenteil, daß alles noch so war wie einst. Hier lag der Teich, der in ihrer Kindheit voller Karaudschen gewesen war, die niemand fischen durfte, weil ihr Vater wollte, daß die Karaudschen hier in Frieden leben sollten. Da war der Seitenflügel mit der Gesindestube und der Vorratskammer und der Stall mit der Vesperglocke auf dem einen Flügel und der Windfahne auf dem anderen. Und der Hofplatz vor dem Wohnhause war noch immer ein eingeschlossener Raum ohne Aussicht nach irgendeiner Seite, ganz wie zu ihres Vaters Zeiten, denn er konnte es nicht übers Herz bringen, auch nur einen Busch weghauen zu lassen.

Sie war im Schatten unter dem großen Ahorn an der Einfahrt zu dem Hofe stehen geblieben und nun sah sie sich um. Und wie sie dastand, geschah das Merkwürdige, daß eine Schar Tauben geflogen kam und sich neben ihr niederließ.

Sie konnte kaum glauben, daß es wirkliche Vögel waren, denn Tauben pflegen nie nach Sonnenuntergang auszufliegen. Der helle Mondschein mußte sie wohl geweckt haben. Sie hatten offenbar geglaubt, daß es schon Tag sei und waren aus dem Taubenschlag herausgeflogen, aber dann waren sie verwirrt geworden und hatten sich nicht wieder heimfinden können. Als sie nun einen Menschen erblickten, flogen sie zu ihm hin, als wollten sie ihn um Hilfe bitten.

Zu Lebzeiten ihrer Eltern waren immer eine Menge Tauben auf dem Hof gewesen, denn die Tauben hatten auch zu den Tieren gehört, die ihr Vater unter seinen besonderen Schutz genommen hatte. Wenn nur die Rede davon war, eine Taube zu schlachten, wurde er schlechter Laune. Sie freute sich herzlich darüber, daß die schönen Vögel kamen und sie in der alten Heimat begrüßten. Wer weiß, vielleicht waren die Tauben zur Nachtzeit ausgeflogen, um ihr zu zeigen, daß sie die gute Heimstätte nicht vergessen hatten, die sie einst hier gehabt.

Oder hatte vielleicht der Vater seine Vögel mit einem Gruß zu ihr geschickt, damit sie sich nicht so ungemütlich und verlassen fühlen sollte, wenn sie in ihr ehemaliges Heim kam?

Während sie hierüber nachdachte, wurde die Sehnsucht nach alten Zeiten so stark in ihr, daß ihr Tränen in die Augen traten. Es war ein gutes Leben gewesen, das sie auf dem Hofe geführt hatten. Sie hatten Arbeitswochen gehabt, aber auch Festzeiten, sie hatten den Tag hindurch viel zu tun gehabt, aber des Abends hatten sie um die Lampe versammelt gesessen und Tegner und Runeberg, Frau Lenngren und Frederika Bremer gelesen. Sie hatten Korn gebaut, aber auch Rosen und Jasmin gepflanzt; sie hatten Flachs gesponnen, aber beim Spinnen hatten sie Volkslieder gesungen. Sie hatten sich mit Weltgeschichte und Grammatik abgequält, aber sie hatten auch Komödie gespielt und Verse gedichtet; sie hatten am Feuerherd gestanden und Essen gekocht, aber sie hatten auch Klavier und Flöte und Gitarre und Violine spielen gelernt. Sie hatten in einem Garten Kohl und Rüben und Erbsen und Bohnen gepflanzt, aber sie hatten auch noch einen anderen Garten gehabt, der voller Äpfel und Birnen und allen möglichen Beeren gewesen war. Sie hatten einsam gelebt, aber gerade deswegen hatten sie in Märchen und Sagen gelebt. Sie hatten eigengemachte Stoffe getragen, aber daher hatten sie auch sorgenfrei und unabhängig leben können.

»Nirgends auf der Welt verstehen sie es, ein so gutes Leben zu führen wie auf so einem kleinen Herrenhof in meiner Jugend,« dachte sie. »Da war Arbeit zu seiner Zeit und Vergnügen zu seiner Zeit und Freude zu allen Zeiten. Wie gern würde ich doch hierher zurückkehren!« sagte sie. »Jetzt, wo ich den Hof gesehen habe, ist es schwer, wieder wegzureisen.«

Und dann wandte sie sich an die Taubenschar und sagte zu den Vögeln, indem sie über sich selbst lachte, während sie es sagte: »Wollt ihr nicht zu meinem Vater zurückfliegen und ihm sagen, daß ich Heimweh habe? Jetzt bin ich lange genug an fremden Orten umhergereist. Fragt ihn doch, ob er nicht dafür sorgen will, daß ich bald wieder in die Heimat zurückziehen kann!«

Kaum waren die Worte gesprochen, als der ganze Taubenschwarm sich in die Luft emporschwang und davonflog. Sie versuchte, den Vögeln mit den Augen zu folgen, sie verschwanden aber sofort. Es war als habe der ganze weiße Schwarm sich in der mondhellen Luft aufgelöst.

Kaum waren die Tauben verschwunden, als sie laute Schreie aus dem Garten vernahm, und als sie eiligst dahinlief, sah sie etwas sehr Merkwürdiges. Da stand ein einzig kleiner Knirps, kaum eine Spanne groß, und kämpfte mit einer Nachteule. Anfangs war sie so überrascht, daß sie sich kaum rühren konnte. Als aber der Kleine immer jammervoller schrie, legte sie sich rasch ins Mittel und trennte die Kämpfenden. Die Eule schwang sich auf einen Baum, aber das Männlein blieb auf dem Kiesweg stehen, ohne sich zu verstecken oder davonzulaufen. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe!« sagte er. »Aber es war dumm, daß Sie die Eule fortfliegen ließen. Ich kann nicht wegkommen, denn sie sitzt da oben auf dem Baum und lauert mir auf!«

»Freilich, das war gedankenlos von mir, daß ich sie wegfliegen ließ. Kann ich dich aber nicht dahin begleiten, wo du zu Hause bist?« sagte sie, die Märchen zu dichten pflegte, und nun nicht wenig erstaunt war, so unvermutet mit einem der Männlein in Unterhaltung gekommen zu sein. Aber eigentlich war sie gar nicht einmal so erstaunt. Es war, als habe sie die ganze Zeit, während sie hier im Mondschein vor ihrer alten Heimat auf und nieder gegangen war, erwartet, daß sie etwas Merkwürdiges erleben würde.

»Eigentlich hatte ich gedacht, die Nacht hier auf dem Hofe zu bleiben,« sagte der Kleine. »Wenn Sie mir nur einen sichern Platz zum Schlafen zeigen könnten, würde ich nicht vor Tagesanbruch nach dem Walde zurückkehren.« – »Soll ich dir einen Platz zum Schlafen zeigen«? Wohnst du denn nicht hier?« – »Ich kann mir denken, daß Sie mich für ein Heinzelmännchen halten!« sagte das Männlein jetzt. »Aber ich bin ein Mensch, so wie Sie; ich bin nur von einem Heinzelmännchen verwandelt worden.« – »Das ist doch das Sonderbarste, was ich je im Leben gehört habe. Kannst du mir nicht erzählen, wie sich das zugetragen hat?«

Niels Holgersen hatte nichts dagegen, seine Abenteuer zu erzählen, und seine Zuhörerin wurde, je weiter die Erzählung fortschritt, immer erstaunter und erfreuter. »Nein, welch ein Glück, daß ich hier jemand treffe, der auf einem Gänserücken durch ganz Schweden gereist ist!« dachte sie. »Alles, was er da erzählt, kann ich ja in mein Buch schreiben. Jetzt brauche ich mir deswegen keine Sorge mehr zu machen. Es war wirklich gut, daß ich nach Hause gereist bin! Wenn ich bedenke, daß die Hilfe da war, sobald ich nach dem alten Hof kam!« sagte sie zu sich selbst.

Im selben Augenblick durchzuckte sie ein Gedanke, den zu Ende zu denken sie kaum den Mut hatte. Sie hatte ihrem Vater durch die Tauben sagen lassen, daß sie Heimweh nach dem alten Hause habe, und gleich darauf war die Hilfe für das gekommen, worüber sie schon so lange nachgegrübelt hatte. Konnte das die Antwort ihres Vaters auf ihre Bitte sein?

XLIX. Das Gold auf der Schäre


Auf dem Wege nach dem Meer.

Freitag, 7. Oktober.

Die Wildgänse waren, seit sie ihre Herbstreise angetreten hatten, beständig geradeswegs gen Süden geflogen; aber als sie Fryksdalen verließen, schlugen sie eine andere Richtung ein und flogen über das westliche Värmland und Dalsland auf Bohuslän zu. Das wurde eine vergnügliche Reise. Die jungen Gänse hatten nun so gute Übung im Fliegen bekommen, daß sie nicht mehr über Müdigkeit klagten, und Niels Holgersen gewann allmählich seine gute Laune wieder. Er war froh, daß er mit einem Menschen gesprochen hatte, denn es hatte ihn aufgemuntert, daß die Schriftstellerin zu ihm gesagt hatte, wenn er nur so wie bisher fortfahre, gut gegen alle zu sein, könne es ihm nicht schlecht ergehen. Wie er seine rechte Gestalt wieder erlangen würde, das konnte sie ihm nicht sagen, aber sie hatte ihm einen guten Teil von seiner alten Hoffnung und seinem Vertrauen wiedergegeben und das bewirkte sicher, daß er jetzt ausfindig gemacht hatte, wie er den großen Weißen von der Rückkehr in die Heimat abhalten konnte.

»Weißt du was, Gänserich Martin,« sagte er, während sie hoch oben in der Luft dahinflogen, »es wird doch gewiß recht langweilig für uns, wenn wir den ganzen Winter zu Hause bleiben sollen, jetzt, wo wir eine solche Reise mitgemacht haben. Ich überlege gerade, ob wir nicht mit den Wildgänsen ins Ausland reisen sollten.«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein,« sagte der Gänserich und erschrak sehr, denn jetzt, wo er gezeigt hatte, daß er imstande war, mit den Wildgänsen ganz bis nach Lappland hinaufzufliegen, hatte er nichts mehr dagegen, sich wieder in der Gänsebucht in Niels Holgersens Kuhstall zur Ruhe zu setzen.

Der Junge saß eine Weile schweigend da und sah auf Värmland hinab, wo alle Birkenwälder und Haine und Gärten in herbstlich gelben und roten Farben prangten, und wo die langen Seen dunkelblau zwischen den gelben Ufern lagen. »Ich glaube, ich habe die Erde noch nie so schön unter uns liegen sehen wie heute,« sagte er. »Die Seen sind rein lichtblaue Seide, und die Ufer wie breite goldene Bänder. Findest du nicht auch, daß es ein Jammer wäre, wenn wir uns in Vester Vemmenhög niederließen und nicht noch mehr von der Welt zu sehen bekämen?«

»Ich glaubte, du wolltest nach Hause zu deinem Vater und deiner Mutter und ihnen zeigen, was für ein tüchtiger Junge du geworden bist,« entgegnete der Gänserich. Den ganzen Sommer hindurch hatte er davon geträumt, welch stolzer Augenblick es sein würde, wenn er sich vor Holger Nielsens Haus auf dem Hofplatz niederlassen und den Gänsen und den Hühnern und den Kühen und der Katze und Mutter Nielsen selbst seine Daunenfein und die sechs Jungen zeigen würde! Daher war er nicht sonderlich froh über den Vorschlag des Jungen.

Die Wildgänse hielten an diesem Tage mehrmals längere Rast, denn überall fanden sie so herrliche Stoppelfelder, daß sie sich kaum entschließen konnten, sie zu verlassen, und so erreichten sie Dalsland erst um Sonnenuntergang. Sie flogen über den nordwestlichen Teil der Landschaft, und da war es noch schöner als in Värmland. Es war da so voller Seen, daß das Land wie kleine spitze Hügel dazwischen lag. Der Boden war nicht zum Kornbau geeignet, um so besser aber gediehen die Bäume, und die steilen Talwände lagen wie wunderschöne Gärten da. In der Luft oder im Wasser mußte irgend etwas sein, was das Sonnenlicht festhielt, nachdem die Sonne schon hinter den Bergrücken hinabgesunken war. Goldige Streifen schimmerten über dem dunklen, blanken Wasserspiegel und über der Erde zitterte ein heller, rosenroter Schein, aus dem gelblichweiße Birken, hellrote Eschen und rotgelbe Vogelbeerbäume aufragten.

»Findest du nicht auch, Gänserich Martin, daß es langweilig sein wird, wenn wir nie wieder etwas so Schönes zu sehen bekommen?« fragte der Junge. – »Ich mag lieber die fetten, flachen Felder in Schonen sehen als diese mageren Waldhügel,« antwortete der Gänserich. »Aber du kannst dir doch denken, daß, wenn du die Reise durchaus fortsetzen willst, ich mich nicht von dir trennen werde.« – »Die Antwort habe ich von dir erwartet,« sagte der Junge, und man konnte es seiner Stimme deutlich anhören, daß ihm ein schwerer Stein vom Herzen fiel.

Als sie dann über Bohuslän dahinflogen, sah der Junge, daß die Hochebenen zusammenhängender wurden; die Täler lagen da wie schmale Schluchten, die in den Grund der Berge gesprengt waren, und die langen Seen auf dem Talboden waren so schwarz, als kämen sie aus der Tiefe der Erde. Auch dies war eine herrliche Landschaft, und so wie der Junge sie jetzt sah, bald mit einem kleinen Sonnenstreif darüber, bald im Schatten liegend, fand er, daß sie etwas Wildes und Eigentümliches hatte. Er wußte nicht, woher es kam, aber es fiel ihm ein, daß hier in alten Zeiten starke und tapfere Recken gelebt haben mußten, die viele gefährliche und kühne Abenteuer in diesen geheimnisvollen Gegenden ausgeführt hatten. Die alte Lust, etwas Merkwürdiges zu erleben, erwachte in ihm. »Es ist nicht unmöglich, daß mir die Spannung, jeden, oder doch jeden zweiten Tag in Lebensgefahr zu schweben, fehlen wird,« dachte er. »Es ist gewiß am besten, wenn ich damit zufrieden bin, wie es nun einmal ist.«

Davon sagte er jedoch nichts zu dem großen Weißen, denn die Gänse flogen mit der größten Geschwindigkeit, die ihnen möglich war, über Bohuslän dahin, und der Gänserich war so außer Atem, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Die Sonne stand unten am Horizont, und hin und wieder verschwand sie hinter einer Bergspitze, aber die Wildgänse flogen so schnell, daß sie sie immer von neuem wiedersahen.

Endlich gewahrten sie im Westen einen blanken Streifen, der mit jedem Flügelschlag wuchs und breiter wurde. Es war das Meer, das milchweiß dalag, mit rosenroten und himmelblauen Streifen, und als sie an den Klippen am Strande vorüberflogen, erblickten sie abermals die Sonne, die jetzt groß und rot am Himmelsrand hing, bereit in die Wellen hinabzutauchen.

Aber als der Junge das freie, unendliche Meer sah und die rote Abendsonne, die mit einem so milden Glanz schimmerte, daß er gerade in sie hineinsehen konnte, da zogen Friede und Sicherheit in seine Seele ein. »Es hat gar keinen Zweck, betrübt zu sein, Niels Holgersen,« sagte die Sonne. »Es ist herrlich, auf der Welt zu leben, für Große wie für Kleine. Es ist auch gut, frei und frank zu sein und den ganzen Himmelsraum zum Tummelplatz zu haben.«

Das Geschenk der Wildgänse.

Die Wildgänse hatten sich zum Schlafen auf eine kleine Schäre vor Fjällbacka gestellt. Aber als Mitternacht nahte, und der Mond schon am Himmel stand, rieb sich die alte Akka den Schlaf aus den Augen und ging hin, um Iksi und Kaksi, Kalme und Nälja, Biisi und Kuusi zu wecken. Zuletzt stieß sie auch Däumling mit dem Schnabel, so daß er erwachte. »Was gibt’s, Mutter Akka?« fragte er und fuhr ganz erschreckt in die Höhe. »Nichts Besonderes!« antwortete die Führergans. »Nichts weiter, als daß wir sieben Alten aus der Schar diese Nacht eine Strecke übers Meer hinausfliegen wollen, und da wollte ich dich fragen, ob du nicht Lust hast, mitzukommen.«

Der Junge begriff sofort, daß Akka nicht mit einem solchen Vorschlag gekommen wäre, falls nicht etwas Besonderes vorgelegen hätte, und er setzte sich sofort auf ihren Rücken. Sie nahmen den Kurs in gerader Richtung nach Westen. Zuerst flogen sie über eine Reihe großer und kleiner Inseln, die nahe an der Küste lagen, dann über eine breite Strecke offenen Wassers, und schließlich erreichten sie die große Väderöer Inselgruppe, die ganz draußen am offenen Meer liegt. Alle Inseln waren niedrig und voller Klippen, und im Mondlicht konnte man deutlich sehen, daß sie an der Westseite von den Wellen blankgeschliffen waren. Einige davon waren ziemlich groß und auf ihnen unterschied der Junge ein paar Häuser. Akka suchte eine der kleinsten Schären auf und ließ sich dort nieder. Diese ganze Insel bestand nur aus einer unebenen Felsplatte mit einem breiten Spalt in der Mitte, in den das Meer seinen Strandsand und Muscheln hineingespült hatte.

Als Niels Holgersen von dem Rücken der Gans herunterstieg, sah er dicht neben sich etwas, das einem hohen, spitzen Stein glich. Aber fast im selben Augenblick merkte er, daß es ein großer Raubvogel war, der die Schäre zum Nachtquartier gewählt hatte. Er hatte jedoch kaum Zeit, sich darüber zu wundern, daß sich die Wildgänse so unvorsichtig neben einem gefährlichen Feind niedergelassen hatten, als der Vogel schon mit einem langen Sprung zu ihnen hinkam und er den Adler Gorgo erkannte.

Es stellte sich heraus, daß Akka und Gorgo sich hier draußen ein Stelldichein gegeben hatten. Sie waren beide nicht erstaunt, einander zu sehen, »Das war gut gemacht, Gorgo!« sagte Akka. »Ich hatte eigentlich nicht geglaubt, daß du vor uns am verabredeten Ort eintreffen könntest. Hast du lange gewartet?« – »Ich bin gestern abend gekommen,« antwortete Gorgo. »Aber ich fürchte, das einzige, weswegen du mich loben kannst, ist, daß ich so gut auf euch achtgegeben habe. Mit dem Auftrag, den du mir gegeben hast, sieht es nicht gut aus.« – »Ich bin überzeugt, Gorgo, daß du mehr ausgerichtet hast, als du dir merken lassen willst,« sagte Akka. »Ehe du aber erzählst, was dir auf der Reise begegnet ist, möchte ich Däumling bitten, mir beim Suchen von etwas, was hier auf der Schäre versteckt liegt, zu helfen.«

Niels Holgersen hatte dagestanden und einige schöne Schneckenhäuser betrachtet, aber als Akka seinen Namen nannte, sah er auf. »Du hast dich gewiß gewundert, Däumeling, warum wir nicht den geraden Kurs innegehalten haben, sondern hier auf das Kattegat hinausgeflogen sind,« sagte Akka. – »Ich fand das allerdings ein wenig sonderbar,« antwortete der Junge. »Aber ich weiß ja, daß Ihr triftige Gründe für alles habt, was Ihr tut.« – »Du hast einen guten Glauben an mich,« entgegnete Akka, »aber ich fürchte fast, daß du ihn jetzt einbüßt, denn es ist höchst wahrscheinlich, daß bei dieser Reise nichts herauskommen wird.«

»Vor vielen Jahren,« fuhr Akka fort, »wurden ich und ein paar von den Alten in unserer Schar auf einer Frühjahrsreise vom Sturm überfallen und auf diese Schäre verschlagen. Als wir sahen, daß wir nur das offne Meer vor uns hatten, fürchteten wir, so weit hinausgetrieben zu werden, daß wir uns nie wieder an Land zurückfinden würden. Deswegen legten wir uns auf die Wellen nieder. Der Sturm zwang uns, mehrere Tage zwischen diesen kahlen Klippen zu verweilen. Wir litten großen Hunger, und eines Tages gingen wir in dieser Rinne auf die Schäre hinauf und suchten nach Futter. Wir fanden keinen einzigen Grashalm, aber wir sahen ein paar Säcke, die fest zugebunden und halb vom Sand begraben waren. Wir hofften, daß Korn in den Säcken sein würde und bissen und zerrten daran, bis wir ein Loch in den Stoff gerissen hatten. Aber es war kein Korn, was herausströmte, es waren lauter glänzende Goldstücke. Dafür hatten wir Wildgänse keine Verwendung, und wir ließen sie liegen, wo sie lagen. Alle diese Jahre haben wir gar nicht an unseren Fund gedacht, aber jetzt im Herbst hat sich etwas zugetragen, was das Gold für uns begehrenswert macht. Wir wissen sehr wohl, es ist unwahrscheinlich, daß wir den Schatz hier noch finden, aber wir sind trotzdem hier herübergeflogen und bitten dich jetzt, einmal nachzusehen, wie sich die Sache verhält.«

Der Junge sprang in die Felsenspalte hinein, nahm in jede Hand eine Muschelschale und machte sich daran, den Sand beiseite zu werfen. Säcke fand er nicht, aber als er ein ziemlich tiefes Loch gegraben hatte, hörte er ein Klirren wie ein Metall und sah, daß da eine Goldmünze lag. Er tastete mit den Händen umher, fühlte, daß viele runde Münzen im Sand lagen, und eilte schnell zu Akka zurück. »Die Säcke sind vermodert und zerfallen,« sagte er, »so daß das Gold ringsumher im Sande zerstreut liegt, aber das Gold ist offenbar noch alles da.« »Das ist gut,« sagte Akka. »Fülle nun das Loch wieder zu und glätte den Sand, damit niemand sehen kann, daß daran gerührt worden ist.«

Der Junge tat, wie sie ihn geheißen, als er dann aber wieder auf die Klippe hinauf kam, sah er zu seiner Überraschung, daß sich Akka an die Spitze der sechs Wildgänse gestellt hatte, und daß sie alle mit größter Feierlichkeit auf ihn zumarschiert kamen. Sie machten vor ihm halt, verneigten sich vielmals mit dem Halse und sahen so vornehm aus, daß er unwillkürlich die Mütze abnahm und sich vor ihnen verbeugte.

»Wir haben dir etwas zu sagen,« begann Akka. »Alle wir Alten haben zueinander gesagt, wenn du, Däumeling, bei Menschen in Dienst gestanden und ihnen so große Hilfe geleistet hättest wie uns, so würden sie sich sicherlich nicht von dir trennen, ohne dir einen guten Lohn zu geben.« – »Nicht ich habe euch geholfen, sondern ihr habt euch meiner angenommen,« entgegnete Däumeling. – »Wir meinen auch,« fuhr Akka fort, »daß, wenn ein Mensch uns auf der ganzen Reise begleitet hat, er nicht ebenso arm von uns gehen sollte, wie er gekommen ist.« – »Ich weiß, daß das, was ich in diesem Jahr bei euch gelernt habe, mehr wert ist als Geld und Gut,« sagte der Junge.

»Da nun diese Goldstücke so viele Jahre hier in der Felsenspalte liegen geblieben sind, kann man wohl annehmen, daß sie niemand mehr gehören,« fuhr die Führergans fort, »und ich meine nun, du könntest sie an dich nehmen.« – »Habt Ihr selbst denn keine Verwendung für den Schatz, Mutter Akka?« fragte der Junge.

»Ja, wir haben Verwendung dafür: wir wollen dir einen solchen Lohn zahlen, daß dein Vater und deine Mutter sehen können, du hast bei ordentlichen Leuten als Gänsejunge gedient.«

Da wandte sich der Junge halb um, warf einen Blick auf das Meer hinaus und sah dann Akka in die blanken Augen. »Es wundert mich, Mutter Akka, daß Ihr mich aus Eurem Dienst entlaßt und mir meinen Lohn gebt, ehe ich gekündigt habe,« sagte er. – »Solange wir Wildgänse in Schweden sind, glaube ich wohl, daß du bei uns bleiben wirst,« entgegnete Akka. »Aber ich wollte dir doch zeigen, wo der Schatz zu finden ist, jetzt, wo wir ihn erreichen konnten, ohne einen zu großen Umweg zu machen.« – »Es ist trotzdem so, wie ich sage. Ihr wollt mich los sein, ehe ich selbst Lust dazu habe,« sagte Däumeling. »Nach der langen Zeit, die wir so gut miteinander gelebt haben, meine ich, wäre es doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich Euch auch ins Ausland begleiten dürfte.«

Als der Junge dies sagte, streckten Akka und die anderen ihre Hälse gerade in die Höhe und standen eine Weile da und sogen mit halbgeöffnetem Schnabel die Luft ein. »Das ist etwas, woran ich gar nicht gedacht habe,« sagte Akka, als sie sich wieder gefaßt hatte. »Aber ehe du einen Beschluß hierüber faßt, wird es wohl am besten sein, wenn wir hören, was Gorgo zu erzählen hat. Ich will dir nämlich sagen, daß, ehe wir Lappland verließen, Gorgo und ich uns darüber einigten, daß er in deine Heimat, nach Schonen, fliegen und versuchen sollte, bessere Bedingungen für dich zu erwirken.«

»Ja, so verhält es sich,« sagte Gorgo. »Aber wie ich dir bereits mitteilte, habe ich kein Glück damit gehabt. Es war nicht schwer, Holger Nielsens Haus zu finden, und nachdem ich ein paar Stunden über dem Hofe hin und her geschwebt war, gewahrte ich den Kobold, der zwischen den Gebäuden umherschlich. Ich stieß sogleich nieder und flog mit ihm auf ein Feld, wo wir ungestört miteinander reden konnten. Ich sagte ihm, daß mich Akka von Kebnekajse geschickt habe, um zu fragen, ob er Niels Holgersen nicht bessere Bedingungen verschaffen könne«. »Ich wollte ich könnte es,« antwortete er mir, »denn ich habe gehört, daß er sich auf der Reise gut geschickt hat. Aber es steht nicht in meiner Macht.« – Da wurde ich zornig und sagte, ich würde mich nicht für zu gut halten, ihm die Augen auszuhacken, wenn er nicht nachgäbe. »Du kannst mit mir machen, was du willst,« erwiderte er. »Aber mit Niels Holgersen muß es so bleiben, wie ich gesagt habe. Aber du kannst ihn ja grüßen und ihm sagen, er täte am besten, wenn er bald mit seinem Gänserich nach Hause käme, denn hier stehen die Sachen schlecht. Holger Nielsen hat für einen Bruder, zu dem er großes Vertrauen hatte, gut gesagt, und das Geld hat er bezahlen müssen. Mit geborgtem Geld hat er ein Pferd gekauft, aber das Pferd hat von dem ersten Tage an, wo er damit fuhr, gelahmt, und seit der Zeit hat er keinen Nutzen davon gehabt. Ja, erzähle Niels Holgersen nur, daß seine Eltern schon zwei Kühe haben verkaufen müssen, und daß sie, wenn sie nicht von irgendeiner Seite Hilfe bekommen, von Haus und Hof gehen müssen.«

Als der Junge das hörte, runzelte er die Stirn, und seine Hände ballten sich, so daß die Knöchel ganz weiß wurden. »Es ist grausam von dem Kobold,« sagte er, »mir eine solche Bedingung zu stellen, daß ich nicht nach Hause kommen und meinen Eltern helfen kann. Aber es soll ihm nicht gelingen, einen treulosen Freund aus mir zu machen, Vater und Mutter sind redliche Leute, und ich weiß, daß sie lieber meine Hilfe entbehren, als daß ich mit einem schlechten Gewissen zu ihnen heimkehre.«

L. Silber im Meer

Sonnabend, 8.Oktober.

Das Meer ist, wie wir alle wissen, wild und anmaßend, und der Teil von Schweden, der seinen Angriffen ausgesetzt ist, war deshalb schon seit langen Zeiten durch eine lange, breite steinerne Mauer geschützt, die Bohuslän heißt.

Die Mauer ist so breit, daß sie das ganze Land zwischen Dalsland und dem Meer bedeckt, aber sie ist nicht gerade hoch, wie das bei steinernen Deichen und Wellenbrechern der Fall zu sein pflegt. Sie ist aus mächtigen Felsblöcken erbaut, und stellenweise liegen ganze, lange Bergrücken darin. Es würde auch keinen Zweck haben, mit kleinen Steinen bauen zu wollen, wo es sich darum handelt, einen Schutzwall gegen das Meer zu errichten, der vom Iddefjord bis zum Götaelf reichen soll.

Dergleichen große Bauwerke führen wir ja heutzutage nicht mehr aus, und die Mauer ist zweifelsohne sehr alt. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß sie von der Zeit tüchtig mitgenommen ist. Die großen Felsblöcke liegen nicht mehr so dicht nebeneinander, wie das wahrscheinlich zu Anfang der Fall gewesen ist. Es haben sich so breite und tiefe Spalten dazwischen gebildet, daß darin Raum für Häuser und Felder ist. Aber die Felsblöcke liegen doch nicht weiter voneinander entfernt, als daß man deutlich sehen kann, sie haben einstmals zu derselben Mauer gehört.

Nach dem Lande zu ist diese große Mauer am besten erhalten. Dort zieht sie sich lange Strecken ganz und ununterbrochen hin. In der Mitte laufen lange, tiefe Risse mit Seen auf dem Grunde hinab, und nach der Küste zu ist sie so verfallen, daß jeder einzelne Steinblock wie ein kleiner Berg für sich daliegt.

Erst wenn man die große Mauer unten von der Küste her sieht, versteht man so recht, daß sie da, wo sie steht, nicht nur zu ihrem Vergnügen steht. Wie stark sie auch von Anfang an gewesen sein mag, an sechs bis sieben Stellen ist das Meer durchgebrochen und hat Fjorde hineingeschnitten, die mehrere Meilen lang sind.

Der äußerste Teil der Mauer steht obendrein unter Wasser, so daß nur der obere Teil der Felsblöcke sichtbar ist. Auf diese Weise sind eine Menge großer und kleiner Inseln entstanden, die Schärengruppen bilden, und diese wehren die ärgsten Angriffe des Sturmes und des Meeres ab.

Nun könnte man vielleicht glauben, daß eine Landschaft, die eigentlich nur aus einer großen steinernen Mauer besteht, ganz unfruchtbar sein muß, so daß kein Mensch dort Lebensunterhalt finden kann. Aber damit ist es nun doch nicht so gar schlimm bestellt, denn wenn auch die Felsen und Hochebenen in Bohuslän nackt und kahl sind, so hat sich doch gute und fruchtbare Erde in allen Spalten angesammelt, und es läßt sich dort vorzüglich Ackerbau betreiben, obgleich die Felder nicht sehr groß sind. Der Winter ist hier an der Küste in der Regel auch nicht so kalt wie im Innern des Landes, und an Stellen, die gegen den Wind geschützt sind, gedeihen gegen Kälte empfindliche Bäume und andere Pflanzen, die sonst kaum so hoch nördlich wie Schonen zu wachsen pflegen.

Man darf auch nicht vergessen, daß Bohuslän an der Grenze des großen Gemeindeangers liegt, der allen Menschen auf der Erde Gemeingut ist. Die Bohusläner können Wege benutzen, die sie weder zu bauen noch instand zu halten brauchen. Sie können Herden einfangen, die sie weder zu bewachen noch zu hüten haben, und ihre Beförderungsmittel werden von Zugtieren gezogen, denen sie weder Futter noch Stallraum zu geben brauchen. Daher sind sie nicht so abhängig von Ackerbau und Viehzucht wie andere. Sie fürchten sich nicht, sich auf sturmumbrausten Schären niederzulegen, wo kein Grashalm wächst, wo kaum Raum für ein Kartoffelfeld ist, denn sie wissen, daß das große, reiche Meer ihnen alles geben kann, was sie nötig haben.

Wohl ist es wahr, daß das Meer reich ist, aber nicht weniger wahr ist es, daß es seine Schwierigkeit hat, sich mit ihm zu befassen. Wer Ertrag aus dem Meer haben will, muß alle seine Fjorde und Buchten, alle seine Untiefen und Strömungen kennen, er muß so ungefähr mit jedem Stein auf dem Grunde des Meeres Bescheid wissen. Er muß sein Boot in Sturm und Nebel führen und seinen Weg in der schwärzesten Nacht finden können. Er muß es verstehen, die Zeichen in der Luft zu deuten, die böses Wetter verkünden, und er muß Kälte und Nässe vertragen können. Er muß wissen, wo die Fische ihren Zug haben, und wo der Hummer kriecht, und er muß schwere Netze bedienen und sein Garn auch bei unruhiger See auswerfen können. Vor allem aber muß er ein mutiges Herz in der Brust haben, so daß er es für nichts achtet, daß er im Kampf gegen das Meer tagaus, tagein sein Leben aufs Spiel setzt.

An dem Morgen, als die Wildgänse über Bohuslän hinabflogen, war es still zwischen den Schären. Sie sahen mehrere kleine Fischerdörfer, aber es war kein Leben in den engen Gassen, niemand ging in den kleinen, zierlich gestrichenen Häusern ein und aus. Die braunen Fischernetze hingen in guter Ruhe auf dem Trockenplatz, die schweren, grünen oder blauen Fischerboote lagen mit aufgerollten Segeln am Strande entlang. Keine Frauen waren an den langen Tischen beschäftigt, wo man Dorsche und Heilbutten auszunehmen pflegte.

Die Wildgänse flogen auch über mehrere Lotsenstationen hin. Die Wände des Lotsenhauses waren schwarz und weiß gestrichen. Der Signalmast stand daneben, und der Lotsenkutter lag an der Brücke vertäut. Ringsumher war alles still, kein Dampfer war in Sicht, der in dem engen Fahrwasser Hilfe gebrauchte.

Die kleinen Küstenstädte, über die die Wildgänse hinflogen, hatten ihre großen Badehäuser geschlossen, ihre Flaggen eingezogen und Läden vor die Fenster der feinen Sommerhäuser gesetzt. Da war niemand zu sehen außer ein paar alten Schiffskapitänen, die auf den Brücken hin und her gingen und sehnsuchtsvoll auf das Meer hinausstarrten.

Drinnen in den Fjorden auf dem Festlande sowie auf der Ostseite der Inseln sahen die Wildgänse einige Bauernhöfe, und dort lag das zum Hause gehörige Boot still an der Brücke. Der Bauer und seine Knechte nahmen Kartoffeln auf oder sahen nach, ob die Bohnen, die an hohen Holzgestellen hingen, hinreichend getrocknet waren.

In den großen Steinbrüchen und auf den Bootwerften waren viele Arbeiter. Sie handhabten ihre Vorhämmer und Äxte flink genug, aber wieder und wieder wandten sie den Kopf dem Meere zu, als hofften sie auf eine Unterbrechung.

Und die Schärenvögel waren ebenso ruhig wie die Menschen. Ein paar Scharben, die an einer steilen Felswand gesessen und geschlafen hatten, verließen eine nach der anderen die schmalen Felsvorsprünge und flogen in langsamem Flug nach ihren Fischplätzen. Die Möwen waren vom Meer hereingekommen und spazierten an Land, ganz wie Krähen.

Plötzlich aber veränderte sich alles. Auf einmal flog ein Schwarm Möwen von einem Acker auf und sauste mit einer solchen Geschwindigkeit südwärts, daß die Wildgänse kaum Zeit hatten zu fragen, wohin sie wollten, und die Möwen sich auch nicht Zeit ließen zu antworten. Die Scharben kamen vom Wasser herauf und folgten den Möwen in schwerfälligem Flug. Delphine schossen gleich langen, schwarzen Spindeln durch das Wasser, und eine Schar Seehunde ließ sich von einer flachen Schäre ins Wasser gleiten und zog gen Süden.

»Was ist denn los? Was ist denn los?« fragten die Wildgänse und bekamen schließlich Antwort von einer Eisente. »Der Hering ist nach Marstrand gekommen! Der Hering ist nach Marstrand gekommen!«

Aber nicht nur die Vögel und Seetiere gerieten in Bewegung, auch die Menschen hatten jetzt offenbar Nachricht erhalten, daß sich die ersten großen Heringschwärme zwischen den Schären gezeigt hatten. Die Leute liefen auf den glatten Steinen der Fischerdörfer geschäftig durcheinander. Die Fischerboote wurden bereit gemacht. Vorsichtig brachte man die langen Heringnetze an Bord. Die Frauen verstauten den Proviant und die Ölkleider in die Boote. Die Männer kamen in einer solchen Hast aus den Häusern, daß sie erst auf der Straße den Rock anzogen. Bald waren alle Sunde voll brauner und grauer Segel, und muntere Zurufe und Fragen flogen zwischen den Booten hin und her. Junge Mädchen waren auf die Klippen hinter den Häusern geklettert und winkten den Davonziehenden zu. Die Lotsen standen da und hielten Ausguck und waren so fest überzeugt, daß man bald nach ihnen schicken werde, daß sie schon die langen Seestiefel angezogen und den Kutter klar gemacht hatten. Aus den Fjorden heraus kamen kleine Dampfer mit leeren Tonnen und Kisten beladen. Die Bauern warfen die Kartoffelhacke hin, und die Bootbauer verließen die Werft. Die alten Schiffskapitäne mit den wettergebräunten Gesichtern konnten nicht daheimbleiben, sie fuhren mit den Dampfern südwärts, um den Heringfang wenigstens mit anzusehen. Es währte nicht lange, bis die Wildgänse Marstrand erreichten. Die Heringschwärme kamen von Westen und gingen, am Leuchtturm auf der Hafenschäre vorbei, dem Lande zu. In dem breiten Fjord zwischen der Insel Marstrand und den Pater-Noster-Schären kamen die Fischerboote immer zu dreien dahergesegelt. Wo die See dunkel war und sich in kleinen, kurzen Wellen kräuselte, da war der Hering. Das wußten die Fischer, und da legten sie vorsichtig die langen Netze aus, sammelten sie zu einem Rundkreis, schnürten sie unten am Boden zusammen, so daß der Hering wie in einem ungeheuren Sack lag; dann zogen und schnürten sie die Netze noch mehr zusammen, so daß der Raum enger und enger wurde und das Netz schließlich, mit glitzernden Fischen gefüllt, herausgezogen werden konnte.

Einige Bootbesatzungen waren schon so weit mit dem Fischfang gediehen, daß sie ihre Boote bis an die Reeling voller Heringe hatten. Die Fischer standen bis an die Knie in Heringen und glitzerten von Heringschuppen vom Südwester bis an den unteren Rand ihres gelben Ölrockes.

Und dann waren da neuangekommene Fischergruppen, die umherfuhren und loteten und nach Heringen suchten, und andere, die mit großer Mühe das Netz ausgelegt hatten, es aber leer wieder herauszogen. Wenn die Boote voll waren, fuhren einige von den Fischern nach den großen Dampfern hinaus, die auf dem Fjord lagen, und verkauften ihren Fang, andere segelten nach Marstrand hinein und löschten den Fang am Kai. Dort waren die Heringweiber schon in voller Arbeit an den langen Tischen; die Heringe wurden in Tonnen und Kisten gepackt, und die ganze Straße war voll von Heringschuppen.

Ja, hier herrschte Leben und Bewegung. Die Menschen waren ganz aus dem Häuschen vor Freude über all dies Silber, das sie aus den Wellen des Meeres schöpften, und die Wildgänse flogen viele Male rund herum um die Insel Marstrand, damit der Junge alles recht genau sehen sollte.

Bald aber bat er sie, weiterzufliegen. Er sagte nicht, warum er dort weg wollte, aber es war vielleicht nicht so schwer zu erraten. Da waren viele schöne und stolze Leute unter den Fischern. Mehrere von ihnen waren stattliche Männer mit kühnen Gesichtern unter dem Südwester, und sie sahen so verwegen und keck aus, wie jeder frische Junge wünscht, selbst auszusehen, wenn er einmal erwachsen ist. Es war wohl nicht gerade erfreulich für jemand, der nie viel größer werden konnte wie ein Hering, dazusitzen und solche Prachtkerle zu betrachten.

LI. Ein großer Herrenhof


Der alte Herr und der junge Herr.

Vor einigen Jahren lebte in einem Kirchspiel in Westgötland eine prächtige, liebe kleine Volksschullehrerin. Sie unterrichtete nicht nur vorzüglich, sondern sie verstand es auch, Ordnung zu halten, und die Kinder hatten sie so lieb, daß sie niemals zur Schule kamen, ohne ihre Aufgaben gelernt zu haben. Auch die Eltern schätzten sie sehr. Es gab nur einen einzigen Menschen, der nicht wußte, was sie wert war, und das war sie selbst. Sie glaubte, daß alle anderen klüger und tüchtiger seien als sie, und sie grämte sich darüber, daß sie nicht so werden konnte wie sie.

Als die Lehrerin einige Jahre an der Schule angestellt gewesen war, machte ihr die Schulbehörde den Vorschlag, einen Kursus in dem Nääser Seminar für Handfertigkeit durchzumachen, damit sie künftig die Kinder nicht nur lehren könne mit dem Kopf, sondern auch mit den Händen zu arbeiten. Niemand kann sich vorstellen, wie überrascht sie war, als sie diese Aufforderung erhielt. Nääs lag nicht weit von ihrer Schule entfernt. Sie war gar manches Mal an dem schönen, stattlichen Gebäude vorübergegangen, und sie hatte über den Handfertigkeitskursus, der auf dem alten Herrenhof abgehalten wurde, viele Lobreden gehört. Dort kamen Lehrer und Lehrerinnen aus dem ganzen Lande zusammen, um ihre Hände gebrauchen zu lernen, ja sogar aus dem Auslande kamen Leute dorthin. Sie wußte im voraus, wie entsetzlich verzagt sie sich unter so vielen ausgezeichneten Menschen fühlen würde. Das stand ihr so schwer bevor, daß sie nicht wußte, wie sie es ertragen sollte.

Sie wagte jedoch nicht, der Schulbehörde eine abschlägige Antwort zu geben, sondern reichte ihr Gesuch ein. Sie wurde als Schülerin angenommen, und an einem schönen Juniabend, an dem Tage bevor der Sommerkursus beginnen sollte, packte sie ihre Habseligleiten in eine kleine Reisetasche und wanderte nach Nääs. Und wie oft sie auch unterwegs stehen blieb und sich weit weg wünschte, sie gelangte doch schließlich an ihr Ziel.

Auf Nääs war Leben und Bewegung. Allen Teilnehmern des Kursus, die, jeder aus seiner Richtung, eintrafen, mußten in den Häusern und Villen, die zu dem großen Besitz gehörten, Zimmer angewiesen werden. Allen war ein wenig wunderlich zumute in den ungewohnten Umgebungen, aber die kleine Lehrerin glaubte wie gewöhnlich, daß nur sie allein sich töricht und ungeschickt benehme. Sie hatte sich in eine solche Angst hineingeredet, daß sie weder hören noch sehen konnte. Es war auch sehr schwer, was sie alles durchmachen mußte. Man wies ihr ein Zimmer in einer schönen Villa an, in dem sie mit ein paar jungen Mädchen wohnen sollte, die sie gar nicht kannte, und sie mußte mit siebzig fremden Menschen zusammen essen. An ihrer einen Seite saß ein kleiner Herr, der ganz gelb im Gesicht war, und von dem es hieß, daß er aus Japan sei, und an der anderen Seite hatte sie einen Schullehrer aus Jockmock hoch oben in Lappland. Und gleich von Anfang an herrschten Lachen und Fröhlichkeit an den langen Tischen! Alle schwatzten und machten Bekanntschaften. Sie war die einzige, die nicht den Mut hatte, etwas zu sagen.

Am nächsten Morgen ging es an die Arbeit. Der Tag begann hier wie in allen Schulen mit Morgengebet und Gesang; dann sprach der Vorsteher des Seminars einige Worte über Handfertigkeit und gab einige kurze Verhaltungsmaßregeln, und dann, ohne daß sie eigentlich wußte, wie es zugegangen war, stand sie an einer Hobelbank, ein Stück Holz in der einen und ein Messer in der anderen Hand, während ein alter Handfertigkeitslehrer ihr zeigte, wie sie einen Blumenstab schnitzen müsse. Eine solche Arbeit hatte sie noch nie versucht. Sie kannte die Handgriffe nicht, und war obendrein in diesem Augenblick so verwirrt, daß sie nichts verstehen konnte. Als der Lehrer weitergegangen war, legte sie das Messer und das Holz auf die Hobelbank nieder und starrte in die Luft hinein.

Ringsumher im Saal standen Hobelbänke, und an allen sah sie Menschen, die mit frischem Mut an die Arbeit gingen. Ein paar von ihnen, die schon ein wenig bewandert in der Kunst waren, kamen zu ihr, um ihr zu helfen. Aber sie war nicht fähig, ihrer Anleitung zu folgen. Sie stand da und dachte nur daran, daß nun alle die vielen Leute sähen, wie ungeschickt sie sich benahm, und das machte sie so unglücklich, daß sie wie gelähmt war.

Dann kam die Frühstückszeit, und nach dem Frühstück wurde wieder gearbeitet. Zuerst hielt der Vorsteher einen Vortrag, dann folgte eine Turnstunde, und darauf begann der Handfertigkeitsunterricht von neuem. Hierauf wurde Mittagspause gemacht. Das Mittagsessen mit nachfolgendem Kaffee nahm man in dem großen, hellen Versammlungssaal ein, und der Nachmittag war dann wieder dem Handfertigkeitsunterricht gewidmet. Singübungen und Spiele im Freien machten den Beschluß des Tages. Die Lehrerin war den ganzen, langen Tag in Bewegung, war mit den anderen zusammen, fühlte sich aber immer noch ebenso unglücklich.

Wenn sie später an die ersten in Nääs verlebten Tage zurückdachte, war es ihr, als sei sie in einem Nebel umhergegangen. Alles war dunkel und verschleiert gewesen, und sie hatte nichts von alledem, was um sie her vorging, gesehen oder verstanden. Dieser Zustand währte zwei Tage, aber am Abend des zweiten Tages fing es plötzlich an, hell um sie zu werden.

Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, begann ein alter Volksschullehrer, der schon mehrmals auf Nääs gewesen war, einigen neuen Schülern zu erzählen, wie das Handfertigkeitsseminar entstanden war, und da sie ganz in der Nähe saß, hatte sie notgedrungen zuhören müssen.

Er erzählte, Nääs sei ein sehr altes Gut, aber es sei nie etwas anderes gewesen als ein schöner, großer Herrenhof, wie so viele andere, bis der alte Herr, dem es jetzt gehörte, dort ansässig geworden war. Er war ein reicher Mann, und die ersten Jahre, die er dort wohnte, hatte er dazu verwendet, das Schloß und den Park zu verschönern und die Wohnungen seiner Untergebenen zu verbessern.

Aber dann starb seine Frau, und da er keine Kinder hatte, fühlte er sich gar manches Mal einsam auf dem großen Gut. So überredete er denn einen jungen Neffen, den er sehr lieb hatte, zu ihm zu kommen und bei ihm auf Nääs zu wohnen.

Ursprünglich war man von der Voraussetzung ausgegangen, daß der junge Herr sich an der Bewirtschaftung des Gutes beteiligen solle, als er aber aus diesem Anlaß bei den Leuten auf dem Gute umherging und sah, wie sie in den ärmlichen Hütten lebten, kamen ihm ganz wunderliche Gedanken. Er beobachtete, daß in den meisten Häusern weder die Männer noch die Kinder, ja selbst nicht einmal die Frauen, sich während der langen Winterabende mit Handarbeit beschäftigten. In früheren Zeiten waren die Leute gezwungen gewesen, die Hände fleißig zu rühren, um Kleider und Hausgerät und Werkzeuge anzufertigen; aber jetzt konnte man ja alle diese schönen Dinge kaufen, und deswegen hatten sie diese Arbeiten eingestellt. Und dem jungen Herrn wollte es nun scheinen, daß in den Häusern, wo man die Arbeiten im Hause eingestellt hatte, auch die Gemütlichkeit und der Wohlstand ihrer Wege gegangen waren.

Ausnahmsweise konnte er wohl einmal in ein Haus kommen, wo der Mann Tische und Stühle zusammenzimmerte, und die Frau webte, und es war über jeden Zweifel erhaben, daß die Leute dort nicht nur wohlhabender, sondern auch glücklicher waren als die in den anderen Häusern.

Er sprach mit seinem Oheim hierüber, und der alte Herr sah ein, daß es ein großes Glück sein würde, wenn die Leute sich in müßigen Stunden mit Handarbeit beschäftigen wollten. Aber um so weit zu gelangen, war es offenbar notwendig, daß sie von Kindheit an ihre Hände gebrauchen lernten. Die beiden Herren kamen zu der Erkenntnis, daß sie zu der Förderung ihrer Sache nichts Besseres tun könnten, als eine Handfertigkeitsschule für Kinder zu errichten. Sie sollten dort lernen, einfache Gegenstände aus Holz anzufertigen, denn diese Art Arbeit würde, nach Ansicht der beiden Herren, allen am leichtesten werden. Sie waren überzeugt, daß, wer einmal gelernt hatte, das Messer gut zu gebrauchen, auch lernen würde, den großen Schmiedehammer und den kleinen Schusterhammer zu führen. Wer aber nicht von Jugend auf seine Hand an Arbeit gewöhnt hatte, würde vielleicht niemals auf den Gedanken kommen, daß er in der Hand ein Werkzeug besaß, das mehr wert ist als alle anderen.

So hatten sie denn auf Nääs angefangen, Kinder in Handfertigkeit zu unterrichten, und sie sahen bald, daß es nützlich und gut für die Kleinen war, und wünschten nun, daß alle Kinder in Schweden einen solchen Unterricht erhalten möchten.

Aber wie ließ sich das machen? Es wuchsen ja Hunderttausende von Kindern in Schweden auf. Man konnte sie doch nicht alle nach Nääs kommen lassen, um ihnen Handfertigkeitsunterricht zu geben. Das war ganz unmöglich.

Da kam der junge Herr mit einem neuen Vorschlag. Wie, wenn man, statt die Kinder zu unterrichten, ein Handfertigkeitsseminar für ihre Lehrer einrichtete? Wie, wenn die Lehrer und Lehrerinnen aus dem ganzen Lande nach Nääs kämen, dort Handfertigkeit erlernten und dann nachher mit allen den Kindern, die sie in ihren Schulen hatten, Handfertigkeit trieben? Aus die Weise würde es vielleicht gelingen, daß die Hände aller Kinder in Schweden ebenso geübt würden wie ihr Gehirn.

Als dieser Gedanke erst einmal in ihnen wachgerufen war, konnten die beiden Herren ihn gar nicht wieder loswerden, sondern suchten ihn zur Ausführung zu bringen.

Sie halfen einander getreulich. Der alte Herr ließ Arbeitssäle, ein Versammlungshaus und einen Turnsaal bauen und sorgte für die Wohnung und Verpflegung aller, die die Schule besuchten. Der junge Herr wurde Vorsteher des Seminars. Er machte den Plan für den Unterricht, leitete die Arbeit und hielt Vorträge. Und nicht genug damit. Er lebte beständig mit den Schülern zusammen, machte sich mit den Verhältnissen jedes einzelnen bekannt und wurde ihnen ein aufrichtiger und treuer Freund.

Und wie viele Schüler strömten nicht gleich von Anfang an herbei! In jedem Jahr wurden vier Kurse abgehalten, und zu allen meldeten sich mehr Schüler, als aufgenommen werden konnten Auch im Ausland wurde die Schule bald bekannt, und Lehrer und Lehrerinnen aus aller Herren Länder kamen nach Nääs, um zu lernen, wie sie es anfangen mußten, um die Hand zu erziehen, Kein Ort in Schweden war so bekannt im Auslande wie Nääs, und kein Schwede hatte ringsumher auf der ganzen Welt so viele Freunde wie der Vorsteher des Nääser Handfertigkeitsseminars.

Die kleine, schüchterne Lehrerin saß da und hörte dies alles an, und je mehr sie hörte, um so lichter ward es um sie her. Sie hatte bisher gar nicht gewußt, warum die Handfertigkeitsschule auf Nääs war, sie hatte nicht gewußt, daß sie von zwei Männern ins Leben gerufen war, die ihrem Lande nützen wollten, sie hatte keine Ahnung davon gehabt, daß diese alles opferten, was sie opfern konnten, um ihren Mitmenschen zu helfen, besser und glücklicher zu werden.

Wenn sie nun an die große Güte und Nächstenliebe dachte, die dem allen zugrunde lag, ergriff sie das so sehr, daß sie nahe daran war, zu weinen. So etwas hatte sie noch nie erlebt.

Am nächsten Tage ging sie in einer ganz anderen Gemütsverfassung an die Arbeit. Wenn das alles aus Güte gegeben wurde, mußte sie es ja auf ganz andere Weise hinnehmen als bisher. Sie vergaß, an sich selbst zu denken, und ging ganz auf in ihrer Arbeit und dem großen Ziel, das dadurch erreicht werden sollte. Und von dem Augenblick an machte sie ihre Sache ausgezeichnet, denn alles Lernen wurde ihr leicht, sobald ihre Schüchternheit sie nicht lähmte.

Jetzt, wo ihr die Schuppen von den Augen gefallen waren, sah sie überall die große, wunderbare Güte. Sie sah, wie sorgfältig alles für die Besucher des Seminars geordnet war. Die Teilnehmer des Kursus erhielten weit mehr als nur den Unterricht in Handfertigkeit, Der Vorsteher hielt ihnen Vorträge über Erziehung, sie turnten miteinander, gründeten einen Gesangverein und kamen fast jeden Abend zu Vorlesungen und musikalischen Aufführungen zusammen. Und außerdem waren da Bücher, Badehäuser und Klaviere, alles zu ihrer Verfügung. Der Zweck des Ganzen war, daß sich alle glücklich und wohl befinden und fröhlich sein sollten.

Allmählich wurde es ihr klar, wie unschätzbar es war, die schönen Tage des Sommers auf einem großen schwedischen Herrenhof verbringen zu dürfen. Das Schloß, in dem der alte Herr wohnte, lag auf einem Hügel, der fast von allen Seiten von einem See umgeben und nur durch eine schöne steinerne Brücke mit dem Lande verbunden war. Sie hatte nie etwas so Schönes gesehen wie die Blumengruppen auf der Terrasse vor dem Schloß, wie die alten Eichen im Park, wie den Weg am See entlang, wo die Bäume über das Wasser hinabhingen, oder wie den Aussichtspavillon auf der Felsenklippe über dem See. Die Schulgebäude lagen dem Schloß gerade gegenüber auf grünen schattigen Wiesen, aber es stand ihr frei, im Schloßpark zu lustwandeln, sooft sie Zeit und Lust hatte. Es war ihr, als habe sie nie gewußt, wie schön der Sommer sei, bis sie ihn an einem so herrlichen Ort verbringen durfte.

Nicht daß eine große Veränderung mit ihr vorgegangen wäre. Mutig und selbstbewußt wurde sie nicht, aber sie fühlte sich froh und glücklich. Sie wurde förmlich durchwärmt von all dieser Güte. Sie konnte sich ja nicht unglücklich fühlen an einem Ort, wo alle es gut mit ihr meinten und ihr zu helfen bemüht waren. Als der Kursus beendet war und die Schüler Nääs verlassen sollten, war sie ganz neidisch auf alle, die dem alten und dem jungen Herrn richtig zu danken und mit schönen Worten das auszudrücken vermochten, was sie fühlten. Soweit würde sie es nie bringen.

Sie kehrte heim und nahm die Arbeit an der Schule wieder auf und tat es mit ebensoviel Freude wie bisher. Sie wohnte nicht weiter von Nääs entfernt, als daß sie da hinübergehen konnte, wenn sie einen Nachmittag frei hatte, und das tat sie in der ersten Zeit auch ziemlich oft. Aber da waren immer neue Kurse, neue Gesichter, ihre Schüchternheit stellte sich wieder ein, und sie wurde ein immer seltenerer Gast in der Handfertigkeitsschule. Aber die Zeit, die sie selbst als Schülerin auf Nääs zugebracht, lebte in ihrer Erinnerung immer als das beste, was sie erlebt hatte.

An einem Frühlingstage hörte sie, daß der alte Herr auf Nääs gestorben sei. Da dachte sie an den schönen Sommer, den sie auf seinem Gut hatte verweilen dürfen, und es betrübte sie, daß sie sich nie so recht bei ihm bedankt hatte. Er hatte sicher Danksagungen genug von hoch und niedrig erhalten, aber sie würde sich glücklicher gefühlt haben, wenn sie ihm mit ein paar Worten erzählt hätte, wieviel er für sie getan hatte.

Auf Nääs wurde der Unterricht auf dieselbe Weise fortgesetzt, wie vor dem Tode des alten Herrn. Er hatte nämlich der Schule das ganze schöne Gut geschenkt und sein Neffe blieb auch fernerhin Vorsteher und leitete das ganze Unternehmen. Jedesmal, wenn die Lehrerin nach Nääs kam, war da etwas Neues zu sehen. Jetzt war da nicht nur der Handfertigkeitskursus, sondern der Vorsteher wollte auch gern die alten Gebräuche und die alten Volksvergnügungen wieder ins Leben rufen, und er errichtete daher einen Kursus für Singspiele und viele andere Arten von Spielen. In einer Hinsicht aber blieb alles beim alten: so wie früher durchwärmte auch jetzt die Güte alle Menschen, sie fühlten, wie alles so geordnet und eingerichtet war, daß sie sich freuen und nicht nur Kenntnisse einheimsen, sondern auch Arbeitsfreudigkeit mit heimnehmen sollten, wenn sie zu den kleinen Schulkindern ringsumher im Lande zurückkehrten.

Nur wenige Jahre nach dem Tode des alten Herrn hörte die Vorsteherin eines Sonntags, als sie die Kirche besuchte, daß der Vorsteher auf Nääs erkrankt sei. Sie wußte, daß er in der letzten Zeit wiederholt an Herzschwäche gelitten hatte, aber sie hatte nicht geglaubt, daß er in Lebensgefahr schwebe. Und das, hieß es, sei diesmal der Fall.

Von dem Augenblick an, als sie dies hörte, konnte sie an nichts anderes denken, als daß nun vielleicht auch der Vorsteher so wie der alte Herr sterben würde, ehe es ihr möglich gewesen war, ihm zu danken. Und sie überlegte hin und her, was sie nur tun solle, damit ihr Dank zu ihm gelangen könne.

Am Sonntagnachmittag ging die Lehrerin zu allen Nachbarn und fragte, ob die Kinder sie nach Nääs begleiten dürften. Sie habe gehört, daß der Vorsteher krank sei, und sie glaube, es werde ihn freuen, wenn die Kinder ihm ein paar Lieder sängen. Es sei ja freilich schon ein wenig spät am Tage, aber der Mondschein sei an diesen Abende so hell und klar, daß man wohl nach Nääs hinauswandern könne. Die Lehrerin hatte ein Gefühl, daß sie noch an diesem Abend dahinaus müsse. Sie fürchtete, daß es am nächsten Tage zu spät sein könne.

Die Sage von Westgötland.

Sonntag, 9. Oktober.

Die Wildgänse hatten Bohuslän verlassen und standen in dem westlichen Teil von Westgötland in einem Teich und schliefen. Der kleine Niels Holgersen war, um im Trockenen zu sein, auf den Rand eines Grabens hinaufgekrochen, der quer über die sumpfige Wiese lief. Er war gerade im Begriff, sich einen Platz zum Schlafen zu suchen, als er eine kleine Schar Menschen die Landstraße daherkommen sah. Es war eine junge Lehrerin mit einem Dutzend Kinder um sich. Sie kamen in einem dichten Haufen gegangen, die Lehrerin in der Mitte und die Kinder rings um sie her. Sie plauderten so munter und vertraulich, daß der Junge Lust bekam, eine Strecke Weges mit ihnen zu laufen und zu hören, was sie miteinander sprachen.

Die Sache machte keine Schwierigkeiten, denn wenn er sich am Rande des Weges im Schatten hielt, war es fast unmöglich, ihn zu sehen. Und wo fünfzehn Menschen auf einem Wege entlang gingen, da war ein solcher Lärm von Fußtritten, daß niemand den Kies unter seinen kleinen Holzschuhen knirschen hören konnte.

Um die Kinder auf der Wanderung in guter Laune zu halten, hatte die Lehrerin ihnen alte Sagen erzählt. Sie war gerade mit einer Sage fertig, als der Junge sich der Schar anschloß, aber die Kinder baten sie sofort, noch eine zu erzählen. »Habt ihr die Sage von dem alten Riesen in Westgötland gehört, der nach einer Insel hoch oben im nördlichen Eismeer zog?« fragte die Lehrerin. Nein, die hatten die Kinder nicht gehört, und so begann denn die Lehrerin:

Es geschah einmal, daß ein Schiff in einer dunklen und stürmischen Nacht hoch oben im nördlichen Eismeer an einer kleinen Schäre scheiterte. Das Schiff zerschellte an den Klippen, und von der ganzen Besatzung retteten sich nur zwei Mann an Land. Dort standen sie auf der Schäre, klatschnaß und von Kälte erstarrt, und sie freuten sich natürlich sehr, als sie ein großes Feuer am Ufer flammen sahen. Sie eilten auf das Feuer zu, ohne an eine Gefahr zu denken. Erst als sie ganz dicht herangekommen waren, sahen sie, daß dort am Feuer ein schrecklich alter Riese saß, so groß und grobknochig, daß sie nicht darüber in Zweifel sein konnten, daß sie hier einem Mann aus dem Riesengeschlecht gegenüberstanden.

Sie blieben stehen und überlegten, aber der Nordwind fuhr mit fürchterlicher Kälte heulend über die Schäre hin. Sie würden bald erfroren sein, wenn sie sich nicht an dem Feuer des Riesen erwärmen durften, und so beschlossen sie denn, sich zu ihm hin zu wagen.

»Guten Abend, Vater,« sagte der Ältere von ihnen, »wollt Ihr zwei schiffbrüchigen Seeleuten erlauben, sich an Eurem Feuer zu wärmen?« Der Riese fuhr aus seinen Gedanken auf, und richtete sich halbwegs auf und zog sein Schwert aus der Scheide. »Was für Kerle seid ihr denn?« fragte er, denn er war alt und sah schlecht und wußte nicht, was für Wesen es waren, die ihn angeredet hatten.

»Wir sind beide aus Westgötland, wenn Ihr das wissen wollt,« antwortete der Ältere von den beiden Seeleuten. »Unser Schiff ist hier draußen im Meer untergegangen, und wir haben das Ufer verfroren und halbnackt erreicht.«

»Ich pflege sonst keine Menschen hier auf meiner Schäre zu dulden, aber wenn ihr aus Westgötland seid, so ist das eine andere Sache,« sagte der Riese und steckte sein Schwert wieder in die Scheide. »Dann dürft ihr euch hier niedersetzen und erwärmen, denn ich bin selbst aus Westgötland und habe viele Jahre in dem großen Hünengrab bei Skalunda gewohnt.«

Die Seeleute setzten sich nun auf ein paar Steine. Sie wagten nicht, mit dem Riesen zu sprechen, sondern saßen still da und starrten ihn an. Und je länger sie ihn betrachteten, um so größer, schien es ihnen, wurde er, und um so kleiner und schwächer wurden sie selbst.

»Meine Augen sind nicht mehr so gut, wie sie gewesen sind,« sagte der Riese, »kaum, daß ich euch erkennen kann. Sonst könnte es mich wohl belustigen, zu sehen, wie ein Westgote heutzutage aussieht. Einer von euch reiche mir aber wenigstens die Hand, damit ich fühlen kann, ob da noch warmes Blut in Schweden ist.«

Die Männer sahen erst die Fäuste des Riesen und dann ihre eigenen Hände an. Keiner von beiden hatte Lust, seinen Händedruck kennenzulernen. Dann aber erblickten sie eine eiserne Stange, mit der der Riese das Feuer zu schüren pflegte; sie war im Feuer liegengeblieben und an dem einen Ende glühend rot. Mit vereinten Kräften hoben sie die Stange auf und hielten sie dem Riesen hin. Er umfaßte die Stange und preßte sie so, daß das Eisen ihm zwischen den Fingern herablief. »Ja, ich kann merken, daß es noch warmes Blut in Schweden gibt,« sagte er ganz vergnügt zu den verblüfften Seeleuten.

Dann wurde es wieder still um das Feuer, aber diese Begegnung mit seinen Landsleuten führte die Gedanken des Riesen nach Westgötland zurück. Eine Erinnerung nach der anderen tauchte in ihm auf.

»Ich möchte wohl wissen, was aus dem Skalundaer Hünengrab geworden ist?« fragte er die Seeleute.

Keiner von den Männern wußte etwas von dem Hünengrab, nach dem der Riese fragte. »Es wird wohl sehr eingefallen sein,« meinte der eine zögernd. Er hatte ein Gefühl, als könne man einem solchen Frager keine Antwort schuldig bleiben. – »Freilich, freilich, das dachte ich mir wohl,« sagte der Riese und nickte zustimmend. »Es war ja nicht anders zu erwarten, denn den Hügel trugen meine Frau und meine Tochter einmal in einer frühen Morgenstunde in ihren Schürzen zusammen.«

Wieder saß er da und grübelte und suchte Erinnerungen wachzurufen. Er hatte ja nicht gerade kürzlich in Westgötland gewohnt, und es währte eine ganze Weile, bis er tief genug in seine Erinnerungen eindringen konnte.

»Aber Kinnekulle und Billingen und die anderen kleinen Berge, die über die große Ebene zerstreut lagen, die stehen doch wohl noch?« fragte der Riese. – »Ja, die stehen noch,« antwortete der Westgöte, und um dem Riesen zu zeigen, daß er merkte, er habe es mit einem tüchtigen Mann zu tun, fügte er hinzu: »Ihr habt vielleicht diese Berge aufbauen helfen?«

»Ach, das gerade nicht,« erwiderte der Riese, »aber ich kann dir erzählen, daß du es meinem Vater zu verdanken hast, wenn die Berge da stehen. Als ich noch ein kleiner Knirps war, gab es in Westgötland keine große Ebene, sondern da, wo sich jetzt die Ebene ausbreitet, lag ein Bergland, das sich vom Wetternsee bis zum Götaelf erstreckte. Aber dann hatten einige Elfe sich vorgenommen, das Gebirge zu zerbröckeln und es an den Wenernsee hinabzutragen. Es waren keine richtigen Granitberge, sie bestanden hauptsächlich aus Kalkstein und Schiefer, daher wurde es den Elfen leicht, damit fertig zu werden. Ich entsinne mich noch, wie sie ihre Flußbetten und Täler breiter und breiter machten, und schließlich erweiterten sie sie zu Ebenen. Mein Vater und ich gingen zuweilen aus und sahen der Arbeit der Elfe zu, und der Vater war gar nicht so recht damit einverstanden, daß sie das ganze Gebirge zerstörten. ›Sie könnten uns doch wenigstens ein paar Ruhestätten übriglassen!‹ sagte er, und im selben Augenblick zog er seine steinernen Schuhe aus und stellte den einen der Länge nach gen Westen und den anderen der Länge nach gen Osten auf. Seinen steinernen Hut legte er auf eine Bergkuppe am Wenernsee, meinen steinernen Hut schleuderte er weiter nach Süden zu, und seine steinerne Keule warf er in derselben Richtung von sich. Was wir sonst an gutem, hartem Stein bei uns hatten, legte er an verschiedenen Stellen nieder. Und dann ereignete es sich, daß die Flüsse fast das ganze Gebirge wegspülten. Aber die Stellen, die mein Vater mit seinen steinernen Sachen bedeckt hatte, wagten sie nicht anzurühren; die blieben stehen. Da wo mein Vater seinen einen Schuh hingesetzt hatte, blieb der Halleberg unter dem Absatz und der Hunneberg unter der Sohle stehen. Unter dem anderen Schuh war Billingen versteckt. Des Vaters Hut hatte Kinnekulle bewehrt, unter meiner Mütze lag der Mösseberg und unter der Keule der Alleberg. Alle die anderen kleinen Berge auf der Westgötaebene wurden Vater zuliebe ebenfalls verschont, und ich möchte wohl wissen, ob es jetzt in Westgötland noch viele Männer gibt, vor denen die Leute so großen Respekt haben, wie vor ihm.«

»Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten,« sagte der Seemann. »Aber ich will doch sagen, wenn Elfe und Riesen zu ihrer Zeit so mächtig gewesen sind, so bekomme ich gleichsam größere Achtung vor den Menschen, denn jetzt haben sie sich doch zu Herren über Berge und Ebenen gemacht.«

Der Riese rümpfte die Nase ein wenig. Er schien nicht gerade sehr zufrieden mit der Antwort zu sein, aber er nahm die Unterhaltung bald wieder auf. »Wie steht es denn jetzt mit dem Trolhätta?« fragte er. – »Der braust und donnert, wie er es immer getan hat,« sagte der Seemann. »Ihr seid vielleicht mit dabeigewesen, als der große Wasserfall in Gang gesetzt wurde, so wie Ihr geholfen habt, die Westgötaberge zu erhalten?« – »Ach, das gerade nicht,« erwiderte der Riese. »Aber ich erinnere mich noch, daß meine Brüder und ich, als wir kleine Knirpse waren, ihn als Rutschbahn zu benutzen pflegten. Wir stellten uns auf einen Balken, und dann ging es den Gullöfall, den Toppöfall und die anderen drei Fälle hinab. Wir kamen so rasch dahergesaust, daß wir kurz davor waren, ganz in das Meer hineinzurutschen. Ich möchte wohl wissen, ob es heutzutage in Westgötland noch irgend jemand gibt, der sich auf diese Weise belustigt.« – »Das ist nicht gut zu wissen,« sagte der Seemann. »Aber ich finde fast, es ist eine noch weit wunderbarere Leistung, daß wir Menschen imstande gewesen sind, einen Kanal an den Wasserfällen entlang zu bauen, so daß wir nicht nur den Trolhätta hinabfahren können, so wie Ihr es in Euren jungen Jahren tatet, sondern daß wir ihn auch in Booten und auf Dampfschiffen hinauffahren.«

»Es ist merkwürdig, das zu hören,« entgegnete der Riese, und es schien, als habe die Antwort ihn ein wenig verstimmt. »Kannst du mir nun auch sagen, wie es mit der Gegend am Bejörsee steht, die sie Hungerland nannten?« – »Ja, die hat uns viel Kummer gemacht,« sagte der Westgöte. »Es ist vielleicht Euer Verdienst, daß sie so mager und trostlos daliegt?« – Ach, das gerade nicht,« antwortete der Riese. »Zu meiner Zeit wuchs an der Stelle ein prächtiger Wald. Aber da geschah es, daß eine meiner Töchter Hochzeit machte und wir viel Holz nötig hatten, um den Backofen zu heizen. Da nahm ich ein langes Tau, schlang es um den ganzen Wald im Hungerland, riß ihn mit einem einzigen Ruck aus und trug ihn nach Hause. Ich möchte wohl wissen, ob es heutzutage jemand gibt, der einen solchen Wald auf einmal ausreißen kann?« – »Die Frage wage ich nicht zu beantworten,« sagte der Westgöte. »Eins aber weiß ich, in meiner Jugend lag das Hungerland kahl und unfruchtbar da, und jetzt haben die Bewohner die ganze Fläche mit Wald bepflanzt. Das nenne ich auch eine männliche Tat!«

»Aber da unten in dem südlichen Westgötland, da kann wohl kein Mensch sein Auskommen finden?« meinte der Riese. – »Habt Ihr auch geholfen, das Land einzurichten?« fragte der Westgöte. – »Nicht gerade das,« sagte der Riese, »aber ich entsinne mich, daß, als wir Riesenkinder dort unsere Herden hüteten, wir uns viele steinerne Häuser bauten und durch alle die Steine, die wir umherwarfen, den Boden so unbestellbar machten, daß es mich deucht, es müsse schwer sein, die Erde dort in der Gegend zu bearbeiten.«

»Das ist freilich wahr, es lohnt sich nicht sonderlich, dort Ackerbau zu betreiben,« sagte der Westgöte, »aber die Bevölkerung hat sich auf die Weberei und die Herstellung von Holzwaren gelegt, und ich sollte meinen, es zeugt von größerer Tüchtigkeit, sein Auskommen in einer so ärmlichen Gegend zu finden, als bei der Zerstörung des Bodens behilflich zu sein.«

»Jetzt habe ich nur noch eine Frage an euch zu richten,« sagte der Riese. »Wie habt ihr euch unten an der Küste eingerichtet, da, wo der Götaelf sich ins Meer ergießt?« – »Habt Ihr auch da die Hand mit im Spiel gehabt?« fragte der Seemann. – »Das nicht gerade,« erwiderte der Riese. »Aber ich entsinne mich, daß wir oft an den Strand hinabgingen, uns einen Walfisch heranlockten und auf seinem Rücken durch die Fjorde und Schären ritten. Ich möchte wohl wissen, ob ihr jemand kennt, der noch heute so etwas tut?« – »Die Frage will ich unbeantwortet lassen,« antwortete der Seemann. »Aber ich halte es für eine ebenso große Tat, daß wir Menschen unten an der Mündung des Potaelfs eine Stadt gebaut haben, von der Schiffe nach allen Meeren der Welt ausgehen.« Darauf erwiderte der Riese nichts, und der Seemann, der selbst in Gotenborg beheimatet war, begann nun, ihm die reiche Handelsstadt mit ihrem großen Hafen, mit ihren Brücken und Kanälen und den langen, schnurgeraden Straßen zu beschreiben; er erzählte, es wohnten dort so viele tüchtige unternehmende Kaufleute und kühne Seeleute, daß es nicht ausgeschlossen sei, daß sie Gotenborg zu der hervorragendsten Stadt des Nordens machen könnten.

Bei jeder neuen Antwort, die der Riese erhielt, wurden die Runzeln auf seiner Stirn tiefer und tiefer. Es war leicht zu sehen, wie mißvergnügt er darüber war, daß sich die Menschen zu Herren über die Natur gemacht hatten. »Ich merke, es hat sich vieles in Westgötland verändert,« sagte er, »und ich würde gern einmal wieder dahinunterkommen und dies und jenes in Ordnung bringen.« – Als der Seemann das hörte, erschrak er. Er glaubte nicht, daß der Riese in guter Absicht nach Westgötland kommen würde, aber er wagte natürlich nicht, sich das merken zu lassen. – »Ihr dürft überzeugt sein, daß man Euch mit offenen Armen empfangen würde,« sagte er. »Wir wollen alle Kirchenglocken Euch zu Ehren läuten lassen.« – »Es gibt also noch Kirchenglocken in Westgötland?« fragte der Riese und sah ein wenig bedenklich aus. »Sind denn die großen Klingelwerke in Husaby, Skara und Varnhelm noch nicht in Stücke geläutet?« – »Nein, sie sind noch immer da, und sie haben seit Eurer Zeit viele Schwestern bekommen. Es gibt jetzt keinen Ort in Westgötland, wo man keine Kirchenglocken hört,« – »Ja, dann muß ich wohl lieber bleiben, wo ich bin,« sagte der Riese, »denn die Glocken sind schuld daran, daß ich aus der Heimat wegzog.«

Dann versank er in Gedanken, bald aber wandte er sich wieder an die Seeleute: »Nun könnt ihr euch ganz ruhig am Feuer niederlegen und schlafen,« sagte er. »Morgen früh werde ich dafür sorgen, daß ein Schiff hier vorüberfährt, das euch aufnimmt und in eure Heimat zurückbringt. Aber für die Gastfreundschaft, die ich euch erwiesen habe, fordere ich von euch nur die Gefälligkeit, daß ihr, sobald ihr nach Hause kommt, zu dem besten Mann in ganz Westgötland geht, und ihm diesen Ring gebt. Grüßt ihn von mir und sagt ihm, wenn er den an seinen Finger steckt, wird er noch viel mehr werden, als er jetzt ist.«

Sobald die Seeleute nach Hause gekommen waren, gingen sie zu dem besten Mann in Westgötland und gaben ihm den Ring. Aber der war zu klug, um ihn gleich an den Finger zu stecken. Statt dessen hängte er ihn an eine kleine Eiche, die auf seinem Hofe stand. Und sofort begann die Eiche so gewaltig zu wachsen, daß alle es sehen konnten. Sie trieb neue Schößlinge und sandte Zweige nach allen Richtungen aus, der Stamm wurde dicker und die Rinde immer härter. Der Baum bekam neue Blätter und warf sie wieder ab, setzte Blüten und Früchte an und wurde in kurzer Zeit so groß, daß niemand eine gewaltigere Eiche gesehen hatte. Aber kaum war sie ausgewachsen, als sie ebenso schnell zu verwelken begann. Die Zweige fielen ab, der Stamm wurde hohl, und der Baum verfaulte, so daß bald nichts weiter von ihm übrig war als ein Stumpf.

Da nahm der beste Mann in Westgötland den Ring und warf ihn weit weg. »Dies Geschenk des Riesen hat die Macht, daß es einem Mann große Kräfte verleihen und ihn für kurze Zeit hervorragender machen kann als alle anderen,« sagte er. »Aber es wird ihn veranlassen, sich zu überheben, so daß es mit seiner Tüchtigkeit und seinem Glück bald ein Ende hat. Ich will nichts mit dem Ring zu schaffen haben, und ich will nur hoffen, daß niemand ihn findet, denn er ist uns nicht in guter Absicht gesandt.«

Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß jemand den Ring gefunden hat. Sooft sich ein guter Mensch über seine Kräfte anstrengt, Nutzen zu schaffen, kann man nicht umhin, daran zu denken, ob er nicht etwa den Ring gefunden hat, und ob es nicht dieser Ring ist, der ihn zwingt, so zu wirken, daß er sich vor der Zeit aufreibt und sein Werk unvollendet hinterlassen muß.

Der Gesang.

Die kleine Lehrerin war die ganze Zeit, während sie erzählte, schnell die Landstraße entlang gewandert, und als sie ihre Geschichte beendet hatte, sah sie, daß sie fast am Ziel angelangt war. Sie konnte schon die großen Wirtschaftsgebäude sehen, die wie alle anderen Häuser dort auf dem Gut im Schatten schöner Bäume lagen. Und noch ehe sie daran vorübergekommen war, sah sie das Schloß hoch oben auf der Terrasse hervorschimmern.

Bis zu diesem Augenblick war sie glücklich über ihren Plan gewesen und hatte keinerlei Bedenken gehabt, aber jetzt, wo sie den Hof sah, begann ihr Mut zu sinken. Den Fall gesetzt, daß ihr Vorhaben ganz verkehrt war! Sie war ja so gering und unbedeutend, da war wohl niemand, der sich um ihre Dankbarkeit kümmerte! Vielleicht würden sie nur über sie lachen, wenn sie in später Abendstunde mit ihren Schulkindern dahergewandert kam. Sie sangen ja auch gar nicht so schön, daß sich jemand etwas daraus machen konnte.

Sie begann langsamer zu gehen, und als sie an die Treppe kam, die zu der Schloßterrasse hinaufführte, bog sie vom Wege ab und ging die Stufen hinauf. Sie wußte sehr wohl, daß das große Schloß seit dem Tode des alten Herrn leer stand. Sie ging nur da hinauf, um in Ruhe zu überlegen, ob sie weitergehen oder umkehren sollte. Als sie auf die Terrasse hinaufkam und das Schloß sah, das schimmernd weiß im Mondschein dalag, als sie die Hecken und die Blumengruppen und die Balustrade mit den Urnen und die stattliche Treppe erblickte, wurde sie immer kleinmütiger. Es erschien ihr alles so prachtvoll und vornehm, daß sie einsah, hier hatte sie nichts zu tun. »Komm mir nicht zu nahe!« schien ihr das feine, weiße Schloß zu sagen, »Du wirst dir doch nicht einbilden, daß du und deine Schulkinder dem, der gewohnt ist, in einem solchen Schloß zu wohnen, Freude zu bereiten vermögen?« Um diese Unschlüssigkeit, die sie mehr und mehr beschlich, in die Flucht zu jagen, erzählte die Lehrerin nun ihren Schulkindern alles von dem alten und dem jungen Herrn, so wie sie es gehört hatte, als sie Schülerin auf Näas gewesen war. Und das machte ihr ein wenig mehr Mut. Es war ja doch wirklich wahr, daß das Schloß und das ganze Gut dem Handfertigkeitsseminar geschenkt worden war. Es war geschenkt worden, damit Lehrer und Lehrerinnen eine glückliche Zeit auf einem schönen Herrenhof verleben und danach ihren Schulkindern Kenntnisse und Freude mit heimbringen sollten. Aber diejenigen, die einer Schule ein solches Geschenk gemacht, hatten doch dadurch bewiesen, daß sie die Schullehrer zu schätzen wußten. Sie hatten hier offen bekannt, daß sie die Erziehung der schwedischen Kinder für wichtiger hielten als alles andere. Und hier durfte sie, die junge Lehrerin, sich am allerwenigsten mutlos und verzagt fühlen.

Diese Gedanken trösteten sie ein wenig, und sie beschloß, ihren Plan nun doch auszuführen. Und um ihren Mut zu stärken, ging sie in den Park hinab, der den Abhang zwischen dem Schloßhügel und dem See bedeckte. Als sie unter den schönen Bäumen dahinschritt, die so finster und geheimnisvoll im Mondschein dastanden, erwachten viele frohe Erinnerungen in ihr. Sie erzählte den Kindern, wie es zu ihrer Zeit auf Nääs gewesen war, und wie glücklich sie sich als Schülerin hier gefühlt hatte, wo sie jeden Tag in dem schönen Park lustwandeln durfte. Sie erzählte von Festen und von Spiel und Arbeit, vor allem aber erzählte sie von der großen Güte, die ihr und so vielen anderen diesen stolzen Herrenhof erschlossen hatte. Auf diese Weise hielt sie ihren Mut aufrecht, und sie gelangte durch den Park und über die alte steinerne Brücke und erreichte die Wiese unten am See, wo die Villa des Vorstehers mitten zwischen den Schulgebäuden lag.

Dicht an der Brücke lag der grüne Spielplatz, und als sie daran vorüberkam, beschrieb sie den Kindern, wie schön es hier an den Sommerabenden war, wenn die Rasenfläche von hellgekleideten Menschen wimmelte und Singspiele und Ballspiele einander ablösten. Sie zeigte den Kindern das »Freundesheim«, in dem der Versammlungssaal war, die Villen, in denen sich die Unterrichtsäle und der Turnsaal befanden. Sie ging schnell und sprach unaufhörlich, als wolle sie sich keine Zeit lassen, ängstlich zu warten. Als sie aber schließlich so weit gekommen war, daß sie die Villa des Vorstehers sehen konnte, blieb sie plötzlich stehen.

»Wißt ihr was, Kinder, ich glaube, wir gehen nicht weiter,« sagte sie. »Ich habe bisher nicht daran gedacht, aber der Vorsteher ist vielleicht so krank, daß wir ihn durch unsern Gesang stören könnten. Es wäre ja schrecklich, wenn wir ihn noch kränker machten.«

Der kleine Niels Holgersen war die ganze Zeit mit dabei gewesen und hatte alles gehört, was die Lehrerin erzählte. Er wußte also, daß sie ausgegangen waren, um jemand, der da drüben in der Villa krank lag, etwas vorzusingen, und er begriff jetzt, daß aus dem Gesang nichts werden würde, weil sie fürchteten, den Kranken zu stören und zu beunruhigen.

»Es ist doch schade, daß sie wieder von dannen gehen, ohne zu singen,« dachte er. »Es wäre ja die leichteste Sache von der Welt, zu erfahren, ob der Kranke wirklich zu schwach ist, um ein wenig Gesang hören zu können. Warum geht die Lehrerin nicht nach der Villa und erkundigt sich?«

Aber auf diesen Gedanken schien die Lehrerin gar nicht zu kommen; sie kehrte im Gegenteil um und ging schweigend heimwärts. Die Schulkinder erhoben ein paar Einwendungen, aber sie brachte sie zum Schweigen. »Nein, nein,« sagte sie. »Es war dumm von mir, daß ich hierher gehen und singen wollte, jetzt, wo es schon dunkel geworden ist. Wir könnten leicht stören.«

Da meinte Niels Holgersen, wenn kein anderer es tun wollte, so müßte er zu erfahren suchen, ob der Kranke wirklich zu schwach war, um ein wenig Gesang zu hören. Er entfernte sich von den andern und lief nach dem Hause hinüber. Vor der Villa hielt ein Wagen, und neben den Pferden stand ein alter Kutscher und wartete. Der Knabe war kaum bis an den Eingang des Hauses gelangt, als die Tür aufging und ein Mädchen mit einem Teebrett heraustrat. »Sie werden wohl noch ein wenig auf den Herrn Doktor warten müssen, Larsson,« sagte sie. »Da hat mir die gnädige Frau gesagt, ich sollte Ihnen etwas Warmes bringen.«

»Wie geht es denn dem Herrn?« fragte der Kutscher.

»Er hat keine Schmerzen mehr, aber es ist, als wenn das Herz still steht. Der Herr Vorsteher hat schon eine ganze Stunde dagelegen, ohne sich zu rühren. Wir wissen kaum, ob er noch lebt oder schon tot ist?«

»Hat der Doktor gesagt, daß da keine Hoffnung mehr ist?«

»Man muß auf alles gefaßt sein, Larsson, ja, man muß auf alles gefaßt sein. Es ist, als lausche der Herr Vorsteher nach etwas. Wenn ein Ruf an ihn von oben kommt, so ist er bereit.«

Niels Holgersen lief schnell den Weg entlang, um die Lehrerin und die Kinder einzuholen. Er dachte daran, wie es gewesen war, als sein Großvater starb. Der war Seemann gewesen, und als er in den letzten Zügen lag, hatte er gebeten, man möchte das Fenster öffnen, damit er noch einmal den Wind brausen höre. Und wenn nun der Kranke hier es so über alles geliebt hatte, von Jugend umgeben zu sein, und ihren Liedern und Spielen zuzuhören …?

Die Lehrerin ging unschlüssig die Allee hinab. Jetzt, wo sie sich von Nääs entfernte, empfand sie ein Verlangen, umzukehren, und als sie vorhin auf dem Wege dahin gewesen, war sie auch kurz davor gewesen, wieder umzukehren. Sie war noch immer gleich unschlüssig und unsicher.

Sie sprach nicht mehr mit den Kindern, sondern ging ganz stumm dahin. In der Allee, durch die sie ging, war der Schatten so tief, daß sie nichts sehen konnte. Es war ihr, höre sie eine Menge Menschen und Stimmen um sich her. Es war ihr, als erklängen angstvolle Rufe von tausend verschiedenen Seiten. »Wir sind soweit weg, alle wir andern!« sagten die Stimmen. »Aber du bist ganz nahe. Geh‘ hin und singe du, was wir alle fühlen.«

Und sie dachte an den einen und den andern, dem der Vorsteher geholfen und dessen er sich angenommen hatte. Es war übermenschlich, wie er sich angestrengt hatte, allen, die in Not waren, zu helfen. »Geh‘ hin und singe ihm etwas vor!« flüsterte es ringsum sie her. »Laß ihn nicht sterben, ohne einen letzten Gruß von seiner Schule zu empfangen! Denk‘ nicht daran, daß du gering und unbedeutend bist! Denk‘ an die große Schar, die hinter dir steht! Laß ihn, ehe er von uns geht, verstehen, wie innig wir alle ihn lieben!«

Die Lehrerin ging immer langsamer. Da hörte sie etwas, was nicht nur Stimmen und mahnende Rufe in ihrer eigenen Seele war, sondern was aus der äußeren Welt um sie herkam. Es war keine gewöhnliche menschliche Stimme. Es war wie das Zwitschern eines Vogels oder das Zirpen eines Heimchens. Aber es rief trotzdem ganz deutlich, sie solle wieder umkehren.

Und mehr gehörte nicht dazu, um ihr Mut zu machen, ihr Vorhaben auszuführen. – – –

Die Lehrerin und die Kinder hatten ein paar Lieder vor dem Fenster des Vorstehers gesungen. Sie fand selbst, daß ihr Gesang so wunderbar schön geklungen hatte in dieser Abendstunde. Es war, als hätten unbekannte Stimmen mitgesungen. Der ganze Raum war gleichsam von Tönen und Lauten angefüllt gewesen. Sie hatten den Gesang nur anzustimmen brauchen, dann hatten ihre Stimmen einen Klang und eine Kraft erhalten, die sie sonst nicht besessen hatten.

Da tat sich plötzlich die Tür auf, und jemand kam schnell heraus. »Jetzt kommen sie, um mir zu sagen, daß ich nicht mehr singen soll,« dachte die Lehrerin. »Wenn ich ihm nur nicht geschadet habe!«

Aber das war nicht der Fall. Es war die Bitte, sie möchte ins Haus hineinkommen und etwas ausruhen und dann noch ein paar Lieder singen. Da drinnen kam ihr der Doktor entgegen. »Die Gefahr ist für diesmal vorüber,« sagte er. »Er lag besinnungslos da, und das Herz schlug schwächer und schwächer. Aber als Sie zu singen begannen, war es, als erhalte er einen Gruß von allen denen, die seiner Hilfe bedürfen. Er fühlte, daß für ihn die Zeit, Ruhe zu suchen, noch nicht gekommen sei. Singen Sie ihm noch etwas vor! Singen Sie und freuen Sie sich, denn ich glaube, Ihr Gesang hat ihn ins Leben zurückgerufen! Jetzt dürfen wir uns vielleicht Hoffnung machen, ihn noch ein paar Jahre zu behalten.«

XLIV. Bei den Lappen

Die Beerdigung war vorüber. Alle Gäste des Gänsemädchens Aase waren gegangen, und sie saß allein in der kleinen Hütte, die ihrem Vater gehört hatte. Sie hatte die Tür abgeschlossen, um Ruhe zu haben und an ihren Bruder denken zu können. Sie dachte an alles, was der kleine Mads gesagt und getan hatte, an eins nach dem andern, und das war so viel, daß sie vergaß zu Bett zu gehen und nicht nur den ganzen Abend, sondern bis spät in die Nacht sitzen blieb. Je mehr sie an den Bruder dachte, um so klarer wurde es ihr, wie schwer es sein würde, ohne ihn zu leben, und schließlich legte sie den Kopf auf den Tisch und weinte bitterlich. »Was soll aus mir werden, wenn ich den kleinen Mads nicht mehr habe,« schluchzte sie.

Es war, wie gesagt, spät in der Nacht, und das Gänsemädchen Aase hatte einen anstrengenden Tag gehabt, da war es denn nicht verwunderlich, daß der Schlaf sie übermannte, sobald sie den Kopf senkte. Und es war ja auch nicht verwunderlich, daß sie von dem träumte, an den sie fortwährend gedacht hatte. Es war ihr, als komme der kleine Mads leibhaftig zu ihr ins Zimmer herein. »Aase, jetzt mußt du dich aufmachen und versuchen, unsern Vater zu finden,« sagte er. – »Wie kann ich das nur, ich weiß ja nicht einmal, wo ich ihn suchen soll,« schien sie zu antworten. – »Darüber sollst du dir keine Sorgen machen,« entgegnete der kleine Mads frisch und fröhlich, wie es eine Art war. »Ich will dir schon jemand schicken, der dir helfen kann.«

Während das Gänsemädchen Aase träumte, daß der kleine Mads dies sagte, klopfte es an ihre Kammertür. Es war ein wirkliches Klopfen und nicht etwas, was sie träumte. Aber sie war in dem Maße von ihrem Traum befangen, daß sie nicht zu unterscheiden vermochte, was Wirklichkeit war und was Einbildung, und als sie hinging, um die Tür zu öffnen, dachte sie: ›Nun kommt ganz sicher der Helfer, den der kleine Mads mir zu schicken versprochen hat.‹

Hätte nun Schwester Hilma oder irgendein anderer richtiger Mensch auf der Schwelle gestanden, als das Gänsemädchen Aase die Tür öffnete, so würde sie gleich gemerkt haben, daß der Traum aus war, aber es war kein Mensch. Der geklopft hatte, war ein kleiner Wicht, nicht viel größer als eine Spanne hoch. Obgleich es spät in der Nacht war, war es doch noch so hell wie am Tage, und Aase sah sogleich, daß es derselbe kleine Bursche war, den sie und der kleine Mads, während sie das Land durchwanderten, ein paarmal getroffen hatten. Damals war sie bange vor ihm, und das würde sie auch jetzt gewesen sein falls sie richtig wach gewesen wäre. Aber sie hatte ein Gefühl, als träume sie noch, und darum blieb sie ruhig stehen. ›Dacht‘ ich mir’s doch, daß es der sei, den der kleine Mads mir schicken wollte, der mir behilflich sein sollte, den Vater zu finden,‹ dachte sie.

Und darin hatte sie nicht unrecht, denn der kleine Kerl kam gerade, um mit ihr über ihren Vater zu sprechen. Als er sah, daß sie nicht bange vor ihm war, erzählte er ihr mit wenigen Worten, wo der Vater zu finden sei, wie auch, was sie tun müsse, um zu ihm zu gelangen.

Aber während er sprach, erwachte das Gänsemädchen Aase allmählich zu vollem Bewußtsein, und als er geendet hatte, war sie ganz wach. Und da erschrak sie so darüber, daß sie hier stand und mit einem sprach, der nicht ihrer Welt angehörte, daß sie kein Wort über ihre Lippen zu bringen vermochte, nicht einmal einen Dank. Im Gegenteil, sie lief schnell in die Stube hinein und schlug die Tür hart hinter sich zu. Es war ihr freilich, als könne sie sehen, daß das Gesicht des Kleinen einen sehr betrübten Ausdruck annahm, als sie das tat; aber sie konnte nicht anders. Sie war ganz außer sich vor Entsetzen und kroch schnell in das Bett und zog die Decke über den Kopf.

Aber obwohl sie so bange vor dem Kleinen geworden war, begriff sie doch, daß er nur ihr Bestes gewollt hatte, und am nächsten Tage beeilte sie sich, das zu tun, wozu er ihr geraten hatte.

Auf dem linken Ufer des Luossojaure, eines kleinen Sees, der noch viele Meilen nördlicher liegt als Malmberget, war ein kleines Lappenlager. An dem südlichen Ende des Sees ragt ein mächtiger Bergkegel auf, der Kirunavåra heißt und der, wie man erzählte, aus lauter Eisenerz bestehen soll. Auf der nordöstlichen Seite lag ein anderer Berg, der Luossovåra hieß, und das war auch ein reicher Eisenberg. Man war jetzt im Begriff, eine Eisenbahn von Gellivare zu diesen Bergen hinauf zu führen, und in der Nähe von Kirunavåra wurden ein Bahnhof, ein Hotel und eine Menge Wohnungen für die Ingenieure und Arbeiter gebaut, die hier wohnen würden, wenn der Gewinn des Erzes erst ordentlich in Gang gekommen war. Es war dies eine ganze Stadt mit hübschen und gemütlichen Häusern, die dort hoch oben entstand, und zwar in einer Gegend, die so weit nördlich gelegen war, daß die kleinen, verkrüppelten Birken, die den Erdboden bedeckten, erst nach dem Hochsommer ihre Blätter aus den Knospen entfalten konnten.

Westlich von dem See lag das Land frei und offen, und da hatten, wie gesagt, ein paar Lappenfamilien ihr Lager aufgeschlagen. Sie waren vor einem Monat hierhergekommen und hatten nicht viel Zeit gebraucht, um ihre Wohnung in Ordnung zu bringen. Sie hatten weder Felsen sprengen noch zu mauern brauchen, um guten und ebenen Baugrund zu schaffen, sondern sobald sie einen trockenen und guten Platz in der Nähe des Sees gefunden, hatten sie nichts weiter zu tun gebraucht, als ein wenig Weidengestrüpp wegzuhauen und einige Erdhügel zu ebnen, um den Bauplatz herzurichten. Auch hatten sie nicht lange gezimmert und gehämmert, um feste Wände aus Balken herzustellen, und sie hatten sich keine Mühe damit gemacht, das Dach aufzurichten und es gut zu decken, oder die Wände inwendig mit Brettern zu bekleiden und Fenster einzusetzen; ja, nicht einmal um Türen und Schlösser hatten sie sich bekümmert. Sie brauchten nichts weiter zu tun, als die Zeltpfähle tüchtig fest in den Boden zu rammen und Leinwand darüber zu hängen, dann war ihr Haus so gut wie fertig. Auch mit dem Hineinschaffen der Möbel hatten sie sich keine großen Umstände gemacht. Das Wichtigste war, einige Felle und Tannenzweige auf dem Boden auszubreiten und den großen Kessel, in dem sie ihr Renntierfleisch kochten, an einer eisernen Kette aufzuhängen, die oben an den Zeltstangen befestigt wurde.

Die Ansiedler auf der östlichen Seite des Sees, die sich aus Leibeskräften damit abmühten, ihre Häuser fertig zu schaffen, ehe der strenge Winter hereinbrach, wunderten sich über die Lappen, die seit vielen, vielen Hunderten von Jahren hier in dem kalten Norden umhergestreift waren, ohne daran zu denken, daß man andern Schutz gegen Sturm und Kälte haben könne, als ein paar dünne Zeltwände. Und die Lappen wunderten sich über die Ansiedler, die sich alle diese schwere und mühselige Arbeit machten, da zum Leben doch nichts weiter nötig war als der Besitz von einigen Renntieren und einem Zelt.

Eines Nachmittags im Juli regnete es dort oben am Luossojaure ganz fürchterlich, und die Lappen, die sich sonst zur Sommerzeit nicht viel innerhalb ihrer Zeltwände aufhielten, waren alle miteinander in eins der Zelte gekrochen und kauerten dort um das Feuer und tranken Kaffee.

Während sie da saßen und noch so vergnüglich bei der Kaffeetasse plauderten, kam ein Boot von der Kirunaerseite herübergerudert und legte bei dem Lappenlager an. In dem Boot saßen ein Arbeiter und ein kleines Mädchen, das wohl dreizehn bis vierzehn Jahre alt sein mochte; sie stiegen bei dem Lager aus. Die Hunde fuhren mit heftigem Gebell auf sie ein, und einer der Lappen steckte den Kopf zur Zeltöffnung heraus, um zu sehen, was es gäbe. Er war sehr erfreut, als er den Arbeiter sah, denn der war ein guter Freund der Lappen, ein munterer und redseliger Mann, der die Sprache der Lappen sprechen konnte. Der Lappe rief ihm gleich zu, er solle ins Zelt hineinkommen. »Du kommst wie gerufen, Söderberg,« rief er. »Der Kaffeekessel hängt über dem Feuer; bei diesem Regenwetter kann doch niemand etwas anfangen. Komm herein und erzähle uns etwas Neues.«

Der Arbeiter kroch zu den Lappen hinein, und mit viel Mühe, aber unter lustigem Scherzen und Lachen, gelang es, für ihn und das kleine Mädchen Platz in dem Zelt zu schaffen, das schon ganz voll von Menschen war. Der Mann begann sofort lappländisch mit seinen Wirten zu sprechen. Währenddessen saß das Mädchen, das mit ihm gekommen war, und das nichts von der Unterhaltung verstand, ganz stumm da und betrachtete erstaunt den Kochtopf und den Kaffeekessel, das Feuer und den Rauch, die Lappen und die Lappenfrauen, die Kinder und die Hunde, die Wände und den Fußboden, die Kaffeetassen und die Tabakpfeifen, die bunten Kleider und die geschnitzten Gerätschaften.

Aber auf einmal hielt sie mit ihrer Untersuchung inne und schlug die Augen nieder, denn sie merkte, daß alle im Zelt sie ansahen. Söderberg mußte etwas von ihr erzählt haben, denn sowohl die Lappen als auch die Lappenfrauen nahmen ihre kurzen Tabakpfeifen aus dem Munde und starrten sie an. Der ihr zunächstsitzende Lappe klopfte ihr auf die Schulter und sagte auf schwedisch: »Gut! Gut!« Eine Lappenfrau schenkte eine große Tasse Kaffee ein, die ihr mit vieler Mühe hinübergereicht wurde, und ein Lappenjunge in ihrem Alter kroch zu ihr hinüber. Da blieb er liegen und glotzte sie an.

Sie erriet, daß Söderberg den Lappen erzählt haben mußte, wie sie das große Begräbnis für ihren Bruder, den kleinen Mads veranstaltet hatte, aber sie saß da und wünschte, daß er nicht so viel von ihr erzählen möge, sondern die Lappen fragen wollte, ob sie nichts von ihrem Vater wüßten. Der kleine Wicht hatte gesagt, daß er sich bei den Lappen aufhalte, die ihr Lager westlich vom Luossojaure aufgeschlagen hätten, und da hatte sie um Erlaubnis gebeten, mit einem Kieszug da hinauf zu fahren – denn richtige Züge gingen noch nicht auf der Bahn – um nach ihrem Vater suchen zu kommen. Alle, die Aufseher wie auch die Arbeiter taten ihr Bestes, um ihr zu helfen, und in Kiruna hatte ein Ingenieur Söderberg, der Lappisch sprechen konnte, mit ihr über den See geschickt, um sich nach dem Vater zu erkundigen.

Sie hatte gehofft, daß sie ihn treffen würde, sobald sie hier ankäme, und sie hatte ein Gesicht nach dem andern im Zelt angesehen, konnte aber gar nicht in Zweifel sein, daß sie alle dem Lappenvolk angehörten. Der Vater war nicht unter ihnen.

Sie sah, daß die Lappen und Söderberg immer ernsthafter wurden, je länger sie miteinander redeten, und die Lappen schüttelten die Köpfe und klopften sich an die Stirn, als sprächen sie von jemand, der nicht ganz bei Verstand sei. Da wurde sie so unruhig, daß sie es nicht länger aushalten konnte, still zu sitzen und zu warten, und sie fragte Söderberg, was die Lappen von ihrem Vater wüßten.

»Sie sagen, er ist fortgegangen, um zu fischen,« antwortete der Arbeiter. »Sie wissen nicht, ob er heute abend noch ins Lager zurückkommt, aber sobald das Wetter ein wenig besser wird, will einer von ihnen ausgehen und nach ihm suchen.«

Dann wandte er sich wieder an die Lappen und sprach eifrig mit ihnen weiter. Er wollte offenbar nicht, daß Aase noch mehr Fragen über ihren Vater an ihn richtete.

*

Am nächsten Morgen war schönes Wetter. Ola Serka selbst, der vornehmste unter den Lappen, hatte gesagt, er wolle ausgehen und nach Aases Vater suchen. Aber er beeilte sich nicht; er kauerte vor dem Zelte, dachte an Jon Assarson und überlegte, wie er ihm die Nachricht beibringen sollte, daß seine Tochter gekommen war, um ihn zu suchen. Es handelte sich nämlich darum, dies so zu bewerkstelligen, daß Jon Assarson nicht erschrak und entfloh, denn er war ein sonderbarer Mann, den der Anblick von Kindern bange machte. Er pflegte zu sagen, ihn befielen so trübe Gedanken, wenn er sie sähe, und das könne er nicht ertragen.

Während Ola Serka hierüber nachdachte, saßen das Gänsemädchen Aase und Aslak, der Lappenjunge, der am vorhergehenden Abend vor ihr gelegen und sie angeglotzt hatte, auf dem freien Platz vor dem Zelt und plauderten miteinander. Aslak war zur Schule gegangen und konnte Schwedisch sprechen. Er erzählte Aase von dem Leben der Lappen und versicherte sie, daß sie besser dran seien als alle andern Menschen. Aase fand, daß ihr Leben schrecklich sei, und das sagte sie. »Du weißt nicht, was du sprichst,« sagte Aslak. »Bleibe nur eine Woche bei uns, und du wirst sehen, daß wir das glücklichste Volk auf der ganzen Erde sind.«

»Wenn ich noch eine Woche hierbleibe, so fürchte ich, daß ich von all dem Rauch da drinnen im Zelt erstickt werde,« sagte Aase. – »So darfst du nicht reden,« sagte der Lappenjunge. »Du weißt nichts von uns. Ich will dir eine Geschichte erzählen, daraus kannst du sehen, daß du immer lieber bei uns sein wirst, je länger du hier bist.«

Und dann begann Aslak, Aase von der Zeit zu erzählen, wo die große Krankheit, die man den schwarzen Tod nannte, durch das Land ging. Er wußte nicht, ob sie hier oben in dem richtigen Lappland, wo sie sich jetzt befanden, gewütet hatte, aber in Jämtland hatte sie so arg gehaust, daß alle Lappen, die dort im Gebirge und in den Wäldern wohnten, bis auf einen Jungen von fünfzehn Jahren gestorben waren, und von den Schweden, die in der Flußtälern wohnten, blieb auch nur ein Mädchen am Leben, das ebenfalls fünfzehn Jahre alt war.

»Der Junge und das Mädchen waren einen ganzen Winter in dem öden Lande umhergewandert, um nach Menschen zu suchen, und als der Frühling kam, stießen sie endlich aufeinander,« erzählte Aslak weiter. »Da bat das schwedische Mädchen den Lappenjungen, mit ihr südwärts zu ziehen, damit sie zu Leuten ihres eigenen Stammes kämen. Sie wolle nicht in Jämtland bleiben, wo alles ausgestorben war. ›Ich will dich führen, wohin du willst,‹ sagte der Junge, ›aber nicht vor dem Winter. Jetzt ist es Frühling, und du weißt, daß wir, die wir zu dem Lappenvolk gehören, dahin gehen müssen, wohin unsere Rentiere uns führen.‹

Das schwedische Mädchen war das Kind reicher Eltern. Sie war daran gewöhnt, unter einem Dach zu wohnen, in einem Bett zu schlafen und an einem Tisch zu essen. Sie hatte die armen Gebirgsbewohner immer verachtet und meinte, daß die, so da unter offenem Himmel wohnten, sehr unglücklich sein müßten. Aber sie fürchtete sich, in ihr Heim zurückzukehren, wo nichts war als tote Menschen. ›Ja, dann laß mich aber mit dir auf die Berge hinaufziehen,‹ sagte sie zu dem Jungen, ›dann brauche ich doch nicht hier allein umherzuwandern, ohne je eine menschliche Stimme zu hören.‹ Darauf ging der Junge gern ein, und so kam es, daß das Mädchen die Renntiere auf ihrer Wanderung ins Gebirge begleitete. Die Herde sehnte sich nach den guten Bergweiden und legte an jedem Tage eine lange Strecke zurück. Da war keine Zeit, ein Zelt aufzuschlagen. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als sich auf den Schnee zu werfen und ein wenig zu ruhen, während die Renntiere Rast machten, um zu weiden. Die Tiere fühlten den Südwind durch ihren Pelz wehen; sie wußten, daß er im Laufe weniger Tage den Schnee von den Berghängen wegfegen würde. Das Mädchen und der Junge mußten ihnen durch schmelzenden Schnee und über brechendes Eis nacheilen. Als sie endlich so hoch ins Gebirge hinaufgekommen waren, daß der Nadelwald aufhörte, und die verkrüppelten Birken begannen, rasteten sie einige Wochen und warteten, daß der Schnee auf den obersten Berghalden schmelzen sollte; dann zogen sie da hinauf. Das Mädchen jammerte, keuchte und stöhnte und sagte wieder und wieder, sie sei müde, sie müsse umkehren und wieder ins Tal hinabsteigen, aber sie ging trotzdem lieber mit als daß sie allein blieb, ohne eine Menschenseele, mit der sie ein Wort sprechen konnte.

Als sie die Gebirgsebene erreicht hatten, schlug der Junge auf einem schönen, grünen Platz, der zu einem Gebirgsbach sanft abfiel, ein Zelt für das Mädchen auf. Am Abend fing er die Renntierkühe mit einer Wurfleine ein, molk sie und gab ihr Renntiermilch zu trinken. Er fand auch ein wenig Renntierkäse und getrocknetes Renntierfleisch, das seine Leute, als sie im vorigen Sommer dort lagerten, oben auf dem Berge versteckt hatten. Aber das Mädchen jammerte immer und war nie zufrieden. Sie wollte weder Renntierkäse noch getrocknetes Renntierfleisch essen, auch wollte sie keine Renntiermilch trinken. Sie konnte sich nicht darin finden, im Zelt zu kauern oder im Freien mit ein paar Zweigen unter sich und nur mit einem Renntierfell bedeckt, zu schlafen. Aber der Sohn des Gebirgsvolks lachte nur über all ihr Gejammer und fuhr fort, gut gegen sie zu sein.

Nach Verlauf einiger Tage kam das Mädchen zu dem Jungen, als er dasaß und die Renntiere molk und bat, ob sie ihm nicht helfen dürfe. Sie übernahm es auch, Feuer unter dem Kessel anzuzünden, wenn Renntierfleisch gekocht werden sollte, Wasser zu tragen und Käse zu machen. Nun kam bald eine schöne Zeit, das Wetter war warm, und es war leicht, Essen zu beschaffen. Sie gingen zusammen aus und legten Vogelschlingen, fischten Lachsforellen in den Bächen und pflückten Multebeeren in den Mooren.

Als der Sommer vorüber war, zogen sie so tief vom Gebirge herab, daß sie die Grenze zwischen Nadel- und Laubwald erreichten. Dort schlugen sie wieder ihr Lager auf. Es war jetzt Schlachtzeit, und sie mußten jeden Tag hart arbeiten, aber es war auch eine gute Zeit, denn sie konnten sich noch bessere Nahrung verschaffen als im Sommer. Als der Schnee kam und das Eis anfing, die Seen zu bedecken, zogen sie weiter ostwärts in den dichten Tannenwald hinab. Sobald sie ihr Zelt errichtet hatten, begannen sie mit den Winterarbeiten. Der Junge lehrte das Mädchen, Fäden aus Renntiersehnen zu drehen, die Felle zu bereiten, Kleider und Schuhe daraus zu nähen, Kämme und allerlei Gerät aus dem Geweih der Renntiere anzufertigen, auf Schneeschuhen zu laufen und im Renntierschlitten zu fahren. Als der dunkle Winter vergangen war und die Sonne wieder warm zu scheinen anfing, sagte der Junge zu dem Mädchen, jetzt wolle er sie nach dem Süden begleiten, damit sie ihr Volk und ihren eigenen Stamm finden könne. Da sah ihn das Mädchen verwundert an: »Warum willst du mich wegschicken?« fragte sie. »Sehnst du dich danach, mit deinen Renntieren allein zu sein?« – »Ich dachte, du sehntest dich fort,« sagte der Junge. – »Ich habe nun fast ein Jahr das Leben des Lappenvolkes gelebt,« erwiderte das Mädchen. »Ich kann nicht mehr zu meinem Volk zurückkehren und in engen Wohnungen leben, nachdem ich frei in den Bergen und Wäldern umhergewandelt bin. Jage mich nicht weg, laß mich hier bleiben, denn euer Leben ist besser als das unsere.«

Und das Mädchen blieb ihr ganzes Leben lang bei dem Jungen und sehnte sich nie wieder nach ihrem Volk und dem Leben in den Tälern. »Und wenn du, Aase, nur einen Monat hier bleiben wolltest, so würdest du dich auch nie mehr von uns trennen wollen.«

Mit diesen Worten schloß der Lappenjunge Aslak seine Erzählung, und im selben Augenblick nahm sein Vater, Ola Serka, die Pfeife aus dem Mund und erhob sich. Der alte Ola verstand mehr Schwedisch, als er zugeben wollte, und er hatte die Worte des Sohnes verstanden. Und während er ihnen lauschte, war es ihm plötzlich klar geworden, wie er es machen müsse, um Jon Assarson mitzuteilen, daß seine Tochter gekommen sei, um ihn zu suchen.

*

Ola Serka ging an den Luossojaure hinab und wanderte am Ufer entlang, bis er einen Mann antraf, der auf einem Stein saß und angelte. Der Fischer hatte graues Haar und seine Haltung war gebückt. Die Augen sahen müde aus, und es lag etwas Schlaffes und Hilfloses über seiner ganzen Erscheinung; er sah aus wie jemand, der versucht hat, etwas zu tragen, das zu schwer für ihn war, oder etwas zu ergründen, was zu schwierig war, und der nun gebrochen ist und mißmutig, weil ihm das nicht gelungen ist.

»Du hast scheinbar Glück bei deinem Fischfang gehabt, Jon, da du die ganze Nacht hier gesessen und geangelt hast,« sagte der Bergbewohner auf Lappländisch, indem er herantrat.

Der andere fuhr zusammen und sah auf. Der Köder an seiner Angel war weg, und es lag nicht ein einziger Fisch neben ihm. Er befestigte schnell einen neuen Köder an dem Angelhaken und warf die Leine wieder aus. Ola Serka hatte sich indessen neben ihn gesetzt.

»Ich möchte gern mit dir über etwas reden,« begann er. »Du weißt, daß ich eine Tochter hatte, die im vergangenen Jahr gestorben ist, und wir haben sie seither immer vermißt.« – »Ja, das weiß ich,« erwiderte der Fischer kurz, als sei es ihm unangenehm, an ein verstorbenes Kind erinnert zu werden. Er sprach gut Lappländisch. – »Aber es hat keinen Zweck, das Leben zu vertrauern,« fuhr der Lappe fort. – »Nein, das hat wohl keinen Zweck.« – »Und nun habe ich gedacht, ich wollte ein anderes Kind annehmen. Meinst du nicht auch, daß das klug wäre?« – »Es kommt darauf an, was für ein Kind es ist, Ola,«

»Ich will dir erzählen, was ich von dem Mädchen weiß, Jon!« sagte Ola, und dann erzählte er dem Fischer, zur Hochsommerzeit seien ein paar fremde Kinder, ein Junge und ein Mädchen, zu Fuß nach Malmberget gekommen, um ihren Vater zu suchen, und als sie hörten, daß der Vater abwesend sei, seien sie dageblieben, um auf ihn zu warten. Aber während sie sich dort aufhielten, sei der Junge bei einer Minensprengung ums Leben gekommen, und da habe das Mädchen durchaus gewollt, daß ein großes Begräbnis ihm zu Ehren veranstaltet werde. Darauf beschrieb Ola sehr schön, wie das arme Mädchen alle Menschen bewogen habe, ihr zu helfen, und wie sie zum Inspektor gegangen war, um mit ihm zu reden.

»Ist dies das Mädchen, das du zu dir nehmen willst, Ola?« fragte der Fischer. –»Ja,« sagte der Lappe. »Als wir von ihr hörten, mußten wir alle miteinander weinen, und wir waren uns alle darin einig, daß, wer eine so gute Schwester gewesen, auch eine gute Tochter sein müsse, und wir wünschten, daß sie zu uns kommen möge.« – Der andere saß eine Weile stumm da. Es war klar, daß er die Unterhaltung nur fortsetzte, um seinem Freund, dem Lappen, eine Freude zu bereiten.

»Es ist wohl von deinem eigenen Stamm, dies Mädchen?« – »Nein, es gehört nicht zum Lappenvolk.« – »Dann ist sie aber doch wohl eine Tochter von Ansiedlern, so daß sie an das Leben hier im Norden gewöhnt ist?« – »Nein, sie stammt weit her aus dem Süden,« sagte Ola und sah dabei aus, als habe das gar nichts mit der Sache zu tun. Aber nun wurde der Fischer eifriger. »Dann glaube ich nicht, daß du sie zu dir nehmen solltest,« sagte er. »Sie kann es gewiß nicht vertragen, zur Winterzeit in einem Lappenzelt zu wohnen, wenn sie nicht von Geburt an daran gewöhnt ist.« – »Sie bekommt gute Eltern und gute Geschwister im Lappenzelt,« fuhr Ola Serka beharrlich fort. »Es ist schlimmer allein zu sein, als zu frieren.«

Aber es schien so, als wenn der Fischer immer eifriger würde, die Sache zu verhindern. Es war, als könne er sich nicht mit dem Gedanken aussöhnen, daß ein Kind, das schwedische Eltern hatte, unter den Lappen aufgenommen werden sollte. »Du sagtest doch, sie hatte einen Vater in Malmberget?« – »Er ist tot,« sagte der Lappe kurz. – »Bist du dessen auch ganz sicher, Ola?« – »Da braucht man doch nicht mehr zu fragen!« entgegnete der Lappe verächtlich. »Das ist doch ganz selbstverständlich. Das Mädchen und ihr Bruder hätten doch nicht nötig gehabt, allein durch das Land zu wandern, wenn ihr Vater noch am Leben gewesen wäre! Sollten zwei kleine Kinder gezwungen sein, sich selbst zu versorgen, wenn sie einen Vater hätten? Sollte das kleine Mädchen es nötig gehabt haben, selbst zu dem Inspektor zu gehen und mit ihm zu reden, wenn ihr Vater noch gelebt hätte? Meinst du, sie würde jetzt auch nur einen Augenblick verlassen sein, jetzt, wo ganz Lappland davon spricht, was für ein tüchtiges kleines Mädchen sie ist, wenn ihr Vater nicht tot wäre?«

Der Mann mit den müden Augen wandte sich nach dem Lappen um. »Wie heißt sie, Ola?« fragte er. Der Lappe dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß es nicht mehr. Aber ich will sie fragen.« – »Du willst sie fragen? Ist sie denn schon hier?« – »Ja, sie ist da oben im Zelt.« – »Wie, Ola, hast du sie schon zu dir genommen ehe du noch weißt, was ihr Vater dazu sagen wird?« – »Ich brauche mich doch nicht an ihren Vater zu kehren. Ist er nicht tot, dann will er jedenfalls nichts von seinem Kinde wissen. Er kann ja nur froh sein, daß sich ein anderer ihrer annehmen will.«

Der Fischer warf seine Angelrute hin und richtete sich auf. Es war Bewegung in ihn gekommen, als sei das Leben von neuem in ihm erwacht. »Der Vater ist wohl nicht so wie andere Menschen,« fuhr der Lappe fort. »Er ist vielleicht einer von denen, die von finsteren Gedanken verfolgt werden, so daß sie es bei keiner Arbeit aushalten können. Ist das ein Vater, den es sich verlohnt zu haben? Das Mädchen selbst glaubt, daß er lebt, aber ich sage, er muß tot sein.«

Während Ola dies sagte, stand der Fischer auf und ging am See entlang. »Wo willst du hin?« fragte der Lappe. – »Ich will mir deine Pflegetochter ansehen, Ola!« – »Das ist gut.« sagte der Lappe. »Komm nur und sieh sie dir an! Ich glaube, du wirst finden, daß ich eine gute Tochter bekomme.«

Der Schwede ging so schnell, daß der alte Ola kaum Schritt mit ihm halten konnte. Als sie eine Strecke zurückgelegt hatten, sagte Ola zu seinem Kameraden: »Jetzt fällt mir ein, daß sie Aase Jonsdatter heißt, die Kleine, die ich zu mir nehmen will.« Der andere beschleunigte nur seine Schritte, und der alte Ola war so froh, daß er gern laut gejubelt hätte. Als sie soweit gekommen waren, daß sie die Zelte sehen konnten, sagte Ola noch ein paar Worte: »Sie ist hierher gekommen, um ihren Vater zu suchen, nicht um meine Pflegetochter zu werden; findet sie ihn aber nicht, so will ich sie gern in meinem Zelt behalten.« Der andere eilte nur mit noch größerer Hast vorwärts. »Dacht‘ ich mir’s doch, daß er erschrecken würde, wenn er hörte, daß ich seine Tochter unter die Lappen aufnehmen wollte!« sagte Ola vor sich hin.

Als der Mann aus Kiruna, der Aase nach dem Lappenlager hinübergerudert hatte späterhin am Tage wieder zurückruderte, hatte er zwei Menschen in seinem Boot, die dicht nebeneinander saßen und sich so fest an der Hand hielten, als ob sie sich nie wieder trennen wollten. Es waren Jon Assarson und seine Tochter. Sie sahen beide ganz anders aus als vor ein paar Stunden. Jon Assarson machte längst nicht mehr einen so müden und gebeugten Eindruck, und seine Augen waren klar und gut, als habe er nun eine Antwort auf das bekommen, was ihn solange bekümmert hatte; und das Gänsemädchen Aase sah nicht mehr mit dem altklugen, vorsichtigen Blick um sich, der ihr bisher eigen gewesen war. Sie hatte jetzt jemand, auf den sie sich stützen, auf den sie sich verlassen konnte, und es sah so aus, als sei sie auf dem Wege, wieder ein Kind zu werden.

XLV. Gen Süden! Gen Süden!


Der erste Reisetag.

Sonnabend, 1. Oktober.

Niels Holgersen saß auf dem Rücken des weißen Gänserichs und sauste hoch oben in den Wolken dahin. Einunddreißig Wildgänse flogen in wohlgeordneter Folge schnell gen Süden. Es rauschte in ihren Federn, und die vielen Flügel peitschten die Luft mit einem kreischenden Laut, daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Akka von Kebnekajse flog an der Spitze, hinter ihr kamen Yksi und Kaksi, Kalme und Neljä, Viisi und Kuusi, der Gänserich Martin und Daunfein. Die sechs jungen Gössel, die sich im Herbst der Schar angeschlossen, hatten sie jetzt verlassen, um ihr Glück auf eigene Faust zu versuchen. Statt dessen hatten die alten Gänse zweiundzwanzig Gössel bei sich, die im Laufe des Sommers im Felsental herangewachsen waren. Elf davon flogen rechts und elf links, und sie gaben sich redliche Mühe, um denselben Abstand untereinander innezuhalten wie die großen Gänse.

Die armen Jungen hatten noch nie eine lange Reise gemacht, und im Anfang wurde es ihnen schwer, dem schnellen Flug zu folgen. »Akka von Kebnekajse! Akka von Kebnekajse!« riefen sie in jämmerlichem Ton. – »Was gibt’s?« fragte die Führergans. –»Unsere Flügel sind müde von dem vielen Bewegen! Unsere Flügel sind müde von dem vielen Bewegen!« schrien die Jungen. – »Je länger ihr weiterfliegt, um so besser wird es gehen!« antwortete die Führergans und flog auch nicht im geringsten langsamer, sondern ebenso schnell wie bisher. Und es schien wirklich, als solle sie recht bekommen, denn als die Gössel ein paar Stunden geflogen waren, klagten sie nicht mehr über Müdigkeit. Im Felstal waren sie aber gewöhnt gewesen, den ganzen Tag zu fressen, und so währte es denn nicht lange, bis sie sich nach Nahrung sehnten.

»Akka, Akka, Akka von Kebnekajse!« riefen die jungen Gänse mir kläglicher Stimme. – »Was gibt’s denn jetzt schon wieder?« fragte die Führergans. – »Wir sind so hungrig, daß wir nicht weiter fliegen können,« schrien die Jungen. »Wir sind so hungrig, daß wir nicht weiter fliegen können.« – »Wilde Gänse müssen es lernen, Luft zu essen und Wind zu trinken,« antwortete die Führergans und hielt nicht an, sondern setzte ihren Flug genau so fort wie bisher.

Es schien auch fast, als lernten die Jungen, von Luft und Wind zu leben, denn als sie eine Weile geflogen waren, klagten sie nicht mehr über Hunger. Die Schar der wilden Gänse war noch oben zwischen den Bergen, und die alten Gänse riefen mit lauter Stimme den Namen aller Berggipfel, an denen sie vorüberflogen, damit die Jungen lernen sollten, wie sie hießen. Aber als sie eine Zeitlang gerufen hatten: »Das ist Porsutjåkko, das ist Sarjektjåkko, das ist Sulitelma!« wurden die Jungen wieder ungeduldig.

»Akka, Akka, Akka!« riefen sie mit herzzerreißender Stimme. – »Was gibt’s denn?« fragte die Führergans. – »Wir haben keinen Platz für mehr Namen in unserm Kopf!« schrien die Jungen. »Wir haben keinen Platz für mehr Namen in unserm Kopf!« – »Je mehr in einen Kopf hineinkommt, um so besser Platz wird darin!« antwortete die Führergans und fuhr fort, die merkwürdigen Namen geradeso zu rufen wie bisher.

Niels Holgersen dachte bei sich, es sei wirklich an der Zeit, daß die Wildgänse gen Süden zögen, denn da war so viel Schnee gefallen, daß die Erde, so weit man sehen konnte, ganz weiß war. Es ließ sich auch nicht leugnen, daß es in der letzten Zeit im Felsental recht ungemütlich gewesen war. Regen und Sturm und dichter Nebel hatten unablässig miteinander abgewechselt, und klarte sich das Wetter ausnahmsweise einmal auf, so trat sofort Frost ein. Beeren und Pilze, von denen der Junge während des Sommers gelebt hatte, erfroren oder verfaulten, so daß er schließlich rohe Fische essen mußte, und das mochte er gar nicht gern. Die Tage waren kurz, und die langen Abende und der späte Tagesanbruch waren zu trübselig und langweilig für ihn gewesen, der nicht genau so lange schlafen konnte, wie die Sonne vom Himmel verschwunden war.

Jetzt hatten die Gössel endlich so große Flügel bekommen, daß die Reise gen Süden angetreten werden konnte, und der Junge war so froh darüber, daß er fortwährend lachte und sang, wie er auf dem Rücken des Gänserichs dahinflog. Aber nicht nur, weil es dunkel und kalt und mit der Nahrung karg bestellt gewesen, hatte er sich von Lappland fortgesehnt, nein, er hatte auch noch andere Gründe.

In den ersten Wochen, die er dort war, hatte er wahrlich kein Heimweh gehabt. Es war ihm, als sei er nie in einem so schönen Lande gewesen, und er hatte keine andere Sorgen, als achtzugeben, daß die Mückenschwärme ihn nicht ganz auffraßen. Der Junge hatte nicht viel Freude von dem Gänserich Martin, denn der große Weiße hatte keinen andern Gedanken, als für Daunfein zu sorgen, und wich keinen Schritt von ihr. Aber dann hatte er sich an die alte Akka und an den Adler Gorgo gehalten, und die drei hatten manch eine vergnügte Stunde miteinander verbracht. Sie nahmen ihn auf lange Flüge mit. Der Junge hatte auf dem Gipfel des schneebedeckten Kebnekajse gestanden und auf die Gletscher hinabgesehen, die sich unterhalb des steilen, weißen Bergkegels ausbreiteten, und er war auch auf vielen anderen hohen Bergspitzen gewesen, die nur selten der Fuß eines Menschen betreten hat. Akka zeigte ihm verborgene Täler mitten zwischen den Bergen und ließ ihn in Felsschluchten hineinlugen, wo die Wölfinnen ihre Jungen großzogen. Es versteht sich von selbst, daß er auch die Bekanntschaft der zahmen Renntiere machte, die in großen Herden am Ufer des schönen Torne Träsk weideten, und daß er unten am Stora Sjöfall gewesen war und den Bären, die dort in der Gegend wohnten, Grüße von ihren Verwandten im Bergdistrikt gebracht hatte. Wohin er auch kam, überall war das Land schön und herrlich. Er war auch von Herzen froh darüber, daß er es hatte sehen dürfen, aber er hatte gerade keine Lust, dort zu wohnen. Er konnte nicht umhin, Akka recht zu geben, wenn sie sagte, dies Land könnten die schwedischen Ansiedler verschonen und es den Bären, Wölfen, Renntieren, Wildgänsen und Bergvögeln überlassen und den Wanderratten und den Lappen, die dazu geschaffen sind, dort zu leben.

Eines Tages war Akka mit ihm nach einer der großen Grubenstädte geflogen, und da fand er den kleinen Mads von einem Sprengschuß zerschmettert an einer Grubenöffnung liegen. In den folgenden Tagen dachte der Junge an nichts weiter, als wie er dem armen Gänsemädchen Aase helfen könne, aber als sie dann ihren Vater gefunden hatte und er nichts mehr für sie zu tun brauchte, streifte er am liebsten in dem Felstal umher, und von nun an sehnte er sich nach dem Tage, wo er mit dem Gänserich Martin heimkehren und wieder ein Mensch werden würde. Er wollte doch gern so werden, daß das Gänsemädchen Aase wieder mit ihm zu sprechen wagte und ihm nicht die Tür gerade vor der Nase zuschlug.

Ja, er war wirklich selig, als es jetzt gen Süden ging. Er schwenkte die Mütze und rief Hurra, als er den ersten Tannenwald sah, und ebenso begrüßte er das erste graue Ansiedlerhaus, die erste Ziege, die erste Katze und die ersten Hühner. Er flog über prachtvolle Wasserfälle hin, und zu seiner Rechten sah er schöne Berge liegen, aber an all dergleichen war er jetzt so gewohnt, daß er sich kaum die Mühe machte, einen Blick darauf zu werfen. Etwas ganz anderes war es, als er gleich im Osten der Berge die Korickjocker Kapelle mit dem kleinen Pfarrhaus und dem kleinen Dorf liegen sah. Er fand das so schön, daß ihm Tränen in die Augen traten.

Während der ganzen Zeit trafen sie Zugvögel, die jetzt in weit größeren Scharen als im Frühling dahergeflogen kamen. ›Wo wollt ihr hin, Wildgänse?‹ riefen die Zugvögel. ›Wo wollt ihr hin?‹ – ›Wir wollen ins Ausland, ebenso wie ihr,‹ antworteten die Wildgänse. – ›Die Jungen sind ja noch nicht ordentlich flügge,‹ riefen die anderen. ›Die kommen niemals übers Meer mit so kleinen Flügeln!‹

Auch Lappen und Renntiere zogen nun geschäftig aus dem Gebirge herab. Sie kamen in guter Ordnung daher: ein Lappe ging an der Spitze des Zuges, dann kam die Herde mit den großen Renntieren in der ersten Reihe, darauf eine Reihe Lastrenntiere, die die Zelte und andere Habseligkeiten der Lappen trugen, und schließlich sieben bis acht Menschen. Als die Wildgänse die Renntiere erblickten, ließen sie sich hinabsinken und riefen: ›Schönen Dank für den Sommer! Schönen Dank für den Sommer!‹ – ›Glückliche Reise und auf Wiedersehn im nächsten Jahr!‹ antworteten die Renntiere.

Aber als die Bären die Wildgänse sahen, zeigten sie mit den Tatzen auf sie, damit die Jungen sie sehen sollten, und brummten: ›Seht euch die an! Sie sind so bange vor ein wenig Kälte, daß sie nicht wagen, den Winter über hierzubleiben!‹ Und die alten Wildgänse blieben ihnen die Antwort nicht schuldig, sondern sie riefen den Gösseln zu: ›Seht euch die an! Sie liegen lieber das halbe Jahr und schlafen, statt sich die Mühe zu machen gen Süden zu ziehen!‹

Unten in den Tannenwäldern saßen die jungen Auerhähne dicht zusammengekrochen, zerzaust und verfroren und sahen sehnsüchtig allen den großen Vogelscharen nach, die mit Jubel und Freude südwärts zogen. ›Wann kommt die Reihe an uns?‹ fragten sie die Auerhenne. ›Wann kommt die Reihe an uns?‹ – ›Ihr müßt daheim bleiben bei Mutter und Vater,‹ antwortete die Auerhenne. ›Ihr müßt daheim bleiben bei Mutter und Vater.‹

Auf dem Ostberge.

Dienstag, 4. Oktober.

Wer sich in Gebirgsgegenden aufgehalten hat, weiß, wie beschwerlich der Nebel sein kann, der dahergewälzt kommt und die Aussicht verhüllt, so daß man nichts von allen den schönen Bergen zu sehen bekommt, die ringsumher aufragen. Der Nebel kann einen mitten im Sommer überfallen, und im Herbst, kann man wohl sagen, ist es ganz unmöglich, ihm zu entgehen. Niels Holgersen hatte eigentlich immer gutes Wetter gehabt, solange er in Lappland gewesen war, kaum aber hatten die Wildgänse ausgerufen, daß sie jetzt nach Jämtland hineinflögen, als sich die Nebel so dicht um sie zusammenzogen, daß er nicht das geringste von dem Lande sehen konnte. Er reiste einen ganzen Tag darüber hin, ohne zu wissen, ob er in ein Gebirgsland oder in ein Flachland gekommen war.

Gegen Abend ließen sich die Wildgänse auf einem grünen Platz nieder, der nach allen Seiten sanft abfiel, da war es ihm denn klar, daß er sich auf dem Gipfel eines Hügels befand, aber ob dieser groß oder klein war, konnte er nicht erkennen. Er dachte, daß sie sich in einer bewohnten Gegend befinden müßten, denn es war ihm, als könne er sowohl Menschenstimmen als auch das Rasseln von Wagen unterscheiden, die auf einem Wege dahinrollten, aber ganz sicher war er seiner Sache nicht.

Er hätte schrecklich gern versucht, einen Hof zu finden, aber er fürchtete, sich im Nebel zu verirren, und so wagte er denn nicht, die Wildgänse zu verlassen. Alles tropfte von Nässe und Feuchtigkeit. An jedem Grashalm und an jedem kleinsten Kraut hingen kleine Tropfen, so daß er eine Regendusche bekam, sobald er sich nur rührte. »Dies ist ja nicht viel besser als da oben im Felstal,« dachte er.

Aber ein Paar Schritte wagte er denn doch zu gehen, und nun konnte er dicht vor sich ein Gebäude unterscheiden. Es war nicht gerade groß, wohl aber viele Stockwerke hoch, das Dach konnte er nicht sehen. Die Tür war verschlossen und das ganze Haus schien unbewohnt zu sein. Er begriff, daß es nur ein Aussichtsturm war, und daß es dort weder Essen noch Wärme für ihn gab. Er eilte aber trotzdem, so schnell er konnte, zu den Wildgänsen zurück. »Lieber Gänserich Martin,« sagte er, »nimm mich auf den Rücken und trage mich auf die Spitze des Turmes da drüben hinauf! Hier ist es so naß, daß ich nicht schlafen kann, aber da könnte ich vielleicht ein trockenes Plätzchen finden, wo ich schlafen könnte.«

Der Gänserich Martin war sogleich bereit, ihm zu helfen; er setzte ihn auf der Turmgalerie ab, und dort schlief der Junge in guter Ruhe, bis die Morgensonne ihn weckte.

Als er nun aber seine Augen aufschlug und sich umsah, konnte er anfangs nicht begreifen, was er sah und wo er sich befand. Er war einmal auf einem Jahrmarkt in einem Zelt gewesen und hatte ein großes Panorama gesehen, und nun war es ihm, als stünde er wieder mitten in so einem großen, runden Zelt, das eine feine, rote Decke hatte, während an den Wänden und am Fußboden eine ausgedehnte Landschaft gemalt war, mit großen Dörfern und Kirchen, Marktplätzen und Landstraßen, ja sogar mit einer Stadt. Es ward ihm ja bald klar, daß es sich nicht wirklich so verhielt, sondern daß er oben auf einem Aussichtsturm stand, den roten Morgenhimmel über sich und ein wirkliches Land ringsumher. Aber es war nun so lange her, seit er etwas anderes als öde Gegenden gesehen hatte, und da war es denn nicht zu verwundern, daß er das, was er jetzt sah, und was eine dicht bebaute Gegend war, für ein Gemälde hielt.

Auch noch etwas anderes bewirkte, daß der Junge alles, was er sah, für ein Gemälde hielt: es hatte nämlich nichts seine richtige Farbe. Der Aussichtsturm, auf dem er stand, war auf einem Berg erbaut, der Berg lag auf einer Insel und die Insel lag dicht an dem östlichen Ufer eines großen Sees. Aber dieser See war nicht grau, wie es Binnenseen sonst zu sein pflegen, sondern ein großer Teil seiner Fläche war ebenso rot wie der Morgenhimmel, und in den vielen, tiefen Buchten schimmerte das Wasser fast schwarz. Und dann war das Land rings um den See nicht grün, sondern es schimmerte hellgelb mit allen den Stoppelfeldern und dem gelben Birkenwald an den Ufern. Rings um das Gelbe aber zog sich ein breiter Gürtel aus schwarzem Nadelwald. Vielleicht weil der Laubwald innerhalb des dunklen Fichtenwaldes so hell erschien, meinte der Jung, noch nie einen so schwarzen Wald gesehen zu haben wie an diesem Morgen. Jenseits dieses Schwarzen sah man im Osten licht blauende Höhen, aber am ganzen westlichen Horizont entlang erstreckte sich ein langer, glänzender Bogen aus zackigen, verschieden gestalteten Bergen, die eine so feine und sanfte und strahlende Farbe hatten, daß er sie nicht rot und auch nicht weiß und auch nicht blau nennen konnte. Es gab gar keine Bezeichnung dafür.

Aber der Junge wandte den Blick ab von den Bergen und Nadelwäldern, um die nähere Umgebung besser in Augenschein zu nehmen. Rings um den See herum, in dem gelben Gürtel, konnte er allmählich ein rotes Dorf erkennen und eine weiße Kirche nach der anderen, und ganz im Osten, jenseits des schmalen Sundes, der die Insel von dem Festlande trennte, lag eine Stadt. Die streckte sich am Seeufer aus, dahinter stand ein Berg und beschützte sie, und ringsumher lag eine reiche und bevölkerte Gegend. »Die Stadt hat es wirklich verstanden, sich eine gute Lage zu schaffen,« dachte der Junge. »Ich möchte wohl wissen, wie sie heißt.«

Im selben Augenblick fuhr er heftig zusammen und sah sich um. Er war völlig von der Betrachtung der Gegend in Anspruch genommen gewesen und hatte nicht bemerkt, daß Menschen auf den Aussichtsturm gekommen waren.

Sie kamen jetzt die Treppe hinaufgelaufen. Der Junge hatte gerade noch Zeit, sich nach einem Versteck umzusehen, um sich dort zu verbergen, da waren sie auch schon oben.

Es war eine Schar junger Leute, die sich auf einer Fußwanderung befanden. Sie sprachen davon, daß sie ganz Jämtland durchstreift hatten und freuten sich nun, daß sie Östersund noch am vorhergehenden Abend erreicht hatten, und daß sie einen so schönen, klaren Morgen hatten, um die weite Aussicht vom Östberge hier auf dem Frösö genießen zu können. Von hier aus konnten sie über zwanzig Meilen nach allen Seiten sehen, und noch einen letzten Blick auf ihr liebes Jämtland werfen, ehe sie von dannen zogen. Sie zeigten einander die vielen Kirchen, die rings um den See lagen. »Dort unten haben wir Sunnek,« sagten sie, »und da liegt Marby und da drüben Hallen. Die Kirche hier im Norden ist die Bödöerkirche und die dort an der Eisenbahn die von Frösö.« Dann begannen sie, von den Bergen zu sprechen. Die zunächstgelegenen waren die Oviksfjelde. Darin waren sie sich alle einig. Aber dann waren sie sich nicht klar darüber, welches wohl der Klövsjöfjeld sei, und welcher Gipfel der Anarisfjeld sein könne, und wo der Vesterfjeld und der Almåsaberg und der Åreskutan lägen.

Während sie hierüber redeten, holte ein junges Mädchen eine Karte heraus, breitete sie auf ihrem Schoß aus und begann, sie zu studieren. Plötzlich sah sie auf. »Wenn ich Jämtland so auf der Karte sehe,« sagte sie, »so finde ich, daß es einem großen, stolzen Felsen gleicht. Ich denke mir immer, daß ich eines schönen Tages hören werde, Jämtland hat einstmals ganz aufrecht dagestanden und geradeswegs zum Himmel hinauf gezeigt.« – »Das müßte wahrlich ein riesiger Felsen sein,« meinte ein anderer und lachte sie aus. »Freilich, und darum ist er auch wohl umgefallen. Seht aber doch selbst einmal, gleicht Jämtland nicht einem richtigen Hochgebirge mit breitem Fuß und spitzem Gipfel?« – »Es paßt gar nicht schlecht für ein Gebirgsland, selbst auszusehen wie ein Felsen,« sagte einer von den jungen Leuten. »Aber obwohl ich andere Sagen von Jämtland gehört habe, so habe ich doch niemals …« – »Hast du Sagen von Jämtland gehört?« rief das junge Mädchen, und ließ ihm nicht einmal Zeit, den Satz zu vollenden. »Dann mußt du sie uns gleich erzählen. Das paßt nirgends besser als hier oben, wo man das ganze Land sehen kann.«

Alle stimmten darin überein, und der junge Mann ließ sich nicht lange nötigen, sondern begann sogleich:

Die Sage von Jämtland.

»Zu jenen Zeiten, als es noch Riesen in Jämtland gab, geschah es einmal, daß ein alter Bergriese auf dem Hof vor seinem Hause stand und seine Pferde striegelte. Während er hiermit beschäftigt war, sah er, daß die Pferde vor Angst zu zittern begannen. ›Was fehlt euch nur einmal, meine Pferde?‹ sagte der Riese und sah sich um; er wollte gern wissen, was die Pferde so erschreckt haben konnte. Es waren jedoch weder Wölfe noch Bären in der Nähe zu entdecken. Das einzige, was er sehen konnte, war ein Wandersmann, der lange nicht so groß und stark war, wie er selbst, der aber doch recht ansehnlich war und gute Kräfte zu haben schien. Er war im Begriff, die Leiter hinaufzuklettern, die zu der Berghütte des Riesen führte. Kaum hatte der alte Bergriese den Wandersmann erblickt, als er von Kopf zu Fuß zitterte, so wie die Pferde. Er ließ sich nicht die Zeit, seine Arbeit zu vollenden, sondern eilte in die gute Stube zu dem Riesenweib, das dasaß und Werg auf einer Handspindel spann.

›Was hast du nur?‹ fragte das Weib. ›Du bist ja so bleich wie ein Schneeberg.‹ – ›Sollte ich nicht bleich sein?‹ entgegnete der Riese. ›Da kommt ein Wandersmann unten vom Wege herauf, und ich bin ebenso sicher, daß es Asa-Thor ist, wie du mein Weib bist.‹ – ›Das ist gerade kein willkommener Besuch,‹ meinte das Weib. ›Kannst du seine Augen nicht verhexen, so daß er den ganzen Hof für einen Berg hält und an unserer Tür vorübergeht?‹ – ›Jetzt ist es zu spät, das Zaubermittel anzuwenden,‹ sagte der Riese. ›Ich kann hören, daß er die Pforte öffnet und den Hof betritt!‹ – ›Dann will ich dir raten, daß du dich verborgen hältst, so daß ich ihn allein in Empfang nehmen kann,‹ sagte das Riesenweib schnell. ›Ich will mein Bestes tun, daß er nicht so bald wiederkommt.‹

Der Riese fand, daß dies ein außerordentlich guter Vorschlag war. Er ging in die Kammer, während die Frau in der guten Stube auf der Frauenbank sitzen blieb und so ruhig spann, als ahne sie keine Gefahr.

Man muß nun wissen, daß es in jenen Zeiten in Jämtland ganz anders aussah als heutigen Tages. Das ganze Land war nichts weiter als eine einzige große, flache Hochebene, die so kahl und nackt dalag, daß nicht einmal Tannenwald darauf wachsen konnte. Da war kein See, kein Fluß, da gab es keine Felder, in denen der Pflug gehen konnte. Nicht einmal die Berge und Felsenmassen, die jetzt über das ganze Land zerstreut liegen, waren zu jenen Zeiten da; sie standen alle weit weg, drüben im Westen aufgestellt. Menschen konnten nirgends in dem großen Lande leben, aber die Riesen fühlten sich dort um so wohler. Es war wohl kaum ohne ihren Willen und ihr Zutun, daß das Land so öde und ungastlich dalag, und es hatte sicher seine guten Gründe, wenn der Bergriese so beunruhigt wurde, als er Asa-Thor auf sein Haus zukommen sah. Er wußte, daß die Asen denen nicht hold waren, die Kälte, Finsternis und Öde um sich verbreiteten und die Erde hinderte, reich und fruchtbar zu werden und sich mit menschlichen Wohnungen zu schmücken.

Das Riesenweib brauchte nicht lange zu warten, denn draußen vor dem Hause ertönten feste Schritte, und der Wanderer, den der Riese auf dem Wege gesehen hatte, riß die Tür auf und trat in die Stube. Der Fremde blieb nicht an der Tür stehen, wie die umherziehenden Leute zu tun pflegen, sondern er ging geradeswegs auf die Frau zu, die im Innern der Stube an der Giebelwand saß. Es begab sich aber so, daß, als er glaubte, er sei ein gutes Stück gegangen, er nicht weiter als ein paar Schritte von der Tür entfernt war und noch eine lange Strecke bis zu der Feuerstätte hatte, die mitten in der Stube lag. Er machte längere Schritte, aber als er eine Weile gegangen war, wollte es ihm scheinen, als seien das Riesenweib und die Feuerstätte noch weiter von ihm entfernt als bei seinem Eintritt in die Stube. Anfangs war ihm das Haus gar nicht groß vorgekommen. Erst als er endlich bis an die Feuerstätte gelangt war, wurde es ihm so recht klar, wie ansehnlich es war, denn da war er so müde, daß er sich auf seinen Stab stützen mußte, um auszuruhen. Als das Riesenweib sah, daß er stehen blieb, legte sie ihre Spindel hin, erhob sich von der Bank und war mit wenigen Schritten neben ihm. ›Wir Riesen lieben große Stuben,‹ sagte sie, ›und mein Mann klagt oft darüber, daß es hier so beengt ist. Aber ich kann wohl begreifen, daß es für jemand, der keine längeren Schritte machen kann als du, anstrengend ist, durch die Riesenstube zu gehen. Laß mich jetzt hören, wer du bist und was du von uns Riesen willst.‹ Es schien fast, als wolle der Wanderer eine heftige Antwort geben, aber augenscheinlich wollte er sich nicht mit einer Frau auf Streit einlassen, denn er erwiderte ganz ruhig: ›Mein Name ist Handfest, und ich bin ein Recke, der bei vielen Abenteuern mit dabei gewesen ist. Jetzt habe ich das ganze Jahr daheim auf meinem Hof gesessen, und ich hatte mich schon gefragt, ob da denn nie mehr etwas für mich zu tun sein würde, als ich die Menschen darüber reden hörte, daß ihr Riesen so schlecht für das Land hier oben sorgtet, daß niemand als ihr hier wohnen könnt. Ich bin nun gekommen, um mit deinem Mann über diese Sache zu reden und ihn zu fragen, ob er sich nicht darum kümmern will, daß hier bessere Ordnung geschafft wird.‹

›Mein Mann ist auf Jagd gegangen,‹ sagte das Riesenweib, ›und er muß dir selbst Antwort auf deine Frage geben, wenn er nach Hause kommt. Aber ich will dir doch sagen, daß wer mit solchen Fragen zu einem Bergriesen kommt, wahrlich ein größerer Mann sein sollte als du. Es wäre sicher am besten für deine Ehre, wenn du gleich wieder deiner Wege gingest, ohne mit dem Riesen zu reden.‹ – ›Nein, jetzt, wo ich einmal gekommen bin, will ich auch auf ihn warten,‹ sagte der Mann, der sich Handfest nannte. – ›Ich habe dir nach bestem Wissen geraten,‹ entgegnete die Frau des Hauses, ›du kannst jetzt tun, was du willst. Setze dich hier auf die Bank, dann will ich dir einen Willkommtrunk holen.‹

Das Riesenweib nahm nun ein gewaltiges Methorn und ging damit in den hintersten Winkel der Stube, wo das Metfaß lag. Auch das erschien dem Gast nicht besonders groß, aber als das Weib den Spund herauszog, stürzte der Met mit einem Brausen in das Methorn, als sei ein ganzer Wasserfall in die Stube gekommen. Das Horn war bald gefüllt, aber als nun das Weib den Spund wieder in die Tonne stecken wollte, gelang ihr das nicht. Der Met brauste mit großer Kraft heraus, riß ihr den Spund aus der Hand und strömte auf den Estrich. Das Riesenweib machte abermals einen Versuch, den Zapfen einzustecken, aber es mißlang ihr wieder. Da rief sie den Fremden zu Hilfe: ›Siehst du nicht, daß mir der Met ausläuft, Handfest? Komm doch her und steck den Spund in die Tonne hinein!‹ Der Gast eilte sofort zu Hilfe. Er nahm den Spund und versuchte, ihn in das Spundloch hineinzuzwingen, aber der Met riß ihn wieder heraus, schleuderte ihn weit weg und überschwemmte den Estrich.

Handfest versuchte es einmal über das andere, aber es wollte ihm nicht gelingen, und er warf den Spund weg. Der ganze Fußboden war jetzt voller Met, und damit man doch wenigstens in der Stube sein könne, zog der Fremde tiefe Furchen, in denen der Met fließen konnte. Er bildete Wege für den Met in den harten Felsengrund, so wie die Kinder im Frühling Wege für das Schneewasser in den Sand ziehen, und da und dort stampfte er mit dem Fuß tiefe Löcher, in denen sich die Flüssigkeit ansammeln konnte. Das Riesenweib stand währenddessen ruhig da und sah zu, und hätte der Gast zu ihr aufgesehen, würde er entdeckt haben, daß sie der Arbeit mit Staunen und Entsetzen zusah. Als er aber endlich fertig war, sagte sie spöttisch: ›Hab‘ Dank, Handfest! Ich sehe, du tust, was du kannst. Mein Mann hilft mir sonst, den Spund wieder hineinzustecken, aber man kann ja nicht verlangen, daß alle so stark sind, wie er. Wenn du nicht dazu imstande bist, meine ich, es wäre am besten, wenn du gleich deiner Wege gingest.‹

›Ich gehe nicht, ehe ich mein Anliegen vorgebracht habe,‹ sagte der Fremde, aber er sah beschämt und niedergeschlagen aus. – ›Dann setze dich auf die Bank da,‹ sagte das Weib, ›ich will den Kessel aufs Feuer setzen und dir eine Grütze kochen.‹

Das tat die Hausfrau. Als aber die Grütze fast fertig war, wandte sie sich nach dem Gast um. ›Ich sehe eben, daß ich fast kein Mehl mehr habe, so daß ich die Grütze nicht dick genug bekommen kann. Glaubst du, daß du Kräfte genug hast, die Mühle zu drehen, die neben dir steht? Nur ein paarmal herum. Es ist Korn zwischen den Steinen. Aber du mußt deine ganze Kraft dransetzen, denn die Mühle geht nicht leicht.‹

Der Gast ließ sich nicht lange bitten, sondern versuchte, die Handmühle zu drehen. Er fand nicht, daß sie besonders groß war, als er aber den Griff erfaßte und den Stein rund herum drehen wollte, ging sie schwer, daß er sie nicht bewegen konnte. Er mußte alle Kräfte anspannen und war doch nicht imstande, die Mühle mehr als einmal herumzudrehen.

Das Riesenweib sah ihm stumm und staunend zu, während er arbeitete. Als er aber die Mühle losließ, sagte sie: ›Ich bin ja freilich an bessere Hilfe von meinem Manne gewöhnt, wenn die Mühle schwer geht. Aber niemand kann von dir verlangen, daß du mehr tust als wozu deine Kräfte ausreichen. Kannst du jetzt aber nicht einsehen, daß es am besten für dich wäre, wenn du es vermiedest mit dem zusammenzutreffen, der so viel, wie er will, auf dieser Mühle mahlen kann?‹ – ›Ich glaube, daß ich trotzdem auf ihn warten will,‹ sagte Handfest ganz still und sanftmütig. – ›Ja, dann setze dich ruhig auf die Bank da, während ich dir ein gutes Bett bereite,‹ sagte das Riesenweib, ›denn du wirst wohl die Nacht hier bleiben müssen.‹

Sie richtete ein Bett mit vielen Kissen und Pfählen her und wünschte dem Gast gute Nacht. ›Ich fürchte, du wirst das Bett ziemlich hart finden,‹ sagte sie, ›aber mein Gatte liegt jede Nacht auf einem solchen Lager.‹

Als sich Handfest nun in dem Bett ausstrecken wollte, spürte er so viele Unebenheiten und Vertiefungen unter sich, daß an Schlaf nicht zu denken war; er drehte und wendete sich, konnte aber keine Ruhe finden. Schließlich warf er alle Kissen aus dem Bett, einen Pfühl hierhin und ein Federbett dahin, und dann schlief er ruhig bis zum Morgen.

Als die Sonne aber durch das Dach der Hütte schien, stand er auf und verließ das Haus der Riesen. Er ging über den Hofplatz und durch die Pforte, die er hinter sich schloß. Im selben Augenblick stand das Riesenweib neben ihm: ›Ich sehe, du hast die Absicht von dannen zu gehen, Handfest,‹ sagte sie. ›Das ist auch sicher das klügste, was du tun kannst.‹ – ›Wenn dein Mann in einem solchen Bett schlafen kann, wie du es mir für diese Nacht bereitet hast,‹ entgegnete Handfest mürrisch, ›so liegt mir nichts daran, mit ihm zusammenzutreffen. Er muß ein Mann von Eisen sein, den niemand zu überwinden vermag.‹

Das Riesenweib stand an die Pforte gelehnt da. ›Jetzt, wo du von meinem Hof herunter bist, Handfest,‹ sagte sie, ›will ich dir doch sagen, daß deine Reise zu uns Riesen hinauf nicht so ganz unehrenvoll gewesen ist, wie du selbst zu glauben scheinst. Es war nicht zu verwundern, daß du den Weg durch unsere Stube lang fandest, denn du mußtest über die ganze Hochebene, die Jämtland genannt wird, gehen. Auch war es nicht zu verwundern, daß es dir schwer wurde, den Spund in die Tonne zu stecken, denn all das Wasser, das aus den Schneebergen herabgebraust kommt, strömte dir entgegen. Und als du das Wasser über unsern Estrich hinleitetest, schufst du Furchen und Vertiefungen, die jetzt zu Flüssen und Seen geworden sind. Es war auch kein geringer Beweis von deiner Kraft, den du liefertest, als du die Mühle einmal herumdrehtest, denn zwischen den Steinen lag nicht Korn, sondern Kalkstein und Schiefer und mit der einen Drehung mahltest du so viel, daß die ganze Hochebene mit guter, fruchtbarer Erde bedeckt ist. Daß du nicht in dem Bett liegen konntest, das ich dir bereitet hatte, verwundert mich ebenfalls nicht, denn ich hatte dich auf große, eckige Berggipfel gebettet. Die hast du nun über das halbe Land hingeschleudert, und es mag wohl sein, daß dir die Menschen dafür nicht so dankbar sind wie für das andere, was du getan hast. Ich sage dir nun Lebewohl, und ich verspreche dir, daß mein Mann und ich von hier fortgehen werden, an einen Ort, wo du uns nicht so leicht besuchen kannst.‹

Der Wandersmann hörte dies alles mit wachsendem Zorn an, und als das Riesenweib geendet hatte, griff er nach einem Hammer, den er im Gürtel trug. Ehe er ihn aber noch erhoben hatte, war das Weib verschwunden und wo das Haus der Riesen gelegen hatte, sah man nichts als die graue Felsenwand. Zurückgeblieben aber waren die mächtigen Flüsse und Seen, denen er Platz auf der Hochebene geschaffen, sowie die fruchtbare Erde, die er gemahlen hatte. Zurückgeblieben waren auch die herrlichen Berge, die Sämtland seine Schönheit verleihen, und die allen, die sie besuchen, Kraft, Gesundheit, Freude, Mut und Lebenslust schenken. So glaube ich denn, daß von allen Taten Asa-Thors keine rühmenswerter ist als die, welche er in jener Nacht vollbrachte, als er Felsenmassen hinausschleuderte von den Frostvigbergen im Norden bis zu dem Helagsberg im Süden, von den Oviksbergen jenseits des Storsös bis zu den Sylarn an der Reichsgrenze.«

XXVIII. Der Dalelf

Freitag, 29. April.

An diesem Tage bekam Niels Holgersen das südliche Dalarna zu sehen. Die wilden Gänse lenkten ihren Flug über das gewaltige Grubenfeld von Grängesberg, über die großen Anlagen bei Ludvika, über das Eisenwerk von Ulvshytten und das alte, verlassene Werk von Grängshammar, bis ganz hinauf zu den Ebenen von Stora Tuna und dem Dalelf. Als Niels zu Anfang der Fahrt hinter jedem Bergrücken Fabrikschornsteine aufragen sah, meinte er, das Ganze sei wie in Vestmanland, aber als er über den großen Elf kam, sollte er etwas Neues kennen lernen. Es war der erste richtige Fluß, den der Junge sah, und es machte einen gewaltigen Eindruck auf ihn, diese große, breite Wassermasse durch das Land dahingleiten zu sehen.

Als die Wildgänse die Floßbrücke von Torsång erreicht hatten, machten sie Kehrt und flogen nach Nordwesten an dem Elf entlang, als wollten sie ihn zum Wegweiser benutzen. Der Junge saß da und sah auf die Ufer hinab, wo eine ganze Strecke lang ein Gebäude neben dem anderen lag. Er sah den großen Wasserfall bei Domnarfvet und Kvarnsveden und die großen Fabriken, die er zu treiben hatte. Er sah die Floßbrücken, die auf dem Elf ruhten, die Fähren, die er zu tragen hatte, die Balken, die er von dannen führte, die Eisenbahnen, die an ihm entlang liefen oder quer über ihn hinweg, und nach und nach wurde es ihm klar, was für ein großes und merkwürdiges Gewässer dies war.

Der Elf machte einen großen Bogen nach Norden. In der Krümmung war es öde und menschenleer, und die Wildgänse ließen sich auf einer Wiese nieder, um zu grasen. Der Junge lief von ihnen fort bis ganz an den Abhang, um den Elf zu betrachten, der in einem breiten Bett tief unter ihm dahinfloß. Eine Landstraße führte ganz an den Elf heran, und die Reisenden wurden auf einer Fähre übergesetzt. Das war etwas Neues für Niels, und es belustigte ihn es anzusehen, aber plötzlich wurde er von einer schrecklichen Müdigkeit befallen. »Ich muß ein wenig schlafen. Ich habe diese Nacht ja kaum ein Auge geschlossen,« dachte er, kroch in einen dichten Grasbüschel hinein, verbarg sich, so gut er konnte, unter Gras und Stroh und schlief ein. Er erwachte davon, daß er einige Menschen, die auf der Wiese saßen, sprechen hörte. Sie waren auf der Landstraße gekommen, konnten aber nicht über den Elf gesetzt werden, weil große Eisstücke stromabwärts schwammen und die Überfahrt hinderten. Während sie warteten, gingen sie auf die Wiese, setzten sich dort hin und redeten darüber, wie beschwerlich es doch mit dem Elf sei.

»Ich möchte wohl wissen, ob wir in diesem Jahr wieder eine solche Überschwemmung haben werden wie im vergangenen,« sagte ein Bauer. »Da ging der Elf daheim bei uns ganz bis an die Telephonstangen hinauf und nahm unsere ganze Floßbrücke mit fort.«

»Im vergangenen Jahr hat er in unserer Gegend keinen sonderlichen Schaden angerichtet,« sagte ein anderer, »aber das Jahr vorher nahm er mir eine ganze Scheune voll Heu weg.«

»Nie vergesse ich die Nacht, als er die große Brücke bei Domnarfvet zerstörte,« warf ein Eisenbahnarbeiter dazwischen. »In der Nacht hat niemand auf dem ganzen Werk ein Auge geschlossen.«

»Freilich richtet der Elf viel Schaden an,« sagte ein großer, stattlicher Mann, »aber wenn ich euch so schlecht von ihm reden höre, kann ich nicht umhin, an den Propst daheim zu denken. Es war ein Fest im Hause des Propstes und die Leute saßen da und beklagten sich über den Elf, genau so, wie ihr es jetzt tut, da aber wurde der Propst ganz zornig und sagte, er wolle uns eine Geschichte erzählen. Und als er geendet hatte, war da niemand, der auch nur ein böses Wort über den Dalelf hätte sagen können, und ich möchte wohl wissen, ob es euch nicht ebenso ergangen wäre, wenn ihr mit dabei gewesen wäret.«

Als die Wartenden das hörten, wollten sie alle wissen, was der Propst von dem Elf gesagt hatte, und der Bauer erzählte dann die Geschichte, so gut er sich ihrer entsinnen konnte.

»Oben an der norwegischen Grenze lag ein Bergsee. Dem entströmte ein Bach, der gleich von Anfang an trotzig und heftig war. So klein er war, wurde er doch Storaa, der große Bach, genannt, weil es so aussah, als könne etwas Tüchtiges aus ihm werden.

Gleich als er aus dem See herauskam, warf er einen Blick um sich; er wollte sehen, welche Richtung er am besten einschlagen solle; aber es war im Grunde kein ermunternder Anblick, der ihm da entgegentrat. Rechts, links und geradeaus war nichts zu sehen als waldbedeckte Bergrücken, die nach und nach in kahle Felswände übergingen und sich allmählich zu hohen Berggipfeln erhoben.

Der Storaa warf den Blick nach links. Dort hatte er den Langfjeld mit dem Djupgravstöt, Barrfröhågna und Storvätteshågna. Er sah gen Norden; dort hatte er den Näsfjeld, im Osten stand der Nipfjeld und im Süden der Städjan. Er war nahe daran zu denken, ob es nicht am klügsten sei, wieder in den See zurückzukehren. Aber dann fand er, daß er doch wenigstens einen Versuch machen müsse, den Weg zum Meer zu finden, und so machte er sich denn auf die Wanderschaft.

Es ist leicht zu verstehen, daß es ein hartes Stück Arbeit war, sich den Weg durch dies wilde Bergland zu bahnen. Lag ihm nichts weiter im Wege, so war da doch immer der Wald. Er mußte eine Fichte nach der anderen umreißen, um sich freien Lauf zu schaffen.

Am mächtigsten und stärksten war er im Frühling, wenn der erste Zufluß kam und ihn mit Schneewasser aus den Tannenwäldern speiste, und wenn dann der Zufluß aus den Bergen ihn mit Gebirgswasser füllte. Da sammelte er seine ganze Kraft und stürzte dahin, fegte Steine und Erde zur Seite und grub sich durch Sandrücken. Auch im Herbst konnte er eine tüchtige Arbeit schaffen, wenn ihn der Herbstregen gestärkt hatte.

Eines schönen Tages, als der Storaa wie gewöhnlich geschäftig dabei war, sich seinen Weg zu bahnen, hörte er plötzlich ein Bubbeln und Brausen rechts vor sich, weit weg im Walde. Er lauschte so eifrig, daß er fast stillstand. ›Was in aller Welt kann das sein?‹ fragte er sich.

Der Wald, der rings um ihn her stand, konnte sich nicht enthalten, sich ein wenig lustig über ihn zu machen. ›Du bildest dir wohl ein, daß du ganz allein auf der Welt bist,‹ sagte er. ›Aber ich kann dir erzählen, daß der, den du da brausen hörst, niemand anderes ist als der Gröfvelaa aus dem Gröfvelsee. Der hat sich gerade durch ein schönes Tal hindurchgegraben, und kommt wohl ebenso schnell wie du an das Meer.‹

Aber der Storaa hatte seinen eigenen Kopf, und als er diese Antwort erhielt, sagte er, ohne sich einen Augenblick zu besinnen: ›Der Gröfvelaa ist nur ein armseliges Ding, das sich nicht allein helfen kann. Grüße ihn von mir und sage, der Storaa aus dem Vånsee sei auf dem Wege ans Meer, ich würde mich seiner gern annehmen und ihm weiterhelfen, wenn er sich mir anschließen will.‹

›Du bist ein tüchtiger Bursche, so klein du bist,‹ sagte der Wald. ›Ich will dem Gröfvelaa gern deinen Gruß überbringen, aber ich bin nicht sicher, daß er sich darüber freuen wird!‹

Am nächsten Tage stand der Wald da und sollte von dem Gröfvelaa grüßen und sagen, er habe so schwer zu kämpfen, daß er sich freue, Hilfe zu erhalten, er werde schon kommen und sich mit dem Storaa vereinen, sobald er könne.

Nun ging es natürlich noch schneller mit dem Storaa, und es währte nicht lange, bis er sich soweit vorwärts gearbeitet hatte, daß er einen langen, schmalen, schönen See erblickte, in dem sich der Idreberg und der Städjan widerspiegelten.

›Was ist denn das?‹ sagte er, und wieder war er nahe daran, vor Staunen still zu stehen. ›Ich habe mich doch nicht so töricht benommen, daß ich wieder nach dem Vånsee zurückgekommen bin?‹

Aber der Wald, der zu dieser Zeit überall zugegen war, antwortete sogleich: ›Nein, du bist nicht nach dem Vånsee zurückgekommen. Dies ist der Idresee, der mit Wasser aus dem Sönderelf angefüllt ist. Das ist ein tüchtiger Elf. Er ist eben damit fertig geworden, den See zu machen, und ist nun dabei, sich einen Ablauf aus ihm zu schaffen.‹

Als der Storaa das hörte, sagte er sofort zu dem Walde: ›Du, der du überall vordringst, willst du nicht den Sönderelf grüßen und ihm sagen, der Storaa aus dem Vånsee sei gekommen. Falls er mich durch den See laufen lassen will, werde ich zum Dank den Elf mit mir an das Meer hinausnehmen. Du kannst ihm sagen, er brauche sich keine Sorge zu machen, wie er vorwärtskommen soll, das werde ich schon einrichten.‹

›Ich will deinen Vorschlag gern überbringen,‹ sagte der Wald, ›aber ich glaube nicht, daß der Sönderelf darauf eingeht, denn er ist ebenso mächtig wie du.‹

Aber am nächsten Tage konnte der Wald erzählen, daß der Sönderelf ebenfalls ermüdet sei, sich seinen Weg allein zu bahnen, und daß er bereit sei, sich mit dem Storaa zu vereinen.

Der Bach lief nun durch den See und fuhr dann fort, mit dem Wald und den Bergen zu kämpfen, so wie bisher.

Eine Weile ging alles gut, aber dann kam er in ein Gebirgstal, das war so fest verschlossen, daß er keinen Ausweg zu finden vermochte. Der Storaa lag da und schäumte vor Wut, und als der Wald hörte, wie rasend er war, sagte er: ›Nun ist es doch wohl aus mit dir!‹

›Aus mit mir?‹ sagte der Storaa. ›Nein, ich bin nur eifrig beschäftigt mit einer Großtat. Ich will versuchen, ob ich nicht ebensogut wie der Sönderelf einen See machen kann.‹

Und dann begann er, den Särnasee zu füllen, und das war die Arbeit eines ganzen Sommers. Allmählich, als das Wasser im See stieg, wurde der Storaa höher in die Höhe gehoben, und schließlich brach er sich einen Ausweg nach Süden zu.

Als er glücklich aus der Klemme herausgekommen war, hörte er eines Tages ein mächtiges Sausen und Brausen links von sich. Ein so mächtiges Brausen hatte er noch nie im Walde gehört, und er fragte gleich, was das sei.

Der Wald war wie gewöhnlich sogleich mit der Antwort bei der Hand: ›Das ist der Fjäteelf‹ sagte er. ›Kannst du hören, wie er braust und schäumt? Er ist auf dem Wege zum Meer hinaus.‹

›Falls du so weit reichst, daß dich der Elf hören kann,‹ sagte der Storaa, ›so grüße, bitte, den armseligen Elf und sage, der Storaa aus dem Vånsee erbiete sich, ihn mit an das Meer hinauszunehmen, aber unter der Bedingung, daß er meinen Namen annimmt und sich gehorsam in mein Flußbett legt.‹

›Ich kann doch nicht glauben, daß der Fjäteelf es aufgeben wird, die Reise auf eigene Hand zu machen‹ sagte der Wald. Am nächsten Tage aber mußte er zugestehen, daß auch der Fjäteelf müde sei, sich seinen eigenen Weg zu graben, und daß er sich bereit erkläre, sich mit dem Storaa zu vereinen.

Nun ging es beständig vorwärts mit dem Storaa. Er war freilich nicht so groß, wie man hätte erwarten sollen, da er so viele Hilfskräfte zu sich gezogen hatte. Aber stolz war er. Er schritt fast in lauter Wasserfällen dahin und mit mächtigem Dröhnen rief er alles zu sich heran, was im Walde buddelte und brauste, wenn es auch nichts weiter war als ein Frühlingsbach.

Eines Tages hörte er weit, weit nach Westen zu etwas brausen. Und als er den Wald fragte, wer das sei, erhielt er die Antwort, es sei der Fuluelf, der Wasser von dem Fuluberg aufnähme und bereits eine lange und breite Rinne gegraben habe.

Sobald der Storelf das erfuhr, entsandte er seinen gewohnten Gruß, und der Wald übernahm es wie gewöhnlich, ihn auszurichten. Am nächsten Tage kam er mit der Antwort vom Fuluelf. ›Sage dem Storaa,‹ hatte der Elf geantwortet, ›daß ich seine Hilfe durchaus nicht wünsche. Es hätte sich besser für mich als für den Storaa geziemt, einen solchen Gruß zu senden, da ich der mächtigere von uns beiden bin, und ich sicher zuerst an das Meer gelangen werde.‹

Kaum hatte der Storaa den Bescheid erhalten, als er seine Antwort schon bereit hatte. ›Willst du dem Fuluelf sofort bestellen,‹ sagte er zu dem Wald, ›daß ich ihn zum Kampf herausfordere. Hält er sich für mächtiger als mich, so muß er es beweisen, indem er mit mir um die Wette läuft. Wer zuerst ans Meer kommt, hat gewonnen.‹

Als der Fuluelf diesen Gruß bekam, antwortete er:

›Ich habe nichts mit dem Storaa auszustehen, und ich wäre meinen Weg am liebsten in Ruhe und Frieden gewandert. Aber ich kann auf soviel Hilfe von dem Fuluberg rechnen, daß es feige von mir sein würde, wenn ich die Herausforderung nicht annehmen wollte.‹

Und so begannen die beiden Ströme ihren Wettlauf. Sie brausten mit noch größerer Eile als bisher dahin, und hatten weder Sommer noch Winter Ruhe.

Aber es schien, als sollte der Storaa bereuen, daß er so verwegen gewesen und den Fuluelf herausgefordert hatte, denn ihm trat ein Hindernis in den Weg, das nahe daran war, ihm zu mächtig zu werden. Es war ein Berg, der ihm im Wege lag, so daß er nur durch einen engen Spalt weitergelangen konnte. Er machte sich ganz dünn und ging in reißenden Wasserfällen vor, aber er mußte viele Jahre feilen und bohren, bis er den Spalt zu einer einigermaßen breiten Rinne erweitert hatte.

Während all der Zeit fragte der Storaa den Wald mindestens alle halbe Jahre einmal, wie es dem Fuluelf ergehe.

›Dem Elf geht es so gut, wie man es ihm nur wünschen kann,‹ sagte der Wald. ›Er hat sich jetzt mit dem Görelf vereint, der das Wasser aus den norwegischen Bergen aufnimmt.‹

Ein anderes Mal, als der Storaa nach dem Elf fragte, antwortete der Wald: ›Um den brauchst du nicht besorgt zu sein, der hat den ganzen Hormundsee mitgenommen.‹ Aber auf den Hormundsee hatte der Storaa selbst gerechnet; und als er nun hörte, daß der mit dem Fuluelf gegangen war, wurde er so wütend, daß er sich endlich durch ›Trängslet‹ Bahn brach und so wild und schäumend dahinstürzte, daß er mehr Wald und Erde mit fortriß, als nötig gewesen wäre. Es war gerade Frühling, und er überschwemmte die ganze Gegend zwischen dem Hyckeberg und dem Väsaberg, und ehe er sich wieder beruhigte, hatte er die Gegend geschaffen, die das Elftal heißt.

›Ich möchte wohl wissen, was der Fuluelf hierzu sagt?‹ fragte der Storaa den Wald.

Der Fuluelf hatte währenddessen Transtrand und Lima ausgegraben, aber nun hatte er ziemlich lange vor dem Limed gestanden und nach einem Ausweg gesucht, da er nicht wagte, sich den steilen Berg dort hinabzustürzen. Als er aber erfuhr, daß sich der Storaa seinen Weg durch Trängslet gebrochen und das Elftal ausgegraben hatte, konnte er nicht länger stillstehen. Und dann warf er sich den Limedfoß hinab.

Das war ein mächtiger Sprung, aber der Elf kam wohlbehalten unten an, und nun geriet er wirklich in Eile. Er grub Malung und Tärna aus, und es gelang ihm, den Vanaa zu überreden, sich mit ihm zu vereinen, obwohl der ganze vierzehn Meilen lang war und auf eigene Hand den ganzen Vänjansee ausgegraben hatte.

Von Zeit zu Zeit horte er ein mächtiges Brausen.

›Jetzt, glaube ich, kann ich hören, daß sich der Storaa ins Meer stürzt.‹ sagte er.

›Nein,‹ erwiderte der Wald, ›wohl ist es der Storaa, den du hörst, aber bis ans Meer ist er noch nicht gelangt. Nun hat er den Orsasee und den Skattung mitbekommen, daher ist er so übermütig geworden, daß er sich vorgenommen hat, den ganzen Siljan zu füllen.

Das war eine erfreuliche Nachricht für den Fuluelf. Der dachte, wenn sich der Storaa erst in das Siljantal verirrt hat, so wird er dort eingeschlossen sein wie in einem Gefängnis. Und dann würde er schon vor dem Storaa ans Meer hinausgelangen.

Nun konnte der Fuluelf die Sache also etwas ruhiger ansehen. Im Frühling verrichtete er sein härtestes Stück Arbeit. Da stieg er hoch über Baumwipfel und Sandrücken empor, und wo er vorgegangen war, hinterließ er ein geräumtes Tal. So ging sein Weg von Särna nach Nås und von Nås nach Floda. Von Floda kam er nach Gagnef. Hier befand sich bereits eine Ebene. Die Berge hatten sich soweit zurückgezogen, und der Fuluelf hatte so wenig Schwierigkeiten, vorwärts zu gelangen, daß er seine ganze bisherige Geschäftigkeit vergaß und sich spielend in allen möglichen Windungen und Biegungen dahinschlängelte, fast als sei er ein kleiner Bach gewesen.

Hatte aber der Fuluelf den Storaa vergessen, so hatte der Storaa den Fuluelf wahrlich nicht vergessen. Jeden Tag mühte er sich ab, den Siljansee zu füllen, um nach der einen oder der anderen Richtung aus ihm herauszukommen, aber er lag vor ihm wie ein unermeßlich großes Gefäß und schien sich niemals füllen lassen zu wollen. Zuweilen glaubte er, daß er gezwungen sein würde, den Gesundaberg selbst unter Wasser zu setzen, um aus seinem Gefängnis zu entkommen. Er versuchte bei Rättvik durchzubrechen, da aber stand der Lerdalsberg im Wege. Schließlich kam er unten bei Leksand heraus.

›Sage dem Fuluelf nichts davon, daß ich herausgekommen bin.‹ sagte der Storaa zu dem Wald, und der Wald versprach ihm zu schweigen.

Der Storaa nahm den Insjö im Vorbeifahren mit, und stolz und mächtig schritt er durch Gagnef.

Als der Storaa in die Nähe von Tejälgen in Gagnef kam, erblickte er einen Elf, der breit und prachtvoll daherkam mit hellem, schimmernden Wasser, und der Wälder und Sandrücken, die im Wege standen, so leicht beiseite schob, als sei es das reine Kinderspiel.

›Was für ein prachtvoller Elf ist denn das?‹ fragte der Storaa.

Aber nun traf es sich so, daß der Fuluelf genau nach demselben fragte: ›Was für ein Elf ist denn das, der da so stolz und mächtig einherkommt? Nie hätte ich geglaubt, daß ich einen Elf mit einer solchen Stärke und Macht durch das Land würde schreiten sehen!‹

Da sagte der Wald so laut, daß beide Flüsse es hören konnten: ›Da ihr nun beide, der Storaa und der Fuluelf gute Worte übereinander habt fallen lassen, so finde ich, euch dürfte nichts verhindern, euch miteinander zu vereinen und euch in Gemeinschaft euren Weg an das Meer zu bahnen.‹

Dieser Vorschlag schien den beiden Flüssen zu gefallen. Da war nur das eine Hindernis, daß keiner von beiden seinen eigenen Namen aufgeben und den des anderen annehmen wollte.

Es war kurz davor, daß nichts aus der Verbindung zwischen ihnen geworden wäre; da aber kam der Wald auf den Gedanken, den Vorschlag zu machen, daß sie einen neuen Namen annehmen sollten, der keinen von beiden gehörte.

Darauf gingen sie beide ein, und sie ernannten den Wald zum Namengeber. Der bestimmte nun, daß der Storaa seinen Namen ablegen und sich Östre Dalelf nennen sollte, und daß der Fuluelf den seinen ablegen und sich Vestre Dalelf nennen sollte. Wenn sie sich dann vereint hatten, sollten sie schlecht und recht Dalelf heißen.

Und nun, wo die beiden Flüsse sich vereinigt hatten, schritten sie mit einer Macht dahin, der nichts zu widerstehen vermochte. Sie ebneten den Erdboden in Store Tuna, so daß er glatt wurde wie ein Hofplatz. Sie stürzten den Wasserfall bei Kvarnsveden und Domnarsvek hinab, ohne sich zu besinnen. Als sie in die Nähe des Sees Runn kamen, sogen sie ihn ein und zwangen alle Gewässer in der Umgegend, sich mit ihnen zu vereinen. Dann zogen sie, ohne sonderlichem Widerstand zu begegnen, gen Osten an das Meer und breiteten sich zu ganzen Seen aus. Sie gewannen große Ehre und Ansehen bei Söderfors und ebenso bei Alvkarleby, und endlich gelangten sie ans Meer hinaus.

Als sie eben im Begriff waren, sich ins Meer zu stürzen, mußten sie an ihren langen Wettstreit und an alle die Mühe und Beschwerden denken, die sie gehabt hatten.

Sie fühlten sich jetzt alt und müde und konnten nicht begreifen, wie sie in ihrer Jugend so bereit zu Kampf und Wettstreit gewesen waren. Sie fragten sich selbst, welchen Zweck dies alles eigentlich gehabt hatte. Aber sie erhielten keine Antwort auf ihre Frage, denn der Wald war hoch oben im Lande stehengeblieben, und sie selbst konnten nicht in ihr Bett zurückkehren und sehen, wie die Menschen überall vorgedrungen waren, wo sie Bahn gebrochen hatten, wie ein Kirchspiel nach dem anderen längs den Seen des Östredalelf und in den Tälern des Vestredalelf emporgeschossen war. Wie es in der ganzen Landschaft nichts weiter gab als einsame Wälder und öde Berge, ausgenommen da, wo sie in ihrem gewaltigen Wettstreit vorgeschritten waren.«

XLVI. Die Sage vom Härjetal

Dienstag, 4. Oktober.

Niels Holgersen wurde unruhig, weil die Reisenden so lange auf dem Aussichtsturme blieben. Der Gänserich Martin konnte nicht kommen und ihn abholen, solange sie da waren, und er wußte ja, daß die Wildgänse Eile hatten, gen Süden zu ziehen. Mitten während der Geschichte war es ihm, als höre er Gänsegeschnatter und starke Flügelschläge, ganz so, als seien es die wilden Gänse, die davonflogen. Aber er wagte nicht, an die Rampe zu treten, um zu sehen, wie es sich verhielt.

Als die Gesellschaft endlich gegangen war, so daß sich der Junge aus seinem Versteck hervorwagen konnte, sah er unten an der Erde keine Wildgänse, und es kam kein Gänserich Martin, ihn zu holen. So laut er konnte, rief er: »Wo bist du? hier bin ich!« aber die Reisegefährten ließen sich nicht blicken. Es kam ihm auch nicht einen Augenblick in den Sinn, daß sie ihn verlassen hätten, aber er fürchtete, daß ihnen ein Unglück zugestoßen sei, und er stand da und überlegte, was er anfangen solle, um sie ausfindig zu machen, als sich der Rabe Bataki neben ihm niederließ.

Nie hatte der Junge gedacht, daß er Bataki jemals mit einem so freudigen Willkommen begrüßen würde, wie er es jetzt tat. »Lieber Bataki!« sagte er, »wie herrlich, daß du kommst! Du weißt vielleicht, wo der Gänserich Martin und die Wildgänse abgeblieben sind?« – »Ich komme gerade mit Grüßen von ihnen,« erwiderte der Rabe. »Akka sah einen Jäger hier auf dem Berge umherstreifen und wagte deshalb nicht, auf dich zu warten; sie ist vorausgeflogen. Setz‘ dich jetzt auf meinen Rücken, dann sollst du gleich bei deinen Freunden sein.«

Der Junge setzte sich schnell auf dem Rücken des Raben zurecht, und Bataki würde die Wildgänse bald eingeholt haben, wenn ihn nicht der Nebel daran gehindert hätte. Aber es war, als hätte die Morgensonne die Nebel zu neuem Leben erweckt. Kleine, leichte Nebelschleier stiegen plötzlich aus dem See, von den Feldern und aus dem Walde auf. Sie verdichteten sich und breiteten sich mit erstaunlicher Schnelligkeit aus, und bald war die Erde in weiße, wogende Nebel gehüllt.

Da oben, wo Bataki flog, war klare Luft und strahlender Sonnenschein, aber die Wildgänse waren offenbar unten zwischen den Nebelmassen, da es nicht möglich war, sie zu entdecken. Der Junge und der Rabe riefen und schrien, aber sie erhielten keine Antwort. »Das ist wirklich Pech!« sagte Bataki schließlich. »Aber wir wissen ja, daß sie gen Süden ziehen, und sobald es klar wird, werde ich sie schon finden.«

Der Junge war sehr betrübt, daß er gerade jetzt, wo sie sich auf der Reise befanden und der große Weiße allen möglichen Gefahren ausgesetzt sein konnte, von dem Gänserich Martin getrennt war. Aber als er ein paar Stunden in dieser Angst dagesessen hatte, sagte er sich, bisher sei ja noch kein Unglück geschehen, wozu sollte er sich da die Laune verderben lassen.

Im selben Augenblick hörte er unten auf der Erde einen Hahn krähen, und sofort lehnte er sich über den Rücken des Raben hinaus und rief: »Wie heißt das Land, über das ich dahinfliege?« – »Es heißt das Härjetal, das Härjetal, das Härjetal!« krähte der Hahn. – »Wie sieht es da unten bei euch aus?« fragte der Junge. »Berge im Westen und Wald im Osten, breites Tal durchs ganze Land!« krähte der Hahn. »Hab‘ Dank! Du gibst gute Antworten!« rief der Junge.

Als sie wieder eine Weile geflogen waren, hörte er unten im Nebel eine Krähe krächzen. »Was für Menschen wohnen hier im Lande?« rief er. – »Prächtige, gute Bauern,« antwortete die Krähe. »Prächtige, gute Bauern.« – »Was tun sie?« fragte der Junge. – »Sie treiben Viehzucht und roden den Wald aus,« schrie die Krähe. – »Hab‘ Dank! Du gibst gute Antworten!« rief der Junge.

Nach einer Weile hörte er, daß ein Mensch da unten im Nebel ging und sang. »Gibt es keine großen Städte hier im Lande?« fragte der Junge. – »Was … Was … Wer ruft da?« antwortete der Mensch. – »Gibt es keine großen Städte hier im Lande?« wiederholte der Junge. – »Ich will wissen, wer da ruft!« schrie der Mensch. – »Hab‘ ich mir’s nicht gedacht, daß ich keinen Bescheid bekommen würde, wenn ich einen Menschen fragte!« rief der Junge.

Es währte nicht lange, da verzog sich der Nebel ebenso schnell, wie er gekommen war, und der Junge sah nun, daß Bataki über ein breites Flußtal flog. Es war schön hier, mit hohen Bergen so wie in Sämtland, aber am Fuße der Berge war kein fruchtbares und dichtbebautes Land. Die Dörfer lagen weit voneinander entfernt, und die Felder waren klein. Bataki folgte dem Fluß in südlicher Richtung, bis sie in die Nähe eines Dorfes kamen. Dort ließ er sich auf einem Stoppelfelde nieder, und der Junge stieg ab.

»Hier auf dem Felde hat im Sommer Korn gestanden,« sagte Bataki. »Sieh dich um, ob du nicht etwas zu Essen findest!« Der Junge befolgte seinen Rat, und es währte nicht lange, bis er eine Ähre fand. Während er die Körner herausschälte und sie verzehrte, knüpfte Bataki ein Gespräch mit ihm an.

»Siehst du den großen, dunklen Berg, der da gerade im Süden aufragt?« fragte er. – »Freilich sehe ich den!« erwiderte der Junge.– »Er heißt Sonfjeldet,« fuhr der Rabe fort, »und du kannst mir glauben, es hat dort in alten Zeiten viele Wölfe gegeben.« – »Das muß eine gute Zufluchtsstätte für sie gewesen sein,« räumte der Junge ein. – »Es war schwer für die Bewohner des Tales, sich mit ihnen abzuplacken,« sagte Bataki. – »Weißt du nicht eine gute Geschichte von Wölfen, die du mir erzählen könntest?« fragte der Junge.

»Ich habe gehört, daß vor langer Zeit die Wölfe von Sonfjeldet einen Mann überfallen haben sollen, der Tonnen und Kübel verkaufte,« sagte Bataki. »Er war aus Hede, einem Dorf, das hier im Tal liegt, einige Meilen höher als wir uns befinden. Es war Winter, und die Wölfe jagten hinter ihm her, als er über das Eis des Ljusnan fuhr. Es mochten wohl an zehn Stück sein, und der Mann aus Hede hatte ein schlechtes Pferd, so war da nicht viel Hoffnung, daß er ihnen entkommen würde. Als der Mann die Wölfe heulen hörte und sah, was für eine große Schar es war, die Jagd auf ihn machte, verlor er den Kopf, und es kam ihm nicht einmal in den Sinn, daß er Kübel und Eimer und Wannen vom Wagen werfen könne, um die Last leichter zu machen. Er peitschte nur auf das Pferd los, und das lief auch, so schnell es nur laufen konnte. Aber der Mann sah bald, daß die Wölfe immer näher kamen. Es wohnten keine Menschen an dem Ufer des Sees, und es waren noch mehrere Meilen bis zu dem nächsten Hof. Allem Anschein nach war seine letzte Stunde gekommen, und er fühlte, wie er ganz starr vor Schrecken wurde.

Während er wie versteinert dasaß, sah er, daß sich etwas zwischen den Tannenzweigen rührte, die, um den Weg zu bezeichnen, auf dem Eis aufgehäuft waren. Und als er sah, wer da ging, war es ihm, als werde das Entsetzen, das ihn gepackt hatte, noch zehnmal größer.

Es waren keine Wölfe, die ihm entgegenkamen, sondern eine arme alte Frau. Sie hieß Finnen-Malene und streifte immer auf den Wegen und Steigen umher. Sie hinkte ein wenig und war buckelig, so daß er sie schon von weitem erkennen konnte. Die alte Frau ging geradeswegs auf die Wölfe zu. Wahrscheinlich hinderte der Schlitten sie, die Tiere zu sehen, und der Mann aus Heide war sich sofort klar darüber, daß, wenn er an ihr vorüberfuhr, ohne sie zu warnen, sie den wilden Tieren gerade in den Rachen lief, und während die Wölfe sie zerrissen, konnte er dann entkommen.

Sie ging langsam, auf ihren Stock gestützt; wenn er ihr nicht half, war sie rettungslos verloren. Aber selbst wenn er anhielt und sie aufforderte, sich auf den Boden des Schlittens zu setzen, war es deswegen durchaus nicht sicher, daß sie gerettet wurde. Nahm er sie in den Schlitten auf, so war die Gefahr, daß die Wölfe sie einholen würden, nur um so größer, und er und das Pferd mußten ihr Leben lassen. Ob es wohl richtig war, ein Leben zu opfern um zwei andere zu retten?

Das alles ging ihm in demselben Augenblick, als er die Alte sah, durch den Kopf. Und nicht genug damit, er hatte auch noch Zeit, darüber nachzudenken, wie es ihm hinterher ergehen würde, ob er es bereuen würde, daß er der Alten nicht geholfen hatte, und ob die Leute wohl erfahren würden, daß er ihr begegnet war und ihr nicht geholfen hatte.

Es war eine entsetzliche Versuchung, der er ausgesetzt war. ›Wenn ich ihr doch nie begegnet wäre!‹ sagte er zu sich selbst.

Im selben Augenblick brachen die Wölfe in ein wildes Geheul aus. Das Pferd zuckte zusammen, sauste in der wildesten Fahrt dahin und jagte an dem Bettelweib vorüber. Auch sie hatte die Wölfe heulen hören, und als der Mann aus Heide vorüberfuhr, konnte er sehen, daß sie wußte, was ihrer harrte. Sie stand still, der Mund öffnete sich zu einem Schrei, und sie streckte die Arme nach Hilfe aus, aber sie schrie weder, noch versuchte sie, auf den Schlitten hinaufzuspringen. Irgend etwas mußte sie gelähmt haben. ›Ich habe wohl wie ein Troll ausgesehen, als ich an ihr vorüberfuhr,‹ dachte der Mann.

Jetzt war er überzeugt, daß er entkommen würde, und er versuchte, sich darüber zu freuen. Statt dessen begann es aber in seiner Brust zu brennen und zu nagen. Er hatte noch nie zuvor etwas Unehrenhaftes getan und hatte nun ein Gefühl, als sei sein ganzes Leben zerstört. ›Mag es gehen, wie es will,‹ sagte er und hielt das Pferd an, ›ich kann sie nicht mit den Graubeinen allein lassen!‹

Nur mit großer Mühe gelang es ihm, das Pferd zu wenden, aber es ging schließlich, und bald hatte er die alte Frau eingeholt. ›Krieche schnell auf den Schlitten herauf,‹ sagte er in barschem Ton, denn er war ärgerlich auf sich selbst, weil er die Alte ihrem Schicksal hatte überlassen können. ›Was hast du hier auf dem Eise herumzurennen, du alte Hexe,‹ herrschte er sie an. ›Nun müssen der Rappe und ich beide deinetwegen unser Leben lassen!‹

Die Alte erwiderte kein Wort, aber der Mann aus Heide war nicht in der Stimmung, sie zu schonen. ›Der Rappe ist heute schon fünf Meilen gelaufen,‹ sagte er, ›er wird wohl bald müde werden, und die Last ist auch nicht leichter geworden, seit du hinzugekommen bist!‹

Die Schlittenkufen schurrten auf dem Eis, so daß es kreischte, aber trotzdem konnte er die Wölfe fauchen hören, und er war sich klar darüber, daß die Graubeine ihn nun eingeholt hatten. ›Jetzt ist es aus mit uns,‹ sagte er. ›Weder du noch ich hatten viel Freude davon, daß ich versuchte, dich zu retten, Finnen-Malene.‹

Bisher hatte die Alte geschwiegen, wie jemand, der gewöhnt ist, sich ausschelten zu lassen. Jetzt sprach sie ein paar Worte. ›Ich kann nicht begreifen, warum du die Tonnen und Kübel nicht herunterwirfst, um die Last zu erleichtern. Du kannst ja morgen wiederkommen und alles aufsammeln.‹

Der Mann aus Heide sah ein, daß dies ein vernünftiger Rat war und wunderte sich nur darüber, daß er selbst nicht eher daran gedacht hatte. Er ließ die Alte die Zügel halten, löste den Strick, der die Gefäße zusammenhielt, und warf sie vom Schlitten. Die Wölfe waren ganz dicht hinter ihnen drein. Aber nun machten sie halt, um zu untersuchen, was da auf das Eis geworfen wurde, und der Schlitten bekam wieder einen kleinen Vorsprung.

›Wenn das nicht hilft, so kannst du doch wohl begreifen, daß ich mich freiwillig den Wölfen hinwerfe, damit du entkommen kannst,‹ sagte die Alte. Gerade als sie das sagte, war der Mann im Begriff, einen großen, schweren Braubottich vom Schlitten herunterzuwerfen. Aber während er sich noch damit abmühte, hielt er plötzlich inne, als könne er sich nicht entschließen, das Gefäß hinunterzuwerfen. In Wirklichkeit aber waren seine Gedanken von etwas ganz anderem in Anspruch genommen. ›Ein Pferd und ein Mann, die gesund und stark sind, brauchen doch ein altes Weib um ihretwillen nicht von den Wölfen auffressen zu lassen,‹ dachte er. ›Es muß doch noch einen anderen Ausweg geben. Ja, es muß einen Ausweg geben. Das Schlimmste ist nur, daß ich ihn nicht finden kann.‹

Er machte sich wieder mit dem Braubottich zu schaffen, hielt dann aber wieder damit inne und brach in ein lautes Lachen aus.

Die Alte sah ihn erschreckt an und dachte, daß er verrückt geworden sei, aber der Mann aus Heide lachte über sich selbst, weil er bisher so dumm gewesen war. Nichts war ja einfacher, als sie alle drei zu retten. Er konnte nur nicht begreifen, daß ihm das nicht gleich eingefallen war.

›Höre jetzt gut zu, was ich dir sage, Malene,‹ begann er. ›Es war brav von dir, daß du dich den Wölfen freiwillig hinwerfen wolltest. Aber das tut nicht not, denn nun weiß ich, wie wir alle drei gerettet werden können, ohne unser Leben aufs Spiel zu setzen. Vergiß aber nicht, daß du, was ich auch tue, ruhig auf dem Schlitten sitzen bleibst und nach Linsäll hinabfährst. Dort weckst du die Leute und sagst ihnen, daß ich hier allein mit zehn Wölfen auf dem Eise bin, und bittest sie, zu kommen und mir zu helfen.‹

Der Mann wartete nun, bis die Wölfe ganz nahe an den Schlitten herangekommen waren, dann wälzte er den großen Bottich auf das Eis, sprang selbst hinterdrein und kroch darunter.

Es war ein mächtiges Gefäß, so groß, daß es einen ganzen Weihnachtsbräu fassen konnte. Die Wölfe sprangen daran in die Höhe, sie bissen in die Reifen und versuchten, den Bottich umzustürzen. Aber das Gefäß war zu groß und zu fest. Sie konnten des Mannes, der darunter lag, nicht habhaft werden.

Der Mann aus Heide wußte, daß er in Sicherheit war, und er lag da und lachte über die Wölfe. Bald aber wurde er ernsthaft. ›Wenn ich jemals wieder in Not kommen sollte,‹ fügte er, ›so will ich an diesen Braubottich denken. Ich will daran denken, daß ich weder mir selbst noch anderen Unrecht anzutun brauche. Es gibt immer einen dritten Ausweg, es handelt sich nur darum, ihn zu finden.‹«

Damit endete Bataki seine Erzählung. Aber Niels Holgersen hatte jetzt schon gemerkt, daß der Rabe niemals etwas erzählte, ohne eine ganz besondere Absicht damit zu haben, und je länger er ihm zuhörte, um so nachdenklicher wurde er. »Warum erzählst du mir eigentlich diese Geschichte?« fragte der Junge. – »Ach, sie fiel mir nur gerade ein, als ich hier stand und den Sonfjeld ansah,« sagte der Rabe.

Sie flogen nun weiter, den Ljusnan hinab, und als eine Stunde vergangen war, kamen sie an das Dorf Kolsätt, das hart an der Grenze von Helsingland liegt. Hier ließ sich der Rabe in der Nähe einer kleinen, niedrigen Hütte nieder, die keine Fenster, sondern nur eine Luke hatte. Aus dem Schornstein stieg ein Rauch auf, der mit Funken vermischt war, und aus dem Hause vernahm man starke Hammerschläge. »Wenn ich die Schmiede sehe,« sagte Bataki, »so muß ich unwillkürlich an etwas denken, was du wahrscheinlich nie gehört hast, nämlich daß es in alten Zeiten im Härjetal und namentlich in diesem Dorfe hier so gute Schmiede gegeben haben soll, daß man ihresgleichen im ganzen Lande nicht finden konnte.« – »Vielleicht kannst du mir auch von ihnen eine Geschichte erzählen,« meinte der Junge.

»Freilich, denn ich habe gehört, daß damals ein Schmied aus dem Härjetal zwei andere Meisterschmiede, einen aus Dalarna und einen aus Värmland, zu einem Wettstreit im Nagelschmieden herausgefordert hat. Die Herausforderung wurde angenommen, und die drei Schmiede trafen hier in Valfäst zusammen. Der Dalekarlier machte den Anfang. Er schmiedete ein Dutzend Nägel, die alle ausgezeichnet waren und nicht besser gemacht werden konnten. Nach ihm kam der Värmländer. Auch er schmiedete ein Dutzend Nägel, die ganz ausgezeichnet waren, und dazu kam noch, daß er nur halb soviel Zeit dazu gebrauchte wie der Dalekarlier. Als die Männer, die Schiedsrichter in dem Wettstreit sein sollten, das sahen, sagten sie zu dem Schmied aus dem Härjetal, er könne den Versuch, es besser als der Dalekarlier oder schneller als der Värmländer zu machen, nur gleich aufgeben. ›Nein, ich ergebe mich nicht. Es wird sich schon eine Art und Weise finden lassen, wie ich mich auszeichnen kann,‹ sagte der Mann aus dem Härjetal. Er legte das Eisen auf den Ambos, ohne es zuvor in die Esse zu legen, hämmerte es warm und schmiedete einen Nagel nach dem anderen, ohne weder Kohlen noch einen Blasebalg zu gebrauchen. Nie hatte man einen Schmied den Hammer mit größerer Meisterschaft führen sehen, und der Schmied aus dem Härjetal wurde als der beste im ganzen Lande erklärt.«

Bataki schwieg, aber der Junge wurde noch nachdenklicher. »Was bezweckst du eigentlich mit der Erzählung?« fragte er. – »Ach, die Geschichte fiel mir nur gerade ein, als ich die alte Schmiede sah,« antwortete der Rabe ganz gleichgültig.

Die beiden Reisenden stiegen nun wieder in die Luft empor, und der Rabe flog mit dem Knaben südwärts nach dem Kirchspiel Lillhärdal, das auf der Grenze von Dalarna liegt. Dort ließ er sich auf einem bewaldeten Hügel oben auf einem Bergrücken nieder. »Ob du wohl eigentlich weißt, auf was für einem Hügel du stehst?« fragte Bataki. Nein, der Junge mußte einräumen, daß er das nicht wußte. – »Es ist ein Grabhügel,« sagte Bataki. »Er ist über einem Mann errichtet, der Harjulf hieß, und der sich als erster hier im Härjetal niederließ und das Land zu bebauen begann.« – »Vielleicht kannst du auch von ihm eine Geschichte erzählen?« meinte der Junge.

»Ich habe nichts weiter von ihm gehört, als daß er wohl ein Norweger gewesen ist. Zuerst stand er im Dienst eines norwegischen Königs, aber mit dem entzweite er sich, so daß er landesflüchtig wurde. Dann zog er zu dem schwedischen König, der in Upsala wohnte und trat bei ihm in Dienst. Als aber eine Weile vergangen war, begehrte er die Schwester des Königs zum Gemahl, und als der König ihm eine so vornehme Braut nicht geben wollte, entfloh er mit ihr. Er hatte es nun dahin gebracht, daß er nicht in Norwegen und auch nicht in Schweden wohnen konnte, und ins Ausland konnte er nicht ziehen. ›Aber es muß wohl noch einen dritten Ausweg geben,‹ dachte er und zog mit seinen Dienern und seinen Schätzen gen Norden durch Dalarna, bis er an die großen, wilden Wälder kam, die sich nördlich von Dalarna ausbreiteten. Dort ließ er sich nieder, baute Häuser, machte den Wald urbar und wurde so der erste, der sich in dieser Gegend des Landes niederließ.«

Als Niels Holgersen diese Geschichte hörte, wurde er noch nachdenklicher als zuvor. »Was für einen Zweck hast du nur damit, mir dies alles zu erzählen?« sagte er noch einmal. Lange schwieg Bataki, drehte und wandte aber den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Da wir beide jetzt hier allein sind,« sagte er endlich, »so will ich die Gelegenheit benutzen und dich nach etwas fragen. Hast du jemals genauen Bescheid darüber erhalten, was der Kobold, der mit dir verhandelte, als Bedingung aufstellte, daß du wieder ein Mensch werden könntest?« – »Ich habe nie von einer anderen Bedingung gehört, als daß ich den weißen Gänserich wohlbehalten nach Lappland hinauf und wieder nach Schonen zurückbringen sollte.« – »Hab‘ ich mir’s doch gedacht!« rief Bataki aus. »Denn das letztemal, als wir uns sahen, nahmst du den Mund so voll und sagtest, es gäbe nichts Häßlicheres, als einen Freund, der sich auf uns verließ, im Stich zu lassen. Du solltest doch Akka einmal nach der Bedingung fragen. Du weißt, sie ist daheim bei euch gewesen und hat mit dem Kobold gesprochen.« – »Davon hat Akka nichts gesagt,« erwiderte der Junge. – »Sie hielt es vielleicht für dich für das beste, wenn du nicht wüßtest, wie die Worte des Kobolds lauteten. Sie will dir natürlich lieber helfen als dem Gänserich Martin.« – »Es ist doch sonderbar, Bataki, daß du mir das Herz immer so schwer und sorgenvoll machen mußt,« sagte der Junge. – »Wohl möglich, daß es den Anschein hat,« meinte der Rabe, »aber diesmal glaube ich wirklich, daß du mir dankbar sein mußt, denn ich will dir nur sagen, daß die Worte des Kobolds lauteten, du würdest nie wieder Mensch werden, wenn du den Gänserich Martin nicht nach Hause brächtest, so daß deine Mutter ihn auf die Schlachtbank legen kann.«

Niels Holgersen fuhr auf. »Das ist sicher nur eine boshafte Erfindung von dir!« rief er. – »Du kannst Akka ja selber fragen,« sagte Bataki. »Ich sehe sie da oben mit ihrer ganzen Schar kommen. Vergiß nun nicht, was ich dir heute erzählt habe! Es gibt immer einen Ausweg aus allen Schwierigkeiten, es handelt sich nur darum, ihn zu finden. Ich freue mich schon darauf zu sehen, wie es dir glücken wird!«

XLVII. Värmland und Dalsland

Mittwoch, 5. Oktober.

Am nächsten Tage, als die Wildgänse Rast machten und Akka ein wenig abseits von den anderen graste, benutzte Niels Holgersen die Gelegenheit, sie zu fragen, ob es wahr sei, was Batati gesagt hatte; und Akka konnte es nicht leugnen. Da nahm der Junge der Führergans das Versprechen ab, daß sie dem Gänserich Martin das Geheimnis niemals verraten wolle. Denn der große Weiße war so tapfer und edelmütig, daß der Junge fürchtete, es könne ein Unglück daraus entstehen, wenn er die Bedingung des Kobolds erfahre.

Nun saß der Junge traurig und stumm auf dem Rücken des Gänserichs, ließ den Kopf hängen und machte sich nichts daraus, sich umzusehen. Er hörte die Wildgänse den Jungen zurufen, jetzt flogen sie nach Dalarna hinein; jetzt konnten sie den Städjan oben im Norden sehen, jetzt flogen sie über den Osterdalelf, jetzt waren sie beim Hormundsee, und jetzt hatten sie die Talfirt des Vesterdalelfs unter sich. »Ich werde ja voraussichtlich mein ganzes Leben mit den Wildgänsen umherziehen müssen,« dachte er, »da bekomme ich mehr als genug von diesem Lande zu sehen«

Es ermunterte ihn nicht, daß die Wildgänse riefen, jetzt seien sie nach Värmland hineingekommen, und der Elf, dessen Lauf gen Süden sie folgten, sei der Klarelf. »Ich habe schon so viele Elfe gesehen,« dachte er, »ich brauche mir nicht die Mühe zu machen, noch einen anzusehen.«

Selbst wenn er mehr Lust gehabt hätte, Umschau zu halten, wäre nicht viel zu sehen gewesen, denn in dem nördlichen Värmland gibt es nichts weiter als große, einförmige Wälder, durch die sich der Klarelf schmal und schäumend hindurchschlängelt. Hier und da sieht man einen Kohlenmeiler, einen Brandfleck oder einige niedrige Häuser ohne Schornsteine, in denen Finnen wohnen. Aber der größte Teil des Waldes steht so unberührt, daß man glauben könnte, man sei hoch oben in Lappland.

Die Wildgänse ließen sich auf einem Kornacker mitten im Walde, nahe am Ufer des Klarelfs nieder, und während die Gänse dort in dem frischen, eben hervorsprossenden Winterroggen weideten, hörte der Junge Lachen und lautes Reden aus dem Walde herausschallen. Es waren sieben kräftige Männer, die, den Ränzel auf dem Rücken und die Axt über der Schulter, dahergegangen kamen. An diesem Tage hatte der Junge eine so unbeschreibliche Sehnsucht nach Menschen, daß er sich förmlich freute, als die sieben Arbeiter die Ränzel abnahmen und sich am Ufer des Elfs niederwarfen, um auszuruhen.

Der Mund stand ihnen keinen Augenblick still, und der Junge lag hinter einem Erdhaufen und freute sich darüber, Menschenstimmen zu hören. Er erfuhr bald, daß es Värmländer waren, auf dem Wege nach Norrland, wo sie Arbeit suchen wollten. Es waren fröhliche Menschen, und sie hatten viel zu erzählen, denn sie hatten in vielen verschiedenen Orten gearbeitet. Aber während sie nun dort saßen und plauderten, kam es, daß einer ganz zufällig sagte, er habe ja doch in allen Teilen von Schweden gearbeitet, nie aber habe er eine Gegend gesehen, die schöner sei wie die Nordmark da oben im westlichen Värmland, wo er zu Hause sei.

»Darin stimme ich mit dir überein, wenn du nur statt Nordmark Frytsdal sagen willst, wo ich meine Heimat habe,« fiel ihm einer von den anderen in die Rede. – »Ich bin aus dem Jösser Bezirk,« sagte ein dritter, »und ich kann euch die Versicherung geben, daß es dort noch viel schöner ist als in der Nordmark und im Fryksdal.«

Es stellte sich nun heraus, daß alle die sieben Männer aus verschiedenen Teilen von Värmland waren, und daß ein jeder seine Heimatsgegend für schöner und besser hielt als die der anderen. Sie gerieten in Streit darüber, und keiner von ihnen war imstande, die anderen zu überzeugen, daß er recht hatte. Es sah fast so aus, als sollten sie sich ernstlich entzweien. Da kam ein alter Mann mit langem, schwarzem Haar und kleinen, zwinkernden Augen vorüber, »Worüber zankt ihr euch denn hier, ihr Leute?« fragte er. »Ihr schreit ja so, daß man es durch den ganzen Wald hören kann.«

Einer der Värmländer wandte sich rasch an den Alten. »Du bist wohl ein Finne, da du hier so hoch oben im Walde umherwanderst?« – »Freilich bin ich ein Finne,« antwortete der Gefragte. – »Das trifft sich ja gut,« sagte der Mann, »Ich habe oft gehört, ihr Finnen hättet mehr Verstand als andere Menschen.« – »Ein guter Leumund ist besser als Gold,« entgegnete der Finne, – »Wir sitzen hier und streiten uns darüber, welcher Teil von Värmland der beste ist. Könntest du es nicht vielleicht übernehmen, den Streit zu schlichten, damit wir uns um dieser Sache willen nicht entzweien?« – »Ich will entscheiden, so gut ich kann,« sagte der Finne, »aber ihr müßt Geduld mit mir haben, denn erst muß ich euch eine alte Geschichte erzählen.«

»In alten Zeiten,« begann der Finne, indem er sich zu den Männern setzte, »sah all das Land, das nördlich vom Wenersee liegt, ganz schrecklich aus. Es war so voll von kahlen Hochebenen und steilen Bergen, daß es ganz unmöglich war, sich anzubauen und dort zu leben. Wege konnten nicht gebahnt werden und der Boden war nicht urbar zu machen. Aber das Land, das südlich vom Wenersee lag, war schon zu jenen Zeiten gut und fruchtbar, so wie es noch heutigen Tages ist.

Nun wohnte damals unten im Süden ein Riese, der sieben Söhne hatte. Alle Söhne waren kecke und starke Männer, aber sie hatten einen stolzen Sinn und es herrschte oft Unfriede unter ihnen, weil ein jeder von ihnen mehr sein wollte als die anderen.

Der Vater hatte das ewige Gezänke satt, und um der Sache ein Ende zu machen, rief er eines Tages die Söhne zu sich und fragte sie, ob sie gewillt seien, sich auf eine Probe einzulassen, damit er ergründen könne, wer von ihnen der Tüchtigste sei.

Das wollten die Söhne gern. Sie verlangten nichts Besseres.

›Dann wollen wir es folgendermaßen machen,‹ sagte der Vater. ›Ihr wißt, daß nördlich von dem kleinen Teich, den wir Wenersee nennen, eine Weide liegt, die voll von Erdhügeln und kleinen Steinen ist, so daß wir keinen Nutzen davon haben. Morgen soll ein jeder von euch seinen Pflug nehmen und dahinaufgehen und soviel umpflügen, wie in einem Tage möglich ist. Gegen Abend will ich denn kommen und sehen, wer von euch das beste Stück Arbeit geschafft hat.‹

Kaum war am nächsten Morgen die Sonne aufgegangen, als die sieben Brüder auch schon mit Pferden und Pflügen bereitstanden. Es war wohl der Mühe wert, sie zu sehen, als sie auf Arbeit fuhren. Die Pferde waren gestriegelt, so daß sie glänzten, die Pflugmesser waren frisch geschliffen und das Eisen blitzte. Sie fuhren fast im Galopp vondannen, bis sie an den Wenersee kamen. Da bogen zweie von ihnen ab, der älteste aber fuhr gerade aus. ›Sollte ich vor so einer kleinen Wasserlache bange sein?‹ sagte er von dem Wenersee.

Als die anderen ihn gerade darauf losgehen sahen, wollten sie nicht hinter ihm zurückstehen. Sie setzten sich auf die Pflüge und trieben die Pferde ins Wasser hinein Es waren große Pferde, und es währte eine Weile, bis sie den Grund verloren hatten und schwimmen mußten. Die Pflüge trieben auf dem Wasser, aber es war nicht leicht, sich, darauf festzuhalten. Ein paar von den Söhnen ließen sich von den Pflügen schleppen, und ein paar mußten waten. Aber sie gelangten alle hinüber und machten sich sofort daran, die Weide umzupflügen, die nicht mehr und nicht weniger war als der Landstrich, den man später Värmland und Dalsland genannt hat. Der älteste von den Söhnen sollte die mittlere Furche pflügen. Die beiden nächstältesten stellten sich zu beiden Seiten von ihm auf, die beiden, die dann im Alter folgten, nahmen an der anderen Seite von diesen Platz, und die beiden jüngsten pflügten jeder seine Furche, der eine an dem westlichen Ende der Weide, der andere an dem östlichen.

Der älteste Bruder pflügte anfangs eine gerade und breite Furche, denn der Boden unten am Wenersee war ganz flach und leicht zu behandeln. Aber bald kam er an einen Stein, der so groß war, daß er nicht daran vorüber kommen konnte, sondern den Pflug darüber hinwegheben mußte. Dann stieß er die Pflugschar mit aller Macht in die Erde und schnitt eine breite und tiefe Furche. Aber bald darauf kam er an so harten Boden, daß er abermals gezwungen war, den Pflug zu heben. Dasselbe wiederholte sich noch einmal, und er ärgerte sich darüber, daß er die Furche nicht die ganze Strecke gleich breit und tief pflügen konnte. Schließlich wurde der Boden so steinhart, daß er sich begnügen mußte, ihn nur ganz leicht mit der Pflugschar zu ritzen. Auf die Weise gelangte er aber schließlich bis an die nördliche Grenze der Weide, und dort setzte er sich hin und wartete auf den Vater.

Der zweite von den Brüdern begann auch damit, eine breite und tiefe Furche zu pflügen, und er hatte das Glück, eine gute und flache Strecke zwischen den Erdhügeln zu finden, so daß er sie ohne Unterbrechung bis zu Ende führen konnte. Hin und wieder fuhr er an einer Schlucht entlang, und je weiter er gen Norden kam, um so mehr Bogen mußte er machen, um so schmaler wurde die Furche. Aber er war so gut im Gange, daß er nicht an der Grenze anhielt, sondern noch ein gutes Stück weiter pflügte, als er nötig hatte.

Auch dem dritten Bruder, der links von dem ältesten stand, erging es anfangs ganz gut. Es gelang ihm, eine Furche zu ziehen, die breiter als die der anderen war, bald aber stieß er auf so schlechten Boden, daß er nach Westen zu abbiegen mußte. Sobald wie möglich pflügte er wieder in nördlicher Richtung und pflügte breit und tief, mußte aber innehalten, noch ehe er die Grenze erreicht hatte. Er wollte nicht gern mitten auf dem Felde halten, deswegen wendete er die Pferde und bog nach einer anderen Richtung ab. Aber schon im nächsten Augenblick war er so eingeschlossen, daß er aufhören mußte. ›Diese Furche wird wohl die schlechteste werden,‹ dachte er und setzte sich auf den Pflug, um den Vater zu erwarten.

Es ist wohl nicht notwendig zu erzählen, wie es den anderen erging. Sie bewährten sich alle als Männer. Diejenigen, die in der Mitte pflügten, hatten harte Arbeit, aber diejenigen, die östlich und westlich von diesen gingen, hatten es noch schwerer, denn da war die Erde so voll von Steinen und Sümpfen, daß es unmöglich war, die Furchen gerade und gleichmäßig zu ziehen. Was nun die beiden Jüngsten betrifft, so konnten sie kaum etwas anderes tun, als ihren Pflug wieder und wieder zu wenden, aber trotzdem brachten sie ein gutes Stück Arbeit fertig.

Als der Abend hereinbrach, saßen die sieben Brüder müde und niedergeschlagen, ein jeder am Ende seiner Furche, da und warteten.

Da kam der Vater gegangen. Er kam zuerst zu dem, der am weitesten nach Westen zu gearbeitet hatte.

›Guten Abend!‹ sagte der Vater. ›Wie ist es mit der Arbeit gegangen?‹

›Nicht allzugut,‹ sagte der Sohn. ›Es war ein schwieriges Stück Land, das Ihr uns zu pflügen gegeben habt.‹ – ›Du kehrst dem Arbeitsfeld ja den Rücken,‹ sagte der Vater. ›Dreh dich einmal um, dann kannst du sehen, was du ausgerichtet hast! Es ist gar nicht so wenig, wie du glaubst.‹

Und als der Sohn sich umwandte, sah er, daß sich dort, wo er mit seinem Pflug gegangen war, herrliche Täler mit Seen und schönen, bewaldeten Berghängen gebildet hatten. Er war ein gutes Stück durch Dalsland und die Nordmark in Värmland hindurchgekommen und hatte den Laxsee und den Lelangen und den Großen See und die beiden Silarna durchgepflügt, so daß der Vater allen Grund hatte, mit ihm zufrieden zu sein.

›Jetzt wollen wir einmal hingehen und sehen, was die anderen geschafft haben,‹ sagte der Vater. Der nächste von den Söhnen, zu dem sie kamen – es war der fünfte in der Reihe – hatte den ganzen Jösser Bezirk und den Glasfjord umgepflügt. Der dritte Sohn hatte den Värmele gepflügt, der älteste das Frykstal und den Tryksee, der zweitälteste das Älftal mit dem Klarelf. Der vierte hatte harte Arbeit im Bergwerkdistrikt gehabt und hatte den Yegen und den Daglösee außer einer Menge anderer kleiner Seen gepflügt. Der sechste hatte eine gar wunderliche Furche gezogen. Zuerst hatte er den Platz für den großen See Skagern geschaffen, dann hatte er eine schmale Furche gepflügt, die der Leteelf ausfüllte, und schließlich war er über die Grenze gekommen und hatte die kleinen Seen in dem Westmanländischen Bergwerkdistrikt herausgegraben.

Als der Vater das Pflugland gesehen hatte, sagte er, soweit er es beurteilen könne, hätten sie alle ein so gutes Stück Arbeit vollbracht, daß er damit zufrieden sein könne. Jetzt sei das Land keine Wildnis mehr, jetzt könne man darin leben und es bebauen. Sie hätten viele fischreiche Seen und fruchtbare Täler geschaffen; Elfe und Bäche bildeten Wasserfälle, die Mühlen, Sägewerke und Schmieden treiben könnten. Auf den Bergrücken zwischen den Furchen sei Platz zu Wäldern, wo Holz gefällt und Kohlenbrennerei betrieben werden könne, und nun sei auch die Möglichkeit vorhanden, geebnete Wege zu den großen Erzlagern in dem Bergwerkdistrikt anzulegen.

Die Söhne freuten sich, als sie dies alles hörten, aber nun wollten sie auch gern wissen, wessen Furche die beste sei.

›In einem Pflugland, wie dies hier,‹ sagte der Vater ›ist es von größerer Bedeutung, daß alle Furchen gut zueinander passen, als daß die eine besser ist als die andere. Ich glaube, wer zu den großen, langen Seen in der Nordmark und im Dalsland kommt, wird einräumen, daß er selten etwas Schöneres gesehen hat. Aber wenn er hernach die lichten, fruchtbaren Gegenden rings um den Glafsfjord und den Värmlen sieht, wird er sich doch freuen. Und wenn er sich dann eine Weile in den offenen, betriebsamen, betauten Gegenden aufgehalten hat, wird es ihm ein Vergnügen sein, sie mit den langen, engen Tälern am Fryken und Klarelf zu vertauschen. Und sollte er auch dieser überdrüssig werden, so wird es ihn erfrischen, die verschieden geformten Seen im Bergwerkdistrikt anzutreffen, die sich dahinschlängeln und deren so viele sind, daß niemand alle die Namen behalten kann. Nach diesen Seen mit ihren zahlreichen Buchten und Landzungen wird ihm eine so große Wasserfläche wie die der Skagern sicher eine freudige Überraschung sein. Und nun will ich euch sagen, wie es mit den gepflügten Furchen, so geht es auch mit den Söhnen: Kein Vater freut sich, wenn der eine besser ist als die anderen. Kann er aber mit gleicher Freude seinen Blick von dem Jüngsten bis zu dem Ältesten schweifen lassen, so ist sein Herz voller Freude.«

XL. In Medelpad

Freitag, 17. Juni.

Am nächsten Morgen waren der Adler und Niels Holgersen in aller Frühe unterwegs, und Gorgo hoffte, daß er an diesem Tage weit nach Västerbotten hinaufkommen würde, aber da geschah es, daß er den Jungen zu sich selbst sagen hörte, in so einem Lande wie dies, über das er nun hinfliege, müsse es doch für Menschen unmöglich sein zu leben.

Das Land, das unter ihnen lag, war das südliche Medelpad, und sie sahen nicht das Geringste weiter als wilde Wälder. Sobald aber der Adler hörte, was Niels sagte, rief er sofort: »Hier oben ist der Wald der Äcker!«

Der Junge dachte darüber nach, welch großer Unterschied doch sei zwischen den hellen, gelben Roggenfeldern mit ihren weichen Halmen, die in einem Sommer in die Höhe schossen, und dem dunklen Nadelwald mit den harten Stämmen, die Jahre brauchten, ehe sie zur Ernte reiften. »Der muß eine gute Geduld haben, der sein Auskommen von so einem Acker haben will,« sagte er.

Mehr wurde nicht gesprochen, bis sie an einen Ort kamen, wo der Wald gefällt und die Erde nur mit Baumstümpfen und abgehauenen Zweigen bedeckt war. Als sie über dies Stoppelfeld hinflogen, hörte der Adler den Jungen zu sich selbst sagen, das sei doch eine schrecklich häßliche und armselige Gegend.

»Das ist ein Acker, der im letzten Winter gemäht wurde,« rief der Adler sofort.

Der Junge dachte daran, wie die Schnitter in seiner Heimat an den schönen, hellen Sommermorgen mit ihren Mähmaschinen hinausfuhren und in ganz kurzer Zeit ein Feld mähten. Aber der Waldacker wurde im Winter gemäht. Wenn der Schnee den Erdboden hoch bedeckte und die Kälte am strengsten war, zogen die Holzfäller in das Ödland hinaus. Es war ein hartes Stück Arbeit, nur einen einzigen Baum zu fällen, und um eine Waldstrecke, so groß wie diese, zu fällen, mußten sie sicher mehrere Wochen draußen im Walde gelegen haben. »Es müssen tüchtige Leute sein, die einen solchen Acker mähen können,« sagte er.

Nachdem der Adler ein paar Flügelschläge gemacht hatte, gewahrten sie eine kleine Hütte, die am Rande des gefällten Waldes lag. Sie war aus groben, unbehauenen Baumstämmen gebaut, hatte keine Fenster und als Tür nur ein paar lose Bretter. Das Dach war mit Baumrinde und Zweigen gedeckt gewesen, es war jetzt aber eingefallen, so daß der Junge sehen konnte, daß drinnen in der Hütte nur ein paar große Steine waren, die als Herd gedient hatten und einige breite, hölzerne Bänke. Als sie über die Hütte hinflogen, hörte der Adler den Jungen sich darüber wundern, wer wohl in einer so elenden Hütte gewohnt haben könne.

»Die Schnitter, die den Waldacker gemäht haben, sie haben hier gewohnt!« rief der Adler sogleich.

Der Junge dachte daran, wie die Schnitter daheim in seiner Gegend am Abend fröhlich und vergnügt von der Arbeit heimkehrten, und wie ihnen das Beste aufgetischt wurde, was seine Mutter in der Speisekammer hatte. Hier mußten sie sich nach der harten Arbeit in einer Hütte zur Ruhe legen, die schlechter war als ein Schuppen. Und was sie hier zu essen bekamen, das konnte er wirklich nicht begreifen. »Ich fürchte, für diese Schnitter werden keine Erntefeste gefeiert!« sagte er.

Etwas weiter hin sahen sie unter sich einen schrecklich schlechten Weg, der sich durch den Wald schlängelte. Er war schmal und schief, uneben und winklig, steinig und voller Löcher und an mehreren Stellen von Bächen durchschnitten. Als sie über den Waldweg hinflogen, hörte der Adler, daß sich der Junge darüber wunderte, was wohl auf einem solchen Wege gefahren sein könne.

»Auf diesem Wege ist die Ernte in Schober gefahren,« sagte der Adler.

Wieder konnte der Junge nicht umhin daran zu denken, welch munteres Leben es daheim war, wenn die großen, mit zwei starken Pferden bespannten Erntewagen, das Korn vom Felde nach Hause brachten. Der Knecht, der fuhr, saß kerzengerade oben auf dem Fuder. Die Pferde warfen sich stolz in die Brust, und die Kinder, die Erlaubnis bekommen hatten, auf das Fuder hinaufzuklettern, saßen da oben und schrien laut, halb fröhlich, halb ängstlich. Hier aber wurden schwere Baumstämme auf steilen Hügeln hinauf und hinunter gefahren. Die Pferde mußten sich wie gerädert fühlen, und der Kutscher war gewiß manch liebes Mal in heller Verzweiflung! »Ich fürchte, man hört nicht viel muntere Reden hier auf diesem Wege,« sagte der Junge.

Der Adler schwang sich mit mächtigen Flügelschlägen durch die Luft, und nach einer Weile langten sie am Ufer eines Elfs an.

Hier sahen sie einen Platz, der ganz mit Spänen, Holzstücken und Baumrinde bedeckt war. Der Adler hörte, wie sich der Junge darüber wunderte, daß es dort unten so unordentlich aussah.

»Hier hat die Ernte in Schobern gestanden,« rief der Adler.

Der Junge dachte daran, wie die Kornschober daheim in seiner Gegend dicht neben den Höfen errichtet wurden, als seien sie ihre beste Zier. Hier fuhr man die Ernte an ein einsames Flußufer hinab und ließ sie da liegen. »Ich möchte wohl wissen, ob wohl jemand hier in die Wildnis hinauskommt und seine Schober zählt und sie mit denen des Nachbars vergleicht!« sagte er.

Nach einer Weile kamen sie an den großen Elf Ljungan, der in einem breiten Tal floß. Und wie mit einem Schlage war alles so verwandelt, daß sie hätten glauben können, sie seien in ein anderes Land gekommen. Der Nadelwald war auf den steilen Hügeln oberhalb des Tals zurückgelassen, und die Abhänge waren mit weißstämmigen Birken und mit Pappeln bewachsen. Das Tal war so breit, daß sich der Elf an vielen Stellen zu einem See erweitern konnte. Die Ufer waren mit großen, stattlichen Höfen dicht bebaut. Als sie über das Tal hinflogen, hörte der Adler, wie sich der Junge darüber wunderte, daß die Wiesen und Felder, die da lagen, für eine so große Bevölkerung ausreichen konnten.

»Hier wohnen die Schnitter, die den Waldacker mähen,« sagte der Adler.

Der Junge dachte an die niedrigen Häuser und die eng zusammengebauten Höfe in Schonen. Hier wohnten die Bauern gleichsam auf Herrenhöfen. »Es scheint, als lohne sich die Arbeit im Walde gut,« sagte er.

Der Adler hatte beabsichtigt, nordwärts, quer über den Ljungan zu fliegen, aber als er eine Strecke über den Elf hinausgekommen war, hörte er, wie der Junge sich darüber wunderte, wer sich wohl der gefällten Baumstämme annehme, nachdem sie am Flußufer in Schobern aufgeschichtet waren. Da machte Gorgo kehrt und flog in östlicher Richtung den Fluß hinab. »Der Elf nimmt sich der Baumstämme an und führt sie nach der Mühle hinab,« sagte er.

Der Junge dachte daran, wie sorgfältig man daheim acht gab, daß auch nicht ein Korn verloren ging. Hier kamen nun die großen Mengen gefällter Baumstämme den Elf hinabgeschwommen, ohne daß jemand für sie sorgte. Er war überzeugt, daß nicht mehr als die Hälfte davon anlangte, wohin sie sollten. Einige schwammen mitten in der Stromfurche, und für die ging es ganz leicht, aber da waren andere, die am Ufer entlang trieben, und die stießen gegen Landzungen an, oder sie blieben in dem stehenden Wasser der Buchten liegen. In den Seen sammelten sich die Baumstämme zu solchen Mengen, daß sie die ganze Oberfläche bedeckten. Es sah so aus, als könnten sie da liegen und sich ausruhen, so lange sie wollten. An den Brücken stauten sie sich zuweilen, und in den Wasserfällen konnte es wohl geschehen, daß sie mitten durch brachen, in den Gießbächen gerieten sie zwischen den Steinen in die Klemme und türmten sich zu hohen, wackelnden Stapeln auf. »Ich möchte wohl wissen, wie lange diese Ernte gebraucht, um bis zur Mühle zu kommen,« sagte der Junge.

Der Adler flog langsam am Ljungan entlang. An vielen Stellen ruhte er auf den Flügeln, damit der Junge Zeit hatte zu sehen, wie die Erntearbeit hierzulande vor sich ging.

Als sie eine Strecke geflogen waren, kamen sie an einen Platz, wo die Flößer arbeiteten. Und der Adler hörte den Jungen zu sich selbst sagen, was das Wohl für Leute seien, die dort am Ufer entlang liefen.

»Die sorgen für das Getreide, das unterwegs aufgehalten ist,« rief der Adler.

Der Junge dachte daran, wie ruhig und still die Leute ihr Korn daheim zur Mühle fuhren. Hier mußten Männer mit langen Bootshaken in den Händen am Ufer entlang laufen, und nur mit Not und Mühe brachten sie die Baumstämme wieder flott. Sie wateten ins Wasser hinaus und sie wurden von Kopf zu Fuß naß. Sie sprangen von Stein zu Stein weit in die Gießbäche hinein, sie spazierten auf den schaukelnden Baumstämmen so ruhig umher, als bewegten sie sich auf ebener Erde. Es waren kühne und umsichtige Männer. »Wenn ich dies sehe, muß ich an die Schmiede im Bergwerkdistrikt denken, die mit dem Feuer umgingen, als könne es nicht den geringsten Schaden anrichten,« sagte der Junge. »Diese Flößer spielen mit dem Wasser, als seien sie Herren darüber. Es sieht so aus, als hätten sie es unterjocht, so daß es ihnen nichts mehr anzuhaben wagt.«

Nach einer Weile hatten sie sich der Mündung des Elf genähert, und vor ihnen lag der Bottnische Meerbusen. Gorgo flog jedoch nicht geradeaus, sondern in nördlicher Richtung am Ufer entlang. Er war noch nicht weit geflogen, als sie unter sich ein Sägewerk sahen, das so groß war wie eine kleine Stadt. Während der Adler darüber hin und her schwebte, hörte er den Jungen zu sich selbst sagen, daß das ein großer und prächtiger Ort sei.

»Hier siehst du die große Sägemühle, die Svartrik heißt,« sagte der Adler.

Niels Holgersen dachte an die Windmühlen in seiner Heimat, die so friedlich mitten im Grünen lagen und ihre Flügel ganz langsam bewegten. Diese Mühle, wo die Waldernte gemahlen werden sollte, lag dicht am Ufer. Auf der See davor schwammen eine Menge Baumstämme, die einer nach dem andern mit eisernen Ketten eine schräge Brücke hinauf und in ein Haus geschleppt wurden, das einer großen Scheune glich. Was da drinnen mit ihnen geschah, konnte Niels nicht sehen, aber er hörte ein lautes Klappern und Bullern, und auf der andern Seite des Hauses kamen kleine, mit weißen Brettern hochbeladene Wagen herausgerollt. Die Wagen liefen auf blanken Schienen nach dem Zimmerplatz, wo die Bretter zu Stapeln aufgeschichtet wurden, die Straßen bildeten, so wie die Häuser in einer Stadt. An einer Stelle wurden neue Stapel gebaut, an einer andern Stelle wurden die alten heruntergerissen, und die Bretter an Bord von ein paar großen Schiffen geschafft, die da lagen und auf Ladung warteten. Es wimmelte hier von Arbeitern, und hinter dem Zimmerplatz lagen die Häuser, in denen sie wohnten.

»Hier wird ja so gearbeitet, daß der ganze Wald in Medelpad schließlich zersägt werden wird!« sagte der Junge.

Der Adler bewegte die Flügel ein wenig, und bald sahen sie ein neues, großes Sägewerk, das mit Sägemühle, Zimmerplatz, Hafenmole und Arbeiterwohnungen dem ersten ganz ähnlich war.

»Hier siehst du noch eine von den großen Mühlen. Sie heißt Kubikenburg,« sagte der Adler.

»Ich sehe, der Wald gibt mehr Ertrag, als ich mir vorstellen konnte,« sagte Niels. »Aber mehr Holzmühlen gibt es doch wohl nicht?«

Der Adler bewegte leise die Flügel und flog an ein paar Sägewerken vorüber, bis sie an eine große Stadt gelangten. Als der Adler hörte, wie sich der Junge darüber wunderte, was für eine Stadt das wohl sein könne, rief er ihm zu: »Das ist Sundsvall. Das ist der Hauptplatz des Bezirks.«

Der Junge dachte an die Städte unten in Schonen, die so alt und ernsthaft und grau aussahen. Hier oben in dem kalten Norden lag Sundsvall ganz drinnen in einer schönen Bucht und sah so lustig und strahlend aus. Es lag etwas weit Vergnüglicheres über dieser Stadt, wenn man sie von oben sah, denn in der Mitte ragte eine Gruppe hoher, steinerner Häuser auf, so prächtig, daß sie kaum in Stockholm ihresgleichen haben konnten. Rings um die steinernen Häuser herum war ein leerer Raum, und dann kam ein Kranz von hölzernen Häusern, die so traulich und freundlich inmitten kleiner Gärten lagen, jedoch ganz genau zu wissen schienen, daß sie viel geringer waren als die steinernen Gebäude, so daß sie sich nicht in ihre Nähe hinwagen durften. »Dies ist wohl eine reiche und mächtige Stadt,« sagte Niels. »Es ist doch nicht möglich, daß der magere Waldboden dies alles hervorgebracht haben kann?«

Der Adler bewegte die Flügel und flog nach der Insel Alnö hinüber, die Sundsvall gerade gegenüber lag. Hier geriet der Junge ganz außer sich vor Verwunderung über alle die Sägewerke, die dort am Ufer entlang lagen, eins neben dem andern, und drüben auf dem Festlande lag auch Sägewerk neben Sägewerk; Zimmerplatz neben Zimmerplatz. Er zählte mindestens vierzig, aber er glaubte, daß es noch mehr seien. »Es ist doch sonderbar, daß es hier oben so aussehen kann,« sagte er. »So ein Leben und so eine Bewegung habe ich sonst nirgends auf der ganzen Reise gesehen. Unser Land ist doch ein wunderbares Land! Wohin ich auch komme, überall ist da etwas, wovon die Menschen leben können!«