Alräunchen


Alräunchens Geburt

Es war ein trüber Regentag, als Alräunchen geboren wurde. Es war kein Landregen, von dem man Gutes erhofft. Es war ein nasser kalter Nebel, der alle Farben löscht und alle Konturen verwischt. Es war im Februar und Karnevalszeit, und durch den Nebel huschten Masken.

Alräunchen lag in den Kissen, wimmerte und sah scheußlich aus. Drei Ärzte standen dabei und sprachen lateinisch. Zum Schluß meinten sie einstimmig, das Kind wäre ein »Fall« und für die Lebensfähigkeit könnten sie nicht garantieren. Die Eltern waren sehr betrübt. Es ist nicht angenehm, einen »Fall« zum Kind zu haben. Kinder sollen hübsch normal sein. Nur tut man meistens nichts dazu im eigenen Leben. Man schließt Ehen standesgemäß und portemonnaiegemäß und nennt das Gottes Willen. Die Natur hat sich danach zu richten. Das tut sie aber nicht. Deshalb ist die Natur auch nicht anständig, und man verhüllt sie, wo es irgend angeht. Das Verhüllen nennt man Sittlichkeit. Aus dem, was man Gottes Willen nennt, und aus dem, was man Sittlichkeit nennt, baut man das menschliche Leben auf. Es hält auch wunderschön, solange alles hübsch normal ist. Nur, wenn die unanständige Natur sich meldet, reißt der Damm. Woraus man zu ersehen hat, daß alles schön normal sein soll, daß man die Natur als unanständig auszuschließen hat und alles so zu sein hat, wie es getauft ist.

Alräunchen war also nicht normal, und darum wußte man auch nicht recht, wie man ihn taufen sollte. Ich sage«ihn«, dann Alräunchen war ein Knabe, vorausgesetzt, daß er am Leben blieb, was die Ärzte mit lateinischen Worten lebhaft in Zweifel zogen.

Die Verwandten standen auch herum und trösteten mit der bekannten großen und innigen Verwandtenliebe, die daher kommen soll, daß man denselben Namen trägt, und sagten, es könne doch noch etwas daraus werden. Man könne nie wissen und es hätte schon Fälle gegeben, wo … Sie erzählten die Fälle.

Es war sehr liebevoll von ihnen; denn im stillen waren sie fmh, daß ihnen der »Fall« nicht passiert war. Schließlich faßte man sich allerseits und gab Alräunchen auch einen Namen. Aber der kommt für uns nicht in Frage. Wir wollen ihn so nennen, wie er den Leuten erschien, als Alräunchen.

Alräunchen ist ein Wechselbalg, ein Wurzelmännchen, das ganz tief in der Erde wurzelt und zum Wechselbalg wird, wenn man die Wurzeln aus der Erde herausreißt.

Dann zogen feinfühlige Verwandte den Vorhang der Wiege rücksichtsvoll zu, und Alräunchen blieb im Dämmerlicht seiner ersten Lebensstunde.

Draußen regnete es, und die Masken huschten durch den Regen. Drinnen war es still. Die Uhr tickte leise, und ein großer Kater schnurrte am Ofen.

Schießlich stand der Kater auf, schlich leise zur Wiege und schob den Vorhang behutsam mit der Pfote beiseite. Sein Schnurrbart sträubte sich tastend nach vorne, und er beäugte und beschnüffelte das Etwas in den Kissen mit genauester Sachkenntnis.

»Nein, das ist kein Mensch«, sagte er anerkennend, »das ist so etwas von uns, aber doch nicht ganz. Es ist sehr merk. würdig. Ich will mal sehen, was daraus wird.« Da griff die Kinderhand nach der Pfote des Katers und hielt sie fest.

Das war Alräunchens erste Freundschaft.

Die Ansichten des Nußknackers

»Die Hauptsache im Leben ist, daß man alles zerbeißt und immer sauber zwei Schalen und einen Kern ausspuckt«, sagte der Nußknacker und sah Alräunchen aus seinen wasserblauen Augen herausfordernd an.

Alräunchen war kein Baby mehr, sondern ein kleiner Knabe, und hatte den Nußknacker zu Weihnachten bekommen. Er hatte mitten unter dem Lichterglanz der Tanne gestanden, hatte eine bunte Uniform und einen Zopf gehabt und ausnehmend grimmig ausgesehen. Seine Uniform, der lange Zopf und die Grimmigkeit nahmen seine ganze kleine Person immer völlig in Anspruch.

Alräunchen liebte ihn in seiner Weise, wie alles, was seiner Obhut anvertraut war. Aber die Uniform und der Zopf gefielen ihm nicht, und die hölzerne Würde fand er komisch. Alräunchen war eben kein normales Kind. Noch immer nicht, wie die Verwandten sagten.

»Jawohl«, sagte der Nußknacker und knackte ordentlich mit der Kinnlade, »immer zerbeißen und ausspucken. Dann weiß man, woran man ist. Du bist natürlich wieder anderer Ansicht«, schloß er vorwurfsvoll.

»Alles kann man nicht zerbeißen«, sagte Alräunchen nachdenklich.

Der Nußknacker griff empört an seinen Zopf.

»Natürlich kann man das«, schrie er, »ich kann es wenigstens und alle, die eine Uniform und einen Zopf haben und solch einen Mund wie ich!«

Alräunchen schüttelte den Kopf. Er dachte an die Nächte, in denen er mit wachen Augen dagelegen und Dinge gesehn hatte, die nicht greifbar waren. Denn Alräunchen sah die Seelen der Dinge und hörte lautlose Stimmen flüstern. Oh, die Kommode hatte neulich so schön aus der Großmutterzeit erzählt und so komische Gesten dazu gemacht mit den zierlichen Rokokobeinchen, und der Teekessel hatte immer die Schnauze auf- und zugeklappt und hatte dazwischenchen, bis die Kommode pikiert geschwiegen hatte. Später

hatten dann Schatten im Zimmer gesessen, schwache, wahrnehmbare Gestalten mit Kleidern wie aus Spinnweb, und hatten ganz so ausgesehen, wie die Kommode es geschildert hatte. Sie hatten auf die alte Standuhr gezeigt und sich zugenickt … Oh, soviel hatte Alräunchen gesehen, wenn er es auch noch nicht verstehen konnte.

Es sind traurige Augen, die das sehen. Es sind Alräunchenaugen. Sie sind selten, wie die Alräunchen selten sind. Das ist ein großes Glück; denn wo blieben sonst die Uniformen und die Zöpfe, die normale Sittlichkeit und all das, was die Menschen Gottes Willen nennen – wenn viele mit den traurigen Augen hinter die Dinge sehen würden?

»Nein, alles ist nicht greifbar«, sagte Alräunchen, »es gibt viel, viel mehr als das, was man greifen kann. Das Greifbare ist nur so nebenbei. Es ist nicht das Eigentliche.«

»Das ist Unsinn!« schrie der Nußknacker und wurde noch röter, als er sonst war. »Was nicht greifbar ist, kann man nicht zerbeißen und ausspucken, also ist es gar nicht da. Das ist die einzig wahre Weisheit. Das ist exakt.«

Er spuckte zwei Nußschalen und einen Kern aus, gerade vor Alräunchens Füße. Es war wie ein ausgespuckter Beweis. Alräunchen schob die Schalen beiseite und aß den Kern auf. –Was war im Kern?« fragte er.

»Wie soll ich das wissen, wenn du ihn verschluckt hast?« brüllte der Nußknacker wütend, »du bist ein dummer Junge!«

Das war auch ein Beweis und sogar ein sehr üblicher und beliebter. Alräunchen hatte ihn schon oft von anderen gehört, in der Schule und zu Hause, wenn er nach solchen Dingen fragte.

Der Nußknacker sah ein, daß er zu weit gegangen war. Er kriegte so viele Nüsse von Alräunchen und wurde abends immer sorgsam in ein kleines Bett gelegt, in dem er behaglich die hölzernen Beine ausstrecken konnte. Das war nötig. Denn es ist viel ermüdender, auf hölzernen Beinen zu stehen als auf beweglichen.

Er beschloß also, einzulenken.

»Es würde dir überhaupt viel besser gehen, sagte er, »und du würdest nicht überall anstoßen und dir Beulen holen, wenn du hübsch und hölzern wie ich auf einem Fleck stehenbleiben würdest, statt dich auf allerlei Gebieten herumzutreiben. Man muß immer auf einem Fleck stehen. Dann passiert einem nichts. Man stört niemand und wird nicht gestört, weil alle wissen: auf dem Fleck steht der Nußknacker, da gehe ich nicht hin, sonst trete ich ihn, und er brüllt mich an. Das ist ganz einfach…«

»Wenn ich aber doch drauf trete – auf dich natürlich nicht – aber zum Beispiel überall dahin, wo sonst Nußknacker sind?«

»Das tut niemand, der vernünftig ist. Denn wer vernünftig ist, sitzt auf einem Fleck und rührt sich nicht.«

»Ich tu’s aber«, sagte Alräunchen eigensinnig, »was dann?«

»Dann schnappen alle Nußknacker nach dir.«

Alräunchen lachte selig. »Huh – muß das komisch aussehen!«

»Sei nicht frech, weißt du«, sagte der Nußknacker, »das geht über den Zopf, verstehst du, das ist Revolution.«

Alräunchen wußte nicht, was Revolution war. Er dachte, es könne nicht schlimm sein, wenn es nur an den Zopf geht. Alräunchen war ein Kind und wußte nicht, wie fest die Köpfe an den Zöpfen hängen und daß es oft Blut kostet, wenn die Zöpfe abgeschnitten werden.

»Nein, das ist nichts«, fuhr der Nußknacker fort, »du mußt immer auf dem Fleck bleiben, wo man dich hingestellt hat. Das ist die einzig wahre Weisheit.«

»Ich möchte in die Ferne«, sagte Alräunchen und sah mit den traurigen Alräunchenaugen in die Abenddämmerung.

»Was ist das – Ferne?« sagte der Nußknacker mißbilligend. »Kannst du die Ferne greifen? Nein. Also ist sie nicht da. Nur der Fleck ist da, auf dem du mit den hölzernen Beinen stehst.«

»,Ich sehe die Ferne«, sagte Alräunchen, »ich sehe viele, viele Fernen – ich möchte zu allen hin. Es muß schön sein. Ich möchte wissen, was dahinter ist …«

Was nützt das?« sagte der Nußknacker, »kannst du das zerbeißen und ausspucken?«

»Nein«, sagte Alräunchen etwas kleinlaut.

Denn die Fernen waren sehr, sehr fern, wie ihm schien. Es mußte ein weiter Weg sein, viel weiter, zum Beispiel, als bis zur Stadt, wo Jahrmarkt war zur Johannisnacht. Da konnte man schon nicht zu Fuß hingehen. Jedenfalls war es nicht glaublich. Aber die Fernen, die lagen noch weiter, viel, viel weiter …

»Siehst du«, sagte der Nußknacker befriedigt, »bleibe nur immer hübsch auf demselben Fleck! Eine Uniform mußt du auch tragen und einen Zopf, dann siehst du aus wie alle anderen .Leute, und keiner tritt dich. Das ist die einzig wahre Weisheit.«

»Aber sind denn alle auf der Welt Nußknacker?« fragte Alräunchen.

»Natürlich. Was denn sonst?« sagte der Nußknacker und stellte sich besonders gewaltig auf die steifen hölzernen Beine. »Natürlich. Wenigstens die Vernünftigen. Die anderen kommen gar nicht in Frage. Das ist ein großes Glück. Man müßte ja sonst immer weiter vorwärtsgehen und würde geschubst werden. Ich danke! Man müßte ja vom Fleck gehen, und der Fleck ist so warm, wenn man immer drauf ist.«

Er spuckte die Nußschalen nur so um sich.

»Ich will aber nicht«, dachte Alräunchen und sah in die Abenddämmerung, bis dahinaus, wo sie sich in unbestimmten Linien verlor – in der Ferne …

Müffchen

Alräunchen saß beim Kater in der Sonne.

Die beiden hatten sich sehr lieb und waren immer zusammen, wenn der Kater nicht auf Mausefang oder sonst beruflich verhindert war.

Er hatte auch Alräunchen in alle Geheimnisse der Tierwelt eingeweiht, soweit er sie kannte und soweit er diese Kenntnis Alräunchen zu vermitteln für richtig hielt. Denn obwohl Alräunchen ein halbes Tier war, so war er doch auch ein Mensch und entwickelte sich mit menschlicher Langsamkeit. Also mußte das alles mit behutsamer Pfote geschehen, und eine solche hatte der Kater. Er war überaus klug und selbst unter diesen philosophischen Tieren ein Philosoph. Vor allem aber hatte er Alräunchen lieb, und Liebe führt noch sicherer und besser als Philosophie.

»Ich fühle mich fremd hier«, sagte Alräunchen traurig und kraulte den Kater hinter dem Ohr.

Der Kater blinzelte mit zugekniffenen Augen in die Sonne.

»Du wirst immer fremd sein«, sagte er mitleidig, »du siehst die Natur anders als die Menschen. Du fühlst dich eins mit ihr. Die Menschen glauben, sie stünden drüber. Sie müssen doch zurück zu ihr. Irgendwo führen alle Mäuselöcher ins Freie, wenn sie noch so kunstvoll und verzweigt sind. Es ist sportsmäßig ausgedrückt, entschuldige! Aber es ist ganz ähnlich.«

Alräunchen sah sehr traurig aus.

»Du mußt dich deswegen nicht grämen«, fuhr der Kater fort und schnurrte beruhigend, »du bist ja kein richtiger Mensch.« »Was bin ich denn?« fragte Alräunchen. »Das weiß ich nicht«, sagte der Kater, »wahrscheinlich bist du ein Alräunchen. Ich weiß auch nicht alles. Nur die Menschen denken, daß sie alles wissen.«

»Ich möchte in die Ferne«, sagte Alräunchen, »da würde ich es gewiß erfahren. Aber der Nußknacker sagt, es gäbe gar keine Ferne.«

»Der Nußknacker ist ein Stück Holz«, sagte der Kater.

»Aber er spricht doch und schimpft sogar. Er sagt ›dummer Junge‹. Er zerbeißt Nüsse und spuckt sie aus. Darauf ist er sehr stolz. Er hat eine Uniform«, wandte Alräunchen ein. »Viele Holzstücke haben Uniform«, sagte der Kater. Alräunchen gab weitere Details. »Er streckt die Beine, wenn ich ihn ins Bett stopfe. Es knackt dann. Ich habe es deutlich gehört. Ganz gewiß. Er lebt also. Nicht wahr?«

»Was man Leben nennt, ja«, sagte der Kater, »aber es ist eben ein Nußknacker, weiter nichts. Ein Stück Holz, aus dem man eine Figur geschnitzt hat.«

»Der Lehrer in der Schule macht es aber ganz ebenso«, sagte Alräunchen, »er sagt auch: Das gibt’s, und das gibt’s nicht. Wenn man mehr fragt, sagt er auch: Dummer Junge! Der ist aber doch kein Nußknacker? Er ist auch nicht von Holz.«

Der Kater machte ein arrogantes Gesicht, so arrogant, wie es nur Katzen machen können.

»Man braucht nicht von Holz zu sein, um ein Nußknacker zu sein.«

Alräunchen dachte nach.

Seine traurigen Augen waren weit und sehnsüchtig geöffnet.

Er faßte die beiden Vorderpfoten des Katers und sah ihm gerade ins Gesicht.

habe dich immer sehr lieb gehabt, solange ich denken kann«, sagte er. »Bist du in der Ferne gewesen? Dann sage mir, wie man in die Ferne kommt!«

Da verlor sich das Grasegrün in des Katers Augen. Die kleinen Augenschlitze erweiterten sich, und die Pupillen wurden dunkel und tief, als lägen lauter Rätsel dahinter. Er setzte sich groß und dick vor Alräunchen hin und sagte in feierlich mauendem Ton: »Ich wußte, daß du mich danach fragen würdest. Ich werde es dir sagen. Denn du mußt den Weg in die Ferne gehen, weil deine Augen sie suchen. Man sieht das immer an den Augen – bei meiner Übung natürlich. Bis jetzt durfte ich es dir nicht sagen. Du warst noch nicht reif dazu.« »Ich bin ja auch jetzt noch ein Kind«, sagte Alräunchen zweifelnd.

»Kinder finden es oft leichter als Erwachsene«, sagte der Kater, »man findet es, wenn man danach sucht. Man ist reif, wenn man danach fragt.«

Ein verklärtes Lächeln ging über Alräunchens Gesicht, das blaß war vom Nachdenken.

»In die Ferne kann ich dich nicht führen, die muß man selber suchen«, fuhr der Kater fort, »nur den Eingang kennen wir. Es ist ein großes Geheimnis. Die Menschen haben es gewußt. Jetzt haben sie es verlernt. Aber früher, weißt du, in den Isistempeln, als sie uns noch heilig hielten und in allen Geschöpfen den Bruder sahen – da, wo die Pyramiden auf dem gelben Sand stehen und die Palmen in der Sonnenglut – es war ein heiliges Land –, da kannten sie das Geheimnis.«

»Von dem Land hast du mir erzählt«, nickte Alräunchen.

»Jetzt wissen es nur wenige. Die Menschen sagen jetzt, sie stünden drüber. Sie sind Nußknacker. Aber ich weiß es. Ich war auch in dem Land – durch den Eingang, verstehst du. Das Land sieht jetzt anders aus. Aber die Spuren sind noch da, welche die bronzenen Menschen in den Wüstensand gruben, die die Katzen liebten und das Geheimnis kannten.« Alräunchen schauderte zusammen.

»Dann lehre mich das Geheimnis!« bat er und sah in die klugen Tieraugen wie in einen Tempel.

»Du mußt dich nicht so aufregen«, sagte der Kater freundlich, »es ist ganz natürlich. Die Rätsel liegen nicht darin, sondern dahinter. Wir kennen sie nicht. Das ist das Menschliche in dir, das sich so aufregt. Das gibt sich. Die Menschen sind entwöhnt von allem, was Natur ist. Sie haben sich von ihr getrennt und klammern sich an das, was sie selbst ausgedacht haben. Sie hören die Stimme in sich nicht mehr.«

»Ich weiß es«, sagte Alräunchen, »aber bitte, sage mir das Geheimnis!«

»Sei nicht ungeduldig! Wenn du es kennst, brauchst du noch viel mehr Geduld. Du weißt doch, was Müffchen ist?«

»Ja«, sagte Alräunchen etwas enttäuscht, »wenn ihr euch so hinlegt, daß ihr ausseht wie eine Badewanne, und die Pfoten vorn so zusammenlegt, daß es aussieht wie ein Muff. Das ist Katzensitte, das hab‘ ich von dir gelernt. Aber was soll das? Das sieht niedlich aus. Aber das ist doch kein Geheimnis. Das seh‘ ich jeden Tag.«

»Alle Geheimnisse sind alltäglich. Man weiß es nur nicht. Das Geheimnis ist Müffchen. Die Menschen im Heiligen Lande nannten es Meditation. Du mußt also Müffchen machen – Müffchen.« Der Kater zeigte die Müffchenstellung, obwohl Alräunchen sie kannte. »Das andere kommt von selbst«, erklärte er.

»Ich kann aber nicht richtig Müffchen machen«, sagte Alräunchen und versuchte es vergeblich.

»Es muß nur so ähnlich sein«, tröstete der Kater, »du brauchst bloß deine Pfoten zu falten, wie du es tust, wenn du abends dein Gebet hersagst.«

»Ja, das kann ich«, sagte Alräunchen, »und das andere kommt dann von selbst? Dann komme ich also in die Ferne?«

»Nur zum Eingang«, belehrte der Kater, »heute abend versuchen wir es beide, wenn du zu Bett gegangen bist. Den Nußknacker mußt du aber in den Schrank einschließen.« Alräunchen war sehr froh.

»Wohin gehen wir zuerst? Ins Heilige Land mit den Isistempeln?«

»Nein«, sagte der Kater, »ich kann gar keine Verantwortung übernehmen. Erst gehen wir zum Eingang. Das Weitere sagt uns Habakuk.«

»Wer ist Habakuk?«

Ein Waldkauz, mit dem ich befreundet bin, aber nur müffchenweise.«

»So gehen wir zu Habakuk«, sagte Alräunchen, »hat er auch solche Laternenaugen wie die Eule im Tierbilderbuch?«

»Ja, die hat er.«

»Ich freue mich so, und ich danke dir«, sagte Alräunchen.

»Du brauchst mir nicht zu danken. Du hast mich lieb gehabt. Auf Wiedersehen am Abend! Ich habe jetzt noch beruflich zu tun.«

Der Kater schlich in eine Hecke, wo er etwas rascheln hörte.

Es war eine ganz stille Nacht in Alräunchens Schlafzimmer. Nur die Atemzüge eines Tieres und eines Menschenkindes waren hörbar, das kein richtiges Menschenkind war. Beider Atemzüge waren schwach und leise. Es war, als atmeten sie nur wie Pflanzen in nächtlicher Schwüle. Ihre Seelen waren fern.

Der Mond sah mit blassem Gesicht zum Fenster hinein. Er sah, was er schon vor abertausend Jahren gesehn: Meditation – Müffchen …

Habakuk

Alräunchen schlief nicht. Aber es war sehr ähnlich, als ob er einschlafen wollte. Ihm war es, als drehe sich ein Rad um ihn, ein großes Rad mit vielen, vielen Speichen. Immer schneller drehte es sich, man konnte schwindlig werden dabei.

Dann stand es still.

Alräunchen war es, als löse sich etwas von ihm los, das frei war, und als bliebe etwas von ihm zurück, das nicht frei war. Aber das, was frei war, war das Eigentliche.

Alräunchen ging auf grünem Waldboden. Er fühlte das weiche Moos deutlich unter seinen Füßen. Die Farnblätter raschelten. Ihre seltsamen Formen regten sich im Winde. Es war dunkel Walde, und doch war es hell. Es war, als leuchteten alle Gegenstände in sich und hätte jeder sein eigenes Licht. Es war sanft und schwach; aber doch sah man alles deutlicher als im Licht, das von außen auf die Dinge fällt. Alräunchen sah um sich.

Neben ihm ging der Kater.

Sie kamen an einem Nest vorbei. Kleine Flügel lagen reglos im Schlaf unter den Flügeln der Mutter.

»Jetzt sind wir gleich bei Habakuk«, sagte der Kater und blieb an einem hohlen Baumstamm stehen.

»Ist Habakuk zu Hause?« fragte er eine Kröte, die am Fuße des Baumes saß.

»Jawohl«, sagte die Kröte und kokettierte mit den Augen. Kröten sind voller Warzen, aber sie haben sehr schöne Augen.

»Bitte, melden Sie uns!« sagte der Kater von oben herab. Er hielt nichts von quabbeligen Leuten.

Die Kröte, die sich ihrerseits aus alten Katern nichts machte, kokettierte mit Alräunchen. Dann unkte sie etwas in den hohlen Baumstamm hinein. Es war eine Art Haustelefon; denn gleich darauf erschien Habakuk oben in einem Loch. Er sah aus wie ein Paket aus Federn, dem man Augen eingesetzt hat. Die Augen glühten.

»Guten Abend«, sagte der Kater, »erlaube, daß ich vorstelle: Alräunchen – Habakuk.« Er machte eine vollendete Pfotenbewegung. Das Paket verbeugte sich.

»Alräunchen möchte in die Ferne«, sagte der Kater, »er will dich fragen, wie man das am besten macht. Du bist so sehr klug.« Das Paket räusperte sich krächzend.

»Ja, ich möchte in die Ferne«, sagte Alräunchen, »ich will auch gerne weit gehen, wenn ich nur weiß, wohin ich gehen soll.«

Habakuk sah ihn mit seinen großen Augen lange an.

»So weit, wie du willst, bin ich niemals gewesen. So weit, wie du willst, wirst du auch kaum gehen können«, sagte er.

»Nimm’s mir nicht übel, lieber Habakuk«, sagte der Kater, »das sind Eulenrufe. Wir glauben auch gar nicht, daß du mit deinen rheumatischen Krallen sehr weit gelaufen bist. Wir wollen Anhaltspunkte, wo man sich einhaken kann. Verstehst du – mau!«

Habakuk warf Alräunchen ein grünes Blatt vor die Füße. »Was ihr wollt, steht auf allen Blättern zu lesen, den grünen und den verwelkten.«

»Ach, bitte, lies es mir vor!« bat Alräunchen. Habakuk kniff die Augen zusammen.

»Eigentlich vorlesen läßt sich das nicht. Der Weg beginnt bei den Schlafenden, steht drauf.«

»Er beginnt bei den Schlafenden«, wiederholte Alräunchen,

»was heißt das?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Habakuk, »dann führt er zu den

Wachenden, und von den Wachenden führt er in die Ferne.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Alräunchen.

»Glaubst du, daß ich es verstehe?« schrie Habakuk empört. »Sonst wäre es doch kein Geheimnis! Sei froh, daß du das weißt! Was brauchst du mehr zu wissen als eine Eule? So was muß man glauben! Du bist ein dummer Junge!« Das Paket verschwand wütend.

»Siehst du, er sagt dasselbe, was mir immer gesagt wird«, sagte Alräunchen gedrückt.

»Es ist ein unhöflicher Patron«, sagte der Kater, »er meint es nicht so. Er hat Rheumatismus.«

»Nun werde ich niemals die Ferne finden«, sagte Alräunchen traurig.

»Ja, da hilft nun weiter nichts«, tröstete der Kater, »es wird schon irgendwie gehen. Wir müssen eben suchen.«

»Ja, wir wollen suchen«, sagte Alräunchen.

Die Morgendämmerung spann ihre ersten Fäden ins Dunkel. Die Kröte hatte sich verkrochen. Im Vogelnest regten die Kleinen ihre Flügel unter den Flügeln der Mutter.

»Suchet, so werdet ihr finden«, sagte Alräunchen vor sich hin. Er hatte es in der Schule gelernt, aber er hatte es nicht verstanden. Es war wohl auch ein Geheimnis.

Es war sonderbar, daß es ihm nun so plötzlich einfiel. Am Ende war es das Geheimnis, das in die Ferne führte? … Hatte er es überhaupt gesagt? Ihm war, als sei es nicht seine eigene Stimme gewesen.

Er blickte sich scheu nach allen Seiten um. Es war niemand da.

Nur der Kater trottete neben ihm durch den Morgentau und hob vorsichtig die Pfoten. Es sah sehr komisch aus, und Alräundhen mußte lachen.

So glitt Alräunchen ins Menschenleben zurück. Er wachte in seinem Bett auf. Die Sonne schien ins Zimmer.

Der Kater saß und leckte sich die Pfoten.

Das Rad drehte sich wieder. Dann stand es still.

Alräunchen war ganz klein geworden. Er war mitten in der Erde. Dazu muß man erst ganz klein werden, sonst kann man nicht hinein. Drinnen konnte man ganz schön sehen, obgleich es in der Erde war. Es war ähnlich wie in der Nacht bei Habakuk. Die Dinge leuchteten in sich. Es war, als ob sie aus buntem Glas wären und von innen erleuchtet würden. Alräunchen stand an einem Stein. Es war ein durchsichtiger Kristall von bläulicher Farbe.

»Mir ist es hier zu tief«, sagte der Kater und schnupperte, »ich möchte an die Oberfläche. »Da müßten Feldmäuse sein.« Sein Schnurrbart sträubte sich.

Alräunchen hörte nicht hin. Er sah etwas, was er noch nie gesehen hatte. Der Stein bewegte sich. Kaum merklich erst. Jetzt ging es schneller. Der Stein wuchs. Er setzte lauter bläuliche durchsichtige Kristalle an. Einer war dem anderen so gleich, als wären sie in eine Form hineingewachsen, die nicht da war. Alräunchen wollte die Form suchen. Aber er fand sie nicht. Die neuen Kristalle regten sich wieder. Es war, als ob sie atmeten. Alräunchen kletterte an ihnen hoch. Der Kater folgte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie oben waren. Sie waren ja jetzt so klein geworden. Dabei war das Ganze nicht größer als der Stein in einem Ring.

Auf den Kristallen lag Erde. Sie war weich und warm. Der Kater scharrte darin mit den Pfoten. Er fand nichts als ein Samenkorn.

»Ich gehe jetzt an die Oberfläche«, sagte er, »die Sache mit dem Stein war ja sehr nett. Aber ich glaube, oben sind Feldmäuse. Ich höre da so leise trommelnde Schritte. Schade, daß ich hier nur in Meditation bin.«

Der Kater verschwand.

Das Trommeln kam aber nicht von oben. Es war hier unten im Samenkorn. Alräunchen hörte es deutlich. Es klopfte leise von innen an die Hülle. Die Hülle spaltete sich, und ein schwaches Flämmchen lohte auf. Alräunchen faßte sich ein Herz und tauchte hinein. Er hatte vollauf Platz darin. Er war ja so klein geworden. Das Flämmchen hatte seltsame Formen. Es war eine ganz richtige Zeichnung darin.

Jetzt krochen feine Wurzeln draus hervor und klammerten sich um den Kristall wie schwächliche Ärmchen. Nun hatten sie ihn eingesponnen und hielten sich daran fest.

Alräunchen freute sich. Er fand es sehr praktisch.

Mit einem Male wurde er emporgezogen. Er saß wie in einer engen Röhre, durch die noch viele tausend kleine Röhren liefen. Es arbeitete unaufhörlich darin wie in einer großen Wasserleitung. Alräunchen fühlte, wie er selbst immer stärker und dicker wurde und wie er immer höher gehoben wurde. Es war sehr schön – so, als ob man ganz tief aufatmet und der Druck um einen immer schwächer wird. Nur zog es so sonderbar in den Gliedern.

Dann war er wieder in lauter feine Tücher eingewickelt, die kühl waren und nach Rosen dufteten. Alräunchen wunderte sich. Aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er lebte und lebte doch nicht. Er sah auch nichts mehr. Er fühlte nur, daß er da war und daß es ruhig und erholend war.

Da falteten sich die kühlen feinen Tücher auseinander. Die Sonne schien herein, und Alräunchen rieb sich die Augen.

Ich habe geschlafen und geträumt, dachte er.

Alräunchen lag in einer Rose, die sich schaukelte.

Unten am Stamm saß der Kater und schnurrte.

»Ich habe keine Feldmäuse gefunden«, sagte er. »Ich habe mich wohl versehen. Das, was auf so leisen Sohlen ging, war nicht oben, sondern unten.«

Alräunchen kletterte vorsichtig auf den Boden hinab. »Es war alles sehr merkwürdig«, sagte er. »Wir wollen nach Hause gehen. Aber es war eigentlich ein recht kurzer Spaziergang.«

»Es ist ein sehr weiter Weg«, sagte eine Stimme neben ihm, »er scheint dir nur so kurz, weil du in die Ferne siehst.« Es war dieselbe Stimme, die sprach, als sie von Habakuk gingen in der Dämmerung. War es seine – war es eines anderen Stimme? Alräunchen wußte es nicht.

Da sah er jemand neben sich gehen. Es war ein stiller, ernster Mann mit guten, traurigen Augen, die in die Ferne sahen. Er war sehr einfach gekleidet. Um seinen Kopf war ein Schein von Licht. Alräunchen erschrak gar nicht. Es kam ihm sehr selbstverständlich vor. Er kannte den stillen Begleiter. Er wußte nur nicht, wann er ihn schon gesehen hatte. Einmal vielleicht, als er in die Ferne gesehn …

»Es war der Gang zu den Schlafenden«, sagte der stille Begleiter freundlich. »Sie schlafen. Aber sie träumen schon.« Alräunchen nickte und sah zu dem stillen Begleiter auf. Es war sonderbar. Der Mann bewegte die Lippen nicht, wenn er redete. Und doch redete er.

Es war ein Reden in der Stille. Das hatte Alräunchen noch nie gehört. Nun wußte er, daß es das gab. Er konnte es sich nicht erklären. Aber es beglückte ihn.

Alräunchens Gang zu den Wachenden

Das Rad drehte sich wieder. Dann stand es still.

»Es ist das Rad des Lebens«, sagte der stille Begleiter. Alräunchen sah ihn vor seinem Bett stehen und freute sich. »Das ist schön, daß du kommst«, sagte er, »ich will es gleich dem Kater sagen.«

»Den Kater wollen wir heute in Ruhe lassen«, sagte der stille Begleiter und strich dem schlafenden Tier behutsam über das feine Fell. »Heute müssen wir allein gehen. Für deinen Kater ist der Gang zu weit.«

»Es ist gewiß der Gang zu den Wachenden, von denen Habakuk erzählte, bevor er wütend wurde«, sagte Alräunchen und war sehr neugierig. »Für mich wird es auch gewiß nicht zu weit sein«, schloß er eifrig, »denn ich will ja in die Ferne.« Der stille Begleiter lächelte. Es war ein trauriges Lächeln. »Für dich ist der Weg auch zu weit«, sagte er, »wenigstens heute. Ich werde dich nur zum Anfang führen. Später gehst du ihn allein weiter. Er ist sehr mühsam. Stufe um Stufe. Am Ende ist die Ferne. Komm!«

Er nahm Alräunchen bei der Hand.

»Dann werde ich die Ferne doch noch sehen?« fragte Alräunchen glücklich.

Der stille Begleiter nickte mit dem Kopf. Es war ein Lichtschein um ihn.

»Einmal wirst du sie sehen«, sagte er.

Sie gingen nebeneinander. Es war Wildnis um sie. Es waren Blutspuren in der Wildnis.

Alräunchen freute sich nicht mehr, daß er mitgegangen war. Ein Raubtier strich an ihnen vorbei. Alräunchen konnte es nicht erkennen. Es war groß und stark und leckte sich hungrig die Schnauze. Seine Augen flatterten. Es schlich leise auf federnden Sohlen nach Beute. Dann schrie etwas auf, gellend und voller Entsetzen. Das Raubtier heulte siegesfroh im

Dickicht.

Allräunchen schauderte und griff nach der Hand dessen, der mit ihm ging.

»Muß das sein?« fragte er angstvoll.

Der stille Begleiter sah zur Seite.

»Es folgt den Blutspuren, die andere vor ihm hinterlassen haben. Es ist eine Stufe. Der Weg, den wir gehen, hat lauter Stufen. Darum ist er so mühsam.«

»Ich glaube, mir ist der Weg zu weit«, sagte Alräunchen kleinlaut.

Der stille Begleiter faßte die Hand des Kindes ganz fest.

»Du mußt ihn doch gehen, wenn du in die Ferne willst«, sagte er. »Aber heute führe ich dich nicht mehr weit. Sonst wirst du zu müde. Man darf nicht müde werden, wenn man den Weg geht.«

»Ich will auch nicht müde werden«, versprach Alräunchen tapfer, »denn ich will in die Ferne.«

Die Wildnis lichtete sich. Sie kamen auf einen Weg. Andere Wege kreuzten ihn. Es standen wenig Blumen am Wegrand. Die Gleise in den Wegen aber waren sehr tief. In den Gleisen kroch ein Lastwagen. Die Räder knirschten im Sande. Jetzt stockte die Last. Der Führer trieb die müden Klepper an. Sie keuchten und legten sich von neuem ins Joch. Von der anderen Seite her trieb man eine Kuh zum Schlachthof. Sie brüllte klagend nach ihrem Kalb. Das Kalb hörte sie nicht mehr. Es war weit. Das Schlachthaus stand groß und grau in der dicken Nebelluft.

Alräunchen war müde und weinerlich.

»Ich will nach Hause«, sagte er.

»Sie fahren immer dieselben Gleise«, sagte der stille Begleiter, »sie fahren in den Gleisen, die andere vor ihnen gefahren sind. Die Gleise sind schon zu tief. Es ist eine Stufe.«

Sie gingen weiter. Im Straßengraben saß ein alter Mann. Er hatte einen ganz gekrümmten Rücken. Man sah es deutlich, denn er hatte den Kasten abgenommen, den er sonst auf dem krummen Rücken schleppte. Es war Tand im Kasten. Der alte Mann handelte damit. Er zählte das Geld nach, das er eingenommen hatte. Es war wenig. Aber heute konnte er nicht mehr weiter mit dem Kasten. Es war zu schwer. Der Mann beugte den Rücken noch mehr und hustete. So wie alte Leute husten – schleppend und qualvoll.

»Es sind so wenig Blumen am Wegrand, wo der alte Mann sitzt«, sagte Alräunchen.

»Es sind mehr Blumen da«, sagte der stille Begleiter freundlich. »Du siehst sie noch nicht. Du wirst sie sehen lernen.«

»Sieht der alte Mann sie auch nicht?«

»Er wird sie bald sehen«, sagte der stille Begleiter.

»Die Wege gehen so durcheinander«, sagte Alräunchen, »ich wüßte nicht, welchen ich gehn sollte. Es war schöner bei den Schlafenden als bei den Wachenden.«

»Sie wachen. Aber sie sehen noch nicht. Darum gehn ihre Wege durcheinander. Es sind Irrwege. Sie drehn sich im Kreise um sich selbst in den alten Gleisen. Die Wege führen alle auf eine große Straße. Wenige finden sie.«

»Es ist auch zu dunkel«, sagte Alräunchen.

»Man muß im Dunkel gehn, um die Sterne zu sehen«, sagte der stille Begleiter.

»Ich will die Straße finden«, sagte Alräunchen.

Der Schein um das Haupt des stillen Begleiters wurde ganz hell und licht.

»Du wirst sie finden«, sagte er, »dies ist nur der Anfang. Weiter mußt du allein gehen.«

Alräunchen wurde es schwindlig.

Das Rad des Lebens drehte sich wirr und wild.

Als Alräunchen am Morgen erwachte, war er müde. So müde, wie er noch nie gewesen war.

Ein Ende, das nur ein Anfang ist

Alräunchen war vom Lande in die Stadt gekommen. Er sollte eine höhere Schule besuchen. Es war die Stadt, wo zum Johannisfest Jahrmarkt war. Alräunchen kam es vor, als sei immer Jahrmarkt in der Stadt, bunt und laut und lärmend. Er sehnte sich nach dem Kater.

Eines Tages teilte man ihm mit, daß der Kater gestorben wäre.

Man sagte es schonend und vorsichtig. Man wußte nun schon, daßAlräunchen kein normales Menschenkind war. Alräunchen ging auf sein Zimmer und weinte. Er weinte bitterlich, es war der erste große Schmerz seines Lebens, und Alräunchen war ein Kind.

Alräunchen wußte damals noch nicht, daß er immer ein Kind bleiben würde. Sonst hätte er noch viel bitterlicher geweint.

Alräunchen weinte. Der Jahrmarkt des Lebens versank vor ihm, und es war still um ihn wie früher, als er Müffchen machte mit dem Geschöpf, um das er weinte. Es war ganz still. Nur sein Herz schlug hörbar.

»Ich möchte noch einmal meinen Kater sehn«, sagte Alräunchen. Aber er sagte es lautlos. Es war ein Reden in der Stille. Das konnte er nun. Es ist sehr viel, wenn man das kann.

Da stand der stille Begleiter neben ihm und legte ihm die Hand auf die Augen.

Alräunchen war es, als sähe er die ganze Erde umsponnen mit einem Netz von Wegen. Es waren die Irrwege. Er kannte sie deutlich wieder. So viele irrten in dem Netz, es war nicht zu übersehen. Mitten hindurch aber zog sich eine breite Straße, so klar und deutlich, daß man sich sehr wundern mußte, daß niemand sie sah. Es waren nur wenige auf der Straße. »Das ist die Straße des Erbarmens«, sagte der stille Begleiter, »nun siehst du in die Ferne, weil du durch Tränen gesehen hast.«

Jetzt sah Alräunchen den Kater auf der großen Straße gehen. Er erkannte ihn genau. Nur sein Fell erschien ihm lichter, und es war ein fremder Schein um ihn.

Am Ende der Straße stand eine Brücke. Die war das Schönste, was Alräunchen je gesehn hatte. Aber man konnte nicht erkennen, wohin sie führte. Sie verschwand im Licht. Alräunchen sah den Kater auf der Brücke. Dann sah er ihn nicht mehr. Das Licht hatte ihn aufgenommen. Da begriff Alräunchen, was er bisher nur geahnt hatte – die Heiligkeit des Geschöpfes.

Und er wußte, welche Straße er gehen würde. Er wußte auch, daß er sehr, sehr einsam sein würde auf diesem Weg. Denn die Straße des Erbarmens ist menschenarm.

Alräunchen barg den Kopf in den Händen. Ihm graute vor seinem Leben.

»Du wirst doch nie ganz allein sein«, sagte der stille Begleiter. Es ist kein Ende.

Es ist nur ein Anfang.

Es ist ein kleiner Anfang.

Aber es ist ein Aufstieg.

In der Ferne des Weges steht die Brücke im Licht.

Das patentierte Krokodil

Es war eine Wüste, und in der Wüste war ein Fluß, und in dem Fluß war ein Krokodil. Es tut mir leid, es zu sagen, aber Krokodile sind nicht beliebt. Nein. Das kommt nicht etwa daher, weil ihre Toilette meist schlammig und salopp ist oder weil sie unleugbar einen etwas unsympathischen Zug um den Mund haben; denn das sind schließlich Äußerlichkeiten. Die Unbeliebtheit kommt vom Appetit. Das ist in der ganzen Welt so: je größer der Appetit, um so kleiner die Beliebtheit. Liebe und Freundschaft gedeihen nur unter Ausschluß des Appetits, und man versteigt sich sogar so weit, die harmloseste Konversation nur einzugehen unter der engherzigen Bedingung, daß man nicht gefressen oder auch nur angeknabbert wird. Es ist gewiß einseitig, aber auch begreiflich; denn niemand will, kaum daß ein paar verbindliche Worte gewechselt sind, gleich ohne Hände oder Beine dasitzen, die er doch andenweit benötigt und die ihm schließlich auch gehören. Und so ist man bei jedem, den man verschlucken will, unbeliebt. Da nun das Krokodil auf alles Appetit hat und alles verschlucken will, so ist es auch bei allen unbeliebt. Es schluckt Missionare, Frösche, Neger, Affen und selbst die eigenen Familienangehörigen – alles aus Appetit. Es bekommt ihm auch alles – Gott sei Dank –, und es verdaut auch alles, sogar seine Verwandten. Das Krokodil lag also in dem Fluß, der in der Wüste war, hatte Appetit und war böse. Böse war es nicht, weil es Appetit hatte, sondern weil nichts da war für den Appetit, und da ist jeder böse, nicht nur ein Krokodil, sondern auch die zarteste Dame. »Wie schön wäre jetzt ein Weißer!« sagte das Krokodil und blinzelte in die Morgensonne. »Weiße sind zum Frühstück am besten, Neger sind besser zum Mittagessen, sie sind öliger und halten länger vor. Es ist ein Unterschied wie zwischen Huhn und Ente. Pikant sind Weinreisende, sie haben Wildgeschmack durch den Alkoholgenuß und sind meist gut im Stande.«

Das Krokodil lächelte wehmütig, wodurch sich der unangenehme Zug um den Mund noch verschärfte, so leid es mir tut, das zu sagen. »Nicht mal einheimische Küche ist zu haben«, fuhr das Krokodil fort und schluckte heißhungrig, »ich wäre schon mit Hausmannskost zufrieden, mit einem Neffen oder einer Nichte. Aber einen Teil hab‘ ich gegessen, die anderen sind flußabwärts geschwommen, man hat gar kein verwandtschaftliches Gefühl mehr heutzutage. Was nützt da der Appetit?!« Und das Krokodil bettete seinen hungrigen Magen tiefer in den nassen Schlamm, machte die Augen resigniert zu und gähnte. Dabei hielt es nicht mal die Vordertatze vor den Mund; denn der Mund ist sowieso zu groß, und dann gibt das Krokodil überhaupt nicht viel auf Manieren. Ich werde dösen, dachte es – und es döste. Oben auf dem Dattelbaum botanisierte emsig und leise gurrend ein kleiner Makak. Es war ein sehr fröhliches Äffchen, und es freute sich permanent darüber, daß es ein Äffchen war und daß es überhaupt da war. Dazwischen turnte es ein wenig nach der Methode »Mein System« oder »Wie bekomme ich den schönsten Schwanz, die längsten Arme und die kürzesten Beine?«. Dann setzte es sich auf einen Ast und suchte mit größter Aufmerksamkeit nach lästigen Ausländern in seinem Fell und exmittierte sie ohne Unterschied, Männer und Frauen und selbst zarte Kinder. Es war eine mühselige, aber ertragreiche und dankbare Arbeit.

»An drei Stellen zugleich kann ich mich kratzen«, sagte der kleine Makak und grinste selbstzufrieden, »mit dem Schwanz und dem einen Bein halte ich mich, was übrig ist, das kratzt. Wie weise ist doch die Natur!« Der kleine Makak war eben ein sonniges und bescheidenes Gemüt. Mitten in dieser Prüfung seiner Garderobe wurde er jedoch durch das etwas heisere Organ des Krokodils gestört. Das Krokodil hatte nach oben gesehen und das Äffchen bemerkt. »Pst, Sie«, rief es, »kommen Sie runter, ich will Sie fressen.« Es sagte »fressen«, denn das Krokodil hat keine feine Ausdrucksweise. Der kleine Makak erschrak furchtbar. »Nein; keinesfalls!« sagte er weinerlich, und sein Fell sträubte sich vor Angst, so daß die lästigen Ausländer ganz verstört umherliefen. »Sie wollen also nicht«, fauchte das Krokodil hämisch und pustete bösartig durch die Nasenlöcher. »Gut, ich werde warten, bis der Appetit Sie vom Baum treibt, wenn nichts mehr da ist. Alles im Leben ist Appetit. Ich weiß das.«

Der kleine Makak sagte gar nichts mehr, er nahm ein Dattelblatt und schluchzte fassungslos hinein. Wo war nun die Weisheit der Natur, was nützten einem nun die langen Arme und die kurzen Beine, die man durch »Mein System« erzielte, wenn sie verschluckt werden sollten? »Arroganter Kerl«, knurrte das Krokodil und räusperte sich gehässig, »ziert sich, als wäre er ein besonderer Leckerbissen, dabei ist Affenfleisch ganz kommun.« Der kleine Makak war aber gar nicht arrogant, er hatte bloß schreckliche Angst, weil er gefressen werden sollte, und er dachte an Papa und Mama und an des Makaknachbars älteste Tochter, von deren lächelndem Mäulchen er den ersten Kuß bekommen, weil er ihr galant und ritterlich das zarte Fell abgesucht hatte. Und bei solchen Gedanken ist das ganz gleich, ob es ein großer Mensch ist oder eine kleine, zitternde Affenseele – und bei vielem anderen übrigens auch. Aber es gibt etwas auf der Welt, das sich dazwischen armer, geängstigter Geschöpfe erbarmt, und es erbarmte sich auch des kleinen Äffchens. Grad als der Makak zum zweiten Dattelblatt griff und hineinheulte, war ihm, als umschlänge ihn ein Affenschwanz, und eine Stimme flüsterte ihm einen Gedanken zu – es konnte Mama oder Papa sein oder des Nachbars Älteste. Der Gedanke war so schön, daß der kleine Makak sofort aufhörte zu heulen, sein Fell legte sich wieder, und sein Frätzchen nahm den Ausdruck unsagbarer Heiterkeit an, der Heiterkeit, die so besonders hübsch ist, wenn sie ein häßliches Gesicht verklärt.

»Pst, Sie«, äffte der kleine Makak das Krokodil nach und warf ihm Dattelkerne auf den Kopf. »Sind Sie denn auch patentiert?«

Wie viele sind so! Kaum geht’s ihnen gut, so schmeißen sie mit Dattelkernen. Das ist menschlich, und die Affen haben ja so etwas Menschliches.

»Wieso patentiert?« fragte das Krokodil mißtrauisch, »ich will Sie fressen, und das werde ich auch tun.«

Das Äffchen kreuzte die langen Arme über der Brust und sah überlegen auf das Krokodil herab. »Alle anständigen Leute in der Wüste werden jetzt patentiert«, sagte es, »sonst ist man nicht fair. Aber man muß was haben, was andere nicht haben.«

Dich will ich bald haben, dachte das Krokodil ärgerlich; aber die Sache ging ihm im Kopf herum, denn es wollte gern fair sein. Da ein Krokodilgehirn nicht groß ist – je größer das Maul, um so kleiner das Gehirn –, war seine Denkkraft bald erschöpft. »Wo kann man denn patentiert werden?« fragte es. »Beim Wüstenpatentkomitee. Das ist ein Büro.« Das Krokodil besann sich. »Wie komme ich da am besten hin?« erkundigte es sich, »vorausgesetzt, daß es nicht weit ist und daß Sie hier warten. Darauf muß ich mich verlassen können.«

»Sicher«, sagte das Äffchen und rieb sich die Hände vor Vergnügen, »das Büro ist, wie alle Büros, in der Wüste. Guten Erfolg, hoffentlich reüssieren Sie!«

Das Krokodil krabbelte ans Ufer und trottete langsam in die Wüste hinein. Nach einer Weile kam es an eine Bretterbude, da dachte das Krokodil: Aha. Wie viele haben schon »Aha« gedacht, aber es war nichts dahinter. Diesmal aber war es doch richtig, denn auf der Bude stand in großen Lettern: Wüstenpatentkomitee GmbH (Gesellschaft mit besondrer Hinterpfote). Eben verließ das Rhinozeros mit freundlichem Kopfnicken das Lokal, und das Krokodil trat ein und stand vor dem Komitee.

Das Komitee bestand aus dem Kamel, dem Marabu und dem Panther. Das Kamel hatte die Akten zu führen und sonstige Schreiberdienste zu verrichten, es ließ mit subalterner Miene die Unterlippe hängen und trug das allgemeine Wüstenehrenzeichen um den Hals, eine kleine Tretmühle in den Landesfarben. Der Marabu hatte keine Haare auf dem Kopf und war juristischer Beirat, und der Panther als Vertreter der Behörde saß an einem Tisch und manikürte seine Pfoten. Als das Krokodil sah, daß das ganze Komitee eßbar war, klappte es vor Appetit mit den Kinnbacken. »Hören Sie doch auf zu klappen!« schrie der Panther gereizt, »macht einen ja nervös!«

Das Krokodil ärgerte sich, aber es wollte gern ein Patent haben, und so legte es bescheiden und leise die obere Kinnlade auf die untere.

»Was wünschen Sie?« fragte das Kamel und schob die subalterne Unterlippe nach oben.

»Ich will patentiert werden.«

»Und woraufhin?«

»Das ist mir ganz egal. Auf meinen Appetit.«

»Lachhaft«, murmelte der Panther,«haben ja alle.«

»Dann auf mein großes Maul«, sagte das Krokodil eingeschüchtert und sperrte den Rachen empfehlend auf. »Ihr pp. Maul ist recht groß, wie wir es hier in loco sehen«, meinte der Marabu als juristischer Beirat, »aber damit stehen Sie nicht allein da. Die meisten Menschen haben ein viel größeres.«

Das Krokodil weinte zwei von den bekannten Krokodilstränen und glotzte ratlos und dösig auf das eßbare Komitee. Schließlich wurde es aber böse und schlug den Schuppenschwanz erregt hin und her. »Ich will aber patentiert werden!« schnappte es asthmatisch vor Ärger.

»Ruhe! Sonst werden Sie rausgeschmissen!« brüllte der Panther und schlug mit der Pfote auf den Tisch.

»Jawohl, Ruhe!« blökte das Kamel und ließ die subalterne Unterlippe devot hängen, indem es diensteifrig nach dem Panther schielte.

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf«, kakelte der Marabu höflich und beschwichtigend, »so würde ich Ihr Gebiß patentieren lassen. Soweit ich es übersehen konnte, als Sie Ihr wertes Maul öffneten, ist es von achtbaren Dimensionen und jedenfalls einzig in seiner Art. Es ließe sich als Fleischhackmaschine registrieren.«

»Also dalli«, sagte der Panther, zum Kamel gewandt, und strich sich die Schnauze, »lesen Sie das Register vor!« Das Kamel las eintönig, mit blökender Stimme, da es der Meinung war, es käme einem Unterbeamten nicht zu, ein Wort eigenmächtig besonders zu betonen. »Patent Nr. 1. Der Brillenschlange für eine Brillenzeichnung auf dem Kopfe. Abteilung optische Geräte. Patent Nr. 2. Dem Känguruh für eine Beuteltasche auf dem Magen. Abteilung Galanteriewaren. Patent Nr.3. Dem Rhinozeros für ein Horn auf der Nase. Abteilung Bijouterie.« »Sie können nun zwischen einem englischen und einem deutschen Patent wählen«, wandte sich der Marabu an das Krokodil, »auf dem englischen steht darauf ‚made in Germany‘ und auf dem deutschen ›façon de Paris‹.« »Welches ist denn besser?« fragte das Krokodil mißtrauisch. »Das ist lediglich Geschmackssache«, sagte der Marabu, »das Känguruh zum Beispiel wählte das englische Patent mit Rücksicht auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse Australiens, während das Rhinozeros, das nur auf Schick etwas gibt, sich ohne Besinnen für façon de Paris entschieden hat.«

»Ich will aber beide haben«, sagte das Krokodil.

»Das geht nicht«, meinte der Marabu und zuckte bedauernd die Flügel, »aber ich würde Ihnen, da es sich um eine Fleischhackmaschine handelt, zum englischen Patent raten …« »Also Schluß!« brüllte der Panther, »schreiben Sie: Patent Nr. 4. Dem Krokodil für eine Fleischhackmaschine – im Maul – äh – Abteilung Küchengeräte. Guten Morgen!« Mit diesen Worten stand der Panther auf, nahm den Schwanz vorschriftsmäßig über die Pfoten und verließ schnurrend das Lokal; die Bürostunden waren zu Ende.

Das Kamel fertigte das Diplom aus, und der Marabu übergab es dem Krokodil mit einigen ermahnenden Worten. »Seien Sie recht vorsichtig«, sagte er, »Diplome sind etwas rein Dekoratives, sie sind auf sogenanntem autosuggestivem Wege aus dem überaus zähen und gänzlich unverdaulichen Stoff der Tradition hergestellt – ein übrigens internationales Verfahren –, also verschlucken Sie es ja nicht! Ich empfehle mich Ihnen.« Und der juristische Beirat frühstückte einen langen Wurm, den ihm seine Frau in Butterbrotpapier eingewickelt hatte. Marabus lebten in der Nähe einer europäischen Niederlassung und waren schwer kultiviert. Daher das Butterbrotpapier und die juristischen Kenntnisse.

Als das Krokodil den juristischen Beirat frühstücken sah, wurde ihm ganz schwach. Es nahm behutsam sein Diplom zwischen die Zähne und trottete eiligst ab, dem Flußufer zu, um den kleinen Makak zu fressen. Aber das Äffchen war nicht mehr da.

Wie unzuverlässig doch heutzutage die Leute sind! dachte das Krokodil, kein Wunder, daß man das Alte und Gute patentiert. Und es blies sich ganz dick auf vor Stolz und kroch mitten in den Schlamm hinein.

So lag es Stunden. Indes war es Abend geworden, und es sammelte sich viel Publikum im Fluß und an den Ufern, um Abendbrot einzufangen.

»Warum speisen Sie nichts, Herr Kollege?« fragte ein kleiner Alligator das Krokodil im Vorbeischwimmen. Er sah satt und zufrieden aus und schluckte mit jovialer Miene an den Resten eines Angehörigen.

Das Krokodil konnte schwer sprechen. »Ich bin patentiert«, lispelte es hochmütig, »ich kann nichts essen, ich habe mein Diplom im Maul. Dafür bin ich jetzt fair.« »Ich für mein Teil bin lieber satt«, meinte der kleine Alligator, »aber Sie sehen ja aus, als hätten Sie seit heute früh nichts mehr zu sich genommen. Das gesunde Grün Ihrer Gesichtsfarbe ist förmlich grau geworden. Legen Sie doch Ihr Diplom ans Ufer und speisen Sie zu Abend!« Das Krokodil kämpfte innerlich – der Appetit war furchtbar. »Nein«, lispelte es schließlich mühsam, »am Ufer stehlen es mir die Affen.«

»Dann spucken Sie’s einfach aus!« sagte der kleine Alligator frech, »wozu brauchen Sie denn ein Diplom? Wenn man ein Diplom nur immer im Maul haben kann, soll man lieber darauf verzichten, sonst kann man nichts mehr fressen und wird zum Schluß selbst gefressen und noch dazu ausgelacht.« Das ist eine große Lebensweisheit, aber sie bezieht sich natürlich nur auf Krokodile.

Das Krokodil blieb unbeweglich. Es behielt sein Diplom im Maul und glotzte den Vetter böse und hungrig an.

»Wenn Sie denn schon Ihr Diplom im Maul behalten«, fuhr der Alligator fort, »so gestatten Sie vielleicht, daß ich Ihre Hintertatze zum Nachtisch esse.«

Das Krokodil drehte sich vor Angst und Wut um sich selbst herum, und in dieser Angst und Wut verschluckte es sein Diplom. Da wurde ihm sehr übel, so übel, wie ihm noch nie gewesen war – und in tiefer Ohnmacht schwamm es flußabwärts, wobei es vom Alligator und anderen teilnehmenden Verwandten aufgegessen wurde. Damit endet diese traurige Geschichte.

Nur eine Familienanzeige habe ich noch hinzuzufügen: Der kleine Makak hatte sich inzwischen mit des Nachbars Ältester verlobt. Sie waren ein glückliches Brautpaar und hatten gleich am Tage darauf eine Garden-Party im Kreise der Angehörigen unternommen, natürlich begleitet von einer Ehrenäffin, denn die Affen haben etwas sehr Menschliches, wie jeder weiß. Dabei erfuhren sie den Tod des patentierten Krokodils. Ein ganz alter Affe meldete ihn, und er sagte »ja, ja« dazu. Das sagte er immer, und darum galt er für sehr klug. Der kleine Makak freilich wußte mehr davon; denn er hatte ja das verblichene Krokodil persönlich gekannt, so persönlich, daß es ihn fast gefressen hätte. Und das ist die persönlichste Bekanntschaft, die man machen kann. Und da die Dame d’honneur gerade auf einen Dattelbaum geklettert war und fraß – sie fühlte keine Liebe mehr und fraß daher doppelt –, so erzählte der kleine Makak seiner Liebsten die ganze gräßliche Geschichte. »Laß dich ja niemals patentieren, Makchen!« sagte die Kleine und umschlang ihn mit ihrem Schwanz.

»Nein, niemals«, sagte Makchen und suchte liebevoll und emsig im Fell seiner Braut.

Der K. d. R.

Die Regenwürmer hatten einen Kongreß einberufen.

Es war ein moderner Kongreß. Darum hieß er nicht der Kongreß der Regenwürmer, sondern der K.d.R. Der K.d.R. tagte im Garten an einer recht staubigen Stelle. Es wurden nur Fragen der Bodenkultur erörtert. Weiter geht der Horizont der Regenwürmer nicht. Sie kriechen auf der Erde und essen Erde. Es sind arme bescheidene Leute, aber sie sind nützlich und notwendig. Die Erde würde ohne sie nicht gedeihen. Ihre Arbeit muß verrichtet werden. Es war Abend. Die Dämmerung lag auf den Wegen, auf denen der K.d.R. zusammengekrochen war.

Ein langer alter Regenwurm hatte den Vorsitz übernommen. Er besprach Fragen lokaler Natur, die Bodenverhältnisse des Gartens, in dem man arbeitete. Es waren erfreuliche Resultate.

»Wir sind schon recht tief in die Erde eingedrungen«, sagte der Präsident des K.d.R. »Wir haben viele Erdschichten an die Oberfläche befördert, von denen niemand vorher etwas wußte. Wir haben sie zerlegt und zerkleinert. Aber die Erde scheint noch tiefer zu sein, als wir dachten. Sie scheint noch mehr zu bergen, als wir heraufgeschafft haben. Wir müssen fleißig weiter überall herumkriechen und Erde essen. Es ist eine große Aufgabe. Damit schließe ich den K.d.R.«

Er ringelte sich verbindlich.

Der offizielle Teil des K.d.R. war erledigt.

Man bildete zwanglose Gruppen mit Nachbarn und Freunden und sprach über die Praxis der Gliederbildung. Man wollte allerseits lang werden. Darin sah man den Fortschritt. Neue Methoden hierfür waren stets von Interesse. –Die allerneueste Methode, lang zu werden«, sagte ein junger Regenwurm, »heißt ›Ringle dich mit dem Strohhalm‹. Das stärkt die Muskeln und zieht die Glieder auseinander. Sehen Sie – so!«

Er tastete nach einem Strohhalm und demonstrierte die neue Methode energisch und mit Überzeugung. Dabei stieß er an etwas an. Er fühlte, daß es rauh und haarig war. »Nanu, was ist denn das? Das hat ja Haare und bewegt sich!« Er ringelte sich ängstlich vom Strohhalm los.

»Verzeihen Sie, ich war so müde. Da hab ich mich auf den Strohhalm gesetzt«, sagte das Etwas mit Haaren. »Wer sind Sie denn?« fragte der Regenwurm und kroch vorsichtig wieder näher.

»Ich bin Raupe von Beruf. Ich hätte mich gewiß nicht auf den Strohhalm gesetzt, aber ich bin so sehr müde. Ich habe einen so langen Weg hinter mir. Ich bin immer im Staub gekrochen. Nur selten fand ich etwas Grünes. Ich bin ein bißchen schwächlich, schon von Kind an. Es ist auch so angreifend, bei jedem Schritt den Rücken zu krümmen. Jetzt kann ich nicht mehr. Ich bin zu müde. Sterbensmüde.« Die Raupe war ganz verstaubt und erschöpft. Ihre Beinstummel zitterten.

Der gesamte K.d.R. kroch teilnahmsvoll heran.

»Sie müssen sich stärken«, sagte ein Regenwurm freundlich. »Sie müssen etwas Erde zu sich nehmen.«

»Nein danke«, sagte die Raupe, »ich bin zum Essen zu müde. Mir ist überhaupt so sonderbar. Ich will nicht mehr auf der Erde kriechen.«

»Aber ich bitte Sie«, sagte der Präsident des K.d.R. »Das ist das Leben, daß man auf der Erde kriecht und Erde ißt. Wenn man das nicht mehr kann, stirbt man. Man soll aber leben und recht lang werden. Ich kann Ihnen verschiedene Methoden empfehlen. Es ist Makrobiotik.« »Ich glaube, daß man nicht stirbt«, sagte die Raupe. »Wenn man zu müde ist und nicht mehr auf der Erde kriechen kann, verpuppt man sich, und nachher wird man ein bunter Falter. Man fliegt im Sonnenlicht und hört die Glockenblumen läuten. Ich weiß nur nicht, wie man es macht. Ich bin auch viel zu müde, um darüber nachzudenken.«

Die Regenwürmer ringelten sich aufgeregt und ratlos durcheinander.

»Fliegen? – Sonnenlicht? – Was heißt das? – So was gibt’s doch gar nicht! – Sie sind wohl krank?«

»Sie gebrauchen solche kuriosen Fremdworte«, sagte der Präsident des K.d.R. »Ihnen ist einfach nicht wohl!« Die Raupe antwortete nicht mehr. Sie war zu müde. Sterbensmüde. Sie klammerte sich an den Strohhalm. Dann wurde es dunkel um sie.

Aus ihr heraus aber spannen sich feine Fäden und spannen den verstaubten sterbensmüden Körper ein. »Das ist ja eine schreckliche Krankheit«, sagten die Regenwürmer.

»Es ist ein Phänomen«, sagte der Präsident des K.d.R. »Wir wollen es beobachten.«

Einige Kapazitäten nickten zustimmend mit den Kopfringeln.

Es vergingen Wochen. Der Präsident des K.d.R. und die Kapazitäten krochen täglich an das Phänomen heran und betasteten es. Das Phänomen sah weiß aus. Es war ganz versponnen und lag regungslos am Boden.

Endlich, in der Frühe eines Morgens, regte sich das versponnene Ding. Ein kleiner bunter Falter kam heraus und sah mit erstaunten Augen um sich. Er hielt die Flügel gefaltet und verstand nicht, was er damit sollte. Denn er hatte vergessen, was er als Raupe geglaubt und gehofft hatte – und wie müde er gewesen war, sterbensmüde .. .

Die Flügel aber wuchsen im Sonnenlicht. Sie wurden stark und farbenfroh.

Da breitete der Falter die Schwingen aus und flog weit über die Erde ins Sonnenlicht hinein.

Die Glockenblumen läuteten.

Unten im Staube tagte der K.d.R.

Man hatte die leere Hülle gefunden, und alle Kapazitäten waren zusammengekrochen.

»Es ist nur ein Mantel«, sagte die erste Kapazität enttäuscht.

»Die Krankheit ist allein zurückgeblieben«, sagte die zweite Kapazität.

»Der Mantel ist eben die Krankheit«, sagte die dritte Kapazität.

Hoch über ihren blinden Köpfen gaukelte der Falter in der blauen sonnigen Luft.

»Nun ist es ganz tot sagten die Regenwürmer.

»Resurrexit!« sangen tausend Stimmen im Licht.

Auf freiem Felde

Der Schnee lag kalt und weiß auf freiem Felde.

Ein Hase und seine Frau suchten Futter. Die Pfoten froren. Es war ein mühsamer Weg, und der Wind pfiff über die Fläche. Die Ausbeute war kümmerlich. Man mußte erst den Schnee fortkratzen, um etwas Essen zu finden. Die Pfoten wurden so leicht wund dabei. Man mußte sie dazwischen immer wieder ablecken. Auch war die Frau des Hasen leidend. Ein Bein war ihr zerschossen worden. Sie humpelte hilflos und gebrechlich über den Schnee.

»Es ist recht schwer, wenn man so behindert ist«, klagte sie. »Wie wird es erst im Frühling werden! Ich kann mit dem kranken Bein doch keine Kinder warten.«

Der Hase tröstete sie.

»Es wird schon gehen«, sagte er und leckte ihr beruhigend die Ohren. »Du brauchst erst eine Kur an der Quelle. Sie ist so kalkhaltig und hat schon vielen geholfen.« »Ach, diese schrecklichen Jagden!« seufzte die Häsin. »Wenn sie einen wenigstens gleich töten wollten! Aber jagen darf jeder, und so schießen sie einen krank. Die Menschen sind offenbar immer hungrig, daß sie einen so verfolgen.« »Das war früher. Früher war es auch ein Kampf gegen wilde Tiere«, sagte der Hase. »Jetzt ist es gefahrlos, und darum ist es ein Vergnügen. Es ist sogar ein vornehmes Vergnügen. So haben es wenigstens die getauft, die sich selbst vornehm nennen. Vermutlich, weil andre sie nicht vornehm nennen würden. Da tun sie es lieber gleich selbst.« Die Häsin war empört. »Töten ist doch kein Vergnügen! Sogar Wölfe reißen aus Hunger, nicht aus Lust am Töten.« »Es sind eben keine Wölfe, sondern Menschen – die von sich selbst so getauften vornehmen«, sagte der Hase. »Sie genießen die Natur nur, wenn sie ihr ins brechende Auge sehen. Das ist ihre Freude an der Schöpfung. Aber du wirst durch die Kur wieder ganz gesund werden. Die Quelle ist ein ganz berühmtes Bad.« »Es ist unfaßlich«, sagte die Häsin und verspeiste nachdenklich etwas vertrocknetes Moos.

»Es gibt bei den vornehmen Leuten noch viel vornehmere Dinge«, fuhr der Hase fort. »Sie zähmen sich die Tiere erst, um sie dann zu Tode zu hetzen. Das ist das Allervornehmste!«

»Aber das ist ja Mittelalter! Wir leben doch in der Neuzeit?« rief die Häsin entrüstet. Sie war historisch sehr gebildet. Die Hasen haben eine lange und traurige Geschichte, die sorgsam überliefert wird.

»Wir sind noch sehr tief im Mittelalter drin«, sagte der Hase bedrückt und kummervoll. »Aber die neue Zeit wird bald kommen. Es stehen starke Geister auf, die das Mittelalter nicht fürchten. Es sind keine armen Hasen, denn sie führen scharfe Waffen. Der Gott der Schöpfung hat sie ihnen gegeben, damit sie den Wehrlosen helfen. Man spricht davon im Wald und auf freiem Felde.«

»Es ist gewiß an der Zeit«, sagte die Häsin seufzend, »aber erst muß ich meine Kur brauchen.«

Oben in der Luft kreisten zwei Raubvögel.

»Du«, sagte der Habicht zu seiner Frau, »da unten ist ein kranker Hase. Den wollen wir fressen. Ich habe Hunger. Der andere ist gesund. Der würde uns entwischen.« Er stieß pfeilschnell auf die Häsin nieder. Der Hase sprang entsetzt hinter ein Gebüsch.

Aber der Habicht konnte seine Beute nicht entführen. Ein Schuß traf ihn. Er breitete die Schwingen auseinnder. Sein Blut färbte den Schnee.

»Jetzt ist meine Frau gerettet!« jubelte der Hase. »Das ist gewiß einer von den starken Geistern, die helfen kommen.« Es war kein starker Geist.

Die Häsin richtete sich auf, um fortzueilen. Da traf sie ein Kolbenschlag auf den Kopf. Sie reckte den verstümmelten Körper. Die Augen überzogen sich mit einem matten Schein und erloschen. Der vornehme Mann hatte seine Freude an der Natur.

Im verschneiten Gebüsch saß frierend und jammernd ein kleines Geschöpf mit struppigem Fell. Hoch in der Luft kreiste ein einsamer Vogel. Die Blutspuren auf dem Schnee bildeten seltsame Zeichen. Die Zeit ist sehr nah, wo man sie lesen lernen wird. Und erlöse uns von dem Übel!

Die leichtsinnige Maus

Es war eine Maus, die war leichtsinnig! Sie tanzte Walzer auf dem Schinken, und wenn sie eine Falle sah, so

pfiff sie ein Couplet durch die Zähne. Speck hielt sie für gewöhnlich, mit Kartoffeln spielte sie Kegel, ihre Pfoten wusch sie in Suppe, und ihre Krällchen polierte sie mit Butter. Es war traurig, traurig!

Oft hatte ihre Tante, eine geborene Feldmaus, die ihr Leben lang von einfacher Rohkost gelebt, sie ermahnt, indem sie kummervoll die Pfoten faltete. »Kind«, sagte sie, »du bist leichtsinnig! Du tanzest auf Nahrhaftem, pfeifst auf Gefährliches, hältst Gutes für gewöhnlich, spielst Kegel mit Bekömmlichem, wäschst deine Pfoten in der flüssigen Grundlage des Familienlebens und polierst deine Krallen in Delikatessen! Wo bleibt da die Moral? Schlüpfrig sind die Brote, die mit Wissenschaft eine Katze, und die Krallen bleiben Krallen, auch im zwanzigsten Jahrhundert.

«Sie, Herr Samt«, sagte die Maus dreist,«Sie haben nicht die geringste technische Berechtigung, sich zu bewegen und Krallen zu haben. Das ist wissenschaftlich unhaltbar. Verstehen Sie! Die letzten Forschungen haben das zur Evidenz bewiesen. Richten Sie sich doch nach der Naturwissenschaft!« Das Leuchten der Augen wechselte zwischen Grün und Gelb. Es waren keine sympathischen und keine beruhigenden Farbtöne, und der leichtsinnigen Maus wurde bänglich zumute. Der Samt bekam jetzt eine Stimme. Er sprach laut und deutlich, in mauenden Tönen.

«Nach meiner Lebenserfahrung hat die Natur sich noch nie nach der Naturwissenschaft gerichtet. Wenn ich etwas verschlucke, ist es mir auch gleich, ob es wissenschaftlich erwiesen ist oder nicht. Die Hauptsache ist, daß es gut schmeckt. Aber Sie schmecken sicher nicht gut.« Die Augen kamen näher, und ein gewaltiger Schnurrbart strich tastend über den Körper der entsetzten Maus.

Nun sah sie ein, daß es lebensgefährlich war. In diesem Samt steckte etwas Furchtbares, Ungeahntes, denn er sprach von Verschlucken, und das hieß, daß sie ihm das war, was ihr Aspik war. Wenn man für jemand Aspik ist, dauert es nie lange – dann ist man weg. Das ist wirkliche Naturwissenschaft, aber keine angenehme. Oh, es war furchtbar – furchtbar! Die leichtsinnige kleine Maus faltete die Pfoten und weinte bittere Tränen – keine Tantentränen, sondern Tränen der Angst und Reue, und sie gelobte, sich bis in den Grund ihrer Mauseseele zu bessern, wenn sie den Tatzen dieses mauenden Samts entschlüpfen würde. – Oh, Tante Feldmaus, wie wahr sind deine Worte, und wie verrucht bin ich gewesen und meine Kusine aus der Schachtel , wo Paris draufstand!«Nein, Sie schmecken nicht gut«, fuhr der Samt fort.«Ich könnte Sie ja totbeißen«, meinte er höflich erklärend,«aber das ist Knabensport. Ich kenne Mäuse zur Genüge. Ich bin Wirkl. Geheimer Mausrat, Exzellenz, und erhaben über Kindereien. Wenn Sie noch eben geboren wären, könnte man Sie ja zur Not schlucken, doch auch nur zur Morgenmilch. Aber so – nein. Ich habe mich von der Welt zurückgezogen und bin moralisch. Also gehen Sie und gehen Sie in sich! Die Maus lief, so schnell sie konnte, und preßte die Vorderpfote auf das kleine, klopfende Herz. In der Küche ging sie schon in sich, auf der Kellertreppe noch mehr, und beim scharfen Rettich, wo die Tante saß, war sie schon ganz in sich gegangen. Wenn man in sich geht, bleibt meist nicht viel von einem übrig. So war es auch bei der Maus. »Oh, Tante Feldmaus!« rief sie schluchzend,«ich habe etwas Furchtbares erlebt! Ich habe auf Samt gelegen, der Augen und Krallen hatte und in mauenden Tönen sprach. Der Samt konnte mich verschlucken, aber er hat es nicht getan, weil er eine Exzellenz und moralisch war, und darum bin ich in mich gegangen und werde nun auch moralisch werden!« Die Tante Feldmaus verstand das alles nicht, aber gerade darum war sie doppelt ergriffen. Sie erhob sich von ihrem scharfen Rettich und umpfotete ihre reuige Nichte in tiefster Rührung. Es war eine Tantenrührung. Auch Mäuse haben sie. Und weil das alles eigentlich Blödsinn war, so sagte sie, es wäre ein Wunder, und gründete einen Verein zur Rettung leichtsinniger Mäuse. Die leichtsinnige Maus aber und ihre Kusine aus der Schachtel, wo Paris draufstand, nahmen den Spinnwebschleier und leisteten das Kartoffelgelübde. Und alles war voll des Lobes über den moralischen Samt, der sich von der Welt zurückgezogen hatte. Dies war ein Irrtum. Samt ist nie moralisch. Krallen hat er und Augen auch, oft recht schöne Augen. Aber moralisch ist er nicht. Das ist etwas, was ich ganz genau weiß.

Auch der Wirkl. Geheime Mausrat hatten sich nicht so ganz von der Welt zurückgezogen. Exzellenz schlichen gleich darauf auf leisen Sohlen in die Speisekammer, schoben mit geübter Pfote einige Teller beiseite und speisten eine Schüssel voll zarter Krabben mit tiefem und geschultem Verständnis. Viele ziehen sich in dieser Weise von der Welt zurück und fressen heimlich die zartesten Krabben. Von solchen Leuten stammt dann die Moral im Keller.

Die fünfte, sogenannte feuchte Sinfonie

Auf dem Teich ruderten elf kleine Entchen mit ihrer Entenmama. Zusammen war’s also ein Dutzend, ein richtiges Dutzend. Es war eine Familienflotte. Und nicht nur das. Es war eine Flotte der Gefräßigkeit.

»Das Leben besteht aus der Familie und dem Fressen«, sagte die Entenmutter.

»Ja, Mama«, sagten die Kleinen und fraßen den ganzen Tag. In einer verschwiegenen Ecke des Teiches hatten sich Frösche versammelt.

Es war der philharmonische Chor, der sich zu einer Generalprobe eingefunden hatte. Die fünfte, sogenannte feuchte Sinfonie wurde einstudiert. Die Aufführung des gewaltigen Chorwerkes sollte an einem der nächsten Abende stattfinden. Zu beiden Seiten des Dirigenten, eines dicken, echauffierten Frosches, hatten der Damenchor und der Herrenchor Aufstellung genommen. In der Mitte war nichts, denn der Dirigent konnte wohl vorzüglich nach beiden Seiten zugleich sehen, aber nicht geradeaus. Seine Augen waren mal so eingerichtet, und man nahm Rücksicht darauf, denn es war ein sehr berühmter Dirigent. Das Wasser klatschte nur so, wenn er dirigierte. So berühmt war er.

Die fünfte, sogenannte feuchte Sinfonie begann.

Der Dirigent klopfte mit dem grünen Finger auf ein Blatt. »Zuerst das Andante«, sagte er. »Die Damen und Herren singen gemeinsam. Bitte piano, pianissimo. Mit halber Kehlblase.«

»Die Rosen ruhen im Wasser.

Quabblig wird mein Sinn.

Mein Bräutigam, mein nasser,

Quakt vor sich hin.«

»Sehr gut«, sagte der Dirigent, »nur ›quabblig‹ bitte ganz amoroso. Bedenken Sie, daß es sich um eine mädchenhafte Regung handelt! Nun das Scherzo. Ich bitte die Damen, mit den Füßen leise im Wasser zu klatschen, staccato in lappigen Lauten. Die Damen singen allein. Die Herren bitte ich dringend, unterdessen keine Fliegen zu fangen. Die schnappenden Töne stören in einer Sinfonie ganz ungemein.«

»Nun plätschert er, nun kreucht er,

Nun hupft er auf den Sand.

Mein Bräutigam, mein feuchter,

Winkt mit grüner Hand.«

»Bitte, ›winkt mit grüner Hand‹ etwas neckischer«, sagte der Dirigent. »Er spritzt mit der grünen Hand beim Winken. Es ist gleichsam symbolisch, die ersten Tropfen, verstehen Sie. Nun die Herren allein das Allegro. Ich bitte die Damen, unterdessen keine Fliegen zu fangen. Die Herren bitte ich, sich crescendo aufzublasen.«

»Nun wird er kühn und kühner.

Dahin ist meine Ruh.

Mein Bräutigam, mein grüner,

Krabbelt auf mich zu.«

»Sehr gut«, sagte der Dirigent, »nur ›krabbelt auf mich zu‹ etwas mehr passionato. Nun, bitte, die Damen und Herren zusammen das Finale. Forte, fortissimo. Mit vollen Kehlblasen.

»Die Rosen schwanken im Wasser.

Die Augen quellen so groß.

Mein Bräutigam, mein nasser,

Quakt in meinem Schoß!«

Mit mörderischem Geschnatter fuhr die Flotte der Gefräßigkeit mitten in das Finale der fünften, sogenannten feuchten Sinfonie. Sie schnappten voll Appetit nach den Beinen der Philharmoniker.

»Familie und Fressen!« rief die Entenmutter triumphierend. »Ja, Mama«, schrien die Kleinen und durchstöberten das ganze Schilf.

Aber sie fanden nichts mehr. Die Philharmoniker hatten sich gerettet. Sie saßen tief aufatmend an einer sicheren Stelle und schluckten Fliegen.

»Es ist ein wahres Glück«, sagte der Dirigent, »daß die Flotten der Gefräßigkeit stets vorher ein so mörderisches Geschnatter erheben. Da kann man sich vorsehen. Sie würden sonst alle Philharmoniker einfach auffressen, und wo bliebe dann die fünfte, sogenannte feuchte Sinfonie‘!«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht ist Boxer. Ich bin sehr befreundet mit ihm, und so beschloß ich eines Tages, ihn zu interviewen. Man kann doch allerlei dabei lernen, dachte ich, ein Einblick in die Verschiedenheit der Natur ist immer wertvoll, und vielleicht gibt der Mann mit dem schwarzen Gesicht mir interessante Streiflichter aus der Hundeperspektive – aus der wirklichen natürlich, nicht aus der, welche die Menschen darunter verstehen.

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht benagte gerade einen respektablen Knochen, den er in den Küchenräumen eingefordert hatte. Es ist das so, als ob wir nach Tisch eine Zigarre rauchen.

»Hol dir auch einen Knochen aus der Küche!« sagte er gönnerhaft. Wir duzen uns nämlich.

Ich wehrte dankend ab. »Ich wollte dich heute einiges fragen. Ich schreibe ein Buch. Da brauch‘ ich deine Ansichten. Über die Menschen, zum Beispiel.«

Der Knochen splitterte.

»Über die nackten Zweibeiner also. Das ist ein sehr knorpeliges Thema.«

Er knurrte leise.

Ich war einigermaßen verblüfft. »Wie meintest du? Nackte Zweibeiner? Ich meinte über uns.«

»Ja, so heißt ihr«, sagte der Mann mit dem schwarzen Gesicht ruhig, –»die Bezeichnung ist sehr treffend. Findest du nicht auch?«

Ich fand es also auch.

»Darüber gebe ich eigentlich nicht gerne Auskunft«, sagte er, »das Thema ist wie ein Stück Fleisch. Auf einer Stelle gut, auf der anderen kann man sich die Zähne dran zerbeißen, so sehnig ist es.«

»Aber etwas könntest du mir doch sagen. Nur einige allgemeine Gesichtspunkte. Man hat doch über sich selbst nicht das Urteil.«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht begann den Knochen von der anderen Seite.

»Schön«, sagte er wohlwollend. »Aber mehr als das bißchen, das wir so als junge Hunde lernen, kann ich dir nicht sagen. Das geht nicht. Auch kann ich mich nur ganz objektiv äußern und auch nur in der Form der Unterhaltung. Weißt ich halte gerade Nachmittagsruhe.« Er wies mit der Pfote auf den Knochen.

»Natürlich. Es ist nur ein Interview. Bloß so. Laß dich ja nicht stören! Also was lernt ihr – pädagogisch betrachtet – als junge Hunde über die nackten Zweibeiner?«

»Nur das Nötigste. Das andere ergibt sich von selbst und ist auch zu verschieden. In erster Linie ist der Wert der nackten Zweibeiner ein rein wirtschaftlicher. Je näher der Küche, desto besser. Ausnahmen gibt es natürlich. Naturwissenschaftlich wäre folgendes zu sagen: Die nackten Zweibeiner haben in der Urzeit offenbar eine Art Räude gehabt; denn sie haben alles Fell verloren bis auf die geringe und geradezu albern wirkende Behaarung auf dem Kopf. Beim weiblichen Geschlecht ist diese stärker, dafür setzen die männlichen nackten Zweibeiner in der Schnauzengegend einige Haare an, die sie sehr pflegen, obwohl das keinen Sinn hat. Von einem eigentlichen Fell kann man nicht sprechen. Ihr Gang ist sehr merkwürdig und ähnelt dem eines Storches. Sie stellen sich auf die Hinterbeine und gehen mit gravitätischen Schritten von grotesker Komik verhältnismäßig langsam vorwärts, während sie die Vorderpfoten hängenlassen oder in der Luft schlenkern. Das alles sieht, besonders von weitem und wenn sie in größeren Mengen herumspazieren, sehr sonderbar aus. Dazwischen verneigen sie sich und nicken mit den Köpfen oder sie stoßen ein merkwürdiges Lachen aus, das dem Wiehern eines jungen Pferdes sehr nahekommt. Aber ich möchte nicht taktlos sein. Am Ende kränkt es dich?«

»Oh, gar nicht, ich habe ja selbst darum gebeten.« Im stillen war ich wohl etwas gedrückt.

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht hatte meine Stimmung bemerkt.

»Die nackten Zweibeiner«, lenkte er gutmütig ein, »würden ja gar nicht so unsagbar komisch wirken, wenn sie sich nicht so wichtig vorkämen. Sie laufen mit einem Gesicht herum, als röchen sie alles. Dabei haben sie eine miserable Nase und finden beinahe nie eine Spur, nicht mal die allereinfachste.«

»Ja, mit dem wichtigen Ausdruck hast du recht«, sagte ich seufzend und dachte an sehr viele Leute dabei. »Das andere ist mir allerdings etwas neu und überraschend. Du verstehst.«

Er sah diskret weg und knabberte an seinem Knochen.

»Die nackten Zweibeiner«, fuhr er fort, »haben also kein Fell bis auf die wenigen Haare, die zudem bei älteren Exemplaren ausfallen oder grau werden. Die Jungen – selten mehr als eins – kommen ebenfalls nackt zur Welt und sind sehr lange unbeholfen. Um nicht zu frieren, hüllen sich die nackten Zweibeiner in Lappen von verschiedenen Farben. Es sieht sehr häßlich aus; aber die hilflosen Geschöpfe können schließlich nicht anders, sie kämen ja um vor Frost.« Ich schwieg dazu. Ich hatte keine Lust, ihn über unsere sittlichen Grundsätze aufzuklären, die den Körper für etwas Unanständiges halten.

»Das Gesicht und die Vorderpfoten bleiben frei«, erklärte der Mann mit dem schwarzen Gesicht weiter. »Nur wenn die nackten Zweibeiner große Versammlungen haben und sich verneigen und mit dem Kopf nicken, dann verdecken sie meist auch die Vorderpfoten. Warum, weiß ich nicht.« – Ich wußte es auch nicht.

»Ihre Zähne sind schwach, obwohl sie viel und gerne fressen. Aber eine richtige Beißerei habe ich nie gesehen. Im Gegenteil, oft habe ich bemerkt, daß, wenn zwei nackte Zweibeiner besonders wütend aufeinander waren, sie sich doppelt so oft voreinander verneigten und sich allerlei Angenehmes sagten. Die Vorderpfoten sind ungemein entwickelt, und sie sind äußerst geschickt damit, wie die Affen, mit denen sie überhaupt die meiste Ähnlichkeit haben. Der Schwanz fehlt bei allen Exemplaren; daher können sie nicht wedeln. Sie zeigen die Zähne, wenn sie vergnügt sind. Auch reißen sie sich gegenseitig an den Vorderpfoten, wenn sie sich begrüßen und verabschieden. Flöhen können sie nicht. Kannst du flöhen?«

»Nein«, sagte ich verlegen, »leider nicht. Ich hatte keine Gelegenheit dazu.«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht schluckte mißbilligend.

»Auch in anderen Dingen sind die nackten Zweibeiner recht sonderbar«, fuhr er fort, »weiße glatte Gesichter zum Beispiel halten sie für schön. Was würden wir sagen, wenn die Boxerdamen nicht den samtnen schwarzen Teint hätten und die vielen pikanten Falten? Ganz merkwürdig ist auch die Vorliebe der nackten Zweibeiner für ein gewisses schmutziges Metall. Sie laufen den ganzen Tag herum und arbeiten, um es zu bekommen. Auch geben sie es ungern wieder her. Wenn man das schmutzige Metall hat, kriegt man die schönsten Dinge, und wer am meisten davon hat, vor dem wedeln alle anderen – wenn man von Wedeln sprechen kann bei dieser trüben Schwanzlosigkeit.«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht hatte seinen Knochen beendet. –»Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich weiß noch eine ganze Menge; aber das geht über das hinaus, was ich sagen darf. Das sind persönliche Dinge, über die ich nachgedacht habe, und ich bin Philosoph. Philosophen sagen nie alles. Sdion damit ihnen kein Maulkorb umgebunden wird.«

»Das ist bei uns auch so«, sagte ich.

»Siehst du. Das bißchen kannst du aber ruhig erzählen. Es ist nur Junge-Hunde-Weisheit. Viele werden auch das nicht verstehen.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte ich.

»Im übrigen«, schloß er, »laß die Ohren nicht hängen, wenn du auch nur ein nackter Zweibeiner bist! Seele können alle haben, nackte Zweibeiner und befellte Vierbeiner. Auf Wiedersehen!«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht gab Pfote.

Ich verabschiedete mich. Mir war hundsmiserabel.

»Du möchtest also jedenfalls kein nackter Zweibeiner sein?«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht fletschte die Zähne: »Rrrrrrrrrrrrr!«

Das Faultier

Das Faultier hing an einem Ast und duselte vor sich hin.

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

Es seufzte herzbeweglich. Seufzen hielt es für schlafbefördernd.

Unten am Stamme des Baumes saß ein kleines Pinseläffchen und las in einem Buch. Das Buch war auf Baumrinde geschrieben und in Lianengeflecht gebunden. Den Entwurf dazu hatte eine Giftspinne gezeichnet – eigenbeinig. Darum war der Einband giftgrün geworden. Das Buch hieß: »Wie werde ich energisch?« Solches hatte das Äffchen sehr nötig. Denn Pinseläffchen sind zarte und schüchterne Geschöpfe. Das Faultier seufzte herzbeweglich.

»Was fehlt Ihnen denn eigentlich?« fragte das Äffchen teilnehmend und guckte nach oben. »Ist Ihnen nicht wohl?«

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

»Sie sind gewiß krank«, sagte das Äffchen und kletterte hilfsbereit nach oben.

Das Faultier rührte sich nicht.

»Ich bin hungrig«, sagte es und seufzte.

»Aber dicht über Ihnen hängen ja die schönsten Früchte und Blätter«, sagte das Äffchen erstaunt.

Das Faultier blinzelte nach oben.

»Ich bin zu faul«, sagte es und seufzte.

»Sie müssen das Buch lesen ›Wie werde ich energisch?‹«, sagte das Äffchen eifrig und zeigte auf den giftgrünen Einband. »Eine Tante von mir hat das Buch gelesen und ist so energisch geworden, daß kein Affe mehr mit ihr leben kann. Meine Tante fletscht die Zähne und schmeißt mit Steinen. So energisch ist siegeworden.«

»Daß ich ein Buch lese, ist vollständig ausgeschlossen«, sagte das Faultier.

»Ja, was machen wir denn da?« sagte das Äffchen ratlos. »Sie können doch nicht einfach verhungern vor den reifen Früchten!

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

Das Pinseläffchen hatte ein sehr weiches Herz. Es konnte das Seufzen nicht mehr anhören. Es nahm ein Bündel Blätter und stopfte es dem Faultier ins Maul. Das Faultier kaute schwer und mühsam, mit geschlossenen Augen. Das Äffchen stopfte und half mit den Füßen nach.

»So geht es aber nicht weiter«, sagte das Pinseläffchen nach dem eingestopften Diner. »Sie müssen energisch werden. Ich werde Ihnen das Buch ›Wie werde ich energisch? ‹ vorlesen, da Sie schon zu faul sind, es selbst zu lesen. Aber Sie müssen aufmerksam zuhören.«

»Daß ich zuhöre, wenn ein Buch vorgelesen wird, ist vollständig ausgeschlossen«, dachte das Faultier. Es sagte das aber nicht mehr. Es war zu faul dazu.

Das Äffchen setzte sich neben das Faultier und nahm den giftgrün en Einband zur Hand. Es las das ganze Buch mit lauter Stimme von Anfang bis zu Ende.

»Sind Sie nun energisch geworden?« fragte das Äffchen und sah

das Faultier erwartungsvoll an.

Das Faultier rührte sich nicht. Es war eingeschlafen.

Da nahm das zarte Pinseläffchen das Buch ›Wie werde ich energisch?‹ und warf es dem Faultier wütend an den Kopf. So energisch war es geworden – beinahe wie seine Tante, die mit . Steinen schmiß und die Zähne fletschte.

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

Man sagt, daß die Faultiere aussterben. Das glaube ich nicht. Wenn sie aber wirklich aussterben, so sind sie der beste Beweis für die Seelenwanderung.

Unter uns Ungeziefer

Eine dicke Wanze, Frau Oberbettrat Krabbelbein, geborene Saugesanft, hatte zu einem Rout in ihre Villa, eine alte Matratze, eingeladen. Aber nur Ungeziefer im allerstrengsten Sinn des Wortes. Man wollte ganz unter sich sein. Keiner, der nicht matratzenfähig war, sollte zugelassen werden. Die Kammerwanze hatte strengste Weisung. Frau Oberbettrat Krabbelbein hielt auf Standesgefühl. Außerdem sollte der Rout einen politischen Charakter tragen. Es sollte eine Resolution gefaßt werden. Das mußte streng intern bleiben. Deshalb war auch ihre Villa der richtige Ort. Denn wo kann es interner sein als in einer alten Matratze?

Zuerst kamen die Wanzen, die zur engeren Familie gehörten. Einige alte Onkel und Tanten mit durch und durch verwanzten Grundsätzen und vornehm glänzenden Rückenschalen. Sie krochen langsam und würdig und dufteten intensiv nach Peau de punaises – mit einem Wort, alte Familie. Auch setzten sie die Füße noch in den altmodischen zierlichen Pas, wie sie es in der ersten Krabbelstunde gelernt hatten. Denn die Wanze ist konservativ. Daher bleibt sie auch, solange sie irgend kann, in der alten Matratze – wenn nicht ausgeklopft wird. Nach verbindlichem Bewegen der Fühlhörner gruppierte man sich um die Dame des Hauses.

Gleich darauf kam auch die Jugend. Einige Flöhe aus den allerbesten Kreisen. Darunter der Champion im Hochsprung und der Champion im Weitsprung. Überhaupt Sportsleute, jeunesse doree. Der Führer der Gesellschaft war ein elegant gebauter, vielgereister Floh mit lässigen Beinbewegungen. Sein Wahlspruch war: »Toujours en dessous«, und man sagte ihm nach, er sei frivol und blasiert. Aber da er sein Ungezieferblut nie verleugnet hatte, so sah man ihm das nach und entschuldigte es mit den weiten Reisen, die ja bekanntlich das Gemüt verderben und es leicht von der alten angestammten Matratze ablenken zu Dessous und ähnlichen unsoliden Gegenständen.

Auch Läuse kamen, Kopfläuse. Sie hatten ihre Handarbeit mitgebracht, einige Haare, an denen sie emsig häkelten. Läuse sind so tätig.

Alles kroch an der Dame des Hauses vorbei, die ihr rechtes Fühlhorn graziös zum Kuß reichte. Es herrschte strenge Matratzenetikette. Es roch förmlich nach Tradition und peau de punaises.

Nachher lagerte man sich zwanglos. Man war ja unter sich. Nur die Schaben durften an dem Defiliergekrieche nicht teilnehmen und auch das Fühlhorn von Frau Oberbettrat Krabbelbein nicht küssen. Sie galten als Küchenpersonal, und so was hat unter lauter echtem Ungeziefer abseits zu stehen. Es ist nicht standesgemäß. So saßen die Küchenschaben bescheiden am Ende der Matratze. Hinter ihnen, als noch minderwertiger, waren die Bücherläuse postiert, die grau und unscheinbar aussahen.

Frau Oberbettrat Krabbelbein faltete die Fühler und sagte: »Liebe Gesinnungsgenossen! Ich heiße Sie alle von ganzem Wanzenherzen mit beiden Fühlern willkommen. Ein ernster Zweck hat uns vereint. So laßt uns beginnen! Baron Plattmagen hat das Wort.«

Baron Plattmagen, ein schon altersbrauner Wanzerich, erhob sich. »Meine Damen und Herren, sowie auch Küchenschaben und Bücherläuse« – er trennte die Anrede –, »unsere hochverehrte Frau Oberbettrat Krabbelbein hat recht gesprochen. Es ist ein ernster Zweck, der uns hergeführt hat. Unsere vitalsten Interessen stehn auf dem Spiel. Der ehrwürdige Boden, auf dem wir fußen, beginnt zu wanken. Es ist eine schlimme Zeit.

Eine Zeit, in der alte Matratzen ausgeklopft werden.«

Baron Plattmagen bewegte ergriffen die Beine. Frau Oberbettrat Krabbelbein blickte tränenden Auges auf ein Loch in ihrer Villa. Ein beifälliges Krabbeln ging durch die ganze Gesellschaft.

»Ich danke Ihnen für Ihre Zustimmung«, sagte Baron Plattmagen, »sie ermutigt mich fortzufahren. Wenn wir unsere Interessen verteidigen, so verteidigen wir eine große Vergangenheit. Was haben wir alles geleistet! Solange man denken kann, haben Wanzen und Flöhe Menschen und Tiere ausgesogen. Wir haben auch sonst unendlich viel für die Kultur geleistet. Ja, wir leisten es noch heute. Sehen Sie um sich! Wo ist der Champion im Hochsprung? Wo ist der Champion im Weitsprung? Unter uns sind sie! Unter den Besten der Unseren. Gehen wir vom Geschichtlichen ab! Welch einen Hausfleiß entwickeln unsere stillen, sanften Verwandten, die Läuse! Sehen wir von der Gesellschaft ab! Selbst die Niederen unter uns, die Küchenschaben, entwickeln Fleiß und Ausdauer, getreu unserem leuchtenden Beispiel! Gehen wir noch tiefer! Betrachten wir die Bücherläuse! Sie zerstören in der Literatur, was sie können. Leider immer noch nicht genug und nicht am richtigen Platze. Sie fressen zu wahllos. Ich will ihrer Tätigkeit unser Wohlwollen nicht vorenthalten. Aber von durchgreifendem Nutzen kann sie nur sein unter unserer Leitung, wenn sie streng in unserem Sinne, durchaus ungeziefergemäß ausgeübt wird.«

Die Bücherläuse schwiegen bedrückt und sahen ergeben auf Baron Plattmagen. Sie hatten wirklich getan, was sie konnten. Ihnen war schon ganz wüst im Kopf vom vielen Bücherzerfressen, und zum Verdauen war überhaupt keine Zeit mehr.

»Richten Sie Ihr Augenmerk vor allem auf die Tagespresse!« rief Baron Plattmagen. »Hier liegt die Gefahr. In Büchern ist Kunst und solch ein Kram dabei, darum liest das kein Mensch. Aber die Zeitung liest jeder, weil er wissen will, was er denken soll. Die Presse ist unser ärgster Feind. Jeden Tag stehen die aufreizendsten Annoncen in der Zeitung, wie man Ungeziefer vertilgen kann. Das muß das Publikum verderben.

Fressen Sie die Presse, wenn Ihnen unsere Interessen heilig sind und wenn Sie würdig bleiben wollen, in den Reihen des Ungeziefers zu stehen! Wir alle aber, meine verehrten Damen und Herren sowie auch Küchenschaben und Bücherläuse, wir wollen uns wenden gegen diese verwerfliche Hetze und abscheuliche« – der Redner stockte –, »diese abscheuliche – es steht im Konversationslexikon unter I …« »Intelligenz«, warf eine Bücherlaus hilfreich und bescheiden ein.

»Ach was, halten Sie die Beißzange!« schrie Baron Plattmagen echauffiert, »abscheuliche Infamie, wollte ich sagen.« »Unter uns Ungeziefer ist das doch ganz egal«, meinte der elegante Floh mit dem Wahlspruch »Toujours en dessous«.

Man überging es taktvoll. Man wußte ja, er war frivol. Das kam von den weiten Reisen, wo das Gemüt verdorben wird. Baron Plattmagen erhob beide Fühler.

»So fassen wir denn«, rief er, »so fassen wir denn alles zusammen, was uns teuer ist. So fassen wir denn eine Resolution und fassen wir sie zusammen in die Worte: Schützet eure alten Matratzen!«

Nicht enden wollendes Bravorufen und Beineklatschen folgte dem Schluß der Rede. Schützet eure alten Matratzen! Man fühlte, daß in diesen Worten wirklich alles erschöpft war, was dem Ungeziefer heilig ist.

Der Rout von Frau Oberbettrat Krabbelbein, geborener Saugesanft, war zu Ende.

Es juckt einen förmlich.