Jakob Krakel-Kakel

Jakob Krakel-Kakel war schon ein alter Rabenvater. Aber – dem Himmel sei es geklagt – er machte noch immer Seitenflüge. Besonders häufig traf er sich in einer Felsengalerie mit seiner Nichte, der Nebelkrähe. Er schwärmte so für aschblonde Federn. Da saß er und schnäbelte, statt sich die Felsenbilder zu besehen, wie es ehrbare Leute tun. Denn dazu sind die Felsengalerien da, wie jeder weiß. Die Felsen blieben freilich ungerührt, aber sonst war es betrübend.

»Krah«, sagte Jakob Krakel-Kakel und ließ sich elegant auf den Rand seines Nestes niedergleiten. »Jakob«, sagte Frau Krakel-Kakel, die häuslich auf ihren Eiern saß, »Jakob, wo sind die bestellten Regenwürmer?« »Regenwürmer sind dieses Jahr sehr schwer zu beschaffen. Ich fand nichts als einen Engerling, den ich im Versehen verschluckte.« Jakob Krakel-Kakel hatte Übung in solchen Dingen. »Jakob, wo warst du?« fragte Frau Krakel-Kakel. »Ich sagte es dir schon«, sagte Jakob Krakel-Kakel, »ich habe alle Felder abgesucht. Ich bin erschöpft. Außerdem bin ich erkältet.

»Du bist eher erhitzt«, sagte Frau Krakel-Kakel. »Jakob – hat nicht deine Nichte, die Nebelkrähe, aschblonde Federn auf der Brust?«

»Was wird sie haben«, sagte Jakob Krakel-Kakel, »sie wird schon aschblonde Federn haben.«

»Jakob«, sagte Frau Krakel-Kakel, »du hast eine aschblonde Feder auf dem Rock.«

»Ich werde eben grau«, sagte Jakob Krakel-Kakel, »es ist kein Wunder.« Er putzte sich die Feder fort.

»Jakob, kakle die Wahrheit! Du bist polygam. Pfui!«

Jakob Krakel-Kakel senkte schuldbewußt den großen Schnabel. In der Tiefe seiner Rabenseele aber war er wütend und beschloß, Rache zu nehmen – Rabenrache!

»Krah«, sagte Jakob Krakel-Kakel und flog davon. Er flog zum Kuckuck.

»Ich habe gehört, daß Sie Ihre Eier vergeben. Ich will eins haben.«

»Mit Vergnügen«, sagte der Kuckuck.

»Mehr als einen oder höchstens zwei Regenwürmer möchte ich nicht anlegen«, sagte Jakob Krakel-Kakel, »ich bin verheiratet und kann mir keine Extravaganzen gestatten.

»O bitte, das genügt vollkommen, ich tue es überhaupt nur aus reiner Vogelfreundlichkeit“, sagte der Kuckuck. »Ich will das Ei dann gleich mitnehmen«, sagte Jakob Krakel-Kakel.

»Das geht nicht«, sagte der Kuckuck pfiffig. »Eierlegen ist eine produktive Tätigkeit. So was ist doch nicht vorrätig. Man braucht Stimmung dazu. Das müßte solch ein alter Vogel doch eigentlich selbst wissen.«

Jakob Krakel-Kakel tat, als wisse er das nicht.

»Wann kann ich es mir holen?« fragte er.

»Ich liefere es Ihnen loco Rabennest«, sagte der Kuckuck zuvorkommend.

»Das tun Sie lieber nicht«, sagte Jakob Krakel-Kakel, »Sie könnten da auf ungeahnte Schwierigkeiten stoßen. Ich hole es mir selbst ab.«

Nach einigen Tagen flog Jakob Krakel-Kakel von hinten auf seine Frau zu. Er hatte ein Ei im Schnabel und schob es ihr vorsichtig ins Unterrockgefieder. Dann segelte er von dannen – ruchlos krächzend.

Nach einer kurzen Weile kam er wieder und setzte sich auf den Nestrand. Er sagte nicht einmal »Krah« zur Begrüßung und kehrte seiner Frau den Rücken zu. Dann wandte er den Schnabel und sprach über die Schulter.

»Lea«, sagte er, »was ist das für ein Ei?«

»Was werden es für Eier sein«, sagte Frau Krakel-Kakel, »unsere Eier – Rabeneier.«

»Lea – kakle die Wahrheit! Du hast ein fremdes Ei im Nest!«

»Ach, du meinst das kleine, das du mir heute zugesteckt hast?« sagte Frau Krakel-Kakel. »Das hab‘ ich ausgetrunken. Es war doch eine Aufmerksamkeit für die bestellten Regenwürmer, die du vergessen hast? Nicht wahr?« Jakob Krakel-Kakel war zumute, als müsse er selber Eier legen.

»Natürlich«, sagte er und sah seine Frau mit Rabenaugen an. Er tat es nicht lange. Frau Lea Krakel-Kakel hatte einen Zug um die Schnabelwinkel – einen Zug, den man niemand beschreiben kann, der ihn nicht kennt. Jakob Krakel-Kakel wurde hundert Jahre alt. Den Zug vergaß er nie. Er hat auch auf dem tadellos schwarzen Rock nie wieder eine aschblonde Feder gehabt. Und das heißt: Er hat sie sich stets vorher sorgsam abgeputzt.

Das patentierte Krokodil

Es war eine Wüste, und in der Wüste war ein Fluß, und in dem Fluß war ein Krokodil. Es tut mir leid, es zu sagen, aber Krokodile sind nicht beliebt. Nein. Das kommt nicht etwa daher, weil ihre Toilette meist schlammig und salopp ist oder weil sie unleugbar einen etwas unsympathischen Zug um den Mund haben; denn das sind schließlich Äußerlichkeiten. Die Unbeliebtheit kommt vom Appetit. Das ist in der ganzen Welt so: je größer der Appetit, um so kleiner die Beliebtheit. Liebe und Freundschaft gedeihen nur unter Ausschluß des Appetits, und man versteigt sich sogar so weit, die harmloseste Konversation nur einzugehen unter der engherzigen Bedingung, daß man nicht gefressen oder auch nur angeknabbert wird. Es ist gewiß einseitig, aber auch begreiflich; denn niemand will, kaum daß ein paar verbindliche Worte gewechselt sind, gleich ohne Hände oder Beine dasitzen, die er doch andenweit benötigt und die ihm schließlich auch gehören. Und so ist man bei jedem, den man verschlucken will, unbeliebt. Da nun das Krokodil auf alles Appetit hat und alles verschlucken will, so ist es auch bei allen unbeliebt. Es schluckt Missionare, Frösche, Neger, Affen und selbst die eigenen Familienangehörigen – alles aus Appetit. Es bekommt ihm auch alles – Gott sei Dank –, und es verdaut auch alles, sogar seine Verwandten. Das Krokodil lag also in dem Fluß, der in der Wüste war, hatte Appetit und war böse. Böse war es nicht, weil es Appetit hatte, sondern weil nichts da war für den Appetit, und da ist jeder böse, nicht nur ein Krokodil, sondern auch die zarteste Dame. »Wie schön wäre jetzt ein Weißer!« sagte das Krokodil und blinzelte in die Morgensonne. »Weiße sind zum Frühstück am besten, Neger sind besser zum Mittagessen, sie sind öliger und halten länger vor. Es ist ein Unterschied wie zwischen Huhn und Ente. Pikant sind Weinreisende, sie haben Wildgeschmack durch den Alkoholgenuß und sind meist gut im Stande.«

Das Krokodil lächelte wehmütig, wodurch sich der unangenehme Zug um den Mund noch verschärfte, so leid es mir tut, das zu sagen. »Nicht mal einheimische Küche ist zu haben«, fuhr das Krokodil fort und schluckte heißhungrig, »ich wäre schon mit Hausmannskost zufrieden, mit einem Neffen oder einer Nichte. Aber einen Teil hab‘ ich gegessen, die anderen sind flußabwärts geschwommen, man hat gar kein verwandtschaftliches Gefühl mehr heutzutage. Was nützt da der Appetit?!« Und das Krokodil bettete seinen hungrigen Magen tiefer in den nassen Schlamm, machte die Augen resigniert zu und gähnte. Dabei hielt es nicht mal die Vordertatze vor den Mund; denn der Mund ist sowieso zu groß, und dann gibt das Krokodil überhaupt nicht viel auf Manieren. Ich werde dösen, dachte es – und es döste. Oben auf dem Dattelbaum botanisierte emsig und leise gurrend ein kleiner Makak. Es war ein sehr fröhliches Äffchen, und es freute sich permanent darüber, daß es ein Äffchen war und daß es überhaupt da war. Dazwischen turnte es ein wenig nach der Methode »Mein System« oder »Wie bekomme ich den schönsten Schwanz, die längsten Arme und die kürzesten Beine?«. Dann setzte es sich auf einen Ast und suchte mit größter Aufmerksamkeit nach lästigen Ausländern in seinem Fell und exmittierte sie ohne Unterschied, Männer und Frauen und selbst zarte Kinder. Es war eine mühselige, aber ertragreiche und dankbare Arbeit.

»An drei Stellen zugleich kann ich mich kratzen«, sagte der kleine Makak und grinste selbstzufrieden, »mit dem Schwanz und dem einen Bein halte ich mich, was übrig ist, das kratzt. Wie weise ist doch die Natur!« Der kleine Makak war eben ein sonniges und bescheidenes Gemüt. Mitten in dieser Prüfung seiner Garderobe wurde er jedoch durch das etwas heisere Organ des Krokodils gestört. Das Krokodil hatte nach oben gesehen und das Äffchen bemerkt. »Pst, Sie«, rief es, »kommen Sie runter, ich will Sie fressen.« Es sagte »fressen«, denn das Krokodil hat keine feine Ausdrucksweise. Der kleine Makak erschrak furchtbar. »Nein; keinesfalls!« sagte er weinerlich, und sein Fell sträubte sich vor Angst, so daß die lästigen Ausländer ganz verstört umherliefen. »Sie wollen also nicht«, fauchte das Krokodil hämisch und pustete bösartig durch die Nasenlöcher. »Gut, ich werde warten, bis der Appetit Sie vom Baum treibt, wenn nichts mehr da ist. Alles im Leben ist Appetit. Ich weiß das.«

Der kleine Makak sagte gar nichts mehr, er nahm ein Dattelblatt und schluchzte fassungslos hinein. Wo war nun die Weisheit der Natur, was nützten einem nun die langen Arme und die kurzen Beine, die man durch »Mein System« erzielte, wenn sie verschluckt werden sollten? »Arroganter Kerl«, knurrte das Krokodil und räusperte sich gehässig, »ziert sich, als wäre er ein besonderer Leckerbissen, dabei ist Affenfleisch ganz kommun.« Der kleine Makak war aber gar nicht arrogant, er hatte bloß schreckliche Angst, weil er gefressen werden sollte, und er dachte an Papa und Mama und an des Makaknachbars älteste Tochter, von deren lächelndem Mäulchen er den ersten Kuß bekommen, weil er ihr galant und ritterlich das zarte Fell abgesucht hatte. Und bei solchen Gedanken ist das ganz gleich, ob es ein großer Mensch ist oder eine kleine, zitternde Affenseele – und bei vielem anderen übrigens auch. Aber es gibt etwas auf der Welt, das sich dazwischen armer, geängstigter Geschöpfe erbarmt, und es erbarmte sich auch des kleinen Äffchens. Grad als der Makak zum zweiten Dattelblatt griff und hineinheulte, war ihm, als umschlänge ihn ein Affenschwanz, und eine Stimme flüsterte ihm einen Gedanken zu – es konnte Mama oder Papa sein oder des Nachbars Älteste. Der Gedanke war so schön, daß der kleine Makak sofort aufhörte zu heulen, sein Fell legte sich wieder, und sein Frätzchen nahm den Ausdruck unsagbarer Heiterkeit an, der Heiterkeit, die so besonders hübsch ist, wenn sie ein häßliches Gesicht verklärt.

»Pst, Sie«, äffte der kleine Makak das Krokodil nach und warf ihm Dattelkerne auf den Kopf. »Sind Sie denn auch patentiert?«

Wie viele sind so! Kaum geht’s ihnen gut, so schmeißen sie mit Dattelkernen. Das ist menschlich, und die Affen haben ja so etwas Menschliches.

»Wieso patentiert?« fragte das Krokodil mißtrauisch, »ich will Sie fressen, und das werde ich auch tun.«

Das Äffchen kreuzte die langen Arme über der Brust und sah überlegen auf das Krokodil herab. »Alle anständigen Leute in der Wüste werden jetzt patentiert«, sagte es, »sonst ist man nicht fair. Aber man muß was haben, was andere nicht haben.«

Dich will ich bald haben, dachte das Krokodil ärgerlich; aber die Sache ging ihm im Kopf herum, denn es wollte gern fair sein. Da ein Krokodilgehirn nicht groß ist – je größer das Maul, um so kleiner das Gehirn –, war seine Denkkraft bald erschöpft. »Wo kann man denn patentiert werden?« fragte es. »Beim Wüstenpatentkomitee. Das ist ein Büro.« Das Krokodil besann sich. »Wie komme ich da am besten hin?« erkundigte es sich, »vorausgesetzt, daß es nicht weit ist und daß Sie hier warten. Darauf muß ich mich verlassen können.«

»Sicher«, sagte das Äffchen und rieb sich die Hände vor Vergnügen, »das Büro ist, wie alle Büros, in der Wüste. Guten Erfolg, hoffentlich reüssieren Sie!«

Das Krokodil krabbelte ans Ufer und trottete langsam in die Wüste hinein. Nach einer Weile kam es an eine Bretterbude, da dachte das Krokodil: Aha. Wie viele haben schon »Aha« gedacht, aber es war nichts dahinter. Diesmal aber war es doch richtig, denn auf der Bude stand in großen Lettern: Wüstenpatentkomitee GmbH (Gesellschaft mit besondrer Hinterpfote). Eben verließ das Rhinozeros mit freundlichem Kopfnicken das Lokal, und das Krokodil trat ein und stand vor dem Komitee.

Das Komitee bestand aus dem Kamel, dem Marabu und dem Panther. Das Kamel hatte die Akten zu führen und sonstige Schreiberdienste zu verrichten, es ließ mit subalterner Miene die Unterlippe hängen und trug das allgemeine Wüstenehrenzeichen um den Hals, eine kleine Tretmühle in den Landesfarben. Der Marabu hatte keine Haare auf dem Kopf und war juristischer Beirat, und der Panther als Vertreter der Behörde saß an einem Tisch und manikürte seine Pfoten. Als das Krokodil sah, daß das ganze Komitee eßbar war, klappte es vor Appetit mit den Kinnbacken. »Hören Sie doch auf zu klappen!« schrie der Panther gereizt, »macht einen ja nervös!«

Das Krokodil ärgerte sich, aber es wollte gern ein Patent haben, und so legte es bescheiden und leise die obere Kinnlade auf die untere.

»Was wünschen Sie?« fragte das Kamel und schob die subalterne Unterlippe nach oben.

»Ich will patentiert werden.«

»Und woraufhin?«

»Das ist mir ganz egal. Auf meinen Appetit.«

»Lachhaft«, murmelte der Panther,«haben ja alle.«

»Dann auf mein großes Maul«, sagte das Krokodil eingeschüchtert und sperrte den Rachen empfehlend auf. »Ihr pp. Maul ist recht groß, wie wir es hier in loco sehen«, meinte der Marabu als juristischer Beirat, »aber damit stehen Sie nicht allein da. Die meisten Menschen haben ein viel größeres.«

Das Krokodil weinte zwei von den bekannten Krokodilstränen und glotzte ratlos und dösig auf das eßbare Komitee. Schließlich wurde es aber böse und schlug den Schuppenschwanz erregt hin und her. »Ich will aber patentiert werden!« schnappte es asthmatisch vor Ärger.

»Ruhe! Sonst werden Sie rausgeschmissen!« brüllte der Panther und schlug mit der Pfote auf den Tisch.

»Jawohl, Ruhe!« blökte das Kamel und ließ die subalterne Unterlippe devot hängen, indem es diensteifrig nach dem Panther schielte.

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf«, kakelte der Marabu höflich und beschwichtigend, »so würde ich Ihr Gebiß patentieren lassen. Soweit ich es übersehen konnte, als Sie Ihr wertes Maul öffneten, ist es von achtbaren Dimensionen und jedenfalls einzig in seiner Art. Es ließe sich als Fleischhackmaschine registrieren.«

»Also dalli«, sagte der Panther, zum Kamel gewandt, und strich sich die Schnauze, »lesen Sie das Register vor!« Das Kamel las eintönig, mit blökender Stimme, da es der Meinung war, es käme einem Unterbeamten nicht zu, ein Wort eigenmächtig besonders zu betonen. »Patent Nr. 1. Der Brillenschlange für eine Brillenzeichnung auf dem Kopfe. Abteilung optische Geräte. Patent Nr. 2. Dem Känguruh für eine Beuteltasche auf dem Magen. Abteilung Galanteriewaren. Patent Nr.3. Dem Rhinozeros für ein Horn auf der Nase. Abteilung Bijouterie.« »Sie können nun zwischen einem englischen und einem deutschen Patent wählen«, wandte sich der Marabu an das Krokodil, »auf dem englischen steht darauf ‚made in Germany‘ und auf dem deutschen ›façon de Paris‹.« »Welches ist denn besser?« fragte das Krokodil mißtrauisch. »Das ist lediglich Geschmackssache«, sagte der Marabu, »das Känguruh zum Beispiel wählte das englische Patent mit Rücksicht auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse Australiens, während das Rhinozeros, das nur auf Schick etwas gibt, sich ohne Besinnen für façon de Paris entschieden hat.«

»Ich will aber beide haben«, sagte das Krokodil.

»Das geht nicht«, meinte der Marabu und zuckte bedauernd die Flügel, »aber ich würde Ihnen, da es sich um eine Fleischhackmaschine handelt, zum englischen Patent raten …« »Also Schluß!« brüllte der Panther, »schreiben Sie: Patent Nr. 4. Dem Krokodil für eine Fleischhackmaschine – im Maul – äh – Abteilung Küchengeräte. Guten Morgen!« Mit diesen Worten stand der Panther auf, nahm den Schwanz vorschriftsmäßig über die Pfoten und verließ schnurrend das Lokal; die Bürostunden waren zu Ende.

Das Kamel fertigte das Diplom aus, und der Marabu übergab es dem Krokodil mit einigen ermahnenden Worten. »Seien Sie recht vorsichtig«, sagte er, »Diplome sind etwas rein Dekoratives, sie sind auf sogenanntem autosuggestivem Wege aus dem überaus zähen und gänzlich unverdaulichen Stoff der Tradition hergestellt – ein übrigens internationales Verfahren –, also verschlucken Sie es ja nicht! Ich empfehle mich Ihnen.« Und der juristische Beirat frühstückte einen langen Wurm, den ihm seine Frau in Butterbrotpapier eingewickelt hatte. Marabus lebten in der Nähe einer europäischen Niederlassung und waren schwer kultiviert. Daher das Butterbrotpapier und die juristischen Kenntnisse.

Als das Krokodil den juristischen Beirat frühstücken sah, wurde ihm ganz schwach. Es nahm behutsam sein Diplom zwischen die Zähne und trottete eiligst ab, dem Flußufer zu, um den kleinen Makak zu fressen. Aber das Äffchen war nicht mehr da.

Wie unzuverlässig doch heutzutage die Leute sind! dachte das Krokodil, kein Wunder, daß man das Alte und Gute patentiert. Und es blies sich ganz dick auf vor Stolz und kroch mitten in den Schlamm hinein.

So lag es Stunden. Indes war es Abend geworden, und es sammelte sich viel Publikum im Fluß und an den Ufern, um Abendbrot einzufangen.

»Warum speisen Sie nichts, Herr Kollege?« fragte ein kleiner Alligator das Krokodil im Vorbeischwimmen. Er sah satt und zufrieden aus und schluckte mit jovialer Miene an den Resten eines Angehörigen.

Das Krokodil konnte schwer sprechen. »Ich bin patentiert«, lispelte es hochmütig, »ich kann nichts essen, ich habe mein Diplom im Maul. Dafür bin ich jetzt fair.« »Ich für mein Teil bin lieber satt«, meinte der kleine Alligator, »aber Sie sehen ja aus, als hätten Sie seit heute früh nichts mehr zu sich genommen. Das gesunde Grün Ihrer Gesichtsfarbe ist förmlich grau geworden. Legen Sie doch Ihr Diplom ans Ufer und speisen Sie zu Abend!« Das Krokodil kämpfte innerlich – der Appetit war furchtbar. »Nein«, lispelte es schließlich mühsam, »am Ufer stehlen es mir die Affen.«

»Dann spucken Sie’s einfach aus!« sagte der kleine Alligator frech, »wozu brauchen Sie denn ein Diplom? Wenn man ein Diplom nur immer im Maul haben kann, soll man lieber darauf verzichten, sonst kann man nichts mehr fressen und wird zum Schluß selbst gefressen und noch dazu ausgelacht.« Das ist eine große Lebensweisheit, aber sie bezieht sich natürlich nur auf Krokodile.

Das Krokodil blieb unbeweglich. Es behielt sein Diplom im Maul und glotzte den Vetter böse und hungrig an.

»Wenn Sie denn schon Ihr Diplom im Maul behalten«, fuhr der Alligator fort, »so gestatten Sie vielleicht, daß ich Ihre Hintertatze zum Nachtisch esse.«

Das Krokodil drehte sich vor Angst und Wut um sich selbst herum, und in dieser Angst und Wut verschluckte es sein Diplom. Da wurde ihm sehr übel, so übel, wie ihm noch nie gewesen war – und in tiefer Ohnmacht schwamm es flußabwärts, wobei es vom Alligator und anderen teilnehmenden Verwandten aufgegessen wurde. Damit endet diese traurige Geschichte.

Nur eine Familienanzeige habe ich noch hinzuzufügen: Der kleine Makak hatte sich inzwischen mit des Nachbars Ältester verlobt. Sie waren ein glückliches Brautpaar und hatten gleich am Tage darauf eine Garden-Party im Kreise der Angehörigen unternommen, natürlich begleitet von einer Ehrenäffin, denn die Affen haben etwas sehr Menschliches, wie jeder weiß. Dabei erfuhren sie den Tod des patentierten Krokodils. Ein ganz alter Affe meldete ihn, und er sagte »ja, ja« dazu. Das sagte er immer, und darum galt er für sehr klug. Der kleine Makak freilich wußte mehr davon; denn er hatte ja das verblichene Krokodil persönlich gekannt, so persönlich, daß es ihn fast gefressen hätte. Und das ist die persönlichste Bekanntschaft, die man machen kann. Und da die Dame d’honneur gerade auf einen Dattelbaum geklettert war und fraß – sie fühlte keine Liebe mehr und fraß daher doppelt –, so erzählte der kleine Makak seiner Liebsten die ganze gräßliche Geschichte. »Laß dich ja niemals patentieren, Makchen!« sagte die Kleine und umschlang ihn mit ihrem Schwanz.

»Nein, niemals«, sagte Makchen und suchte liebevoll und emsig im Fell seiner Braut.

Der K. d. R.

Die Regenwürmer hatten einen Kongreß einberufen.

Es war ein moderner Kongreß. Darum hieß er nicht der Kongreß der Regenwürmer, sondern der K.d.R. Der K.d.R. tagte im Garten an einer recht staubigen Stelle. Es wurden nur Fragen der Bodenkultur erörtert. Weiter geht der Horizont der Regenwürmer nicht. Sie kriechen auf der Erde und essen Erde. Es sind arme bescheidene Leute, aber sie sind nützlich und notwendig. Die Erde würde ohne sie nicht gedeihen. Ihre Arbeit muß verrichtet werden. Es war Abend. Die Dämmerung lag auf den Wegen, auf denen der K.d.R. zusammengekrochen war.

Ein langer alter Regenwurm hatte den Vorsitz übernommen. Er besprach Fragen lokaler Natur, die Bodenverhältnisse des Gartens, in dem man arbeitete. Es waren erfreuliche Resultate.

»Wir sind schon recht tief in die Erde eingedrungen«, sagte der Präsident des K.d.R. »Wir haben viele Erdschichten an die Oberfläche befördert, von denen niemand vorher etwas wußte. Wir haben sie zerlegt und zerkleinert. Aber die Erde scheint noch tiefer zu sein, als wir dachten. Sie scheint noch mehr zu bergen, als wir heraufgeschafft haben. Wir müssen fleißig weiter überall herumkriechen und Erde essen. Es ist eine große Aufgabe. Damit schließe ich den K.d.R.«

Er ringelte sich verbindlich.

Der offizielle Teil des K.d.R. war erledigt.

Man bildete zwanglose Gruppen mit Nachbarn und Freunden und sprach über die Praxis der Gliederbildung. Man wollte allerseits lang werden. Darin sah man den Fortschritt. Neue Methoden hierfür waren stets von Interesse. –Die allerneueste Methode, lang zu werden«, sagte ein junger Regenwurm, »heißt ›Ringle dich mit dem Strohhalm‹. Das stärkt die Muskeln und zieht die Glieder auseinander. Sehen Sie – so!«

Er tastete nach einem Strohhalm und demonstrierte die neue Methode energisch und mit Überzeugung. Dabei stieß er an etwas an. Er fühlte, daß es rauh und haarig war. »Nanu, was ist denn das? Das hat ja Haare und bewegt sich!« Er ringelte sich ängstlich vom Strohhalm los.

»Verzeihen Sie, ich war so müde. Da hab ich mich auf den Strohhalm gesetzt«, sagte das Etwas mit Haaren. »Wer sind Sie denn?« fragte der Regenwurm und kroch vorsichtig wieder näher.

»Ich bin Raupe von Beruf. Ich hätte mich gewiß nicht auf den Strohhalm gesetzt, aber ich bin so sehr müde. Ich habe einen so langen Weg hinter mir. Ich bin immer im Staub gekrochen. Nur selten fand ich etwas Grünes. Ich bin ein bißchen schwächlich, schon von Kind an. Es ist auch so angreifend, bei jedem Schritt den Rücken zu krümmen. Jetzt kann ich nicht mehr. Ich bin zu müde. Sterbensmüde.« Die Raupe war ganz verstaubt und erschöpft. Ihre Beinstummel zitterten.

Der gesamte K.d.R. kroch teilnahmsvoll heran.

»Sie müssen sich stärken«, sagte ein Regenwurm freundlich. »Sie müssen etwas Erde zu sich nehmen.«

»Nein danke«, sagte die Raupe, »ich bin zum Essen zu müde. Mir ist überhaupt so sonderbar. Ich will nicht mehr auf der Erde kriechen.«

»Aber ich bitte Sie«, sagte der Präsident des K.d.R. »Das ist das Leben, daß man auf der Erde kriecht und Erde ißt. Wenn man das nicht mehr kann, stirbt man. Man soll aber leben und recht lang werden. Ich kann Ihnen verschiedene Methoden empfehlen. Es ist Makrobiotik.« »Ich glaube, daß man nicht stirbt«, sagte die Raupe. »Wenn man zu müde ist und nicht mehr auf der Erde kriechen kann, verpuppt man sich, und nachher wird man ein bunter Falter. Man fliegt im Sonnenlicht und hört die Glockenblumen läuten. Ich weiß nur nicht, wie man es macht. Ich bin auch viel zu müde, um darüber nachzudenken.«

Die Regenwürmer ringelten sich aufgeregt und ratlos durcheinander.

»Fliegen? – Sonnenlicht? – Was heißt das? – So was gibt’s doch gar nicht! – Sie sind wohl krank?«

»Sie gebrauchen solche kuriosen Fremdworte«, sagte der Präsident des K.d.R. »Ihnen ist einfach nicht wohl!« Die Raupe antwortete nicht mehr. Sie war zu müde. Sterbensmüde. Sie klammerte sich an den Strohhalm. Dann wurde es dunkel um sie.

Aus ihr heraus aber spannen sich feine Fäden und spannen den verstaubten sterbensmüden Körper ein. »Das ist ja eine schreckliche Krankheit«, sagten die Regenwürmer.

»Es ist ein Phänomen«, sagte der Präsident des K.d.R. »Wir wollen es beobachten.«

Einige Kapazitäten nickten zustimmend mit den Kopfringeln.

Es vergingen Wochen. Der Präsident des K.d.R. und die Kapazitäten krochen täglich an das Phänomen heran und betasteten es. Das Phänomen sah weiß aus. Es war ganz versponnen und lag regungslos am Boden.

Endlich, in der Frühe eines Morgens, regte sich das versponnene Ding. Ein kleiner bunter Falter kam heraus und sah mit erstaunten Augen um sich. Er hielt die Flügel gefaltet und verstand nicht, was er damit sollte. Denn er hatte vergessen, was er als Raupe geglaubt und gehofft hatte – und wie müde er gewesen war, sterbensmüde .. .

Die Flügel aber wuchsen im Sonnenlicht. Sie wurden stark und farbenfroh.

Da breitete der Falter die Schwingen aus und flog weit über die Erde ins Sonnenlicht hinein.

Die Glockenblumen läuteten.

Unten im Staube tagte der K.d.R.

Man hatte die leere Hülle gefunden, und alle Kapazitäten waren zusammengekrochen.

»Es ist nur ein Mantel«, sagte die erste Kapazität enttäuscht.

»Die Krankheit ist allein zurückgeblieben«, sagte die zweite Kapazität.

»Der Mantel ist eben die Krankheit«, sagte die dritte Kapazität.

Hoch über ihren blinden Köpfen gaukelte der Falter in der blauen sonnigen Luft.

»Nun ist es ganz tot sagten die Regenwürmer.

»Resurrexit!« sangen tausend Stimmen im Licht.

Auf freiem Felde

Der Schnee lag kalt und weiß auf freiem Felde.

Ein Hase und seine Frau suchten Futter. Die Pfoten froren. Es war ein mühsamer Weg, und der Wind pfiff über die Fläche. Die Ausbeute war kümmerlich. Man mußte erst den Schnee fortkratzen, um etwas Essen zu finden. Die Pfoten wurden so leicht wund dabei. Man mußte sie dazwischen immer wieder ablecken. Auch war die Frau des Hasen leidend. Ein Bein war ihr zerschossen worden. Sie humpelte hilflos und gebrechlich über den Schnee.

»Es ist recht schwer, wenn man so behindert ist«, klagte sie. »Wie wird es erst im Frühling werden! Ich kann mit dem kranken Bein doch keine Kinder warten.«

Der Hase tröstete sie.

»Es wird schon gehen«, sagte er und leckte ihr beruhigend die Ohren. »Du brauchst erst eine Kur an der Quelle. Sie ist so kalkhaltig und hat schon vielen geholfen.« »Ach, diese schrecklichen Jagden!« seufzte die Häsin. »Wenn sie einen wenigstens gleich töten wollten! Aber jagen darf jeder, und so schießen sie einen krank. Die Menschen sind offenbar immer hungrig, daß sie einen so verfolgen.« »Das war früher. Früher war es auch ein Kampf gegen wilde Tiere«, sagte der Hase. »Jetzt ist es gefahrlos, und darum ist es ein Vergnügen. Es ist sogar ein vornehmes Vergnügen. So haben es wenigstens die getauft, die sich selbst vornehm nennen. Vermutlich, weil andre sie nicht vornehm nennen würden. Da tun sie es lieber gleich selbst.« Die Häsin war empört. »Töten ist doch kein Vergnügen! Sogar Wölfe reißen aus Hunger, nicht aus Lust am Töten.« »Es sind eben keine Wölfe, sondern Menschen – die von sich selbst so getauften vornehmen«, sagte der Hase. »Sie genießen die Natur nur, wenn sie ihr ins brechende Auge sehen. Das ist ihre Freude an der Schöpfung. Aber du wirst durch die Kur wieder ganz gesund werden. Die Quelle ist ein ganz berühmtes Bad.« »Es ist unfaßlich«, sagte die Häsin und verspeiste nachdenklich etwas vertrocknetes Moos.

»Es gibt bei den vornehmen Leuten noch viel vornehmere Dinge«, fuhr der Hase fort. »Sie zähmen sich die Tiere erst, um sie dann zu Tode zu hetzen. Das ist das Allervornehmste!«

»Aber das ist ja Mittelalter! Wir leben doch in der Neuzeit?« rief die Häsin entrüstet. Sie war historisch sehr gebildet. Die Hasen haben eine lange und traurige Geschichte, die sorgsam überliefert wird.

»Wir sind noch sehr tief im Mittelalter drin«, sagte der Hase bedrückt und kummervoll. »Aber die neue Zeit wird bald kommen. Es stehen starke Geister auf, die das Mittelalter nicht fürchten. Es sind keine armen Hasen, denn sie führen scharfe Waffen. Der Gott der Schöpfung hat sie ihnen gegeben, damit sie den Wehrlosen helfen. Man spricht davon im Wald und auf freiem Felde.«

»Es ist gewiß an der Zeit«, sagte die Häsin seufzend, »aber erst muß ich meine Kur brauchen.«

Oben in der Luft kreisten zwei Raubvögel.

»Du«, sagte der Habicht zu seiner Frau, »da unten ist ein kranker Hase. Den wollen wir fressen. Ich habe Hunger. Der andere ist gesund. Der würde uns entwischen.« Er stieß pfeilschnell auf die Häsin nieder. Der Hase sprang entsetzt hinter ein Gebüsch.

Aber der Habicht konnte seine Beute nicht entführen. Ein Schuß traf ihn. Er breitete die Schwingen auseinnder. Sein Blut färbte den Schnee.

»Jetzt ist meine Frau gerettet!« jubelte der Hase. »Das ist gewiß einer von den starken Geistern, die helfen kommen.« Es war kein starker Geist.

Die Häsin richtete sich auf, um fortzueilen. Da traf sie ein Kolbenschlag auf den Kopf. Sie reckte den verstümmelten Körper. Die Augen überzogen sich mit einem matten Schein und erloschen. Der vornehme Mann hatte seine Freude an der Natur.

Im verschneiten Gebüsch saß frierend und jammernd ein kleines Geschöpf mit struppigem Fell. Hoch in der Luft kreiste ein einsamer Vogel. Die Blutspuren auf dem Schnee bildeten seltsame Zeichen. Die Zeit ist sehr nah, wo man sie lesen lernen wird. Und erlöse uns von dem Übel!

Die leichtsinnige Maus

Es war eine Maus, die war leichtsinnig! Sie tanzte Walzer auf dem Schinken, und wenn sie eine Falle sah, so

pfiff sie ein Couplet durch die Zähne. Speck hielt sie für gewöhnlich, mit Kartoffeln spielte sie Kegel, ihre Pfoten wusch sie in Suppe, und ihre Krällchen polierte sie mit Butter. Es war traurig, traurig!

Oft hatte ihre Tante, eine geborene Feldmaus, die ihr Leben lang von einfacher Rohkost gelebt, sie ermahnt, indem sie kummervoll die Pfoten faltete. »Kind«, sagte sie, »du bist leichtsinnig! Du tanzest auf Nahrhaftem, pfeifst auf Gefährliches, hältst Gutes für gewöhnlich, spielst Kegel mit Bekömmlichem, wäschst deine Pfoten in der flüssigen Grundlage des Familienlebens und polierst deine Krallen in Delikatessen! Wo bleibt da die Moral? Schlüpfrig sind die Brote, die mit Wissenschaft eine Katze, und die Krallen bleiben Krallen, auch im zwanzigsten Jahrhundert.

«Sie, Herr Samt«, sagte die Maus dreist,«Sie haben nicht die geringste technische Berechtigung, sich zu bewegen und Krallen zu haben. Das ist wissenschaftlich unhaltbar. Verstehen Sie! Die letzten Forschungen haben das zur Evidenz bewiesen. Richten Sie sich doch nach der Naturwissenschaft!« Das Leuchten der Augen wechselte zwischen Grün und Gelb. Es waren keine sympathischen und keine beruhigenden Farbtöne, und der leichtsinnigen Maus wurde bänglich zumute. Der Samt bekam jetzt eine Stimme. Er sprach laut und deutlich, in mauenden Tönen.

«Nach meiner Lebenserfahrung hat die Natur sich noch nie nach der Naturwissenschaft gerichtet. Wenn ich etwas verschlucke, ist es mir auch gleich, ob es wissenschaftlich erwiesen ist oder nicht. Die Hauptsache ist, daß es gut schmeckt. Aber Sie schmecken sicher nicht gut.« Die Augen kamen näher, und ein gewaltiger Schnurrbart strich tastend über den Körper der entsetzten Maus.

Nun sah sie ein, daß es lebensgefährlich war. In diesem Samt steckte etwas Furchtbares, Ungeahntes, denn er sprach von Verschlucken, und das hieß, daß sie ihm das war, was ihr Aspik war. Wenn man für jemand Aspik ist, dauert es nie lange – dann ist man weg. Das ist wirkliche Naturwissenschaft, aber keine angenehme. Oh, es war furchtbar – furchtbar! Die leichtsinnige kleine Maus faltete die Pfoten und weinte bittere Tränen – keine Tantentränen, sondern Tränen der Angst und Reue, und sie gelobte, sich bis in den Grund ihrer Mauseseele zu bessern, wenn sie den Tatzen dieses mauenden Samts entschlüpfen würde. – Oh, Tante Feldmaus, wie wahr sind deine Worte, und wie verrucht bin ich gewesen und meine Kusine aus der Schachtel , wo Paris draufstand!«Nein, Sie schmecken nicht gut«, fuhr der Samt fort.«Ich könnte Sie ja totbeißen«, meinte er höflich erklärend,«aber das ist Knabensport. Ich kenne Mäuse zur Genüge. Ich bin Wirkl. Geheimer Mausrat, Exzellenz, und erhaben über Kindereien. Wenn Sie noch eben geboren wären, könnte man Sie ja zur Not schlucken, doch auch nur zur Morgenmilch. Aber so – nein. Ich habe mich von der Welt zurückgezogen und bin moralisch. Also gehen Sie und gehen Sie in sich! Die Maus lief, so schnell sie konnte, und preßte die Vorderpfote auf das kleine, klopfende Herz. In der Küche ging sie schon in sich, auf der Kellertreppe noch mehr, und beim scharfen Rettich, wo die Tante saß, war sie schon ganz in sich gegangen. Wenn man in sich geht, bleibt meist nicht viel von einem übrig. So war es auch bei der Maus. »Oh, Tante Feldmaus!« rief sie schluchzend,«ich habe etwas Furchtbares erlebt! Ich habe auf Samt gelegen, der Augen und Krallen hatte und in mauenden Tönen sprach. Der Samt konnte mich verschlucken, aber er hat es nicht getan, weil er eine Exzellenz und moralisch war, und darum bin ich in mich gegangen und werde nun auch moralisch werden!« Die Tante Feldmaus verstand das alles nicht, aber gerade darum war sie doppelt ergriffen. Sie erhob sich von ihrem scharfen Rettich und umpfotete ihre reuige Nichte in tiefster Rührung. Es war eine Tantenrührung. Auch Mäuse haben sie. Und weil das alles eigentlich Blödsinn war, so sagte sie, es wäre ein Wunder, und gründete einen Verein zur Rettung leichtsinniger Mäuse. Die leichtsinnige Maus aber und ihre Kusine aus der Schachtel, wo Paris draufstand, nahmen den Spinnwebschleier und leisteten das Kartoffelgelübde. Und alles war voll des Lobes über den moralischen Samt, der sich von der Welt zurückgezogen hatte. Dies war ein Irrtum. Samt ist nie moralisch. Krallen hat er und Augen auch, oft recht schöne Augen. Aber moralisch ist er nicht. Das ist etwas, was ich ganz genau weiß.

Auch der Wirkl. Geheime Mausrat hatten sich nicht so ganz von der Welt zurückgezogen. Exzellenz schlichen gleich darauf auf leisen Sohlen in die Speisekammer, schoben mit geübter Pfote einige Teller beiseite und speisten eine Schüssel voll zarter Krabben mit tiefem und geschultem Verständnis. Viele ziehen sich in dieser Weise von der Welt zurück und fressen heimlich die zartesten Krabben. Von solchen Leuten stammt dann die Moral im Keller.

Die fünfte, sogenannte feuchte Sinfonie

Auf dem Teich ruderten elf kleine Entchen mit ihrer Entenmama. Zusammen war’s also ein Dutzend, ein richtiges Dutzend. Es war eine Familienflotte. Und nicht nur das. Es war eine Flotte der Gefräßigkeit.

»Das Leben besteht aus der Familie und dem Fressen«, sagte die Entenmutter.

»Ja, Mama«, sagten die Kleinen und fraßen den ganzen Tag. In einer verschwiegenen Ecke des Teiches hatten sich Frösche versammelt.

Es war der philharmonische Chor, der sich zu einer Generalprobe eingefunden hatte. Die fünfte, sogenannte feuchte Sinfonie wurde einstudiert. Die Aufführung des gewaltigen Chorwerkes sollte an einem der nächsten Abende stattfinden. Zu beiden Seiten des Dirigenten, eines dicken, echauffierten Frosches, hatten der Damenchor und der Herrenchor Aufstellung genommen. In der Mitte war nichts, denn der Dirigent konnte wohl vorzüglich nach beiden Seiten zugleich sehen, aber nicht geradeaus. Seine Augen waren mal so eingerichtet, und man nahm Rücksicht darauf, denn es war ein sehr berühmter Dirigent. Das Wasser klatschte nur so, wenn er dirigierte. So berühmt war er.

Die fünfte, sogenannte feuchte Sinfonie begann.

Der Dirigent klopfte mit dem grünen Finger auf ein Blatt. »Zuerst das Andante«, sagte er. »Die Damen und Herren singen gemeinsam. Bitte piano, pianissimo. Mit halber Kehlblase.«

»Die Rosen ruhen im Wasser.

Quabblig wird mein Sinn.

Mein Bräutigam, mein nasser,

Quakt vor sich hin.«

»Sehr gut«, sagte der Dirigent, »nur ›quabblig‹ bitte ganz amoroso. Bedenken Sie, daß es sich um eine mädchenhafte Regung handelt! Nun das Scherzo. Ich bitte die Damen, mit den Füßen leise im Wasser zu klatschen, staccato in lappigen Lauten. Die Damen singen allein. Die Herren bitte ich dringend, unterdessen keine Fliegen zu fangen. Die schnappenden Töne stören in einer Sinfonie ganz ungemein.«

»Nun plätschert er, nun kreucht er,

Nun hupft er auf den Sand.

Mein Bräutigam, mein feuchter,

Winkt mit grüner Hand.«

»Bitte, ›winkt mit grüner Hand‹ etwas neckischer«, sagte der Dirigent. »Er spritzt mit der grünen Hand beim Winken. Es ist gleichsam symbolisch, die ersten Tropfen, verstehen Sie. Nun die Herren allein das Allegro. Ich bitte die Damen, unterdessen keine Fliegen zu fangen. Die Herren bitte ich, sich crescendo aufzublasen.«

»Nun wird er kühn und kühner.

Dahin ist meine Ruh.

Mein Bräutigam, mein grüner,

Krabbelt auf mich zu.«

»Sehr gut«, sagte der Dirigent, »nur ›krabbelt auf mich zu‹ etwas mehr passionato. Nun, bitte, die Damen und Herren zusammen das Finale. Forte, fortissimo. Mit vollen Kehlblasen.

»Die Rosen schwanken im Wasser.

Die Augen quellen so groß.

Mein Bräutigam, mein nasser,

Quakt in meinem Schoß!«

Mit mörderischem Geschnatter fuhr die Flotte der Gefräßigkeit mitten in das Finale der fünften, sogenannten feuchten Sinfonie. Sie schnappten voll Appetit nach den Beinen der Philharmoniker.

»Familie und Fressen!« rief die Entenmutter triumphierend. »Ja, Mama«, schrien die Kleinen und durchstöberten das ganze Schilf.

Aber sie fanden nichts mehr. Die Philharmoniker hatten sich gerettet. Sie saßen tief aufatmend an einer sicheren Stelle und schluckten Fliegen.

»Es ist ein wahres Glück«, sagte der Dirigent, »daß die Flotten der Gefräßigkeit stets vorher ein so mörderisches Geschnatter erheben. Da kann man sich vorsehen. Sie würden sonst alle Philharmoniker einfach auffressen, und wo bliebe dann die fünfte, sogenannte feuchte Sinfonie‘!«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht ist Boxer. Ich bin sehr befreundet mit ihm, und so beschloß ich eines Tages, ihn zu interviewen. Man kann doch allerlei dabei lernen, dachte ich, ein Einblick in die Verschiedenheit der Natur ist immer wertvoll, und vielleicht gibt der Mann mit dem schwarzen Gesicht mir interessante Streiflichter aus der Hundeperspektive – aus der wirklichen natürlich, nicht aus der, welche die Menschen darunter verstehen.

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht benagte gerade einen respektablen Knochen, den er in den Küchenräumen eingefordert hatte. Es ist das so, als ob wir nach Tisch eine Zigarre rauchen.

»Hol dir auch einen Knochen aus der Küche!« sagte er gönnerhaft. Wir duzen uns nämlich.

Ich wehrte dankend ab. »Ich wollte dich heute einiges fragen. Ich schreibe ein Buch. Da brauch‘ ich deine Ansichten. Über die Menschen, zum Beispiel.«

Der Knochen splitterte.

»Über die nackten Zweibeiner also. Das ist ein sehr knorpeliges Thema.«

Er knurrte leise.

Ich war einigermaßen verblüfft. »Wie meintest du? Nackte Zweibeiner? Ich meinte über uns.«

»Ja, so heißt ihr«, sagte der Mann mit dem schwarzen Gesicht ruhig, –»die Bezeichnung ist sehr treffend. Findest du nicht auch?«

Ich fand es also auch.

»Darüber gebe ich eigentlich nicht gerne Auskunft«, sagte er, »das Thema ist wie ein Stück Fleisch. Auf einer Stelle gut, auf der anderen kann man sich die Zähne dran zerbeißen, so sehnig ist es.«

»Aber etwas könntest du mir doch sagen. Nur einige allgemeine Gesichtspunkte. Man hat doch über sich selbst nicht das Urteil.«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht begann den Knochen von der anderen Seite.

»Schön«, sagte er wohlwollend. »Aber mehr als das bißchen, das wir so als junge Hunde lernen, kann ich dir nicht sagen. Das geht nicht. Auch kann ich mich nur ganz objektiv äußern und auch nur in der Form der Unterhaltung. Weißt ich halte gerade Nachmittagsruhe.« Er wies mit der Pfote auf den Knochen.

»Natürlich. Es ist nur ein Interview. Bloß so. Laß dich ja nicht stören! Also was lernt ihr – pädagogisch betrachtet – als junge Hunde über die nackten Zweibeiner?«

»Nur das Nötigste. Das andere ergibt sich von selbst und ist auch zu verschieden. In erster Linie ist der Wert der nackten Zweibeiner ein rein wirtschaftlicher. Je näher der Küche, desto besser. Ausnahmen gibt es natürlich. Naturwissenschaftlich wäre folgendes zu sagen: Die nackten Zweibeiner haben in der Urzeit offenbar eine Art Räude gehabt; denn sie haben alles Fell verloren bis auf die geringe und geradezu albern wirkende Behaarung auf dem Kopf. Beim weiblichen Geschlecht ist diese stärker, dafür setzen die männlichen nackten Zweibeiner in der Schnauzengegend einige Haare an, die sie sehr pflegen, obwohl das keinen Sinn hat. Von einem eigentlichen Fell kann man nicht sprechen. Ihr Gang ist sehr merkwürdig und ähnelt dem eines Storches. Sie stellen sich auf die Hinterbeine und gehen mit gravitätischen Schritten von grotesker Komik verhältnismäßig langsam vorwärts, während sie die Vorderpfoten hängenlassen oder in der Luft schlenkern. Das alles sieht, besonders von weitem und wenn sie in größeren Mengen herumspazieren, sehr sonderbar aus. Dazwischen verneigen sie sich und nicken mit den Köpfen oder sie stoßen ein merkwürdiges Lachen aus, das dem Wiehern eines jungen Pferdes sehr nahekommt. Aber ich möchte nicht taktlos sein. Am Ende kränkt es dich?«

»Oh, gar nicht, ich habe ja selbst darum gebeten.« Im stillen war ich wohl etwas gedrückt.

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht hatte meine Stimmung bemerkt.

»Die nackten Zweibeiner«, lenkte er gutmütig ein, »würden ja gar nicht so unsagbar komisch wirken, wenn sie sich nicht so wichtig vorkämen. Sie laufen mit einem Gesicht herum, als röchen sie alles. Dabei haben sie eine miserable Nase und finden beinahe nie eine Spur, nicht mal die allereinfachste.«

»Ja, mit dem wichtigen Ausdruck hast du recht«, sagte ich seufzend und dachte an sehr viele Leute dabei. »Das andere ist mir allerdings etwas neu und überraschend. Du verstehst.«

Er sah diskret weg und knabberte an seinem Knochen.

»Die nackten Zweibeiner«, fuhr er fort, »haben also kein Fell bis auf die wenigen Haare, die zudem bei älteren Exemplaren ausfallen oder grau werden. Die Jungen – selten mehr als eins – kommen ebenfalls nackt zur Welt und sind sehr lange unbeholfen. Um nicht zu frieren, hüllen sich die nackten Zweibeiner in Lappen von verschiedenen Farben. Es sieht sehr häßlich aus; aber die hilflosen Geschöpfe können schließlich nicht anders, sie kämen ja um vor Frost.« Ich schwieg dazu. Ich hatte keine Lust, ihn über unsere sittlichen Grundsätze aufzuklären, die den Körper für etwas Unanständiges halten.

»Das Gesicht und die Vorderpfoten bleiben frei«, erklärte der Mann mit dem schwarzen Gesicht weiter. »Nur wenn die nackten Zweibeiner große Versammlungen haben und sich verneigen und mit dem Kopf nicken, dann verdecken sie meist auch die Vorderpfoten. Warum, weiß ich nicht.« – Ich wußte es auch nicht.

»Ihre Zähne sind schwach, obwohl sie viel und gerne fressen. Aber eine richtige Beißerei habe ich nie gesehen. Im Gegenteil, oft habe ich bemerkt, daß, wenn zwei nackte Zweibeiner besonders wütend aufeinander waren, sie sich doppelt so oft voreinander verneigten und sich allerlei Angenehmes sagten. Die Vorderpfoten sind ungemein entwickelt, und sie sind äußerst geschickt damit, wie die Affen, mit denen sie überhaupt die meiste Ähnlichkeit haben. Der Schwanz fehlt bei allen Exemplaren; daher können sie nicht wedeln. Sie zeigen die Zähne, wenn sie vergnügt sind. Auch reißen sie sich gegenseitig an den Vorderpfoten, wenn sie sich begrüßen und verabschieden. Flöhen können sie nicht. Kannst du flöhen?«

»Nein«, sagte ich verlegen, »leider nicht. Ich hatte keine Gelegenheit dazu.«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht schluckte mißbilligend.

»Auch in anderen Dingen sind die nackten Zweibeiner recht sonderbar«, fuhr er fort, »weiße glatte Gesichter zum Beispiel halten sie für schön. Was würden wir sagen, wenn die Boxerdamen nicht den samtnen schwarzen Teint hätten und die vielen pikanten Falten? Ganz merkwürdig ist auch die Vorliebe der nackten Zweibeiner für ein gewisses schmutziges Metall. Sie laufen den ganzen Tag herum und arbeiten, um es zu bekommen. Auch geben sie es ungern wieder her. Wenn man das schmutzige Metall hat, kriegt man die schönsten Dinge, und wer am meisten davon hat, vor dem wedeln alle anderen – wenn man von Wedeln sprechen kann bei dieser trüben Schwanzlosigkeit.«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht hatte seinen Knochen beendet. –»Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich weiß noch eine ganze Menge; aber das geht über das hinaus, was ich sagen darf. Das sind persönliche Dinge, über die ich nachgedacht habe, und ich bin Philosoph. Philosophen sagen nie alles. Sdion damit ihnen kein Maulkorb umgebunden wird.«

»Das ist bei uns auch so«, sagte ich.

»Siehst du. Das bißchen kannst du aber ruhig erzählen. Es ist nur Junge-Hunde-Weisheit. Viele werden auch das nicht verstehen.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte ich.

»Im übrigen«, schloß er, »laß die Ohren nicht hängen, wenn du auch nur ein nackter Zweibeiner bist! Seele können alle haben, nackte Zweibeiner und befellte Vierbeiner. Auf Wiedersehen!«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht gab Pfote.

Ich verabschiedete mich. Mir war hundsmiserabel.

»Du möchtest also jedenfalls kein nackter Zweibeiner sein?«

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht fletschte die Zähne: »Rrrrrrrrrrrrr!«

Das Faultier

Das Faultier hing an einem Ast und duselte vor sich hin.

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

Es seufzte herzbeweglich. Seufzen hielt es für schlafbefördernd.

Unten am Stamme des Baumes saß ein kleines Pinseläffchen und las in einem Buch. Das Buch war auf Baumrinde geschrieben und in Lianengeflecht gebunden. Den Entwurf dazu hatte eine Giftspinne gezeichnet – eigenbeinig. Darum war der Einband giftgrün geworden. Das Buch hieß: »Wie werde ich energisch?« Solches hatte das Äffchen sehr nötig. Denn Pinseläffchen sind zarte und schüchterne Geschöpfe. Das Faultier seufzte herzbeweglich.

»Was fehlt Ihnen denn eigentlich?« fragte das Äffchen teilnehmend und guckte nach oben. »Ist Ihnen nicht wohl?«

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

»Sie sind gewiß krank«, sagte das Äffchen und kletterte hilfsbereit nach oben.

Das Faultier rührte sich nicht.

»Ich bin hungrig«, sagte es und seufzte.

»Aber dicht über Ihnen hängen ja die schönsten Früchte und Blätter«, sagte das Äffchen erstaunt.

Das Faultier blinzelte nach oben.

»Ich bin zu faul«, sagte es und seufzte.

»Sie müssen das Buch lesen ›Wie werde ich energisch?‹«, sagte das Äffchen eifrig und zeigte auf den giftgrünen Einband. »Eine Tante von mir hat das Buch gelesen und ist so energisch geworden, daß kein Affe mehr mit ihr leben kann. Meine Tante fletscht die Zähne und schmeißt mit Steinen. So energisch ist siegeworden.«

»Daß ich ein Buch lese, ist vollständig ausgeschlossen«, sagte das Faultier.

»Ja, was machen wir denn da?« sagte das Äffchen ratlos. »Sie können doch nicht einfach verhungern vor den reifen Früchten!

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

Das Pinseläffchen hatte ein sehr weiches Herz. Es konnte das Seufzen nicht mehr anhören. Es nahm ein Bündel Blätter und stopfte es dem Faultier ins Maul. Das Faultier kaute schwer und mühsam, mit geschlossenen Augen. Das Äffchen stopfte und half mit den Füßen nach.

»So geht es aber nicht weiter«, sagte das Pinseläffchen nach dem eingestopften Diner. »Sie müssen energisch werden. Ich werde Ihnen das Buch ›Wie werde ich energisch? ‹ vorlesen, da Sie schon zu faul sind, es selbst zu lesen. Aber Sie müssen aufmerksam zuhören.«

»Daß ich zuhöre, wenn ein Buch vorgelesen wird, ist vollständig ausgeschlossen«, dachte das Faultier. Es sagte das aber nicht mehr. Es war zu faul dazu.

Das Äffchen setzte sich neben das Faultier und nahm den giftgrün en Einband zur Hand. Es las das ganze Buch mit lauter Stimme von Anfang bis zu Ende.

»Sind Sie nun energisch geworden?« fragte das Äffchen und sah

das Faultier erwartungsvoll an.

Das Faultier rührte sich nicht. Es war eingeschlafen.

Da nahm das zarte Pinseläffchen das Buch ›Wie werde ich energisch?‹ und warf es dem Faultier wütend an den Kopf. So energisch war es geworden – beinahe wie seine Tante, die mit . Steinen schmiß und die Zähne fletschte.

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

Man sagt, daß die Faultiere aussterben. Das glaube ich nicht. Wenn sie aber wirklich aussterben, so sind sie der beste Beweis für die Seelenwanderung.

Unter uns Ungeziefer

Eine dicke Wanze, Frau Oberbettrat Krabbelbein, geborene Saugesanft, hatte zu einem Rout in ihre Villa, eine alte Matratze, eingeladen. Aber nur Ungeziefer im allerstrengsten Sinn des Wortes. Man wollte ganz unter sich sein. Keiner, der nicht matratzenfähig war, sollte zugelassen werden. Die Kammerwanze hatte strengste Weisung. Frau Oberbettrat Krabbelbein hielt auf Standesgefühl. Außerdem sollte der Rout einen politischen Charakter tragen. Es sollte eine Resolution gefaßt werden. Das mußte streng intern bleiben. Deshalb war auch ihre Villa der richtige Ort. Denn wo kann es interner sein als in einer alten Matratze?

Zuerst kamen die Wanzen, die zur engeren Familie gehörten. Einige alte Onkel und Tanten mit durch und durch verwanzten Grundsätzen und vornehm glänzenden Rückenschalen. Sie krochen langsam und würdig und dufteten intensiv nach Peau de punaises – mit einem Wort, alte Familie. Auch setzten sie die Füße noch in den altmodischen zierlichen Pas, wie sie es in der ersten Krabbelstunde gelernt hatten. Denn die Wanze ist konservativ. Daher bleibt sie auch, solange sie irgend kann, in der alten Matratze – wenn nicht ausgeklopft wird. Nach verbindlichem Bewegen der Fühlhörner gruppierte man sich um die Dame des Hauses.

Gleich darauf kam auch die Jugend. Einige Flöhe aus den allerbesten Kreisen. Darunter der Champion im Hochsprung und der Champion im Weitsprung. Überhaupt Sportsleute, jeunesse doree. Der Führer der Gesellschaft war ein elegant gebauter, vielgereister Floh mit lässigen Beinbewegungen. Sein Wahlspruch war: »Toujours en dessous«, und man sagte ihm nach, er sei frivol und blasiert. Aber da er sein Ungezieferblut nie verleugnet hatte, so sah man ihm das nach und entschuldigte es mit den weiten Reisen, die ja bekanntlich das Gemüt verderben und es leicht von der alten angestammten Matratze ablenken zu Dessous und ähnlichen unsoliden Gegenständen.

Auch Läuse kamen, Kopfläuse. Sie hatten ihre Handarbeit mitgebracht, einige Haare, an denen sie emsig häkelten. Läuse sind so tätig.

Alles kroch an der Dame des Hauses vorbei, die ihr rechtes Fühlhorn graziös zum Kuß reichte. Es herrschte strenge Matratzenetikette. Es roch förmlich nach Tradition und peau de punaises.

Nachher lagerte man sich zwanglos. Man war ja unter sich. Nur die Schaben durften an dem Defiliergekrieche nicht teilnehmen und auch das Fühlhorn von Frau Oberbettrat Krabbelbein nicht küssen. Sie galten als Küchenpersonal, und so was hat unter lauter echtem Ungeziefer abseits zu stehen. Es ist nicht standesgemäß. So saßen die Küchenschaben bescheiden am Ende der Matratze. Hinter ihnen, als noch minderwertiger, waren die Bücherläuse postiert, die grau und unscheinbar aussahen.

Frau Oberbettrat Krabbelbein faltete die Fühler und sagte: »Liebe Gesinnungsgenossen! Ich heiße Sie alle von ganzem Wanzenherzen mit beiden Fühlern willkommen. Ein ernster Zweck hat uns vereint. So laßt uns beginnen! Baron Plattmagen hat das Wort.«

Baron Plattmagen, ein schon altersbrauner Wanzerich, erhob sich. »Meine Damen und Herren, sowie auch Küchenschaben und Bücherläuse« – er trennte die Anrede –, »unsere hochverehrte Frau Oberbettrat Krabbelbein hat recht gesprochen. Es ist ein ernster Zweck, der uns hergeführt hat. Unsere vitalsten Interessen stehn auf dem Spiel. Der ehrwürdige Boden, auf dem wir fußen, beginnt zu wanken. Es ist eine schlimme Zeit.

Eine Zeit, in der alte Matratzen ausgeklopft werden.«

Baron Plattmagen bewegte ergriffen die Beine. Frau Oberbettrat Krabbelbein blickte tränenden Auges auf ein Loch in ihrer Villa. Ein beifälliges Krabbeln ging durch die ganze Gesellschaft.

»Ich danke Ihnen für Ihre Zustimmung«, sagte Baron Plattmagen, »sie ermutigt mich fortzufahren. Wenn wir unsere Interessen verteidigen, so verteidigen wir eine große Vergangenheit. Was haben wir alles geleistet! Solange man denken kann, haben Wanzen und Flöhe Menschen und Tiere ausgesogen. Wir haben auch sonst unendlich viel für die Kultur geleistet. Ja, wir leisten es noch heute. Sehen Sie um sich! Wo ist der Champion im Hochsprung? Wo ist der Champion im Weitsprung? Unter uns sind sie! Unter den Besten der Unseren. Gehen wir vom Geschichtlichen ab! Welch einen Hausfleiß entwickeln unsere stillen, sanften Verwandten, die Läuse! Sehen wir von der Gesellschaft ab! Selbst die Niederen unter uns, die Küchenschaben, entwickeln Fleiß und Ausdauer, getreu unserem leuchtenden Beispiel! Gehen wir noch tiefer! Betrachten wir die Bücherläuse! Sie zerstören in der Literatur, was sie können. Leider immer noch nicht genug und nicht am richtigen Platze. Sie fressen zu wahllos. Ich will ihrer Tätigkeit unser Wohlwollen nicht vorenthalten. Aber von durchgreifendem Nutzen kann sie nur sein unter unserer Leitung, wenn sie streng in unserem Sinne, durchaus ungeziefergemäß ausgeübt wird.«

Die Bücherläuse schwiegen bedrückt und sahen ergeben auf Baron Plattmagen. Sie hatten wirklich getan, was sie konnten. Ihnen war schon ganz wüst im Kopf vom vielen Bücherzerfressen, und zum Verdauen war überhaupt keine Zeit mehr.

»Richten Sie Ihr Augenmerk vor allem auf die Tagespresse!« rief Baron Plattmagen. »Hier liegt die Gefahr. In Büchern ist Kunst und solch ein Kram dabei, darum liest das kein Mensch. Aber die Zeitung liest jeder, weil er wissen will, was er denken soll. Die Presse ist unser ärgster Feind. Jeden Tag stehen die aufreizendsten Annoncen in der Zeitung, wie man Ungeziefer vertilgen kann. Das muß das Publikum verderben.

Fressen Sie die Presse, wenn Ihnen unsere Interessen heilig sind und wenn Sie würdig bleiben wollen, in den Reihen des Ungeziefers zu stehen! Wir alle aber, meine verehrten Damen und Herren sowie auch Küchenschaben und Bücherläuse, wir wollen uns wenden gegen diese verwerfliche Hetze und abscheuliche« – der Redner stockte –, »diese abscheuliche – es steht im Konversationslexikon unter I …« »Intelligenz«, warf eine Bücherlaus hilfreich und bescheiden ein.

»Ach was, halten Sie die Beißzange!« schrie Baron Plattmagen echauffiert, »abscheuliche Infamie, wollte ich sagen.« »Unter uns Ungeziefer ist das doch ganz egal«, meinte der elegante Floh mit dem Wahlspruch »Toujours en dessous«.

Man überging es taktvoll. Man wußte ja, er war frivol. Das kam von den weiten Reisen, wo das Gemüt verdorben wird. Baron Plattmagen erhob beide Fühler.

»So fassen wir denn«, rief er, »so fassen wir denn alles zusammen, was uns teuer ist. So fassen wir denn eine Resolution und fassen wir sie zusammen in die Worte: Schützet eure alten Matratzen!«

Nicht enden wollendes Bravorufen und Beineklatschen folgte dem Schluß der Rede. Schützet eure alten Matratzen! Man fühlte, daß in diesen Worten wirklich alles erschöpft war, was dem Ungeziefer heilig ist.

Der Rout von Frau Oberbettrat Krabbelbein, geborener Saugesanft, war zu Ende.

Es juckt einen förmlich.