Zwölftes Kapitel


Die Geschichte einer Pflanzung

Taahauku an der Südwestküste der Insel Hiva-oa – Tahuku sagen die Weißen nachlässig – kann man den Hafen von Atuona nennen. Es ist ein schmaler und kleiner Ankerplatz, eingebettet zwischen niedrigen, spitzen Klippen; oberhalb öffnet sich ein waldiges Tal. Ein kleines französisches Fort, jetzt geschleift und verlassen, hängt über dem Tal und der Hafeneinfahrt. Atuona selbst, am Innenbogen der nächsten Bucht, ist von Bergen umgeben, die auch die nahe gelegenen Teile von Taahauku beherrschen und der Landschaft charakteristische Züge verleihen. Man schätzt sie auf nicht mehr als viertausend Fuß, aber Tahiti mit achttausend und Hawaii mit fünftausend bieten kein so zerrissenes Bild melancholischer Alpenszenerie. Wenn am Morgen die Sonne direkt die Vorderfront trifft, stehen sie da wie ein ungeheurer Wall, grün bis zum Gipfel, wenn der Gipfel überhaupt klar ist: Wasserläufe durchfurchen ihr Antlitz, schmal wie Risse. Gegen Nachmittag fällt das Licht schräger ein, und die Gliederung des Gebirgszuges tritt deutlicher hervor, ungeheure Schluchten versinken in Schatten, riesige zerklüftete Vorsprünge stehen von Sonne beglänzt. Sie bieten dem Auge zu jeder Tagesstunde neue Schönheiten dar und lasten auf dem Gemüt mit ihrer immer gleichen, drohenden Düsternis.

Die Berge spalten den unaufhörlichen Windstrom des Passats, leiten ihn ab und sind ohne Zweifel verantwortlich für das Klima. Starke Böen strichen Tag und Nacht über den Ankerplatz. Tag und Nacht jagten unentwegt phantastische, zerrissene Wolken am Himmel, eine düstere Regen- und Nebelkappe hob und senkte sich über die Berge. Die Landwinde strömten sehr heftig und kalt herein, und See und Luft waren in ständigem Aufruhr. Die Dünung drängte sich in den engen Hafen wie eine Schafherde in die Hürde, brach sich überall an beiden Ufern, bald hochgetürmt, bald flach, ließ an einer Stelle eine Felsspalte wie eine Kanone donnern und rauchen und verlief sich schließlich auf dem Strande.

Auf der Seite, die am weitesten von Atuona entfernt liegt, war unter dem Schutz des Vorgebirges eine Art Baumschule für Kokospalmen entstanden. Manche waren noch Knirpse, keine hatte bereits eine beträchtliche Größe erreicht, keine war schon himmelwärts emporgeschossen mit dem peitschenähnlichen Schaft der ausgereiften Palme. Die jungen Baume wechseln die Farbe mit dem Alter und Wachstum. Jetzt ist noch alles von grasartiger Zartheit, unendlich zierlich; bald wird die Blattrippe golden, während die Wedel grün wie Farnkraut bleiben; und nun, während die Stämme höher streben und den endgültigen grauen Schimmer annehmen, färben sich die Fächer männlicher und entschiedener dunkelgrün, sehen aus der Entfernung schwarz aus, stehen dunkel gegen das Sonnenlicht und blitzen wie silberne Fontänen im Windessausen. Im jungen Walde von Taahauku fanden sich alle diese Schattierungen und Entwicklungsstadien zu Dutzenden. Die Bäume wuchsen in schönen Abständen auf einer hügeligen Grasfläche, hier und dort stand ein Gestell zum Trocknen der Kopra oder eine halbverfaulte Hütte zum Sammeln der Ware; hier und dort konnte man im Umherstreifen die »Casco« auftauchen sehen, wie sie in dem schmalen Hafen tanzte; und jenseits hatte man stets das finstere Amphitheater der Gebirge von Atuona vor sich und das Klippengewirr, das es nach der See hin abschließt. Der Passatwind rauschte in den Palmfächern wie ewiger Sommerregen, und von Zeit zu Zeit erdröhnte die Brandung lärmend wie plötzlicher, ferner Trommelwirbel in einer Meeresgrotte.

Am oberen Ende des Hafens sinken die niedrigen, klippenreichen Ufer nach beiden Seiten in eine Bucht. Ein Kopralagerhaus steht im Schatten der Bäume am Strand, unablässig umsegelt von Zwergschwalben, und ein Eisenbahngeleise führt auf hohem Holzgerüst rückwärts zur Talöffnung. Schreitet der neuangekommene Reisende auf ihm weiter, so bemerkt er eine breite Süßwasserlagune, und wenn er den einen Arm überquert, drüben einen Hain edler Palmen, die das Haus des Händlers, Mr. Keane, beschatten. Droben vereinen sich die Kokospalmen zu einem undurchbrochenen, hohen Dach, Drosseln hört man lustig singen, der Inselhahn schreit jubelnd und schrill und spreizt sein goldenes Gefieder, Kuhglocken ertönen fern und nah im Hain, und wenn man auf der breiten Veranda sitzt, eingelullt von dieser Symphonie, mag man zu sich selbst sagen, wenn man kann: »Besser fünfzig Jahre Europa …« Weiter hinauf ist der Boden des Tals flach und grün, hier und da recken sich Kokospalmen. Durch die Mitte rinnt und raunt vieltönig der Fluß, und an seinen Ufern, wo wir nach Weiden suchen könnten, wachsen Puraos in Büschen an schattigen Buchten, die des Anglers Herz erfreuen. Ein reicheres und friedvolleres Tal, eine süßere Luft und ein süßeres Konzert ländlicher Laute habe ich nirgends entdeckt. Ein Umstand nur muß den Erfahrenen sonderbar berühren: hier ist bequemer Strand, tiefer Boden, gutes Wasser, und doch gibt es nirgends Hausplattformen und keine Spur von Behausungen Eingeborener.

Noch vor einigen Jahren war dies Tal ein von Dschungeln beherrschter Platz, das umstrittene Gebiet und der Kampfplatz von Kannibalen. Zwei Stämme erhoben Anspruch darauf, keiner konnte ihn durchsetzen, die Wege lagen verlassen oder wurden nur von waffentragenden Männern aufgesucht. Gerade aus diesem Grunde bietet es jetzt einen so lieblichen Anblick: gerodet, bepflanzt, bebaut, von Bahnen durchzogen, mit Bootshäusern und Badehütten versehen. Da es nämlich Niemandsland war, wurde es bereitwilligst einem Fremden ausgeliefert. Der Fremde war Kapitän John Hart. Ima Hati, »Gebrochener Arm«, nennen ihn die Eingeborenen, weil er beim ersten Besuch der Inseln den Arm in einer Schlinge trug. Kapitän Hart, ein Mann englischer Herkunft, aber amerikanischer Untertan, hatte während des Amerikanischen Krieges den Plan gefaßt, auf den Marquesas Baumwollkulturen anzulegen, und sein Unternehmen war zunächst von Erfolg gekrönt. Seine Pflanzung bei Anaho war höchst ergiebig, die Inselbaumwolle erzielte hohe Preise, und die Eingeborenen stritten sich, wer die größere Macht sei, Ima Hati oder die Franzosen, und entschieden sich für den Kapitän, weil die Franzosen zwar die meisten Schiffe hatten, er aber mehr Geld.

Er wählte Taahauku als geeignetes Gelände, erwarb es und bot die Oberaufsicht Mr. Robert Stewart, einem Mann aus Fifeshire, an, der schon eine Zeitlang auf den Inseln weilte und soeben durch einen Krieg auf Tauata ruiniert worden war. Mr. Stewart hatte eine gewisse Abneigung gegen das abenteuerliche Unternehmen, denn er kannte Atuona und seinen berüchtigten Häuptling Moipu ein wenig. Einst, so erzählte er mir, war er dort gelandet und hatte die Überreste eines Mannes und einer Frau gefunden, die teilweise verzehrt waren. Er stutzte und empfand Grauen bei dem Anblick, aber einer der jungen Leute Moipus ergriff einen menschlichen Fuß, schaute den Fremdling herausfordernd an, grinste und knabberte an der Ferse. Man wird nicht erstaunt darüber sein, daß Mr. Stewart sofort in den Busch floh, dort die ganze Nacht in großer Seelenpein verharrte und bei Sonnenaufgang am Morgen wieder in See stach: »Atuona war immer ein schlechter Platz«, sagte Mr. Stewart in seinem heimatlichen Fifeshiredialekt. Trotz dieser grausigen Anfangserfahrung nahm er das Angebot des Kapitäns an, wurde mit drei Chinesen bei Taahauku an Land gesetzt und begann den Dschungel zu roden.

Krieg tobte zu jener Zeit fast ohne Unterbrechung zwischen den Leuten von Atuona und Haamau, und eines Tages raste die Schlacht – oder, besser gesagt, der Schlachtenlärm – auf beiden Seiten des Tales den ganzen Nachmittag, Schüsse und Schimpfreden der feindlichen Stämme flogen von Hügel zu Hügel über die Köpfe von Mr. Stewart und seinen Chinesen hinweg. Es war kein eigentliches Gefecht, sondern eher eine Streiterei zwischen Schuljungen, aber irgendein Narr hatte den Kindern Gewehre gegeben. Ein Mann starb von der Überanstrengung beim Laufen, das war der einzige Tote. Bei Einbruch der Nacht hörten die Schüsse und Flüche auf, die Leute von Haamau zogen sich zurück, und der Sieg wurde nach irgendeinem geheimnisvollen Grundsatz Moipu zugesprochen. Vielleicht veranstaltete Moipu infolgedessen eines Tages ein Festmahl, zu dem eine Anzahl Leute von Haamau unter freiem Geleit erschienen, um mitzuschmausen. Sie kamen in der Frühe an Taahauku vorbei, und einige der jungen Leute Moipus waren als Ehrengarde anwesend. Kurze Zeit danach, als sie weitergegangen waren, kamen ein Mann, seine Frau und ein zwölfjähriges Mädchen von Haamau, um Pilze zu bringen. Einige Burschen von Atuona trieben sich in der Nähe des Lagers umher, aber da Waffenstillstand herrschte an dem Tage, vermutete niemand Gefahr. Die Pilze wurden gewogen und bezahlt, der Mann von Haamau schlug vor, man möchte ihm als Zugabe noch eine Axt schleifen, und als Mr. Stewart wegen der Unbequemlichkeit die Bitte abschlug, boten einige Burschen aus Atuona sich an, sie für ihn zu schleifen, und setzten sie auf den Schleifstein. Während die Axt geschliffen wurde, flüsterte ein freundlich gesinnter Eingeborener Mr. Stewart zu, er solle sich in acht nehmen, böse Dinge bereiteten sich vor; und plötzlich wurde der Mann aus Haamau ergriffen und Kopf und Arme vom Rumpf getrennt, der Kopf durch einen Hieb seiner eigenen neugeschärften Axt. In der ersten Aufregung flüchtete das Mädchen zwischen die Baumwolle, und Mr. Stewart, der die Frau ins Haus gedrängt und die Tür hinter ihr geschlossen hatte, glaubte, daß die Angelegenheit erledigt sei. Aber das alles war nicht ohne Lärm vor sich gegangen, der zu einem älteren Mädchen drang, das sich in der Nähe umhertrieb und nun rasch das Tal heruntereilte und nach ihrem Vater schrie. Auch sie ergriffen und enthaupteten sie; ich weiß nicht, was sie mit der Axt gemacht hatten, sie führten ihre Bluttat an dem Mädchen mit einem stumpfen Messer aus; und das Blut floß in Strömen und färbte sie von Kopf zu Füßen. Grauenhaft durch ihre Verbrechen entstellt, kehrte die Horde nach Atuona zurück und schleppte die Köpfe zu Moipu. Man kann sich vorstellen, daß das Fest abgebrochen wurde, aber es ist bemerkenswert, daß man die Gäste unangetastet abziehen ließ. Sie kehrten in wilder Unordnung durch Taahauku zurück, kurze Zeit nachher war das Tal überschwemmt von schreienden und triumphierenden Tapferen, und da gleichzeitig ein Warnungsbrief bei Mr. Stewart anlangte, suchte er mit seinen Chinesen Zuflucht bei dem protestantischen Missionar in Atuona. In jener Nacht wurde das Lager geplündert, die Leichen wurden in eine Grube geworfen und mit Laub bedeckt. Drei Tage später war der erwartete Schoner eingelaufen, und da wieder Ruhe zu herrschen schien, gingen Mr. Stewart und der Kapitän in Taahauku an Land, um den Schaden zu berechnen und das Grab zu besichtigen, das bereits Verwesungsgeruch ausströmte. Als sie dabei waren, kamen einige von Moipus jungen Leuten, bekleidet mit rotem Flanell, dem Zeichen kriegerischer Absichten, über die Hügel von Atuona, gruben die Leichen aus, wuschen sie im Fluß und trugen sie auf Stöcken fort. In jener Nacht begann das Festmahl.

Alle, die Mr. Stewart vor diesen Ereignissen kannten, erklärten, der Mann habe sich vollständig geändert. Er verharrte jedoch auf seinem Platz, und einige Zeit später, als die Pflanzung schon gute Fortschritte gemacht hatte und sechzig Chinesen und siebzig Eingeborene beschäftigte, fand er sich neuen Gefahren gegenüber. Die Leute von Haamau, so hieß es, hatten geschworen, die Niederlassung zu plündern und auszurotten. Es kamen fortlaufend Briefe des hawaiischen Missionars, der als Nachrichtenbureau diente, und sechs Wochen lang schlief Mr. Stewart mit drei anderen Weißen im Baumwollager zwischen Barrikaden von Ballen und – was die beste Art der Verteidigung war – übte in aller Öffentlichkeit tagsüber Gewehrschießen an der Bucht. Eingeborene waren oft anwesend, um sie zu beobachten; die Schießübungen verliefen glänzend, und der Angriff fand nie statt, wenn er überhaupt beabsichtigt war, was ich bezweifle, denn die Eingeborenen sind tüchtiger im Erfinden falscher Gerüchte als in mutvollen Taten. Man erzählte mir, der letzte Französische Krieg habe das bewiesen, die Stämme an der Bucht warfen denen der Berge böse Pläne vor, die auszuführen sie niemals Wagemut genug besessen hätten. Und ähnliche Berichte über die Feigheit der Insulaner in offener Schlacht kamen von allen Seiten. Kapitän Hart landete einst nach einem Kampf an einer bestimmten Bucht, ein Mann hatte eine Handwunde, ein altes Weib und zwei Kinder waren erschlagen worden, und der Kapitän beruhigte die Leute, indem er die Hand verband und beide Parteien verspottete wegen der Lächerlichkeit der ganzen Angelegenheit. Tatsächlich waren diese Kriege oft reine Formsache wie Duelle bis zum ersten Blutvergießen. Hart besuchte eine Bucht, wo solch ein Krieg zwischen zwei Brüdern ausgetragen wurde, deren einer angeblich gegen die Gäste des anderen unhöflich gewesen war. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung leistete abwechselnd auf der einen oder andern Seite Kriegsdienste, um mit beiden gut Freund zu sein, wenn der unvermeidbare Friede käme. Die Befestigungen der Kriegführenden lagen sich dicht gegenüber. Schweine wurden gekocht, gut geölte Tapfere schritten mit gut geölten Gewehren auf den Paepaes auf und ab oder setzten sich nieder zum Festmahl. Kein noch so wichtiges Geschäft konnte erledigt werden, alle Gedanken schienen auf diesen lächerlichen Scheinkrieg gerichtet. Einige Tage darauf wurde durch einen bedauerlichen Zufall ein Mann getötet, man fühlte, daß man zu weit gegangen sei, der Streit wurde sofort beigelegt, aber ernsthafte Kriege wurden in ähnlichem Geiste geführt, ein Geschenk von Schweinen und ein Festmahl bildeten stets den Beschluß, die Tötung eines einzigen Mannes war ein großer Sieg, und die Ermordung Wehrloser wurde als Heldentat gepriesen.

Der Fuß der Klippen ist auf allen diesen Inseln der geeignete Platz zum Fischen. Zwischen Taahauku und Atuona sahen wir Männer, aber hauptsächlich Frauen, manche beinahe nackt, andere in dünnen weißen oder scharlachroten Kleidern, auf den gischtbespritzten Vorsprüngen hocken, braune Felsen über dem Kopf und ringsumher, als wollten sich die Leute von aller Hilfe absperren. Dort angelten sie fast den ganzen Vormittag, und sobald sie einen Fisch fingen, aßen sie ihn roh und lebendig, wo sie standen. Diese hilflos Einsamen pflegten die Krieger der gegenüberliegenden Insel Tauata zu erschlagen, heimzutragen und zu verspeisen, wofür man sie mächtige Kriegshelden nannte. Von einem solchen Überfall kann ich die Beschreibung eines Augenzeugen geben. »Portugal-Joe«, Mr. Keanes Koch, ruderte einst in einem Boot von Atuona, als die Besatzung einen Fremdling in einem Kanu erspähte mit einigen Fischen und einem Stück Tabu. Die Atuonaer riefen ihm zu, er solle herankommen und einen Zug aus der Pfeife tun. Er willfahrte, weil er vermutlich keine andere Wahl hatte, aber der arme Teufel wußte, was ihn erwartete, und »schien sich auf die Pfeife nicht sehr zu freuen«, wie Joe sagte. Einige Fragen folgten: woher er käme, und was er vorhabe. Er mußte sie beantworten und mußte auch an der unwillkommenen Pfeife saugen, während sein Herz in der Brust vertrocknete. Und dann lehnte sich ein riesiger Kerl aus Joes Boot plötzlich hinüber, stieß ihm das Messer in den Hals – hinein und hinunter, wie Joe durch Zeichensprache besser klarmachte als durch Wort – und hielt ihn wie ein Huhn unter Wasser, bis der Todeskampf vorüber war. Darauf wurde das »Langschwein« an Bord gezogen, das Boot nahm Kurs auf Atuona, und die tapferen Marquesaner ruderten heim. Moipu war am Strande und jauchzte mit ihnen, als sie landeten. Der arme Joe riß damals bleichen Angesichts an seinem Ruder, aber für sich selbst fürchtete er nichts. »Sie waren sehr gut zu mir, gaben mir eine Menge Brei zu essen, einen Weißen wollten sie nicht verzehren«, sagte er.

Wenn Mr. Stewart die furchtbarsten Erlebnisse hatte, so geriet dagegen Kapitän Hart in die größte persönliche Gefahr. Er hatte von Timau, dem Häuptling an einer benachbarten Bucht, ein Stück Land gekauft und ließ es von einigen Chinesen bearbeiten. Als er die Station mit einem der Leute Godeffroys besuchte, sah er seine Chinesen angsterfüllt am Strande versammelt: Timau hatte sie fortgejagt, ihre Habe geraubt und trug wie seine Soldaten Kriegsausrüstung. Ein Boot wurde eiligst nach Taahauku geschickt, um Verstärkungen zu holen, und während sie die Rückkehr abwarteten, sahen sie vom Deck des Schoners Timau und seine Leute auf dem Gipfel des Hügels bis nach Mitternacht den Kriegstanz tanzen. Sobald das Boot ankam, das drei mit Chassepots bewaffnete Gendarmen, zwei Weiße von der Station Taahauku und einige eingeborene Krieger brachte, brach die Gesellschaft auf, um den Häuptling zu ergreifen, ehe er erwachte. Der Tag war noch nicht angebrochen, und es war ein sehr heller Mondscheinmorgen, als sie den Gipfel erreichten, wo Timau in einer Hütte von Palmzweigen seinen Rausch ausschlief. Die Angreifer waren ohne jede Deckung, das Innere der Hütte ganz dunkel, die Lage also sehr gefährlich. Die Gendarmen knieten mit angeschlagenem Gewehr nieder, und Kapitän Hart ging allein vor. Als er sich dem Eingang näherte, hörte er den Hahn eines Gewehrs schnappen, und in reiner Selbstverteidigung – es gab keinen andern Ausweg – sprang er in die Hütte und packte Timau. »Timau, komm mit mir!« schrie er. Aber Timau, ein riesiger Kerl, die Augen blutrot vom übermäßigen Genuß von Kava, sechs Fuß und drei Zoll groß – stieß ihn in die Seite, und der Kapitän, der erwarten mußte, im nächsten Augenblick erschossen oder erschlagen zu werden, feuerte seine Pistole ab ins Dunkle. Als man Timau ins Mondlicht hinaustrug, war er bereits tot, und die Weißen scheinen bei diesem unerwarteten Abschluß ihres Angriffs alle Haltung verloren zu haben, zogen sich zu den Booten zurück und feuerten auf die Eingeborenen. Kapitän Hart, der an Popularität beinahe Bischof Dordillon gleichkommt, befolgte den Eingeborenen gegenüber dieselbe Politik der Nachsicht, betrachtete sie als Kinder, entschuldigte ihre Fehler und setzte sich immer für milde Behandlung ein. Der Tod Timaus hat also sein Gemüt einigermaßen belastet, um so mehr, da man die Waffe des Häuptlings ungeladen in der Hütte vorfand. Einem weniger empfindsamen Gewissen mag der Vorfall unbeträchtlich erscheinen. Wenn ein betrunkener Wilder zur Feuerwaffe greift, braucht ein ohne Deckung gegen ihn vorrückender Weißer nicht abzuwarten, ob sie geladen ist.

Ich habe die Popularität des Kapitäns erwähnt. Sie gehört zu den Tatsachen, die dem Fremden auf den Marquesas am meisten auffallen. Er stößt sofort auf zwei Namen, beide neu für ihn, aber beide berühmt in der ganzen Gegend, beide von allen in Liebe und Hochachtung genannt, die Namen des Bischofs und des Kapitäns. So wurde in mir der lebhafte Wunsch wach, den Überlebenden kennenzulernen, und er wurde mir zum Vorteil dieses Buches erfüllt. Viel später traf ich wieder einmal, bei dem sogenannten Ort der Schmerzen, auf Molokai, auf Spuren dieser herzlichen Anhänglichkeit. Ein blinder Aussätziger befand sich dort, ein alter Seemann – er nannte sich einen alten Seebären –, der lange Zeit die östlichen Inseln befahren hatte. Ich pflegte ihn zu besuchen, und da ich soeben vom Felde seiner Tätigkeit kam, erzählte ich ihm allerlei Neuigkeiten. Es handelte sich dabei, wie es die Inseln mit sich bringen, hauptsächlich um Berichte über Schiffsuntergänge, und zufällig erwähnte ich einen nicht sehr erfolgreichen Kapitän, der ein Schiff Mr. Harts verloren hatte. Da brach der blinde Aussätzige in Wehklagen aus: »Hat er ein Schiff John Harts verloren?« rief er, »armer John Hart! Das tut mir leid, daß es Harts Schiff war!«, mit allerlei unnötig kraftvollen Beiworten, die ich nicht wiedergeben möchte.

Hätte Kapitän Hart weiterhin Glück gehabt in seinen Geschäften, so wäre seine Popularität vielleicht geschwunden. Erfolg bringt Ruhm, aber tötet die Liebe, die das Unglück nährt. Und das Unglück, das über Kapitän Harts Unternehmungen hereinbrach, war wirklich einzigartig. Er hatte den Gipfel seiner Laufbahn erklommen, Ile Masse gehörte ihm, von den Franzosen als Entschädigung für die Plünderungen von Taahauku gewährt. Aber Ile Masse eignete sich nur für Viehzucht, und seine zwei Hauptstationen waren Anaho auf Nuka-hiva, nach Nordosten gelegen, und Taahauku auf Hiva-oa, einige hundert Meilen südwärts nach Südwest gelegen. Beide Stationen wurden am selben Tage von einer Flutwelle fortgeschwemmt, die man in keiner anderen Bucht oder Insel der Gruppe wahrnahm. Die Südküste von Hiva-oa war mit Bauholz und Kisten aus Kampferholz, die Waren enthielten, übersät. Die Eingeborenen brachten alles, nachdem man angemessene Bergegelder ausgesetzt hatte, ehrlich zurück, die Kisten waren offenbar nicht geöffnet, einiges Holz hatten sie vorher schon in ihre Häuser eingebaut. Aber die Rettung dieses Strandgutes konnte an dem Ausgang nichts ändern. Der Kapitän konnte dieser Parteilichkeit des Schicksals unmöglich Widerstand leisten, und mit seinem Fall endete der Wohlstand auf den Marquesas. Anaho ist vollkommen tot, Taahauku nur noch sein eigener Schatten; keine andere Pflanzung ist statt ihrer entstanden.

Dreizehntes Kapitel


Charaktere

Es herrschte ein gewisser Handelsverkehr auf unserem Ankerplatz bei Atuona, zum Unterschied von der toten Trägheit und Geruhsamkeit der Schwesterinsel Nuka-hiva. Man sah Segel durch die Einfahrt ziehen, bald war es ein Walfischfängerboot, bemannt mit eingeborenen Rowdies und hoch beladen mit Kopra, die verkauft werden sollte, bald ein einzelnes Kanu, das Lebensmittel eingehandelt hatte. Der Ankerplatz wurde auch von Fischern aufgesucht; nicht nur die einsamen Frauen hockten in den Nischen der Klippen, sondern ganze Gruppen, die sich manchmal häuslich niederließen, Feuerplätze am Strande bauten und bisweilen mitten im Hafen im Kanu lagerten und abwechselnd ins Wasser sprangen, das sie acht oder neun Fuß hoch aufspritzen ließen, um die Fische in ihre Netze zu treiben, wie wir vermuteten. Die Waren, die sie kauften, waren manchmal sonderbar. Ich beobachtete ein großes Ruderboot, das mit einem einzigen Schinken zurückkehrte, der an einer Stange am Stern schaukelte. Und eines Tages kam in Mr. Keanes Laden ein prachtvoller Junge mit ausgezeichneten Manieren, der korrekt Französisch sprach, wenn auch mit einem kindlichen Akzent; er war sehr hübsch und ein richtiger Dandy, wie nicht nur sein blitzsauberer Anzug, sondern auch die Natur seiner Einkäufe bewies. Es waren fünf Stück Schiffszwieback, eine Flasche Parfüm und zwei Beutel Waschblau. Er kam von Tauata, wohin er noch am selben Abend in seinem Boot zurückkehrte, der Meerestiefe trotzend mit seinen jungmädchenhaften Schätzen. Die meisten der einheimischen Passagiere waren vom Schicksal weniger begünstigt, es waren große gewaltige Burschen, gut tätowiert, mit beängstigenden Sitten. Irgend etwas Rauhes und Hohnvolles zeichnete sie aus, und ich wurde oft an die Scheunenviertel großer Städte erinnert. Eines Nachts, als die Dunkelheit hereinbrach, legte ein Walfischboot an einer Stelle der Bucht an, wo ich mich zufällig allein befand. Sechs oder sieben rauhbeinige Gesellen krochen heraus, alle konnten genug Englisch, um mir »good bye« zuzurufen, was der gebräuchlichste Gruß war, oder »good morning«, was sie als Steigerung zu betrachten schienen. Witze folgten, sie umschwärmten mich mit grobem Gelächter und frechen Blicken, und ich war froh loszukommen. Ich hatte Mr. Stewart noch nicht kennengelernt, sonst hätte ich mich seiner ersten Landung bei Atuona erinnert und des Witzboldes, der an der Menschenferse knabberte. Aber ihre Nähe bedrückte mich, und ich empfand, daß ich als Ausgestoßener und Hilfloser Grund gehabt hätte, mein Herz zu betrüben.

Der Verkehr im Hafen umfaßte nicht nur Eingeborene. Als wir vor Anker lagen, erfolgte ein merkwürdiges Zusammentreffen. Ein Schoner wurde auf See gesichtet, der hereinkommen wollte. Wir kannten alle Schoner der Gruppe, aber dieser schien größer als sie, er war auf englische Art getakelt, und als er in der Nähe der »Casco« Anker geworfen hatte, hißte er schließlich die blaue Flagge. In jener Zeit waren laut Gerüchten nicht weniger als vier Jachten im Pazifischen Ozean, aber es war sonderbar, daß zwei von ihnen gerade in diesem weltvergessenen Hafen Seite an Seite lagen, noch sonderbarer aber, daß ich im Besitzer der »Nyanza«, Kapitän Dewar, einen Landsmann aus meiner engeren Heimat wiedererkannte, den ich als Knabe an den Küsten der Meeralpen hatte lustwandeln sehen.

Wir hatten auch einen weißen Besucher von der Küste, der in einem dichtbesetzten Walfischboot mit einheimischer Besatzung kam und abfuhr. Er hatte in den Sonntagszeitungen von Jachten gelesen und den lebhaften Wunsch, eine zu sehen. Sie nannten ihn Kapitän Chase, er war ein alter Walfischfänger, vierschrötig und weißbärtig, mit stark indischem Akzent, jahrelang im Lande, ein wackerer Haudegen und einer jener Kunstschützen, deren Scheibenschießen den Tapferen von Haamau Schrecken einjagte. Kapitän Chase wohnte weiter östlich an einer Bucht namens Hanamate, mit einem Mr. M’Callum, oder sie hatten vielmehr einst zusammen gewohnt, lebten jetzt aber freundschaftlich getrennt. Den Kapitän findet man nahe dem einen Ende der Bucht in einem halbzerfallenen Haus, nur von einem Chinesen betreut. An der gegenüberliegenden Ecke liegt eine andere Behausung auf einer hohen Paepae. Die Brandung steht dort außergewöhnlich hoch, Seen von sieben und acht Fuß Höhe brechen sich unterhalb der Mauern des Hauses, das ständig von ihrem Gedröhn erfüllt ist und sich nur für einsame oder wenigstens schweigsame Bewohner eignet. Hier genießt Mr. M’Callum mit einem Shakespeare und einem Burns die Gesellschaft der Brecher. Sein Name und sein Burns sind Zeugen seines schottischen Blutes, aber er ist ein geborener Amerikaner, irgendwoher aus dem fernen Osten. Er war früher Schiffszimmermann und als Vorarbeiter von hundert Indern lange tätig beim Abwracken von Schiffen in der Nähe von Kap Flattery. Viele Weiße, die man verstreut auf den Südseeinseln findet, gehören zu den künstlerisch veranlagten Elementen ihrer Klasse, sie genießen nicht nur die Poesie jenes neuen Lebens, sondern kamen in der Absicht her, sie zu genießen. Ich war an Bord mit einem Mann, der nicht mehr jung war und sich auf die Reise begeben hatte aus Liebe zu Samoa. Einige Briefe in Zeitungen hatten ihn auf die Pilgerfahrt gelockt. Mr. M’Callum war solch ein Fall. Er hatte von der Südsee gelesen, gern von ihr gelesen und ihr Bild in sein Herz geschlossen, bis er nicht mehr widerstehen konnte und hinausfahren mußte wie ein zweiter Rudel zu dieser nie geschauten Heimat. Er lebte nun schon jahrelang in Hiva-oa und wird seine Gebeine dort voll befriedigt zur letzten Ruhe betten lassen, ohne Sehnsucht, die Stätten seiner Jugend wiederzusehen, nur vielleicht einmal noch, bevor er stirbt, die rauhe Winterlandschaft von Kap Flattery. Aber er ist ein tätiger Mann mit allerlei Plänen, er kaufte Land von den Eingeborenen, pflanzte fünftausend Kokospalmen, denkt daran, eine öde Insel zu mieten, und hat einen Schoner im Schuppen, den er selbst auf Kiel gelegt und gebaut hat und sogar fertigzustellen hofft. Mr. M’Callum und ich sind uns nie begegnet, aber wir haben wie tapfere Troubadoure in Versen korrespondiert. Ich hoffe, er betrachtet es nicht als Verletzung des Urheberrechts, wenn ich hier ein Produkt seiner Muse anführe. Er und Bischof Dordillon sind die beiden europäischen Barden der Marquesas.

Sail, ho! Ahoy! Casco,
First among the pleasure fleet
That came around to greet
These isles from San Francisco.

And first, too; only one
Among the literary men
That this way has ever been –
Welcome, then, to Stevenson.

Please not offended be
At this little notice
Of the Casco, Captain Otis,
With the novelist’s family.

Avoir une voyage magnifical
Is our wish sincer,
That you’ll have from here
Allant sur la Grande Pacifical.

Aber unser Hauptbesucher war ein gewisser Mapiao, ein großer Tahuku, was Priester zu bedeuten scheint, Zauberer, Tätowierer, Ausüber jeglicher Kunst oder, in einem Wort, eine esoterische Persönlichkeit – und berühmt wegen seiner Beredsamkeit bei öffentlichen Versammlungen und seiner witzigen Unterhaltung im privaten Kreise. Sein erstes Auftreten war typisch für den Mann. Laut rufend kam er zum östlichen Landungsplatz herunter, wo die Brandung sehr hoch stand, verachtete alle unsere Winke, um die Bucht herumzugehen, überwand alle Schwierigkeiten, wurde unter einiger Gefahr für unsere Jolle an Bord gebracht und setzte sich in einer Ecke des Cockpit nieder zu seiner Arbeit. Er war, als erfahrener Mann in dieser Art Kunst, berufen worden, meine Greisenbärte zu einem Kranz zu flechten. Sein eigener Bart, den er der größeren Sicherheit halber in einem Seemannsknoten trug, war nicht nur die Zierde seines Alters, sondern ein bedeutendes Besitztum. Hundert Dollar war der Schätzungswert, und da Bruder Michel keinen Eingeborenen kannte, der eine größere Summe bei Bischof Dordillon hinterlegt hätte, war unser Freund durch sein Kinn ein reicher Mann. Er besaß etwas von einem Ostindier, aber war etwas größer und stärker, hatte eine Hakennase, ein schmales Gesicht, eine sehr hohe Stirn und war sehr sorgfältig tätowiert. Ich kann behaupten, daß ich niemals einen so lästigen Gast hatte. In den kleinsten Dingen mußte man ihn betreuen, er wollte nicht einmal aus dem Wassergefäß selbst schöpfen oder den Arm ausstrecken, das Glas zu nehmen, man mußte es ihm in die Hand geben. Verweigerte man ihm eine Dienstleistung, so faltete er die Arme, neigte das Haupt und verzichtete, aber die Arbeit litt darunter. Früh am ersten Vormittag verlangte er laut Zwieback und Lachs, man brachte Zwieback und Schinken, er sah es geheimnisvoll an und gab ein Zeichen, daß man es beiseitestelle. Eine Reihe von Überlegungen ging mir durch den Kopf: wahrscheinlich war die Arbeit, mit der er sich befaßte, in hohem Maße tabu, vielleicht sollte sie eigentlich auf einer Tabuplattform ausgeübt werden, der sich kein weibliches Wesen nähern durfte, und es war möglich, daß Fisch die richtigste Diät war. Ich brachte ihm also etwas Salzfisch und dazu ein Glas Rum, aber beim Anblick des Gerichtes zeigte Mapiao außerordentliche Erregung, wies zum Zenit, hielt eine lange Rede, aus der ich das Wort umati auffing – die Bezeichnung für Sonne –, und bedeutete mir von neuem, diese Leckerbissen außer Reichweite zu stellen. Schließlich hatte ich begriffen, und jeden Tag war das Programm gleich. In früher Morgenstunde mußte das Mittagessen auf das Dach des Kartenhauses gesetzt werden, in genügender Entfernung, voll sichtbar, aber außer Reichweite, und unser Kunsthandwerker aß nicht vor der passenden Zeit, nämlich pünktlich um zwölf Uhr. Dieser feierliche Gebrauch war die Ursache eines absurden Mißverständnisses. Er arbeitete wie gewöhnlich an seinen Bärten, sein Essen stand auf dem Dach und nicht weit davon ein Glas Wasser. Offenbar wollte er trinken, war aber ein viel zu feiner Herr, um aufzustehen und das Wasser selbst zu holen, und als er meine Frau erblickte, wies er sie majestätisch an, es ihm zu reichen. Das Zeichen wurde falsch verstanden, meine Frau war bereits auf alle Tollheiten von seiner Seite vorbereitet, und, anstatt ihm das Wasser zu reichen, warf sie sein Essen über Bord. Ich muß Mapiao Gerechtigkeit widerfahren lassen: alle lachten, aber sein Gelächter schallte am lautesten.

Diese Dienstleistungen plagten uns nur gelegentlich, sein verwirrendes Gerede aber unaufhörlich. Er war ohne Zweifel ein geübter Plauderer, das sagten uns die Zierlichkeiten seiner Verneigungen, die Eleganz seiner Gesten und das feine Spiel seines Gesichtsausdruckes. Wir saßen inzwischen wie Fremde im Theater, sahen die Schauspieler mit wichtigen Dingen beschäftigt und gut spielen, aber die Handlung des Dramas blieb uns verborgen. Ortsnamen, der Name von Kapitän Hart und gelegentliche, aus dem Zusammenhang gerissene Worte quälten uns, ohne uns verständlich zu sein, und je weniger wir begriffen, desto tapferer und energischer und mit um so eindringlicheren Gesten wiederholte Mapiao seinen Angriff. Wir konnten sehen, wie seine Eitelkeit litt, da er an einem Ort war, wo seine gesellschaftlichen Talente ihm keine Anerkennung verschafften, und er machte Zeiten der Verzweiflung durch, in denen er alle Bemühungen aufgab, und Augenblicke der Gereiztheit, in denen er uns mit unverhohlener Verachtung betrachtete. Mir allerdings, der ich ein geheimnisvolles Handwerk betrieb, dem seinen ähnlich, bezeugte er bis zuletzt eine gewisse Hochachtung. Während wir unter dem Sonnendach in den gegenüberliegenden Ecken des Cockpits saßen, er das Kinnhaar toter Männer flechtend, ich Runen zeichnend auf einem Stück Foliopapier, pflegte er zu mir herüberzunicken wie ein Tahuku zum anderen, oder er querte das Deck, studierte eine Weile mein formloses Gekritzel und ermutigte mich mit einem herzlichen » mitai – gut«. So mag ein tauber Maler aus weiter Ferne mit einem Musiker sympathisieren als dem Sklaven und Meister einer unfaßlichen, aber verwandten Kunst. Er betrachtete mein Tun ohne Zweifel als törichtes Handwerk, aber ein Mann muß Barbaren gegenüber nachsichtig sein – jedes Land hat seine Sitten! –, und er fühlte: die gute Absicht war bei mir vorhanden.

Die Zeit kam schließlich heran, da seine Arbeit, die mehr der der Penelope als der des Herkules ähnelte, nicht mehr gestreckt werden konnte, und es blieb nichts übrig, als ihn zu bezahlen und ihm Lebewohl zu sagen. Nach langen, gelehrten Auseinandersetzungen auf marquesanisch begriff ich, daß seine Seele sich nach Angelhaken sehnte, und ich überlegte, daß drei Stück mit einem Häuflein Dollar wohl eine angemessene Belohnung seien dafür, daß er seine Vormittage auf unserem Deck verbracht hatte, essend, trinkend, seine Meinungen verkündend und die ganze Schiffsgesellschaft mit verrückten Dienstleistungen in Atem haltend. Trotz alledem war er ein Mann von stolzer Haltung und so ähnlich einem Onkel von mir – wenn er irrsinnig würde und sich tätowieren ließe –, daß ich mich, als wir beide an Land waren, bei ihm erkundigte, ob er zufrieden sei. » Mitai ehipe?« fragte ich. Und er antwortete sehr salbungsvoll, indem er mir die Hand reichte: » Mitai ehipe, mitai kaekae; kaoha nui!« oder frei übersetzt: »Das Schiff ist gut, die Speisen sind ausgezeichnet; wir scheiden in Freundschaft!« Als er dies Zeugnis ausgestellt hatte, schritt er am Strande dahin, das Haupt gebeugt, mit der Miene eines tief Gekränkten.

Ich meinerseits sah ihn erleichtert fortziehen. Es wäre interessanter gewesen zu erfahren, was Mapiao von unserem Verhältnis zueinander dachte. Seine Forderungen, so dürfen wir vermuten, waren durchaus angemessen. Er war von Unwissenden gebeten worden, eine Arbeit zu verrichten, und er war verpflichtet, sie gut zu vollenden. Unzählige Hindernisse und andauernder törichter Spott vermochten nicht, ihn zu entmutigen. Man stellte ihm sein Mittagessen hin, er beobachtete es, wie es sich geziemte, während er arbeitete, aß es zur rechten Zeit, wurde in jeder Beziehung gut bedient und konnte schließlich mit reinem Gewissen seinen Lohn in Empfang nehmen, indem er sich selbst sagte, daß das Mysterium pflichtgemäß erledigt, die Bärte richtig geflochten und wir trotz unserer Fehler anständig behandelt worden seien. Seine Ansicht über unsere Dummheit zum Ausdruck zu bringen, mußten selbst ihm, dem großen Redner, die Worte mangeln. Er unterbrach niemals meine Tahukuarbeit, lobte sie höflich, so töricht sie schien, setzte höflich voraus, daß ich mein eigenes Mysterium beherrschte: so benahm sich ein kluger und wohlerzogener Mann! Und wir andererseits, die wir doch am meisten zu gewinnen oder zu verlieren hatten, da das Produkt uns gehören sollte; die wir unsere Unfähigkeit eben dadurch zugegeben hatten, daß wir ihn beauftragten: wir waren nie müde geworden, ihn in seinen viel wichtigeren Arbeiten zu behindern, und hatten oft die Vernunft und die Höflichkeit vermissen lassen, uns des Lachens zu enthalten.

Vorwort

Robert Louis Stevenson, dessen literarische Bedeutung Ernst Weiß in seinem Nachwort zu dem Abenteuerroman »Die Schatzinsel« (Deutsche Buch-Gemeinschaft) eingehend würdigt, hielt 1887 endgültig Umschau nach einem Wohnsitz, wo es ihm trotz seiner von jeher schwächlichen Veranlagung möglich wäre, eine ganze Reihe dichterischer Pläne zu verwirklichen. Zunächst nahm er für den Winter 1887/1888 seine Zuflucht zu einem neu eingerichteten Sanatorium für Lungenleidende in den Vereinigten Staaten, nahe der kanadischen Grenze. Die alte Liebe zur See erwachte mit neuer Heftigkeit im Frühling; seine Frau, die zum Ankauf eines geeigneten Fahrzeuges nach St. Franzisko gereist war, telegraphierte ihm, daß die Jacht »Casco« für eine Fahrt zu den Südseeinseln gepachtet werden könne. Stevenson entschloß sich, vierzigtausend Mark, zwei Drittel seines Vermögens, für seine Gesundheit zu opfern, ließ die Jacht herrichten, engagierte den erfahrenen Kapitän Otis nebst einem chinesischen Koch und vier tüchtigen Seeleuten und verließ am 28. Juni 1888 den Hafen in der Absicht, nach mehrmonatlichen Fahrten in den warmen Seewinden wieder in zivilisierte Gegenden zurückzukehren und dann vielleicht in Madeira sein Heim aufzuschlagen. Seiner Frau, die ihn überallhin begleitete, hatte er angedeutet, daß er ein Seemannsgrab in den Wellen des Ozeans dem Dahinsiechen auf dem festen Lande vorziehen würde, wenn seine Krankheit sich verschlimmern und die Strapazen der Seefahrt ihn niederwerfen sollten. Aber seine Gesundheit kräftigte sich, das Klima sagte ihm zu, so daß er fast drei Jahre auf Hin- und Herfahrten zwischen den verschiedenen Inselgruppen verbrachte. Er besuchte alle völkerkundlich und landschaftlich interessanten Plätze und ließ sich schließlich 1891 auf der Insel Upolu der Samoagruppe nieder, wo er im Dezember 1894 an Gehirnschlag starb, erst vierundvierzig Jahre alt.

Neben der laufenden literarischen Produktion, die stofflich zum Teil aus den neuen Erlebnissen genährt wurde, wollte Stevenson ein umfassendes Werk über die Südsee schreiben, deren soziale und wirtschaftliche Verhältnisse rasch einer völligen Auflösung entgegentrieben. Es mag sein, daß Stevenson bei längerer Lebensdauer die Kraft gefunden hätte, diese gewaltige anthropologische Aufgabe zu lösen, aber wahrscheinlich ist es, daß seine dichterische Phantasie ihm auch in späteren Jahren nicht die nötige Ruhe zu einer rein wissenschaftlichen Beschäftigung gegeben hätte. Er hinterließ umfangreiche Aufzeichnungen, die nach seinem Tode gesammelt und geordnet wurden, und so entstand schließlich der ansehnliche Band »In the South-Seas«, der hier in vollständiger Übersetzung vorliegt.

Eine Karte liefert einen Überblick über die Fahrten, die der Dichter unternahm. Zunächst trug die Schonerjacht »Casco« die Reisenden in zweiundzwanzig Tagen zu den Marquesas, einer Gruppe von gebirgigen Inseln unter französischer Oberhoheit, die äußerst selten von Globetrottern besucht wurden und abseits von den Schiffahrtsstraßen lagen. Der erste Teil des Werkes schildert die Erlebnisse und Erfahrungen auf den vulkanischen Inseln Nuka-hiva und Hiva-oa, deren Bewohner noch vor kurzer Zeit die leidenschaftlichsten Menschenfresser Polynesiens gewesen waren und nun aus verschiedenen Gründen wie Schnee im Frühlingswind dahinschmolzen. Der Aufenthalt dauerte vom 28. Juli bis zum 4. September 1888, also verhältnismäßig kurze Zeit, aber die Ergebnisse waren erstaunlich mannigfaltig, wie der erste Teil unseres Buches zeigt. Dann ging die Fahrt weiter zu den Paumotuinseln, wo man am 6. September eintraf und bis Ende September verweilte. Eine völlig andere Welt! Diese Lagunenriffe umschließen in einem Kranz oder Oval eine Art Binnensee, der allmählich durch Ablagerungen des Seewassers seichter wird. Der Korallenkranz ist mehr oder weniger dicht besetzt mit Palmen, unter denen die Häuser der Eingeborenen stehen, und zwar an der Lagunenseite, nicht an der Meeresküste, wo die blutgierigen Geister der Abgestorbenen ihr menschenfresserisches Unwesen treiben. Der erstaunliche Gegensatz zwischen der Bevölkerung der »hohen« und der »niedrigen« Inselgruppen kommt in der plastischen Schilderung Stevensons lebendig zum Ausdruck.

Die Jacht trug sie südwestlich weiter nach Tahiti in der Gruppe der Gesellschaftsinseln, wo Stevenson inmitten der herrlichsten Südseelandschaft schwer erkrankte. Er erholte sich jedoch bald und durchlebte die schönste Zeit seiner freiwilligen Verbannung, über die sich leider in seinem Tagebuch keine Aufzeichnungen fanden: der Dichter war von der Großartigkeit der Inseln so überwältigt, daß er die Niederschrift seiner Erlebnisse versäumte und statt dessen seine epischen Werke wesentlich förderte. Am Weihnachtstag 1888 nahm die »Casco« ihre Passagiere wieder auf und führte sie gen Honolulu, von wo Stevenson Molokai besuchte, die Insel der Leprakranken, aber auch hierüber fehlt ein Bericht, und man ist auf vereinzelte Briefe angewiesen, die er damals an seine Frau und zwei Freunde richtete.

In den folgenden Monaten wurde eine Fahrt vorbereitet in solche Gebiete, die möglichst unberührt waren von jeder Zivilisation, und im Juni 1889 trug der kleine Handelsschoner »Equator« die Reisegesellschaft zu den Gilbertinseln dicht am Äquator. Jener Teil der Tagebücher, der sich mit den Zuständen und Menschen auf diesen Koralleninseln beschäftigt, gehört ohne Zweifel zu den interessantesten und lebendigsten Partien des vorliegenden Werkes. Namentlich das groß angelegte Porträt des Königs Tembinok‘ von Apemama übertrifft an Farbigkeit alles, was in Stevensons Aufzeichnungen vorgefunden wurde. Vier Jahre später hatte sich auf den Inseln Butaritari und Apemama alles geändert, Tembinok‘ war gestorben, die Gilbertinseln waren von England annektiert worden, und ein Knabe spielte den Herrscher unter der Leitung eines britischen Residenten. Stevensons Bericht hat also eine einzigartige völkerkundliche Bedeutung.

Der Schoner setzte Anfang Dezember 1889 seine Reise fort nach Samoa und traf am 7. Dezember in Apia ein, der Hauptstadt von Upolu. Hier versuchte Stevenson alles Material zu sammeln, das ihm als Unterlage dienen sollte für seine umfassende Arbeit über diesen Teil der Südsee, und er entschloß sich zu einer besonderen Veröffentlichung unter dem Titel »A Footnote to History«, die viel Staub aufwirbelte und in Deutschland später verboten wurde, aber die grundsätzlichen Bemerkungen über die Behandlung der Eingeborenen haben sich im Verlauf der Jahrzehnte als unanfechtbar richtig erwiesen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu erfahren, daß der deutsche Generalkonsul Dr. Stübel zu den vertrautesten Freunden Stevensons gehörte und von ihm als der fähigste und einsichtsvollste Diplomat der Großmächte in der Südsee bezeichnet wurde.

Das Heim, das Stevenson nach seiner Rückkehr in Madeira geplant hatte, wurde nun in Samoa errichtet, er kaufte Land in der Nähe Apias, bevor jedoch der dichte Busch gerodet und die Fundamente gelegt werden konnten, reiste er wieder fort, besuchte Australien und später viele ihm noch unbekannte Südseeinseln, bis er 1891 ernstlich seinen Plan zur Ausführung brachte und sein Haus auf der Insel Upolu bauen ließ: der entscheidende Wendepunkt seines Lebens, das allerdings nur noch etwa drei Jahre währen sollte. Ein Freund schrieb ihm aus England: »Seit Byron in Griechenland war, hat nichts auf die Literaten einen so tiefen Eindruck gemacht wie Ihr Aufenthalt in der Südsee.« Der Dichter nannte seinen Besitz »Vailima«, »Fünfwasser«, weil er im Gebiet von fünf Flüssen lag, und die Eingeborenen gaben dem Dichter den Namen »Tusitala«, Geschichtenerzähler. Der Platz lag ungefähr drei Meilen von der Küste entfernt und sechshundert Fuß über dem Meeresspiegel, durch das Gelände führte ein Weg, den befreundete Häuptlinge mit ihren eigenen Händen herrichteten, und den sie »Ala Loto Alofa«, »Weg des liebenden Herzens«, nannten. Rund um das dunkelgrün gestrichene Holzhaus herrschte tiefe Stille, von fernher drang das leise Rauschen der Brandung, und man kann sich schwerlich einen friedlicheren Ort in der weiten Welt vorstellen als Stevensons Waldheim auf Upolu. Häuptlinge und Weiße suchten ihn häufig auf, um seinen Rat einzuholen, man nannte sein Heim »das Haupthaus der Weisheit«.

Das Klima Samoas schien Stevenson zu kräftigen, er verlangte nicht mehr volle Gesundung, sondern war zufrieden mit der Möglichkeit, sein dichterisches Werk zu fördern. Die Lungenschwindsucht kam zum Stillstand, er war imstande eifrig zu schreiben und vermißte nur seine englischen Freunde und die heimatliche schottische Landschaft, so daß ihn nicht selten die schmerzlichen Empfindungen eines Verbannten überfielen. Seine Vailima-Briefe legen von dieser Sehnsucht nach der alten Heimat beredtes Zeugnis ab. Aber alles in allem hatte er endlich nach langen Wanderungen einen Ort gefunden, an dem er sich wohl fühlte, und hätte die Krankheit nicht doch unmerkbar und unaufhaltsam den Körper verwüstet, so wäre bei seiner lebendigen Schöpferkraft wohl noch manche herrliche Dichtung entstanden. Heimtückisch überfiel ihn der Tod an einem Tage, da er zu seiner Frau gesagt hatte, er fühle sich so gesund wie nie zuvor. Als die Abendmahlzeit nahte, holte er eine Flasche Burgunder aus dem Keller und trat heiter plaudernd zu seiner Lebensgefährtin, als er sich plötzlich mit beiden Händen an den Kopf griff und ausrief: »Was ist das? Sehe ich sonderbar aus?« Dann brach er in die Knie nieder, verlor das Bewußtsein, wurde in die Halle getragen und der deutsche Arzt Dr. Funk herbeigeholt, aber menschliche Bemühungen waren umsonst, und umgeben von seinen Freunden und den farbigen Hausgenossen starb er gegen acht Uhr abends am 3. Dezember 1894.

So fand Tusitala, der Geschichtenerzähler, ein Grab inmitten des Großen Ozeans auf einer Insel der Südsee, die er fast sosehr liebte wie seine schottischen Berge, und auf seinem Grabe hoch oben auf dem Gipfel von Vaea steht das von ihm selbst verfaßte Requiem, das wir im Urtext wiedergeben:

Under the wide and starry sky,
Dig the grave and let me lie.
Glad did I live and gladly die,
And I laid me down with a will.

This be the verse you grave for me:
Here he lies where he longed to be;
Home is the sailor, hom[e] from sea,
And the hunter home from the hill.

Die Häuptlinge belegten den Ort mit einem Tabu gegen Schußwaffen, damit die Vögel droben nisten und ihre Lieder an seiner Ruhestätte ungestört singen konnten.

H. S.

Neuntes Kapitel


Das Haus Temoana

Die Geschichte der Marquesaner ist in den letzten Jahren durch das Kommen und Gehen der Franzosen stark verwirrt. Wenigstens zweimal haben sie von dem Archipel Besitz ergriffen, wenigstens einmal haben sie ihn verlassen, und in der Zwischenzeit haben die Eingeborenen fast ohne Unterbrechung ihre planlosen Kannibalenkriege geführt. Durch diese Ereignisse und den Wechsel der Dynastien sieht man nur eine beachtenswerte Gestalt schreiten: die des Oberhäuptlings Temoana, eines Königs. Allerlei bunte Einzelheiten seiner Entwicklung kamen mir zu Ohren: wie er zuerst Konvertit der protestantischen Mission war; wie er entführt oder aus seiner Heimat verschleppt wurde, als Koch an Bord eines Walfischfängers arbeitete und gegen ein kleines Entgelt in englischen Häfen gezeigt wurde; wie er schließlich nach den Marquesas zurückkehrte, unter den starken und segensreichen Einfluß des verstorbenen Bischofs geriet, seine Macht in der Inselgruppe ausdehnte, eine Zeitlang Mitregent des Prälaten war und endlich als Hauptförderer des Katholizismus und der Franzosen starb. Seine Witwe erhält noch jetzt zwei Pfund monatlich von der französischen Regierung. Königin nennt man sie gewöhnlich, aber im amtlichen Almanach wird sie als »Madame Vaekehu, Oberhäuptlingsfrau« bezeichnet. Sein Sohn – ob natürlich oder adoptiert, weiß ich nicht – Stanislao Moanatini, Häuptling von Akaui, dient in Tai-o-hae als eine Art Minister der öffentlichen Arbeiten, und die Tochter Stanislaos ist weiblicher Oberhäuptling der südlichen Insel Tauata. Das ist also das mächtigste Geschlecht des Archipels, und wir hielten es auch für das achtbarste. Dies ist die Regel in Polynesien, mit wenigen Ausnahmen: je höher die Familie steht, desto besser sind die Menschen – besser an Vernunft, besser an Sitten und gewöhnlich auch körperlich größer und stärker. Ein Fremder geht blindlings vor, er macht seine Bekanntschaften zufällig. Abgesehen von der Tätowierung bei den Marquesas deutet nichts den Rangunterschied an, aber fast immer bewährten sich unsere Freunde als Personen von Würde. Ich sagte, »gewöhnlich auch körperlich größer und stärker«. Ich könnte noch bestimmter sein: für ganz Polynesien und einen Teil von Mikronesien trifft diese Regel zu, die Großen der Inseln und selbst der Dörfer sind auch kräftiger an Knochen und Muskeln und oft schwerer an Fleisch als die gewöhnlichen Bürger. Die landläufige Erklärung, daß das hochgeborene Kind sorgfältiger schampuniert, d. h. gewaschen und mit Öl eingerieben wird, ist wahrscheinlich stichhaltig. In Neukaledonien wenigstens, wo der Unterschied nicht existiert oder nie beobachtet wurde, scheint auch die Sitte des Schampunierens unbekannt zu sein. Ärzte würden gut tun, diesem Punkt ihr Studium zuzuwenden.

Vaekehu lebt, von der Regentschaft aus gesehen, am andern Ende der Stadt, jenseits der Missionsgebäude. Ihr Haus ist nach europäischer Art gebaut, ein Tisch steht in der Mitte des Hauptraumes, Photographien und religiöse Bilder hängen an den Wänden. Nach beiden Seiten hat man eine entzückende Aussicht. Vorn blickt man auf grünen Rasen, herumrennende Schweine, fächerartig herabhängende Zweige der Kokospalmen und den Glanz der tosenden Brandung; nach hinten heraus auf anstrebende Waldtäler und Kränze von Schluchten. Hier, in scharfer Zugluft, empfing uns Ihre Majestät im einfachen bedruckten Kattunkleid, ohne ein anderes königliches Abzeichen als die vollendete Schönheit ihrer Tätowierung, die wie Handschuhe wirkt, die Feinheit ihrer Bewegungen und das sanfte Falsett, in dem alle sorgfältig erzogenen marquesanischen Damen – und Vaekehu an erster Stelle – wohlgefällig ihre Worte singen. Eine Adoptivtochter verdolmetschte unsere Reden und fragte nach allen unseren Freunden in Anaho mit ihrem Namen. Während wir uns unterhielten, konnten wir durch die Tür auf der Landseite eine andere Dame ihre Toilette unter den grünenden Bäumen vollenden sehen, die bald darauf, als ihr Haar aufgesteckt und ihr Hut mit Blumen geschmückt war, mit graziösen Verbeugungen auf der hinteren Veranda erschien.

Vaekehu ist sehr schwerhörig: » merci« ist ihr einziges französisches Wort, und ich erinnere mich nicht, daß sie mir klug vorkam. Ihre ausgezeichnete Liebenswürdigkeit und Erziehung, leicht überschattet von Quietismus, der wohl von den Nonnen stammte, machte den größten Eindruck auf uns. Oder wir empfanden vielmehr diese erste Begegnung als eine Art Informationsbesuch von unserer Seite, der mit bescheidener christlicher Höflichkeit von unserer Gastgeberin angenommen wurde. Ein anderer Eindruck entstand, als sie sich freier fühlte und mit Stanislao und seiner kleinen Tochter an Bord der »Casco« kam. Sie hatte bei dieser Gelegenheit große Toilette gemacht, trug ein weißes Gewand, das zu ihrem strengen braunen Gesicht gut paßte, und saß essend und zigarettenrauchend zwischen uns, von aller Unterhaltung abgeschnitten oder nur hier und da durch die Vermittlung ihres Sohnes ins Gespräch gezogen. Diese Situation hätte lächerlich sein können, aber ihr gereichte sie zur Zierde. Sie tat, als ob sie alles höre und verstände, auf ihrem Gesicht strahlte das Lächeln der guten Gesellschaft, wenn man ihrem Blick begegnete; ihre Bemerkungen, so selten sie sein mochten, waren stets verbindlich und liebenswürdig. Dem Kinde wurde keine Beachtung geschenkt, außer wenn sie es anredete oder sich an seiner Stelle bei uns bedankte. Ihr Abschied beim Fortgehen war graziös und zierlich wie ihr ganzes Benehmen. Als meine Frau ihr die Hand reichte, um ihr Lebewohl zu sagen, nahm Vaekehu sie, hielt sie fest und lächelte einen Augenblick, ließ sie sinken, und dann, wie in Gefühlserregung und zartfühlender Herablassung, streckte sie beide Hände aus und küßte meine Frau auf beide Wangen. Bei gleichen Alters- und Rangunterschieden würde man auf der Bühne der Comédie Française so gespielt haben, genau so gütig herablassend würde Madame Brohan sich gegen Madame Broissat im Marquis von Villemer benommen haben. Es war meine Aufgabe, unsere Gäste an Land zu bringen. Als ich das kleine Mädel beim Abschied auf den Stufen des Piers küßte, stieß Vaekehu einen Ruf des Entzückens aus, streckte ihre Hand zum Boot nieder, nahm die meine und drückte sie mit jener einschmeichelnden Sanftheit, die in allen Ländern der Erde die Koketterie alter Damen zu bilden scheint. Im nächsten Augenblick schon hatte sie Stanislaos Arm genommen, sie schritten im Mondlicht den Pier entlang und ließen mich verwirrt zurück. Dies war eine Kannibalenkönigin; sie war vom Kopf bis zu den Füßen tätowiert und vielleicht gegenwärtig das größte Meisterwerk dieser Art auf der Erde, so daß ihr Bein vor einiger Zeit, ehe sie prüde wurde, eine der Sehenswürdigkeiten von Tai-o-hae war. Sie war aus der Hand eines Häuptlings in die des andern gewandert, man hatte um sie Kriege geführt und sie geraubt; vielleicht hatte sie auf dem Hochgericht gesessen, da sie ja eine so große Dame war, und dort als einzige ihres Geschlechts gethront, während die Trommeln zwanzigweise gedröhnt und die Priester die blutgetränkten Körbe mit Menschenfleisch (Langschwein) herbeigetragen hatten. Und nun stelle man sich, nach einer solchen Vergangenheit der Gewalttaten und furchtbaren Feste, diese ruhige, sanftmütige, wohlerzogene alte Dame vor, denen ähnlich, die man zu Hause in manchen Landhäusern findet, auch behandschuht, aber nicht oft von so feinem Benehmen. Aber Vaekehus Handschuhe waren aus Farbe, nicht aus Seide, und nicht mit Geld, sondern mit gekochtem Menschenfleisch bezahlt. Mit einem Ruck tauchte in mir die Frage auf, wie sie selbst wohl darüber denke, und ob sie im innersten Herzen nicht den Wandel bedaure und sich nach ihrer barbarischen und aufregenden Vergangenheit zurücksehne. Aber als ich Stanislao ausforschte, sagte er: »O, sie ist zufrieden, sie ist fromm und verbringt alle ihre Tage bei den Schwestern.«

Stanislao – Stanislaos unter Auslassung des letzten Konsonanten nach polynesischer Gepflogenheit – wurde vom Bischof Dordillon nach Südamerika geschickt und dort von den Patres erzogen. Er spricht fließend Französisch, redet klug und geistreich und leistet den Franzosen als Hauptaufpasser vorzügliche Dienste. Mit dem Prestige seines Namens und seiner Familie und, wenn nötig, mit dem Stock hält er die Eingeborenen bei der Arbeit und sorgt für gute Wege. Ohne Stanislao und die Gefangenen möchte ich die Existenzfähigkeit der heutigen Regierung in Nuka-hiva bezweifeln; vielleicht würden die Chausseen unpassierbar werden, der Landungssteg abbröckeln und die Residentschaft unter den Augen unfähiger Beamter zerfallen. Und obgleich er traditionsgemäß die Franzosenherrschaft begünstigt und fördert, vergißt er die Vergangenheit nie. Er zeigte mir, wo der alte Versammlungsplatz gewesen war, noch angedeutet durch verstreute Steinhaufen, erzählte mir, wie groß und schön er gewesen, auf allen Seiten von stark bevölkerten Häusern umgeben, aus denen bei Trommelschlag die Menge herbeigeströmt sei, um Feste zu feiern. Der Trommelwirbel der Polynesier besitzt einen sonderbaren und düsteren Reiz für die Nerven aller Menschen. Weiße empfinden ihn, bei diesen rasenden Tönen schlägt ihr Herz schneller; und nach den Berichten alter Einwohner war die Wirkung auf die Eingeborenen furchtbar. Mochte Bischof Dordillon flehend bitten und Temoana selbst befehlen und drohen: beim Ton der Trommeln triumphierten die wilden Instinkte. Würden sie heute auf diesen Ruinen erschallen, wer sollte zur Versammlung eilen? Die Häuser sind eingefallen, das Volk ist tot, die Nachkommenschaft erloschen, der Abschaum und die Flüchtlinge ferner Buchten und Inseln nisten sich auf ihren Gräbern ein. Den Verfall des Tanzes beklagt Stanislao besonders. »Jedes Land hat seine Sitten«, sagte er; aber die Anzeige irgendeines Gendarmen, der in verwerflichem Eifer die Zahl der Straffälle und seine Macht erhöhen will, läßt Sitte nach Sitte der Ausrottung anheimfallen. »Sehen Sie, ein Tanz, der nicht erlaubt ist«, sagte Stanislao; »ich weiß nicht warum, er ist sehr hübsch, nämlich so!« Und er steckte seinen Schirm aufrecht in die Erde und markierte die Schritte und Bewegungen. Seine Kritik der Gegenwart und das Bedauern über die Vergangenheit war stets überraschend gemäßigt und vernünftig. Die kurze Amtsdauer des Residenten hielt er für das Hauptübel der Verwaltung, denn der Beamte war eben erst eingearbeitet, wenn er abberufen wurde. Ich glaubte auch zu bemerken, daß er den kommenden Übergang vom Marine- zum Zivilgouverneur einigermaßen fürchtete. Ich selbst jedenfalls bin sicher, daß dies die richtige Auffassung ist, denn die Zivilbeamten Frankreichs sind dem Ausländer niemals als Elite ihres Landes erschienen, während die Marineoffiziere sich mit denen der ganzen Welt messen können. In allen seinen Reden betonte Stanislao stets, daß seine Heimat ein Land der Wilden sei, und wenn er eigene Meinung ausdrückte, bemerkte er, er sei ein Wilder, der Reisen gemacht habe. In dieser bewußten Bescheidenheit war ein gut Teil ehrlichen Stolzes. Aber etwas lag in dieser Vorsicht, was mich traurig stimmte; ich mußte befürchten, er wolle nur einer Zurechtweisung zuvorkommen, die er allzuoft erduldet hatte.

Zweier Unterredungen mit Stanislao erinnere ich mich mit Interesse. Die erste fand an einem Nachmittag der tropischen Regenzeit statt, den wir zusammen auf der Veranda des Klubs verbrachten; wir sprachen manchmal mit erhobenen Stimmen, wenn die Schauer über unseren Köpfen sich verstärkten, manchmal gingen wir in den Billardraum, um in dem matten, verschleierten Tageslicht jene Weltkarte zu befragen, die sein Hauptschmuck ist. Er kannte die englische Geschichte natürlich nicht, so daß ich ihm viel Neues berichten konnte. Ich erzählte ihm ausführlich das Leben Gordons, viele Einzelheiten aus dem Indischen Aufstand, berichtete von Lucknow, der zweiten Schlacht von Cawnpore, der Befreiung von Arrah, dem Tode des armen Spottiswoode und von Sir Hugh Roses abenteuerlichen Feldzügen. Er hörte begierig zu, sein braunes Gesicht, dicht bedeckt mit Pockennarben, leuchtete auf und wechselte den Ausdruck bei jeder Wendung der Geschichte. In seinen Augen glühte das Feuer der Schlachten, er richtete viele und kluge Fragen an mich, und besonders sie führten uns sooft zur Landkarte. Aber die lebendigste Erinnerung bewahre ich von unserem Abschied. Wir wollten am nächsten Morgen absegeln, und die Nacht war schon hereingebrochen, dunkel, stürmisch und regnerisch, als wir den Hügel hinaustasteten, um Stanislao Lebewohl zu sagen. Er hatte uns bereits mit Geschenken beladen, aber viele andere standen noch bereit. Wir saßen rund um den Tisch bei Zigarren und grünen Kokosnüssen; Windstöße fegten durch das Haus und löschten die Lampe aus, die stets sofort wieder mit einem einzigen Streichholz angezündet wurde; und diese wiederholten Augenblicke der Dunkelheit wurden wie eine Erleichterung empfunden. Denn es lag etwas wie Schmerz und Beklemmung über der Zärtlichkeit dieser Trennung. »Ach!« rief Stanislao aus, »Sie sollten hierbleiben, mein geliebter Freund! Sie gehören zu den Männern, die die Kanaken brauchen, Sie sind lieb, Sie und Ihre Familie, man würde Ihnen auf allen Inseln gehorchen.« Wir waren höflich gewesen, und nicht einmal immer, wie mir mein Gewissen sagte, aber nie darüber hinausgegangen; die Ursache seiner Bewegtheit war also nicht sosehr unsere Rücksichtnahme als vielmehr das schlechte Benehmen anderer. Den Rest des Abends, auf dem Wege zu Vaekehu und zurück bis ganz zum Pier, ließ Stanislao meinen Arm nicht los und schützte mich mit seinem Regenschirm, und als das Boot abgefahren war, konnten wir in der trüben Finsternis noch sein Abschiedswinken sehen. Seine Worte wurden, falls er sprach, vom Regen und von der dröhnenden Brandung verschlungen.

Ich habe die Geschenke erwähnt: eine verwickelte Frage in der Südsee, deren Behandlung die allgemeine, gewohnheitsmäßige Unwissenheit belegt, mit der Völker in Bausch und Bogen beurteilt werden. An vielen Orten gibt der Polynesier nur, um zu empfangen. Ich habe Inseln besucht, wo mich die Bevölkerung verfolgte wie Hunde, die einem Händler mit Katzenfleisch nachlaufen, und wo die oft gehörte Redewendung: »Du mein Freund!« oder, mit noch mehr Pathos: »Du gleich wie mein Vater!« mit herzhaftem Gelächter und kräftigem Ausruf beantwortet werden muß. Und vielleicht wird überall ein Geschenk von Gierigen und Habsüchtigen als eine Art Wurst angesehen, mit der man nach der Speckseite wirft. Es ist Sitte, Geschenke zu spenden und Gegengaben zu empfangen, und solche Burschen werden, wenn sie die Gebräuche mitmachen, scharf darauf bedacht sein, daß sie keinen Verlust erleiden. Aber bei Personen anderen Schlages liegen die Dinge umgekehrt. Der schäbige Polynesier ruht nicht, bis er die Gegengabe erhalten hat, der edle fühlt sich beklommen, bis er sie geleistet hat. Der erstere ist enttäuscht, wenn man nicht mehr gegeben hat als er; der andere ist niedergeschlagen, wenn er seine Gabe für geringer achtet. Das ist meine Erfahrung; wenn sie der anderer Reisender widerspricht, bedaure ich ihr Geschick und preise das meinige; nichts kann ändern, was ich beobachtet, noch vermindern, was ich empfangen habe. Und ich finde in der Tat, daß alle, die mir widersprechen, von höchst eigenartigen Vorurteilen ausgehen. Sie vergleichen die Polynesier einer Idealfigur, vollgepfropft von Edelmut und Dankbarkeit, der ich nie das Vergnügen hatte zu begegnen, und vergessen, daß ihnen das unermeßlicher Reichtum ist, was uns beinahe Armut scheint. Ich will ein Beispiel anführen: ich sprach zufällig über diese Geschenke Stanislaos mit einem gewissen klugen Mann, einem großen Hasser und Verächter der Kanaken. »Nun, was war es denn!« rief er aus, »ein Paket Bärte alter Männer! Plunder!« Und derselbe Herr sprach eine halbe Stunde später, als seine Gedanken in andere Richtung gingen, ausführlich von der Wertschätzung, die solchen Besitztümern bei den Kanaken entgegengebracht wird, wie sie sie allen anderen außer Grund und Boden vorziehen, und von den hohen Preisen, die man dafür erzielt. Unter Zugrundelegung seiner eigenen Zahlen berechnete ich, daß die Geschenke Vaekehus und Stanislaos dieser Art allein einen Wert von zwei- bis dreihundert Dollars hatten, während das amtliche Gehalt der Königin nur zweihundertvierzig Dollars jährlich beträgt.

Aber Freigebigkeit einerseits und offenbarer Geiz anderseits sind in der Südsee wie in der Heimat Ausnahmen. Der gewöhnliche Polynesier wählt und überreicht seine Geschenke weder in der Hoffnung auf Gewinn noch mit dem lebhaften Wunsch zu gefallen. Einer klaren, sozialen Pflicht sieht er sich gegenüber, und er erfüllt sie korrekt, aber ohne die geringste Begeisterung. Wir können seine Auffassung am besten verstehen, wenn wir unsere eigene den anerkannt absurden Hochzeitsgeschenken gegenüber prüfen. Wir schenken ohne besonderen Gedanken an eine Gegengabe, aber ergibt sich die Gelegenheit, und das Gegengeschenk bleibt aus, so halten wir uns für beleidigt. Wir geben gewöhnlich ohne Liebe und fast nie mit echter Begierde zu gefallen, und unser Geschenk ist eher ein Beweis unserer Zahlungsfähigkeit als unserer Liebe zu den Empfängern. So geht es im allgemeinen auch den Polynesiern; ihre Geschenke sind Formsache, sie sollen die gesellschaftliche Anerkennung ausdrücken, und sie werden gegeben und erwidert, wie wir unsere Morgenvisiten machen und erhalten. Der Brauch, Ereignisse und Gefühle nach den Geschenken einzuteilen und zu bewerten, ist in der Inselwelt allgemein. Ein Geschenk gilt ihnen soviel wie Brief und Siegel, und die Erinnerung daran steckt tief im Herzen des Insulaners. Frieden und Krieg, Hochzeit, Adoption und Naturalisation werden durch Annahme oder Zurückweisung von Geschenken gefeiert oder angekündigt, und für den Inselbewohner ist es ebenso natürlich, ein Geschenk zu überreichen, wie für uns, eine Visitenkarte bei uns zu tragen.

Zehntes Kapitel


Ein Charakterbild und eine Geschichte

Ich hatte verschiedene Male Veranlassung, den verstorbenen Bischof, Pater Dordillon, zu erwähnen, »Monseigneur«, wie er noch jetzt fast allgemein genannt wird, Apostolischer Vikar der Marquesas und Titularbischof von Cambysopolis. Überall auf den Inseln, bei allen Klassen und Stämmen, erinnert man sich des feinen, alten, liebenswürdigen und heiteren Mannes mit Liebe und Hochachtung. Sein Einfluß auf die Eingeborenen war unbeschränkt. Sie hielten ihn für den Höchsten auf Erden und für größer als einen Admiral, sie brachten ihm ihr Geld zur Aufbewahrung, holten seinen Rat ein bei Käufen und pflanzten keinen Baum auf ihrem eigenen Lande ohne Zustimmung des Vaters der Inseln. Als die Franzosen abzogen, repräsentierte er allein Europa, lebte in der Residentschaft und regierte durch die Vermittlung Tamoanas. Die ersten Wege wurden unter seiner Leitung und auf sein Anraten angelegt. Der alte Weg zwischen Hatiheu und Anaho wurde auf beiden Seiten gleichzeitig begonnen unter dem Vorwand, er werde sich gut eignen für einen Abendspaziergang, und unter Anstachelung des Wetteifers der beiden Dörfer vollendet. Der Priester erzählte in Hatiheu rühmend von dem Fortschritt in Anaho und pflegte den Leuten von Anaho zu erklären: »Wenn ihr euch keine Mühe gebt, werden eure Nachbarn über dem Hügel sein, bevor ihr oben seid.« Heute könnte man nicht mehr so arbeiten, aber damals war es möglich; Tod, Opiumsucht und Entvölkerung waren noch nicht so weit fortgeschritten, und die Leute von Hatiheu wetteiferten noch miteinander in ihrer Kleidung, wie man mir erzählte, sie pflegten familienweise in der Kühle des Abends auf der Bucht zu segeln und Bootrennen zu veranstalten. Etwas Wahres scheint mindestens in der allgemeinen Ansicht zu stecken, daß die gemeinsame Regierung von Tamoana und dem Bischof das letzte, kurze, goldene Zeitalter der Marquesaner war. Aber die Zivilgewalt kehrte zurück, die Mission wurde innerhalb einer Frist von vierundzwanzig Stunden aus der Residentschaft vertrieben, neue Methoden gewannen die Oberhand, und mit dem goldenen Zeitalter – wie es immer gewesen sein mochte – war es zu Ende. Es ist der stärkste Beweis für das hohe Ansehen von Pater Dordillon, daß er offenbar ohne Einbuße an Autorität diese übereilte Absetzung überstand.

Seine Behandlung der Eingeborenen war außerordentlich milde. Mitten unter diesen Kindern der Wildnis spielte er die Rolle des lächelnden Vaters und beobachtete in allen Dingen sorgfältig die Etikette der Marquesaner. So war der Bischof nach dem sonderbaren System künstlicher Versippung von Vaekehu als Enkel und ein Fräulein Fisher in Hatiheu als Tochter adoptiert worden. Von diesem Tage an redete der Monseigneur die junge Dame nur noch als seine Mutter an und schloß seine Briefe mit den Redewendungen eines pflichtgetreuen Sohnes. Europäern gegenüber konnte er streng bis zur Schärfe werden. Er behandelte Ketzer nicht schlecht und verkehrte freundschaftlich mit ihnen, aber die Vorschriften seiner eigenen Kirche wollte er beachtet sehen, und einmal wenigstens ließ er einen Weißen einsperren, der ein Heiligenfest entweiht hatte. Jedoch selbst diese Strenge, die den Laien unerträglich und den Protestanten lästig war, konnte seine Popularität nicht erschüttern. Wir können ihn durch Heranziehung von Vergleichen aus der Heimat am besten würdigen; wir haben wohl alle irgendeinen Geistlichen der alten Schule in Schottland gekannt, einen wortgläubigen Sabbatehrer, der am Buchstaben des Gesetzes klebte und doch im Privatleben bescheiden, unschuldig, liebenswürdig und heiter war. Einem solchen Mann glich Pater Dordillon anscheinend. Und seine Popularität hielt eine noch härtere Probe aus. Man sagte von ihm, und wahrscheinlich mit Recht, daß er ein gewitzter Geschäftsmann war, der achtgab, daß die Mission sich bezahlt machte. Nichts erregt die Gemüter sosehr wie die Einmischung religiöser Körperschaften in Handelsgeschäfte, aber selbst Kaufleute, die seine Konkurrenten waren, sprachen von dem Monseigneur gut.

Seinen Charakter zeichnet am treffendsten die Geschichte der Tage seines Alters. Es kam die Zeit, wo er aus Mangel an Sehkraft seine literarischen Arbeiten beiseitelegen mußte, seine marquesanischen Hymnen, Grammatiken und Wörterbücher, seine wissenschaftlichen Abhandlungen, Heiligenlegenden und religiösen Gedichte. Er blickte sich nach einem neuen Interessengebiet um, verfiel auf Gartenarbeiten, und nun sah man ihn den ganzen Tag mit Spaten und Gießkanne in kindlichem Eifer zwischen den Beeten tatsächlich hin und her rennen. Als der körperliche Verfall zunahm, mußte er auch seinen Garten verlassen. Sofort wurde eine andere Beschäftigung ersonnen, und er saß in der Mission und schnitt Papierblumen und -kränze. Seine Diözese war für seinen Arbeitseifer nicht groß genug, alle Kirchen der Marquesaner wurden mit seinem Papierschmuck versehen, und immer noch mußte er weiterschaffen. »Ach,« sagte er lächelnd, »wenn ich tot bin, wird es euch Spaß machen, meinen Plunder auszukehren!« Er war nun ungefähr sechs Monate tot, aber es freute mich, manche seiner Trophäen noch ausgestellt zu sehen, und ich betrachtete sie lächelnd: einen Tribut, den er, wenn ich seinen heiteren Charakter richtig verstanden habe, nutzlosen Tränen vorgezogen hätte. Krankheit machte ihn immer schwächer; er, der so kühn über die rauhen Felsen der Marquesas geklettert war, um kriegführenden Stämmen den Frieden zu bringen, wurde eine Zeitlang in einem Stuhl zwischen Mission und Kirche hin und her getragen, bis er schließlich durch Wassersucht ohnmächtig ans Bett gefesselt wurde, geplagt von Ischias und Wunden. So lag er ohne Klagen zwei Monate, und am 11. Januar 1888 entschlief er im neunundsiebzigsten Jahre seines Lebens und vierunddreißigsten seiner Arbeit auf den Marquesas.

Wer gern über protestantische und katholische Missionen schelten hört, muß sein Vergnügen anderswo, aber nicht auf diesen Seiten suchen. Seien sie Katholiken oder Protestanten: trotz schwerer Mißgriffe und trotz des Mangels an Frohsinn, Humor und allgemeinem Menschenverstand sind die Missionare die besten und nützlichsten Weißen im Pazifischen Ozean. Wir werden dies Problem immer wieder streifen, aber ein Teil mag an dieser Stelle behandelt werden. Der verheiratete und der im Zölibat lebende Missionar, beide haben ihre besonderen Vorzüge und Mängel. Der verheiratete Missionar kann, wenn wir den günstigsten Fall annehmen, dem Eingeborenen etwas sehr Notwendiges bieten: ein vollendetes Vorbild häuslichen Lebens. Aber die Frau an seiner Seite hat die Neigung, ihn mit Europa in Verbindung zu halten und die innige Verquickung mit Polynesien zu verhindern, und so wird eine pastorale Etikette bewahrt und sogar verschärft, die weit besser vergessen würde. Das Gemüt des weiblichen Missionars beschäftigt sich beispielsweise ständig mit Fragen der Bekleidung. Nur mit den größten Schwierigkeiten kann man ihr begreiflich machen, daß auch andere Gewänder züchtig sind als die von London her gewöhnten; und um dies Vorurteil zu befriedigen, werden die Eingeborenen zu nutzlosen Ausgaben gezwungen, die Phantasie wird europäisch krankhaft, die Gesundheit wird gefährdet. Der im Zölibat lebende Missionar anderseits, sei er der beste oder schlechteste, geht leicht zu den Lebensgewohnheiten der Eingeborenen über, und hinzu kommt das allgemeine Merkmal eheloser Männer oder die Erbschaft mittelalterlicher Heiligen: nachlässige Kleidung und Unsauberkeit. Selbstverständlich gibt es hier Abstufungen, und die Ordensschwester – ihr sei alle Ehre! – ist selbstredend so blitzsauber wie eine Dame auf dem Ball, über die Art der Ernährung ist nichts zu sagen – sie muß den Polynesier verwundern und abschrecken –, aber über die Annahme der Eingeborenensitten sehr viel. »Jedes Land hat seine Sitten«, sagte Stanislao; sie zu ändern, ist die schwierige Aufgabe des Missionars, und je mehr er auf diesem Gebiete von innen heraus, vom Eingeborenenstandpunkt aus erreicht, desto besser wird er seine Aufgaben lösen. Hier sind die Katholiken meines Erachtens manchmal erfolgreicher, und im Vikariat Dordillons bin ich dessen sicher. Ich habe den Bischof tadeln hören wegen seiner Nachgiebigkeit gegen die Eingeborenen, besonders deshalb, weil er nicht mit genügender Energie gegen den Kannibalismus wütete. Es gehörte zu seiner Politik, wie ein älterer Bruder unter den Eingeborenen zu leben, ihnen zu folgen, solange es möglich, und sie zu führen, wo es notwendig war, nie zu übertreiben und die Entwicklung neuer Gebräuche zu ermutigen, statt die alten gewaltsam auszurotten. Und es mag auf die Dauer besser sein, eine solche Politik überall zu befolgen.

Man könnte annehmen, daß eingeborene Missionare sich als nachsichtiger erwiesen, aber das Gegenteil ist in Wirklichkeit der Fall. Neue Besen kehren gut, und der weiße Missionar von heute wird oft durch die Frömmelei seines eingeborenen Gehilfen behindert. Was sonst könnte man erwarten? Auf manchen Inseln wurden Zauberei, Vielweiberei, Menschenopfer und Tabakrauchen verboten, die Bekleidung des Eingeborenen geändert und er selbst in heftigen Redewendungen vor gegnerischen christlichen Sekten gewarnt, alles durch denselben Mann, zu derselben Zeit und in gleich autoritativer Weise. Wie und nach welchen Maßstäben soll nun der Konvertit das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden? Er schluckt die ganze Medizin auf einmal, denn Spielraum für die Phantasie und Beobachtung wird nicht gegeben, und ein Fortschritt wird nicht erzielt, abgesehen von dem rein äußerlichen Nutzen der Verbote. Um die Dinge beim richtigen Namen zu nennen: das alles heißt Aberglauben predigen! Es ist allerdings wenig glücklich, dies Wort anzuwenden: wenige haben Geschichte studiert und viele in kleinen atheistischen Broschüren geblättert, so daß die Mehrheit vorschnell zu dem Schluß kommen könnte, alle Arbeit sei umsonst. Weit gefehlt: dieser halbspontane Aberglaube, verschieden nach der Sekte des ersten Evangelisten und den Sitten der einzelnen Inseln, ist in der Praxis höchst fruchtbar, und besonders diejenigen, die ihn erlernt haben und nun weiterlehren, stehen als leuchtende Vorbilder da vor aller Welt. Das schönste Beispiel christlichen Heldentums, das ich jemals sah, ist einer dieser eingeborenen Missionare. Er hatte zwei Menschenleben unter Gefahr seines eigenen gerettet; gleich Nathan war er einem Tyrannen im Blutrausch entgegengetreten; als die gesamte weiße Bevölkerung floh, erfüllte er allein seine Pflicht, und sein Verhalten inmitten häuslichen Unglücks, das die Öffentlichkeit nichts angeht, erfüllte den Beobachter mit Sympathie und Bewunderung. Er sah aus wie ein kleiner, lächelnder, arbeitsamer Mensch, und man hätte glauben können, er besäße nichts als das, was er tatsächlich zu reichlich besaß, nämlich weiche Gutherzigkeit. (Die Rede ist hier von Maka, dem hawaiischen Missionar auf Butaritari in der Gilbertgruppe.)

Zufällig waren die einzigen Rivalen des Monseigneurs und seiner Mission auf den Marquesas einige dieser braunhäutigen Evangelisten, Eingeborene von Hawaii. Ich weiß nicht, was sie über Pater Dordillon dachten; sie sind die einzigen, die ich nicht befragte, aber ich habe den Verdacht, daß der Prälat sie wegen ihres Übereifers etwas von oben herab betrachtete, denn er war außerordentlich human. Während meines Aufenthalts zu Tai-o-hae kam die Zeit der jährlichen Ferien für die Mädchenschule, und eine ganze Flotte von Walfischfängerbooten von Ua-pu brachte die Töchter in die Heimat. An Bord befand sich auch Kauwealoha, einer der Pastoren, ein feiner, gepflegter, alter Herr jenes löwenartigen Typs, der auf Hawaii oft vorkommt. Er besuchte mich auf der »Casco« und erzählte mir eine Geschichte von seinem Kollegen Kekela, einem Missionar auf der großen Menschenfresserinsel Hiva-oa. Es scheint, daß kurz nach dem räuberischen Besuch eines peruanischen Sklavenhändlers die Boote eines amerikanischen Walfischfängers in eine Bucht dieser Insel einliefen, daß die Leute angegriffen wurden und mit knapper Not entkamen, aber ihren Steuermann, einen Mr. Whalon, in den Händen der Eingeborenen zurückließen. Der Gefangene wurde mit auf dem Rücken gefesselten Händen in ein Haus geworfen, und der Häuptling meldete Kekela die Gefangennahme. Jetzt folge ich der Darstellung Kauwealohas im besten Kanakenenglisch, und der Leser muß sich vorstellen, daß die Erzählung mit heftiger Erregung und sprechenden Gesten vorgetragen wurde.

»›Ich ‚melikanischer Maat haben!‹ der Häuptling er sagen. – ›Was du wollen tun ‚melikanischer Maat?‹ Kekela er sagen. – ›Ich gehen Feuer machen, ich gehen töten, ich gehen ihn essen‹, er sagen; ›du morgen kommen essen Stück‹. – ›Ich nicht wollen essen ‚melikanischer Maat!‹ Kekela er sagen; ›warum du wollen?‹ – ›Dies böser Schiff, dies Sklavenschiff‹, der Häuptling sagen; ›einmal ein Schiff er kommen von Pelu, er nehmen weg mein Sohn. ‚Melikanischer Maat er schlecht Mann. Ich gehen ihn essen, du essen Stück.‹ – ›Ich nicht wollen essen ‚melikanischer Maat!‹ Kekela er sagen, und er weinen, ganzer Nacht er weinen! Morgen Kekela er stehen auf, er ziehen an schwarzer Rock, er gehen zu Häuptling, er sehen Missa Whela, ihn Hand gebunden so! (Zeichen.) Kekela er schreien. Er sagen Häuptling: ›Häuptling, du wollen Sachen von meine? du wollen Walfischfängerboot?‹ – ›Ja‹, er sagen. – ›Du wollen Gewehr?‹ – ›Ja‹, er sagen. – ›Du wollen schwarzer Rock?‹ – ›Ja‹, er sagen. – Kekela er nehmen Missa Whela an Schulter, er ihn nehmen sofort aus Haus, er geben Häuptling er Walfischboot, er Gewehr, er schwarzer Rock. Er nehmen Missa Whela sein Haus, machen ihn setzen nieder er Weib und Kinder, Missa Whela Gefängnis, er Weib, er Kinder in Amelika, er weinen. – O, er weinen. Kekela er traurig. Ein Tag Kekela er sehen Schiff. (Gesten.) Er sagen Missa Whela: ›Ma‘ Whala?‹ – Missa Whela er sagen: ›Ja!‹ Kanaka sie anfangen gehen runter zu Strand, Kekela er nehmen elf Kanaka, nehmen Ruder, nehmen alles. Er sagen Missa Whela: ›Nun du gehen rasch.‹ – Sie springen in Boot: ›Nun du rudern!‹ Kekela er sagen: ›Du rudern schnell, schnell!‹ (Heftiges Gestikulieren und dann Andeutung, daß der Erzähler das Boot verlassen hat und zum Strand zurückgekehrt ist.) Alle Kanaka sie sagen: ›Wie! ‚Melikanischer Maat er gehen weg?‹ – springen in Boot, rudern nach. (Und wieder Übergang zur Andeutung des Bootes.) Kekela er sagen: ›Rudern schnell!‹«

Hier, glaube ich, verwirrte mich die pantomimische Darstellung Kauwealohas, ich erinnere mich nicht mehr seiner ipsissima verba und kann nur in meiner eigenen weniger bewegten Art hinzufügen, daß das Schiff erreicht, Mr. Whalon an Bord genommen wurde und Kekela zu seinem Amt unter den Kannibalen zurückkehrte. Aber wie ungerecht ist es, das Stammeln eines Fremden in einer nur teilweise beherrschten Sprache wiederzugeben! Ein gedankenloser Leser könnte Kauwealoha und seinen Kollegen für eine Art liebenswürdigen Affen halten. Aber ich kann den Gegenbeweis antreten. Als Belohnung für diese Tat tapferer Nächstenliebe erhielt Kekela von der amerikanischen Regierung eine Summe Geldes und von Präsident Lincoln selbst eine goldene Uhr. Aus dem Dankesbrief, den er in seiner eigenen Sprache schrieb, gebe ich den folgenden Auszug. Ich beneide niemand, der ihn ohne Bewegung lesen kann.

»Als ich sah, wie einer Ihrer Landsleute, ein Bürger Ihrer großen Nation, mißhandelt wurde und nahe daran war, gebraten und gegessen zu werden, wie man ein Schwein ißt, eilte ich herbei, ihn zu retten, voll Mitleid und Trauer über die schlechte Tat dieses umnachteten Volkes. Ich gab mein Boot für das Leben des Fremden. Dies Boot stammte von James Hunnewell, eine Freundschaftsgabe. Es wurde zum Lösegeld für Euren Landsmann, damit er nicht verspeist werde von den Wilden, die Jehovah nicht kennen. Es war Mr. Whalon und der Tag der 14. Januar 1864.

Was nun meine freundliche Tat betrifft, die Rettung Mr. Whalons, so kam der Same aus Ihrem großen Lande und wurde herbeigebracht von einigen Ihrer Landsleute, die die Liebe Gottes empfangen hatten. Er wurde in Hawaii eingepflanzt, und ich sorgte dafür, daß er in diesem Lande und in diesen dunklen Gegenden gepflanzt wurde, damit sie die Wurzel alles Guten und Wahren, die Liebe, empfingen:

  1. Liebe zu Jehovah.
  2. Liebe zu uns selbst.
  3. Liebe zu dem Nächsten.

Wenn ein Mann von diesen dreien zur Genüge besitzt, ist er gut und heilig wie sein Gott Jehovah in seinem dreieinigen Charakter (Vater, Sohn und Heiliger Geist), einer und drei, drei und einer. Hat er nur zwei und mangelt der einen, so ist es nicht gut, und wenn er eine hat und zwei fehlen ihm, so ist dies in der Tat nicht gut; aber wenn er alle drei umfängt, dann ist er in der Tat heilig nach der Lehre der Bibel.

Ihre große Nation kann sich dieses großen Dinges rühmen vor allen anderen Nationen der Erde. Von Ihrem großen Lande wurde ein überaus kostbarer Same zum Lande der Finsternis gebracht. Er wurde hier gepflanzt, nicht mit Hilfe von Kanonen und Kriegsschiffen und Drohungen. Er wurde gepflanzt durch Unwissende, Arme und Verachtete. So geschah die Einführung des Wortes des allmächtigen Gottes in diese Inselgruppen von Nuuhiwa. Groß ist meine Schuld an die Amerikaner, die mich alle Dinge gelehrt haben über dies und das zukünftige Leben.

Wie soll ich Ihre große Güte mir gegenüber vergelten? So fragte David Jehovah, und so frage ich Sie, den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Das ist meine einzige Gegengabe – die ich vom Herrn empfangen habe – die Liebe – ( aloha).«

Elftes Kapitel


Langschwein – Ein Hochsitz des Kannibalismus

Nichts erregt heftiger unsern Abscheu als der Kannibalismus, nichts erschüttert mit größerer Sicherheit die menschliche Gesellschaft, nichts, so könnten wir schließen, muß die Gemüter derjenigen, die ihm anhängen, sosehr verhärten und entwürdigen. Und doch machen wir auf Buddhisten und Vegetarier einen ganz ähnlichen Eindruck. Wir verzehren die Leiber von Geschöpfen, die uns verwandte Neigungen, Leidenschaften und Organe haben, wir essen Junge, wenn auch nicht unsere eigenen, und der Schlachthof hallt täglich wider von Schreien der Qual und Furcht. Wir machen Unterschiede, das ist wahr, aber die Abneigung vieler Nationen gegen das Fleisch von Hunden, Tieren also, mit denen wir aufs innigste zusammenleben, zeigt, wie fragwürdig die Unterscheidungen begründet sind. Das Schwein ist die Hauptnahrung der Eingeborenen auf den Inseln, und ich hatte oft Gelegenheit, da meine Phantasie durch die Kannibalenumgebung angeregt war, den Charakter dieses Tieres und die Art seines Todes zu beobachten. Viele Insulaner leben mit den Schweinen wie wir mit unseren Hunden; beide bewegen sich in gleicher Freiheit in der Nähe des häuslichen Herdes, und das Inselschwein ist ein Kerl voll Lebendigkeit, Unternehmungslust und Klugheit. Es schält seine Kokosnüsse selbst und rollt sie, wie man mir erzählte, in die Sonne, damit sie platzen; es ist der Schrecken der Schafhirten!. Die alte Frau Stevenson beobachtete, wie eines in die Wälder flüchtete mit einem Lamm in der Schnauze, und ich sah, wie eines plötzlich zu der Überzeugung kam, die »Casco« ginge unter; es schwamm durch die Sturzwellen zur Reeling, um sich zu retten. Man erzählte mir in der Jugendzeit, daß Schweine nicht schwimmen können; ich habe eines gekannt, das über Bord sprang, vierhundert Meter schwamm bis zur Küste und zum Hause des früheren Besitzers zurückkehrte. Ich hatte einst, in Tautira, eine Schweinezüchterei von ziemlichem Ausmaß; zunächst herrschte in meinem Stall äußerste Zutraulichkeit; eine junge Sau mit Leibschmerzen kam herbei und flehte wie ein Kind um Hilfe; und ein stattlicher schwarzer Eber, den wir Catholicus nannten, weil er ein Sondergeschenk der Katholiken des Dorfes war, zeigte sehr bald Mut und Freundschaftlichkeit. Kein anderes Tier, weder Hund noch Schwein, durfte sich ihm nähern, wenn er fraß, und für menschliche Wesen bewies er das höchste Maß jener untertänigen Zuneigung, die den niederen Tieren eigen ist. Eines Tages sah ich beim Besuch der Schweineställe zu meinem Erstaunen, daß Catholicus sich mit Schreckensschreien vor jeder Annäherung zurückzog, und wenn ich über diese Veränderung verwundert war, so erschrak ich tatsächlich, als ich die Ursache erfuhr. Eines der Schweine war an jenem Morgen geschlachtet worden, Catholicus hatte den Mord beobachtet, er hatte entdeckt, daß er zwischen Schlachtbänken lebte, und von dieser Zeit waren Vertrauen und Lebenslust dahin. Wir verschonten ihn noch eine ganze Weile, aber er konnte den Anblick zweibeiniger Wesen nicht mehr ertragen, und wir unsererseits konnten unter diesen Umständen nicht ohne Verwirrung seinen Blicken begegnen. Ich habe übrigens dem Akt des Schlachtens in Hörweite beigewohnt; ich glaube, ich hätte vielleicht die Schmerzensschreie des Opfers ertragen, aber die Hinrichtung ging nicht glatt vonstatten, und der Ausdruck seines Entsetzens wirkte ansteckend: dies kleine Herz schlug nach derselben Melodie wie das unsere. Auf solchen »Fundamenten des Schreckens« ruht das Leben des Europäers, und doch gehört der Europäer zu den weniger grausamen Rassen. Die Schreckenskammer des Mordes, die brutale Zurichtung der Nahrung wird den Blicken verborgen; äußerste Empfindlichkeit herrscht an der Oberfläche, und Damen fallen in Ohnmacht, wenn man ihnen einen Bruchteil dessen schildert, was sie von ihren Metzgern täglich verlangen. Menschen werden sich in ihrem Innersten auch gegen mich empören wegen der Roheit meiner Worte. Und so steht es um die Inselkannibalen. Sie waren nicht grausam; abgesehen von dieser Sitte sind sie eine der liebenswürdigsten Menschenrassen; geradeheraus gesagt ist es weit weniger hassenswert, das Fleisch eines Menschen nach seinem Tode zu essen, als ihn zu Lebzeiten zu unterjochen, und selbst die Opfer ihres Appetits wurden im Leben nachsichtig behandelt und schließlich rasch und schmerzlos ins Jenseits befördert. In vornehmen Insulanerkreisen galt es ohne Zweifel als geschmacklos, bei dem, was widerwärtig war an dieser Sitte, länger zu verweilen.

Kannibalismus läßt sich von einem Ende des Pazifischen Ozeans bis zum andern nachweisen, von den Marquesas bis Neuguinea, von Neuseeland bis Hawaii, bald in vollster Blüte, bald in geringen, aber charakteristischen Überbleibseln. In Hawaii ist er am zweifelhaftesten. Wir finden Kannibalismus in hawaiischen Chroniken nur einmal in der Geschichte eines Krieges verzeichnet, scheinbar für eine Ausnahme gehalten, wie etwa bei jenen Verbrechern aus den Gebirgen, die durch die Hand des Theseus fielen. In Tahiti hat sich ein einziger Beweis erhalten, aber er scheint schlußkräftig zu sein. In historischen Zeiten bot man, wenn Menschenopfer in den Tempeln dargebracht wurden, die Augen des Getöteten in aller Form dem Häuptling an: eine Delikatesse für den vornehmen Gast. Ganz Melanesien scheint verseucht. In Mikronesien, auf den Marschallinseln, die ich nur als Tourist kenne, konnte ich nicht die geringste Spur finden, und selbst in der Gilbertzone habe ich lange vergeblich geforscht und nachgefragt. Man erzählte mir allerdings Geschichten von Menschen, die während einer Hungersnot verspeist worden seien, aber das besagt nichts für mich, denn ähnliche Dinge geschahen unter demselben Druck bei allen Rassen und Generationen. Schließlich traf ich in einigen handschriftlichen Aufzeichnungen von Dr. Turner, die man mir in Malua einzusehen gestattete, auf einen vernichtenden Beweis: auf der Insel Onoatoa war die Strafe für Diebstahl, getötet und gegessen zu werden. Wie können wir diesen allgemeinen Brauch in einem so großen Gebiet erklären, unter Völkern so verschiedener Zivilisation und, trotz aller Vermischung, so verschiedenen Blutes? Welche Lebensbedingung war ihnen allen gemeinsam außer der, daß sie auf Inseln lebten, die keine oder nur geringe Fleischnahrung boten? Ich kann aus meinem Appetit nur schließen, daß es dem Menschen nicht bestimmt ist, nur von Pflanzenkost zu leben. Wenn unsere Vorräte auf den Inseln abnahmen, sehnte ich mich nach dem Tage, da die Sparsamkeit uns erlaubte, wieder einmal eine Büchse minderwertigen Hammelfleisches zu öffnen. Und in mindestens einer ozeanischen Sprache gibt es ein besonderes Wort für den Zustand, wenn der Mensch »hungrig auf Fisch« ist, Gemüse ihm nicht mehr genügen und seine Seele wie die der Hebräer in der Wüste sich nach Fleischtöpfen sehnt. Nimmt man die Beweise für Übervölkerung und drohende Hungersnöte hinzu, die wir bereits angeführt haben, so hat man meines Erachtens einigen Grund, mit den Inselkannibalen Nachsicht zu üben.

Man muß jedes Problem von zwei Seiten betrachten, aber es liegt mir fern, dies mehr als bestialische Laster entschuldigen zu wollen. Die höherstehenden polynesischen Rassen, wie die Tahitier, Hawaiier und Samoaner, waren über diese Sitte alle hinausgewachsen, und manche hatten sie teilweise schon vergessen, als Cook und Bougainville mit ihren Segelschiffen am Horizont auftauchten. Sie hielt sich nur auf einigen niedrigen Inseln, wo der Lebensunterhalt schwierig zu gewinnen ist, und unter unverbesserlichen Wilden wie den Neuseeländern und Marquesanern. Die Marquesaner verknüpften die Menschenfresserei mit dem ganzen Gewebe ihres Daseins, »Langschwein« war gewissermaßen Zahlungsmittel und Sakrament, es war der Lohn des Künstlers, betonte die historischen Erinnerungstage und war Anlaß und Höhepunkt jedes Festes. Heute müssen sie diese blutrünstige Verquickung büßen. Die Zivilverwaltung mußte in ihrem Kreuzzug gegen den Kannibalismus alle marquesanischen Künste und Belustigungen unterdrücken, fand sie ohne Ausnahme mit kannibalischen Elementen durchsetzt und brachte sie nacheinander auf die Liste der Verbote. Ihre Kunst im Tätowieren war einzigartig, die Ausführung wundervoll, die Zeichnungen herrlich und überwältigend, kein schönerer Schmuck für schöne Menschen! Anfangs mag es etwas Schmerz bereiten, aber ich bezweifle, ob es auf die Dauer so qualvoll ist wie die unedle europäische Damensitte des Schnürens, und sicher ist es viel gesünder. Und nun wurde es für notwendig befunden, diese Kunst zu untersagen. Ihre Gesänge und Tänze waren zahlreich, und das Gesetz mußte sie dutzendweise abschaffen. Sie stehen heute mit leeren Händen der Öde ereignisloser Tage gegenüber, und wer soll sie bemitleiden? Der Sanftmütigste muß gestehen, daß ihnen recht geschehen ist.

Der Tod allein konnte marquesanische Rache nicht befriedigen, das Fleisch des Opfers mußte gegessen werden. Der Häuptling, der Mr. Whalon gefangennahm, hatte den sehnlichsten Wunsch, ihn zu verspeisen, und glaubte sich gerechtfertigt, als er erklärte, es handle sich um einen Racheakt. Vor zwei oder drei Jahren ergriffen und töteten Talbewohner einen armen Wicht, der sie beleidigt hatte. Vermutlich war die Beleidigung schwer, sie konnten ihre Rache nicht unvollkommen lassen, und unter den Augen der Franzosen wagten sie nicht, ein öffentliches Gastmahl abzuhalten. Der Leichnam wurde also verteilt, jeder zog sich in sein Haus zurück, um den Ritus im geheimen zu vollziehen, und trug seinen Anteil an dem entsetzlichen Gericht in einer schwedischen Zündholzschachtel heim. Der Barbarismus des Dramas und die europäischen Gebrauchsgegenstände bieten der Phantasie Bilder ungeheuren Kontrastes. Aber noch bezeichnender ist ein anderer Vorfall aus dem Jahre 1888, als ich mich selbst dort befand. Im Frühling trieben sich ein Mann und eine Frau in der Nähe der Schule von Hiva-oa umher, bis sie ein bestimmtes Kind allein antrafen. »Bist du der und der, der Sohn von Soundso?« fragten sie und lockten es unter Liebkosungen tiefer hinein in die Wälder. Irgendein Instinkt erwachte in der Brust des Kindes, oder irgendein Blick verriet ihm das entsetzliche Vorhaben der Betrüger. Es versuchte ihnen zu entfliehen und schrie, aber sie ließen die Maske fallen, packten es fester und fingen an zu laufen. Seine Schreie wurden gehört, Schulkameraden, die in der Nähe spielten, eilten zu seiner Rettung herbei, aber das grausame Paar floh und verschwand in den Wäldern. Es wurde nie ermittelt, kein Strafgericht folgte, aber man nahm allgemein an, daß sie Groll hegten gegen den Vater des Knaben, den sie aus Rache zu verspeisen beschlossen. Überall auf den Inseln kann man, wie bei unseren Vorfahren, beobachten, daß der Rächer es nicht auf eine bestimmte Person absieht. Familie, Klasse, Dorf, ein ganzes Tal oder eine Insel, ein ganzer Stamm haben teil an der Schuld eines ihrer Angehörigen. So mußte in unserer Erzählung der Sohn an Stelle des Vaters büßen, und Mr. Whalon, der Steuermann eines amerikanischen Walfischfängers, sollte für die Freveltaten eines peruanischen Sklavenhändlers bluten und verspeist werden. Ich erinnere mich eines Vorfalls in Jaluit auf der Marschallgruppe, den mir ein Augenzeuge berichtete, und den ich hier wiedergebe wegen seiner Eigenartigkeit. Zwei Männer hatten das Mißfallen der Jaluithäuptlinge erregt, und ihre Frauen wurden zur Bestrafung herangezogen. Ein einzelner Eingeborener vollzog die Hinrichtung. Am frühen Morgen watete er angesichts einer großen Menschenmenge zwischen seinen Opfern hinaus zu den Riffen. Die Frauen klagten und sträubten sich nicht, begleiteten geduldig ihren Henker, tauchten auf seinen Befehl unter, als sie tief genug hineingelangt waren, er legte seine Hand auf die Schultern der beiden und hielt sie unter Wasser, bis sie ertrunken waren. Ohne Zweifel standen ihre Familien laut wehklagend am Ufer, obgleich mein Gewährsmann mir nichts darüber berichtete.

Von Hatiheu aus besuchte ich zum erstenmal einen Hochsitz des Kannibalismus.

Der Tag war schwül und trübe. Heftige Tropenschauer wechselten mit glühendem Sonnenschein. Der grüne Fußpfad wand sich steil aufwärts. Unser kleiner Führer, ein Schuljunge, ging etwas voraus, und Pater Simeon hatte sein Skizzenbuch in der Hand, benannte die Bäume für mich und las mir aus seinen Notizen laut ihre Hauptvorzüge vor. Plötzlich bot der ansteigende Weg einen freieren Ausblick in das Tal von Hatiheu, und der Priester deutete, indem er den Führer gelegentlich fragte, die Grenzlinien an und nannte mir die Namen der größeren Stämme, die früher in ewigem Kriege miteinander lagen: einer wohnte im Nordosten, ein anderer am Strand, der dritte dahinten auf den Bergen. Mit einem Überlebenden des letzteren hatte Pater Simeon gesprochen: bis zum Friedensschluß war er nie bis zur Meeresküste gekommen und hatte, wenn ich mich recht erinnere, niemals Seefische gegessen. Die Stämme lebten abgeschlossen für sich in ihrem Distrikt, eingepfercht und belagert. Kam eine Hungersnot, so mußten die Männer in die Wälder gehen, um Kastanien und kleine Früchte zu sammeln; selbst heute noch müssen die Schulen geschlossen und die Schüler zum Proviantieren ausgesandt werden, wenn die Eltern mit ihren wöchentlichen Abgaben im Rückstand sind. Aber in alten Zeiten herrschte bei allen Nachbarn höchste Tätigkeit, wenn ein Stamm in Schwierigkeiten war, man legte überall in den Wäldern Hinterhalte, und wer für sich selbst Früchte sammeln wollte, konnte schließlich als Braten für seine Erbfeinde enden. Es bedurfte nicht einmal einer besonderen Veranlassung. Ein Dutzend verschiedener Naturanzeichen und sozialer Ereignisse trieben dies Volk auf den Kriegspfad und zur Menschenjagd. Mochte jemand von Häuptlingsrang seine Tätowierung beendet haben, das Weib eines anderen sich ihrer Niederkunft nähern, zwei der Bergströme ihr Bett näher zur Bucht von Hatiheu verlegt haben, der Gesang eines gewissen Vogels gehört, eine bestimmte bedeutungsvolle Wolkenbildung über der nördlichen See beobachtet worden sein: sofort wurden die Waffen geölt, und die Menschenjäger schwärmten durch den Wald und legten ihre Fallen für den Brudermord. Es scheint auch, daß sich der Priester bisweilen, vielleicht bei einer Hungersnot, in sein Haus einschloß, wo er eine bestimmte Zeit wie tot dalag. Kam er wieder zum Vorschein, so rannte er drei Tage lang nackt und ausgehungert durch das Gebiet des Stammes und schlief nachts allein auf dem Hochsitz. Dann mußten die andern das Haus hüten, denn es bedeutete Tod, dem Priester auf seinen Runden zu begegnen. Am Abend des vierten Tages war der Lauf zu Ende, der Priester kehrte zu seiner Wohnung zurück, das Volk erschien wieder, und am Morgen wurde die Zahl der Opfer verkündet. Ich kann diese Erzählung von dem Priester nur auf eine Autorität – ich glaube, eine gute – zurückführen. Die Einzelheiten sind so sonderbar, daß ich annehme, man hätte sie öfter erwähnen müssen, wenn sie wahr wären. Über einen Punkt scheint kein Zweifel: die Festessen wurden manchmal mit Material aus dem eigenen Stamm bestritten. In Zeiten des Mangels hatten alle, die nicht durch Familienbeziehungen geschützt waren – nach einem schottischen Hochlandsausdruck alle Gemeinen der Sippe – Ursache zu zittern. Widerstand oder Flucht waren vergeblich und fruchtlos. Sie waren auf allen Seiten von Kannibalen eingeschlossen, und der Bratofen stand bereit für sie draußen im Lande der Feinde oder zu Hause im Tal ihrer Väter.

An einer bestimmten Ecke des Weges bog unser jugendlicher Führer zur Linken ab in die Dämmerung des Waldes. Wir befanden uns nun auf einem der uralten Eingeborenenpfade, eingebettet in hohe Waldgewölbe, scheinbar ziellos hinaufkletternd über Steinblöcke und abgestorbene Bäume, aber der Junge wand sich ein und aus, hinauf und hinunter, ohne Zögern, denn diese Wege sind für die Eingeborenen so gut zu erkennen wie für uns eine königliche Heerstraße, so daß man sie in den Zeiten der Menschenjagden sogar zu verrammeln oder unkenntlich zu machen versuchte, anstatt sie zu verbessern. In der Höhle des Waldes war die Luft feucht und heiß und kalt, zu unseren Häupten rauschte der Tropenregen brausend auf die Blätter nieder, aber nur hier und da fiel wie durch Löcher eines lecken Daches ein einzelner Tropfen herab und machte einen Fleck auf meinen Regenmantel. Nach einer Weile stand der gewaltige Stamm eines Banyan vor uns, er schien zwischen den Ruinen eines uralten Forts zu wurzeln, und unser Führer hielt an, streckte den Arm aus und verkündete, daß wir beim » paepae tapu« angelangt seien.

Paepae bezeichnet einen Fußboden oder eine Plattform, auf der ein Eingeborenenhaus errichtet wird, und selbst solch ein Paepae, ein » paepae hae«, kann in einem gewissen Sinne als tabu bezeichnet werden, wenn es verlassen und von Geistern bewohnt ist. Aber der öffentliche Hochsitz, den ich jetzt betrat, war eine außerordentlich wichtige Stätte. Soweit mein Auge das dichte Unterholz durchdringen konnte, war der Boden des Waldes gepflastert. Drei Terrassenstufen liefen am Abhang des Hügels entlang; davor umschloß eine abbröckelnde Rampe die Hauptarena, deren Bodenbelag an verschiedenen Stellen von Brunnenlöchern durchbohrt und von kleinen Gehegen unterbrochen war. Vom Oberbau war keine Spur mehr erhalten, der Bauplan des Amphitheaters war schwer zu erkennen. Ich besuchte einen anderen Hochsitz auf Hiva-oa, kleiner aber vollkommener, wo man deutlich Sitzreihen und isolierte Ehrenplätze für hervorragende Persönlichkeiten wahrnehmen konnte, und wo auf der oberen Plattform ein einzelner Gerüstbalken des Tempels oder Totenhauses stehengeblieben war, dessen Pfeiler reich geschnitzt waren. In alten Zeiten wurde der Hochsitz sorgfältig gepflegt. Kein Baum außer dem heiligen Banyan durfte auf seinen Stufen wuchern, kein welkes Blatt auf dem Bodenbelag verfaulen. Die Steine waren sorgsam gelegt, und man erzählte mir, daß man ihnen durch Öl Glanz verlieh. Auf allen Seiten waren Wächter in Schutzhütten untergebracht, um den Platz zu behüten und zu reinigen. Der Fuß keines anderen Menschen durfte sich ihm nähern, nur der Priester kam in den Zeiten der Läufe zum Schlafe dorthin und träumte vielleicht von seiner gottlosen Sendung. Aber zur Zeit des Festes erschien der ganze Stamm geschlossen auf dem Hochsitz, jeder einzelne hatte seinen bestimmten Platz. Es gab Sitze für die Häuptlinge, den Trommler, die Tänzer, die Frauen und die Priester. Die Trommeln, etwa zwanzig an der Zahl, manche zwölf Fuß hoch, erdröhnten unaufhörlich im Takt. Im Takt ließen die Sänger ihren langgezogenen, finsteren, heulenden Gesang ertönen, im Takt schritten und sprangen auch die Tänzer einher, wunderbar zierlich, herausgeputzt, sie schwärmten gestikulierend umher und ließen ihre federgeschmückten Finger wie Schmetterlinge durch die Luft flattern. Die Empfindung für den Rhythmus ist bei allen ozeanischen Völkern außerordentlich stark ausgeprägt, und mir scheint, als ob bei solchen Festen jeder Ton und jede Bewegung in eins verschmolz. Um so einheitlicher mußte die Erregung der Festteilnehmer wachsen, und um so wilder mußte die Szene jedem Europäer erscheinen, der sie dort in greller Sonne und im tiefsten Schatten der Banyanen beobachtet hätte: eingerieben mit Saffran, um die Arabesken der Tätowierung höher hervortreten zu lassen, die Frauen in tagelanger Zurückgezogenheit zu beinahe europäischer Hautfarbe gebleicht, die Häuptlinge gekrönt mit silbernen Federn aus Barthaaren alter Männer und gegürtet mit Haarsträngen toter Frauen. Inselgerichte aller Art wurden inzwischen für die Frauen und Männer aus dem Volke aufgetragen; und für diejenigen, die das Vorrecht hatten, davon zu essen, wurden Körbe mit »Langschwein« zum Totenhaus geschleppt. Man erzählt, daß sich die Feste lange ausdehnten, das Volk kehrte erschöpft von den tierischen Ausschweifungen heim, die Häuptlinge gestopft voll von ihrer bestialischen Speise. Gewisse Gefühle nennen wir ausdrücklich menschlich, und wir verweigern denen, die ihrer entraten, diese ehrenvolle Bezeichnung. Bei solchen Festen –, besonders wenn das Opfer in der eigenen Heimat erschlagen war und die Leute die Überreste eines armen Kameraden verspeisten, der mit ihnen in der Jugend gespielt, oder einer Frau, deren Gunst sie einst genossen – wurden alle diese Empfindungen mit Füßen getreten. Überlegt man sich alles das eingehender, so versteht, ja verzeiht man die eifernde Gerechtigkeit alter Schiffskapitäne, die ihre Kanonen laden und Feuer eröffnen ließen auf eine Kannibaleninsel, die sie passierten.

Und doch war es sonderbar. Dort, am Hochsitz selbst, als ich unter dem hohen, tropfenden Gewölbe des Urwaldes stand, den jungen Priester in seiner Kutte auf der einen, den helläugigen, marquesanischen Schulknaben auf der anderen Seite, schienen alle diese Dinge unendlich fernzuliegen, in der kühlen Perspektive und dem kalten Licht der Geschichte. Vielleicht beeinflußte mich das Benehmen des Priesters. Er lächelte, er scherzte mit dem Knaben, dem Nachkommen sowohl der Festteilnehmer wie der Opfer, er klatschte in die Hände und sang mir eine Strophe der alten grausigen Chorgesänge vor. Jahrhunderte mochten vergangen sein, seit das furchtbare Spiel auf diesem Theater zum letzten Male aufgeführt worden war, und ich betrachtete den Platz ohne größere Erregung, als ich sie bei einem Besuch von Stonehenge empfunden hätte. Als ich in Hiva-oa wahrnahm, daß die Sitte verborgen dicht neben mir noch lebte, so daß ich des Aufschreis eines in die Falle gegangenen Opfers möglicherweise gewärtig sein mußte, versagte die historische Betrachtungsweise vollständig, und ich verspürte einige Abneigung gegen die Eingeborenen. Aber auch hier bewahrten die Priester ihre Heiterkeit, sie neckten die Kannibalen, als ob es sich um absonderliche, nicht aber um entsetzliche Dinge handele, und suchten sie durch gutmütigen Witz und Erweckung des Schamgefühls von der Sitte abzubringen, wie man ein Kind beschämt, um es vom Zuckernaschen zu entwöhnen. Wir können hier den milden und klugen Geist des Bischofs Dordillon wiedererkennen.