Siebentes Kapitel


Mann und Frau

Ein Händler, der an die Sitten Polynesiens gewöhnt ist, hat auf den Gilbertinseln umzulernen. Das Ridi ist nur ein spärliches Gewand. Noch vor dreißig Jahren gingen die Frauen nackt bis zur Hochzeit, innerhalb von zehn Jahren kam der Brauch ab, und diese Tatsachen vermitteln, besonders wenn man sie nur vom Hörensagen kennt, eine ganz falsche Vorstellung von den Sitten dieser Inselgruppe. Ein sehr kluger Missionar bezeichnete die Insel in ihrem früheren Zustand als »ein Paradies nackter Frauen« für die ansässigen Weißen. Jedenfalls war es ein platonisches Paradies, wo Lothario auf eigene Gefahr Abenteuer suchte. Seit 1860 haben vierzehn Weiße auf einer einzigen Insel aus demselben Grunde ihr Leben eingebüßt, alle wurden an Orten gefunden, wo sie keine Geschäfte hatten, und von einem erbosten Familienvater aufgespießt. Die Ziffer wurde von einem ihrer Zeitgenossen angegeben, der klüger gewesen und am Leben geblieben war. Die sonderbare Hartnäckigkeit dieser vierzehn Märtyrer sieht fast aus wie Monomanie oder eine ununterbrochene Folge romantischer Leidenschaften: Gin ist wahrscheinlich der eigentliche Hintergrund. Die armen Kerle saßen allein in ihren Häusern bei dem offenen Schnapskasten, sie tranken, ihr Verstand verwirrte sich, sie taumelten auf gut Glück zum nächsten Haus, und der Wurfspieß durchdrang ihre Leber. An Stelle eines Paradieses fand der Händler einen Archipel mit eifersüchtigen Gatten und tugendhaften Frauen. »Wenn man ihnen natürlich den Hof machen will, ist es wie überall sonst«, sagte ein Händler unschuldig, aber er und seine Begleiter taten es selten.

Man muß den Händler loben wegen eines Vorzugs: er ist oft ein liebevoller und treuer Gatte. Einige der schlimmsten Herumtreiber im Stillen Ozean, die Letzten der alten Schule, sind mir auf meinen Wegen begegnet, manche von ihnen waren von einem bewundernswerten Benehmen gegen ihre eingeborenen Frauen und einer ein verzweifelter Witwer. Die Stellung der Frau eines Händlers auf den Gilbertinseln ist übrigens außergewöhnlich beneidenswert. Sie teilt die Unverletzlichkeit ihres Gatten, die Abendglocke läutet in Butaritari vergeblich für sie. Lange nachdem das Geläute vorüber ist und die großen Damen der Insel für die Nacht in ihr Haus verwiesen sind, dürfen die privilegierten Freigelassenen noch durch die öden Straßen laufen und kichern oder im Dunkeln zum Bade gehen. Das ganze Warenlager ist zu ihrer Verfügung, sie gehen wie eine Königin gekleidet und schlemmen jeden Tag in Leckerbissen aus Konservenbüchsen. Sie, die vielleicht unter den Eingeborenen weder Achtung noch Stellung besaß, sitzt jetzt mit Kapitänen zusammen und wird an Bord der Schoner bewirtet. Fünf dieser privilegierten Damen waren zeitweise unsere Nachbarinnen. Vier davon waren hübsche, leichtfertige Mädel, verspielt wie Kinder und zum Schmollen geneigt wie Kinder. Sie trugen am Tage Kleider, aber neigten dazu, beim Dunkelwerden diese übernommenen Dinge abzustreifen und im angestammten Ridi auf dem Grundstück laut schreiend herumzutollen. Beständig spielten sie Karten, wobei Muscheln als Zahlpfennige dienten; man betrog sich fast immer untereinander, und das Ende einer Partie war, besonders wenn ein Mann mit dabei war, ein allgemeines Greifen nach den Muscheln. Die fünfte war eine Matrone. Es war ein malerischer Anblick, sie Sonntags zur Kirche segeln zu sehen, einen Schirm in der Hand, ein Kindermädchen folgend, das Baby in einem großen Hut vergraben, bewaffnet mit einer Patentmilchflasche. Der Gottesdienst wurde belebt durch ständiges Überwachen und Tadeln des Mädchens. Man konnte sich der Vorstellung nicht erwehren, daß das Baby eine Puppe und die Kirche ein europäisches Kinderzimmer sei. Alle diese Frauen waren gesetzlich verheiratet. Es ist wahr, daß die Heiratsurkunde der einen, die sie uns stolz zeigte, so lautete, daß sie »auf eine Nacht verheiratet« sei, und daß es ihrem lieblichen Partner freistehe, »sie zur Hölle zu schicken« am nächsten Morgen, aber sie war durch diesen feigen Trick weder besser noch schlechter daran. Eine andere war, wie ich hörte, auf einem meiner Bücher, in einer unberechtigten Nachdruckausgabe, verheiratet worden, es erfüllte den Zweck ebensogut wie die Bibel im Gerichtssaal. Trotz dieser Verlockungen der gesellschaftlichen Ausnahmestellung, der ausgezeichneten Kleidung, der verhältnismäßig vollkommenen Befreiung von Arbeit und einer regelrechten Eheschließung, die sogar Gesetzeskraft hatte, auch wenn sie über einer unberechtigten Buchausgabe geschlossen wurde, muß ein Händler oft lange suchen, bevor er sich verheiraten kann. Während ich mich auf der Inselgruppe aufhielt, ging einer schon acht Monate auf Freiersfüßen und war immer noch Junggeselle.

Innerhalb der reinen eingeborenen Gesellschaft waren die alten Gesetze und Gebräuche streng, aber nicht ohne den Stempel einer gewissen Großherzigkeit. Heimlicher Ehebruch wurde mit dem Tode bestraft, öffentliches Verlassen des Gatten dagegen vergleichsweise mit Recht als Tugend angesehen und ausgeglichen durch eine Beschlagnahme von Landbesitz. Der männliche Ehebrecher allein scheint bestraft worden zu sein. Die korrekte Haltung für einen eifersüchtigen Mann ist es, sich aufzuhängen, eine eifersüchtige Frau hat ein anderes Hilfsmittel: sie beißt ihre Rivalin. Vor zehn oder zwanzig Jahren war es ein mit der Todesstrafe bedrohtes Verbrechen, das Ridi einer Frau hochzuheben, noch heute ist es mit hoher Strafe an Besitz belegt, und das Bekleidungsstück selbst ist immer noch symbolisch heilig. Wenn in Butaritari ein Stück Land umstritten ist, so hat derjenige seinen Prozeß gewonnen, der zuerst ein Ridi am Tabupfosten aufhängt, da niemand außer ihm es berühren oder entfernen darf.

Das Ridi war das Kennzeichen nicht der Frau, sondern des Weibes, das Abzeichen nicht ihres Geschlechts, sondern ihrer Stellung. Es war das Halsband des Sklaven und das Fabrikzeichen von Waren. Die ehebrecherische Frau scheint man verschont zu haben: war der Gatte beleidigt, so würde es einen traurigen Trost bedeutet haben, seine Zugtiere zum Schlachthaus zu führen. Karaiti nennt seine acht Weiber bis auf den heutigen Tag »seine Pferde«, nachdem ihm ein Händler die Verwendung dieser Tiere auf dem Lande erklärt hat, und Nanteitei vermietete seine Weiber für Maurerarbeiten. Ehegatten, wenigstens diejenigen von hohem Rang, hatten Gewalt über Leben und Tod, selbst Weiße scheinen sie besessen zu haben, und ihre Weiber, die sich über die Grenze des Verzeihens hinaus vergangen hatten, beeilten sich, die Abbitteformel zu sprechen: » I Kana Kim.« Diese Wortfolge besitzt so große Kraft, daß ein verurteilter Verbrecher, der sie an einem bestimmten Tage vor dem König, seinem Richter, ausspricht, sofort freigelassen werden muß. Es ist ein Angebot der Demütigung, und merkwürdig genug ist das Gegenteil – eine Nachahmung – eine schwere Beleidigung in Großbritannien bis auf den heutigen Tag. Ich gebe eine Szene wieder zwischen einem Händler und seiner Frau, einer Gilbertinsulanerin, wie sie mir von dem Gatten, jetzt einem der ältesten Ansitzer, damals aber noch unerfahren, erzählt wurde.

»Geh und mache Feuer,« sagte der Händler, »und wenn ich Öl gebracht habe, werde ich Fische kochen.«

Die Frau grunzte ihn an nach Inselsitte.

»Ich bin kein Schwein, daß du mich angrunzen darfst«, sagte er.

»Ich weiß, daß du kein Schwein bist,« sagte die Frau, »aber ich bin auch nicht deine Sklavin.«

»Um sicher zu sein, daß du nicht meine Sklavin bist, und wenn es dir nicht paßt, bei mir zu bleiben, tust du besser, zu deiner Familie nach Hause zurückzukehren,« sagte er, »aber inzwischen geh und mache Feuer, und wenn ich Öl gebracht habe, will ich Fische kochen.«

Sie ging fort, scheinbar um zu gehorchen, und bald darauf, als der Händler sich umsah, hatte sie ein so gewaltiges Feuer entfacht, daß das Küchenhaus in Flammen aufging.

» I Kana Kim!« rief sie aus, als sie ihn herankommen sah, aber er beachtete es nicht und schlug sie mit einem Kochtopf. Der Fuß durchdrang ihren Schädel, Blut strömte heraus, man glaubte, sie sei tot, und die Eingeborenen umgaben in feindlicher Haltung das Haus. Ein anderer Weißer war anwesend, ein Mann von mehr Erfahrung. »Du wirst uns beide in den Tod bringen, wenn du so fortfährst,« rief er aus, »sie hatte gesagt ›I Kana Kim‹!« Wenn sie nicht » I Kana Kim« gesagt hätte, hätte er sie mit einem Kessel schlagen können; nicht der Schlag an sich war das Verbrechen, sondern die Mißachtung einer geheiligten Formel.

Polygamie, die besondere Unantastbarkeit der Frauen, ihre halb sklavische Stellung, ihre Absperrung im Harem des Königs, selbst ihr Vorrecht, beißen zu dürfen – alles das scheint eine mohammedanische Gesellschaftsordnung anzudeuten und die Ansicht, daß Frauen keine Seelen haben. Aber das ist durchaus nicht so, es hat nur den Anschein. Nachdem man diese eigenartigen Zustände in einem Hause kennengelernt hat, geht man zum nächsten und findet alles umgekehrt, die Frau ist Herrin, der Mann nur der erste ihrer Sklaven. Die Autorität liegt nicht beim Gatten als solchem oder bei der Frau als solcher, sie liegt beim Häuptling oder der Häuptlingsfrau, bei ihm oder ihr, je nachdem, wer die Ländereien der Sippe geerbt hat und Elternrechte der Sippe gegenüber vertritt, ihre Dienstleistungen entgegennimmt und ihre Abgaben bezahlt. Es gibt nur eine Quelle der Macht und einen Grund der Würde: Rang. Der König heiratete einen weiblichen Häuptling, und sie wurde seine Dienerin und mußte mit ihren Händen beim Pierbau von Messrs. Wightman arbeiten. Der König ließ sich von ihr scheiden, und sie gewann sofort ihre frühere Stellung und Macht zurück. Sie heiratete einen hawaiischen Seemann, und nun ist der Mann ihr Bedienter und kann jederzeit fortgejagt werden. Ja, diese niedriggeborenen Herren werden sogar körperlich bestraft und müssen wie erwachsene, aber gehorsame Kinder Züchtigungen hinnehmen.

Wir waren gute Freunde in einem solchen Haushalt, dem von Nei Takauti und Nan Tok‘. Ich nenne die Dame des Hauses notwendigerweise zuerst. Eine Woche lang war meine Frau in unserem Narrenparadies allein zum Seestrand der Inseln gegangen, um Muscheln zu suchen. Es ist mir heute klar, daß das leichtsinnig war, und sie bemerkte bald einen Mann und eine Frau, die sie beobachteten. Was immer sie tat, ihre Wächter hielten sie ständig im Auge, und wenn der Nachmittag sich neigte und sie glaubten, sie sei nun lange genug draußen, nahmen sie sie in ihre Obhut und befahlen ihr durch Zeichen und in gebrochenem Englisch, nach Hause zurückzukehren. Auf dem Wege zog die Dame eine Tonpfeife aus dem Ohrringloch, der Gatte zündete sie an und händigte sie meiner unglücklichen Frau aus, die nicht wußte, wie man dieser unbequemen Gunstbezeugung ausweichen konnte, und als sie alle bei unserem Hause angelangt waren, setzte sich das Paar neben sie auf den Boden und benutzte die Gelegenheit, um zu beten. Seit jenem Tage waren sie Freunde unserer Familie, brachten dreimal am Tage wunderschöne Inselkränze von weißen Blumen, besuchten uns jeden Abend und brachten uns oft zu ihrem eigenen Maniap‘, wobei das Weib meine Frau an der Hand führte wie ein Kind das andere.

Nan Tok‘, der Gatte, war jung, außergewöhnlich hübsch, von bewährter Gutmütigkeit und litt in seiner sonderbaren Stellung unter der Unterdrückung seiner Heiterkeit. Nei Takauti, die Frau, wurde schon alt, ihr erwachsener Sohn aus einer früheren Ehe hatte sich gerade vor den Augen der Mutter in Verzweiflung über eine wohlverdiente Rüge aufgehängt. Vielleicht war sie niemals schön gewesen, aber ihr Gesicht war charaktervoll, und ihre Augen hatten ein dunkles Feuer. Sie war ein hoher weiblicher Häuptling, aber für eine Person ihres Ranges ausnahmsweise klein, zart und sehnig, mit mageren kleinen Händen und hagerem Hals. Ihr großes Abendgewand war stets ein weißes Hemd, und als Schmuck trug sie grüne Blätter oder zuweilen weiße Blüten im Haar und in den großen Ohrringlöchern. Der Gatte sah im Gegensatz dazu wechselvoll aus wie ein Chamäleon. Schenkte meine Frau Nei Takauti irgendeine hübsche Sache – eine Perlenschnur, ein Band, ein Stück buntes Zeug –, so erschien es am nächsten Abend an der Person von Nan Tok‘. Es war klar, daß er eine Art Kleiderständer war, daß er Livree trug und in einem Wort die Frau seiner Frau war. Sie vertauschten die Rollen tatsächlich bis in die geringste Kleinigkeit, der Gatte zeigte sich als hilfsbereiter Engel in Krankheitsstunden, während die Frau Gefühls- und Herzlosigkeit spielte, wie man sie dem Manne nachsagt.

Wenn Nei Takauti Kopfschmerzen hatte, war Nan Tok‘ voll Aufmerksamkeit und Mitleid. Wenn der Gatte sich erkältet oder rasende Zahnschmerzen hatte, beachtete die Frau es nicht, wenn sie nicht spottete. Es ist immer die Aufgabe der Frau, die Pfeife zu füllen und anzuzünden: Nei Takauti gab die ihre schweigend dem angeheirateten Pagen, aber sie trug sie selbst, als ob der Page nicht ganz vertrauenswürdig sei. So verwahrte sie auch das Geld, aber er machte mit emsigem Eifer die Besorgungen. Eine Wolke auf ihrer Stirn verdunkelte sofort seine leuchtenden Blicke, und bei einem Morgenbesuch in dem Maniap‘ sah meine Frau, daß er Grund hatte, vorsichtig zu sein. Nan Tok‘ hatte einen Freund bei sich, einen unbesonnenen jungen Mann seines eigenen Alters und Geschlechts, und sie hatten sich gegenseitig zu lebhaftester Heiterkeit gesteigert, wobei man dann oft die Folgen nicht beachtet. Nei Takauti nannte ihren eigenen Namen, sofort hielt Nan Tok‘ zwei Finger hoch, sein Freund tat das gleiche, beide in höchster Verschlagenheit. Offenbar hatte die Dame zwei Namen, und soviel man aus dem lauten Lachen der beiden und der Zornesader auf der Stirn der Frau entnehmen konnte, hatte der zweite Name etwas Verfängliches. Der Gatte sprach ihn aus: sofort traf ihn eine wohlgezielte Kokosnuß von der Hand seines Weibes am Schädel, und die heiteren Stimmen der indiskreten jungen Leute verstummten für diesen Tag.

Die Bevölkerung von Ostpolynesien ist niemals in Verlegenheit, ihre Gesellschaftsformen sind alle festgelegt und umfassend, sie schreiben ihnen in allen Lebensumständen vor, was sie zu tun haben, und wie sie sich verhalten sollen. Die Gilbertiner sind offenbar freier und bezahlen diese Freiheit wie wir mit häufiger Verlegenheit. Das war auch der Fall bei diesem verdrehten Paar. Wir hatten ihnen einst bei einem Besuche eine Pfeife mit Tabak angeboten, und als sie genug hatten und Abschied nehmen wollten, fanden sie sich vor die Frage gestellt, ob sie den Rest des Tabaks mitnehmen oder zurücklassen sollten. Sie hoben den Block auf, legten ihn wieder zurück, reichten ihn sich untereinander zu und stritten sich, bis die Frau ganz verstört und der Gatte ganz alt aussah. Schließlich nahmen sie ihn mit, und ich wette, sie hatten das Grundstück noch nicht verlassen, als sie sich schon klar waren, das Falsche getan zu haben. Ein anderes Mal hatten wir sie recht ausgiebig mit einer großen Tasse Kaffee bewirtet, und Nan Tok‘ trank die seinige unter Schwierigkeiten und mit Unlustgefühlen aus. Nei Takauti nippte daran, sie mochte nicht mehr, glaubte offenbar, es sei ein Formfehler, die Tasse halb voll niederzusetzen, und befahl dem angeheirateten Knecht, den Rest auszutrinken. »Ich habe schon soviel getrunken, ich kann nicht mehr, es ist mir physisch unmöglich«, schien er zu sagen, aber sein strenger Vorgesetzter wiederholte mit heimlichen herrischen Zeichen den Befehl. Der unglückliche Kerl! Wir kamen ihm aus lauter Menschlichkeit zu Hilfe und nahmen die Tasse fort.

Ich kann über diesen komischen Haushalt nur lachen, aber ich erinnere mich der guten Leute mit Liebe und Hochachtung. Ihre Anhänglichkeit an uns war überraschend. Die Kränze stehen in hoher Achtung, die Blüten müssen in großer Entfernung gesammelt werden, und obgleich sie viele Diener hatten, die sie zu Hilfe rufen konnten, sahen wir sie oft selbst umherwandern, um Blüten zu sammeln, und die Frau beschäftigt, sie eigenhändig zu binden. Es war auch keine Herzlosigkeit, die Nei Takauti gegen die Leiden von Nan Tok‘ unempfindlich machte, sondern jene Gleichgültigkeit, die Männern oft eigen ist. Als meine Frau krank war, bewies sie sich als eifrige und liebenswürdige Pflegerin, und das Paar setzte sich im Krankenzimmer fest, was der Leidenden äußerst lästig war. Diese rauhe, tüchtige, herrschsüchtige alte Dame mit den wilden Augen hatte liebenswürdige und zärtliche Eigenschaften: sie schien den Stolz auf ihren jungen Gatten zu verbergen aus Furcht, ihn zu verwöhnen, und wenn sie von ihrem toten Sohn sprach, legte sich etwas wie Trauer auf ihr Gesicht. Aber ich glaube bei den Gilbertinern eine Männlichkeit des Empfindens und Gefühls festgestellt zu haben, die sie wie ihre harte und rauhe Sprache von ihren Brüdern auf den östlichen Inseln unterscheidet.

Zweites Kapitel


Unsere neuen Freunde

Das Hindernis des Sprachunterschiedes wurde besonders von mir überschätzt. Die polynesischen Dialekte lernt man leicht radebrechen, wenn es auch schwer ist, sie elegant zu sprechen. Sie sind einander äußerst ähnlich, so daß jemand, der eine Ahnung von einem oder zweien hat, die andern ziemlich hoffnungsvoll in Angriff nehmen darf.

Außerdem stehen Dolmetscher reichlich zur Verfügung. Missionare, Händler und herabgekommene Weiße, die von der Gastfreundschaft der Eingeborenen leben, findet man fast auf jeder Insel und in jedem Dorf; wo sie nicht zur Verfügung stehen, haben die Eingeborenen selbst oft einige Brocken Englisch aufgeschnappt und in der französischen Zone – wenn auch viel seltener – etwas Englisch-Französisch, oder sie verstehen hinreichend Pidginenglisch, das man im Westen » Beach-la-Mar« nennt. Es wird übrigens jetzt in den Schulen Von Hawaii gelehrt, und wegen der großen Anzahl englischer Schiffe und der Nähe der Vereinigten Staaten auf der einen Seite und der englischen Kolonien auf der andern kann man es die Sprache des Pazifischen Ozeans nennen, die es ziemlich sicher einst sein wird. Ich will einige Beispiele anführen. Ich traf in Majuro einen Jungen von den Marschallinseln, der ein ausgezeichnetes Englisch sprach; er hatte es bei einer deutschen Firma in Jaluit gelernt, ohne ein deutsches Wort zu kennen. Ich hörte von einem Gendarmen, der in Rapa-iti unterrichtet hatte, daß die Kinder nur schwer und widerwillig französisch lernten, während sie das Englische spielend und wie von ungefähr aufnahmen. Mein Freund Benjamin Hird fand zu seinem Erstaunen auf einer der entlegensten Atollen in der Karolinengruppe Jungens Kricket spielen und englisch sprechen, und auf englisch unterhielt sich die Mannschaft der »Janet Nicoll«, eine Anzahl Farbiger von verschiedenen melanesischen Inseln, mit anderen Eingeborenen während der ganzen Fahrt, auf englisch wurden die Befehle erteilt und manchmal Witze erzählt auf dem Vorderdeck. Aber wohl am meisten überraschte mich ein Wort, das ich auf der Veranda des Gerichtsgebäudes von Noumea hörte. Man hatte gerade über den Kindesmord einer affenähnlichen Eingeborenen verhandelt, und die Zuhörer erwarteten Zigaretten rauchend das Urteil. Eine besorgte, liebenswürdige Französin ereiferte sich für einen Freispruch, sie war dem Weinen nahe und erklärte, sie wolle die Gefangene als Kindermädchen zu sich nehmen. Die Zuhörer schrien auf bei dieser Zumutung und sagten, das Weib sei eine Wilde, sie spreche keine fremde Sprache. »Aber es ist doch bekannt,« entgegnete die weichherzige Schöne, »daß sie rasch Englisch lernen!«

Jedoch sprechen können zum Volk ist nicht alles. Im Anfang meiner Beziehungen zu Eingeborenen kamen mir zwei Umstände zustatten. Zunächst war ich der Wundermann der »Casco«. Das Schiff, seine feinen Linien, die hohen Masten und schneeweißen Decks, die roten Vorhänge des Speiseraums, das Weiß und Gold und die vielen Spiegel der zierlichen Kajüte brachten uns hunderte Besucher. Die Männer berechneten die Abmessungen mit den Armen, wie ihre Väter die Schiffe Cooks ausgemessen hatten, die Frauen erklärten die Kajüten für schöner als Kirchen, stattliche junonische Gestalten wurden nicht müde, sich in den Sesseln niederzulassen und ihre strahlenden Gesichter im Spiegel zu betrachten, und ich sah eine Dame ihr Gewand hochheben und unter Rufen der Bewunderung und des Entzückens ihre nackten Schenkel an den Samtkissen reiben. Zwieback, Marmelade und Sirup waren Leckerbissen, und das Photographiealbum wanderte wie in europäischen Salons von Hand zu Hand. Diese nüchterne Gemäldegalerie, die alltäglichen Kleider und Gesichter hatten sich während der dreiwöchigen Fahrt in wunderbare, köstliche und fremdartige Dinge verwandelt; fremde Antlitze und barbarische Gewänder wurden nun in der überfüllten Kajüte mit aufrichtiger Erregung und Überraschung angestaunt und betastet. Die Königin von England wurde oft erkannt, und ich sah französische Untertanen ihr Bild küssen; Hauptmann Speedy – in abessinischer Kriegstracht, die für eine Uniform des englischen Heeres gehalten wurde – fand viel Beifall, und das Bildnis des Herrn Andrew Lang erregte Bewunderung auf den Marquesas. Das ist der Platz, wohin er gehen sollte, wenn er Middlesex und Homer satt hat.

Doch vielleicht war es noch wichtiger, daß ich in meiner Jugend unser schottisches Volk im Hochland und auf den Inseln ein wenig kennengelernt hatte. Nicht viel mehr als ein Jahrhundert ist vergangen, seit es ähnliche Umwälzungen und Übergänge erlebt hat wie heute die Marquesaner. In beiden Fällen das Aufdrängen einer fremden Herrschaft, die Entwaffnung der Stämme, die Absetzung der Häuptlinge, die Einführung neuer Sitten und besonders der Gewohnheit, Geld als Existenzmittel und begehrenswert anzusehen. Das Zeitalter des Handels folgte in beiden Fällen unvermittelt einer Periode äußerer Kriege und innerer patriarchalischer Gemeinwirtschaft, hier wurde die liebgewordene Sitte des Tätowierens, dort die Landestracht verboten. In beiden Fällen wurde man des delikatesten Genußmittels beraubt: das Rind, im Schatten der Nacht von den Weiden des Flachlandes gestohlen, wurde dem fleischliebenden Hochländer, und das »Langschwein«, aus den Hütten des Nachbardorfes entführt, dem menschenfressenden Kanaken verwehrt. Murren, heimlicher Aufruhr, Furcht und Mißtrauen, Alarme und plötzliche Versammlungen der marquesanischen Häuptlinge erinnerten mich fortwährend an die Tage von Lovat und Struan. Gastfreundschaft, Takt, natürliche feine Sitten und Empfindlichkeit sind beiden Rassen gleich eigen: gemeinsam ist beiden Sprachen die Eigenart, Zwischenkonsonanten fortzulassen. Ich zähle einige polynesische Wörter auf:

Haus Liebe
Tahiti: Fare Aroha
Neuseeland: Whare
Samoa: Fale Talofa
Manihiki: Fale Aloha
Hawaii: Hale Aloha
Marquesas: Ha’e Kaoha

Die Ausstoßung der Zwischenkonsonanten, so bemerkenswert im marquesanischen Dialekt, ist im Gälischen und im schottischen Unterland ebenso häufig. Noch wunderbarer ist es, daß der vorherrschende polynesische Laut, der Hiatus, als Apostroph geschrieben, oft oder immer der Grabstein eines untergegangenen Konsonanten, bis auf den heutigen Tag in Schottland zu hören ist. Spricht der Schotte die Wörter water, better oder bottlewa’er, be’er oder bo’le –, so entspricht der Laut genau dem Hiatus, und ich glaube, man könnte weitergehen und behaupten: Würde ein solches Volk isoliert und der Sprachfehler zur Regel, so wäre das der erste Schritt zum Übergang vom t zum k, der Krankheit aller polynesischen Sprachen.

Das Bestreben der Polynesier ist aber ein Ausrottungskrieg gegen Konsonanten, wenigstens gegen den sehr häufigen Buchstaben l. Ein Hiatus ist angenehmer für jedes polynesische Ohr, selbst das Gehör des Fremden gewöhnt sich an diese barbarischen Lücken, aber nur im Marquesanischen findet man Namen wie Haaii und Paaaena, in denen jeder Vokal gesondert gesprochen werden muß.

Diese Ähnlichkeiten zwischen einem Südseevolk und einem Teil meiner eigenen Stammesbrüder in der Heimat beschäftigten mich viel und machten mich nicht nur geneigt, meine neuen Bekannten mit Wohlwollen zu betrachten, sondern änderten allmählich auch mein Urteil. Ein wohlerzogener Engländer kommt heute zu den Marquesanern und findet die Leute zu seiner Verblüffung tätowiert; ein wohlerzogener Italiener kam vor nicht allzu langer Zeit nach England und fand unsere Vorfahren mit gelbem Pflanzensaft beschmiert, und als ich einen Gegenbesuch machte als kleiner Junge, war ich höchst erstaunt über die Rückschrittlichkeit der Italiener: so unsicher und so abhängig von Zeit und Umständen ist die Überlegenheit einer Rasse. Auf diese Weise lernte ich den Umgang mit den Eingeborenen und empfehle sie allen Reisenden. Wollte ich Einzelheiten wilder Gebräuche und abergläubischer Handlungen erforschen, so blickte ich zurück auf die Gesichter meiner Vorfahren und suchte nach irgendeinem Anhaltspunkte für verwandte Züge der Barbarei: Michael Scott, Lord Derwentwaters Kopf, das zweite Gesicht: alles das waren starke Stücke; die Geschichte vom schwarzen Stier zu Stirling ließ mich die Sage von Rahero begreifen, und meine Kenntnis von den Cluny-Macphersons und den Appin-Stewarts half mir, einzudringen in das Verständnis der Tevas von Tahiti. Der Eingeborene schämte sich nicht mehr, das Gefühl der Vertraulichkeit wurde stärker, und seine Lippen öffneten sich. Dies Gefühl der Vertraulichkeit muß der Reisende wecken und nähren, sonst täte er besser, vom Bett zum Sofa zu reisen. Und die Anwesenheit eines echten Londoner Spötters ist oft Ursache, daß eine ganze Reisegesellschaft in nebelhafter Dunkelheit wandelt.

Das Dorf Anaho steht auf einem Streifen flachen Landes zwischen dem Westufer der Bucht und dem Fuß der hohen Berge. Ein Palmenhain mit ewig rauschenden grünen Fächern überstreut es wie zum Triumph mit fallenden Zweigen und beschattet es gleich einer Laube. Ein Weg läuft von einem Ende des Hains zum andern zwischen Blumenbeeten, den Kleiderläden der Allgemeinheit, und hier und dort, in angenehmem Zwielicht und einer von Wohlgerüchen aller Art geschwängerten Luft, stehen willkürlich verstreut die Häuser der Eingeborenen, noch in Hörweite der Riffbrandung. Dasselbe Wort bezeichnet, wie wir gesehen haben, in vielen Dialekten Polynesiens mit geringen Abweichungen die menschliche Behausung. Aber obgleich das Wort gleich ist, weichen die Bauarten ständig voneinander ab, und der Marquesaner wohnt am behaglichsten, wenn er auch der rückständigste und barbarischste aller Insulaner ist. Die Grashütten von Hawaii, die Vogelkäfighäuser von Tahiti oder der offene Verschlag des gebildeten Samoaners, mit den sonderbaren venetianischen Blenden – sie alle halten den Vergleich nicht aus mit dem paepaehae, der Wohnplattform der Marquesaner. Das paepae ist eine längliche Terrasse, gebaut aus schwarzem, vulkanischem Gestein ohne Zement, zwanzig bis fünfzig Fuß lang, vier bis acht Fuß über der Erde; eine breite Treppe führt hinauf. An der Rückseite erhebt sich die Wand des vorn offenen Hauses, das einer gedeckten Galerie gleicht und etwa halb so breit ist wie die Plattform. Das Innere ist manchmal hübsch und fast elegant in seiner Kahlheit, der Schlafraum ist abgeteilt durch eine Trennungswand, irgendein buntes Tuch hängt vielleicht an einem Nagel, eine Lampe und eine Mähmaschine sind die einzigen Anzeichen der Zivilisation. Draußen brennt an einem Ende der Terrasse das Herdfeuer unter einem Verschlag, am andern Ende ist manchmal ein Schweinestall. Der restliche Platz gehört der Abendruhe und ist der luftige Speisesaal aller Bewohner. Für manche Häuser wird das Wasser herbeigeschafft von den Bergen, in Bambusrohren, die durchlöchert sind, um es süß zu erhalten. Die Erinnerung an die schottischen Berge im Herzen, dachte ich schaudernd an die feuchten Höhlen aus Torf und Stein, in denen ich geweilt und mich unterhalten hatte – auf den Hebriden und den nördlichen Inseln. Zweierlei, glaube ich, erklärt die Gegensätze: in Schottland ist Holz selten, und das rauhe Material von Torf und Stein schließt jede Hoffnung auf Zierlichkeit aus; und in Schottland ist es kalt. Obdach und Wärme sind so notwendige Lebensbedingungen, daß der Mensch nicht weiterblickt; er ist den ganzen Tag beschäftigt, sich den kärglichsten Unterhalt zu beschaffen, und wenn er abends sagen kann: »Aha, es ist warm!«, wünscht er sich nichts mehr. Aber wenn schon, dann etwas Höheres: feiner Sinn für Poesie und Gesang in diesen rauhen Behausungen und eine Melodie wie die des schottischen Volksliedes » Lochaber no more« ist ein überzeugenderer und unvergänglicherer Beweis der Kultur als ein Palast.

Zu einer solchen Wohnplattform nimmt eine beträchtliche Anzahl von Verwandten und Angehörigen Zuflucht. In der Stunde der Dämmerung, wenn das Feuer flackert, der Duft kochender Brotfrucht die Luft erfüllt und vielleicht die Lampe schon zwischen Pfeilern und Haus glimmt, sieht man Männer, Frauen und Kinder schweigend sich zum Mahle versammeln. Hunde und Schweine drängen sich auf der Treppe, mißgünstig mit den Schwänzen wedelnd. Die Fremden vom Schiff waren bald gleicherweise willkommen: willkommen, ihre Finger in das hölzerne Geschirr zu tauchen, Kokosnüsse auszutrinken, an der herumwandernden Pfeife zu saugen und der hohen Debatte über die Missetaten der Franzosen, den Panamakanal, die geographische Lage von San Franzisko und New Yo’ko zu lauschen oder sich daran zu beteiligen. In einem Hochlanddorf, ganz abseits von Touristenwegen, habe ich dieselbe einfache und würdevolle Gastfreundschaft angetroffen.

Ich habe zwei Dinge erwähnt – das geschmacklose Benehmen unserer ersten Besucher und den Fall der Dame, die sich an den Kissen rieb –, die einen ganz falschen Eindruck von Marquesanersitten geben könnten. Die große Mehrzahl der Polynesier hat ausgezeichnete Manieren, aber die Marquesaner machen eine Ausnahme, sie sind lästig und reizend, wild, scheu und taktvoll zugleich. Macht man ihnen ein Geschenk, so geben sie vor, es zu vergessen, und man muß es ihnen beim Abschied nochmals anbieten: eine entzückende Art, die ich sonst nirgendwo fand. Eine Andeutung genügt, all und jeden zu verabschieden; sie sind erstaunlich stolz und bescheiden, während viele der liebenswürdigeren, aber aufdringlicheren Insulaner sich in Massen an den Fremden herandrängen und schwer zu vertreiben sind wie Fliegen. Eine Entgleisung oder Beleidigung scheint der Marquesaner niemals zu vergessen. Eines Tages unterhielt ich mich am Wegrande mit meinem Freunde Hoka, als ich seine Augen plötzlich aufflammen und seinen Körper sich straffen sah. Ein berittener Weißer kam aus den Bergen, und als er vorüberzog und Grüße mit mir austauschte, starrte Hoka immer noch vor sich hin und zitterte wie ein Kampfhahn. Es war ein Korse, der ihn vor Jahren ein cochon sauvage – coçon chauvage, wie Hoka es aussprach – genannt hatte. Es war kaum zu erwarten, daß unsere Gesellschaft von Greenhorns so fein empfindliche Leute nicht unabsichtlich beleidigen würde. Hoka fiel bei einem seiner Besuche plötzlich in brütendes Stillschweigen und verließ gleich darauf das Schiff unter kalten Höflichkeitsbezeigungen. Als ich wieder in seiner Gunst stand, beschwerte er sich geschickt und bestimmt über die Natur meines Vergehens: ich hatte ihn gebeten, mir Kokosnüsse zu verkaufen, und nach Hokas Ansicht soll ein Gentleman Nahrungsmittel verschenken, nicht verkaufen, wenigstens nicht an seinen Freund. Bei anderer Gelegenheit gab ich meiner Bootsmannschaft Schokolade und Zwieback zum Frühstück. Ich hatte mich dabei gegen irgendeinen Punkt der Etikette versündigt, habe aber nie erfahren inwiefern; man dankte mir trocken, aber ließ meine Geschenke am Strande liegen. Jedoch der schlimmste Fehler war unser Benehmen gegen Toma, Hokas Adoptivvater, der sich für den rechtmäßigen Häuptling von Anaho hielt. Zunächst machten wir ihm keinen Besuch, wie es vielleicht unsere Pflicht war, in seinem feinen und neuen europäischen Hause, dem einzigen im Dorf, und dann, als wir an Land gingen, um seinen Widersacher Taipi-Kikino aufzusuchen, sahen wir Toma am Ende des Strandes stehen, eine herrliche Mannesgestalt, herrlich tätowiert, und gerade Toma fragten wir: »Wo ist der Häuptling?« – »Welcher Häuptling?« rief Toma, und wandte den Gotteslästerern den Rücken. Er hat uns nie verziehen. Hoka besuchte und begleitete uns täglich, aber von allen Bewohnern des Landes, glaube ich, waren Toma und sein Weib die einzigen, die nie den Fuß an Bord der »Casco« setzten. Was es hieß, dieser Versuchung zu widerstehen, ist für einen Europäer schwer zu verstehen. Die fliegende Stadt von Laputa für vierzehn Tage in den Londoner St.-James-Park versetzt, ist nur ein schwacher Vergleich mit der vor Anoha ankernden »Casco«, denn der Londoner hat Abwechslung in seinen Vergnügungen, aber der Marquesaner wandert zum Grabe durch eine ununterbrochene Reihe gleichförmiger Tage.

Am Nachmittag vor unserer Abreise kam eine Gruppe Eingeborener an Bord, um Abschied zu nehmen: neun unserer besonderen Freunde, mit Geschenken beladen und festlich gekleidet. Hoka, der beste Tänzer und Sänger, der größte Dandy von Anaho, einer der hübschesten jungen Männer der ganzen Welt – trotzig, eitel, schauspielerhaft, beweglich wie eine Feder und stark wie ein Stier –, war bei dieser Gelegenheit kaum wiederzuerkennen, er saß bedrückt und schweigsam da, das Gesicht ernst und grau. Es war sonderbar, den Jungen so bewegt zu sehen; noch sonderbarer, in seinem Geschenk etwas ganz Außergewöhnliches wiederzuerkennen, was wir am ersten Tage zu kaufen uns geweigert hatten, und dabei zu wissen, daß unser Freund, festlich gekleidet und offensichtlich tief gerührt über den Abschied, einer von denen war, die uns bei unserer Ankunft belagert und beleidigt hatten. Am sonderbarsten aber war es vielleicht, festzustellen, daß dieser geschnitzte Fächergriff die letzte der Kuriositäten des ersten Tages war, die uns inzwischen restlos von den Besitzern geschenkt worden waren: ihre Haupthandelsartikel, mit deren Hilfe sie uns auszuplündern suchten, solange wir uns fremd gegenüberstanden, und die sie uns aufzwangen ohne Gegenleistung, sobald wir Freunde geworden. Der letzte Besuch wurde nicht lange ausgedehnt. Einer nach dem andern reichte uns die Hand und kletterte in sein Kanu. Während Hoka dem Schiffe sofort den Rücken drehte, so daß wir sein Gesicht nicht wiedersahen, blieb Taipi stehen und blickte uns unter weichen Abschiedsgesten an. Als Kapitän Otis die Flagge senkte, grüßte die ganze Gruppe mit ihren Hüten. Das war der Abschied, die Episode unseres Besuches in Anaho wurde als abgeschlossen betrachtet, und obgleich die »Casco« noch ungefähr vierzig Stunden vor Anker blieb, kehrte keiner an Bord zurück, und ich bin geneigt zu glauben, daß sie jedes Erscheinen am Strande vermieden. Diese Zurückhaltung und Würde ist der feinste Charakterzug der Marquesaner.

Erstes Kapitel


Der König von Apemama, ein königlicher Händler

Es gibt eine große Persönlichkeit auf den Gilbertinseln: Tembinok‘ von Apemama, einzigartig hervorragend, der Held aller Lieder, der Gegenstand des Geredes, überall auf allen anderen Inseln der Gruppe sind die Könige erschlagen oder in Abhängigkeit geraten: Tembinok‘ allein ist übriggeblieben, der letzte Tyrann, das letzte aufrechte Wahrzeichen einer toten Gesellschaft. Der weiße Mann ist überall sonst zu finden, er baut seine Häuser, trinkt seinen Gin und schlägt sich herum mit den schwachen Eingeborenenregierungen. Auf Apemama gibt es nur einen Weißen, und er wird nur geduldet, lebt fern vom Hof und ist vorsichtig bedacht auf alle seine Schritte wie eine Maus im Katzenohr. Über alle anderen Inseln ergießt sich ein Strom von eingeborenen Besuchern, die mit ihren Familien reisen und ganze Jahre auf der Fahrt sind. Nur Apemama lassen sie links liegen, denn der Wandersmann fürchtet sich, dem Zugriff von Tembinok‘ zu nahe zu kommen. Und die Furcht vor demselben Schreckgespenst verfolgt und quält sie auch daheim. Maiana zahlte ihm einst Tribut, er überfiel und beherrschte Nonuti: die ersten Schritte zur Errichtung eines Kaiserreiches im Archipel. Ein britisches Kriegsschiff eilte herbei und zwang den Eroberer, seine Beute herauszugeben, sein Siegeszug wurde ihm gleich zu Anfang verlegt, die teuer bezahlte Heeresrüstung versank in der Lagune seiner eigenen Insel. Aber er hatte Eindruck gemacht, die Furcht vor ihm erschreckte alle Inseln von Zeit zu Zeit, man raunte, daß er seine Kanus herrichte für einen neuen Überfall, man nennt sogar das Ziel, und Tembinok‘ ist der Held patriotischer Kriegslieder der Gilbertinseln wie Napoleon zu Zeiten unserer Großeltern.

Wir waren auf See, um von Mariki nach Nonuti und Tapituea zu fahren, als der Wind sich plötzlich drehte und auf Apemama zu stand. Der Kurs wurde sofort geändert, die ganze Mannschaft mußte das Schiff waschen, die Decks scheuern, die ganze Kabine und das Warenlager herrichten. Auf unserer ganzen Fahrt war die »Equator« nie so sauber wie jetzt für den Empfang von Tembinok‘. Auch handelte es sich nicht um eine Speziallaune von Kapitän Reid, denn ich stellte fest, daß ein anderer Schoner, der zufällig während meines Aufenthaltes in Apemama anlief, ebenfalls für diese Gelegenheit aufgeputzt war. Und diese beiden Fälle sind einzigartig in der Erfahrung, die ich mit Südseefrachtschiffen machte.

An Bord hatten wir eine Familie von eingeborenen Touristen, vom Großvater bis zum Säugling, die in langer Pechsträhne bisher vergeblich versucht hatten, ihre Heimatinsel Peru in der Gilbertgruppe wieder zu erreichen. Fünfmal hatten sie bereits das Fahrgeld bezahlt und waren an Bord gegangen, fünfmal waren sie enttäuscht und ohne Pfennig auf fremden Inseln ausgesetzt oder nach Butaritari, woher sie kamen, zurückgebracht worden. Dieser letzte Versuch stand unter keinem guten Stern, ihre Vorräte waren erschöpft, Peru zu erreichen war keine Hoffnung mehr, und sie hatten sich heiter damit abgefunden, eine neue Zeit der Verbannung auf Tapituea oder Nonuti zu verleben. Als sich der Wind drehte, änderte sich ihr Zufallsziel von neuem, und sie wechselten ihre Farbe und schlugen sich gegen die Brust, wie jener Lotse des »Calendar«, als die schwarzen Berge in Sicht kamen. Ihr Lager, das sie mittschiffs an Deck aufgeschlagen hatten, hallte wider von Klagen: man würde sie zur Arbeit zwingen, sie würden zu Sklaven gemacht werden, Entrinnen sei unmöglich, sie würden auf Apemama unter der Macht des Tyrannen leben, arbeiten und sterben müssen. Mit diesem Gerede setzten sie ihre Kinder in so große Furcht, daß ein großer, strammer Junge schließlich unter Geschrei vom Schoner gezerrt werden mußte. Ihre Befürchtungen waren gänzlich grundlos. Ich bezweifle nicht, daß ihnen nicht gestattet wurde, müßig zu sein, aber ich kann mich dafür verbürgen, daß sie freundlich und anständig behandelt wurden, denn ungefähr ein Jahr später fuhr ich wieder einmal als Passagier mit diesen ewigen Wandersleuten an Bord der »Janet Nicoll«. Die Überfahrt war von Tembinok‘ bezahlt worden; sie, die die »Equator« arm verlassen hatten, erschienen auf der »Janet Nicoll« in neuen Kleidern, beladen mit Matten und Geschenken und reichlich mit Nahrungsmitteln versehen, von denen sie wie Kampfhähne während der ganzen Reise zehrten; ich sah sie schließlich in ihre Heimat zurückkehren, und ich muß sagen, sie bedauerten mehr, Apemama verlassen zu müssen, als sie sich freuten, ihre Heimat wiederzufinden.

Wir fuhren hinein durch den Nordkanal am Sonntag, dem 1. September, zwischen Untiefen kreuzend. Es war ein Tag brennender Äquatorsonne, aber die Brise war stark und kühl, und der Steuermann, der den Schoner von der Querrahe aus lotste, kehrte fröstelnd an Deck zurück. Die Lagune hatte dichte, buntfarbige, kurze Wellen, das Donnern des Ozeans dröhnte von draußen ständig zum Ankerplatz herüber, und die langen schwanken Sicheln der Palmen rauschten und glänzten im Wind. Gegenüber unserem Ankerplatz erhob sich am Strande eine weiße längliche Korallenterrasse, sieben oder acht Fuß hoch, gekrönt von den zerstreut liegenden und verschiedenartigen Gebäuden des Palastes. Das Dorf schließt sich im Süden an, eine Gruppe Maniap’s mit hohen Dächern. Dorf und Palast schienen ausgestorben.

Aber wir hatten kaum angelegt, als in der Ferne hin und her laufende Gestalten erschienen, ein Boot ins Wasser gelassen wurde und ein paar Leute zu uns herausruderten, um die Leiter des Königs zu bringen. Tembinok‘ hatte einmal einen Unfall erlebt und sich seither immer gescheut, seine Person dem elenden Gerät der Südseehändler anzuvertrauen. Infolgedessen hatte er ein Holzgestell anfertigen lassen, das nach Ankunft eines Schiffes sofort an Bord gebracht wird und bis zur Abfahrt dort an der Flanke befestigt bleibt. Die Bootsmannschaft kehrte, nachdem sie das Gestell angebracht hatte, sofort wieder an Land zurück. Sie durfte nicht an Bord gehen, noch war es uns erlaubt, das Land zu betreten, ohne den König zu beleidigen, der persönlich seine Genehmigung erteilt. Es folgte nun eine Pause, während der auf den hohen Herrn mit dem Mittagessen gewartet wurde. Das Vorspiel mit der Leiter, das uns eine Ahnung von seiner gewaltigen Körperlichkeit und seinem klugen, erfinderischen Verstand gab, hatte unsere Neugier aufs höchste gereizt, und mit einer gewissen Erregung sahen wir plötzlich Strand und Terrasse sich mit Höflingen füllen, den König und seine Leute einsteigen und das Boot (eine Kriegsschiffsjolle) direkt vor dem Winde auf uns zufliegen. Der königliche Bootsführer landete geschickt längsseits, stieg die Leiter mit argwöhnischem Mißtrauen empor und betrat schwerfällig das Deck.

Vor nicht langer Zeit war er mit einer Fettschicht überwachsen, ließ sich selten in der Öffentlichkeit sehen und war sich selbst zur Last. Kapitäne, die die Inseln besuchten, rieten ihm, spazierenzugehen, und obgleich dadurch die Gewohnheiten eines ganzen Lebens und die Tradition seiner Stellung umgestoßen wurden, wandte er das Heilmittel mit Erfolg an. Seine Korpulenz ist jetzt tragbar, man konnte ihn eher kräftig als fett nennen, aber sein Gang ist noch immer schwerfällig, schwankend und wie der eines Elefanten. Er zögert oder hastet nicht, sondern geht seinen Geschäften mit unerschütterlicher Bedachtsamkeit nach. Wenn wir ihn sahen, machten seine außergewöhnliche, natürliche Begabung für die Bühne immer großen Eindruck auf uns: ein vorspringendes Profil wie das auf Dantes Totenmaske, ein Mähne von langem, schwarzem Haar, das Auge glänzend, herrisch und fragend: für gewisse Rollen und für jemand, der es zu verwenden wußte, war dieses Gesicht ein Vermögen. Seine Stimme paßte gut dazu, sie war schrill, gewaltig und unschön, mit einem Klang wie dem einer Seevogelstimme. Da es keine Modevorschriften gibt, niemand, der sie aufstellt, und wenige, die sie befolgen würden, wenn sie vorhanden wären, und jedenfalls keinen Kritiker, so kleidet er sich – wie Sir Charles Grandison lebte – »nach seinem eigenen Herzen«. Bald trägt er ein Frauenkleid, bald eine Marineuniform, und dann wiederum, und zwar öfter, erscheint er in einem Maskeradekostüm, das er selbst entworfen hat: Hosen und eine sonderbare Jacke mit kurzen Schößen, Schnitt und Sitz vorzüglich für Inselschneiderkunst geeignet, die Stoffe immer kleidsam, manchmal grüner Samt und dann wieder kardinalrote Seide. Dieses Maskeradekostüm steht ihm ausgezeichnet, ich sehe ihn vor mir, wie er in der grellen Sonne auf mich zuschreitet, einzigartig, eine Figur aus Hoffmanns Erzählungen.

Ein Besuch auf einem Schiff wie der, an dem wir jetzt teilnahmen, bildet den Hauptinhalt und bei weitem die hauptsächlichste Zerstreuung im Leben von Tembinok‘. Er ist nicht nur der alleinige Herrscher, sondern auch der alleinige Kaufmann in seinem dreifachen Königreich von Apemama, Aranuka und Kuria, gut bepflanzten Inseln. Der Taro geht an die Häuptlinge, die ihn nach ihrem Wohlgefallen unter ihren nächsten Anhängern verteilen, aber bestimmte Fische, die Schildkröten, die auf Kuria reichlich vorhanden sind, und das Gesamtprodukt der Kokospalmen gehören ausschließlich Tembinok‘. »Alle Kopra mir gehören«, bemerkte Se. Majestät mit einer großen Geste seiner Hand, und er zahlt und verkauft die Ware nach Häusern. »Habt Ihr Kopra, König?« hörte ich einen Händler fragen. »Ich haben zwei, drei Haus,« antwortete Se. Majestät, »ich glauben drei!« Darauf beruht die Bedeutung Apemamas, wo der Gesamthandel dreier Inseln in einer einzigen Hand vereint liegt, und aus diesem Grunde haben so viele Weiße vergebens versucht, dort Fuß zu fassen und ansässig zu werden. Eben darum schmückt man Schiffe aus und gibt den Köchen besondere Befehle, während die Kapitäne sich lächelnd in Reih‘ und Glied aufstellen, um den König zu begrüßen. Wenn er mit dem Willkommen und der Speisekarte zufrieden ist, verbringt er manchmal ganze Tage an Bord, und jeder Tag, manchmal auch jede Stunde, gereicht dem Schiff zum Vorteil. Er pendelt hin und her zwischen der Kabine, wo man ihm sonderbare Gerichte vorsetzt, und dem Warenlager, wo er die Freuden des Einkaufs in großem Stil genießt, wie es seiner Person entspricht; einige unterwürfige Diener lauern vor der Tür und erwarten seine leisesten Befehle. Im Boot, das man achteraus angelegt hat, liegen eine oder zwei seiner Frauen unter dem Schutz von Matten in der Sonne, das Fahrzeug schaukelt auf den kurzen Wellen der Lagune, und die Frauen erleiden Todesängste in der Hitze und Langeweile. Diese Strenge wird manchmal gemildert, und er erlaubt den Frauen, an Bord zu kommen. Drei oder vier erlangten diese Gunst am Tage unserer Ankunft: wohlbeleibte Damen, luftig bekleidet mit dem Ridi. Jede hatte ihren Anteil Kopra bei sich, ihr persönliches Eigentum, mit dem sie nach Belieben verfahren kann. Die Ausstellung im Warenlager – Hüte, Bänder, Kleider, Parfüms, Büchsen mit Lachs – Augenweide und Fleischeslust – berührten sie nicht im geringsten. Sie hatten nur einen Wunsch: Tabak, die Inselwährung, gleichbedeutend mit gemünztem Gold; sie kehrten mit ihm beladen frohlockend an Land zurück, und spät in der Nacht sahen wir sie auf der Königsterrasse sitzen und die Tabakstangen beim Lampenlicht unter freiem Himmel zählen.

Der König ist nicht so sparsam. Er ist begierig auf neue und fremdartige Dinge, Haus an Haus, Kiste über Kiste im Palastbezirk ist bereits vollgepackt mit Uhren, Spieldosen, blauen Brillen, Schirmen, Strickwesten, Stoffballen, Werkzeugen, Gewehren, Vogelflinten, Arzneimitteln, europäischen Nahrungsmitteln, Nähmaschinen und, was noch merkwürdiger ist, Öfen: alles, was jemals unter seine Augen kam, reizte seinen Appetit, gefiel ihm wegen seiner Brauchbarkeit oder setzte ihn wegen seiner offenbaren Unbrauchbarkeit in Erstaunen. Und noch immer ist diese Habgier unbefriedigt, er ist besessen von den sieben Teufeln des Sammlers. Hört er von irgendeiner Sache sprechen, so legt sich ein Schatten über sein Gesicht: »Ich glauben, ich es nicht haben«, pflegt er zu sagen, und alle Schätze die er besitzt, scheinen ihm wertlos im Vergleich dazu. Läuft ein Schiff Apemama an, so zergrübelt der Kaufmann sein Gehirn, um irgendeine Neuigkeit auszudenken. Er läßt sie scheinbar nachlässig in seiner Hauptkabine stehen oder versteckt sie halbwegs in seiner eigenen Koje, so daß der König sie selbst ausspionieren kann. »Wieviel du wollen?« fragt Tembinok‘, indem er vorübergeht und darauf zeigt. »Nein, König, das zu teuer«, antwortet der Händler. »Ich denke, ich es lieben«, sagt der König. Einmal war es ein Goldfischglas, bei einer anderen Gelegenheit war es parfümierte Seife. »Nein, König, das kosten zuviel,« sagte der Händler, »zu gut für einen Kanaka«. »Wieviel du haben? Ich nehmen ihn alle«, antwortete Seine Majestät und bekam siebzehn, jedes Stück Seife für zwei Dollar. Oder aber der Händler behauptet, der Gegenstand sei nicht zu verkaufen, er sei Privateigentum, ein Erbstück oder ein Geschenk, und dieser Trick hat immer Erfolg. Durchkreuzt man die Absichten des Königs, so hat man ihn fest in der Hand. Seine autokratische Natur bäumt sich gegen den Widerstand auf, er faßt ihn als Herausforderung auf, beißt die Zähne zusammen wie ein Jagdpferd vor einer Hürde, und ohne jedes Erregungszeichen, scheinbar ohne Interesse, bezahlt er törichterweise jeden Preis. So ergriff ihn, wohl damit wir für unsere Sünden bestraft würden, reges Interesse für das Toilettetäschchen meiner Frau, ein Ding ohne jeden Wert für den Mann und durch jahrelangen Gebrauch stark abgenutzt. An einem Vormittag kam er in der Frühe zu unserem Haus, setzte sich und erbot sich plötzlich, es zu kaufen. Ich sagte ihm, daß ich nichts verkaufe, und daß die Tasche außerdem das Geschenk eines Freundes sei, aber er war solche Vorwände von jeher gewohnt und wußte, was sie wert waren, und wie man ihnen begegnete. Er wandte also das an, was man, glaube ich, Anschauungsunterricht nennt, zog einen Beutel mit englischem Gold, Zwanzig- und Zehnmarkstücken, heraus und begann sie einzeln schweigend auf den Tisch zu legen, bei jedem neuen Stück unsere Gesichter mit einem Blick streifend. Vergebens sagte ich ihm immer wieder, daß ich kein Händler sei, er würdigte mich keiner Antwort. Schon lagen wohl zwanzig Pfunde auf dem Tisch, er ließ sich nicht stören, und unsere Verwirrung begann bereits in Zorn umzuschlagen, als ein glücklicher Gedanke uns zu Hilfe kam. Da Seine Majestät soviel von dem Täschchen hielte, sagten wir, möchten wir sie bitten, es als Geschenk anzunehmen. Das war die überraschendste Wendung in Tebinok’s Erinnerung, er begriff zu spät, daß seine Beharrlichkeit unhöflich sei, ließ den Kopf eine Weile schweigend hängen, hob ihn dann wieder, und nun sagte der Tyrann höchst einfältig dreinblickend: »Ich mich schämen.« Es war das erste und letztemal, daß er in unserer Gegenwart einen Fehler im Benehmen zugestand. Eine halbe Stunde später sandte er uns eine Kampferkiste, die nur einige Dollar wert war, aber der Himmel mag wissen, was Tembinok‘ dafür bezahlt hatte.

Da er von Natur schlau und durch vierzig Regierungsjahre gewitzigt ist, darf man nicht von ihm annehmen, daß er sich blindlings betrügen läßt oder sich widerstandslos zur Milchkuh der reisenden Händler herabgewürdigt hat. Er hat sogar heldenhafte Anstrengungen gemacht, er war Eigentümer von Schonern wie Nakaeia von Makin, und, glücklicher als Nakaeia, hat er sogar Kapitäne gefunden. Seine Schiffe fuhren bis zu den englischen Kolonien, er hat mit seiner eigenen Flotte direkt einen Neuseelandhandel betrieben. Aber selbst so und in diesen Gegenden behinderte ihn die über die ganze Welt verbreitete Unehrlichkeit des weißen Mannes, seine Gewinne schmolzen dahin, seine Schiffe kehrten verschuldet zurück, das Geld für die Versicherung wurde unterschlagen, und als die »Coronet« unterging, fand er zu seinem Erstaunen, daß er alles verloren hatte. Da senkte er die Waffen, war überzeugt, er könne ebenso aussichtsreich mit den Winden des Himmels kämpfen, und bot hinfort sein Fell wie ein erfahrenes Schaf den Scherern dar. Er ist der letzte in der Welt, der das Unabänderliche beklagt, er nimmt es mit zynischer Ruhe hin, verlangt von allen, mit denen er zu tun hat, nichts als eine gewisse anständige Selbstbeherrschung, handelt so gut er kann, und wenn er glaubt, daß er außergewöhnlich stark beschwindelt ist, schreibt er sich den Namen des Händlers ins Gedächtnis. Er ging einst eine Liste von Kapitänen und Superkargos mit mir durch, mit denen er Geschäfte gemacht hatte, und die er nach drei Stichworten gruppiert hatte: »Er betrügen ein wenig« – »Er betrügen viel« – und »Ich glauben, er betrügen zu viel«. Für die ersten beiden Klassen drückte er völlige Verzeihung aus und manchmal sogar, wenn auch nicht immer, für die dritte. Ich war anwesend, als ein gewisser Kaufmann mit seinen Waren abgewiesen wurde, und da ich seit der Geschichte mit dem Täschchen bedeutenden Einfluß hatte, konnte ich den Streit schlichten. Selbst am Tage unserer Ankunft hätte sich leicht ein Zwist mit Kapitän Reid ergeben können, dessen Ursache vielleicht wert ist, erzählt zu werden. Unter den Waren, die speziell für Tembinok‘ exportiert werden, befindet sich ein Getränk, das unter dem Namen Henessybrandy bekannt ist und so bezeichnet wird. Es ist weder Henessy noch Brandy, es hat ungefähr die Farbe von Sherry, ist aber kein Sherry, es schmeckt nach Kirsch und ist auch kein Kirsch. Jedenfalls hat der König sich an dieses staunenswerte Getränk gewöhnt und ist sogar auf seinen Geschmack stolz. Jeder Ersatz ist eine doppelte Beleidigung, denn er glaubt einerseits man wolle ihn betrügen und anderseits seinen guten Geschmack bezweifeln. Eine ähnliche Empfindlichkeit kann man bei allen »Kennern« beobachten. Nun befand sich in der letzten Kiste, die vom Kapitän der »Equator« verkauft wurde, ein anderes und nach meiner Meinung besseres Getränk, und die Unterhaltung wurde sehr finster für Kapitän Reid. Aber Tembinok‘ ist ein bescheidener Mann, man erinnerte ihn daran, daß alle Menschen irren können, auch er selbst gab es zu, erkannte an, daß ein freiwillig zugegebener Fehler verziehen werden müsse, und schloß die Debatte mit dem Vorschlag: »Wenn ich machen Fehler, ihr mir sagen; wenn ihr machen Fehler, ich euch sagen. Viel besser!«

Nachdem das Mittag- und Abendessen in der Kabine mit einem oder zwei Glas »Henetti« – das echte Getränk diesmal mit der Kirschblume – genossen war und Seine Majestät fünf Stunden am Warenraumschalter herumgelungert hatte, fuhr sie nach Haus. Nach dreimaligem Kreuzen geriet das Boot vor dem Palast auf Grund, die Frauen wurden auf dem Rücken der Vasallen an Land getragen, Tembinok‘ schritt über eine Plattform mit Geländer ähnlich der Laufplanke eines Dampfers und wurde schulterhoch durch das seichte Wasser getragen, den Strand hinauf und über eine abschüssige mit Kieseln bepflasterte Ebene hinauf zur funkelnden Terrasse, wo er wohnt.

Zweites Kapitel


Der König von Apemama: Die Gründung von Equatorstadt

Unsere erste Begegnung mit Tembinok‘ war für unsere ganze Reisegesellschaft eine Angelegenheit von Bedeutung, ja beinahe von großer Aufregung. Wir waren gekommen, um eine Gunst zu erlangen, wir mußten uns in angemessen höflicher Art nähern wie Bittsteller: entweder gefielen wir ihm, oder wir verfehlten den Hauptzweck unserer Reise. Es war unser Wunsch, auf Apemama zu landen und zu leben und den sonderbaren Charakter des Mannes und die sonderbaren oder vielmehr altertümlichen Zustände seiner Insel aus der Nähe zu sehen. Auf allen andern Inseln der Südsee kann ein weißer Mann mit seiner Kiste landen, ein Haus auf Lebzeiten errichten, wenn es ihm paßt, wenn er das Geld hat oder Handelsbeziehungen anknüpfen will; eine Behinderung ist unvorstellbar. Aber Apemama ist eine verschlossene Insel, sie liegt im Ozean mit verschlossenen Toren, der König steht wie ein Wachtoffizier an der Pforte, bereit, zudringliche Besuche zu mustern und zurückzuweisen. Daher der Reiz unseres Unterfangens: nicht nur war es ziemlich schwierig, sondern die soziale Abgeschlossenheit, die schon an sich merkwürdig ist, ließ viele andere Sonderbarkeiten bestehen bleiben.

Tembinok‘ ist wie die meisten Tyrannen konservativ, begrüßt wie viele Konservative lebhaft neue Ideen und neigt zu praktischen Reformen außer auf dem Gebiet der Politik. Als die Missionare erschienen und vorgaben, im Besitz der Wahrheit zu sein, nahm er sie willig auf, wohnte ihrem Gottesdienst bei, lernte selbst öffentlich vorbeten und setzte sich zu ihren Füßen als Wißbegieriger. Auf diese Weise hat er, indem er ähnliche vorübergehende Gelegenheiten benutzte, Lesen, Schreiben, Rechnen und sein sonderbares persönliches Englisch gelernt, das vom gewöhnlichen » Beach – la – Mar« so verschieden ist, viel dunkler, ausdrucksvoller und knapper. Als seine Erziehung fortschritt, fand er es an der Zeit, die neuen Einwohner kritisch zu betrachten. Wie Nakaeia von Makin ist er ein Anhänger des Stillschweigens auf der Insel, er behorcht das Land wie ein großes Ohr, Spione erstatten ihm täglich Bericht, und er hat es lieber, wenn seine Untertanen singen, als wenn sie sprechen. Der Gottesdienst und insbesondere die Predigt mußten also bald zu Verstößen werden. »Hier auf meine Insel ich sprechen«, sagte er einmal zu mir. »Meine Häuptlinge nicht sprechen – tun, was ich sagen.« Er blickte auf den Missionar, und was sah er? »Sehen Kanaka sprechen in großes Haus!« rief er mit starkem Sarkasmus. Aber er ertrug das verdächtige Schauspiel und würde es auch auf die Dauer ertragen haben, wenn sich nicht ein neuer Streitpunkt ergeben hätte. Er schaute wieder hin, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, und der Kanaka sprach nun nicht mehr, sondern tat etwas weit Schlimmeres: er baute ein Koprahaus. Der König war in seinem Hauptinteresse berührt, seine Einnahmen und Vorrechte waren bedroht. Außerdem glaubte er, und viele sind mit ihm derselben Meinung, daß Handel und Missionsarbeiten nicht zu vereinigen sind. »Glauben, Missionar guter Mann sein wollen: sehr gut. Glauben, er an Kopra denken: nicht gut. Ich senden ihn fort Schiff.« Das war die kurze Geschichte des Evangelisten auf Apemama.

Ähnliche Deportationen sind häufig. »Ich senden ihn fort Schiff« ist die Grabrede für nicht wenige: Se. Majestät bezahlt die Überfahrt des Verbannten zum nächsten Anlegeplatz. Da er europäische Speisen leidenschaftlich liebt, hatte er verschiedene Male für seinen Haushalt weiße Köche angestellt, aber sie wurden alle nacheinander deportiert. Sie schwören ihrerseits, daß sie ihren Lohn nicht erhalten hätten, er andererseits, daß sie ihn über Gebühr beraubt und beschwindelt hätten; vielleicht ist beides richtig. Ein wichtigerer Fall war der eines Agenten, der von einer Kaufmannsfirma, wie man mir erzählte, hergeschickt worden war, um sich die Gunst des Königs zu erschleichen, wenn möglich Ministerpräsident zu werden und den Koprahandel zugunsten seiner Brotherren zu leiten. Er erhielt die Erlaubnis zu landen, ließ seine Reize spielen, Tembinok‘ hörte ihm andächtig zu, er glaubte schon auf dem besten Wege zum Erfolg zu sein, und doch! – als das nächste Schiff Apemama anlief, wurde der zukünftige Ministerpräsident in ein Boot gesteckt, seine Passage wurde an Bord bezahlt und dann: lebe wohl für immer. Aber warum weitere Beispiele anführen, jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Als wir nach Apemama kamen, war von allen Weißen, die sich einen Platz in diesem reichen Handelsgebiet sichern wollten, nur ein einziger übriggeblieben, ein schweigsamer, nüchterner, einsamer und geiziger Mensch, der zurückgezogen lebte, und von dem der König sagte: »Ich glauben, er gut, er nicht sprechen.«

Man warnte mich gleich zu Anfang, daß wir vielleicht unser Ziel nicht erreichen würden, ich ließ mir aber nie träumen, daß es so kommen würde, wie es kam, daß wir nämlich vierundzwanzig Stunden in Ungewißheit schweben sollten und tatsächlich beinahe endgültig zurückgewiesen worden wären. Kapitän Reid hatte sich gut vorbereitet, kaum war der König an Bord und die Henetti-Angelegenheit erledigt, als er meine Bitte vortrug und eine Darstellung meiner Wünsche und Vorzüge gab. Der Unsinn vom Sohn der Königin Viktoria war gut genug für Butaritari, hier verfing er nicht, und ich fungierte nun als »einer der Altmänner von England«, als Persönlichkeit von großen Kenntnissen, die gekommen sei, um in erster Linie Tembinok’s Reich zu besuchen, und willens sei, der ebenso wißbegierigen Königin Viktoria Bericht darüber zu erstatten. Der König gab nicht die geringste Antwort und leitete bald auf ein anderes Thema über. Man hätte glauben können, er habe es nicht gehört oder nicht verstanden, aber wir sahen uns bald einer ständigen Prüfung unterworfen. Während der Mahlzeiten nahm er uns einzeln vor und richtete auf jeden von uns ungefähr eine Minute lang denselben harten und gedankenvoll starrenden Blick. Während er uns so ansah, schien er sich selbst, den Gesprächsgegenstand und die Gesellschaft zu vergessen und ganz in Nachdenken versunken zu sein, sein Blick war völlig unpersönlich, ich habe ihn sonst wohl in den Augen von Porträtmalern gesehen. Die Gründe, derentwegen Weiße deportiert wurden, sind, hauptsächlich vier: Betrug an Tembinok‘, zuviel Beschäftigung mit dem Koprahandel, der die Quelle seiner Reichtümer und eine der Hauptstützen seiner Macht ist, »Sprechen« und politische Intrigen. Ich fühlte mich schuldlos in allen diesen Punkten, aber wie sollte ich es zeigen? Kopra hätte ich nicht einmal als Geschenk genommen, aber wie sollte ich diese Eigenschaft bei der Tafel deutlich machen? Die anderen Teilnehmer der Fahrt waren ebenso unschuldig und ebenso verlegen, sie teilten auch meinen Ärger, als Tembinok‘ nach zwei vollen Mahlzeiten und der freien Zeit eines Nachmittags, die er seiner Prüfung gewidmet hatte, schweigend Abschied nahm. Am nächsten Morgen wiederholte sich dasselbe undurchdringliche Studieren, dasselbe Schweigen, und der zweite Tag ging schon zur Neige, als mir endlich in knappster Form mitgeteilt wurde, daß ich die Prüfung bestanden habe. »Ich sehen Euer Auge: Ihr guter Mann. Ihr nicht lügen«, sagte der König: ein zweifelhaftes Kompliment für einen Romanschreiber. Später erklärte er mir, daß er nicht allein nach dem Auge, sondern auch nach dem Munde urteile. »Wenn ich sehen Mann,« erklärte er, »ich nicht wissen guter Mann, schlechter Mann. Ich sehen Auge, sehen Mund. Dann ich wissen. Sehen Auge, sehen Mund«, wiederholte er. Und tatsächlich hatte in unserem Fall der Mund das meiste damit zu tun, und durch unsere Gespräche erhielten wir die Erlaubnis, die Insel zu betreten, denn der König versprach sich selbst eine Fülle von nützlichen Erkenntnissen von unserem Besuch, und ich glaube, seine Annahme war nicht falsch.

Die Bedingungen, unter denen wir zugelassen wurden, waren die folgenden: Wir sollten einen Platz aussuchen, auf dem der König uns eine Stadt bauen wollte. Seine Untertanen sollten für uns arbeiten, aber nur der König durfte ihnen Befehle geben. Einer seiner Köche sollte täglich kommen, um den meinen zu helfen und von ihm zu lernen. Sollten unsere Vorräte zu Ende gehen, so wollte er uns versorgen, um bei der Rückkehr der »Equator« alles wiederzuerhalten. Andererseits durfte er die Mahlzeiten mit uns einnehmen, wenn es ihm paßte. Blieb er zu Haus, so mußten wir ihm die Gerichte unserer Tafel schicken. Ich mußte mich feierlich verpachten, seinen Untertanen keinen Alkohol oder Geld zu geben, was sie beides nicht besitzen dürfen, und keinen Tabak, den sie nur aus seiner königlichen Hand empfangen. Soviel ich mich erinnere, habe ich mich gegen die Härte dieser letzten Vorschrift gewehrt, jedenfalls wurde sie gemildert, und wenn ein Mann für mich arbeitete, durfte ich ihm eine Pfeife Tabak im Hause geben, aber er durfte nichts mitnehmen.

Das Land für die »Equatorstadt« – wir nannten die Stadt nach dem Schoner – war bald gewählt. Der Küstenstrich unmittelbar an der Lagune war windig und blendete; Tembinok‘ selbst ist froh, wenn er in blauen Brillen auf seiner Terrasse herumtappen kann, und wir mieden die Begleiterscheinungen der Bindehautentzündung, nämlich eiternde Augäpfel und Bettler, die alle Reisenden verfolgen und um Augenwasser angehen. Hinter der Stadt gewährt das Land einen verschiedenartigen Anblick, bald ist es offen, sandig, uneben und mit Zwergpalmen bestanden, bald von Tarofurchen durchzogen, tief oder flach, und hat je nach dem Wachstum der Pflanzen das Aussehen einer sandigen Gerberei oder eines von Alleen durchzogenen grünen Gartens. Ein Paßpfad führt zur See und steigt unvermittelt zur Hochfläche der Insel an – zwanzig oder sogar dreißig Fuß, obgleich Findlay nur fünf angibt. Ganz in der Nähe des höchsten Punktes, wo die Kokospalmen anfangen sich gut zu entwickeln, fanden wir einen Pandanushain und ein Geländestück, das mit grünem Unterholz angenehm bewachsen war. Eine Quelle war nicht weit entfernt unter einem ländlichen Schuppen, und noch näherbei fand sich in einer sandigen Vertiefung ein Teich, wo wir unsere Kleider waschen konnten. Der Platz war vor Wind und Sonne geschützt und vom Dorf aus nicht zu sehen. Wir zeigten ihn dem König, und die Stadt wurde für den morgigen Tag versprochen.

Der Morgen kam, Mr. Osbourne landete, fand nichts getan und beklagte sich bei Tembinok‘. Der König hörte ihn an, erhob sich, verlangte eine Winchesterbüchse, trat aus der Umzäunung des Palastes heraus und feuerte zwei Schüsse in die Luft. Ein Schuß in die Luft ist das stärkste Warnungssignal von Apemama, er hat die Gewalt einer Proklamation in gesprächigeren Ländern, und Se. Majestät bemerkte freundlich, daß er seine Arbeiter gleich auf die Beine bringen werde. In weniger als einer halben Stunde waren die Leute angetreten, die Arbeit wurde begonnen, und man sagte uns, wir möchten unser Gepäck bringen, wann es uns gefiele.

Das erste Boot wurde nicht vor zwei Uhr nachmittags auf den Strand gezogen, und dann begann die lange Prozession der Kisten, Kasten und Säcke durch die sandige Wüste nach Equatorstadt zu ziehen. Tatsächlich war der Pandanushain jetzt ein Stück der Vergangenheit, Feuer und Rauch drangen ringsum aus dem grünen Unterholz, in weitem Umkreis krachten noch die Äste. Der erste Gedanke des Königs war gewesen, gerade die Vorteile, derentwegen wir den Platz gewählt hatten, aus der Welt zu schaffen, und inmitten dieser Verwüstungen stand bereits ein ziemlich großer Maniap‘ und ein kleines geschlossenes Haus. Eine Matte für Tembinok‘ war in der Nähe ausgebreitet worden, er saß dort, um die Arbeit zu überwachen, in kardinalrotem Kleid, einen Tropenhut auf dem Kopfe, eine Meerschaumpfeife im Munde, ein Weib hinter ihm, das niederkauerte und Streichhölzer und Tabak bewachte. Zwanzig oder dreißig Fuß vor ihm hockte die Mehrzahl der Arbeiter am Boden; ein Teil des Busches stand hier noch, und die Leute saßen fast bis zu den Schultern darin und bildeten nur einen Kreis von braunen Gesichtern, schwarzen Schädeln und aufmerksamen Augen, die auf Se. Majestät gerichtet waren. Lange Pausen herrschten, während die Untertanen starrten und der König rauchte. Dann pflegte Tembinok‘ seine Stimme zu erheben und schrill und kurz zu rufen. Niemals erfolgte eine Antwort in Worten, aber wenn seine Rede witzig gewesen war, so ertönte unterwürfiges Lachen als vorsichtiges Echo, ein Lachen, wie man es wohl in Klassenzimmern hört; war sie aber ernst, so erhoben sich die Leute plötzlich und eilten davon. Zweimal verschwanden sie und kehrten mit weiterem Aufbaumaterial der Stadt zurück, einem zweiten Haus und einem zweiten Maniap‘. Einzigartig war der Anblick, als sich von der Ferne durch die Kokospalmen das Maniap‘ schweigend näherte, zuerst, wie es schien, selbständig in der Luft schwebend, aber bei näherem Zusehen erblickte man unter den Dachgiebeln viele Dutzend nackter Beine sich bewegen; bei alledem war der knechtische Gehorsam nicht weniger bemerkenswert als die knechtische Bedächtigkeit. Dieser Trupp hatte sich eingefunden auf den Ruf einer todbringenden Waffe, der Mann, der ihnen zusah, war unbeschränkter Herr ihres Lebens, aber abgesehen von ihrer Höflichkeit drückten sie sich ebensosehr von der Arbeit wie viele amerikanische Hotelbediente. Der Zuschauer bemerkte eine versteckte aber unbesiegbare Trägheit, angesichts derer der Kapitän unseres schmucken Seglers sich fast das Haar ausgerauft hätte.

Aber das Werk war vollendet, als die Dämmerung herabsank und Se. Majestät sich zurückzog, die Stadt war gegründet und fertig, ein moderner und rauher Amphion hatte sie mit drei Flintenschüssen aus dem Nichts hervorgezaubert. Und am nächsten Morgen überraschte uns derselbe Zauberer mit einem neuen Wunder: eine mystische Mauer umgab uns, so daß der Pfad, der an unseren Türen vorbeilief, plötzlich unwegsam geworden war, die Eingeborenen, die jenseits der Insel zu tun hatten, einen weiten Umweg machen mußten und wir in der Mitte saßen in durchsichtiger Abgeschlossenheit: wir sahen, wurden gesehen, aber waren unnahbar wie Bienen in einer gläsernen Wohnung. Das äußere und sichtbare Zeichen dieses Wunders waren nur ein paar zerzauste Kokosnußblättergirlanden zwischen den Stämmen der umstehenden Palmen, aber ihre Bedeutung beruhte auf der unantastbaren Furchtbarkeit des Tabu und den Gewehren Tembinok’s.

Wir nahmen an jenem Abend unsere erste Mahlzeit ein in der improvisierten Stadt, wo wir zwei Monate verweilen sollten, und die, sobald wir sie verließen, an einem Tage verschwinden würde, wie sie auftauchte. Das Baumaterial wird dorthin zurückkehren, woher es gekommen ist, das Tabu wird aufgehoben, der Verkehr auf dem Pfad wieder aufgenommen, Sonne und Mond werden vergeblich unter den Palmenzweigen nach dem früheren Werk suchen und der Wind über eine öde Stätte wehen. Aber der Ort, der jetzt nur noch in der Erinnerung einiger Menschen eine Rolle spielt, schien für die Dauer vieler Jahre gebaut zu sein. Es war ein lebhafter Platz. Einen der Maniap’s hatten wir zum Speisezimmer, den anderen zur Küche gemacht. Die Häuser wurden nur zum Schlafen benutzt. Sie waren nach dem ausgezeichneten Stil von Apemama erbaut, das bei weitem die besten Häuser in der Südsee hat. Drei Fuß über der Erde standen sie auf Pfosten, die Seitenwände bestanden aus geflochtenen Matten, die man hochheben konnte, um Licht und Luft hereinzulassen, oder senken, um Wind und Regen abzuwehren: luftig, gesund, sauber und wasserdicht. Wir hatten ein Huhn von bemerkenswerter Eigenart: beinahe einzigartig nach meiner Erfahrung, denn es war ein Huhn, das gelegentlich ein Ei legte. Nicht weit davon entfernt bewirtschaftete meine Frau einen Garten mit Salat und Schalotten. Der Salat wurde von der Henne verzehrt, für die er Gift war, die Schalotten wurden blattweise serviert und wie Pfirsiche willkommen geheißen und genossen. Palmwein und grüne Kokosnüsse wurden uns täglich gebracht. Einmal sandte uns der König Fisch zum Geschenk und einmal eine Schildkröte. Manchmal schossen wir sogenannte Regenpfeifer an der Küste oder Wildhühner im Busch. Der Rest unserer Speisetafel bestand aus Konserven.

Unsere Beschäftigung war sehr verschiedenartig. Während einige der Reisegenossen fortgingen, um zu zeichnen, brüteten Mr. Osbourne und ich über einem Roman. Wir lasen Gibbon und Carlyle laut vor, bliesen Flageolett, zupften Gitarre, photographierten beim Licht der Sonne, des Mondes und bei Blitzlicht und spielten manchmal Karten. Die Jagd nahm einen Teil unserer Zeit in Anspruch, ich selbst habe ganze Nachmittage verbracht bei aufregenden, aber harmlosen Vogeljagden mit dem Revolver, und es war ein Glück, daß wir auch bessere Schützen unter uns hatten, und daß uns der König eine geeignetere Waffe leihen konnte, sonst wäre unser Küchenzettel noch einförmiger gewesen.

Nachts mußte man unsere Stadt schauen, wenn der Mond hoch oben stand, wenn die Lampen brannten und das Feuer noch in der Küche flackerte. Wir litten unter einer Fliegen- und Moskitoplage, die man nur mit der ägyptischen vergleichen konnte. Unser Speisetisch, den uns der König wie alle Möbel geliehen hatte, mußte von einem geflochtenen Zelt umgeben werden, unsere Zitadelle und Zuflucht, und dieses ganze Zelt war von Licht erfüllt, es leuchtete hell unter den niedrigen Dachgiebeln wie die Hohlkugel einer riesigen Lampe unter dem Rande ihres Schirmes. Unsere Schlafkojen warfen sonderbar eckige Lichtreflexe, da die Seiten der Häuser sehr verschiedene Neigungswinkel hatten. In der gedeckten, aber offenen Küche sah man Ah Fu beim Licht der Lampe und des Feuers mit den Töpfen hantieren. Über allem lag zeitweise der wunderbare Glanz weichen Mondlichtes, der Sand sprühte, als sei er voll von Diamantsplittern, die Sterne waren verschwunden. Manchmal flatterte ein dunkler Nachtvogel leise und niedrig durch die Säulen der hohen Stämme und stieß einen rauhen, krächzenden Schrei aus.

Drittes Kapitel


Der König von Apemama: Der Palast der vielen Frauen

Der Palast oder vielmehr der Bezirk, der ihn einschließt, ist mehrere Morgen groß. Eine Terrasse grenzt ihn nach der Lagunenseite hin ab, während nach dem Innern zu eine Palisade mit mehreren Toren steht. Beide sind kaum für Verteidigungszwecke gedacht, denn ein starker Mann kann die Palisade leicht niederreißen, und er braucht nicht einmal besonders gewandt zu sein, um vom Strande auf die Terrasse zu gelangen. Man sieht kein Gepränge von Wachen, Soldaten oder Waffen, die ganze Rüstung ist unter Schloß und Riegel, und die einzigen Schildwachen sind einige unansehnliche alte Weiber, die Tag und Nacht vor den Toren herumlungern. Am Tage sind diese Hexen oft damit beschäftigt, Sirup zu kochen oder ähnliche Haushaltungsarbeit zu verrichten; bei Nacht liegen sie verborgen im Schatten oder drücken sich an der Palisade herum, denn sie erfüllen das Amt der Eunuchen in diesem Harem und sind die einzigen Wächter eines Tyrannendaseins.

Weibliche Wächter sind die angemessenen Türhüter dieses Palastes der vielen Frauen. Ich habe keine Ahnung von der Zahl der Weiber des Königs und nur eine allgemeine Vorstellung von ihren Funktionen. Er selbst verriet Bestürzung, wenn man sie als seine Frauen bezeichnete, nannte sie vielmehr seine »Familie« und erklärte, sie seien seine Basen. Wir vermochten vier aus der ganzen Schar auszusondern: die Mutter des Königs, seine Schwester, eine ernste, strenge Frau, die viel von der Intelligenz ihres Bruders besaß, die eigentliche Königin, der allein meine Frau in aller Form vorgestellt wurde, und die augenblickliche Lieblingsfrau, ein hübsches graziöses Mädchen, das täglich beim König saß und einst, als er Tränen vergoß, ihn mit ihren Zärtlichkeiten tröstete. Man versicherte mir, daß seine Beziehungen auch zu ihr platonischer Art seien. Im Hintergrunde figurierten eine Unmenge Frauen, magere, plumpe und unmäßig fette, manche in Hängekleidern, manche im haarbreiten Ridi; hochwohlgeborene und einfache, Sklavinnen und Herrinnen, von der Königin bis zur Dienstmagd, von der Favoritin bis zu den dürren Schildwachen an der Palisade. Nicht alle gehören natürlich zur »Familie«, viele sind nur Dienerinnen, aber eine erstaunliche Anzahl teilte sich in der Verantwortlichkeit des königlichen Vertrauens. Sie waren Schlüsselträgerinnen, Schatzmeisterinnen, Wächterinnen über das Arsenal, die Stoffvorräte und das Warenlager. Jede kannte genau ihre Pflichten und erfüllte sie bewundernswert. Wurde irgend etwas verlangt – ein besonderes Gewehr vielleicht oder ein besonderer Stoffballen –, so wurde die richtige Königin gerufen, sie brachte die richtige Kiste, öffnete sie in des Königs Gegenwart und zeigte den betreffenden Gegenstand in ausgezeichneter Verfassung vor, das Gewehr war sauber und geölt, die Tücher richtig gefaltet. Ohne Langsamkeit oder Hast und ohne viel Rederei lief der ganze große Apparat wie eine Maschine auf Rädern. Nie habe ich eine vollkommenere und vollendetere Ordnung gesehen. Und doch wurde ich immer wieder erinnert an jene norwegischen Erzählungen von Trollen und Menschenfressern, die ihre Herzen um der bloßen Sicherheit halber in der Erde vergraben und ihren Frauen das Geheimnis anvertrauen müssen. Denn diese Vorsichtsmaßregeln beschützen das Leben Tembinok’s. Er strebt nicht nach Popularität, sondern beherrscht und knechtet seine Untertanen mit so einfachen Regierungsmethoden, daß es unmöglich ist, sie nicht zu bewundern, aber schwer, mit ihnen zu sympathisieren. Wenn eine von diesen vielen Frauen sich als treulos erweisen, die Rüstkammer heimlich geöffnet werden und die Waffen ihren Weg unbeobachtet ins Dorf finden sollten, so wäre eine Revolution nahezu sicher, der Tod das wahrscheinliche Resultat, und der Geist des Tyrannen von Apemama würde entfliehen, um sich mit seinen Vorläufern von Mariki und Tapituea zu vereinigen. Aber alle, denen er sein Vertrauen schenkte, sind Frauen, und sie sind alle Rivalinnen.

Allerdings gibt es auch männliche Diener und Angestellte: einen Koch, einen Proviantmeister, einen Zimmermann und einige Superkargos, etwa nach der Rangliste eines Schoners. Die Spione, »Seiner Majestät Tageszeitungen«, wie wir sie nannten, kommen jeden Morgen zum Bericht und gehen wieder fort. Koch und Proviantmeister haben nur mit der Tafel zu tun. Die Superkargos, deren Amt es ist, das Kopralager für drei Pfund monatlich und einen prozentualen Anteil zu verwalten, sind selten im Palast, und mindestens zwei von ihnen sind immer auf fremden Inseln. Nur der Zimmermann, der schlaue, lustige alte Rubam – vielleicht Ruben? – wurde bei meinem letzten Besuch sogar zur größeren Würde eines Hofmeisters erhoben, er ist täglich anwesend, ändert, erweitert, verschönt und baut die endlose Reihe der königlichen Erfindungen weiter aus. Manchmal verbringt Seine Majestät einen Nachmittag damit, Rubam bei seiner Arbeit zuzuschauen und sich mit ihm zu unterhalten. Aber doch sind diese Männer keine Vertrauensleute, keiner scheint bewaffnet zu sein, und keinem wird irgendein Schlüssel anvertraut. Gegen Abend werden sie einzeln alle aus dem Palast entlassen, und die Last der Monarchie und die Verantwortung für des Monarchen Leben ruht allein auf den Schultern der Frauen.

Ein Haushalt also, der dem unseligen in keiner Weise gleicht und noch viel weniger einem orientalischen Harem, der Haushalt eines ältlichen, kinderlosen Mannes, der seine Tage gezählt sieht, und der nun einsam inmitten einer Schar Frauen aller Alters- und Rangstufen wohnt, die irgendwie mit ihm verwandt sind: Mutter, Schwester, Kusine, legitime Frau, Konkubine, Geliebte, älteste Tochter und frühere Geliebte. Er lebt in ihrer Mitte als alleiniger Mann, alleiniger Spender von Ehren, Kleidern und Kostbarkeiten, das einzige Objekt mannigfaltiger ehrgeiziger Bestrebungen und Wünsche. Ich möchte bezweifeln, ob es in Europa einen Mann gibt, der so kühn wäre, ein solches Experiment des Taktes und der Regierungskunst zu versuchen. Und scheinbar hatte selbst Tembinok‘ anfangs Schwierigkeiten. Man erzählte mir, er habe eine Frau an Bord eines Schoners wegen irgendeiner Leichtfertigkeit erschossen. Eine andere erschlug er auf der Stelle wegen eines etwas größeren Vergehens; er stellte ihren Leichnam in einer offenen Kiste aus und ließ es zu, um die Warnung eindringlicher zu machen, daß er vor den Palasttoren verweste. Ohne Zweifel ist ihm sein Alter zu Hilfe gekommen, denn es ist leichter, bei einer so großen Zahl von Frauen den Vater zu spielen als den Gatten. Und heute scheint alles, wenigstens für den Blick des Fremdlings, reibungslos zu verlaufen, die Weiber scheinen auf das Vertrauen, den Rang und ihren klugen Herrn stolz zu sein.

Soviel ich begriff, machten sie aus diesem Mann eine Art Helden. Ein beliebter Lehrer an einer Mädchenschule ist vielleicht eine Figur von ähnlich exponierter Stellung. Aber der Lehrer ißt, schläft und lebt doch wenigstens nicht inmitten seiner Verehrerinnen und wäscht nicht seine schmutzige Wäsche vor ihren Augen; er kann ihnen entfliehen, er hat seine eigenen Räume und führt sein Privatleben, und wenn er nichts von dem besitzt, so hat er wenigstens seine Ferien, während der unglücklichere Tembinok‘ immer im vollen Rampenlicht ohne jede Deckung lebt.

Sooft ich kam und ging, hörte ich ihn niemals streng sprechen oder das geringste Mißfallen ausdrücken. Äußerste, vielleicht ein wenig schwerfällige Güte – die Güte eines Mannes, der sicher ist, daß man ihm gehorcht – zeichnete sein Leben aus, so daß ich manchmal erinnert wurde an Samuel Richardson im Kreise der ihn bewundernden Frauen. Die Frauen sprachen offen und schienen ihre Ansichten zum besten zu geben, wie unsere Frauen daheim oder, besser gesagt, wie kindische, aber ehrwürdige Tanten. Im großen ganzen beherrscht er, glaube ich, sein Serail weit mehr durch Geschicklichkeit als durch Strenge, und diejenigen, die anders darüber berichten, und von denen keiner meine Beobachtungsmöglichkeiten besaß, versäumten vielleicht die Rangunterschiede festzustellen und zwischen der »Familie« und den Anhängseln, den Wäscherinnen und den Prostituierten, zu unterscheiden.

Ein bemerkenswertes Ereignis ist das abendliche Kartenspiel, wenn die Lampen auf die Terrasse gebracht sind und »ich und meine Familie« stundenlang um Tabak spielen. Es ist höchst charakteristisch für Tembinok‘, daß er sein eigenes Spiel für sich erfinden mußte, und höchst charakteristisch für seine Hausgenossinnen, die ihn so verehren, daß sie auf die absurde Erfindung schwören. Das Spiel ist eine Abart vom Poker, wird mit den Trümpfen von mehreren Pack Karten gespielt und ist unglaublich langweilig. Aber ich habe eine Leidenschaft für alle Spiele und studierte es, und ich bin wohl der einzige Weiße, der die Regeln ungefähr begriffen hat, weswegen mich die Weiber, mit denen ich sonst nicht auf vertrautem Fuße stand, laut bewunderten. Darüber gab es keine Täuschung, es war eine ehrliche Empfindung, sie waren stolz auf ihr Privatspiel, waren durch die Interesselosigkeit, die andere dafür zeigten, ins Herz getroffen und sonnten sich in meiner schmeichelhaften Aufmerksamkeit. Tembinok‘ setzt doppelt und erhält dafür eine doppelte Anzahl Karten, aus denen er seine Auswahl trifft, ein listiges Manöver, das die Frauen in all den langen Jahren noch nicht durchschaut haben. Wenn er mit mir persönlich sprach, machte er nicht das geringste Geheimnis daraus, daß er immer gewinnen mußte, und so erklärte er auch seine neuliche Freigebigkeit an Bord der »Equator«. Er ließ die Frauen ihren eigenen Tabak kaufen, was ihnen im Augenblick Vergnügen machte. Er gewann ihn zurück im Kartenspiel, was ihn von neuem und ohne weitere Ausgaben zum alleinigen Urquell aller Freuden machte, wie er es zu sein wünschte. Und er schloß die Erzählung mit jenem Satz, mit dem er jeden Bericht über seine Politik endete: »Besser so!«

Das Palastgrundstück ist ausgelegt mit gestampften Korallen, die Augen und nackte Füße quälen, aber ausgezeichnet geharkt und gejätet sind. Zwanzig oder mehr Gebäude liegen verstreut an einer Art Straße, die an der Palisade entlang führt, und am Rande der Terrasse: Wohnhäuser für die Frauen und Diener, Lager für des Königs Kostbarkeiten und Schätze, geräumige Maniap’s für Festlichkeiten oder Staatssitzungen, manche auf Holzsäulen, andere auf Mauerpfeilern. Eins befand sich noch im Bau, die neueste und letzte Erfindung des Königs: ein europäisches Fachwerkhaus, das, um Kühle zu erzielen, in einen hohen Maniap‘ hineingebaut wurde: das Dach besteht wie ein Schiffsdeck aus Brettern und kann gehoben werden, so daß ein schattiger, abgeschlossener Promenadenplatz entsteht. Hier verbrachte der König ganze Stunden mit Rubam, und ich gesellte mich manchmal zu ihnen. Das Haus sieht ganz einzigartig aus, und ich muß sagen, daß mich die Phantasie des Architekten stark fesselte, und daß ich mit Vergnügen an ihren Beratungen teilnahm.

Hatten wir am Tage irgend etwas bei Sr. Majestät zu erledigen, so schlenderten wir durch den Sand an den Zwergpalmen vorbei, tauschten mit der alten Frau, die gerade Wache hatte, ein »Konamaori« aus und betraten das Grundstück. Die weite Korallenfläche lag glitzernd und leer vor uns, alle waren von dem riesigen Platz hinter dunkle Vorhänge geflüchtet. Manchmal suchte ich das Labyrinth dieses Platzes ab, um den König zu finden, und das einzige lebende Wesen, das ich entdeckte, wenn ich unter die Pfosten eines Maniap’s blickte, war der sehnige Leib eines der Weiber, die wie eine nackte Amazone ausgestreckt am Boden lag, in ruhigen Schlummer versunken. War es noch die Stunde der »Morgenzeitungen«, so war das Suchen etwas leichter, denn ein halbes Dutzend knechtischer, scheuer Burschen hockte vor einem Hause am Boden, so eng wie möglich in den schmalen Schattenstreifen gedrückt, und blickte mit blinzelnden Augen auf den König. Tembinok‘ war drinnen, die Seitenvorhänge des Gemaches waren gelüftet, der Wind strömte hindurch, und so hörte er ihren Bericht an. Wie Journalisten daheim, wenn Tagesnachrichten mager sind, spannen sie ihre Reden weit aus, und ich kannte einen, der einen ganzen Morgen unnütz ausfüllte mit einer erfundenen Unterhaltung zweier Hunde. Von Zeit zu Zeit geruht der König zu lachen, eine Frage zu stellen oder mit ihnen zu scherzen, und seine Stimme tönt schrill aus dem Gemach heraus. An seiner Seite sitzt manchmal der rechtmäßige Thronerbe, Paul, sein Neffe und Adoptivsohn, sechs Jahre alt, splitternackt, das Bild junger menschlicher Schönheit. Und immer sind die Lieblingsfrau und zwei andere Frauen wach, vier andere liegen nachlässig hingestreckt unter Matten, vom Schlummer umfangen. Wenn wir später kamen und zu einer ruhigen Stunde eintrafen, fanden wir Tembinok‘ zurückgezogen im Hause mit der Lieblingsfrau, einem irdenen Sirupfaß, einem bleiernen Tintenfaß und einem kaufmännischen Hauptbuch. Auf dem Bauche liegend trägt er darin von Tag zu Tag die ereignislose Geschichte seines Reiches ein, und wenn er damit beschäftigt war, verriet er immer eine gewisse Verdrießlichkeit, falls man ihn unterbrach, was ich sehr wohl verstehen kann. Der königliche Chronist las mir einmal eine oder zwei Seiten vor, indem er mir den Text übersetzte. Aber da die Stelle gerade einen Stammbaum enthielt und der Autor bei der Übertragung entsetzlich stammelte, so habe ich mich manchmal schon besser unterhalten, wie ich zugebe. Er beschränkt sich nicht auf Prosa, sondern schlägt auch die Leier in seinen Mußestunden. Man hält ihn für den größten Barden seines Königreiches, wie er ja auch der einzige politische Repräsentant, der leitende Architekt und der einzige Kaufherr ist. Seine Begabung erstreckt sich jedoch nicht auf Musik, und wenn seine Verse fertig sind, werden sie einem Berufsmusiker vorgetragen, der sie in Musik setzt und den Chor drillt. Auf die Frage, wovon seine Lieder handelten, antwortete Tembinok‘: von Verliebten, von den Bäumen und vom Meere. »Nicht alles wahr, alles Lüge.« Eine Charakteristik lyrischer Poesie, die, abgesehen von den Sternen und Blumen, die er vergessen hatte, kaum zu übertreffen ist. Diese mannigfaltigen Beschäftigungen eines Eingeborenen und absoluten Fürsten verraten eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit des Geistes.

Der Hof des Palastes zur Mittagszeit ist ein Platz, an den man sich mit Schrecken erinnert, denn der Besucher stolpert über die losen Steine wie durch ein blendendes Chaos von Licht und Hitze, aber der freie Zutritt des Windes säubert ihn von Fliegen und Moskitos, und bei Sonnenuntergang war er himmlisch schön. Ich erinnere mich seiner am besten aus mondlosen Nächten. Die Luft war wie ein Bad von Milch, zahllose flimmernde Sterne standen am Himmel. Die Lagune spiegelte sie wider. Scharen von Weibern lagerten gruppenweise und leise plaudernd auf dem Kiesgrund. Tembinok‘ pflegte seinen Rock auszuziehen und nackt und schweigend dazusitzen, vielleicht über seinen Liedern brütend, die Lieblingsfrau gewöhnlich an seiner Seite, ebenfalls schweigend. Inzwischen wurden in der Mitte des Hofes die Palastlaternen angezündet und reihenweise auf den Boden gestellt: sie nehmen einen Raum von sechs bis acht Quadratmeter ein, ein Anblick, der einem sonderbare Vorstellungen von der Zahl der »Familie« gab, ein Anblick wie die Ecke eines großen Bahnhofs daheim beim Dunkelwerden. Bald darauf glitten die Lampen in alle Winkel der Gebäude dahin, bestrahlten die letzten Arbeiten des Tages und leuchteten der ungeheuren Menge der Frauen, einer nach der anderen, zur Ruhe. Einige verblieben in der Mitte des Hofes für das Kartenspiel und blickten zu, wie die Trümpfe gemischt und verteilt wurden, wie Tembinok‘ unter seinen beiden Blatt wählte, und wie die Königinnen ihren Tabak verloren. Dann wurden auch sie verteilt und ausgelöscht, und ihren Platz nahm ein großes offenes Feuer ein, die nächtliche Beleuchtung des Palastes. Erlosch dieses, so brannten kleinere Feuer in gleicher Weise an den Toren. Sie wurden von den alten Frauen unterhalten, die man nicht sah, die nicht schlafen, die aber nicht immer still waren. Näherte sich jemand in den Stunden der Nacht, so geht ein Weckruf rund um die Palisade: jeder Wachtposten signalisiert dem benachbarten durch einen Steinwurf, das Aufschlagen fallender Kiesel macht die Runde und stirbt ab, und die Wächterinnen Tembinok’s kauern schweigend auf ihren Plätzen wie zuvor.

Viertes Kapitel


Der König von Apemama: Equatorstadt und der Palast

Fünf Personen wurden bestimmt, uns aufzuwarten. Onkel Parker, der uns Palmwein und grüne Nüsse brachte, war ein ältlicher, beinahe schon alter Mann mit dem Gemüt, der Betriebsamkeit und der Moral eines zehnjährigen Knaben. Sein Gesicht war alt, komisch und diabolisch, die Haut spannte sich über straffe Sehnen wie ein Segel am Tau, und er grinste mit jeder Muskel seines Kopfes. Seine Nüsse mußten jeden Tag gezählt werden, wenn er uns nicht betrügen sollte, sie mußten täglich geprüft werden, sonst waren bestimmt einige nicht geschält. Nichts als der Name des Königs, und auch der kaum, hielt ihn bei seiner Pflicht. Nachdem er seine Arbeiten verrichtet hatte, gaben wir ihm Pfeife, Streichhölzer und Tabak, und er setzte sich auf den Fußboden im Maniap‘ nieder, um zu rauchen. Scheinbar bewegte er sich nicht aus seiner Stellung, und doch war jeden Tag der Tabak verschwunden, wenn er die Sachen zurückgeben sollte, er hatte es möglich gemacht, ihn unter das Dach zu verstecken, wo er ihn am folgenden Morgen strahlend hervorholte. Obgleich dies Zauberkunststück regelmäßig vor drei oder vier Paar Augen ausgeübt wurde, konnten wir ihn niemals auf frischer Tat ertappen, und obgleich wir alles durchsuchten, wenn er fortgegangen war, konnten wir den Tabak niemals finden. Das waren die Scherze Onkel Parkers, eines Mannes von nahezu sechzig Jahren, aber er wurde nach seinen Missetaten bestraft: meine Frau bekam Lust, ihn zu malen, und die Qualen beim Sitzen waren unbeschreiblich groß.

Drei junge Mädchen kamen vom Palast, um unsere Wäsche zu waschen und mit Ah Fu herumzutollen. Sie gehörten der niedrigsten Klasse an, kleine Schmarotzer, die man für die Handelskapitäne zur Verfügung hielt, wahrscheinlich aus der Hefe des Volkes, vielleicht von anderen Inseln, ohne viel Erziehung und nicht sehr reizend, aber nette und lustige Mädel in ihrer Art. Die eine nannten wir das Gassenmädel, denn man findet ihresgleichen in allen Scheunenvierteln jeder Großstadt, dasselbe hagere, dunkeläugige, lebhafte, gewöhnliche Gesicht, dasselbe plötzlich herausbrechende kreischende Lachen, jenes unverfrorene und doch verängstigte Benehmen, mit scheuen Seitenblicken auf jeden Schutzmann – nur war hier der Schutzmann ein lebender König und sein Knüppel ein Gewehr. Ich bezweifle, ob man irgendwo außerhalb dieser Inselwelt oder auch hier oft ein Mädel findet wie Fatty, ein Koloß, der beinahe ebensoviel Stones (vierzehn englische Pfund) wiegen mochte, wie er Sommer zählte. Sie würde einen guten Gardesoldaten abgegeben haben, obgleich sie das Gesicht eines Säuglings hatte und ihre riesigen Körperkräfte fast ausschließlich zum Spielen verwandte. Aber sie waren alle drei von derselben Lustigkeit. Das Waschen wurde unter lärmendem Spiel besorgt, sie rannten umher und verfolgten sich, bespritzten und bewarfen sich, kugelten sich im Sande hin und her, und das Schreien und Lachen nahm kein Ende, wie bei Ferienkindern. In der Tat, mochte auch ihr Dienst in jenen ernsten Räumen sehr eigenartig sein, sie waren doch für einen Tag aus der größten und strengsten Mädchenschule der Südsee entwichen.

Unser fünfter Diener war kein Geringerer als der königliche Koch. Gesicht und Körper waren auffallend schön, er war faul wie ein Sklave und frech wie ein Fleischerjunge. Er schlief und rauchte in den verschiedensten graziösen Stellungen und Lagen in unseren Räumen. Aber abgesehen davon, daß er Ah Fu nicht half, gab er sich nicht einmal die Mühe, ihm zuzuschauen, man kann sagen, daß er herkam, um zu lernen, und da war, um zu lehren, und seine Lektionen waren manchmal schwer zu ertragen. Zum Beispiel schickte man ihn aus, um einen Eimer am Brunnen zu füllen. Ungefähr auf halbem Wege fand er meine Frau, die ihre Zwiebeln begoß, wechselte seinen Eimer mit dem ihren aus, ließ den leeren zurück und kehrte mit dem vollen in die Küche zurück. Ein andermal gab man ihm ein Gericht Klöße für den König und sagte ihm, sie müßten heiß gegessen werden, er solle sie so rasch wie möglich hintragen. Der Lümmel setzte sich im langsamsten Kilometertempo in Bewegung, die Nase in die Luft steckend, die Füße wie ein Seiltänzer voreinandersetzend. Mir riß bei diesem Anblick die Geduld, die er seit einem Monat auf die Probe gestellt hatte. Ich rannte hinter ihm her, packte ihn an den breiten Schultern, stieß ihn vor mir her, rannte den Hügel mit ihm hinunter, über die Sandflächen weg und durch das beifallklatschende Dorf hindurch zum Sprechhaus, wo der König gerade eine Ratsversammlung abhielt. Er besaß die Unverschämtheit zu behaupten, ich hätte ihm durch meine Gewalttätigkeit innere Verletzungen beigebracht, er habe ernstlich um sein Leben gebangt.

Wir ertrugen das alles, denn die Maßnahmen von Tembinok‘ sind sehr gründlich, und ich wollte nicht die Veranlassung seines Todes sein, aber inzwischen plagte sich mein unglücklicher chinesischer Koch für zwei und wurde schließlich krank. Ich befand mich in der Lage eines Cimondain Lantenac und aller Personen in Quatre-Vingt-Treize: wollte ich den Schuldigen auch weiterhin schonen, so mußte ich den Unschuldigen opfern. Ich tat das, was man gewöhnlich tut, ich versuchte beide zu retten, um, wie immer bei solchen Gelegenheiten, den Zweck zu verfehlen. Wohlvorbereitet ging ich zum Palast, fand den König allein vor und erzählte ihm eine endlos lange Geschichte. Der Koch sei zu alt, um noch zu lernen, ich befürchte, er mache keine großen Fortschritte, vielleicht könne man einen jungen Mann statt seiner nehmen – junge Leute lernten leichter. Alles vergebens: der König durchschaute meine Ausflüchte bis auf den Grund, sah, daß der Koch sich gröblich versündigt hatte, und saß eine Weile nachdenklich da. »Ich denken, er zuviel wissen«, sagte er schließlich mit grimmiger Stimme und lenkte das Gespräch sofort auf andere Dinge. Noch am selben Tage erschien ein anderer hoher Beamter, der Proviantmeister, an Stelle des Kochs, und ich muß gestehen, er war höflich und fleißig.

Sobald ich ihn verlassen hatte, scheint der König eine Winchesterbüchse verlangt zu haben und nach draußen vor die Palisade gegangen zu sein, um den Sünder zu erwarten. Tembinok‘ trug den Frauenrock und wahrscheinlich auch einen Tropenhelm und eine blaue Brille. Man stelle sich den glühenden Sandhügel vor, die Zwergpalmen mit ihren mittäglichen Schatten, die lange Flucht der Palisade, die alten Weiber als Schildwachen, jede Sirup kochend auf ihrem Posten bei einem kleinen hellen Feuer – und dann diese Schimäre mit tödlicher Waffe in der Hand auf der Lauer. Schließlich kommt der Koch, schlendert den Sandhügel von Equatorstadt kommend herunter, ahnungslos, eitel und graziös, ohne einen Gedanken an Gefahr. Sobald er richtig in Schußweite war, feuerte dieses Schreckgespenst eines Monarchen sechs Schüsse über seinen Kopf, zu seinen Füßen und an beiden Armen vorbei: das zweite Warnungssignal von Apemama, an sich schon schrecklich, aber furchtbar erst als Vorbedeutung, denn das nächste Mal wird Se. Majestät anlegen, um zu treffen. Man erzählte mir, daß der König ein vorzüglicher Schütze sei, daß man dem das Grab graben kann, auf den er zielt, und daß er, wenn er fehlen will, so scharf vorbeischießt, daß der Schuldige sechsmal die Bitternis des Todes kostet. Die Wirkung auf den Koch konnte ich selbst beobachten. Meine Frau und ich kehrten vom Meeresstrand der Insel zurück, als wir bemerkten, daß uns jemand mit sehr raschen, unregelmäßigen Schritten, halb gehend, halb rennend, entgegenkam. Als wir uns ihm näherten, erkannten wir den Koch, der außer sich war vor Erregung, seine gewöhnlich warme Mulattenhautfarbe erschien bläulichblaß. Er ging ohne Wort und Zeichen an uns vorüber, starrte uns mit dem Gesicht eines Teufels an und verschwand quer durch den Wald in die unbewohnten Gegenden der Insel, zur langgestreckten einsamen Küste, wo er ungesehen auf und ab rasen und Zorn, Furcht und Demütigung austoben konnte. Zweifellos kam in den Flüchen, die er in das Tosen der Brandung und den Gesang der Tropenvögel hineinschrie, oft der Name des Kaupoi, des reichen Mannes, vor. Ich hatte ihn zum Gelächter des ganzen Dorfes gemacht in der Affäre mit den Klößen des Königs, ich hatte ihn durch meine Machenschaften in Ungnade und unmittelbare Lebensgefahr gebracht, und schließlich – das war vielleicht am bittersten für ihn – hatte er mich am Wege getroffen, da ich ihn in der Stunde der Fassungslosigkeit beobachten konnte.

Die Tage vergingen, wir sahen ihn nicht wieder. Die Zeit des Vollmondes kam heran, wo der Mensch es für eine Schande hält zu schlafen, und ich wanderte vielleicht bis Mitternacht oder ein Uhr auf dem strahlenden Sand und unter dem Schatten der wehenden Palmen umher. Ich spielte, während ich so einherging, auf einem Flageolett, was meine Aufmerksamkeit stark in Anspruch nahm. Die Fächer über meinem Haupte rauschten mit metallischem Geraun, und ein nackter Fuß schlich fast geräuschlos über diesen nachgiebigen Boden. Aber als ich zur Equatorstadt zurückkam, wo alle Lichter bereits erloschen waren, und meine Frau, die noch wach war, nach mir ausgeblickt hatte, fragte sie mich, wer mir gefolgt sei. Ich glaubte, sie mache einen Scherz, aber sie sagte: »Durchaus nicht, ich sah zweimal jemand, als du vorübergingst, der dir dicht auf den Fersen folgte. Er blieb erst an der Ecke des Maniap’s zurück und muß noch hinter dem Kochhaus sein.« Ich rannte dorthin wie ein Narr, ohne jede Waffe, und stand dem Koch von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er war auf meinem Tabugebiet, was an sich schon den Tod bedeutet, nichts konnte ihn zu solcher Stunde dorthin geführt haben als die Absicht zu stehlen oder zu töten; das Schuldbewußtsein machte ihn ängstlich, er drehte sich um und entfloh vor mir in die Stille der Nacht hinaus. Als er enteilte, trat ich ihn in die Stelle, wo man kein Ehrgefühl besitzt, und er schrie leise auf wie eine verwundete Maus. Er glaubte jedenfalls im Augenblick, eine tödliche Waffe habe ihn getroffen.

Was hatte der Mann gewollt? Ich habe im allgemeinen festgestellt, daß meine Musik eher geeignet war, Zuhörer zu vertreiben als anzulocken. Als Amateur konnte ich mir nicht einbilden, daß er für meine Auffassung des »Karneval von Venedig« Interesse oder seine Nachtruhe geopfert habe, um meinen Variationen des »Plouphboy« zu folgen, aber was auch immer seine Absicht gewesen war, ich konnte es nicht dulden, daß er sich nachts zwischen den Häusern herumtrieb. Ein Wort an den König, und der Mann war erledigt, denn in solchem Falle gab es keinen Pardon. Aber es ist ein Unterschied, ob man einen Menschen selbst tötet, oder ob man ihn hinter seinem Rücken anschwärzt und durch einen Dritten erschießen läßt. Ich beschloß, mich mit dem Burschen auf meine eigene Weise auseinanderzusetzen. Ich erzählte Ah Fu die Sache und bat ihn, mir den Koch herbeizuholen, wo immer er ihn fände. Ich glaubte, das würde schwierig sein, aber weit davon entfernt: er kam aus eigenem Antrieb – ein Akt wirklicher Verzweiflung, da sein Leben von meinem Stillschweigen abhing, und alles, was er hoffen konnte, war, vergessen zu werden. Aber er kam mit sicherer Haltung, gab weder eine Entschuldigung noch eine Erklärung ab, beklagte sich über Verletzungen und behauptete, er sei nicht imstande zu sitzen. Ich glaube, ich bin der schwächste Mann auf Gottes Erdboden, ich hatte ihn in den am wenigsten verwundbaren Teil seines riesigen Leibes getreten, mein Fuß war nackt, und ich hatte nicht einmal meinen Fuß verletzt. Ah Fu konnte das Lachen nicht verbeißen; da ich meinerseits wußte, was er zu befürchten hatte, sah ich in diesem Gipfel der Unverschämtheit doch eine Art Tapferkeit, und ich bewunderte den Mann im stillen. Ich sagte ihm, ich würde dem König von dem nächtlichen Abenteuer nichts sagen, es sei ihm auch gestattet, wenn er eine Besorgung zu machen habe, tagsüber in meinen Tabubezirk zu kommen, aber fände ich ihn dort jemals nach Sonnenuntergang, so würde ich ihn auf der Stelle erschießen, und zum Beweis zeigte ich ihm einen Revolver. Er muß unglaublich erleichtert gewesen sein, entfernte sich in seiner gewöhnlichen dandyhaften Gleichgültigkeit und wurde von uns kaum jemals wiedergesehen.

Diese fünf Leute mit dem Proviantmeister an Stelle des Kochs kamen und gingen und waren unsere einzigen Besucher. Der Umkreis des Tabu hielt die Dorfbewohner auf Armlänge entfernt. Was »meine Familie« betraf, so wohnte diese wie Nonnen in der Klausur, nur einmal traf ich eine von ihnen draußen, des Königs Schwester; der Ort, an dem ich sie fand, das Inselkrankenhaus, stand wahrscheinlich unter einem Sonderrecht. Nur über den König ist noch zu berichten. Er pflegte immer allein kurze Zeit vor der Mahlzeit herüberzubummeln, nahm einen Stuhl und sprach und aß mit uns wie ein alter Familienfreund. Die Höflichkeit der Gilbertiner scheint sich auf das Abschiednehmen nicht zu erstrecken. Man wird sich erinnern, daß wir in dieser Beziehung mit Karaiti Schwierigkeiten hatten, und es klang kindisch und störend, wenn Tembinok‘ plötzlich sagte: »Ich wollen jetzt nach Hause gehen«, beim Aufstehen sich etwas verneigte und dann ohne jede Formalität den Rückzug antrat. Es war der einzige Makel in seinem Benehmen, das im übrigen einfach, vornehm, klug und würdig war. Er blieb niemals lange, trank nicht viel und ahmte unser Benehmen nach, wenn er es von dem seinigen verschieden fand. Schon früh hörte er zum Beispiel auf, mit dem Messer zu essen. Es war klar, daß er entschlossen war, in jeder Beziehung Vorteile aus unserem Besuch zu ziehen, besonders was Umgangsformen anging. Die soziale Stellung seiner weißen Besucher gab ihm viele Rätsel auf und beschäftigte ihn stark. Er nannte Namen nach Namen und fragte, ob der Träger ein großer Häuptling oder überhaupt ein Häuptling sei, was uns manchmal in Verlegenheit setzte, denn einige gehörten zu meinen allerbesten Freunden, von denen gerade keiner mit dem Purpurmantel geboren worden war. Er erfuhr zu seinem Erstaunen, daß bei uns die Klassen sich durch ihre Ausdrucksweise unterscheiden, und daß zum Beispiel gewisse Worte tabu seien in der Offiziersmesse eines Kriegsschiffes. Und er bat uns infolgedessen, wir möchten auf ihn in diesem Punkte achthaben und ihn korrigieren. Wir waren in der Lage, ihm die Versicherung zu geben, daß er keiner Korrektur bedürfe. Sein Wortschatz reicht sehr weit und ist außerordentlich umfassend. Gott weiß, woher er ihn genommen hat, aber zufällig ist er allen profanen oder groben Redensarten aus dem Wege gegangen. » Obliged«, » slabbed«, » gnaw«, » lodge«, » power«, » company«, » slender«, » wonderful« sind einige der Worte, die man von ihm nicht erwartet hätte, und die seine Rede schmückten. Am meisten freute er sich zu hören, wie die Offiziere eines Kriegsschiffes gegrüßt würden. In seiner Dankbarkeit für diesen Wink wurde er ganz gerührt. »Schonerkapitän mir nicht erzählen,« rief er aus, »ich glauben, er nicht wissen. Ihr wissen zuviel, Ihr wissen von Dampfer, Ihr wissen von Kriegsschiff. Ich glaube, Ihr wissen alles.« Aber er quälte mich oft genug mit seinen ewigen Fragen, und der höfliche Barbar stand häufig verlegen vor dem königlichen Sandford. Ich erinnere besonders an einen Vorfall. Wir führten die Laterna magica vor, ein Bild vom Schloß zu Windsor wurde gezeigt, und ich sagte ihm, das sei das Haus Viktorias. »Wieviel Faden es hoch?« fragte er, und ich wurde stumm vor ihm. Es war der Baumeister, der unermüdliche Palastarchitekt, der zu mir sprach, und obgleich er ein Sammler war, sammelte er niemals unnütze Informationen, sondern alle seine Fragen hatten einen Zweck. Besonders interessierten ihn Etikette, Regierungsapparat, Gesetz, Polizei, Geld und Medizin, alles Dinge, die für ihn als König und Vater seines Volkes von großer Bedeutung waren. Es war nicht nur meine Aufgabe, ihm neue Informationen zu geben, sondern ich mußte auch die früheren korrigieren. »Mein Vater, er erzählen mir«, oder »Weißer Mann, er erzählen mir«, so begann er stets. »Ich denken, er lügen?« Manchmal dachte ich, es sei so. Tembinok‘ trug mir einmal eine Schwierigkeit vor, die ich lange Zeit nicht begriff. Ein Schonerkapitän hatte ihm von Kapitän Cook erzählt, der König interessierte sich sehr für diese Geschichte und schlug, um mehr darüber zu erfahren, nicht etwa ein Konversationslexikon oder die Encyclopedia Britannica auf, sondern die Bibel in der Gilbertinselübersetzung, die hauptsächlich aus dem Neuen Testament und den Psalmen besteht. Hier suchte er nun lange und ernsthaft, Paulus fand er und Alexander, den Kupferschmied: kein Wort von Cook. Die Schlußfolgerung war selbstverständlich, daß der Forscher eine Erfindung sei. So schwer ist es selbst für einen Menschen von großer natürlicher Begabung wie Tembinok‘, in den Vorstellungskreis einer neuen Gesellschaftsordnung und Kultur einzudringen.

Viertes Kapitel


Sitten und Sekten auf den Paumotus

Selbst der oberflächlichste Leser muß einen Wandel der Atmosphäre nach dem Verlassen der Marquesasinseln bemerkt haben. Das mit allerlei Gerätschaften angefüllte Haus, die herumwirtschaftende Hausfrau, die ihre Besitztümer zählt, der ernste ungelehrte Inselpastor, der zähe Kampf ums Leben in der Lagune: alles das sind Anzeichen einer anderen Welt. Ich las in einer Broschüre – den Namen des Verfassers will ich nicht nennen –, daß der Marquesaner ganz besonders dem Paumotuaner gleiche. Ich möchte die beiden Rassen, obgleich sie so nahe beieinander wohnen, als Extreme polynesischer Verschiedenartigkeit bezeichnen. Die Marquesaner sind ohne Zweifel die schönste menschliche Rasse und eine der größten, der Paumotuaner ist durchschnittlich einen guten Zoll kleiner und nicht einmal hübsch. Der Marquesianer ist freigebig, träge, ohne Gefühl für Religion und kindlich milde gegen sich selbst, der Paumotuaner ist habgierig, zäh, unternehmungslustig, religiös kritisch und besitzt Züge eines asketischen Charakters.

Noch vor einigen Jahren waren die Eingeborenen des Archipels verschlagene Wilde. Ihre Inseln möchte man Sireneninseln nennen, nicht nur wegen der Anziehung, die sie auf den vorüberfahrenden Seemann ausüben, sondern auch wegen der Gefahren, die ihn an Land erwarten. Selbst heute noch lauert Unheil auf gewissen abseits liegenden Inseln, und der zivilisierte Paumotuaner fürchtet sich an Land zu gehen und zögert, sich mit seinem rückständigen Bruder einzulassen. Aber, diese Inseln ausgenommen, lebt die Gefahr heute nur in der Erinnerung. Als unsere Generation noch in der Kinderstube war, bildete sie eine lebendige Tatsache. Zwischen 1830 und 1840 war es z.B. sehr gefährlich, sich Hao zu nähern, wo Schiffe geentert und die Besatzungen gefangengenommen wurden. Noch 1856 segelte der Schoner »Sarah Ann« von Papeete ab und wurde nie wieder gesehen. Es waren Frauen und Kinder an Bord, die Frau des Kapitäns, ein Kindermädchen, ein Säugling und die beiden Söhne des Kapitäns Steven, die sich auf der Fahrt zum Festlande befanden, um die Schule zu besuchen. Man vermutete, daß alle in einem Wirbelsturm umgekommen seien. Ein Jahr später sah der Kapitän der »Julia«, als er an der Küste einer Insel, die abwechselnd Bligh, Lagoon und Tematangi genannt wird, bewaffnete Eingeborene, die in mannigfarbige Stoffe gekleidet waren, den Kurs seines Schoners verfolgen. Sofort erhob sich Argwohn, die Mutter der verlorenen Kinder stellte genügend Geld zur Verfügung, und nachdem eine Expedition den Ort verödet vorgefunden hatte und zurückgekehrt war nach Abfeuerung einiger Schüsse, rüstete sie selbst eine zweite aus und begleitete sie. Niemand erschien, um sie willkommen zu heißen oder ihnen Widerstand zu leisten; sie streiften eine Weile zwischen verlassenen Hütten und menschenleeren Büschen umher, bildeten dann zwei Abteilungen und machten sich auf den Weg, um den Pandanusdschungel von einem Ende der Insel zum anderen abzusuchen. Ein Mann allein blieb am Landungsplatz, Teina, ein Häuptling von Anna und Führer der bewaffneten Eingeborenen, die den Hauptteil der Expedition bildeten. Als nun seine Kameraden nach allen Seiten davongegangen waren, um ihre schwierigen Erkundungen anzustellen, senkte sich eine tiefe Stille herab, und diese Stille war das Verderben der Inselbewohner. Der Laut fallender Steine drang ans Ohr Teinas. Er sah sich um, da er glaubte, eine Krabbe wahrzunehmen, und erblickte statt dessen die braune Hand eines Manschen, die sich aus einer Bodenspalte hervorstreckte. Ein Schrei rief die Fahndungsabteilungen zurück und verkündete den unter der Erde steckenden Feiglingen den Untergang. In der Höhle fand man sechzehn Gestalten, die zwischen menschlichen Knochen und einzigartigen und grauenhaften Dingen hockten, darunter war ein Schädel mit goldenem Haar, in dem man einen Überrest der Kapitänsfrau erkennen durfte, dann die Körperhälfte eines europäischen Kindes, an der Sonne getrocknet und auf einen Stab gespießt, ohne Zweifel zum Zweck irgendeiner Zauberei.

Der Paumotuaner wünscht reich zu sein. Er spart, rafft zusammen, vergräbt Geld und fürchtet die Arbeit nicht. Für je einen Dollar verbrachten zwei Eingeborene die ganzen Tagesstunden, um das Kupfer an unserem Schiff zu putzen. Es war sonderbar, sie so unermüdlich und wohlauf im Wasser zu sehen, sie arbeiteten zeitweise mit brennender Pfeife. Der Raucher tauchte manchmal unter, und der Pfeifenkopf blieb an der Oberfläche. Das sonderbarste aber ist die Tatsache, daß sie nächste Nachbarn der unfähigen Marquesaner sind. Aber der Paumotuaner spart, knausert und arbeitet nicht nur, sondern er stiehlt auch, oder, um es genauer auszudrucken, er ist ein Schwindler. Er streitet niemals eine Schuld ab, sondern flüchtet nur vor dem Gläubiger. Er ist immer darauf bedacht, Vorschüsse zu erhalten, und sobald er sie bekommen hat, verschwindet er. Er kennt genau das betreffende Schiff wieder, und wenn es sich einer Insel nähert, macht er sich davon zu einer anderen. Man glaubt seinen Namen zu kennen, aber er hat ihn inzwischen gewechselt. Eine Verfolgung in dieser unendlichen Inselwelt wäre erfolglos. Das Resultat läßt sich in ein paar Worten beschreiben. Tatsächlich hat man in einem Regierungsbericht vorgeschlagen, Schulden dadurch einzutreiben, daß man den Schuldner photographiert, und neulich wurden in Papeete Kredite in der Höhe von sechzehntausend Pfunden, die auf den Paumotus gewährt worden waren, für weniger als vierzig Pfunde verkauft – quatre cent mille francs pour moins de mille francs. Selbst dann wurde der Kauf als waghalsig empfunden, und nur der Mann, der ihn getätigt hatte und besondere Möglichkeiten besaß, hatte gewagt, soviel zu zahlen.

Der Paumotuaner hängt innig an denen, die seines Blutes sind und zu seinem Haushalt gehören. Eine rührende Zuneigung verbindet oft Weib und Gatten. Ihre Kinder beherrschen die Eltern schon zu Lebzeiten vollständig, und wenn sie gestorben sind, werden ihre Knochen und Mumien oft eifersüchtig aufbewahrt und auf den Wanderungen der Familie von Atoll zu Atoll mitgenommen. Man erzählte mir, daß in manchen Häusern auf Fakarava Kindermumien in verschlossenen Seekisten lägen. Nachdem ich das erfahren hatte, schaute ich ein wenig eifersüchtig auf die Kisten, die neben meinem eigenen Bett standen, und auch in jenem Schrank dort konnte vielleicht ein kleines Skelett ruhen.

Die Rasse scheint ziemlich lebenskräftig zu sein. Ich hatte Gelegenheit, die Statistik von fünfzehn Inseln einzusehen, und fand ein Verhältnis von neunundfünfzig Geburten zu siebenundvierzig Todesfällen für das Jahr 1887. Läßt man drei Inseln von diesen fünfzehn aus, so bleibt für die restlichen zwölf das ansehnliche Verhältnis von fünfzig Geburten zu zweiunddreißig Todesfällen. Andauernde Härte der Lebensbedingungen und Fleiß erklären ohne Zweifel den Gegensatz zu den für die Marquesaner gültigen Ziffern. Aber der Paumotuaner entwickelt außerdem eine gewisse Sorgfalt in der Gesundheitspflege und den sanitären Maßregeln. Das öffentliche Gerede ersetzt bei diesen offenherzigen Leuten ein Seuchengesetz: Leute, die zu einer neuen Insel kommen, erkundigen sich sorgfältig, ob alles gesund ist, und die Syphilis wird, wenn sie auftritt, erfolgreich mit medizinischen Kräutern behandelt. Gleich ihren Nachbarn auf Tahiti, von denen sie vielleicht diesen Irrtum übernommen haben, behandeln sie den Aussatz mit verhältnismäßiger Gleichgültigkeit, die Elefantiasis dagegen mit zu großer Furcht. Aber im Gegensatz zu den Tahitianern nimmt ihre Besorgnis die Formen des Selbstschutzes an. Alle, die von dieser qualvollen und entstellenden Krankheit befallen sind, werden an die Grenzen der Dörfer verbannt, man verbietet ihnen die Benutzung der Fußwege und Landstraßen und verurteilt sie, sich zwischen ihrem Hause und dem Kokosnußwäldchen nur zu Wasser zu bewegen, denn selbst die Fußtapfen hält man für ansteckend. Fe’efe’e ist ein Produkt der Sümpfe, eine Folgeerscheinung des Malariafiebers und deshalb nicht heimisch auf den Atollen. Nur auf der Insel Makatea, wo die Lagune bereits zum Sumpf wurde, hat die Seuche einen Herd. Viele leiden daran; sie werden, wenn Mr. Wilmot recht hat, von vielen Bequemlichkeiten der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, und man glaubt, daß sie sich heimlich rächen. Die Exkremente der Kranken werden als höchst giftig angesehen. In den frühen Morgenstunden, so erzählt man, schleichen sich alte und boshafte Personen in das schlafende Dorf und schlagen verstohlen ihr Wasser vor den Türen junger Leute ab. So verbreiten sie die Krankheit, so begeifern und beschmutzen sie gesunde Wohnstätten, den Gegenstand ihres Neides. Ob es sich hier um eine entsetzliche Tatsache oder eine noch abscheulichere Legende handelt, es charakterisiert auf alle Fälle eine bittere Energie, die den Paumotuaner auszeichnet.

Der Archipel ist aufgeteilt zwischen zwei Hauptreligionen: dem Katholizismus und dem Mormonentum. Sie stehen einander stolz gegenüber mit dem falschen Schein der Dauerhaftigkeit, aber sie sind beide nur leere Formen, und ihre Mitgliederzahl schwankt ständig. Der Mormone wohnt andächtig der Messe bei, der Katholik hört andächtig einer mormonischen Predigt zu, und am folgenden Tage hat vielleicht jeder seinen Glauben gewechselt. Ein Mann war fünfzehn Jahre lang eine Säule der römischen Kirche gewesen; als sein Weib starb, bekannte er, es sei eine armselige Religion, die einem Manne nicht sein Weib erhalten könne, und wurde Mormone. Nach einem Gewährsmann ist der Katholizismus gut für Gesunde, aber beim Hereinbrechen von Krankheiten hält man es für klug auszutreten. Als Mormone habe man in fünf von sechs Fällen Aussicht, wieder gesund zu werden, als Katholik nur geringe Hoffnungen, und diese Meinung rührt vielleicht von der häufigen Anwendung der letzten Ölung her.

Wir alle wissen, was Katholiken sind, ganz gleich ob auf den Paumotus oder in der Heimat. Aber der paumotuanische Mormone ist ein Phänomen für sich. Er heiratet nur eine Frau, benutzt die protestantische Bibel, beobachtet protestantische Gottesdienstformen, verbietet den Gebrauch von Alkohol und Tabak, wendet die Taufe an bei Erwachsenen durch Untertauchen und tauft den Rückfälligen nach jeder öffentlichen Sünde von neuem. Ich besprach mich mit Mahinui, den ich in der Geschichte der amerikanischen Mormonen wohlunterrichtet fand, und er erklärte, es bestehe nicht die geringste Beziehung zu ihnen. » Pour moi,« sagte er mit zarter Rücksicht, » les mormons ici un petit Catholiques«. Einige Monate später hatte ich Gelegenheit, mit einem orthodoxen Landsmann zu sprechen, einem alten schottischen Dissidenten, der lange auf Tahiti gesessen hatte, aber noch nach der Heide von Tiree roch. »Warum nennen sie sich Mormonen?« fragte ich. »Mein Lieber, das ist auch eine Frage,« rief er aus, »denn nach allem, was ich von ihrem Glauben höre, kann ich nichts dagegen einwenden, und ihre Lebensführung ist über jeden Tadel erhaben.« Und doch sind sie echte Mormonen einer älteren Richtung, ähnlich den sogenannten Josephiten, den Anhängern von Joseph Smith und Gegnern von Brigham Young.

Man mag also zugeben, daß die Mormonen Mormonen sind. Aber sofort erheben sich neue Zweifel: was sind die Israeliten, und was sind die Kanitus? Vor langer Zeit teilte man die Sekte ein in eigentliche Mormonen und sogenannte Israeliten, aber den Grund habe ich nie erfahren. Vor einigen Jahren kam ein Reise-Missionar namens Williams, der eine ergiebige Kollekte veranstaltete und, als er sich zurückzog, eine neue Spaltung in naher Zukunft veranlaßte. Irgendeine Sonderbarkeit beim Beginn des Gottesdienstes hatte, wie man mir erzählte, Parteigänger und Feinde geschaffen, die Kirche wurde von neuem erschüttert, und eine neue Sekte, die Kanitus, war das Ergebnis der Spaltung. Später haben die Kanitus und Israeliten gleich den Cameronianern und den vereinigten Presbytern gemeinsame Sache gemacht, und die Kirchengeschichte der Paumotus ist augenblicklich ereignislos. Aber bald wird wieder etwas geschehen, und diese Inseln können sich rühmen, das Schottland des Südens zu sein. Zwei Dinge konnte ich nie erfahren: die Natur der Feuerungen des hochwürdigen Mr. Williams wollte mir keiner erzählen, und die Bedeutung des Namens Kanitu konnte mir keiner verraten. Es war weder tahitisch noch marquesanisch und bildete auch keinen Teil jener alten Sprache der Paumotus, die langsam der Vergessenheit anheimfallt. Ein Mann, ein Priester, Gott segne ihn, sagte, es sei die lateinische Bezeichnung für einen jungen Hund. Ich habe seitdem festgestellt, daß es der Name eines Gottes auf Neuguinea ist, und ein kühnerer Geist als ich müßte die Verbindung nachweisen. Hier ist also ein einzigartiger Zustand: eine brandneue Sekte, die durch Volkszustimmung entsteht, und ein unsinniges Wort, das als Bezeichnung erfunden wird.

Die Absicht, etwas Geheimnisvolles zu schaffen, scheint auf der Hand zu liegen, und nach der Ansicht eines sehr klugen Beobachters, Mr. Magee von Mangareva, bildet dies Element des Geheimnisvollen eine Hauptanziehungskraft der mormonischen Kirche. Sie erfreut sich in ihrem Ursprungsland gewissermaßen des Rufes der Freimaurerei, und für den Konvertiten hat sie einen gewissen abenteuerlichen Reiz. Andere Vorzüge kommen sicherlich hinzu. Die fortwährende Wiedertaufe, die fortgesetzt Tauffestlichkeiten nach sich zieht, empfindet man gesellschaftlich und geistig als Annehmlichkeit. Wichtig ist die Tatsache, daß alle Gläubigen ein Amt erhalten, noch wichtiger vielleicht die Strenge der Disziplin. »Das Alkoholverbot«, sagte Mr. Magee, »führt ihnen zahlreiche Mitglieder zu.« Kein Zweifel, daß diese Insulaner gern trinken, und kein Zweifel, daß sie sich von der Trunksucht freihalten. Dem Gelage an einem Festtage kann zum Beispiel eine Woche oder ein Monat strenger Enthaltsamkeit folgen. Mr. Wilmot schreibt dies der paumotuanischen Mäßigkeit und Sparsamkeit zu; es geht aber viel tiefer. Ich habe erwähnt, daß ich an Bord der »Casco« ein Gastmahl veranstaltete, um den Schiffszwieback und die Marmelade hinunterzuspülen, durfte jeder Gast zwischen Rum und Sirupwasser wählen, und aus der Gesamtzahl stimmte nur ein Mann – in herausforderndem Tone und unter schallendem Gelächter – für »Trum«. Das geschah in aller Öffentlichkeit. Ich besaß die Gemeinheit, das Experiment, sooft ich Gelegenheit hatte, innerhalb der vier Wände meines Hauses zu wiederholen, und mindestens drei Leute tranken gierig Rum hinter verschlossenen Türen, während sie ihn beim Festmahl zurückgewiesen hatten. Andere wiederum waren durchaus standhaft. Ich sagte, daß die Tugenden dieser Rasse bürgerlich und puritanisch seien; und wie bürgerlich ist das, wie puritanisch, wie schottisch, wie yankeehaft! Die Versuchung, der Widerstand, die öffentliche heuchlerische Gleichförmigkeit, die Pharisäer, die frommen Betbrüder und die echten, wahrhaft Religiösen! Bei solchen Leuten ist die Volkstümlichkeit einer asketischen Kirche wohl erklärlich. In den strengen Regeln, in der ständigen Überwachung finden die Schwachen eine Stütze, die Starken ein gewisses Vergnügen, und die Lehre von der Wiedertaufe, eine klare Abrechnung und ein neuer Beginn, mag manchen strauchelnden Bekenner trösten.

Es gibt noch eine neue Sekte oder was man, sicher unberechtigt, so nennt: die der Pfeifer. Aber ich bin nicht ganz sicher und vermute immer noch, daß irgendein vielleicht zufälliger und wahrscheinlich umstrittener Zusammenhang mit den anderen besteht. Hier seien wenigstens einige Geschehnisse berichtet aus dem Hause eines israelitischen Geistlichen oder Propheten auf der Insel Anaa, die, ich bin dessen sicher, Duncan von sich gewiesen hätte, während die Pfeifer sie als Nachahmung ihrer eigenen Bräuche begrüßt hätten. Mein Berichterstatter, ein Tahitier und Katholik, bewohnte einen Teil des Hauses; der Prophet und seine Familie lebten in dem anderen. Abend für Abend hielten die Mormonen auf dem einen Ende ihren abendlichen Gesanggottesdienst ab, Abend für Abend lag auf der anderen Seite das Weib des Tahitiers wach und lauschte dem Gesang mit Staunen. Schließlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten, weckte ihren Gatten und fragte ihn, was er höre. »Ich höre mehrere Personen Hymnen singen«, sagte er. »Ja,« erwiderte sie, »aber lausche noch einmal! Hörst du nicht etwas Übernatürliches?« Nachdem seine Aufmerksamkeit auf diese Weise erregt war, vernahm er eine sonderbare summende Stimme, die er trotzdem für schön erklärte, und die die Sänger richtig begleitete. Am nächsten Tage stellte er Nachforschungen an. »Es ist ein Geist,« sagte der Prophet mit voller Einfältigkeit, »der in letzter Zeit an unserem Familiengottesdienst teilzunehmen pflegt.« Scheinbar war das Wesen nicht sichtbar, und wie andere Geister, die in diesen Tagen des Verfalls in der Heimat aufstehen, war es gänzlich ungebildet; zuerst konnte es nur summen, und erst in letzter Zeit hatte es gelernt, seine Rolle bei der Musik richtig zu spielen.

Die Veranstaltungen der Pfeifer tragen einen mehr geschäftlichen Charakter. Ihre Versammlungen werden öffentlich bei unverschlossenen Türen abgehalten, alle sind herzlich eingeladen teilzunehmen; die Gläubigen sitzen in einem Raum und singen Hymnen nach einem Bericht, nach einem anderen singen und pfeifen sie abwechselnd; der Führer der Zauberer – vielleicht darf ich sagen, das Medium – sitzt in der Mitte, eingehüllt in ein Laken, und schweigt. Und bald darauf ertönt genau über seinem Kopf oder manchmal von der Mitte des Daches ein Pfeifen aus der Luft, das Unerfahrene in Staunen versetzt. Das, so scheint es, ist die Sprache der Toten, ihre Ausdeutung wird ununterbrochen von einem der Eingeweihten festgehalten, der, wie man mir erzählte, »so schnell wie ein Telegraphist« schreibt, und schließlich werden die Mitteilungen öffentlich bekanntgegeben. Sie sind von verwegenster Trivialität: ein Schoner wird vielleicht angezeigt, irgendeine lächerliche Nachricht über einen Machbar gegeben, oder wenn der Geist im Falle einer Krankheit zur Konsultation gerufen wurde, wird vielleicht ein Heilmittel empfohlen. Eine von diesen Kuren, das Eintauchen in kochend heißes Wasser, erwies sich vor nicht langer Zeit verhängnisvoll für den Patienten. Die ganze Sache ist äußerst langweilig, äußerst töricht und äußerst europäisch. Sie besitzt nichts von den malerischen Qualitäten ähnlicher Beschwörungen auf Neuseeland und scheint nicht die Spur von Sinn zu besitzen, wie manche Gebräuche der Gilbertinsulaner, die ich beschreiben werde. Doch erzählte man mir, daß viele ernsthafte und kluge Eingeborene eingeschworene Pfeifer seien. »Wie Mahinui?« fragte ich, um einen Maßstab zu haben, und man antwortete mir: »Ja.« Warum sollte ich mich wundern? Gebildetere Leute als mein Sträflingkatechet setzen sich in der Heimat nieder zu ähnlich unnützen und langweiligen Torheiten.

Das Medium ist manchmal eine Frau. Eine Frau war es zum Beispiel, die diese Bräuche an der Nordküste von Taiarapu einführte zur Entrüstung ihrer eigenen Verwandten, wobei besonders ihr Schwager erklärte, sie sei betrunken. Aber was in Tahiti unmöglich war, schien für die Paumotus sehr geeignet, zumal gewisse Frauen dort die natürliche Gabe einzigartiger und nützlicher Kräfte besitzen. Man sagt, es handle sich um ehrbare, gutwillige Frauen, die sich manchmal durch das unheimliche Erbe belastet fühlen. Und in der Tat ist die Unbequemlichkeit, die durch diese Gabe verursacht wird, so groß und der Schutz, den man den Frauen gewährt, so unendlich gering, daß ich mich nur zögernd entschließe, sie als Gabe oder als vererbten Fluch zu bezeichnen. Man kann einer solchen Frau den Kokosnußhain rauben, ihre Kanus stehlen, ihr Haus niederbrennen und ihre Familienmitglieder rücksichtslos niedermetzeln: etwas darf man nicht tun, man darf nicht die Hand auf ihre Schlafmatte legen, oder der Leib des Übeltäters schwillt an, und er kann nur durch die Frau selbst oder ihren Mann geheilt werden. Hier ist der Bericht eines Augenzeugen, der ein geborener Tasmanier war, wohlerzogen, ein Mann mit Vermögen, sicherlich kein Narr. Im Jahre 1886 weilte er in einem Hause auf Makatea, wo zwei Knaben auf den Matten Unfug trieben und, wie ich glaube, hinausgeworfen wurden. Bald nachher begannen ihre Bäuche anzuschwellen, Schmerzen überfielen sie, alle möglichen Inselheilmittel wurden vergeblich angewandt, Reiben vermehrte nur ihre Qualen. Der Herr des Hauses wurde gerufen, gab eine Erklärung ab über die Natur der Heimsuchung und bereitete das Heilmittel vor. Eine Kokosnuß wurde geschält, mit Kräutern gefüllt und unter allen Zeremonien eines Stapellaufes und Beschwörungen in paumotuanischer Sprache dem Meere anvertraut. Von diesem Augenblick an wurden die Schmerzen geringer, die Qualen nahmen ab. Der Leser mag staunen. Ich kann ihm versichern, daß er, wenn er sich viel unter den alten Einwohnern des Archipels bewegt hätte, das eine oder das andere zugeben müßte: entweder waren die Bäuche geschwollen, oder das Zeugnis von Menschen ist überhaupt wertlos.

Ich habe keine dieser begnadeten Damen kennengelernt, aber ich habe selbst eine sonderbare Erfahrung gemacht, denn ich habe, allerdings nur für eine Nacht, die Rolle eines pfeifenden Geistes gespielt. Es hatte den ganzen Tag heftig geweht, aber mit hereinbrechender Nacht war der Wind abgeflaut, und der volle Mond segelte am klaren Himmel. Wir gingen südwärts die Insel entlang auf der Seite der Lagune und wanderten durch langgestreckte Palmenwälder auf schneeweißem Sande dahin. Nirgends Leben, nirgends ein Laut, bis wir auf dem bewaldeten Teil der Insel die Glut eines Feuers wahrnahmen und nicht weil davon in einem dunklen Hause Eingeborene leise sprechen hörten. Ohne Licht zu sitzen, selbst in Gesellschaft und unter Dach, ist für einen Paumotuaner ein äußerst kühnes Unterfangen. Die ganze Szene – das starke Mondlicht und die sonderbaren Schatten auf dem Sand, die umhergestreuten Glutreste, der Laut der leisen Stimmen vom Hause her und das Plätschern der Lagune längs der Küste – veranlaßten in mir, ich weiß nicht wie, abergläubische Vorstellungen. Ich war barfuß, ich bemerkte, daß meine Schritte lautlos waren, und als ich mich dem dunklen Hause näherte und dabei mich sorgfältig im Schatten hielt, begann ich zu pfeifen. Es war irgendein Gassenhauer, ein nicht gerade ernstes Lied. Beim ersten Ton stockte die Unterhaltung, jede Bewegung hörte auf, Schweigen begleitete mich, während ich weiterging, und als ich bei meiner Rückkehr denselben Weg nahm, bemerkte ich, daß die Lampe im Hause brannte, die Lippen aber noch immer stumm waren. Die ganze Nacht hindurch, davon bin ich heute überzeugt, zitterten die armen Kerle und schwiegen. Denn ich hatte in der Tat damals keine Ahnung von der Natur und Größe des Schreckens, den ich einjagte, und mit welch furchtbaren Gesichten die Töne jenes alten Liedes das dunkle Haus erfüllt hatten.

Fünftes Kapitel


Ein paumotuanisches Begräbnis

Nein, ich hatte keine Ahnung von den Ängsten dieser Menschen. Aber ich hatte schon früher einen Wink bekommen, ohne ihn zu verstehen, und der Anlaß war ein Begräbnis.

Ein wenig abseits von der Hauptstraße von Rotoava wohnte in einer niedrigen Laubhütte, die auf einen kleinen eingezäunten Platz hinauslief wie ein Schweinestall auf den Auslauf, ein alter Mann einsam mit seiner bejahrten Frau. Vielleicht waren sie zu alt, um mit den anderen auszuziehen, vielleicht waren sie auch zu arm und hatten keine Besitztümer zu verteidigen. Jedenfalls waren sie daheim geblieben, und so kam es, daß sie zu meinem Fest eingeladen wurden. Ich kann wohl sagen, daß es sich wirklich um einen fast politischen Entschluß handelte in dem Schweinestall, ob sie kommen oder nicht kommen sollten. Und der Gatte schwankte lange zwischen Neugier und Altersschwäche, bis die Neugier siegte und sie kamen, und inmitten dieser letzten Freude berührte der Tod seine Schulter. Einige Tage lang wurde seine Matte unter dem heiteren Himmel und dem kühlen Wind auf der Landstraße des Dorfes ausgebreitet, und man sah ihn dort, nur noch der Schatten eines Menschen, untätig liegen, während sein Weib untätig zu seinen Häupten saß. Sie schienen alle menschlichen Nöte und Fähigkeiten vergessen zu haben, sie sprachen und hörten nicht, sie ließen uns vorübergehen, ohne aufzublicken, die Frau bewegte den Fächer nicht und schien ihrem Mann nicht aufzuwarten, die beiden armen Alten saßen nebeneinander unter dem hohen Baldachin der Palmen wie die in ihre Urelemente aufgelöste menschliche Tragödie, von allem Pathos entblößt, lebhafte Neugier erregend. Und doch verfolgte mich der Gedanke an das Pathetische einer Tatsache: daß noch soviel Jugend und Erwartungsfreude in diesen abgestorbenen Adern gelebt halte, und daß der Wann den ganzen Rest seiner Lebenskraft an eine Vergnügung verschwendet hatte.

Am Morgen des siebzehnten September starb der Dulder, und da die Zeit drängte, wurde er am gleichen Tage um vier Uhr beerdigt. Der Friedhof liegt seewärts hinter dem Regierungsgebäude. Zerbrochene Koralle bedeckt die Oberfläche wie Straßenkies, ein paar Holzkreuze und ein paar unansehnliche, aufgerichtete Steine bezeichnen die Gräber, eine zementierte Mauer, hoch genug, um sich darauf stützen zu können, schließt den Platz ein, und dichtes Gesträuch umgibt ihn mit blassen Blättern. Hier war am Morgen das Grab gegraben, ohne Zweifel von griesgrämigen Totengräbern, beim Rauschen der nahen See und unter dem Geschrei der Meeresvögel. Inzwischen wartete der tote Mann in seinem Hause, und die Witwe und eine andere alte Frau lehnten am Zaun vor der Tür, ohne Worte auf den Lippen, ohne Empfindung in den Augen.

Pünktlich zur festgesetzten Stunde trat die Prozession den Weg an, der Sarg war mit weißen Tüchern bedeckt und wurde von vier Leuten getragen; die Leidtragenden gingen hinterher – nicht viele, denn nicht viele waren in Rotoava geblieben – und nicht viele in Schwarz, denn sie waren arm; die Männer in Strohhüten, weißen Röcken und blauen Hosen oder dem prächtigen, teilweise farbigen Pariu, dem tahitischen Gewande, ähnlich dem schottischen Kilt; die Frauen mit wenigen Ausnahmen in leuchtende Gewänder gekleidet. Ganz im Hintergrunde kam die Witwe, traurig des toten Mannes Matte tragend, ein übermenschlich bejahrtes Geschöpf, irgendeinem » missing link« ähnlich.

Der Tote war Mormone gewesen, aber der mormonische Geistliche war mit den übrigen fortgezogen, um sich auf der benachbarten Insel über Grenzfestsetzungen zu streiten, und ein Laie übernahm sein Amt. Er stand am Kopfende des offenen Grabes in weißem Rock und blauem Pariu, seine tahitische Bibel in der Hand, ein Auge mit einem roten Taschentuch verbunden, und las feierlich jenes Kapitel aus Hiob, das man lesen hörte bei den Gebeinen so vieler Vorfahren, und sandte mit wohllautender Stimme zwei Gebete zum Himmel. Der Wind und die Brandung sangen ihr Lied dazu. Am Friedhofstore nährte eine Mutter in rotem Gewande ihr Kind, das in blaue Tücher gewickelt war. In der Mitte saß die Witwe auf dem Boden und polierte mit einem Stück Koralle eine Tragstange des Sarges; ein wenig später drehte sie dem Grabe den Rücken und spielte mit einem Blatt. Verstand sie das alles? Gott allein weiß es. Der stellvertretende Geistliche machte eine Pause, starrte vor sich hin, nahm dann ehrfurchtsvoll eine Handvoll Koralle und warf sie klirrend auf den Sarg. Staub zu Staub; aber die Staubkörner waren dick wie Kirschen, und der wirkliche Staub, der bald nachfolgen sollte, saß in der Nähe, noch zusammengefügt wie durch ein Wunder zum tragischen Ebenbild eines weiblichen Affen. Soweit war es ein christliches Begräbnis, ob der Tote nun Mormone war oder nicht. Die bekannte Stelle aus Hiob war vorgelesen, die Gebete waren gesprochen, das Grab zugeschaufelt, die Leidtragenden strebten heimwärts. Das Korn der deckenden Erde war etwas gröber, der Schrei der See ein wenig näher, der Glanz des Sonnenlichtes lag ein wenig starker auf der rohen Einfriedigung des Kirchhofes, und die Farben der Gewänder stimmten nicht ganz, aber sonst waren wohlbekannte Formen beobachtet worden.

Von Rechts wegen hätte es anders sein sollen, die Matte hätte mit dem Eigentümer beerdigt werden müssen, aber da die Familie arm war, wurde sie sparsam für frischen Gebrauch aufbewahrt. Die Witwe mußte sich eigentlich über das Grab werfen und die Stimme zur öffentlichen Trauerklage erheben, die Nachbarn einstimmen und die schmale Insel eine Zeitlang von Jammergeschrei widerhallen. Aber die Witwe war alt, vielleicht hatte sie es vergessen, vielleicht niemals verstanden, und sie spielte wie ein Kind mit Blättern an der Bahre. Mein Gast wurde auf alle Fälle unter Verletzung aller Gebräuche beerdigt. Sonderbar der Gedanke, daß seine letzte bewußte Freude die »Casco« und mein Gastmahl waren, sonderbar der Gedanke, daß er doch hingehinkt war, ein altes Kind, um nach neuen guten Dingen auszuschauen. Das Gute, die Ruhe, war ihm zuteil geworden.

Aber obgleich die Witwe vieles vernachlässigt hatte, so gab es doch eine Rolle, die sie nicht gänzlich außer acht lassen durfte. Sie ging fort mit den übrigen Leidtragenden, aber die Matte des toten Mannes war auf dem Grabe geblieben, und ich erfuhr, daß die Frau bei Sonnenuntergang zurückkehren mußte, um dort zu schlafen. Diese Nachtwache ist strengste Vorschrift. Von Sonnenuntergang bis zum Aufgang des Morgensternes muß der Paumotuaner Wache halten über der Asche eines Verwandten. Viele Freunde leisten den Wächtern Gesellschaft, wenn der Tote ein angesehener Mann war; sie werden mit Decken gegen die Unbilden des Wetters gut versorgt, ich glaube, man bringt ihnen Essen, und der Brauch wird zwei Wochen streng durchgeführt. Unsere arme Überlebende, wenn sie überhaupt noch wirklich lebte, besaß wenig Decken, und wenige waren, die mit ihr wachten. In der Nacht, die dem Begräbnis folgte, jagte ein starker Sturm sie vom Wachtplatz fort, tagelang blieb das Wetter unsicher und windig, und ehe sieben Nächte verstrichen waren, hatte sie es aufgegeben und kehrte zum Schlaf unter ihrem niedrigen Dache zurück. Daß sie sich die Mühe machte, zu so kurzem Aufenthalt in ihr einsames Haus zurückzukehren, daß sie, die am Rande des Grabes stand, ein wenig Wind und eine nasse Decke fürchtete, erfüllte mich damals mit Nachdenken. Ich konnte nicht behaupten, daß sie gleichgültig war, sie war mir an Erfahrungen so überlegen, daß meine Kritik kein Urteil wagte, aber ich erfand Entschuldigungen und sagt? mir, daß sie vielleicht wenig zu beklagen, vielleicht viel gelitten und vielleicht nichts begriffen habe. Und doch war es anders! Bei der ganzen Angelegenheit handelte es sich überhaupt nicht um Zärtlichkeit oder Anhänglichkeit, und die hartherzige Rückkehr des alten Weibes zu ihrem Hause war das Zeichen einer ungewöhnlichen Kraft.

Etwas hatte sich ereignet, das mich auf eine Spur brachte. Ich habe gesagt, daß das Begräbnis beinahe wie in der Heimat verlief. Aber als alles vorüber war und wir in rücksichtsvollem Schweigen von der Friedhofspforte den Pfad entlang schritten zum Dorf, wurden wir plötzlich von dem Ausbruch eines ganz verschiedenen Geistes überrumpelt und beinahe in Schrecken versetzt. Zwei Menschen gingen nicht weit Von uns entfernt in dem Zuge: mein Freund M. Donat, Donat-Rimarau, »Donat der Vielhändige«, der stellvertretende Vizeresident und augenblickliche Beherrscher des Archipels, bei weitem der wichtigste Mann im weiten Umkreise, aber im übrigen bekannt als unerschütterlich gutmütig, und eine gewisse hübsche, gut gebaute junge Paumotuanerin, die hübscheste der Insel, aber, wie wir hoffen wollen, nicht die edelste oder höflichste. Plötzlich, bevor noch die Totenstille des Begräbnisses gebrochen war, sprang sie auf den Residenten zu mit vorgestrecktem Finger, schrie ein paar Worte und rannte wieder zurück mit einem Lachen, das nicht natürliche Heiterkeit war. »Was sagte sie zu Ihnen?« fragte ich. »Sie sagte nichts zu mir,« sagte Donat etwas verwirrt, »sie sprach zum Geist des toten Mannes.« Und der Inhalt jenes Ausrufes war dieser: »Sieh dort! Donat ist ein fetter Bissen für dich heute abend!«

»M. Donat nannte es einen Scherz,« schrieb ich damals in mein Tagebuch, »mir schien es eher eine Art Beschwörung zu sein, die aus Furcht entstand, als wolle sie die Aufmerksamkeit des Geistes von sich ablenken. Menschenfresser mögen Wohl kannibalische Gespenster besitzen.« Die Vermutungen eines Reisenden scheinen von vornherein dazu verurteilt, falsch zu sein, aber in diesem Punkte hatte ich durchaus recht. Die Frau hatte mit Grauen dem Begräbnis beigewohnt, auf dem Friedhof, einem Ort des Schreckens. Sie blickte mit Grauen der kommenden Nacht entgegen, da dieses Schreckgespenst, ein neuer Geist, sich auf der Insel herumtrieb, lind die Worte, die sie Donat ins Gesicht geschrien hatte, waren in der Tat eine schreckhafte Verschwörung, um sich feige zu schützen und den andern feige auszuliefern. Etwas kann man zu ihrer Entschuldigung anführen. Ohne Zweifel wählte sie Donat einerseits, weil er ein Mann von großer Gutmütigkeit war, aber andererseits auch, weil er ein Halbblut war. Denn ich glaube, daß alle Eingeborenen weißes Blut als eine Art Talisman gegen die Mächte der Hölle ansehen. Auf keine andere Weise können sie sich die ungestrafte Unerschrockenheit der Europäer erklären.

Sechstes Kapitel


Friedhofgeschichten

Mit meinem abergläubischen Freund, dem Insulaner, verfahre ich, wie ich fürchte, nicht ganz einwandfrei, da ich ihm oft mit meinen eigenen Erzählungen den Weg weise und immer ein ernster und oft erregter Zuhörer bin. Aber der Betrug ist kaum sehr schwerwiegend, da ich ebenso begierig bin zuzuhören wie er zu erzählen, und da mir die Geschichten ebensosehr gefallen wie ihm sein Glaube. Und außerdem ist die Methode durchaus zweckmäßig, denn es ist kaum möglich, das gewaltige Ausmaß des Aberglaubens zu übertreiben, der sein Leben beherrscht und abfärbt auf das Denken. Wenn der Insulaner nicht von Geistern, Göttern und Teufeln zu mir redet, so verstellt er sich und spricht nur mit den Lippen. Bei einer so verschiedenartigen Ideenwelt muß man sich aufeinander einstellen, und ich ziehe es vor, seinem Aberglauben entgegenzukommen, statt von ihm Rücksicht auf meinen Unglauben zu fordern. Auch muß ich mir einer Tatsache immer gewiß sein: ich mag soviel Vorsicht üben, wie ich will, ich werde nie alles hören, denn er ist bereits auf der Hut vor mir, und der Umfang seines Aberglaubens ist grenzenlos.

Ich will nur ein paar Beispiele herausgreifen, hauptsächlich aus meiner eigenen nächsten Umgebung in Upolu während des verflossenen Monats (Oktober 1890). Einer meiner Arbeiter wurde neulich zur Bananenpflanzung geschickt, um dort zu graben. Es ist eine Felsschlucht, in Wäldern vergraben, völlig außer Seh- und Hörweite aller Menschen, und lange vor Dunkelheit war Lafaele wieder zurück beim Küchenhaus mit verwirrten Mienen; er wagte nicht länger allein zu bleiben, er fürchtete sich vor den Geistern im Busch. Es scheint, es sind die Seelen der unbegrabenen Toten, die sich dort herumtreiben, wo sie gefallen sind, und die Gestalten von Waldgetier annehmen, von Schweinen, Vögeln oder Insekten. Der Busch ist voll von ihnen, sie scheinen nichts zu essen, aber trotzdem anscheinend einsame Wanderer zu erschlagen und von Zeit zu Zeit in menschlicher Gestalt die Dörfer zu besuchen und sich unerkannt unter die Einwohner zu mischen. Soviel erfuhr ich ein oder zwei Tage später, als ich mit einem sehr intelligenten jungen Eingeborenen im Busch spazierenging. Es war ein wenig vor zwölf Uhr mittags, ein grauer und stürmischer Tag, und vielleicht hatte ich leichtsinnig geredet. Eine dunkle Wetterwolke barst am Gebirgsabhang, die Bäume ächzten und stöhnten, das welke Laub erhob sich in Wolken vom Boden wie Schmetterlinge, und mein Begleiter stand plötzlich vollkommen still. Er fürchtete sich, wie er sagte, daß die Bäume umfielen, aber sobald ich das Thema des Gesprächs gewechselt hatte, schritt er heiter fürbaß. Einige Tage zuvor kam ein Bote mit einem Brief den Berg hinauf von Apia, ich war im Busch, er mußte meine Rückkehr abwarten und dann verweilen, bis ich die Antwort aufgesetzt hatte. Bevor ich jedoch fertig war, erhob er schrill seine Stimme, voll Schreck vor dem Einbruch der Nacht und dem langen Weg durch den Wald. Das sind einfache Leute. Wie steht es mit den Häuptlingen? Ein großes Auftauchen und Verschwinden von Zeichen und Vorbedeutungen geschah auf unserer Inselgruppe. In einem Fluß wurde das Wasser zu Blut, rote Igel wurden in einem anderen gefangen, ein unbekannter Fisch wurde an die Küste geworfen, der ein geheimnisvolles Wort auf den Schuppen trug. Soweit könnte man glauben, in einer Mönchschronik zu lesen, aber jetzt kommen wir zu einer besonderen Note, die zugleich modern und polynesisch ist. Die Götter von Upolu und Savaii, unseren beiden Hauptinseln, maßen sich vor einiger Zeit im Kricket. Seit jener Zeit befinden sie sich im Kriegszustand. Schlachtenlärm hört man die Küste entlang rollen. Eine Frau sah einen Mann von der hohen See herüberschwimmen und sofort im Busch verschwinden, es war niemand aus der Nachbarschaft, und es war bekannt, daß es einer der Götter war, der zum Kriegsrat eilte. Das Bemerkenswerteste aber von allem: Ein Missionar auf Savaii, der zugleich Medizinmann ist, wurde spät nachts durch Klopfen gestört. Es war nicht die Zeit für ärztliche Behandlungen, aber schließlich weckte er seinen Diener und beauftragte ihn nachzusehen. Der Diener schaute durch ein Fenster und sah eine Menge Personen, alle mit schweren Wunden, zerstückelten Gliedmaßen, gespaltenen Schädeln und blutenden Schußwunden, aber als die Tür geöffnet wurde, waren sie alle verschwunden. Es waren Götter vom Schlachtfeld. Nun haben diese Berichte sicher eine Bedeutung, und es ist nicht schwer, sie auf politisch Unzufriedene zurückzuführen oder in ihnen eine Drohung mit zukünftigen Unruhen zu sehen. So menschlich betrachtet, fand ich sie selbst schwerwiegend genug als Vorzeichen. Aber gerade ihre Bedeutung als Geistererscheinungen wurde in den geheimen Ratsversammlungen meiner Eingeborenenherrscher diskutiert. Ich kann diesen Zwiespalt des polynesischen Geistes am besten durch zwei miteinander verbundene Vorkommnisse schildern. Einst lebte ich in einem Dorf, dessen Namen ich nicht die Absicht habe zu nennen. Der Häuptling und seine Schwester waren sehr kluge Leute, vornehm und redegewandt. Die Schwester war sehr religiös, ging oft zur Kirche und pflegte mir Vorwürfe zu machen, wenn ich fortblieb. Später stellte ich fest, daß sie heimlich einen Haifisch verehrte. Der Häuptling selbst hatte etwas von einem Freidenker, jedenfalls war er ein weitherziger Mann und besaß außerdem europäische Bildung und Kultur. Er war ein lebhaft ironisierender Geist, und ich würde ihm ebensowenig Aberglauben zugetraut haben wie Herbert Spencer. Aber nun höre man das Folgende: Ich hatte durch sichere Anzeichen beobachtet, daß die Leute ihre Toten zuwenig tief auf dem Dorffriedhof bestatteten, und ich stellte das meinem Freunde als der verantwortlichen Autorität vor. »Es ist irgend etwas nicht in Ordnung mit eurem Friedhof,« sagte ich, »ihr müßt darauf achten, sonst kann es sehr böse Folgen haben.« – »Irgend etwas nicht in Ordnung? Was ist das?« fragte er mit einer Erregung, die mich überraschte. »Wenn du eines Abends ungefähr um neun Uhr vorbeigehst, wirst du es selbst bemerken«, sagte ich. Er wich zurück. »Ein Geist!« rief er aus.

Kurzum, im ganzen Gebiet der Südsee hat einer dem anderen nichts vorzuwerfen. Halbblut und Vollblut, fromm oder lasterhaft, klug oder dumm, alle Menschen glauben an Geister, alle verbinden mit ihrem jungen Christentum die Furcht vor den alten Inselgottheiten und einen unauslöschlichen Glauben an sie. So verkleinerten sich in Europa die Götter des Olymps schließlich zu Dorfgespenstern, so stiehlt sich der kirchliche Hochländer unter den Augen der göttlichen freien Kirche fort, um an einer heiligen Quelle ein Opfer niederzulegen.

Ich versuche die ganze Angelegenheit hier zu behandeln wegen einer besonderen Eigenart des paumotuanischen Aberglaubens. Wahr ist, daß mir diese Geschichten berichtet wurden von einem Manne mit genialem Erzählertalent. Versammelt um unsere abendliche Lampe, hörten wir seinen erregenden Worten zu, während die Inselbrandung herüberdröhnte; der Leser in ganz anderen Breiten muß dem schwachen Echo aufmerksam lauschen.

Dieser Strauß sonderbarer Geschichten geht zurück auf das Begräbnis und den selbstsüchtigen Beschwörungsschrei jenes Weibes. Ich war unzufrieden mit dem, was ich vernommen hatte, versteifte mich auf Fragen und fand schließlich diese wertvolle Quelle. Von Sonnenuntergang bis ungefähr vier Uhr früh sitzen die Verwandten auf dem Grabe, und das sind die Stunden der Geisterwanderungen. Zu irgendeiner Zeit der Nacht, später oder früher, hört man ein Geräusch in der Tiefe, das die Befreiung anzeigt; genau um vier Uhr verkündet ein zweites und heftigeres Geräusch den Augenblick der Wiedereinkerkerung, in der Zwischenzeit macht der Geist seine verhängnisvolle Runde. »Hast du jemals einen bösen Geist gesehen?« fragte man einst einen Paumotuaner. »Einmal.« – »In welcher Gestalt?« – »In der Gestalt eines Kranichs.« – »Und woher wußtest du, daß der Kranich ein Geist sei?« fragte man. »Das will ich erzählen«, antwortete er, und dieses ist der Inhalt seines nicht gerade überzeugenden Berichtes: Sein Vater war ungefähr vierzehn Tage tot, die anderen waren der Nachtwache überdrüssig geworden, und als die Sonne unterging, fand er sich beim Grabe allein. Es war noch nicht dunkel, sondern die Stunde der letzten Dämmerung, als er einen schneeweißen Kranich auf der Korallenmauer wahrnahm. Bald darauf kamen mehrere Kraniche, einige weiße und einige schwarze. Dann verschwanden die Kraniche, und er sah an ihrem Platz eine weiße Katze, der sich schweigend eine große Anzahl Katzen aller nur möglichen Farben zugesellte. Dann verschwanden diese auch, und er blieb verwundert zurück.

Dies war eine tröstliche Erscheinung. Man höre aber nun die Geschichte von Rua-a-mariterangi auf der Insel Katiu. Er brauchte etwas Pandanus und ging über die Insel zum Strand der offenen See, wo sie hauptsächlich wächst. Der Tag war still, und Rua war überrascht, im Waldesdickicht krachende Geräusche und darauf den Sturz eines großen Baumes zu hören. Hier mußte jemand ein Kanu bauen, und er trat in den Waldessaum ein, um den zufälligen Nachbar aufzusuchen und mit ihm den Tag zu verbringen. Das Krachen ertönte näherbei, und dann beobachtete er, wie etwas rasch auf ihn zukam unter den Baumwipfeln. Es schwang sich vorwärts, indem es sich mit den Füßen festklammerte wie ein Affe, so daß die Hände für eine Mordtat frei waren. Es wurde von den winzigsten Ästen sicher getragen, es kam unglaublich schnell heran, und bald erkannte Rua, daß es ein durch Alter furchtbar entstellter Leichnam war, dessen Eingeweide heraushingen. Das Gebet ist die Waffe des Christen im Schatten des Todes, und dem Gebet schreibt Rua-amariterangi seine Rettung zu. Kein rein menschliches Mittel hätte ihm helfen können.

Dieser Dämon stammte sicher aus dem Grabe, aber es ist zu beachten, daß er am Tage unterwegs war. Und sowenig das in Einklang zu bringen ist mit den Stunden der Nachtwache und den vielen Hinweisen auf den Aufgang des Morgensterns, so ist es doch keine alleinstehende Ausnahme. Ich habe niemals wieder jemand getroffen, der diesen Geist, der am Tage und in den Bäumen umging, gesehen hätte, aber andere hatten den Sturz des Baumes gehört, der das Zeichen seines Kommens ist. M. Donat war einmal bei der Perlenfischerei auf der unbewohnten Insel Haraiki. Es war ein Tag ohne Windhauch, wie sie im Archipel abwechseln mit stürmischen Brisen. Die Taucher waren in der Mitte der Lagune bei ihrer Beschäftigung, der Koch, ein Junge von zehn Jahren, war bei seinen Töpfen auf dem Felde, so waren alle beschäftigt mit Ausnahme eines einzigen Eingeborenen, der Donat in den Wald begleitete, um Seevogeleier zu suchen. Plötzlich drang aus der Stille das Geräusch eines fallenden Baumes. Donat wollte weitergehen, um die Ursache festzustellen. »Nein!« rief sein Begleiter aus, »das ist kein Baum. Es war etwas nicht in Ordnung. Laßt uns zum Lager zurückkehren.« Am nächsten Sonntag wurden die Taucher beauftragt, jenen ganzen Inselabschnitt gründlich zu durchsuchen, und es stellte sich mit Sicherheit heraus, daß kein Baum umgestürzt war. Etwas später sah M. Donat einen seiner Taucher vor einem ähnlichen Geräusch fliehen, in ebenso echter Angst auf derselben Insel. Aber niemand wollte eine Erklärung abgeben, und erst später, als er Rua traf, lernte er den Grund ihres Schreckens kennen.

Aber ob bei Tage oder bei Nacht: das Ziel der Toten, das sie in ihrer furchtbaren Betriebsamkeit verfolgen, ist immer dasselbe. Auf Samoa hatte mein Gewährsmann keine Vorstellung von der Nahrung der Waldgeister; eine solche Unklarheit herrschte im Geist der Paumotuaner nicht. In diesem dürftigen Archipel müssen Lebende und Tote gleicherweise um ihre Nahrung kämpfen, und während die Lebenden in der Vergangenheit Kannibalen waren, sind es die Geister noch jetzt. Da die Lebenden die Toten aßen, schufen nächtliche Schreckensvorstellungen den entsetzlichen Gedanken, daß die Toten die Lebenden äßen. Zweifellos erschlagen sie Menschen, zweifellos verstümmeln sie sie sogar aus lauter Bosheit. Marquesanische Geister reißen den Reisenden manchmal die Augen aus, aber auch das mag praktischer sein, als es erscheint, denn das Auge ist eine kannibalische Delikatesse. Und sicher ist die Hauptbeschäftigung der Toten, wenigstens auf den östlichsten Inseln, die Nahrungssuche. Als besonderen Leckerbissen für eine Mahlzeit verschrie das Weib bei der Beerdigung Mr. Donat. Es gibt außerdem Geister, die nicht die Körper, sondern besonders die Seelen der Toten rauben. Das geht klar hervor aus einer tahitischen Erzählung. Ein Kind wurde krank, sein Zustand verschlimmerte sich rasch, und schließlich traten Anzeichen des Todes ein. Die Mutter eilte zum Hause eines Zauberers, der in der Nähe wohnte. »Es ist gerade noch Zeit,« sagte er, »ein Geist ist soeben an meiner Tür vorübergelaufen, der die Seele deines Kindes in einem Puraoblatt eingewickelt forttrug, aber ich habe einen stärkeren und schnelleren Geist, der ihn erreichen wird, bevor er Zeit hat, sie zu verzehren.« Eingewickelt in ein Blatt: genau wie andere eßbare Dinge, die leicht verderben.

Oder man vernehme ein Erlebnis von M. Donat auf der Insel Anaa. Es war eine sehr windige Nacht mit heftigen Regengüssen, sein Kind war sehr krank, und der Vater lag wach, obgleich er zu Bett gegangen war, und lauschte auf den Sturm. Plötzlich wurde ein Huhn heftig gegen die Hauswand geschleudert. In der Annahme, er habe vergessen, das Tier mit den übrigen in den Stall zu sperren, stand Donat auf, fand das Tier (einen Hahn) auf der Veranda liegen und setzte es in den Hühnerstall, worauf er die Tür sorgfältig verschloß. Fünfzehn Minuten später geschah das gleiche, nur krähte der Hahn, als er gegen die Wand geschleudert wurde. Wieder brachte Donat das Tier zurück, sah den Hühnerstall gründlich nach und fand ihn vollkommen in Ordnung. Inzwischen blies der Wind sein Licht aus, und er mußte sich heftig erschrocken zur Tür zurücktasten. Noch ein drittes Mal wurde der Hahn gegen die Wand geschleudert, ein drittes Mal brachte Donat das jetzt halbtote Tier in den Hühnerstall zurück, und als er eben wieder im Hause war, stürmte etwas wie ein wütender starker Mann gegen die Tür, und ein Pfeifen so laut wie das einer Lokomotive ertönte rund um das Haus. Der skeptische Leser wird hinter allem den Sturm als Ursache vermuten, aber die Frauen gaben alles verloren und klammerten sich wehklagend an die Betten. Nichts erfolgte, und ich muß annehmen, daß der Wind sich etwas legte, denn gleich darauf erschien ein Häuptling zu Besuch. Es war tapfer von dem Manne, so spät unterwegs zu sein, aber ohne Zweifel trug er eine helle Laterne. Und er war sicher ein kluger Mann, denn sobald er die Einzelheiten der Störungen gehört hatte, war er imstande, ihre Natur zu erklären. »Dein Kind«, sagte er, »muß bestimmt sterben. Das ist der böse Geist unserer Insel, der darauf wartet, die Seelen der soeben Verstorbenen zu verzehren.« Und dann verwunderte er sich über das sonderbare Benehmen des Geistes. Er gehe gewöhnlich nicht, erklärte er, so offen zum Angriff über, sondern sitze schweigend auf dem Dach des Hauses und warte in der Gestalt eines Vogels, während drinnen die Leute den Sterbenden betreuten, den Toten beweinten und nicht an Gefahr dächten. Aber wenn der Tag komme, die Türen geöffnet würden und die Menschen hinausgingen, verrieten Blutspuren an der Wand die Tragödie.

Ich bewundere diese Art der paumotuanischen Legenden. Auf Tahiti sollen die Kannibalengeister Gestalten annehmen, die zwar viel prächtiger, aber viel weniger schrecklich sind. Alle möglichen Menschen haben sie gesehen, Eingeborene und Fremde, nur behaupten die letzteren, es handle sich um Meteore. Mein Gewährsmann war nicht ganz so sicher. Er ritt mit seiner Frau um ungefähr zwei Uhr morgens, beide schliefen fast, und den Pferden erging es nicht besser. Es war eine helle und stille Nacht, und der Weg ging in Windungen über einen Berg, nahe an einem verfallenen Marae, einem alten tahitischen Tempel vorbei. Plötzlich ging eine Erscheinung über sie hinweg in Form von Licht, das Haupt rund und grünlich, der Körper lang und rot, mit einem Brennpunkt von noch grellerem und leuchtenderem Rot ungefähr in der Mitte. Ein pfeifendes Sausen ertönte, als sie vorüberzog, sie kam direkt aus einem Marae und flog direkt auf einen anderen am Abhange des Berges zu. Und das hat seine Bedeutung, wie mein Gewährsmann behauptete. Denn warum sollte ein bloßer Meteor die Altäre verabscheuungswürdiger Götter besuchen? Die Pferde waren, wie ich glaube, ebenso aufgeregt wie die Reiter. Ich selbst jedoch bin durchaus nicht erregt, nicht einmal angenehm. Man lasse mir lieber den Hahn auf dem Dache des Hauses und die Blutspuren morgens an der Wand.

Aber die Toten sind nicht wählerisch in ihrer Nahrung, sie nehmen insbesondere die polynesische Vorliebe für Fisch mit ins Grab und schließen bisweilen Verträge mit den Lebenden über die Fischbeute. Wieder ist Rua-a-mariterangi mein Gewährsmann. Ich fühle, daß es das Gewicht der Tatsachen mindert, aber dafür charakterisiert es um so mehr diesen unverbesserlichen Geisterseher. Er stammt von der jämmerlich armen Insel Taenga, aber seines Vaters Haus war immer gut bestellt. Als Rua heranwuchs, befahl man ihm schließlich, mit seinem glücklichen Vater zum Fischen zu gehen. Sie ruderten in die Lagune hinaus zur Zeit der Abenddämmerung, und zwar zu den abgelegensten Plätzen. Der Knabe kauerte sich im Boot nieder, der Vater begann vergebens die Angelschnur über Bord zu werfen. Man darf annehmen, daß Rua einschlief, und als er aufwachte, sah er die Gestalt eines anderen Wesens neben seinem Vater, und der Vater zog die Fische haufenweise ins Boot. »Wer ist dieser Mann, Vater?« fragte Rua. »Das geht dich nichts an«, sagte der Vater. Und Rua nahm an, daß der Fremde von der Küste zu ihnen herübergeschwommen sei. Viele Nächte fuhren sie in die Lagune hinaus, oft zu den unmöglichsten Plätzen, und immer sah man plötzlich den Fremden an Bord, der ebenso plötzlich verschwand. Jeden Morgen kehrte das Kanu mit Fischen beladen zurück. »Mein Vater ist ein sehr glücklicher Mann«, dachte Rua. Schließlich, an einem schönen Tage, kam zuerst eine Bootpartie und dann eine andere, die man bewirten mußte, und der Vater mit dem Sohn fuhr später in die Lagune hinaus. Bevor das Kanu an seine Stelle kam, war es bereits vier Uhr, und der Morgenstern stand nahe unter dem Horizont. Da erschien der Fremde, von irgendeinem Kummer niedergedrückt, wandte sich um, zeigte zum erstenmal sein Gesicht, das Antlitz eines Mannes, der vor langer Zeit gestorben ist, mit leuchtenden Augen, starrte zum Osten, legte die Fingerspitzen an den Mund wie jemand, der friert, gab einen sonderbaren, fröstelnden Laut von sich, wie ein Pfeifen oder ein Stöhnen, der das Blut erschauern ließ, und da soeben der Morgenstern aus der See aufstieg, war er plötzlich verschwunden. Da verstand Rua, warum es seinem Vater so gut ging, warum seine Fische früh am Tage faulten, und warum stets einige zum Friedhof getragen und auf die Gräber gelegt wurden. Mein Gewährsmann ist dem Aberglauben sicher nicht abgeneigt, aber er ist klug und nimmt ein höheres Interesse an diesen Dingen, das ich wissenschaftlich nennen möchte. Der letzte Punkt erinnerte ihn an eine ähnliche Sitte auf Tahiti, und er fragte Rua, ob die Fische auf dem Grabe gelassen oder nach einer formalen Schenkung wieder mit nach Hause genommen würden. Es scheint, daß der alte Mariterangi beide Methoden ausübte, manchmal bot er seinem Freund aus dem Schattenreich nur etwas an, ein anderes Mal ließ er den Fisch ehrlich auf dem Grabe verfaulen.

Wir haben ohne Zweifel Erzählungen ähnlicher Art, und der polynesische »varua ino« oder »aitu o le vao« ist offenbar ein naher Verwandter des transsylvanischen Vampirs. Hier folgt eine Erzählung, in der die Verwandtschaft in groben Zügen erkennbar ist. Auf dem Atoll Penrhyn, damals noch teilweise von Wilden bewohnt, war ein gewisser Häuptling lange der heilsame Schrecken der Eingeborenen. Er starb und wurde beerdigt, und kaum hatten seine ehemaligen Nachbarn die Annehmlichkeiten der Freiheit gekostet, als der Geist im Dorf erschien. Furcht ergriff alle, eine Ratsversammlung der Anführer und Zauberer wurde veranstaltet, und unter Zustimmung des Missionars Rarotongan, der sich ebenso fürchtete wie die übrigen, und in Gegenwart mehrerer Weißer – mein Freund Mr. Ben Hird war unter ihnen – wurde das Grab geöffnet, tiefer ausgeschachtet, bis das Wasser kam, und der Leichnam wieder eingegraben mit dem Gesicht nach unten. Das Pfählen der Selbstmörder in England, das bis vor kurzem Sitte war, sowie das Köpfen der Vampire im Osten Europas sind eng verwandte Erscheinungen.

Auf Samoa erwecken nur die Geister der Unbeerdigten Furcht. Während des letzten Krieges fielen im Busch viele Menschen, ihre Körper, manchmal ohne Kopf, wurden von eingeborenen Hirten zurückgebracht und beerdigt, aber das war, ohne daß ich den Grund wüßte, nicht hinreichend, und der Geist trieb sich noch am Ort des Todes herum. Als der Friede zurückkehrte, veranstaltete man an vielen Plätzen eine eigenartige Zeremonie, und besonders an den hochgelegenen Schluchten von Lotoanuu, wo lange der Mittelpunkt des Kampfes und die Verluste schwer gewesen waren. Die Frauen aus der Verwandtschaft der Toten trugen Matten oder Decken herbei, unter der Hut von überlebenden Mitkämpfern. Der Sterbeplatz wurde sorgfältig gesucht, die Decke auf dem Boden ausgebreitet, und die Frauen saßen in frommer Furcht und beobachteten sie. Wenn irgendein Lebewesen erschien, wurde es zweimal fortgejagt; beim drittenmal erkannte man in ihm den Geist des Toten, es wurde eingewickelt nach Hause getragen und neben dem Leichnam beerdigt: der Aitu hatte Ruhe. Die Zeremonie wurde ohne Zweifel in frommer Einfältigkeit ausgeübt, die Ruhe der Seele war ihr Ziel, ihr Beweggrund ehrfürchtige Liebe. Der gegenwärtige König will in der Tat nichts von gefährlichen Aitus wissen, er erklärt, die Seelen der Unbestatteten wanderten nur in der Vorhölle umher, da sie den Eingang zum eigentlichen Land der Toten nicht fänden, sie seien unglücklich, aber keineswegs boshaft. Und diese Meinung, streng auf eine Klasse beschränkt, stellt ohne Zweifel die Ansicht der Gebildeten dar. Aber die Flucht meines Lafaele kennzeichnet die ungeheuren Furchtzustände der Ungebildeten.

Dieser Glaube an die geisterscheuchende Kraft der Beerdigungszeremonien erklärt wahrscheinlich eine Tatsache, die sonst sehr erstaunlich wäre: daß nämlich kein Polynesier unsere europäische Furcht vor menschlichen Gebeinen und Mumien irgendwie teilt. Von Anfang an waren sie ihre schönsten Schmuckgegenstände, sie bewahrten sie in Häusern oder Begräbnishöhlen auf, und die Wächter königlicher Gräber wohnten mit ihren Kindern inmitten der Gebeine von Generationen. Auch die Mumie wurde selbst während der Herrichtung wenig gefürchtet. Auf den Marquesas wurde sie in den Küstendörfern von den Familienmitgliedern unter beständiger Salbung und Sonnenbestrahlung hergerichtet; auf den Karolinen, im äußersten Westen, wird sie im Rauch des Familienherdes getrocknet. Außerdem ist die Kopfjägern noch üblich dicht bei meiner Wohnung auf Samoa. Und vor knapp zehn Jahren mußten die Witwen auf den Gilbertinseln das Haupt ihres toten Gatten wieder ausgraben, reinigen, polieren und dann Tag und Nacht mit sich herumtragen. In allen diesen Fällen dürfen wir annehmen, daß der Prozeß des Reinigens oder Trocknens den Aitu völlig vertrieben hat.

Aber der paumotuanische Glaube ist dunkler. Hier wird der Mann regelrecht bestattet und muß bewacht werden. Obgleich er gut bewacht wird, geht der Geist um. In der Tat ist es nicht der Zweck der Nachtwachen, diese Wanderungen zu verhindern, sondern man will durch höfliche Aufmerksamkeit die natürliche Bosheit des Toten besänftigen. Vernachlässigung, so glaubt man, kann ihn erregen und so seine Besuche veranlassen, aber die Alten und Schwachen halten die Gefahren der Nachtwachen oft für gleich groß und bleiben zu Hause. Man beachte, daß es die Angehörigen und nächsten Freunde des Toten sind, die auf diese Weise durch Nachtwachen seinen Zorn besänftigen. Selbst diese Versöhnungswachen hält man für gefährlich, wenn man nicht in Gesellschaft ist, und man wies mir in Rotoava rühmend einen Knaben, der allein am Grabe seines eigenen Vaters gewacht hatte. Weder die verwandtschaftlichen Beziehungen des Toten noch seine im Leben bewiesenen Charaktereigenschaften beeinflussen die Ereignisse. Ein früherer Resident, der auf Fakarava am Sonnenstich starb, war während seines Lebens beliebt, und man erinnerte sich seiner immer noch mit Zuneigung. Nichtsdestoweniger ging sein Geist auf der Insel um und erregte Schrecken, und die Nachbarschaft des Regierungsgebäudes wurde immer noch nach Eintritt der Dunkelheit gemieden. Man kann den trostreichen Glauben so zusammenfassen: alle Menschen werden Vampire, und der Vampir verschont niemand. Und hier stehen wir einem sonderbaren Widerspruch gegenüber, denn die pfeifenden Geister sind anerkanntermaßen Stammesgeister, man erzählte mir, daß sie nur ihren Angehörigen dienen und sie beraten, und daß das Medium stets vom Stamme des sich mitteilenden Geistes sei. So sehen wir also, wie Familienbande einerseits in der Stunde des Todes zerrissen werden und anderseits wohltätig fortbestehen.

Die Kinderseele in der tahitischen Erzählung wurde in Blätter eingehüllt. Die Seelen der soeben Verstorbenen sind der feinste Leckerbissen. Werden sie getötet, so wird das Haus mit Blut befleckt. Ruas toter Fischer war verwest und in ebenso furchtbarer Weise sein Baumdämon. Der Geist ist also Materie, und durch körperliche Anzeichen der Zersetzung unterscheidet er sich vom Lebenden. Diese Ansicht ist weit verbreitet, sie verleiht den häßlichen polynesischen Erzählungen ungeheure Scheußlichkeit und entstellt die schöneren zu unangenehmer Disharmonie. Ich will zwei Beispiele anführen von weit entfernten Örtlichkeiten, das eine aus Tahiti, das andere aus Samoa.

Zunächst Tahiti. Ein Mann besuchte den Gatten seiner Schwester, die vor einiger Zeit gestorben war. Zu Lebzeiten war seine Schwester nach Insulanerart hübsch gekleidet gewesen und hatte immer einen Blumenkranz als Schmuck getragen. Um Mitternacht wachte der Bruder auf und bemerkte, wie ein himmlisches Leuchten im dunklen Hause auf und ab wanderte. Ich vermute, daß die Lampe erloschen war, denn kein Tahitier würde sich ohne Licht niedergelegt haben. Eine Weile lag er verwundert und entzückt da, dann rief er die andern herbei: »Riecht niemand von euch Blumen?« fragte er. »Oh,« sagte sein Schwager, »wir sind schon daran gewöhnt.« Am nächsten Morgen gingen die beiden Männer spazieren, und der Witwer gestand, daß seine tote Frau ständig zu dem Hause käme, und daß er sie sogar gesehen habe. Sie war in Gestalt und Kleidung wie zu Lebzeiten mit Blumen bekränzt, nur bewegte sie sich einige Zoll über dem Boden und schwebte rasch vorwärts. Die Oberfläche des Flusses überflog sie trockenen Fußes. Und jetzt kommt, was ich betonen möchte: sie ließ immer ihre Rückseite sehen, und die beiden Schwager besprachen die Angelegenheit und waren beide der Ansicht, daß sie dadurch den Beginn der Verwesung verbergen wollte.

Nun die samoanische Geschichte. Ich verdanke sie der Freundlichkeit von Dr. F. Otto Sierich, dessen gesammelte Volkssagen ich mit allergrößtem Interesse erwarte. Ein Mann auf Manu’a war mit zwei Frauen verheiratet und hatte keine Kinder. Er ging nach Savaii, heiratete dort eine dritte und war nun glücklicher. Als seine Frau ihre Zeit herankommen sah, erinnerte er sich, daß er auf einer fremden Insel lebe wie ein armer Mann, und wenn sein Kind geboren würde, müsse er sich der fehlenden Geschenke schämen. Vergebens versuchte seine Frau, ihm abzuraten, er kehrte zu seinem Vater in Manu’a zurück, um Hilfe zu erlangen, machte sich in der Nacht mit dem, was er erhalten hatte, wieder auf den Weg und schiffte sich ein. Nun erfuhren seine Weiber seine Ankunft und gerieten in Zorn darüber, daß er sie nicht besucht hatte, überfielen ihn am Strande bei seinem Kanu und erschlugen ihn. Die dritte Frau lag inzwischen schlafend auf Savaii. Ihr Kind war geboren und schlief an ihrer Seite, und sie wurde von dem Geist ihres Mannes geweckt. »Steh auf,« sagte er, »mein Vater liegt krank auf Manu’a, und wir müssen ihn besuchen.« – »Es ist gut,« sagte sie, »nimm das Kind, während ich seine Matte trage.« – »Ich kann das Kind nicht tragen,« sagte der Geist, »ich bin zu kalt von der See.« Als sie an Bord des Kanus waren, spürte die Frau Verwesungsgeruch. »Wie kommt das?« sagte sie. »Was hast du im Kanu, daß ich Verwesungsgeruch wahrnehme?«– »Es ist nichts im Kanu,« sagte der Geist, »es ist der Landwind, der von den Bergen weht, wo ein totes Tier liegt.« Es scheint, daß sie noch während der Nacht Manu’a erreichten – die schnellste Überfahrt seit Menschengedenken –, und als sie in das Riff hineinfuhren, brannten im Dorf die Totenfeuer. Wieder bat sie ihn, das Kind zu tragen, aber jetzt brauchte er sich nicht mehr zu verstellen. »Ich kann das Kind nicht tragen,« sagte er, »denn ich bin tot, und die Feuer, die du siehst, brennen zu meinem Begräbnis.«

Neugierige mögen aus Dr. Sierichs Buch den unerwarteten Schluß der Erzählung erfahren. Das Mitgeteilte genügt für meine Zwecke. Obgleich der Mann erst eben gestorben war, war der Geist bereits verwest, als ob Verwesung das Kennzeichen und Wesen eines Geistes sei. Die Wachen auf den Gräbern der Paumotuaner dehnen sich nicht über zwei Wochen aus, und man erzählte mir, daß man glaube, dieser Zeitpunkt falle zusammen mit der Auflösung des Körpers. Wenn nun der Geist immer gekennzeichnet wird durch den Zerfall, die Gefahren aber offenbar mit dem Prozeß der Auflösung enden, so liegt hier eine kniffliche Frage für den Theoretiker vor. Aber noch nicht genug, die Dame mit den Blumen war schon lange tot, und man glaubte trotzdem, daß der Geist Verwesungsanzeichen trage. Der Resident war vor mehr als vierzehn Tagen beerdigt worden, und sein Vampirgeist sollte immer noch umgehen.

Es wäre langwierig, vom traurigen Zustande der Toten zu erzählen, von den schaurigen mangaianischen Legenden, in denen Höllengötter die Seelen aller Toten verzaubern und vernichten, bis zu den mannigfaltigen Vorhöllen unter der See und in der Luft, wo die Toten Feste feiern, sich müßig umhertreiben oder die Beschäftigungen ihres irdischen Daseins wieder aufnehmen. Eine Geschichte will ich erzählen, denn sie ist einzigartig, wohlbekannt auf Tahiti und besitzt die besondere Eigentümlichkeit, daß sie aus der nachchristlichen Zeit stammt, denn sie datiert tatsächlich erst einige Jahre zurück. Eine Prinzessin des Herrscherhauses starb, sie wurde zur benachbarten Insel Raiatea hinübergebracht, verfiel dort der Herrschaft eines Geistes, der sie verurteilte, den ganzen Tag Kokospalmen zu besteigen und ihm Nüsse zu bringen, wurde einige Zeit später von einem zweiten Geist aus ihrem eigenen Geschlecht in dieser traurigen Knechtschaft gefunden und auf Grund ihrer Klagen wieder nach Tahiti gebracht, wo sie ihren Körper noch bewacht, aber schon von der herannahenden Zersetzung aufgedunsen vorfand. Es ist eine besondere Eigenart der Erzählung, daß die Prinzessin angesichts dieses entehrten Gefäßes bat, man möge sie auch weiterhin zu den Toten rechnen. Aber es scheint schon zu spät gewesen zu sein, ihr Geist wurde durch die würdeloseste Pforte zurückgeführt, und die entsetzte Familie sah, wie der Körper sich bewegte. Die Arbeiten, die offenbar Fegefeuercharakter tragen, der hilfreiche Geist aus der Verwandtschaft und das Entsetzen der Prinzessin beim Anblick ihres entstellten Körpers sind Nuancen, die man beachten muß.

Tatsache ist, daß die Erzählungen nicht notwendigerweise in sich geschlossen sind, und daß sie außerdem für den Fremden durch die Vieldeutigkeit der Sprache verdunkelt werden. Geister, Vampire, Seelen und Götter werden alle untereinandergemischt. Und doch scheint mir die Auffassung richtig zu sein, daß diejenigen Geister, die wir zu den Göttern rechnen würden, mit gewissen Ausnahmen weniger boshaft sind. Dauernd umgehende Geister wohnen auf Samoa und verüben ihre Morde an einsamen Orten, aber die echten Götter von Upolu und Savaii, deren Kriege und Kricketspiele vor einiger Zeit allgemeine Aufregung verursachten, werden nach meinen Erfahrungen nicht gefürchtet, jedenfalls nicht gleich heftig. Der Geist von Anaa, der die Seele verzehrte, ist sicher ein furchtbarer Mitbewohner, aber die hohen Götter schienen selbst auf dem Archipel hilfreich zu sein. Mahinui – von dem unser Sträflingkatechet seinen Namen hatte –, der Geist der See, der wie Proteus von zahlreichen Vasallen umgeben ist, kam den Schiffbrüchigen zu Hilfe und trug sie in Gestalt eines Rochens an Land. Dieselbe Gottheit trug Priester von Insel zu Insel innerhalb des Archipels, und mit seiner Hilfe hat man in diesem Jahrhundert Menschen fliegen sehen. Die Schutzgottheit jeder einzelnen Insel ist ebenfalls gütig und kündet durch die besondere Form einer keilartigen Wolke am Horizont die Ankunft eines Schiffes an.

Wer die Berichte über diese Atolle liest, die so schmal, so eingeengt und so vom Meer umlauert sind, möchte glauben, daß hier allzu viele geisterhafte Bewohner leben. Und doch sind sie noch zahlreicher. In den vielen Brackwasserteichen und Tümpeln sieht man schöne Frauen mit langem, rotem Haar auftauchen und baden, nur tauchen sie für immer wieder unter beim geringsten Laut von Tritten auf den Korallen, denn sie sind scheu wie Mäuse. Man weiß, daß sie ein glückliches und harmloses Volk sind, Bewohner der Unterwelt, und dieselbe Sage lebt auf Tahiti, wo sie ebenfalls rotes Haar tragen. Tetea ist der tahitische Name, Mokurea der paumotuanische.

Erstes Kapitel


Butaritari

In Honolulu hatten wir der »Casco« und Kapitän Otis Lebewohl gesagt, und unsere nächste Abenteuerfahrt geschah unter veränderten Verhältnissen. Plätze für mich, meine Frau, Mr. Osbourne und meinen chinesischen Bedienten, Ah Fu, wurden belegt auf einem winzigen Handelsschoner, dem »Equator« unter Kapitän Dennis Reid, und an einem sonnigen Junitag des Jahres 1889 verließen wir, nach hawaiischer Sitte zum Abschied mit Blumengirlanden geschmückt, den Hafen und fuhren unter günstigem Wind auf Mikronesien zu.

Das ganze Gebiet der Südsee ist eine Schiffswüste, besonders der Teil, den wir jetzt durchqueren sollten. Post gibt es auf diesen Inseln nicht, jede Verbindung ist eine zufällige, man kann zwar Pläne machen, irgendwohin zu reisen, aber es ist sehr die Frage, ob man wirklich hingelangt. Ich hatte zum Beispiel die Hoffnung, die Karolinen zu erreichen und über Manila und die chinesischen Häfen wieder zurückzukehren, es war uns aber bestimmt, in Samoa wieder aufzutauchen und von neuem durch den Anblick der Berge erfrischt zu werden. Seit der Abendglanz auf den Höhen von Oahu verblaßte, waren sechs Monate verstrichen, und wir hatten nicht einen Erdenfleck gesehen, der so hoch gewesen wäre wie ein Bauernhaus. Unsere Straße war die flache See gewesen, unsere Wohnung niedrige Korallen, unsere Nahrung Pökelfleisch und Konserven; ich hatte gelernt, Haifischfleisch als Abwechslung willkommen zu heißen; ein Berg, eine Zwiebel, eine frische Kartoffel oder ein Beefsteak waren längst unserem Gesichtskreise entschwunden, und wir sehnten uns nach ihnen.

Unsere beiden Aufenthaltsplätze, Butaritari und Apemama, liegen nahe am Äquator, Apemama ungefähr dreißig Meilen entfernt. Beide haben ein herrliches Ozeanklima, Tage blendender Sonne und erfrischenden Windes, Nächte voll himmlischer Klarheit. Beide sind etwas größer als Fakarava und messen in der größten Breite vielleicht eine Viertelmeile von Strand zu Strand. Auf beiden wächst eine derbe Art des Taro, ihre Kultur ist die Hauptbeschäftigung der Eingeborenen, und die dazu notwendigen Hügel und Gräben ergeben eine zierlich bewegte Landschaft und erfreuen das Auge. Im übrigen bieten sie ganz das gewöhnliche Aussehen eines Atolls: den niedrigen Horizont, die weit ausgedehnte Lagune, die riedgrasartige Linie der Palmwipfel, die Eintönigkeit und Schmalheit des Landes, die überragende Größe und das Übergewicht der See und des Himmels. Das Leben auf solchen Inseln ist in mancher Beziehung ähnlich dem Leben an Bord eines Schiffes. Das Atoll wird bald wie ein Schiff als Tatsache hingenommen, und die Insulaner werden genau wie eine Schiffsbesatzung bald zum Mittelpunkt des Interesses. Die Inseln sind stark bevölkert, unabhängig, Sitze kleiner Könige, erst neuerdings zivilisiert und wenig besucht. In den letzten zehn Jahren haben sich manche Veränderungen breitgemacht, die Frauen gehen nicht mehr unbekleidet bis zur Heirat, die Witwe schläft nicht mehr nachts mit dem Schädel des verstorbenen Gatten und geht nicht mehr am Tage mit ihm spazieren. Schußwaffen sind eingeführt, und die Schwerter aus Haifischzähnen werden als Kuriositäten verkauft. Vor zehn Jahren waren alle diese Dinge und Sitten noch im Gebrauch; zehn Jahre weiter, und die alte Gesellschaft wird gänzlich verschwunden sein. Wir kamen in einem glücklichen Augenblick an, als diese Gebräuche noch bestanden und in Apemama noch fast unangetastet waren.

Dicht bevölkert und unabhängig – Schlupfwinkel von Menschen, die mit einem gewissermaßen ländlichen Pomp regiert werden – das war der erste und immer wiederkehrende Eindruck von diesen kleinen Inseln. Als wir über die Lagune auf die Stadt von Butaritari zusteuerten, sahen wir einen niedrigen Küstenstrich besät mit braunen Dächern von Häusern; die des Palastes und der Sommerwohnung des Königs waren aus Wellblech und glitzerten hell in der Nähe der Dorfecke; die königlichen Farben flogen im Winde an einer hohen Fahnenstange; direkt vor uns lag auf einem künstlichen Inselchen das Gefängnis wie eine Art Warnungssignal. Selbst bei diesem ersten Anblick aus der Ferne machte der Ort kaum den Eindruck eines Dorfes, was er wirklich ist, sondern eher den einer kleinen ländlichen und doch königlichen Hauptstadt, was er ebenfalls ist.

Die Lagune ist seicht. Da Ebbe war, wateten wir ungefähr eine Viertelmeile in lauwarmem, flachem Wasser und stiegen schließlich in brennender Sonnenhitze an Land. Die Leeseite einer Äquatorinsel ist nachmittags in der Tat ein windstiller Platz; an der Ozeanküste weht der Passatwind böig und kühl; auch weiter draußen auf der Lagune bläst er noch und treibt die Kanus vorwärts, aber das dichte Buschwerk fängt ihn an der Küste völlig ab, und auf den Städten brüten Schlaf, Schweigen und Moskitoschwärme.

Man kann also sagen, daß wir Butaritari gewissermaßen überrumpelten. Nur wenige Einwohner waren noch an der Nordecke, wo wir landeten, im Freien. Als wir vorwärts schritten, trafen wir sehr bald niemand mehr an und schienen eine tote Stadt zu durchforschen. Nur zwischen den Pfosten der offenen Häuser sahen wir die Bevölkerung ausgestreckt zur Mittagsruhe, manchmal eine ganze Familie zusammen unter einem Moskitonetz, dann wieder einen einzelnen Schläfer auf einer Plattform wie einen Toten auf der Bahre.

Die Häuser waren von verschiedener Größe, manche wie Spielzeug, andere wie Kirchen. Einige konnten ein Bataillon aufnehmen, andere waren so klein, daß sie kaum ein Liebespaar beherbergen konnten; nur in einem Kinderzimmer findet man, wenn man die Spielsachen untereinander mengt, so verschiedene Größenverhältnisse. Manche Behausungen waren offene Schuppen, andere wie überdachte Bühnen, wieder andere hatten Wände, in denen kleine Fenster waren. Einige waren auf Pfählen in der Lagune errichtet, der Rest stand durcheinander auf einer grünen Fläche, durch die sich der Weg wie ein Sandstreifen zog, oder auf den Uferbänken eines Wasserstreifens, der wie ein flaches Hafenbecken anmutete. Alle ohne Ausnahme waren aus einem einzigen Baum hergestellt, Palmholz und Palmblätter das Baumaterial, kein Nagel war eingetrieben, kein Hammerschlag erklungen beim Bau, sie wurden zusammengehalten durch Bänder aus Palmfasern.

In der Mitte der Hauptstraße steht die Kirche wie eine Insel, ein hohes, dunkles Gebäude mit vielen Fensterreihen, ein Rahmen von reichem Maßwerk trägt das Dach, und durch die beiden Türen übersieht man weithin die Straße. Die Ausmaße des Gebäudes erschienen, in solcher Umgebung und aus solchem Material hergestellt, großartig, und wir durchschritten das Schiff mit einem Gefühl, wie es Besucher einer Kathedrale befällt. Bankreihen sind auf beiden Seiten. In der Mitte stehen unter einem sonderbaren Thronhimmel zwei Stühle für den König und die Königin, wenn sie ihre Anbetung verrichten wollen; über ihren Häuptern hängt an einem roten Baumwollstrick ein Reifen, offenbar von einem großen Faß, der schief herabbaumelt und mit roten und weißen Wimpeln aus demselben Stoff geschmückt ist.

Das war das erste Anzeichen königlicher Würde, und bald darauf standen wir vor seinem Zentralsitz. Der Palast ist aus eingeführtem Holz nach europäischen Plänen gebaut, das Dach aus Wellblech, der Hof von Mauern umgeben, die Pforte von einer Art Wachthaus gekrönt. Man kann das Gebäude nicht geräumig nennen, ein Arbeiter in den Vereinigten Staaten wohnt manchmal bequemer, aber als wir die Möglichkeit hatten, das Innere zu besichtigen, fanden wir es reich über Inselerwartungen hinaus geschmückt mit Anzeigen und Bildern aus illustrierten Zeitungen. Selbst vor dem Tore stehen Schätze der Krone in aller Öffentlichkeit: eine ziemlich große Glocke, zwei Kanonen und eine einsame Granate. Die Glocke kann man nicht läuten und die Kanone nicht abfeuern, sie sind Sehenswürdigkeiten, Beweise des Reichtums, Stücke königlicher Pracht, die wie Statuen auf einem Platz zur allgemeinen Bewunderung stehen. Ein gerader Wasserstreifen geht wie ein Kanal fast bis zum Palasttor, die Kaimauern sind vorzüglich gebaut aus Korallen; gegenüber der Mündung steht wie eine Art ländlicher Schmuckbau das Gefängnis in die Lagune gleich einem Warnungsturm. Vasallenhäuptlinge, benachbarte Monarchen, kommen mit Tributen herbeigerudert, so könnte man sich vorstellen, sie sehen mit Staunen diese großen öffentlichen Gebäude und stehen entsetzt den Mündungen der schweigenden Kanonen gegenüber. Unmöglich, den Ort zu schauen und sich nicht vorzustellen, er sei für festliche Aufzüge bestimmt. Aber der sorgfältig hergerichtete Schauplatz war damals leer, das königliche Haus verlassen, Türen und Fenster standen offen, das ganze Stadtviertel war in Schweigen versunken. Auf der gegenüberliegenden Kanalbank schlief unter freiem Himmel als einziger sichtbarer Einwohner auf überdachter Bühne ein alter Herr, und drüben auf der Lagune hißte ein Kanu ein gestreiftes Segel, der einzige bewegliche Gegenstand.

Der Kanal hat an der Südseite einen Pier oder Damm mit einer Brustwehr. Weit draußen hört die Brustwehr auf, und der Kai erweitert sich zu einer länglichen Halbinsel in die Lagune hinein, der luftigen Sommerresidenz des Königs. In der Mitte steht ein offenes Haus oder festes Zeltlager, das man hier maniapa nennt oder, wie man das Wort jetzt ausspricht, maniap‘, mindestens vierzigmal sechzig Fuß im Geviert. Das eiserne Dach, das hoch ist, aber sehr tief nach unten reicht, so daß eine Frau sich beim Eintreten bücken muß, ruht außen auf Korallenpfeilern, innen auf einem Holzgerüst. Der Boden besteht aus zerbrochenen Korallen und wird durch die Gerüstpfeiler in Längsabschnitte eingeteilt, das Haus steht weit genug von der Küste, daß die Brise frei hindurchwehen und die Moskitos vertreiben kann; unter den niedrigen Giebelwänden sieht man die Sonne glitzern und die Wellen auf der Lagune tanzen.

Eine ganze Weile hatten wir nur schlafende Menschen angetroffen, und als wir den Pier entlang wanderten und schließlich unter dies leuchtende Dach traten, waren wir überrascht, das Haus von einer Gesellschaft wacher Leute angefüllt zu sehen, ungefähr zwanzig, die den Hof und die Wachtmannschaft von Butaritari bilden. Die Damen des Hofes flochten eifrig Matten, die Wachtleute gähnten und rekelten sich. Ein halbes Dutzend Gewehre lagen auf einem Felsblock, und eine Axt lehnte gegen einen Pfeiler, die Bewaffnung dieser schläfrigen Musketiere. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein geschlossenes kleines Holzhaus mit dünnen Vorhängen, und es zeigte sich bei näherem Zusehen, daß es ein Abort nach europäischem Muster war. Vor diesem Häuschen lag, auf einigen Matten hingestreckt, Tebureimoa, der König; hinter ihm, an der Holzwand des Häuschens, stellten zwei gekreuzte Gewehre die Liktorenbündel dar. Er trug Pyjamas, die im traurigen Widerspruch standen zu seiner Dickleibigkeit, seine Nase war hakenförmig und unmenschlich, sein Körper massig aufgeschwemmt, sein Blick furchtsam und trübe: er schien von Schläfrigkeit übermannt und gleichzeitig wachgehalten durch Befürchtungen: ein Rajah aus dem Pfefferlande, von Opium berauscht und dem Marsch einer holländischen Armee lauschend, sieht vielleicht nicht anders aus, wir lernten uns später besser kennen, und immer hatte ich denselben Eindruck; er schien stets schläfrig, aber doch immer lauernd und sprungbereit, und es besteht kein Zweifel, daß er aus Gewissensbissen oder Furcht seine Zuflucht zu übermäßigen Betäubungsmitteln nahm.

Der Rajah schien an unserem Erscheinen nicht das geringste Interesse zu nehmen, aber die Königin, die in einem purpurnen Gewande neben ihm saß, war zugänglicher, und auch ein Dolmetscher war anwesend, der so aufdringlich war, daß seine Geschwätzigkeit schließlich die Ursache unseres Abschieds wurde. Er hatte uns bei unserer Ankunft begrüßt. »Dies ist der ehrenwerte König, und ich bin sein Dolmetscher«, hatte er mit mehr Würde als Wahrheit gesagt. Denn er nahm keine Stellung ein bei Hofe, schien mit der Inselsprache sehr schlecht vertraut und machte wie wir nur einen Höflichkeitsbesuch. M. Williams war sein Name, er war ein amerikanischer Neger, ein entsprungener Schiffskoch und Barkeeper auf Butaritari, in der Kneipe » The Land we Live in«. Ich habe niemals einen Menschen getroffen, der mit soviel Worten sowenig Wahres sagte. Weder die Verdrießlichkeit des Königs noch meine eigenen Bemühungen, ihn abzuschütteln, machten auf ihn den geringsten Eindruck, und als die Audienz zu Ende war, redete der Schwarze immer noch weiter.

Die Stadt lag noch im Schlummer oder hatte gerade begonnen, sich zu erheben und zu strecken, noch war sie in Hitze und Schweigen gehüllt. Um so lebhafter war der Eindruck, den wir von dem Haus auf der Insel mitnahmen, von dem mikronesischen Saul zwischen seinen Wachen und dem schwatzhaften David, Mr. Williams, der die schläfrigen Stunden mit seinem Gewäsch erfüllte.