Viertes Kapitel


Der König von Apemama: Equatorstadt und der Palast

Fünf Personen wurden bestimmt, uns aufzuwarten. Onkel Parker, der uns Palmwein und grüne Nüsse brachte, war ein ältlicher, beinahe schon alter Mann mit dem Gemüt, der Betriebsamkeit und der Moral eines zehnjährigen Knaben. Sein Gesicht war alt, komisch und diabolisch, die Haut spannte sich über straffe Sehnen wie ein Segel am Tau, und er grinste mit jeder Muskel seines Kopfes. Seine Nüsse mußten jeden Tag gezählt werden, wenn er uns nicht betrügen sollte, sie mußten täglich geprüft werden, sonst waren bestimmt einige nicht geschält. Nichts als der Name des Königs, und auch der kaum, hielt ihn bei seiner Pflicht. Nachdem er seine Arbeiten verrichtet hatte, gaben wir ihm Pfeife, Streichhölzer und Tabak, und er setzte sich auf den Fußboden im Maniap‘ nieder, um zu rauchen. Scheinbar bewegte er sich nicht aus seiner Stellung, und doch war jeden Tag der Tabak verschwunden, wenn er die Sachen zurückgeben sollte, er hatte es möglich gemacht, ihn unter das Dach zu verstecken, wo er ihn am folgenden Morgen strahlend hervorholte. Obgleich dies Zauberkunststück regelmäßig vor drei oder vier Paar Augen ausgeübt wurde, konnten wir ihn niemals auf frischer Tat ertappen, und obgleich wir alles durchsuchten, wenn er fortgegangen war, konnten wir den Tabak niemals finden. Das waren die Scherze Onkel Parkers, eines Mannes von nahezu sechzig Jahren, aber er wurde nach seinen Missetaten bestraft: meine Frau bekam Lust, ihn zu malen, und die Qualen beim Sitzen waren unbeschreiblich groß.

Drei junge Mädchen kamen vom Palast, um unsere Wäsche zu waschen und mit Ah Fu herumzutollen. Sie gehörten der niedrigsten Klasse an, kleine Schmarotzer, die man für die Handelskapitäne zur Verfügung hielt, wahrscheinlich aus der Hefe des Volkes, vielleicht von anderen Inseln, ohne viel Erziehung und nicht sehr reizend, aber nette und lustige Mädel in ihrer Art. Die eine nannten wir das Gassenmädel, denn man findet ihresgleichen in allen Scheunenvierteln jeder Großstadt, dasselbe hagere, dunkeläugige, lebhafte, gewöhnliche Gesicht, dasselbe plötzlich herausbrechende kreischende Lachen, jenes unverfrorene und doch verängstigte Benehmen, mit scheuen Seitenblicken auf jeden Schutzmann – nur war hier der Schutzmann ein lebender König und sein Knüppel ein Gewehr. Ich bezweifle, ob man irgendwo außerhalb dieser Inselwelt oder auch hier oft ein Mädel findet wie Fatty, ein Koloß, der beinahe ebensoviel Stones (vierzehn englische Pfund) wiegen mochte, wie er Sommer zählte. Sie würde einen guten Gardesoldaten abgegeben haben, obgleich sie das Gesicht eines Säuglings hatte und ihre riesigen Körperkräfte fast ausschließlich zum Spielen verwandte. Aber sie waren alle drei von derselben Lustigkeit. Das Waschen wurde unter lärmendem Spiel besorgt, sie rannten umher und verfolgten sich, bespritzten und bewarfen sich, kugelten sich im Sande hin und her, und das Schreien und Lachen nahm kein Ende, wie bei Ferienkindern. In der Tat, mochte auch ihr Dienst in jenen ernsten Räumen sehr eigenartig sein, sie waren doch für einen Tag aus der größten und strengsten Mädchenschule der Südsee entwichen.

Unser fünfter Diener war kein Geringerer als der königliche Koch. Gesicht und Körper waren auffallend schön, er war faul wie ein Sklave und frech wie ein Fleischerjunge. Er schlief und rauchte in den verschiedensten graziösen Stellungen und Lagen in unseren Räumen. Aber abgesehen davon, daß er Ah Fu nicht half, gab er sich nicht einmal die Mühe, ihm zuzuschauen, man kann sagen, daß er herkam, um zu lernen, und da war, um zu lehren, und seine Lektionen waren manchmal schwer zu ertragen. Zum Beispiel schickte man ihn aus, um einen Eimer am Brunnen zu füllen. Ungefähr auf halbem Wege fand er meine Frau, die ihre Zwiebeln begoß, wechselte seinen Eimer mit dem ihren aus, ließ den leeren zurück und kehrte mit dem vollen in die Küche zurück. Ein andermal gab man ihm ein Gericht Klöße für den König und sagte ihm, sie müßten heiß gegessen werden, er solle sie so rasch wie möglich hintragen. Der Lümmel setzte sich im langsamsten Kilometertempo in Bewegung, die Nase in die Luft steckend, die Füße wie ein Seiltänzer voreinandersetzend. Mir riß bei diesem Anblick die Geduld, die er seit einem Monat auf die Probe gestellt hatte. Ich rannte hinter ihm her, packte ihn an den breiten Schultern, stieß ihn vor mir her, rannte den Hügel mit ihm hinunter, über die Sandflächen weg und durch das beifallklatschende Dorf hindurch zum Sprechhaus, wo der König gerade eine Ratsversammlung abhielt. Er besaß die Unverschämtheit zu behaupten, ich hätte ihm durch meine Gewalttätigkeit innere Verletzungen beigebracht, er habe ernstlich um sein Leben gebangt.

Wir ertrugen das alles, denn die Maßnahmen von Tembinok‘ sind sehr gründlich, und ich wollte nicht die Veranlassung seines Todes sein, aber inzwischen plagte sich mein unglücklicher chinesischer Koch für zwei und wurde schließlich krank. Ich befand mich in der Lage eines Cimondain Lantenac und aller Personen in Quatre-Vingt-Treize: wollte ich den Schuldigen auch weiterhin schonen, so mußte ich den Unschuldigen opfern. Ich tat das, was man gewöhnlich tut, ich versuchte beide zu retten, um, wie immer bei solchen Gelegenheiten, den Zweck zu verfehlen. Wohlvorbereitet ging ich zum Palast, fand den König allein vor und erzählte ihm eine endlos lange Geschichte. Der Koch sei zu alt, um noch zu lernen, ich befürchte, er mache keine großen Fortschritte, vielleicht könne man einen jungen Mann statt seiner nehmen – junge Leute lernten leichter. Alles vergebens: der König durchschaute meine Ausflüchte bis auf den Grund, sah, daß der Koch sich gröblich versündigt hatte, und saß eine Weile nachdenklich da. »Ich denken, er zuviel wissen«, sagte er schließlich mit grimmiger Stimme und lenkte das Gespräch sofort auf andere Dinge. Noch am selben Tage erschien ein anderer hoher Beamter, der Proviantmeister, an Stelle des Kochs, und ich muß gestehen, er war höflich und fleißig.

Sobald ich ihn verlassen hatte, scheint der König eine Winchesterbüchse verlangt zu haben und nach draußen vor die Palisade gegangen zu sein, um den Sünder zu erwarten. Tembinok‘ trug den Frauenrock und wahrscheinlich auch einen Tropenhelm und eine blaue Brille. Man stelle sich den glühenden Sandhügel vor, die Zwergpalmen mit ihren mittäglichen Schatten, die lange Flucht der Palisade, die alten Weiber als Schildwachen, jede Sirup kochend auf ihrem Posten bei einem kleinen hellen Feuer – und dann diese Schimäre mit tödlicher Waffe in der Hand auf der Lauer. Schließlich kommt der Koch, schlendert den Sandhügel von Equatorstadt kommend herunter, ahnungslos, eitel und graziös, ohne einen Gedanken an Gefahr. Sobald er richtig in Schußweite war, feuerte dieses Schreckgespenst eines Monarchen sechs Schüsse über seinen Kopf, zu seinen Füßen und an beiden Armen vorbei: das zweite Warnungssignal von Apemama, an sich schon schrecklich, aber furchtbar erst als Vorbedeutung, denn das nächste Mal wird Se. Majestät anlegen, um zu treffen. Man erzählte mir, daß der König ein vorzüglicher Schütze sei, daß man dem das Grab graben kann, auf den er zielt, und daß er, wenn er fehlen will, so scharf vorbeischießt, daß der Schuldige sechsmal die Bitternis des Todes kostet. Die Wirkung auf den Koch konnte ich selbst beobachten. Meine Frau und ich kehrten vom Meeresstrand der Insel zurück, als wir bemerkten, daß uns jemand mit sehr raschen, unregelmäßigen Schritten, halb gehend, halb rennend, entgegenkam. Als wir uns ihm näherten, erkannten wir den Koch, der außer sich war vor Erregung, seine gewöhnlich warme Mulattenhautfarbe erschien bläulichblaß. Er ging ohne Wort und Zeichen an uns vorüber, starrte uns mit dem Gesicht eines Teufels an und verschwand quer durch den Wald in die unbewohnten Gegenden der Insel, zur langgestreckten einsamen Küste, wo er ungesehen auf und ab rasen und Zorn, Furcht und Demütigung austoben konnte. Zweifellos kam in den Flüchen, die er in das Tosen der Brandung und den Gesang der Tropenvögel hineinschrie, oft der Name des Kaupoi, des reichen Mannes, vor. Ich hatte ihn zum Gelächter des ganzen Dorfes gemacht in der Affäre mit den Klößen des Königs, ich hatte ihn durch meine Machenschaften in Ungnade und unmittelbare Lebensgefahr gebracht, und schließlich – das war vielleicht am bittersten für ihn – hatte er mich am Wege getroffen, da ich ihn in der Stunde der Fassungslosigkeit beobachten konnte.

Die Tage vergingen, wir sahen ihn nicht wieder. Die Zeit des Vollmondes kam heran, wo der Mensch es für eine Schande hält zu schlafen, und ich wanderte vielleicht bis Mitternacht oder ein Uhr auf dem strahlenden Sand und unter dem Schatten der wehenden Palmen umher. Ich spielte, während ich so einherging, auf einem Flageolett, was meine Aufmerksamkeit stark in Anspruch nahm. Die Fächer über meinem Haupte rauschten mit metallischem Geraun, und ein nackter Fuß schlich fast geräuschlos über diesen nachgiebigen Boden. Aber als ich zur Equatorstadt zurückkam, wo alle Lichter bereits erloschen waren, und meine Frau, die noch wach war, nach mir ausgeblickt hatte, fragte sie mich, wer mir gefolgt sei. Ich glaubte, sie mache einen Scherz, aber sie sagte: »Durchaus nicht, ich sah zweimal jemand, als du vorübergingst, der dir dicht auf den Fersen folgte. Er blieb erst an der Ecke des Maniap’s zurück und muß noch hinter dem Kochhaus sein.« Ich rannte dorthin wie ein Narr, ohne jede Waffe, und stand dem Koch von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er war auf meinem Tabugebiet, was an sich schon den Tod bedeutet, nichts konnte ihn zu solcher Stunde dorthin geführt haben als die Absicht zu stehlen oder zu töten; das Schuldbewußtsein machte ihn ängstlich, er drehte sich um und entfloh vor mir in die Stille der Nacht hinaus. Als er enteilte, trat ich ihn in die Stelle, wo man kein Ehrgefühl besitzt, und er schrie leise auf wie eine verwundete Maus. Er glaubte jedenfalls im Augenblick, eine tödliche Waffe habe ihn getroffen.

Was hatte der Mann gewollt? Ich habe im allgemeinen festgestellt, daß meine Musik eher geeignet war, Zuhörer zu vertreiben als anzulocken. Als Amateur konnte ich mir nicht einbilden, daß er für meine Auffassung des »Karneval von Venedig« Interesse oder seine Nachtruhe geopfert habe, um meinen Variationen des »Plouphboy« zu folgen, aber was auch immer seine Absicht gewesen war, ich konnte es nicht dulden, daß er sich nachts zwischen den Häusern herumtrieb. Ein Wort an den König, und der Mann war erledigt, denn in solchem Falle gab es keinen Pardon. Aber es ist ein Unterschied, ob man einen Menschen selbst tötet, oder ob man ihn hinter seinem Rücken anschwärzt und durch einen Dritten erschießen läßt. Ich beschloß, mich mit dem Burschen auf meine eigene Weise auseinanderzusetzen. Ich erzählte Ah Fu die Sache und bat ihn, mir den Koch herbeizuholen, wo immer er ihn fände. Ich glaubte, das würde schwierig sein, aber weit davon entfernt: er kam aus eigenem Antrieb – ein Akt wirklicher Verzweiflung, da sein Leben von meinem Stillschweigen abhing, und alles, was er hoffen konnte, war, vergessen zu werden. Aber er kam mit sicherer Haltung, gab weder eine Entschuldigung noch eine Erklärung ab, beklagte sich über Verletzungen und behauptete, er sei nicht imstande zu sitzen. Ich glaube, ich bin der schwächste Mann auf Gottes Erdboden, ich hatte ihn in den am wenigsten verwundbaren Teil seines riesigen Leibes getreten, mein Fuß war nackt, und ich hatte nicht einmal meinen Fuß verletzt. Ah Fu konnte das Lachen nicht verbeißen; da ich meinerseits wußte, was er zu befürchten hatte, sah ich in diesem Gipfel der Unverschämtheit doch eine Art Tapferkeit, und ich bewunderte den Mann im stillen. Ich sagte ihm, ich würde dem König von dem nächtlichen Abenteuer nichts sagen, es sei ihm auch gestattet, wenn er eine Besorgung zu machen habe, tagsüber in meinen Tabubezirk zu kommen, aber fände ich ihn dort jemals nach Sonnenuntergang, so würde ich ihn auf der Stelle erschießen, und zum Beweis zeigte ich ihm einen Revolver. Er muß unglaublich erleichtert gewesen sein, entfernte sich in seiner gewöhnlichen dandyhaften Gleichgültigkeit und wurde von uns kaum jemals wiedergesehen.

Diese fünf Leute mit dem Proviantmeister an Stelle des Kochs kamen und gingen und waren unsere einzigen Besucher. Der Umkreis des Tabu hielt die Dorfbewohner auf Armlänge entfernt. Was »meine Familie« betraf, so wohnte diese wie Nonnen in der Klausur, nur einmal traf ich eine von ihnen draußen, des Königs Schwester; der Ort, an dem ich sie fand, das Inselkrankenhaus, stand wahrscheinlich unter einem Sonderrecht. Nur über den König ist noch zu berichten. Er pflegte immer allein kurze Zeit vor der Mahlzeit herüberzubummeln, nahm einen Stuhl und sprach und aß mit uns wie ein alter Familienfreund. Die Höflichkeit der Gilbertiner scheint sich auf das Abschiednehmen nicht zu erstrecken. Man wird sich erinnern, daß wir in dieser Beziehung mit Karaiti Schwierigkeiten hatten, und es klang kindisch und störend, wenn Tembinok‘ plötzlich sagte: »Ich wollen jetzt nach Hause gehen«, beim Aufstehen sich etwas verneigte und dann ohne jede Formalität den Rückzug antrat. Es war der einzige Makel in seinem Benehmen, das im übrigen einfach, vornehm, klug und würdig war. Er blieb niemals lange, trank nicht viel und ahmte unser Benehmen nach, wenn er es von dem seinigen verschieden fand. Schon früh hörte er zum Beispiel auf, mit dem Messer zu essen. Es war klar, daß er entschlossen war, in jeder Beziehung Vorteile aus unserem Besuch zu ziehen, besonders was Umgangsformen anging. Die soziale Stellung seiner weißen Besucher gab ihm viele Rätsel auf und beschäftigte ihn stark. Er nannte Namen nach Namen und fragte, ob der Träger ein großer Häuptling oder überhaupt ein Häuptling sei, was uns manchmal in Verlegenheit setzte, denn einige gehörten zu meinen allerbesten Freunden, von denen gerade keiner mit dem Purpurmantel geboren worden war. Er erfuhr zu seinem Erstaunen, daß bei uns die Klassen sich durch ihre Ausdrucksweise unterscheiden, und daß zum Beispiel gewisse Worte tabu seien in der Offiziersmesse eines Kriegsschiffes. Und er bat uns infolgedessen, wir möchten auf ihn in diesem Punkte achthaben und ihn korrigieren. Wir waren in der Lage, ihm die Versicherung zu geben, daß er keiner Korrektur bedürfe. Sein Wortschatz reicht sehr weit und ist außerordentlich umfassend. Gott weiß, woher er ihn genommen hat, aber zufällig ist er allen profanen oder groben Redensarten aus dem Wege gegangen. » Obliged«, » slabbed«, » gnaw«, » lodge«, » power«, » company«, » slender«, » wonderful« sind einige der Worte, die man von ihm nicht erwartet hätte, und die seine Rede schmückten. Am meisten freute er sich zu hören, wie die Offiziere eines Kriegsschiffes gegrüßt würden. In seiner Dankbarkeit für diesen Wink wurde er ganz gerührt. »Schonerkapitän mir nicht erzählen,« rief er aus, »ich glauben, er nicht wissen. Ihr wissen zuviel, Ihr wissen von Dampfer, Ihr wissen von Kriegsschiff. Ich glaube, Ihr wissen alles.« Aber er quälte mich oft genug mit seinen ewigen Fragen, und der höfliche Barbar stand häufig verlegen vor dem königlichen Sandford. Ich erinnere besonders an einen Vorfall. Wir führten die Laterna magica vor, ein Bild vom Schloß zu Windsor wurde gezeigt, und ich sagte ihm, das sei das Haus Viktorias. »Wieviel Faden es hoch?« fragte er, und ich wurde stumm vor ihm. Es war der Baumeister, der unermüdliche Palastarchitekt, der zu mir sprach, und obgleich er ein Sammler war, sammelte er niemals unnütze Informationen, sondern alle seine Fragen hatten einen Zweck. Besonders interessierten ihn Etikette, Regierungsapparat, Gesetz, Polizei, Geld und Medizin, alles Dinge, die für ihn als König und Vater seines Volkes von großer Bedeutung waren. Es war nicht nur meine Aufgabe, ihm neue Informationen zu geben, sondern ich mußte auch die früheren korrigieren. »Mein Vater, er erzählen mir«, oder »Weißer Mann, er erzählen mir«, so begann er stets. »Ich denken, er lügen?« Manchmal dachte ich, es sei so. Tembinok‘ trug mir einmal eine Schwierigkeit vor, die ich lange Zeit nicht begriff. Ein Schonerkapitän hatte ihm von Kapitän Cook erzählt, der König interessierte sich sehr für diese Geschichte und schlug, um mehr darüber zu erfahren, nicht etwa ein Konversationslexikon oder die Encyclopedia Britannica auf, sondern die Bibel in der Gilbertinselübersetzung, die hauptsächlich aus dem Neuen Testament und den Psalmen besteht. Hier suchte er nun lange und ernsthaft, Paulus fand er und Alexander, den Kupferschmied: kein Wort von Cook. Die Schlußfolgerung war selbstverständlich, daß der Forscher eine Erfindung sei. So schwer ist es selbst für einen Menschen von großer natürlicher Begabung wie Tembinok‘, in den Vorstellungskreis einer neuen Gesellschaftsordnung und Kultur einzudringen.

Fünftes Kapitel


Der König und sein Volk

Wir sahen sehr wenig von dem gemeinen Volk auf der Insel. Und zuerst trafen wir es am Brunnen, wo die Leute ihre Wäsche wuschen und wir unser Wasser für die Küche schöpften. Diese Verbindung war nicht gerade angenehm, und da wir einen Tyrannen in der Herrschaft wußten, wandten wir uns an den König und ließen den Platz in unseren Tabubezirk einbeziehen, was Tembinok‘ sichtbar zögernd gewährte, und man kann verstehen, wie wenig populär es die Fremdlinge machte. Viele Dorfbewohner gingen täglich an uns vorüber, aber sie machten einen weiten Bogen um unser Tabu herum und schienen ihre Blicke abzuwenden. Manchmal gingen wir selbst ins Dorf, einen sonderbaren Platz. Durch seine Kanäle wirkt es holländisch, durch die Höhe und Steilheit der Dächer, die in der Dämmerung wie Tempel aufragten, orientalisch, aber man rief uns selten in ein Haus, kein Willkommen, keine Freundschaft wurde uns geboten, und vom häuslichen Leben genossen wir nur einen Anblick: eine Totenwache, eine grauenhafte Szene. Die Witwe hielt den erkalteten bläulichen Leichnam des Gatten auf ihrem Schoß, nahm von Zeit zu Zeit von den Erfrischungen, die die Runde machten unter der Gesellschaft, und dann weinte sie und küßte den bleichen Mund. (»Ich fürchte, der Verlust geht Euch tief zu Herzen«, sagte der schottische Geistliche. – »Ja, Herr, so ist es!« antwortete die Witwe, »ich habe die ganze Nacht geweint, und jetzt will ich nur eben ein bißchen Hafergrütze essen und dann wieder anfangen zu weinen.«) Auf unseren Spaziergängen hatte ich immer den Eindruck, die Insulaner wichen uns aus, entweder weil sie uns nicht mochten, oder weil ein Befehl vorlag, und wen wir trafen, den überraschten wir im allgemeinen. Auf der Insel gibt es Palmenhaine, Dickichte und romantische, vier Fuß tiefe Gräben, die Reste alter Taroplantagen, und so ist es möglich, daß man unerwartet auf Leute trifft, die ausruhen oder sich vor der Arbeit verstecken. Ungefähr einen Pistolenschuß von unserer Stadt entfernt lag ein Teich in der Senkung eines Dschungels; hierher kamen die jungen Mädchen der Insel zum Baden und wurden mehrere Male durch unser Dazwischenkommen aufgeschreckt. Für sie gibt es nicht die kühlen Flüsse von Tahiti und Upolu, sie dürfen nicht in den Stunden der Dämmerung mit fröhlichen Dorfgespielinnen planschen und lachen, sondern müssen sich in diese Einsamkeit stehlen und in einen Teich kriechen, der einer Viehtränke gleicht, um sich in lauwarmem Sumpfwasser, das braun ist wie ihre eigene Haut, zu waschen, wenn man das waschen nennen kann. Andere, aber doch sehr seltene Begegnungen treten mir ins Gedächtnis zurück. Einige Male fesselte mich ein zarter Klang von Stimmen im Busch, weich wie Flöten, mit feinen Übergängen. Ich durfte auf eine liebliche Überraschung hoffen, schob die Blätter beiseite und sah an Stelle von Waldnymphen ein paar allzu wohlbeleibte Damen, die im reizlosen Ridi bei einer Tonpfeife plauderten. Die Schönheit der Stimme und des Auges war alles, was diesen ungeheuren Damen geblieben war, aber der Adel der Stimmen war in der Tat hervorragend. Merkwürdig genug, daß ich niemals einen gewinnenderen Klang der Sprache hörte, während der Sprachschatz besonders reich ist an aufdringlichen, häßlichen und ausländischen Worten, so daß Tembinok‘ selbst erklärte, sie ekele ihn an, und er betrachte es als eine Erholung, Englisch zu sprechen.

Die Verfassung dieses Volkes, von dem ich sowenig sah, kann ich nur erraten. Der König selbst gab seine Erklärungen ziemlich spitzfindig ab. »Nein, ich sie nicht bezahlen,« sagte er einmal, »ich ihnen Tabak geben, sie für mich arbeiten wie Bruder.« Es stimmt, einst gab es einen Bruder in Arden! Aber wir ziehen das andere Wort vor. Sie tragen alle Zeichen des Sklaventums an sich: kindische Leichtsinnigkeit, unverbesserliche Trägheit, neugierlose Zufriedenheit. Die Frechheit des Kochs war ein Zug, der nur ihm eigen war, während er seinen Leichtsinn mit dem unschuldigen Onkel Parker teilte. Mit derselben Gleichgültigkeit tanzten beide im Schatten des Galgens umher und spielten mit dem Tode in einer Weise, die jeden unvoreingenommenen Beobachter der menschlichen Natur verblüffen mußte. Ich sagte von Parker, daß er sich wie ein Junge von zehn Jahren benahm: was war er sonst, da er ein Sklave von sechzig Jahren war? Er hatte gewissermaßen sein ganzes Leben in der Schule verbracht, wurde ernährt, gekleidet, geleitet und kommandiert, die Furcht vor Strafe war etwas Alltägliches, er kokettierte mit ihr. Durch Schreckensherrschaft kann man Menschen antreiben, aber nicht höherzüchten. Hier in Apemama arbeiten sie in ewiger und unmittelbarer Lebensgefahr und verfallen einer Art Trägheitslethargie. Man sieht sehr oft jemand auf die Felder gehen, der seine steife Matte losgegürtet hat, so daß er mit eingeklemmten Ellbogen einherschreitet, einem Huhn ähnlich, dem man die Flügel zusammengebunden hat. Arbeitet er mit der rechten Hand, so muß die linke inzwischen untätig das Gewand festhalten. Oft sieht man zwei Männer, die einen einzigen Eimer Wasser zwischen sich an einem Stab tragen. Nun kann man eine Kirsche wohl in zwei Bissen verzehren, aber daß man zwei Träger braucht, um die Ausrüstung eines Soldaten eine halbe Meile weit zu tragen, ist denn doch ein wenig übertrieben. Frauen werden durch sklavenhafte Lebensbedingungen weniger entnervt, da sie weniger kindische Tiere sind. Selbst in der Abwesenheit des Königs und selbst, wenn sie ganz allein waren, habe ich Frauen von Apemama beharrlich weiterarbeiten sehen, aber von einem Manne darf man nur erwarten, daß er seine Aufgabe in kleinen, weit auseinandergezogenen Ansätzen erledigt und zwischendurch faulenzt. So sah ich einen Maler mit brennender Pfeife und einen Freund beim Atelierfeuer arbeiten. Man könnte vermuten, daß diesem Volk Männlichkeit und Lebenskraft fehle, wenn man sie nicht tanzen gesehen hätte. Nacht für Nacht und manchmal Tag für Tag ertönte der Chorgesang in dem großen Sprechhaus, feierliche Andantes und Adagios, von Händeklatschen begleitet und mit einer Energie vorgetragen, die das Dach erzittern ließ. Das Tempo war nicht gerade langsam, doch für diese Inselwelt schleppend, und so habe ich es vorgezogen, die Wirkung auf den Hörer darzustellen. Ihre Musik hatte einen gottesdienstähnlichen Charakter, wenn man sie nahebei hörte, und erschien europäischen Ohren regelmäßiger als die sonstige Insulanermusik. Zweimal hörte ich, wie eine Disharmonie regelrecht aufgelöst wurde. Von fernher, zum Beispiel von Equatorstadt gehört, steigen und jagen sich die Rhythmen wie das Bellen von Hunden in einem fernen Zwinger.

Die Sklaven werden sicher nicht überanstrengt, Kinder von zehn Jahren leisten bei uns ohne Ermüdung mehr, und die Arbeiter von Apemama haben Feiertag, wenn am frühen Nachmittag das Singen beginnt; die Ernährung ist schlecht, Kopra und eine Süßspeise aus zerstampftem Pandanus sind die einzigen Gerichte, die ich außerhalb des Palastes sah, aber die Quantität scheint ausreichend zu sein, und der König teilt seine Schildkröten mit ihnen. Drei kamen in einem Boot von Kuria während unseres Aufenthaltes an, eine wurde für den Palast behalten, eine zu uns geschickt und die dritte dem Dorf geschenkt. Es ist Sitte bei den Insulanern, die Schildkröten in ihrem Panzer zu kochen, und da uns die Schalen versprochen worden waren, baten wir darum, diesen törichten Brauch mit dem Tabu zu belegen. Das Gesicht Tembinok’s verfinsterte sich, und er antwortete nichts. Zögern bei der Anfrage wegen des Brunnens konnte ich verstehen, denn das Wasser ist sparsam auf einer niedrigen Insel, aber daß er sich weigern würde, in einer Kochangelegenheit dreinzureden, habe ich mir niemals träumen lassen, und ich nehme an, zu Recht oder Unrecht, daß er es ängstlich vermied, das Privatleben und die Gebräuche seiner Sklaven im geringsten anzutasten. So hat also auch hier unter einem absoluten Despotismus die öffentliche Meinung Gewicht, und selbst hier inmitten der Sklaverei hat die Freiheit eine Gasse.

Geordnet, nüchtern und unschuldig fließt das Leben auf der Insel dahin von Tag zu Tag wie auf einer Musterfarm und unter einem Musterpflanzer. Man kann die wohltätigen Wirkungen dieses harten Regiments nicht anzweifeln. Zierliche Höflichkeit, geschmeidiges und graziöses Benehmen, etwas weibisch und augendienerisch, zeichnet die Bewohner von Apemama aus; alle Händler sprechen davon, auch Besucher, die sowenig beliebt sind wie wir selbst, empfinden es, und selbst bei dem Koch konnte man es in den Augenblicken der größten Unverschämtheit noch wahrnehmen. Der König stand mit seiner männlichen und einfachen Art allein da. Man könnte sagen, er sei der einzige Gilbertinsulaner auf Apemama. Gewalttaten, die in Butaritari an der Tagesordnung sind, scheinen unbekannt zu sein, ebenso Diebstähle und Trunkenheit. Man versicherte mir, daß man den Versuch gemacht habe, Goldstücke am Strande vor dem Dorfe liegen zu lassen: sie blieben unangetastet. Während meines ganzen Aufenthaltes auf der Insel wurde ich nur einmal um Alkohol angegangen. Es handelte sich um einen höchst beredten Burschen, der europäische Kleider trug und ausgezeichnet Englisch sprach, mit Namen Tamaiti, oder wie die Weißen es verhunzt hatten: Tom White, einer von den Superkargos des Königs, die für drei Pfund monatlich und einen prozentualen Anteil arbeiten, einen Medizinmann, der im Privatleben Zauberer war. Er fand mich eines Tages am Rande des Dorfes an einem einsamen Ort, sonnig und abgeschlossen, wo die Tarofurchen tief und die Pflanzen hoch sind. Hier faßte er mich am Rockknopf, blickte sich wie ein Verschwörer um und fragte, ob ich Gin habe.

Ich sagte ihm, daß ich wohl Gin hätte. Er bemerkte, Gin sei verboten, lobte die Prohibition eine Weile und fuhr dann fort zu erklären, daß er ein Doktor sei oder » dogstar«, wie er das Wort aussprach, daß er Gin brauche für seine medizinischen Aufgüsse, daß er nichts mehr besitze und mir sehr dankbar wäre für eine Kleinigkeit in einer Flasche. Ich erzählte ihm, ich hätte dem König bei der Landung mein Wort verpfändet, aber da sein Fall so außergewöhnlich sei, wolle ich sofort zum Palast gehen und bezweifle nicht, daß Tembinok‘ mich für diesen Fall entbinden würde. Tom White wurde sofort von Angst und Schrecken erfaßt, flehte mich in den beweglichsten Ausdrücken an, ihn nicht zu verraten, und floh meine Nachbarschaft. Er besaß nichts von der Kühnheit des Kochs, Wochen vergingen, ehe er mir wieder unter die Augen zu kommen wagte, und dann nur auf Befehl des Königs und wegen einer besonderen Angelegenheit.

Je mehr ich den Triumph dieser starken Regierung durchschaute und bewunderte, desto mehr beschäftigte mich ein Problem auf das ernsthafteste, das vielleicht schon morgen für uns von Bedeutung sein konnte. Hier lebte ein Volk, geschützt vor allen ernsthaften Schicksalsschlägen, befreit von jeder ernsthaften Sorge und dessen beraubt, was wir unsere Freiheit nennen. Liebten sie diesen Zustand? Und wie waren ihre Gefühle gegenüber dem Herrscher? Die erste Frage konnte ich natürlich nicht stellen, auch konnten die Eingeborenen sie kaum beantworten. Selbst die zweite Frage war heikel, aber schließlich fand ich unter reizvollen und sonderbaren Bedingungen Gelegenheit, sie anzubringen, und einen Mann, der sie beantwortete. Es war nahezu Vollmond, und eine herrliche Brise wehte, die Insel war taghell, es wäre Gotteslästerung gewesen zu schlafen, und ich wanderte im Busch und spielte auf meiner Flöte. Es muß wohl der Ton meiner Musik gewesen sein – oder was ich selbstgefällig so nenne –, der einen anderen Wanderer in meine Richtung lockte. Es war ein junger Mann, mit seiner Matte bekleidet und mit einem Blumenkranz im Haar, denn er war soeben vom Tanzen und Singen in der Volkshalle gekommen. Sein Körper, sein Gesicht und seine Augen waren von entzückender Schönheit. Überall sieht man auf den Gilbertinseln junge Leute von dieser unglaublichen Vollkommenheit, ich beobachtete fünf Leute unserer Reisegesellschaft, die eine halbe Stunde in Bewunderung vor einem Knaben auf Mariki standen, und Te Kop, meinen Freund mit der feinen Matte und dem Blumenkranz, hatte ich schon verschiedentlich bemerkt und längst als das schönste Lebewesen von Apemama bezeichnet. Die Wirkung solcher Bewunderung muß sehr stark gewesen sein, oder die Eingeborenen sind besonders empfänglich dafür, denn ich habe selten auf diesen Inseln jemand bewundert, ohne daß er meine Bekanntschaft gesucht hätte. So war es auch mit Te Kop. Er führte mich zum Meeresstrand, und eine oder zwei Stunden lang saßen wir rauchend und plaudernd auf dem glänzenden Sand im unaussprechlichen Leuchten des Mondes. Mein Freund zeigte sich sehr empfänglich für die Schönheit und Anmut der Stunde. »Gute Nacht! Guter Wind!« rief er unausgesetzt aus, und indem er die Worte sprach, schien er mich zu umarmen. Vor langer Zeit habe ich solche immer wiederkehrenden Ausrufe des Entzückens für einen Typ, nämlich Felipe in meiner Geschichte »Olalla«, erfunden und wollte, daß er dadurch einigermaßen blöde wirkte. Aber in Te Kop war nichts Niedriges, sondern er empfand nur ein kindisches Vergnügen am Augenblick. Auch von seinem Begleiter war er nicht weniger entzückt oder freundlich genug, es zu sagen, und er ehrte mich, bevor er mich verließ, indem er mich Te Kop nannte. Er nannte mich »mein Name!«. Mit einer unaussprechlichen Betonung, indem er seine Hand gleichzeitig leicht auf meine Knie legte; und als wir aufgestanden waren und unsere Wege sich im Busch trennten, rief er mir zweimal in einer Art milder Verzückung nach: »Ich Euch lieben zuviel!« Von Anfang an hatte er kein Geheimnis aus seiner Furcht vor dem König gemacht, er wagte es nicht, sich niederzusetzen oder mehr als flüsternd zu sprechen, bevor er nicht die ganze Breite der Insel zwischen sich und seinem Monarchen wußte, der bereits harmlos schlief; und selbst dort, nicht mehr als einen Steinwurf vom großen Meer entfernt, wo unser Gespräch durch das Rauschen der Brandung und das Brausen des Windes in den Palmen eingehüllt wurde, sprach er immer noch vorsichtig, dämpfte seine Silberstimme, die im Chor laut genug ertönte, und blickte sich um wie ein Mann, der Spione fürchtet. Das sonderbarste ist, daß ich ihn niemals wiedersehen sollte. Auf jeder anderen Insel der ganzen Südsee würde jeder Eingeborene, den ich nur halb so weit an mich herankommen ließ, am nächsten Morgen vor meiner Tür gewesen sein, um Geschenke zu bringen und zu erwarten. Aber Te Kop verschwand für immer im Busch. Mein Haus war selbstverständlich unerreichbar, aber er wußte, daß er mich am Ozeanstrand, wohin ich täglich ging, finden konnte. Ich war der Kaupoi, der reiche Mann, mein Tabak und meine Handelswaren waren als unerschöpflich bekannt, er konnte eines Geschenkes sicher sein. Ich bin nicht imstande, sein Benehmen zu erklären, wenn man nicht vermuten dürfte, daß er sich einer Stelle in unserem Gespräch mit Schrecken und Bedauern erinnerte. Hier ist sie:

»Der König, er guter Mann?« fragte ich.

»Glauben er Euch lieben, er guter Mann«, antwortete Te Kop. »Nicht lieben, nicht gut!«

Das ist allerdings eine besondere Art, die Sache darzustellen. Te Kop war wahrscheinlich nicht beliebt, denn er sah, soweit ich beurteilen kann, nicht gerade wie ein fleißiger Mensch aus. Und eine Menge anderer Leute wird der König, um bei dem Ausdruck zu bleiben, nicht lieben. Lieben diese Unglücklichen den König? Oder ist die Abneigung nicht vielmehr gegenseitig? Ist der gewissenhafte Tembinok‘ genau wie der Braxfield vor ihm und viele andere gewissenhafte Herrscher und Richter vor beiden umgeben von einer beträchtlichen Anzahl von »Nörglern«? Man denke zum Beispiel an den Koch, der uns blau vor Wut und Zorn begegnete. Er war sehr wütend gegen mich, aber ich glaube, daß er nach allen Gesetzen der menschlichen Natur nicht gerade entzückt war von seinem Herrn. Dem reichen Manne wollte er auflauern, aber ich glaube, um Haaresbreite wäre es der König gewesen, dem er statt dessen aufgelauert hätte. Und der König gibt, wenigstens scheinbar, viele Gelegenheiten dazu; Tag und Nacht geht er allein umher, ob bewaffnet oder nicht, kann ich nur erraten, und die Tarofelder, wohin ihn seine Geschäfte sooft führten, scheinen für einen Mord geradezu vorbestimmt zu sein. Der Vorfall mit dem Koch belastete mein Gewissen schwer. Ich wollte meinen Feind nicht von einer zweiten Hand töten lassen, aber hatte ich das Recht, dem König, der mir vertraute, den gefährlichen, heimtückischen Charakter seines Dieners zu verbergen? Und angenommen, der König fiele, was wäre das Schicksal der Freunde des Königs? Damals war unsere Meinung, daß wir für die Inanspruchnahme des Brunnens teuer bezahlen müßten, daß unser Atem in des Königs Brust liege, daß, wenn der König irgendwie auf einem Tarofeld meuchlings getötet werden sollte, die philosophischen und musikliebenden Einwohner von Equatorstadt ihr liebliches Instrument beiseitezulegen und zu allen Waffen zu greifen hätten, die ihnen zur Verfügung standen, mit sehr schwachen Aussichten auf Erfolg. Diese Gedanken wurden uns aufgezwungen durch einen Vorfall, den ich mich schäme zu berichten. Der Schoner H. L. Haseltine, der inzwischen mit Verlust von elf Leben auf See gekentert ist, lief Apemama an zu einer für uns günstigen Zeit, da wir unsere Vorräte nahezu erschöpft hatten. Der König brachte gewohnheitsmäßig Tag für Tag an Bord zu, der Gin war unglücklicherweise nach seinem Geschmack, er brachte einen Vorrat mit an Land, und eine Zeitlang war der einzige Tyrann der Insel stark angeheitert. Er war nicht betrunken – der Mann ist kein Trinker, er hat immer Alkoholvorräte zur Hand, die er mit Mäßigkeit genießt, aber er war benebelt, träge und verworren. Er kam eines Tages zum Frühstück zu uns und verfiel auf seinem Stuhl in Schlaf, während das Gedeck aufgelegt wurde. Seine Verwirrung glich unserem Unbehagen, als er aufwachte und sah, daß er sich verraten habe. Nachdem er gegangen war, saßen wir beisammen und sprachen von der Gefahr, in der er sich befinde, und die nach unserer Ansicht bis zu einem bestimmten Grade auch uns anging. Wie leicht konnte der Mann in solchem Zustande von »Nörglern« überrascht werden! Eigenartige Dinge würden folgen: die königlichen Schätze und Vorräte würden in die Hände des Pöbels geraten, der Palast würde überrannt, die Weibergarnison verjagt werden. Und während wir noch sprachen, erschreckte uns ein Gewehrschuß und ein plötzlicher barbarischer Aufschrei. Ich glaube, wir wechselten alle die Farbe, aber es war nur der König, der auf einen Hund feuerte, und der Chor, der im Sprechhaus zu singen begann. Ein oder zwei Tage später erfuhr ich, daß der König sehr krank sei, ich ging hin, untersuchte den Fall und bewies mich sofort als höchste Autorität auf dem Gebiete der Medizin, indem ich doppelkohlensaures Natron hervorzog. Innerhalb einer Stunde war Richard wieder er selbst, und ich fand ihn bei dem unvollendeten Haus, wie er das doppelte Vergnügen genoß, Rubam Anweisungen zu erteilen und eine Mahlzeit von Kokosnußklößen zu verzehren. Er war sehr begierig, das Rezept dieser neuen Art von Schmerzstiller zu erfahren, denn Schmerzstiller ist auf den Inseln die Generalbezeichnung für jede Medizin. So endete des Königs bescheidene Zecherei und unsere Sorge.

Nach außen schien, wie ich behaupten möchte, die Autorität unangetastet. Als unser Schoner schließlich zurückkam, nach vielen unangenehmen Erfahrungen mit täuschenden Winden, brachte er das Gerücht, Tebureimoa habe Apemama den Krieg erklärt. Tembinok‘ wurde ein neuer Mensch, sein Gesicht strahlte, sein Gebaren war lebendig wie das eines Knaben, als er den Vorsitz führte im Rat der Häuptlinge in einem Maniap‘ des Palastes, seine Stimme ertönte schrill und jubelnd nach draußen über den halben Bezirk. Gerade einen Krieg wünschte er, und hier war die große Gelegenheit. Als der englische Kapitän seine Waffen in die Lagune warf, verbot er ihm alle militärischen Unternehmungen in der Zukunft, ausgenommen in einem einzigen Falle. Hier war der Fall gegeben. Der Rat tagte den ganzen Morgen, Leute wurden gedrillt, Waffen gekauft, das Krachen von Schüssen ertönte den ganzen Nachmittag, der König entwarf den Feldzugsplan und teilte ihn mir mit, er war höchst genau und klug, nur vielleicht ein wenig zu fein gesponnen für die rauhen Zufälligkeiten des Krieges. Und in all diesem Aufruhr schien die Verfassung der Bevölkerung ausgezeichnet zu sein, auf jedem Gesicht zeigte sich ungewohnte Begeisterung, und selbst Onkel Parker brannte vor militärischem Eifer.

Selbstverständlich war es ein falscher Alarm. Tebureimoa hatte andere Fische zu braten. Der Abgesandte, der uns auf unserer Rückkehr nach Butaritari begleitete, fand ihn zurückgezogen auf dem Riff einer kleinen Insel, er schmollte mit seinen Altmännern, war unwillig über die Händler und hatte mehr Furcht vor Aufständen in seinem Reich als Gelüste nach auswärtigen Kriegen. Der Bevollmächtigte war unter meinen Schutz gestellt worden, und wir begrüßten uns feierlich, als wir uns trafen. Er bewies sich als ausgezeichneter Fischer und fing Bonitos von Bord aus. Er ruderte vorzüglich und machte sich einen ganzen glühend heißen Nachmittag über sehr nützlich, indem er die in eine Windstille geratene »Equator« an der Küste von Mariki ins Schlepptau nahm. Er erledigte seinen Auftrag ohne großes Geschick, kehrte aber nach Hause zurück, ohne Unheil angerichtet zu haben.

O si sic omnes!

Sechstes Kapitel


Der König von Apemama: Teufelswerk

Der Meeresstrand von Apemama war unser täglicher Zufluchtsort. Flache Buchten schneiden in die Küsten ein, das Riff sieht frei, hebt sich etwas und schließt Lagunen von Knietiefe ein, die von der Brandung immerfort überspült werden. Der Strand besteht teils aus feinem Sand, teils aus zerbrochener Koralle; da die Küste in einem weiten Bogen verläuft, kann man von ihr immer nur eine Viertelmeile überblicken, und da das Land so niedrig ist, scheint der Horizont in Wurfnähe zu liegen, und die scheinbare Enge der Meereslandschaft erhöht noch den Eindruck des Abgeschlossenseins von der Welt. Die Menschen meiden den Platz, selbst Fußspuren sind selten, aber eine große Anzahl Vögel fliegt schreiend und fischend umher und läßt ihre Hakenspuren im Sande zurück. Davon abgesehen ist der einzige Laut – und ich möchte fast sagen, die einzige Gesellschaft – der der Sturzwellen am Riff.

Auf jedem Vorsprung der Küste hat man die Korallenbänke unmittelbar über dem Strand geebnet und einen ungefähr brusthohen Pfeiler gebaut. Es sind keine Grabsteine, denn alle Toten werden auf der bewohnten Inselseite in der Nähe der menschlichen Behausungen und, was schlimmer ist, ihrer Brunnen begraben. Man erzählte mir, man errichte diese Pfeiler, um die Insel vor Überfällen von der See zu schützen: göttliche oder teuflische Schutzwehren, wahrscheinlich Taburik, dem Gott des Donners, geweiht.

Die Bucht, die unserer Equatorstadt gerade gegenüberlag, und die wir zu Ehren unseres Kochs Fu-Bucht nannten, war auf diese Weise an den beiden vorspringenden Ecken befestigt. Sie war vom Riff gut geschützt, das Wasser drinnen war klar und ruhig, der Strand ringsherum bog sich wie ein Hufeisen und war an beiden Seiten steil und breit. Ein Fußpfad lief bis zur Mitte der eingeschlossenen Landzunge. Die Inlandswälder hörten schon vorher auf, und am Scheitel der Bucht hatte man in regelmäßigen Linien eine Figur auf dem Boden entworfen, etwa in der Form eines neuartigen Tennisplatzes, die Grenzlinien bildeten rund in den Boden eingebettete Steine, an den Ecken waren niedrige Pfeiler, gleichfalls aus Stein. Dies war des Königs Betplatz. Wann er betete, um was er betete, und an wen er seine Bitten richtete, habe ich niemals erfahren. Der eingeschlossene Bezirk war tabu.

Im Winkel, wo der Pfad aufhörte, stand ein verlassenes Maniap‘. In der Nähe hatte vor unserer Ankunft ein Haus gestanden, das jetzt forttransportiert war und augenblicklich in Equatorstadt benutzt wurde. Es war die Wohnung des Hüters und Zauberers dieses Ortes gewesen, Tamaitis, und sollte es wieder sein, wenn wir abreisten. Hier an diesem einsamen Platz, im Getöse des Meeres, hatte er eine Wohnstätte und übte seine unheimlichen Pflichten aus. Ich erinnere mich nicht irgendeines anderen Falles, wo ein Mensch auf einem offenen Atoll am Meeresstrande lebte, und Tamaiti muß starke Nerven, großes Zutrauen zu seinen eigenen Zauberkräften oder, was mir der Wahrheit näherzukommen scheint, einen beneidenswerten Skeptizismus besessen haben. Ob Tamaiti Wächter des Betplatzes war, habe ich nie festgestellt, aber seine eigene besondere Kapelle stand etwas zurück am Saum des Waldes. Es war ein Baum von ansehnlicher Größe. Rundherum war ein Kreis von Steinen gezogen, gleich denen, die den Betplatz einschlossen; vorn nach der See hin stand ein viel größerer, etwas ausgehöhlter Stein gleich einem Taufbecken, ganz dicht am Stamm, davor wieder erhob sich ein kegelförmiger Kieselhaufen. In der Vertiefung des Steines, die ich ein Taufbecken nannte – obgleich es sich herausstellte, daß es ein Zauberstuhl war –, lagen Opfergaben in Form grüner Kokosnüsse, und wenn man in die Höhe blickte, sah man die Äste des Baumes beladen mit sonderbaren Früchten: sorgfältig geflochtene Palmwedel und wunderbare Modelle von Kanus, bis zur letzten Einzelheit ausgeführt und ausgestattet. Das Ganze bot den Anblick eines Weihnachtsbaumes im Freien zur Mitsommerzeit mitten im Walde. Wir waren jedoch mit den Gebräuchen der Gilbertinseln bereits vertraut genug, um es beim ersten Anblick als ein Stück Zauberei oder, wie man auf der Inselgruppe sagt, als Teufelswerk zu erkennen.

Besonders die geflochtenen Palmzweige erkannten wir wieder. Wir hatten sie zuvor auf Apaiang gesehen, der christlichsten aller dieser Inseln, wo der ausgezeichnete Mr. Bingham lebte und arbeitete und goldene Erinnerungen hinterließ, woher alle erzieherischen Einflüsse auf den nördlichen Gilbertinseln stammen, und wo wir von kleinen eingeborenen Schülerinnen der Sonntagsschule in sauberen Röcken mit ernsten Gesichtern bedient wurden, die ihre Hymnen sangen, als wären sie dazu geschaffen.

Unser Erlebnis mit dem Teufelswerk auf Apaiang war folgendes: Wir übernachteten zufällig auf der Besitzung des Kapitäns Tierney. Meine Frau und ich wohnten bei einem Chinesen, eine halbe Meile entfernt, und Kapitän Reid und ein eingeborener Diener begleiteten uns beim Fackellicht dorthin. Auf dem Wege erlosch die Fackel, und wir nahmen Zuflucht zu einer kleinen einsamen christlichen Kapelle, um sie wieder anzuzünden. In den Sparren der Kapelle steckte ein Zweig geknüpfter Palmblätter. »Was ist das?« fragte ich. »Oh, das ist Teufelswerk«, sagte der Kapitän, »Und was ist Teufelswerk?« fragte ich weiter. »Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen, wenn wir zu Johnnies Haus kommen«, erwiderte er. Johnnies Haus war seltsam und klein, es lag auf der Höhe des Strandes, ungefähr drei Fuß auf Pfosten über der Erde, erreichbar durch eine Treppe; es hatte teils Wände, teils Gitterwerk. Reklamephotographien waren drinnen wie Trophäen als Schmuck aufgehängt, ein Tisch und ein Bett in einer Nische, in der meine Frau schlief, waren vorhanden, während ich auf dem mattenbedeckten Boden schlief mit Johnnie, Mrs. Johnnie, ihrer Schwester und mit einem Teufelsregiment von Schaben. Hierher wurde eine alte Hexe eingeladen, die gruselig ausschaute. Die Lampe wurde auf den Boden gesetzt, die Alte kauerte sich nieder auf der Schwelle, einen grünen Palmzweig in der Hand, das Licht fiel auf ihre gealterten Züge und beleuchtete hinter ihr die furchtsamen Gesichter von Zuschauern, die draußen in der schwarzen Nacht standen. Unsere Zauberei begann mit dem Gesang einer Beschwörung in alter Mundart, für die ich keinen Dolmetscher hatte. Hin und wieder löste sich aus der Menge draußen ein Lachen, das jeder Reisende auf diesen Inseln richtig einschätzen lernt: ein Lachen der Furcht. Zweifelsohne war diese halb christliche Bevölkerung empört und dieses halb heidnische Volk in Schrecken versetzt. Als nun Tschentsch oder Taburik auf diese Weise angerufen war, stellten wir unsere Fragen; die Hexe knüpfte die Blätter zusammen, hier ein Blatt und dort ein Blatt, offenbar nach irgendeinem arithmetischen System, beschaute das Ergebnis mit sichtlich großer seelischer Zufriedenheit und erteilte die Antworten. Sidney Colvin war bei bester Gesundheit und hatte eine Reise angetreten, und wir sollten am nächsten Morgen günstigen Wind haben, das war das Ergebnis unserer Fragen, für das wir einen Dollar zahlten. In der Morgenfrühe des nächsten Tages war der Himmel wolkenlos, es herrschte Windstille, aber ich glaube, Kapitän Reid verließ sich im geheimen ganz auf die Sybille, denn der Schoner wurde bereitgemacht, um in See zu gehen. Gegen acht Uhr fing die Lagune an, sich zu kräuseln, die Palmen bogen sich und rauschten, und vor zehn Uhr lagen wir draußen vor dem Kanal und fuhren dahin mit spritzenden Speigatten. So hatten wir also die Brise, die an sich bestimmt einen Dollar wert war, aber der Bericht über meinen Freund in England erwies sich sechs Monate später, als ich meine Post erhielt, als falsch. Vielleicht liegt London außerhalb des Machtbereichs der Inselgötter.

Tembinok‘ zeigte sich in seinen ersten Handlungen jedem Aberglauben stark abgeneigt, und hätte sich die Ankunft der »Equator« nicht verspätet, so hätten wir die Insel wohl verlassen in dem Glauben, er sei ein reiner Vernunftmensch. Es geschah aber eines Tages, daß er zu unserem Maniap‘ kam und meine Frau mitten im Patiencespiel antraf. Sie erklärte ihm das Spiel, so gut es ging, und fügte im Scherz hinzu, das sei ihr Teufelswerk, und wenn sie gewänne, käme die »Equator« morgen zurück. Tembinok‘ muß erleichtert aufgeatmet haben, letzten Endes waren wir also doch nicht so hoch erhaben, er brauchte sich nicht länger zu verstellen und legte gleich eine Beichte ab. Er treibe jeden Tag Teufelswerk, erzählte er uns, um zu wissen, ob Schiffe kommen würden, und von jetzt ab teilte er uns jedesmal die Resultate mit. Es war erstaunlich, wie regelmäßig er unrecht hatte, aber er hatte immer eine Erklärung bereit: irgendein Schoner war sicher auf offener See außer Sichtweite gewesen, aber er war entweder nicht auf der Fahrt nach Apemama, oder er hatte den Kurs geändert oder lag in einer Windstille fest. Ich mußte den König mit Ehrfurcht betrachten, wie er sich so in aller Öffentlichkeit selbst betrog. Hinter ihm sah ich alle Kirchenväter, alle Philosophen und Wissenschaftler der Vergangenheit und vor ihm alle, die da kommen werden, ihn selbst aber in der Mitte: die ganze schemenhafte Reihe mit der Aufgabe beschäftigt, Ungereimtheiten zu erklären. Tembinok‘ sprach bis zum Schluß nur sehr zurückhaltend über die Inselgottheiten, und ich erfuhr nur wenig. Taburik ist der Gott des Donners und beherrscht Wind und Wetter. Vor einiger Zeit gab es Zauberer, die ihn in der Form des Blitzes herbeirufen konnten. »Mein Vater erzählen, er ihn sehen: ich glauben, er lügen?« Tienti, das ungefähr wie Tschentsch ausgesprochen wird, schickt und nimmt körperliche Krankheiten. Man pfeift ihm nach Art der Paumotuaner und behauptet, daß er erscheine, aber der König hat ihn nie gesehen. Die Arzneimänner behandeln die Kranken mit der Hilfe von Tschentsch, aber der fürsorgliche Tembinok‘ wendet zu gleicher Zeit auch »Schmerzstiller« seiner Medizinkiste an, um dem Leidenden doppelte Gewähr zu bieten. »Ich denken, besser so«, bemerkte Se. Majestät mit mehr als gewöhnlicher Selbstgefälligkeit. Offenbar sind die Götter nicht neidisch und lassen sich gemeinschaftliche Altäre und Priester gefallen. An dem Medizinbaum von Tamaiti hängen zum Beispiel Kanumodelle, die für eine glückliche Reise gespendet sind und deshalb Taburik gewidmet sein müssen, aber der Stein vor dem Baum ist der Platz für Kranke, die gekommen sind, Tschentsch zu versöhnen.

Durch einen außerordentlich glücklichen Zufall traf es sich, daß ich mich von einer Erkältung bedroht sah, als wir gerade über diese Dinge sprachen. Ich erinnere mich nicht, daß ich jemals über eine Erkältung froh war oder es je wieder sein werde, aber die Gelegenheit, den Zauberer beim Werk zu sehen, war unbezahlbar, und ich zog die Ärzteschaft von Apemama zu Rate. Sie erschienen alle zusammen in ihrem Sonntagsstaat, behängt mit Kränzen und Muscheln, Abzeichen der Leute, die sich mit Teufelswerk beschäftigen. Tamaiti kannte ich schon, Terutak sah ich zum erstenmal: ein großer, hagerer, grobknochiger, ernster Nordseefischer brauner Hautfarbe; und außerdem war ein dritter in ihrer Gesellschaft, dessen Namen ich nicht hörte, und der eine Art Famulus von Tamaiti war. Tamaiti nahm mich zuerst in Behandlung und führte mich mit angenehmen Gesprächen zur Küste der Fu-Bucht. Der Famulus stieg auf einen Baum, um einige grüne Kokosnüsse zu pflücken. Tamaiti selbst verschwand einen Augenblick im Busch und kehrte zurück mit Kokoszunder, trockenen Blättern und einem Zweig der Wachsbeere. Ich wurde auf den Stein gesetzt, den Rücken zum Baum und das Gesicht nach Osten gerichtet, zwischen mir und dem Kieselhaufen wurde eine der grünen Nüsse gelegt, und dann trat Tamaiti – der vorher seine Füße entblößt hatte, denn er war in Segeltuchschuhen gekommen, die ihn plagten – zu mir in den magischen Kreis, höhlte die Spitze des Kieselhaufens aus, legte die Brennmaterialien hinein und zündete sie mit einem Streichholz an: es stammte von der englischen Firma Bryant and May. Die Flamme wollte sich nicht recht entzünden, und der Zauberer füllte die Zeit sehr unehrerbietig mit Gesprächen über fremde Städte aus, über London und allerlei Handelsgesellschaften, die viel Geld besitzen müßten, über San Franzisko und die furchtbaren Nebel, »gleich Rauch«, die ihn an den Rand des Todes gebracht hätten. Ich versuchte vergebens, ihn zur Sache zurückzubringen. »Jeder machen Medizin«, sagte er wegwerfend. Und als ich fragte, ob er selbst ein guter Zauberer sei, sagte er noch leichtherziger: »Nicht wissen.« Schließlich schlugen die Flammen aus dem Laub hervor, und er legte neues Brennmaterial auf; ein dichter heller Rauch stieg mir ins Gesicht, und die Flammen züngelten gegen meine Kleider und versengten sie. Inzwischen redete er den bösen Geist an oder tat wenigstens so, indem er die Lippen schnell aber lautlos bewegte, und gleichzeitig schwang er den grünen Zweig in der Luft und berührte zweimal meine Brust mit ihm. Sobald die Blätter verbrannt waren, wurde die Asche vergraben, der grüne Zweig wurde in den Kieselhaufen gebettet, und die Zeremonie war zu Ende.

Wer Tausendundeine Nacht gelesen hat, fühlte sich ganz zu Hause. Hier gab es Räucherwerk, hier gab es einen murmelnden Zauberer, hier war der öde Ort, an den Aladdin von dem falschen Onkel gelockt wurde. Aber in der Dichtung versteht man sich besser auf diese Dinge. Die Wirkung wurde durch die Leichtfertigkeit des Zauberers vereitelt, der seinen Patienten wie ein leutseliger Zahnarzt mit allerlei Gerede unterhielt, und durch die unangebrachte Gegenwart von Mr. Osbourne mit seiner Kamera. Was meine Erkältung betraf, so war sie weder besser noch schlechter geworden.

Nun wurde ich Terutak ausgeliefert, dem leitenden Arzt und Medizinfürsten von Apemama. Sein Wohnort liegt an der Lagunenseite der Insel direkt neben dem Palast. Ein Zaun von dünnem Holz, ungefähr zwei Fuß hoch, umschließt den länglichen, mit Kieseln bedeckten Platz, ähnlich dem Betplatz des Königs; in der Mitte steht ein grüner Baum, darunter ein Steintisch mit zwei Kästen, die mit einer feinen Matte zugedeckt sind, und vor denen täglich eine Opfergabe von Nahrungsmitteln niedergelegt wird, eine Kokosnuß, ein Stück Taro oder ein Fisch. An zwei Seiten stehen hinter dem Zaun Maniap’s, und ein Mitglied unserer Reisegesellschaft, das dort zeichnete, hatte täglich viele Leute und eine außergewöhnlich große Anzahl von kranken Kindern beobachtet, denn hier ist in der Tat das Krankenhaus von Apemama. Der Medizinmann und ich betraten allein den heiligen Platz. Die Kästen und die Matte wurden entfernt, und ich wurde statt ihrer auf den Stein gesetzt, das Gesicht wieder nach Osten gerichtet. Eine Weile blieb der Zauberer hinter mir, ohne daß ich ihn sehen konnte, und beschrieb Figuren in der Luft mit einem Palmenzweig. Dann schlug er leicht auf den Rand meines Strohhutes, und dieses Schlagen wiederholte er von Zeit zu Zeit, indem er statt dessen manchmal meinen Arm und meine Schulter streifte. Ungefähr zwölfmal haben Leute versucht, mich mit Mesmerismus zu behandeln, aber niemals mit dem geringsten Erfolg. Bei der ersten Berührung jedoch – an einer so wenig bedeutsamen Stelle wie dem Rande meines Hutes und mit nichts Wesentlicherem als einem Palmwedel, der von einem Manne geschwungen wurde, den ich nicht einmal sah – überfiel mich der Schlaf mit tausend Gewalten. Meine Muskeln erschlafften, meine Augen schlossen sich, mein Kopf summte vor Schläfrigkeit. Ich widerstand zunächst instinktiv und dann wie mit einem verzweifelten Ruck und schließlich erfolgreich, wenn man noch von Erfolg reden kann, da ich mühsam auf die Beine gelangte, schlafwandelnd nach Hause wankte, mich sofort aufs Bett warf und sofort in traumlose Betäubung versank. Als ich erwachte, war meine Erkältung verschwunden. Ich will diese Sache, die ich nicht verstehe, hiermit verlassen.

Indessen hatte sich mein Appetit auf Kuriositäten, der im allgemeinen nicht sehr groß ist, sonderbar verstärkt durch die heiligen Kästen. Sie waren aus Pandanusholz, länglich, an den Seiten wie Strohgeflecht, mit dünnen Säulchen versehen, an den Rändern mit Haar oder Fasern leicht besetzt und standen auf vier Füßen. Das Äußere war zierlich wie Spielzeug, das Innere ein Geheimnis, das ich entschlossen war zu enträtseln, aber der Weg dahin war von einem Löwen bewacht. Ich wollte Terutak‘ nicht darum angehen, weil ich versprochen hatte, auf der Insel nichts zu kaufen; ich wagte meine Zuflucht nicht zum König zu nehmen, denn ich habe von ihm schon mehr Geschenke erhalten, als ich erwidern könnte. In diesem Dilemma kamen wir schließlich auf einen Plan, da der Schoner endlich zurückgekehrt war. Kapitän Reid machte statt meiner einen Vorstoß, behauptete ein ungezügeltes Verlangen nach den Kästen zu empfinden und bat und erhielt die Erlaubnis, mit dem Zauberer einen Kaufvertrag abzuschließen. Am selben Nachmittag eilten der Kapitän und ich zum Krankenhaus, betraten den umzäunten Platz, hoben die Matte auf und hatten gerade begonnen, die Kästen eingehend zu betrachten, als Terutak’s Frau aus einem der nächsten Häuser stürzte, über uns herfiel, den Schatz an sich riß und verschwand. Eine größere Überraschung hatten wir nie erlebt. Sie kam, nahm und verschwand, ohne daß wir wußten wohin, und wir blieben mit dummlächelnden Gesichtern auf dem Schlachtfeld zurück. Das war ein würdiger Anfang unseres denkwürdigen Handels.

Bald darauf erschien Terutak‘, brachte Tamaiti mit sich, beide lächelten, und wir vier hockten nieder auf dem Geländer. In den drei Maniap’s des Krankenhauses war eine ansehnliche Zuhörerschaft versammelt: die Familie eines kranken Kindes, das in Behandlung war, die Schwester des Königs beim Kartenspiel und ein entzückendes Mädel, das schwor, ich sei das Ebenbild ihres Vaters – im ganzen ungefähr zwanzig Personen. Terutak’s Frau war ebenso unbemerkt, wie sie verschwand, zurückgekehrt und saß nun atemlos und wachsam an der Seite ihres Gatten. Vielleicht hatte sich das Gerücht unseres Verlangens verbreitet, oder wir hatten die Leute alarmiert durch unser unziemliches Benehmen: jedenfalls waren die Gesichter aller Anwesenden von Erwartung und Besorgnis erfüllt.

Kapitän Reid verkündete ohne Vorrede oder Verschleierung, daß ich gekommen sei, die Kästen zu kaufen; Terutak‘ weigerte sich, plötzlich sehr ernst, zu verkaufen. Wir drangen auf ihn ein, aber er blieb hartnäckig. Wir erklärten, daß wir nur einen Kasten wünschten: das mache nichts, zwei seien notwendig, um die Kranken zu heilen; wir fingen an zu spotten, suchten ihm durch Vernunftgründe näherzukommen: vergebens. Er saß ernst und still da und weigerte sich. Alles das war nur ein vorbereitendes Geplänkel, bis jetzt hatten wir noch keine Summe genannt, aber nun fuhr der Kapitän schweres Geschütz auf. Er nannte ein Pfund, dann zwei, darauf drei. Aus den Maniap’s kam einer nach dem andern herbei; manche mit erregten, andere mit entrüsteten Gesichtern. Das niedliche Mädel kauerte sich an meiner Seite nieder, und damals war es, daß sie, sicher in ganz unbeabsichtigter Schmeichelei, mir sagte, ich sähe ihrem Vater ähnlich. Tamaiti, der Ungläubige, saß da mit herabhängendem Haupt und allen Anzeichen der Niedergeschlagenheit. Terutak‘ troff vor Schweiß, sein Auge war verglast, sein Gesicht qualvoll gerötet, seine Brust hob und senkte sich wie nach einem Wettlauf. Der Mann muß von Natur habgierig gewesen sein, und ich glaube nicht, daß ich jemals moralische Todesqualen in tragischerer Form gesehen habe. Seine Frau neben ihm ermutigte ihn leidenschaftlich zum Widerstande.

Und nun erfolgte der Angriff der alten Garde. Der Kapitän machte einen Luftsprung und nannte die überraschende Ziffer von fünf Pfund. Als das Wort heraus war, war auch das Maniap‘ schon leer. Des Königs Schwester warf die Karten hin und kam mit umwölkter Stirn nach vorn, um zu lauschen. Das hübsche Mädel schlug an seine Brust und schrie in unermüdlicher Wiederholung, daß ich den Kasten bekäme, wenn er ihm gehörte. Terutak’s Frau geriet außer sich vor frommer Furcht, ihr Gesicht war entstellt, ihre Stimme, die ihn fast unaufhörlich warnte und ermutigte, klang schrill wie eine Pfeife. Selbst Terutak‘ verlor seine bildhafte Unbeweglichkeit, die er bis jetzt bewahrt hatte. Er schaukelte auf seiner Matte hin und her, warf die geschlossenen Knie von Zeit zu Zeit hoch und schlug nach Art der Tänzer gegen seine Brust. Aber er bewies sich als reines Gold in diesem Schmelztiegel, und mit dem letzten Rest der Stimmkraft, die ihm noch geblieben war, wies er die Bestechung zurück.

Und nun erfolgte zur rechten Zeit eine Unterbrechung. »Geld nicht heilen Kranke«, bemerkte die Schwester des Königs, als wenn sie ein Sprichwort zitiere, und als man mir die Bemerkung übersetzte, löste sich die Binde von meinen Augen, und ich errötete über mein Begehren. Hier war ein krankes Kind, und ich versuchte, nach Ansicht der Eltern, den Arzneikasten fortzunehmen. Hier war der Priester einer Religion, und ich, ein heidnischer Millionär, wollte ihn zum Kirchenraub anstiften. Hier war ein habsüchtiger Mensch, der hin und her gerissen wurde zwischen Begierde und Gewissenstreue, und ich saß dabei, weidete mich an dem Anblick und erneuerte lüstern seine Qualen. Ave, Cäsar! Verborgen in einer Ecke, schlafend, aber nicht tot, besitzen wir alle jene Naturveranlagung: eine kindliche Leidenschaft für den Sand und das Blut der Arena. So endete ich meine erste und letzte Erfahrung mit den Freuden eines Millionärs und ging unter schweigendem Entsetzen von dannen. Nirgendwo sonst darf ich erwarten, die Tiefen der menschlichen Natur durch ein Gebot von fünf Pfund zu erregen; nirgendwo kann ich hoffen, die schlimmen Folgen des Reichtums so deutlich vor mir zu sehen, selbst nicht durch Spendung von Millionen. Alle Anwesenden mit Ausnahme der Schwester des Königs hatten keine Ahnung von dem Ernst und der Gefahr der Situation. Ihre Augen glühten, das Mädchen schlug seine Brust in sinnloser tierischer Erregtheit. Nichts wurde ihnen geboten, sie hatten weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren: der bloße Name und die Witterung jener großen Summe ließ sie wie vom Teufel besessen erscheinen.

Von diesem einzigartigen Schauspiel ging ich direkt zum Palast, traf den König, bekannte ihm, was ich getan hätte, bat ihn, Terutak‘ in meinem Namen zu seiner Tugendhaftigkeit zu beglückwünschen und einen ähnlichen Kasten für mich machen zu lassen bis zur Rückkehr des Schoners. Tembinok‘, Rubam und eine der »Tageszeitungen« – der Mann, den wir die Witzecke zu nennen pflegten – plagten sich eine Weile mit irgendeinem Gedanken ab, den sie mir schließlich begreiflich machen konnten: sie fürchteten, daß ich glaubte, der Kasten werde mich gesund machen, während er doch ohne Zauberei nutzlos sei; wenn ich also von einer zweiten Erkältung heimgesucht würde, sollte ich mich lieber auf »Schmerzstiller« verlassen. Ich erklärte, ich wolle den Kasten nur in meinem Hause aufbewahren, als ein Andenken an Apemama. Und nun waren diese ehrlichen Männer ganz erleichtert.

Spät am Abend, als meine Frau die Insel nach Osten zu durchwanderte, hörte sie Singen im Busch. Zu dieser Stunde und an diesem Ort ist es nichts Außergewöhnliches, den jubelnden Chor der Palmweinzapfer zu hören, die hoch zu Häupten in der Luft schwingen und tief unter sich das schmale Band der Insel, ringsherum das weite Meer und die Feuer des Sonnenunterganges sehen. Aber dieser Gesang hatte einen ernsthaften Charakter und schien vom Erdboden aufzusteigen. Meine Frau drang eine Strecke ins Dickicht vor, sah einen freien Platz, in der Mitte eine Matte ausgebreitet und auf der Matte einen Kranz von weißen Blumen und einen der Teufelswerkkästen. Eine Frau, vermutlich Frau Terutak‘, saß davor, beugte sich bald über den Kasten wie eine Mutter über eine Wiege, bald hob sie das Gesicht und sandte ihren Gesang zum Himmel. Ein vorübergehender Palmweinzapfer erzählte meiner Frau, daß sie bete. Vielleicht betete sie nicht, sondern leistete Abbitte, und vielleicht war es auch eine Zeremonie der Entzauberung. Denn der Kasten war bereits zur Auslieferung bestimmt, er sollte Abschied nehmen von seinem grünen Medizinraum, seiner ehrwürdigen Umgebung und seinen frommen Hütern, er sollte in die Hand der Ungläubigen geraten, drei Ozeane überqueren, ans Land gebracht werden unter der Narrenkappe der Sankt-Pauls-Kathedrale, aufgestellt werden in der Nähe von Lillie Bridge, dort sollte ihn ein englisches Stubenmädchen abstauben, und vielleicht würde er den Lärm Londons mit der Stimme des Meeres am Riff verwechseln. Bevor wir noch unser Mittagessen beendet hatten, hatte Tschentsch seine Reise angetreten, und eine der »Tageszeitungen« hatte bereits den Kasten auf meinen Tisch niedergesetzt als Ehrengabe von Tembinok‘.

Ich eilte sofort zum Palast, dankte dem König, aber bot ihm an, den Kasten zurückzugeben, denn es sei mir ein unerträglicher Gedanke, daß die Kranken der Insel durch mich leiden sollten. Seine Antwort versetzte mich in das größte Erstaunen. Terutak‘, so schien es, hatte drei oder vier Kästen für alle Fälle in Reserve, und sein Zögern und die Furcht, die sich zunächst auf jedem Antlitz zeigte, war nicht im geringsten hervorgerufen durch den Gedanken, man sei in Zukunft ärztlicher Hilfe beraubt, sondern durch die unmittelbare Anwesenheit des göttlichen Tschentsch. Um so höher schätzte ich den Befehl des Königs ein, der imstande gewesen war, augenblicklich und unentgeltlich ein Geschenk zu erzwingen, das als Sakrileg aufgefaßt wurde, und das ich vergeblich mit Millionen zu erlangen versucht hatte! Aber nun hatte ich eine schwierige Aufgabe vor mir. Es lag nicht in meiner Absicht, daß Terutak‘ unter seiner Tugendhaftigkeit leiden sollte, und ich mußte den König zu meiner Ansicht bekehren, damit er mir gestatte, einen seiner Untertanen zu bereichern und, was noch heikler war, für das Geschenk zu bezahlen. Nichts zeigt den König in schönerem Licht als die Tatsache, daß ich Erfolg hatte. Zunächst erhob er Einwendungen aus prinzipiellen Gründen, dann ereiferte er sich wegen der Summe. »Viel Geld!« rief er verächtlich und mißfällig aus. Aber sein Widerstand war nicht ernst, und als sein Mißmut verflogen war, sagte er: »Gut, Ihr ihn haben, besser so.«

Mit dieser Erlaubnis ausgerüstet, ging ich sofort zum Krankenhaus. Die Nacht war jetzt gekommen, kühl, dunkel und sternenklar. Dicht bei einem hellen Feuer von Holz und Kokosnußschalen lag Terutak‘ auf einer Matte neben seiner Frau. Beide lächelten, die Angst war vorüber, der Befehl des König hatte, wie ich annehmen mußte, ihre Unruhe und Zweifel beseitigt, und sie baten mich, neben ihnen Platz zu nehmen und die kreisende Pfeife mit ihnen zu teilen. Ich war selbst ein wenig bewegt, als ich die fünf Goldstücke in des Zauberers Hand legte, aber kein Zeichen der Erregung war in Terutak’s Gesicht, als er sie mir zurückreichte, auf den Palast zeigte und den Namen Tembinok’s aussprach. Wie verwandelt war der Anblick, als es mir gelungen war, ihm alles zu erklären. Terutak‘, der lange, trockene, schottische Fischer, der er war, drückte seine Zufriedenheit maßvoll aus, aber sein Weib frohlockte, und es war ein alter Herr anwesend – ich glaube, ihr Vater –, der nahezu entzückt schien. Seine Augen drangen ihm aus dem Kopf: »Kaupoi! – reich, reich!« kam es immer wieder von seinen Lippen, und er konnte meinem Blick nicht begegnen, ohne in kindliches Gelächter auszubrechen. So konnte ich also nach Hause gehen, die Familie bei ihrem Feuer, glückselig über die neuen Millionen, zurücklassen und über den sonderbaren Tag nachdenken. Ich hatte die Tugendhaftigkeit Terutak’s geprüft und belohnt. Ich hatte den Millionär gespielt, mich schandbar benommen und dann in gewissem Sinne meine Gedankenlosigkeit wieder gutgemacht. Und nun besaß ich meinen Kasten, konnte ihn öffnen und hineinblicken. Er enthielt eine winzige Schlafmatte und eine weiße Muschel. Tamaiti, den ich am nächsten Tage über die Muschel fragte, erklärte mir, es sei nicht geradezu Tschentsch, aber immerhin eine Zelle oder ein Körper, den er zeitweise bewohne. Auf meine Frage, warum eine Schlafmatte darin sei, antwortete er entrüstet: »Warum Ihr haben Schlafmatten?« Und das war der skeptische Tamaiti! Aber Insulanerskeptizismus reicht niemals weiter als bis zu den Lippen.

Sechstes Kapitel


Das fünftägige Fest

Donnerstag, den 25. Juli. Die Straße war an diesem Tage stark belebt durch die Anwesenheit der Leute von Klein-Makin. Sie sind durchgängig größer als die Leute von Butaritari, waren wegen des Festtages mit gelben Blättern bekränzt und trugen prächtige, grellfarbige Gewänder. Man sagt, daß sie wild und auf diese Auszeichnung stolz sind. Tatsächlich schien es uns, als ob sie, ihrer barbarischen Tugenden wohl bewußt, in der Stadt umherstolzierten wie die Hochländer in ihren Plaids auf den Straßen von Inverneß.

Am Nachmittag sah man das Sommerhaus gerammelt voll von Menschen, viele standen draußen und drängelten wie Kinder bei uns zu Hause vor einem Zirkus, um einen Blick unter das niedrige Dach zu werfen. Es war die Gesangstruppe von Makin, die ihre Proben abhielt für den Tag des Wettbewerbes. Karaiti saß in der ersten Reihe dicht bei den Sängern, wohin auch wir gebeten wurden, um neben ihm zu sitzen, wahrscheinlich zu Ehren der Königin Viktoria. Eine gewaltige, atemraubende Hitze lag unter dem eisernen Dach, und die Luft war schwanger vom Duft der Kränze. Die Sänger saßen gruppenweise auf der Erde, feingeflochtene Matten um die Hüften, Kokosnußfedern als Ringe auf den Fingern, die Häupter gekrönt mit gelben Blättern. Eine verschiedene Anzahl von Solisten erhob sich zu den verschiedenen Gesängen, die den Hauptteil der Musik ausmachten. Aber alle Gruppen in ihrer Gesamtstärke trugen ständig zur Wirkung bei, auch wenn sie nicht sangen. Sie markierten scharf den Takt, äfften einander nach, schnitten Grimassen, warfen Köpfe und Blicke hin und her, ließen die Federn an ihren Fingern flattern, klatschten in die Hände oder schlugen an ihre linke Brust, daß es laut dröhnte wie eine Kesselpauke. Der Rhythmus war prächtig, die Musik barbarisch, aber voll bewußter Kunst. Ich bemerkte, daß gewisse Kunstgriffe ständig angewandt wurden. Eine plötzliche Änderung des Schlusses, glaube ich, wurde ohne Unterbrechung des Rhythmus vorgenommen, der durch plötzliche dramatische Erhöhung der Stimmlage und schwingendes allgemeines Gestikulieren betont wurde. Die Stimmen der Solisten begannen in großen Tonunterschieden und rauhem Mißklang, um allmählich zusammenzufließen. Dann fiel der volle Chor ein und übertönte sie. Die gewöhnlich gehetzte, bellende, unmelodische Tonfolge wurde manchmal herrlich unterbrochen von einer psalmenähnlichen Melodie, die oft gut erfunden war oder es wenigstens schien, aus dem Gegensatz heraus. Der Rhythmus wechselte oft, und am Schlusse jedes Vortrages, wenn das Tempo rasch und wild geworden war, folgten diese Takte:

Es ist schwer zu begreifen, wie sie soviel Feuer und Besessenheit in diese gehämmerten Schlußrhythmen legen können. Alles vereinigt sich: Stimme, Hände, Augen, Blätter und flatternde Fingerringe, der Chor schwingt hin und her vor unseren Augen, der Gesang dröhnt pulsierend in den Ohren, die Gesichter verzerren sich vor Begeisterung und Anstrengung.

Bald darauf erhob sich die ganze Truppe, die Trommler bildeten einen Halbkreis für die Solisten, die manchmal fünf oder mehr zählten. Die folgenden Gesänge waren höchst dramatisch. Obgleich ich niemand hatte, der mir irgendeine Erklärung gab, konnte ich manchmal schattenhafte, aber entschiedene Umrißlinien einer Handlung feststellen, und ich wurde beständig an gewisse streithaft verwickelte Szenen unserer großen Opern daheim erinnert: genau so heben sich hier einzelne Stimmen aus dem allgemeinen Vortrag heraus und treten wieder zurück, genau so trennen sich die Darsteller und kommen wieder zusammen, schütteln die erhobene Faust und rollen das Auge zum Himmel – oder zur Galerie. Schon das geht über das primitive Vorbild des Tespiskarrens hinaus, die Kunst dieses Volkes ist bereits jenseits des Embryostadiums: Gesang, Tanz, Trommeln, Quartett und Solo – es ist ein vollentwickeltes Drama, wenn auch in kleinen Umrissen. Von allen sogenannten Tänzen in der Südsee waren die in Butaritari bei weitem die besten. Das »Lula«, das der eilige Globetrotter in Honolulu sehen kann, ist ohne Zweifel die langweiligste aller menschlichen Erfindungen, und der Zuschauer gähnt ob seiner Länge wie bei einer Universitätsvorlesung oder einer Parlamentsdebatte. Aber der Tanz der Gilbertinseln hat geistige Elemente, er erregt, reißt mit sich fort und hält im Bann, er besitzt das Wesen aller echten Kunst, eine unerforschliche innere Bedeutung. Wo so viele mitwirken und alle im gegebenen Augenblick dieselbe rasche, kunstvolle und oft willkürliche Bewegung machen müssen, ist die Belastung durch Proben selbstverständlich außerordentlich groß. Aber sie beginnen als Kinder, man kann oft ein Kind und einen Mann zusammen in einem Maniak sehen: der Mann singt und gestikuliert, das Kind steht vor ihm mit strömenden Tränen und ahmt zitternd Bewegung und Ton nach; der Künstler auf den Gilbertinseln muß wie alle Künstler seine Kunst in Schmerzen lernen.

Es könnte den Anschein haben, als ob ich in meinem Lob zu weit ginge, aber ich gebe hier eine Stelle aus dem Tagebuch meiner Frau wieder, die beweist, daß nicht ich allein bewegt war, und die das Bild abrundet: »Der Dirigent gab das Zeichen, und alle Tänzer schwangen die Arme, bewegten ihre Körper hin und her und klopften in vollendetem Rhythmus gegen die Brust. Das war die Einleitung. Die Darsteller blieben sitzen, ausgenommen von zweimal drei und zweimal einem einzigen Solisten. Diese standen in der Gruppe und machten kleine Bewegungen mit den Füßen, während ihr Körper bei dem Gesang leise rhythmisch mitschwang. Nach diesem Vorspiel trat eine Pause ein, und dann begann die richtige Oper – denn es war nichts Geringeres als das –, eine Oper, in der jeder Sänger ein vollendeter Schauspieler war. Der Hauptdarsteller schien sich in leidenschaftlicher Ekstase, die ihn vom Kopf bis zu den Füßen beherrschte, zu verwandeln. Einmal war es, als wehe ein starker Wind über die Bühne – die Arme und die befiederten Finger erbebten in einer so starken Bewegung, daß auch meine Nerven mitzitterten: Kopf und Körper beugten sich wie ein Kornfeld im Stoßwind. Mein Blut wurde heiß und kalt, Tränen drangen mir in die Augen, meine Gedanken verwirrten sich, ich fühlte einen fast unwiderstehlichen Drang, mich den Tänzern anzuschließen. Ich glaube das eine Drama ziemlich genau verstanden zu haben; ein wüster, wilder alter Mann spielte die Solopartie. Er sang von der Geburt eines Prinzen, und wie er zärtlich gewiegt wurde in den Armen der Mutter, von seiner Kindheit, da er sich vor den Freunden auszeichnete im Schwimmen, Klettern und allen athletischen Sports, von seiner Jünglingszeit, da er mit dem Boot ins Meer hinausfuhr und fischte, von seiner Manneszeit, da er eine Frau heiratete, die einen Sohn von ihm in ihren Armen trug. Dann folgte Kriegsalarm und eine große Schlacht, deren Ausgang eine Zeitlang zweifelhaft war, aber der Held siegte wie alle Helden, und mit einem riesigen Siegesgeschrei schloß das Stück. Es gab auch komische Stücke, die großes Vergnügen bereiteten. Während eines Vortrages ergriff mich ein alter Mann hinter mir am Arm, drohte mir mit schelmischem Lächeln und sagte kichernd irgend etwas, was ich ungefähr auslegte wie: ›O ihr Frauen, ihr Frauen, es ist wahr, ihr seid alle gleich!‹ Ich fürchte, es war kein Kompliment. Niemals sah man das geringste Zeichen jener häßlichen Unanständigkeiten der östlichen Inseln. Alles war reine und einfache Poesie. Die Musik war so schwierig wie die unsere, obgleich sie nach anderen Gesetzen aufgebaut war. Ein oder zweimal überraschte mich eine Tonfolge, die der besten englischen Kirchenmusik sehr ähnlich war, aber sie dauerte nur einen Augenblick. Schließlich fand eine längere Pause statt, und diesmal waren die Tänzer alle auf den Beinen. Mit der Entwicklung des Dramas wuchs das Interesse. Die Schauspieler munterten einander auf und riefen die Zuhörer und den Himmel droben an, berieten sich miteinander, und die Verschwörer bildeten eine Gruppe. Es war genau wie in der Oper, die Trommeln fielen an geeigneten Stellen ein, Tenor, Bariton und Baß waren vorschriftsmäßig, nur daß die Stimmen alle denselben Umfang besaßen. Eine Frau sang einmal von der hinteren Reihe mit einer sehr feinen Altstimme, die verdorben war, weil man sie künstlich nasal gemacht hatte. Ich bemerkte, daß alle Frauen diese unangenehme Unsitte angenommen hatten. Einmal war ein Knabe von engelhafter Schönheit der Solist, und ein andermal wurde ein Kind von sechs oder acht Jahren, sicher ein Wunderkind, das ausgebildet wurde, in die Mitte gestellt. Der kleine Kerl war zuerst entsetzlich furchtsam und scheu, aber zum Schluß wurde er warm und zeigte viel dramatisches Talent. Der wechselnde Ausdruck auf den Gesichtern der Tänzer war so sprechend, daß man sehr dumm sein mußte, um sie nicht zu verstehen.«

Unser Nachbar bei der Vorstellung, Karaiti, ist Sr. Butaritarischen Majestät in Gestalt und Gesichtsschnitt ähnlich, er ist gleich ihm würdig, trägt einen Bart und sieht aus wie ein Orientale. Im Charakter scheint er das Gegenteil zu sein: beweglich, lächelnd, jovial, witzig und fleißig. Zu Hause arbeitet er auf seiner eigenen Insel wie ein Sklave und läßt sein Volk wie ein Sklaventreiber arbeiten. Er hat Interesse für neue Ideen. Der Händler George erzählte ihm von Flugmaschinen. »Ist das wahr, George?« fragte er. »Es steht in der Zeitung«, antwortete George. »Nun gut,« sagte Karaiti, »wenn jener Mann das mit seiner Maschine tun kann, so kann ich es ohne Maschine.« Und er entwarf und verfertigte ein Paar Flügel, befestigte sie an seinen Schultern, ging zum Ende des Piers, warf sich in den freien Raum und fiel plump ins Meer. Seine Weiber fischten ihn heraus, denn seine Flügel hinderten ihn am Schwimmen. »George,« sagte er innehaltend, als er nach Hause ging, um sich umzuziehen, »George, du lügst«. Er hatte acht Frauen, denn in seinem kleinen Reich befolgte man noch die alten Gebräuche, aber er schien verwirrt, als man es meiner Frau erzählte. »Erzähle ihr, daß ich nur eine mitgebracht habe«, sagte er besorgt. Im großen ganzen gefiel uns dieser schwarze Douglas sehr, und als wir weitere Einzelheiten über die Beunruhigung des Königs hörten und mit unseren eigenen Augen sahen, daß alle Waffen im Sommerhaus versteckt worden waren, beobachteten wir mit um so mehr Bewunderung den Urheber all dieser Furcht, der auf seinen mächtigen Beinen mit seinem großen lächelnden Gesicht offenbar unbewaffnet und bestimmt ohne Begleitung durch die feindliche Stadt trottete. Der rote Douglas, der dickbäuchige Kuma, hatte wohl von dem Gelage gehört und war auf seinem Lehen geblieben; seine Vasallen kamen also ohne Befehlshaber zum Fest und vermehrten die Gefolgschaft Karaitis.

Freitag, den 26. Juli. Abends in der Dunkelheit marschierten die Sänger von Makin auf der Straße vor unserem Hause auf und sangen den Gesang der Prinzessin: »Dies ist der Tag, heute wurde sie geboren, Nei Kamaunava wurde heute geboren, eine wunderschöne Prinzessin, die Königin von Butaritari.« So ging es, wie man mir sagte, in endloser Wiederholung. Das Lied paßte natürlich nicht für den Tag, die Vorstellung war nur eine Probe. Aber sie war gleichzeitig eine Serenade, eine zarte Aufmerksamkeit für uns von unserem neuen Freund Karaiti.

Sonnabend, den 27. Juli. Wir hatten für den heutigen Abend eine Vorstellung mit der Laterna magica in der Kirche angekündigt, und das veranlaßte den König, uns zu besuchen. Zu Ehren des schwarzen Douglas (wie ich vermute) waren seine gewöhnlichen zwei Wächter nun auf vier vermehrt, und die Rotte machte einen ausländischen Eindruck, wie sie hinter ihm hertrottete in Strohhüten, kurzen Röcken und Jacken. Drei von ihnen trugen ihre Gewehre umgedreht, die Kolben über den Schultern, die Mündungen drohend gegen den plumpen Rücken des Königs gerichtet; der vierte hatte seine Flinte auf den Nacken geworfen und hielt sie mit ausgestreckten Armen wie einen Geradehalter. Der Besuch dauerte außerordentlich lange; der König, nun nicht mehr von Gin angeregt, sagte und tat nichts. Er saß zusammengebrochen im Stuhl und ließ seine Zigarre ausgehen. Es war heiß, es war einschläfernd, es war grausam langweilig; keine Abwechslung, als in der Gestalt Tebureimoas nach letzten Spuren des »Herrn Leichnam«, des Menschenschlächters, zu suchen. Seine Habichtsnase, roh eingedrückt und abgeplattet an der Spitze, schien uns wahrhaftig nach mitternächtiger Mordtat zu riechen. Als er sich verabschiedete, bat mich Maka, ihn beim Herabschreiten der Verandatreppe oder vielmehr -leiter zu beobachten. »Alter Mann«, sagte Maka. »Ja,« sagte ich, »und doch glaube ich, nicht bejahrt.« »Junger Mann,« erwiderte Maka, »vielleicht vierzig«. Und ich habe inzwischen gehört, daß er wahrscheinlich noch jünger ist. Während die Laterna magica vorgeführt wurde, strich ich draußen im Dunkeln umher. Die Stimme Makas, der erregt die Bibelbilder erklärte, schien nicht nur die Kirche, sondern auch die ganze Nachbarschaft zu erfüllen. Sonst war alles still. Bald darauf erhob sich in der Ferne leises Singen und näherte sich; eine Prozession kam auf dem Wege heran, und der heiße, reine Geruch von Männern und Frauen traf mein Gesicht. An der Ecke hielten sie an, stutzig geworden durch die Stimme Makas und das Aufflammen und Verdunkeln der Kirche. Sie hatten keine Lust näherzugehen, das war klar. Es waren die Leute von Makin, wahrscheinlich unentwegte Heiden, wie ich glaube, Verächter des Missionars und seines Werkes. Plötzlich brach jedoch ein Mann aus der Gesellschaft aus, rannte so schnell er konnte und floh in die Kirche hinein; im nächsten Augenblick folgten ihm drei weitere, und gleich darauf war es eine Horde von zwanzig, die alle für ihr Leben dahinstürzten. So stand die kleine Horde der Heiden unentschlossen an der Ecke und schmolz angesichts der Verlockungen einer Laterna magica wie ein Gletscher im Frühling zusammen. Die Entschlosseneren redeten vergebens auf die Deserteure ein; noch drei folgten in schuldbewußtem Schweigen und flohen, und als der Führer schließlich den Witz oder die Autorität fand, seine Truppe in Bewegung zu setzen und den Gesang wieder zu beleben, zogen die Musikanten mit stark verminderten Kräften ihres Weges dahin im Dunkeln.

Inzwischen leuchteten im Innern die Lichtbilder auf und verblaßten. Ich stand eine Weile unbeobachtet hinter den Zuschauern und sah vor mir ein Liebespaar das Schauspiel mit Interesse verfolgen, wobei der Jüngling Erklärungen gab und wie Adam Zärtlichkeiten mit den Unterweisungen verband. Die wilden Tiere, besonders ein Tiger, und jenes alte Schulbeispiel, der Schläfer und die Maus, wurden mit Freudenschreien begrüßt, aber das Hauptwunder und größte Entzücken bildeten die Bilder aus den Evangelien. Maka war nach Ansicht seines betrübten Weibes der Situation nicht ganz gewachsen. »Was ist mit meinem Mann los? Warum kann er nicht reden?« rief sie aus. Ich glaube, daß die große Gunst der Gelegenheit den Mann verwirrt hatte, er taumelte gewissermaßen vor Glück, und ob er nun gut oder schlecht sprach: die Vorführung dieser frommen »Gespenster« brachte tatsächlich in diesem ganzen Inselbezirk die Stimmen der Spötter zum Schweigen. »Da seht ihr,« ging die Rede, »die Bibel ist wahr!« Und als wir später zu dieser Insel zurückkehrten, erzählte man uns, daß der Eindruck immer noch lebendig sei, und daß diejenigen, die die Bilder gesehen hatten, zu den anderen sagten: »O ja, es ist alles wahr, diese Dinge haben sich zugetragen, wir haben die Bilder gesehen.« Die Beweisführung ist nicht so kindlich, wie sie scheint, denn ich bezweifle, ob diese Inselbewohner außer der Photographie irgendein anderes Wiedergabeverfahren kennen, so daß das Bild irgendeines Vorkommnisses für einen starken Beweis des wirklichen Geschehens gelten mußte. Alles nach dem alten englischen Melodramagrundsatz: »Die Kamera kann nicht lügen, Joseph!« Diese Tatsachen belustigten uns um so mehr, als unsere Platten teilweise albern und spaßhaft waren, und ein Bild (Christus vor Pilatus) wurde mit großer Heiterkeit aufgenommen, in die selbst Maka sich veranlaßt sah einzustimmen.

Sonntag, den 28. Juli. Karaiti kam mit einer Bitte um Wiederholung der »Gespenster« – dieses war das gebräuchliche Wort –, und als er die Zusage bekommen hatte, wandte er sich ab und verließ meine bescheidene Hütte ohne den Schatten eines Abschiedsgrußes. Es schien mir unklug, auch nur die winzigste Geringschätzung einzustecken. Die Zeiten waren zu schwierig gewesen und immer noch kritisch. Königin Viktorias Sohn war gezwungen, die Ehre seines Hauses aufrechtzuerhalten. Karaiti wurde also am Abend zu Ricks geladen, wo Frau Rick mit scharfen Worten über ihn herfiel und Königin Viktorias Sohn ihn mit entrüsteten Blicken musterte. Ich war der Esel im Löwenfell, ich konnte nicht brüllen in der Sprache der Gilbertinseln, aber ich konnte ihn anstarren. Karaiti erklärte, er habe mich nicht beleidigen wollen, entschuldigte sich in vernünftiger, herzlicher und männlicher Weise und gewann sofort seine Unbefangenheit wieder. Er ließ sich einen Dolch zur Prüfung vorlegen und verkündete, er wolle morgen in der Frühe kommen, um einen Preis zu machen, heute sei Sonntag. Diese Höflichkeit eines Helden mit acht Frauen überraschte mich. Der Dolch sei gut, »um Fische zu töten«, sagte er verschlagen und hatte vermutlich Fische mit zwei Beinen im Auge. Sonderbar genug ist es, daß in Ostpolynesien »Fisch« der gebräuchliche beschönigende Ausdruck für Menschenopfer ist. Nach der Bevölkerung seiner Insel gefragt, rief Karaiti seine Vasallen, die draußen vor der Tür saßen und auf ihn warteten, und sie nannten die Zahl vierhundertfünfzig, aber Karaiti fügte heiter hinzu, es würden bald viel mehr sein, denn alle Frauen seien in anderen Umständen. Lange bevor wir uns trennten hatte ich seine Beleidigung ganz vergessen. Er jedoch trug sie im Gedächtnis und hatte den anmutigen Einfall, in der Frühe des nächsten Tages zurückzukehren, uns einen langen Besuch abzustatten und sich höchst förmlich zu verabschieden, als er fortging.

Montag, den 29. Juli. Endlich kam der große Tag. In den ersten Abendstunden erklang lautes Händeklatschen und der Lobgesang auf Nei Kamaunava. Die melancholischen, langsamen und manchmal drohenden Rhythmen wurden stellenweise von schrecklichem Geschrei unterbrochen. Das kleine Menschenkind, das in den dunklen Stunden auf diese Weise gefeiert wurde, sah man mittags im Grünen ganz nackt, völlig unbeachtet und gleichmütig spielen.

Das Sommerhaus auf dem künstlichen Inselchen hob sich ab gegen die schimmernde Lagune und erglänzte in der Sonne, die auf dem Wellblech lag. Den ganzen Tag war es umgeben von heiteren Männern und Frauen, drinnen dichtgefüllt mit Insulanern jeden Alters und jeder Größe, in allen Stadien der Nacktheit und Eleganz. Wir saßen so dichtgedrängt, daß ich einmal eine wunderbar schöne Frau auf meinen Knien trug, während zwei nackte kleine Straßenjungen ihre Füße gegen meinen Rücken stemmten. War irgendwo eine Dame im feierlichen Gewand des Holoku, in Hut und Blumen, so konnte die nächste Nachbarin im nächsten Augenblick irgendeinen kleinen Tuchfetzen von ihren fetten Schultern streifen und wie ein Denkmal von Fleisch dastehen, eher bestrichelt als bedeckt von dem haarbreiten Ridi. Kleine Damen, die sich zu groß dünkten, unbekleidet auf einem so hohen Fest zu erscheinen, sah man draußen im hellen Sonnenschein stillstehen, ihre zierlichen Ridis in der Hand: einen Augenblick später waren sie voll bekleidet und betraten den Konzertsaal.

Die beiden Sängergruppen auf den beiden Seiten standen auf, um zu singen, und setzten sich, um auszuruhen: Kuma und Klein-Makin im Norden, Butaritari und die anliegenden Dörfer im Süden, beide Gruppen in barbarischer Pracht. In der Mitte zwischen diesen gegnerischen Lagern der Troubadoure war eine Bank aufgestellt, und hier thronten der König und die Königin zwei oder drei Fuß über der horchenden Menge auf dem Boden – Tebureimoa wie gewöhnlich in seinem gestreiften Pyjama mit einer Tasche über einer Schulter, die nach Inselsitte ohne Zweifel seine Pistolen enthielt; die Königin in einem purpurnen Holoku, das weiße Haar herunterhängend, einen Fächer in der Hand. Die Bank war so gestellt, daß den Fremden die Frontseite zugekehrt war, eine wohlberechnete Höflichkeitsbezeugung. Wenn nun die Reihe an Butaritari war zu singen, so mußte das Paar sich auf der Bank umdrehen, die Ellbogen auf die Lehne stützen und uns den Anblick ihrer breiten Rücken zeigen. Das königliche Paar erquickte sich manchmal an einer Tonpfeife, und das stattliche Gepränge wurde außerdem noch erhöht durch die Gewehre einer Wachabteilung.

In dieser königlichen Umgebung hörten wir, während wir selbst am Boden hockten, verschiedene Lieder von der einen oder anderen Partei; dann zogen sich der königliche Hofstaat und die Wachen zurück, und Königin Viktorias Sohn und Schwiegertochter wurden durch Zuruf aufgefordert, den freien Thron einzunehmen. Unser Stolz wurde vielleicht ein wenig gedämpft, als sich uns auf unseren erhabenen Plätzen ein gewisser verschwenderischer Taugenichts von einem Weißen zugesellte, und doch war ich froh darüber, denn der Mann hatte eine oberflächliche Kenntnis der Eingeborenensprache und konnte mir eine gewisse Vorstellung vom Inhalt der Lieder geben. Das eine war patriotisch und forderte Tembinok‘ von Apemama, den Schrecken der Inselgruppe, zu einem Überfall heraus. Ein anderes Lied sang vom Tarosäen und Erntefest. Manche hatten historische Themen und feierten Könige und berühmte Ereignisse ihrer Zeit, zum Beispiel ein Trinkgelage oder einen Krieg. Eines zum mindesten war eine Art Familiendrama und wurde von der Makintruppe ausgezeichnet gespielt. Es erzählte die Geschichte eines Mannes, der sein Weib verloren hat, zunächst ihren Verlust beklagt und dann eine andere sucht; die ersteren Strophen werden ausnahmslos von Männern gespielt, aber gegen Schluß erscheint eine Frau, die ihren Gatten verloren hat, und es schien so, als ob das Paar sich miteinander tröste, denn der Schluß schien von glücklicherer Vorbedeutung. Von einigen Liedern sagte mir mein Nachbar kurz, sie handelten wahrscheinlich von Frauen, aber das hatte ich auch selbst erraten. Jede Gruppe wurde, wie ich erwähnen will, durch eine oder zwei Frauen verstärkt. Sie waren alle Solisten, wirkten nicht sehr oft mit, sondern standen untätig im Hintergrund der Bühne und sahen mit Ridi, Halsband und aufgestecktem Haar tatsächlich aus wie europäische Ballettänzerinnen. Wenn die Lieder irgendwie dreister wurden, traten diese Damen besonders in den Vordergrund, und es war sonderbar zu sehen, daß nach jedem Auftritt die Vortänzerin so tat, als werde sie von Scham überwältigt und sei weitergegangen, als sie gewollt habe. Ihre männlichen Mittänzer taten, als trieben sie sie fort wie jemand, der sich mit Schande bedeckt hat. Derartige Zierereien begleiteten gewisse wirklich unanständige Tänze auf Samoa, wo sie sehr wohl am Platze sind. Hier war es anders, die Worte in dieser offenherzigen Welt waren vielleicht kraß genug, um einen Droschkenkutscher erröten zu machen, aber die freieste Gebärde war eben dies Spiel angeblicher Scham. Für diese Rollen zeigten die Frauen manche Begabung, sie waren keck, sie waren niedlich, sie waren gewandt, sie waren zeitweise wirklich amüsant, und einige von ihnen waren hübsch. Aber alles das ist nicht das Gebiet des Künstlers: die ganze Weite des Himmelsraumes liegt zwischen diesem Herumspringen und Äugeln und den fremdartigen rhythmischen Bewegungen und leidenschaftlichen, fast wahnsinnigen Gesichtern, mit denen die besten männlichen Tänzer uns in einem Ballett auf den Gilbertinseln gefangenhielten.

Fast vom ersten Augenblick an war es klar, daß die Leute der Stadt unterlegen waren. Ich hatte sie sicher für gleich gut gehalten, wenn ich nicht die andere Truppe vor Augen gehabt hätte, um mein Urteil zu korrigieren und mich ständig daran zu erinnern, daß hier irgend etwas Unbestimmbares noch hinzukam, das eigentlich Entscheidende. Als der Chor von Butaritari sich in den Hintergrund gedrängt sah, wurde er verwirrt, machte Fehler und brach zusammen. Inmitten dieses Wirrwarrs von Rhythmen würde ich selbst die Mängel gar nicht bemerkt haben, aber die Zuhörerschaft erfaßte sie rasch und begann zu spotten. Um allem die Krone aufzusetzen, begann die Makin-Gruppe einen Tanz von wahrhaft ausgezeichneter Schönheit. Ich weiß nicht, um was es sich handelte, ich war zu sehr gefangen, um zu fragen. In einem Akt brachte ein Teil des Chors fast die Wirkung unserer Orchester hervor, indem man in einem sonderbar fremdartigen Falsett kreischte; in einem anderen hüpften die Tänzer mit ausgestreckten Armen wie Clowns umher und rannten reihenweise durcheinander mit ungeheurer Schnelligkeit und Ausgelassenheit. Ich sah nie eine humoristischere Szene; in jedem europäischen Theater würden sie einen Sensationserfolg gehabt haben, und die Inselzuhörer krümmten sich vor Lachen und Beifall. Das brachte die andere Gruppe außer sich, und sie vergaßen sich selbst und jeden Anstand. Nach jedem Akt oder jeder Figur des Balletts pausieren die Darsteller einen Augenblick stehend, und der nächste Akt wird durch Händeklatschen im Dreitakt eingeleitet. Kurz vor Schluß der ganzen Ballettaufführung setzen sie sich hin, das Zeichen für die andere Gruppe aufzustehen, aber nun wurden alle Regeln durchbrochen. In der Pause, die dem Beifallssturm folgte, sprang die Gruppe von Butaritari plötzlich auf die Füße und begann in höchst unschöner Weise eine eigene Darbietung. Es war sonderbar zu sehen, wie die Leute von Makin sie anstarrten; niemals sah ich in Europa einen Tenor mit derselben verwirrten Würdigkeit in eine zischende Zuschauermenge starren. Aber gleich darauf wurden sie zu meiner Überraschung ruhiger, gaben den ungesungenen Teil ihres Balletts auf, nahmen ihre Sitze ein und duldeten, daß ihre ungalanten Gegner zu Ende spielten. Aber das genügte nicht. Bei der ersten Pause schritt Butaritari wieder in häßlicher Weise ein, Makin folgte erregt ihrem Beispiel, und die beiden Tänzergruppen blieben nun dauernd stehen, klatschten in die Hände und lösten sich willkürlich nach jeder Pause ab. Ich erwartete, daß jeden Augenblick eine Schlägerei beginnen würde, wobei unsere Lage inmitten der Gruppen höchst fatal gewesen wäre. Aber die Leute von Makin fanden einen besseren Ausweg, nach einer neuerlichen Unterbrechung wandten sie sich ab und verließen das Haus. Wir folgten ihnen, erstens, weil sie die wirklichen Künstler waren, und zweitens, weil sie Gäste und in gemeiner Weise behandelt worden waren. Eine große Anzahl unserer Nachbarn tat dasselbe, so daß der Laufsteg von einem Ende zum andern angefüllt war mit Deserteuren und der Butaritarichor zu seiner eigenen Unterhaltung im leeren Hause allein weiterspielen konnte; er hatte den Streit gewonnen und die Zuhörerschaft verloren. Es war ohne Zweifel ein Glück, daß niemand betrunken war, aber betrunken oder nüchtern: wo wäre sonst eine so erregte Versammlung ohne Schlägerei auseinandergegangen?

Die letzte Vorführung und der Höhepunkt dieses Festtages war von uns vorbereitet: die zweite und unwiderruflich letzte Vorführung der »Gespenster«. Rund um die Kirche saßen Gruppen draußen in der Nacht, wo sie nichts sehen konnten; vielleicht schämten sie sich hineinzugehen, sicher aber bereitete es ihnen ein schattenhaftes Vergnügen, sich auch nur in der Nähe aufzuhalten. Drinnen war ungefähr die Hälfte des großen Raumes gedrängt voll. In der Mitte auf dem königlichen Thronsessel qualmte die leuchtende Laterna magica; einige Lichtstrahlen fielen auf das ernste Gesicht unseres Chinesen, der eine Drehorgel spielte, in mattem Schein sah man die Sparren des Dachgewölbes und ihre Schatten, die Bilder erschienen und verschwanden auf der Leinwand. Bei jedem neuen erhob sich Raunen, Flüstern und ein Geräusch von erschauernd hin und her rückenden Menschen, in das sich ein Chor kleiner Schreie mischte. Neben mir saß der Steuermann eines schiffbrüchigen Schoners. »In Europa oder den ›Staaten‹ würden sie sich wundern über solche Vorstellung«, sagte er, »in einem solchen Gebäude, das nur mit ein paar Stricken zusammengehalten wird.«

Siebentes Kapitel


Mann und Frau

Ein Händler, der an die Sitten Polynesiens gewöhnt ist, hat auf den Gilbertinseln umzulernen. Das Ridi ist nur ein spärliches Gewand. Noch vor dreißig Jahren gingen die Frauen nackt bis zur Hochzeit, innerhalb von zehn Jahren kam der Brauch ab, und diese Tatsachen vermitteln, besonders wenn man sie nur vom Hörensagen kennt, eine ganz falsche Vorstellung von den Sitten dieser Inselgruppe. Ein sehr kluger Missionar bezeichnete die Insel in ihrem früheren Zustand als »ein Paradies nackter Frauen« für die ansässigen Weißen. Jedenfalls war es ein platonisches Paradies, wo Lothario auf eigene Gefahr Abenteuer suchte. Seit 1860 haben vierzehn Weiße auf einer einzigen Insel aus demselben Grunde ihr Leben eingebüßt, alle wurden an Orten gefunden, wo sie keine Geschäfte hatten, und von einem erbosten Familienvater aufgespießt. Die Ziffer wurde von einem ihrer Zeitgenossen angegeben, der klüger gewesen und am Leben geblieben war. Die sonderbare Hartnäckigkeit dieser vierzehn Märtyrer sieht fast aus wie Monomanie oder eine ununterbrochene Folge romantischer Leidenschaften: Gin ist wahrscheinlich der eigentliche Hintergrund. Die armen Kerle saßen allein in ihren Häusern bei dem offenen Schnapskasten, sie tranken, ihr Verstand verwirrte sich, sie taumelten auf gut Glück zum nächsten Haus, und der Wurfspieß durchdrang ihre Leber. An Stelle eines Paradieses fand der Händler einen Archipel mit eifersüchtigen Gatten und tugendhaften Frauen. »Wenn man ihnen natürlich den Hof machen will, ist es wie überall sonst«, sagte ein Händler unschuldig, aber er und seine Begleiter taten es selten.

Man muß den Händler loben wegen eines Vorzugs: er ist oft ein liebevoller und treuer Gatte. Einige der schlimmsten Herumtreiber im Stillen Ozean, die Letzten der alten Schule, sind mir auf meinen Wegen begegnet, manche von ihnen waren von einem bewundernswerten Benehmen gegen ihre eingeborenen Frauen und einer ein verzweifelter Witwer. Die Stellung der Frau eines Händlers auf den Gilbertinseln ist übrigens außergewöhnlich beneidenswert. Sie teilt die Unverletzlichkeit ihres Gatten, die Abendglocke läutet in Butaritari vergeblich für sie. Lange nachdem das Geläute vorüber ist und die großen Damen der Insel für die Nacht in ihr Haus verwiesen sind, dürfen die privilegierten Freigelassenen noch durch die öden Straßen laufen und kichern oder im Dunkeln zum Bade gehen. Das ganze Warenlager ist zu ihrer Verfügung, sie gehen wie eine Königin gekleidet und schlemmen jeden Tag in Leckerbissen aus Konservenbüchsen. Sie, die vielleicht unter den Eingeborenen weder Achtung noch Stellung besaß, sitzt jetzt mit Kapitänen zusammen und wird an Bord der Schoner bewirtet. Fünf dieser privilegierten Damen waren zeitweise unsere Nachbarinnen. Vier davon waren hübsche, leichtfertige Mädel, verspielt wie Kinder und zum Schmollen geneigt wie Kinder. Sie trugen am Tage Kleider, aber neigten dazu, beim Dunkelwerden diese übernommenen Dinge abzustreifen und im angestammten Ridi auf dem Grundstück laut schreiend herumzutollen. Beständig spielten sie Karten, wobei Muscheln als Zahlpfennige dienten; man betrog sich fast immer untereinander, und das Ende einer Partie war, besonders wenn ein Mann mit dabei war, ein allgemeines Greifen nach den Muscheln. Die fünfte war eine Matrone. Es war ein malerischer Anblick, sie Sonntags zur Kirche segeln zu sehen, einen Schirm in der Hand, ein Kindermädchen folgend, das Baby in einem großen Hut vergraben, bewaffnet mit einer Patentmilchflasche. Der Gottesdienst wurde belebt durch ständiges Überwachen und Tadeln des Mädchens. Man konnte sich der Vorstellung nicht erwehren, daß das Baby eine Puppe und die Kirche ein europäisches Kinderzimmer sei. Alle diese Frauen waren gesetzlich verheiratet. Es ist wahr, daß die Heiratsurkunde der einen, die sie uns stolz zeigte, so lautete, daß sie »auf eine Nacht verheiratet« sei, und daß es ihrem lieblichen Partner freistehe, »sie zur Hölle zu schicken« am nächsten Morgen, aber sie war durch diesen feigen Trick weder besser noch schlechter daran. Eine andere war, wie ich hörte, auf einem meiner Bücher, in einer unberechtigten Nachdruckausgabe, verheiratet worden, es erfüllte den Zweck ebensogut wie die Bibel im Gerichtssaal. Trotz dieser Verlockungen der gesellschaftlichen Ausnahmestellung, der ausgezeichneten Kleidung, der verhältnismäßig vollkommenen Befreiung von Arbeit und einer regelrechten Eheschließung, die sogar Gesetzeskraft hatte, auch wenn sie über einer unberechtigten Buchausgabe geschlossen wurde, muß ein Händler oft lange suchen, bevor er sich verheiraten kann. Während ich mich auf der Inselgruppe aufhielt, ging einer schon acht Monate auf Freiersfüßen und war immer noch Junggeselle.

Innerhalb der reinen eingeborenen Gesellschaft waren die alten Gesetze und Gebräuche streng, aber nicht ohne den Stempel einer gewissen Großherzigkeit. Heimlicher Ehebruch wurde mit dem Tode bestraft, öffentliches Verlassen des Gatten dagegen vergleichsweise mit Recht als Tugend angesehen und ausgeglichen durch eine Beschlagnahme von Landbesitz. Der männliche Ehebrecher allein scheint bestraft worden zu sein. Die korrekte Haltung für einen eifersüchtigen Mann ist es, sich aufzuhängen, eine eifersüchtige Frau hat ein anderes Hilfsmittel: sie beißt ihre Rivalin. Vor zehn oder zwanzig Jahren war es ein mit der Todesstrafe bedrohtes Verbrechen, das Ridi einer Frau hochzuheben, noch heute ist es mit hoher Strafe an Besitz belegt, und das Bekleidungsstück selbst ist immer noch symbolisch heilig. Wenn in Butaritari ein Stück Land umstritten ist, so hat derjenige seinen Prozeß gewonnen, der zuerst ein Ridi am Tabupfosten aufhängt, da niemand außer ihm es berühren oder entfernen darf.

Das Ridi war das Kennzeichen nicht der Frau, sondern des Weibes, das Abzeichen nicht ihres Geschlechts, sondern ihrer Stellung. Es war das Halsband des Sklaven und das Fabrikzeichen von Waren. Die ehebrecherische Frau scheint man verschont zu haben: war der Gatte beleidigt, so würde es einen traurigen Trost bedeutet haben, seine Zugtiere zum Schlachthaus zu führen. Karaiti nennt seine acht Weiber bis auf den heutigen Tag »seine Pferde«, nachdem ihm ein Händler die Verwendung dieser Tiere auf dem Lande erklärt hat, und Nanteitei vermietete seine Weiber für Maurerarbeiten. Ehegatten, wenigstens diejenigen von hohem Rang, hatten Gewalt über Leben und Tod, selbst Weiße scheinen sie besessen zu haben, und ihre Weiber, die sich über die Grenze des Verzeihens hinaus vergangen hatten, beeilten sich, die Abbitteformel zu sprechen: » I Kana Kim.« Diese Wortfolge besitzt so große Kraft, daß ein verurteilter Verbrecher, der sie an einem bestimmten Tage vor dem König, seinem Richter, ausspricht, sofort freigelassen werden muß. Es ist ein Angebot der Demütigung, und merkwürdig genug ist das Gegenteil – eine Nachahmung – eine schwere Beleidigung in Großbritannien bis auf den heutigen Tag. Ich gebe eine Szene wieder zwischen einem Händler und seiner Frau, einer Gilbertinsulanerin, wie sie mir von dem Gatten, jetzt einem der ältesten Ansitzer, damals aber noch unerfahren, erzählt wurde.

»Geh und mache Feuer,« sagte der Händler, »und wenn ich Öl gebracht habe, werde ich Fische kochen.«

Die Frau grunzte ihn an nach Inselsitte.

»Ich bin kein Schwein, daß du mich angrunzen darfst«, sagte er.

»Ich weiß, daß du kein Schwein bist,« sagte die Frau, »aber ich bin auch nicht deine Sklavin.«

»Um sicher zu sein, daß du nicht meine Sklavin bist, und wenn es dir nicht paßt, bei mir zu bleiben, tust du besser, zu deiner Familie nach Hause zurückzukehren,« sagte er, »aber inzwischen geh und mache Feuer, und wenn ich Öl gebracht habe, will ich Fische kochen.«

Sie ging fort, scheinbar um zu gehorchen, und bald darauf, als der Händler sich umsah, hatte sie ein so gewaltiges Feuer entfacht, daß das Küchenhaus in Flammen aufging.

» I Kana Kim!« rief sie aus, als sie ihn herankommen sah, aber er beachtete es nicht und schlug sie mit einem Kochtopf. Der Fuß durchdrang ihren Schädel, Blut strömte heraus, man glaubte, sie sei tot, und die Eingeborenen umgaben in feindlicher Haltung das Haus. Ein anderer Weißer war anwesend, ein Mann von mehr Erfahrung. »Du wirst uns beide in den Tod bringen, wenn du so fortfährst,« rief er aus, »sie hatte gesagt ›I Kana Kim‹!« Wenn sie nicht » I Kana Kim« gesagt hätte, hätte er sie mit einem Kessel schlagen können; nicht der Schlag an sich war das Verbrechen, sondern die Mißachtung einer geheiligten Formel.

Polygamie, die besondere Unantastbarkeit der Frauen, ihre halb sklavische Stellung, ihre Absperrung im Harem des Königs, selbst ihr Vorrecht, beißen zu dürfen – alles das scheint eine mohammedanische Gesellschaftsordnung anzudeuten und die Ansicht, daß Frauen keine Seelen haben. Aber das ist durchaus nicht so, es hat nur den Anschein. Nachdem man diese eigenartigen Zustände in einem Hause kennengelernt hat, geht man zum nächsten und findet alles umgekehrt, die Frau ist Herrin, der Mann nur der erste ihrer Sklaven. Die Autorität liegt nicht beim Gatten als solchem oder bei der Frau als solcher, sie liegt beim Häuptling oder der Häuptlingsfrau, bei ihm oder ihr, je nachdem, wer die Ländereien der Sippe geerbt hat und Elternrechte der Sippe gegenüber vertritt, ihre Dienstleistungen entgegennimmt und ihre Abgaben bezahlt. Es gibt nur eine Quelle der Macht und einen Grund der Würde: Rang. Der König heiratete einen weiblichen Häuptling, und sie wurde seine Dienerin und mußte mit ihren Händen beim Pierbau von Messrs. Wightman arbeiten. Der König ließ sich von ihr scheiden, und sie gewann sofort ihre frühere Stellung und Macht zurück. Sie heiratete einen hawaiischen Seemann, und nun ist der Mann ihr Bedienter und kann jederzeit fortgejagt werden. Ja, diese niedriggeborenen Herren werden sogar körperlich bestraft und müssen wie erwachsene, aber gehorsame Kinder Züchtigungen hinnehmen.

Wir waren gute Freunde in einem solchen Haushalt, dem von Nei Takauti und Nan Tok‘. Ich nenne die Dame des Hauses notwendigerweise zuerst. Eine Woche lang war meine Frau in unserem Narrenparadies allein zum Seestrand der Inseln gegangen, um Muscheln zu suchen. Es ist mir heute klar, daß das leichtsinnig war, und sie bemerkte bald einen Mann und eine Frau, die sie beobachteten. Was immer sie tat, ihre Wächter hielten sie ständig im Auge, und wenn der Nachmittag sich neigte und sie glaubten, sie sei nun lange genug draußen, nahmen sie sie in ihre Obhut und befahlen ihr durch Zeichen und in gebrochenem Englisch, nach Hause zurückzukehren. Auf dem Wege zog die Dame eine Tonpfeife aus dem Ohrringloch, der Gatte zündete sie an und händigte sie meiner unglücklichen Frau aus, die nicht wußte, wie man dieser unbequemen Gunstbezeugung ausweichen konnte, und als sie alle bei unserem Hause angelangt waren, setzte sich das Paar neben sie auf den Boden und benutzte die Gelegenheit, um zu beten. Seit jenem Tage waren sie Freunde unserer Familie, brachten dreimal am Tage wunderschöne Inselkränze von weißen Blumen, besuchten uns jeden Abend und brachten uns oft zu ihrem eigenen Maniap‘, wobei das Weib meine Frau an der Hand führte wie ein Kind das andere.

Nan Tok‘, der Gatte, war jung, außergewöhnlich hübsch, von bewährter Gutmütigkeit und litt in seiner sonderbaren Stellung unter der Unterdrückung seiner Heiterkeit. Nei Takauti, die Frau, wurde schon alt, ihr erwachsener Sohn aus einer früheren Ehe hatte sich gerade vor den Augen der Mutter in Verzweiflung über eine wohlverdiente Rüge aufgehängt. Vielleicht war sie niemals schön gewesen, aber ihr Gesicht war charaktervoll, und ihre Augen hatten ein dunkles Feuer. Sie war ein hoher weiblicher Häuptling, aber für eine Person ihres Ranges ausnahmsweise klein, zart und sehnig, mit mageren kleinen Händen und hagerem Hals. Ihr großes Abendgewand war stets ein weißes Hemd, und als Schmuck trug sie grüne Blätter oder zuweilen weiße Blüten im Haar und in den großen Ohrringlöchern. Der Gatte sah im Gegensatz dazu wechselvoll aus wie ein Chamäleon. Schenkte meine Frau Nei Takauti irgendeine hübsche Sache – eine Perlenschnur, ein Band, ein Stück buntes Zeug –, so erschien es am nächsten Abend an der Person von Nan Tok‘. Es war klar, daß er eine Art Kleiderständer war, daß er Livree trug und in einem Wort die Frau seiner Frau war. Sie vertauschten die Rollen tatsächlich bis in die geringste Kleinigkeit, der Gatte zeigte sich als hilfsbereiter Engel in Krankheitsstunden, während die Frau Gefühls- und Herzlosigkeit spielte, wie man sie dem Manne nachsagt.

Wenn Nei Takauti Kopfschmerzen hatte, war Nan Tok‘ voll Aufmerksamkeit und Mitleid. Wenn der Gatte sich erkältet oder rasende Zahnschmerzen hatte, beachtete die Frau es nicht, wenn sie nicht spottete. Es ist immer die Aufgabe der Frau, die Pfeife zu füllen und anzuzünden: Nei Takauti gab die ihre schweigend dem angeheirateten Pagen, aber sie trug sie selbst, als ob der Page nicht ganz vertrauenswürdig sei. So verwahrte sie auch das Geld, aber er machte mit emsigem Eifer die Besorgungen. Eine Wolke auf ihrer Stirn verdunkelte sofort seine leuchtenden Blicke, und bei einem Morgenbesuch in dem Maniap‘ sah meine Frau, daß er Grund hatte, vorsichtig zu sein. Nan Tok‘ hatte einen Freund bei sich, einen unbesonnenen jungen Mann seines eigenen Alters und Geschlechts, und sie hatten sich gegenseitig zu lebhaftester Heiterkeit gesteigert, wobei man dann oft die Folgen nicht beachtet. Nei Takauti nannte ihren eigenen Namen, sofort hielt Nan Tok‘ zwei Finger hoch, sein Freund tat das gleiche, beide in höchster Verschlagenheit. Offenbar hatte die Dame zwei Namen, und soviel man aus dem lauten Lachen der beiden und der Zornesader auf der Stirn der Frau entnehmen konnte, hatte der zweite Name etwas Verfängliches. Der Gatte sprach ihn aus: sofort traf ihn eine wohlgezielte Kokosnuß von der Hand seines Weibes am Schädel, und die heiteren Stimmen der indiskreten jungen Leute verstummten für diesen Tag.

Die Bevölkerung von Ostpolynesien ist niemals in Verlegenheit, ihre Gesellschaftsformen sind alle festgelegt und umfassend, sie schreiben ihnen in allen Lebensumständen vor, was sie zu tun haben, und wie sie sich verhalten sollen. Die Gilbertiner sind offenbar freier und bezahlen diese Freiheit wie wir mit häufiger Verlegenheit. Das war auch der Fall bei diesem verdrehten Paar. Wir hatten ihnen einst bei einem Besuche eine Pfeife mit Tabak angeboten, und als sie genug hatten und Abschied nehmen wollten, fanden sie sich vor die Frage gestellt, ob sie den Rest des Tabaks mitnehmen oder zurücklassen sollten. Sie hoben den Block auf, legten ihn wieder zurück, reichten ihn sich untereinander zu und stritten sich, bis die Frau ganz verstört und der Gatte ganz alt aussah. Schließlich nahmen sie ihn mit, und ich wette, sie hatten das Grundstück noch nicht verlassen, als sie sich schon klar waren, das Falsche getan zu haben. Ein anderes Mal hatten wir sie recht ausgiebig mit einer großen Tasse Kaffee bewirtet, und Nan Tok‘ trank die seinige unter Schwierigkeiten und mit Unlustgefühlen aus. Nei Takauti nippte daran, sie mochte nicht mehr, glaubte offenbar, es sei ein Formfehler, die Tasse halb voll niederzusetzen, und befahl dem angeheirateten Knecht, den Rest auszutrinken. »Ich habe schon soviel getrunken, ich kann nicht mehr, es ist mir physisch unmöglich«, schien er zu sagen, aber sein strenger Vorgesetzter wiederholte mit heimlichen herrischen Zeichen den Befehl. Der unglückliche Kerl! Wir kamen ihm aus lauter Menschlichkeit zu Hilfe und nahmen die Tasse fort.

Ich kann über diesen komischen Haushalt nur lachen, aber ich erinnere mich der guten Leute mit Liebe und Hochachtung. Ihre Anhänglichkeit an uns war überraschend. Die Kränze stehen in hoher Achtung, die Blüten müssen in großer Entfernung gesammelt werden, und obgleich sie viele Diener hatten, die sie zu Hilfe rufen konnten, sahen wir sie oft selbst umherwandern, um Blüten zu sammeln, und die Frau beschäftigt, sie eigenhändig zu binden. Es war auch keine Herzlosigkeit, die Nei Takauti gegen die Leiden von Nan Tok‘ unempfindlich machte, sondern jene Gleichgültigkeit, die Männern oft eigen ist. Als meine Frau krank war, bewies sie sich als eifrige und liebenswürdige Pflegerin, und das Paar setzte sich im Krankenzimmer fest, was der Leidenden äußerst lästig war. Diese rauhe, tüchtige, herrschsüchtige alte Dame mit den wilden Augen hatte liebenswürdige und zärtliche Eigenschaften: sie schien den Stolz auf ihren jungen Gatten zu verbergen aus Furcht, ihn zu verwöhnen, und wenn sie von ihrem toten Sohn sprach, legte sich etwas wie Trauer auf ihr Gesicht. Aber ich glaube bei den Gilbertinern eine Männlichkeit des Empfindens und Gefühls festgestellt zu haben, die sie wie ihre harte und rauhe Sprache von ihren Brüdern auf den östlichen Inseln unterscheidet.

Zweites Kapitel


Unsere neuen Freunde

Das Hindernis des Sprachunterschiedes wurde besonders von mir überschätzt. Die polynesischen Dialekte lernt man leicht radebrechen, wenn es auch schwer ist, sie elegant zu sprechen. Sie sind einander äußerst ähnlich, so daß jemand, der eine Ahnung von einem oder zweien hat, die andern ziemlich hoffnungsvoll in Angriff nehmen darf.

Außerdem stehen Dolmetscher reichlich zur Verfügung. Missionare, Händler und herabgekommene Weiße, die von der Gastfreundschaft der Eingeborenen leben, findet man fast auf jeder Insel und in jedem Dorf; wo sie nicht zur Verfügung stehen, haben die Eingeborenen selbst oft einige Brocken Englisch aufgeschnappt und in der französischen Zone – wenn auch viel seltener – etwas Englisch-Französisch, oder sie verstehen hinreichend Pidginenglisch, das man im Westen » Beach-la-Mar« nennt. Es wird übrigens jetzt in den Schulen Von Hawaii gelehrt, und wegen der großen Anzahl englischer Schiffe und der Nähe der Vereinigten Staaten auf der einen Seite und der englischen Kolonien auf der andern kann man es die Sprache des Pazifischen Ozeans nennen, die es ziemlich sicher einst sein wird. Ich will einige Beispiele anführen. Ich traf in Majuro einen Jungen von den Marschallinseln, der ein ausgezeichnetes Englisch sprach; er hatte es bei einer deutschen Firma in Jaluit gelernt, ohne ein deutsches Wort zu kennen. Ich hörte von einem Gendarmen, der in Rapa-iti unterrichtet hatte, daß die Kinder nur schwer und widerwillig französisch lernten, während sie das Englische spielend und wie von ungefähr aufnahmen. Mein Freund Benjamin Hird fand zu seinem Erstaunen auf einer der entlegensten Atollen in der Karolinengruppe Jungens Kricket spielen und englisch sprechen, und auf englisch unterhielt sich die Mannschaft der »Janet Nicoll«, eine Anzahl Farbiger von verschiedenen melanesischen Inseln, mit anderen Eingeborenen während der ganzen Fahrt, auf englisch wurden die Befehle erteilt und manchmal Witze erzählt auf dem Vorderdeck. Aber wohl am meisten überraschte mich ein Wort, das ich auf der Veranda des Gerichtsgebäudes von Noumea hörte. Man hatte gerade über den Kindesmord einer affenähnlichen Eingeborenen verhandelt, und die Zuhörer erwarteten Zigaretten rauchend das Urteil. Eine besorgte, liebenswürdige Französin ereiferte sich für einen Freispruch, sie war dem Weinen nahe und erklärte, sie wolle die Gefangene als Kindermädchen zu sich nehmen. Die Zuhörer schrien auf bei dieser Zumutung und sagten, das Weib sei eine Wilde, sie spreche keine fremde Sprache. »Aber es ist doch bekannt,« entgegnete die weichherzige Schöne, »daß sie rasch Englisch lernen!«

Jedoch sprechen können zum Volk ist nicht alles. Im Anfang meiner Beziehungen zu Eingeborenen kamen mir zwei Umstände zustatten. Zunächst war ich der Wundermann der »Casco«. Das Schiff, seine feinen Linien, die hohen Masten und schneeweißen Decks, die roten Vorhänge des Speiseraums, das Weiß und Gold und die vielen Spiegel der zierlichen Kajüte brachten uns hunderte Besucher. Die Männer berechneten die Abmessungen mit den Armen, wie ihre Väter die Schiffe Cooks ausgemessen hatten, die Frauen erklärten die Kajüten für schöner als Kirchen, stattliche junonische Gestalten wurden nicht müde, sich in den Sesseln niederzulassen und ihre strahlenden Gesichter im Spiegel zu betrachten, und ich sah eine Dame ihr Gewand hochheben und unter Rufen der Bewunderung und des Entzückens ihre nackten Schenkel an den Samtkissen reiben. Zwieback, Marmelade und Sirup waren Leckerbissen, und das Photographiealbum wanderte wie in europäischen Salons von Hand zu Hand. Diese nüchterne Gemäldegalerie, die alltäglichen Kleider und Gesichter hatten sich während der dreiwöchigen Fahrt in wunderbare, köstliche und fremdartige Dinge verwandelt; fremde Antlitze und barbarische Gewänder wurden nun in der überfüllten Kajüte mit aufrichtiger Erregung und Überraschung angestaunt und betastet. Die Königin von England wurde oft erkannt, und ich sah französische Untertanen ihr Bild küssen; Hauptmann Speedy – in abessinischer Kriegstracht, die für eine Uniform des englischen Heeres gehalten wurde – fand viel Beifall, und das Bildnis des Herrn Andrew Lang erregte Bewunderung auf den Marquesas. Das ist der Platz, wohin er gehen sollte, wenn er Middlesex und Homer satt hat.

Doch vielleicht war es noch wichtiger, daß ich in meiner Jugend unser schottisches Volk im Hochland und auf den Inseln ein wenig kennengelernt hatte. Nicht viel mehr als ein Jahrhundert ist vergangen, seit es ähnliche Umwälzungen und Übergänge erlebt hat wie heute die Marquesaner. In beiden Fällen das Aufdrängen einer fremden Herrschaft, die Entwaffnung der Stämme, die Absetzung der Häuptlinge, die Einführung neuer Sitten und besonders der Gewohnheit, Geld als Existenzmittel und begehrenswert anzusehen. Das Zeitalter des Handels folgte in beiden Fällen unvermittelt einer Periode äußerer Kriege und innerer patriarchalischer Gemeinwirtschaft, hier wurde die liebgewordene Sitte des Tätowierens, dort die Landestracht verboten. In beiden Fällen wurde man des delikatesten Genußmittels beraubt: das Rind, im Schatten der Nacht von den Weiden des Flachlandes gestohlen, wurde dem fleischliebenden Hochländer, und das »Langschwein«, aus den Hütten des Nachbardorfes entführt, dem menschenfressenden Kanaken verwehrt. Murren, heimlicher Aufruhr, Furcht und Mißtrauen, Alarme und plötzliche Versammlungen der marquesanischen Häuptlinge erinnerten mich fortwährend an die Tage von Lovat und Struan. Gastfreundschaft, Takt, natürliche feine Sitten und Empfindlichkeit sind beiden Rassen gleich eigen: gemeinsam ist beiden Sprachen die Eigenart, Zwischenkonsonanten fortzulassen. Ich zähle einige polynesische Wörter auf:

Haus Liebe
Tahiti: Fare Aroha
Neuseeland: Whare
Samoa: Fale Talofa
Manihiki: Fale Aloha
Hawaii: Hale Aloha
Marquesas: Ha’e Kaoha

Die Ausstoßung der Zwischenkonsonanten, so bemerkenswert im marquesanischen Dialekt, ist im Gälischen und im schottischen Unterland ebenso häufig. Noch wunderbarer ist es, daß der vorherrschende polynesische Laut, der Hiatus, als Apostroph geschrieben, oft oder immer der Grabstein eines untergegangenen Konsonanten, bis auf den heutigen Tag in Schottland zu hören ist. Spricht der Schotte die Wörter water, better oder bottlewa’er, be’er oder bo’le –, so entspricht der Laut genau dem Hiatus, und ich glaube, man könnte weitergehen und behaupten: Würde ein solches Volk isoliert und der Sprachfehler zur Regel, so wäre das der erste Schritt zum Übergang vom t zum k, der Krankheit aller polynesischen Sprachen.

Das Bestreben der Polynesier ist aber ein Ausrottungskrieg gegen Konsonanten, wenigstens gegen den sehr häufigen Buchstaben l. Ein Hiatus ist angenehmer für jedes polynesische Ohr, selbst das Gehör des Fremden gewöhnt sich an diese barbarischen Lücken, aber nur im Marquesanischen findet man Namen wie Haaii und Paaaena, in denen jeder Vokal gesondert gesprochen werden muß.

Diese Ähnlichkeiten zwischen einem Südseevolk und einem Teil meiner eigenen Stammesbrüder in der Heimat beschäftigten mich viel und machten mich nicht nur geneigt, meine neuen Bekannten mit Wohlwollen zu betrachten, sondern änderten allmählich auch mein Urteil. Ein wohlerzogener Engländer kommt heute zu den Marquesanern und findet die Leute zu seiner Verblüffung tätowiert; ein wohlerzogener Italiener kam vor nicht allzu langer Zeit nach England und fand unsere Vorfahren mit gelbem Pflanzensaft beschmiert, und als ich einen Gegenbesuch machte als kleiner Junge, war ich höchst erstaunt über die Rückschrittlichkeit der Italiener: so unsicher und so abhängig von Zeit und Umständen ist die Überlegenheit einer Rasse. Auf diese Weise lernte ich den Umgang mit den Eingeborenen und empfehle sie allen Reisenden. Wollte ich Einzelheiten wilder Gebräuche und abergläubischer Handlungen erforschen, so blickte ich zurück auf die Gesichter meiner Vorfahren und suchte nach irgendeinem Anhaltspunkte für verwandte Züge der Barbarei: Michael Scott, Lord Derwentwaters Kopf, das zweite Gesicht: alles das waren starke Stücke; die Geschichte vom schwarzen Stier zu Stirling ließ mich die Sage von Rahero begreifen, und meine Kenntnis von den Cluny-Macphersons und den Appin-Stewarts half mir, einzudringen in das Verständnis der Tevas von Tahiti. Der Eingeborene schämte sich nicht mehr, das Gefühl der Vertraulichkeit wurde stärker, und seine Lippen öffneten sich. Dies Gefühl der Vertraulichkeit muß der Reisende wecken und nähren, sonst täte er besser, vom Bett zum Sofa zu reisen. Und die Anwesenheit eines echten Londoner Spötters ist oft Ursache, daß eine ganze Reisegesellschaft in nebelhafter Dunkelheit wandelt.

Das Dorf Anaho steht auf einem Streifen flachen Landes zwischen dem Westufer der Bucht und dem Fuß der hohen Berge. Ein Palmenhain mit ewig rauschenden grünen Fächern überstreut es wie zum Triumph mit fallenden Zweigen und beschattet es gleich einer Laube. Ein Weg läuft von einem Ende des Hains zum andern zwischen Blumenbeeten, den Kleiderläden der Allgemeinheit, und hier und dort, in angenehmem Zwielicht und einer von Wohlgerüchen aller Art geschwängerten Luft, stehen willkürlich verstreut die Häuser der Eingeborenen, noch in Hörweite der Riffbrandung. Dasselbe Wort bezeichnet, wie wir gesehen haben, in vielen Dialekten Polynesiens mit geringen Abweichungen die menschliche Behausung. Aber obgleich das Wort gleich ist, weichen die Bauarten ständig voneinander ab, und der Marquesaner wohnt am behaglichsten, wenn er auch der rückständigste und barbarischste aller Insulaner ist. Die Grashütten von Hawaii, die Vogelkäfighäuser von Tahiti oder der offene Verschlag des gebildeten Samoaners, mit den sonderbaren venetianischen Blenden – sie alle halten den Vergleich nicht aus mit dem paepaehae, der Wohnplattform der Marquesaner. Das paepae ist eine längliche Terrasse, gebaut aus schwarzem, vulkanischem Gestein ohne Zement, zwanzig bis fünfzig Fuß lang, vier bis acht Fuß über der Erde; eine breite Treppe führt hinauf. An der Rückseite erhebt sich die Wand des vorn offenen Hauses, das einer gedeckten Galerie gleicht und etwa halb so breit ist wie die Plattform. Das Innere ist manchmal hübsch und fast elegant in seiner Kahlheit, der Schlafraum ist abgeteilt durch eine Trennungswand, irgendein buntes Tuch hängt vielleicht an einem Nagel, eine Lampe und eine Mähmaschine sind die einzigen Anzeichen der Zivilisation. Draußen brennt an einem Ende der Terrasse das Herdfeuer unter einem Verschlag, am andern Ende ist manchmal ein Schweinestall. Der restliche Platz gehört der Abendruhe und ist der luftige Speisesaal aller Bewohner. Für manche Häuser wird das Wasser herbeigeschafft von den Bergen, in Bambusrohren, die durchlöchert sind, um es süß zu erhalten. Die Erinnerung an die schottischen Berge im Herzen, dachte ich schaudernd an die feuchten Höhlen aus Torf und Stein, in denen ich geweilt und mich unterhalten hatte – auf den Hebriden und den nördlichen Inseln. Zweierlei, glaube ich, erklärt die Gegensätze: in Schottland ist Holz selten, und das rauhe Material von Torf und Stein schließt jede Hoffnung auf Zierlichkeit aus; und in Schottland ist es kalt. Obdach und Wärme sind so notwendige Lebensbedingungen, daß der Mensch nicht weiterblickt; er ist den ganzen Tag beschäftigt, sich den kärglichsten Unterhalt zu beschaffen, und wenn er abends sagen kann: »Aha, es ist warm!«, wünscht er sich nichts mehr. Aber wenn schon, dann etwas Höheres: feiner Sinn für Poesie und Gesang in diesen rauhen Behausungen und eine Melodie wie die des schottischen Volksliedes » Lochaber no more« ist ein überzeugenderer und unvergänglicherer Beweis der Kultur als ein Palast.

Zu einer solchen Wohnplattform nimmt eine beträchtliche Anzahl von Verwandten und Angehörigen Zuflucht. In der Stunde der Dämmerung, wenn das Feuer flackert, der Duft kochender Brotfrucht die Luft erfüllt und vielleicht die Lampe schon zwischen Pfeilern und Haus glimmt, sieht man Männer, Frauen und Kinder schweigend sich zum Mahle versammeln. Hunde und Schweine drängen sich auf der Treppe, mißgünstig mit den Schwänzen wedelnd. Die Fremden vom Schiff waren bald gleicherweise willkommen: willkommen, ihre Finger in das hölzerne Geschirr zu tauchen, Kokosnüsse auszutrinken, an der herumwandernden Pfeife zu saugen und der hohen Debatte über die Missetaten der Franzosen, den Panamakanal, die geographische Lage von San Franzisko und New Yo’ko zu lauschen oder sich daran zu beteiligen. In einem Hochlanddorf, ganz abseits von Touristenwegen, habe ich dieselbe einfache und würdevolle Gastfreundschaft angetroffen.

Ich habe zwei Dinge erwähnt – das geschmacklose Benehmen unserer ersten Besucher und den Fall der Dame, die sich an den Kissen rieb –, die einen ganz falschen Eindruck von Marquesanersitten geben könnten. Die große Mehrzahl der Polynesier hat ausgezeichnete Manieren, aber die Marquesaner machen eine Ausnahme, sie sind lästig und reizend, wild, scheu und taktvoll zugleich. Macht man ihnen ein Geschenk, so geben sie vor, es zu vergessen, und man muß es ihnen beim Abschied nochmals anbieten: eine entzückende Art, die ich sonst nirgendwo fand. Eine Andeutung genügt, all und jeden zu verabschieden; sie sind erstaunlich stolz und bescheiden, während viele der liebenswürdigeren, aber aufdringlicheren Insulaner sich in Massen an den Fremden herandrängen und schwer zu vertreiben sind wie Fliegen. Eine Entgleisung oder Beleidigung scheint der Marquesaner niemals zu vergessen. Eines Tages unterhielt ich mich am Wegrande mit meinem Freunde Hoka, als ich seine Augen plötzlich aufflammen und seinen Körper sich straffen sah. Ein berittener Weißer kam aus den Bergen, und als er vorüberzog und Grüße mit mir austauschte, starrte Hoka immer noch vor sich hin und zitterte wie ein Kampfhahn. Es war ein Korse, der ihn vor Jahren ein cochon sauvage – coçon chauvage, wie Hoka es aussprach – genannt hatte. Es war kaum zu erwarten, daß unsere Gesellschaft von Greenhorns so fein empfindliche Leute nicht unabsichtlich beleidigen würde. Hoka fiel bei einem seiner Besuche plötzlich in brütendes Stillschweigen und verließ gleich darauf das Schiff unter kalten Höflichkeitsbezeigungen. Als ich wieder in seiner Gunst stand, beschwerte er sich geschickt und bestimmt über die Natur meines Vergehens: ich hatte ihn gebeten, mir Kokosnüsse zu verkaufen, und nach Hokas Ansicht soll ein Gentleman Nahrungsmittel verschenken, nicht verkaufen, wenigstens nicht an seinen Freund. Bei anderer Gelegenheit gab ich meiner Bootsmannschaft Schokolade und Zwieback zum Frühstück. Ich hatte mich dabei gegen irgendeinen Punkt der Etikette versündigt, habe aber nie erfahren inwiefern; man dankte mir trocken, aber ließ meine Geschenke am Strande liegen. Jedoch der schlimmste Fehler war unser Benehmen gegen Toma, Hokas Adoptivvater, der sich für den rechtmäßigen Häuptling von Anaho hielt. Zunächst machten wir ihm keinen Besuch, wie es vielleicht unsere Pflicht war, in seinem feinen und neuen europäischen Hause, dem einzigen im Dorf, und dann, als wir an Land gingen, um seinen Widersacher Taipi-Kikino aufzusuchen, sahen wir Toma am Ende des Strandes stehen, eine herrliche Mannesgestalt, herrlich tätowiert, und gerade Toma fragten wir: »Wo ist der Häuptling?« – »Welcher Häuptling?« rief Toma, und wandte den Gotteslästerern den Rücken. Er hat uns nie verziehen. Hoka besuchte und begleitete uns täglich, aber von allen Bewohnern des Landes, glaube ich, waren Toma und sein Weib die einzigen, die nie den Fuß an Bord der »Casco« setzten. Was es hieß, dieser Versuchung zu widerstehen, ist für einen Europäer schwer zu verstehen. Die fliegende Stadt von Laputa für vierzehn Tage in den Londoner St.-James-Park versetzt, ist nur ein schwacher Vergleich mit der vor Anoha ankernden »Casco«, denn der Londoner hat Abwechslung in seinen Vergnügungen, aber der Marquesaner wandert zum Grabe durch eine ununterbrochene Reihe gleichförmiger Tage.

Am Nachmittag vor unserer Abreise kam eine Gruppe Eingeborener an Bord, um Abschied zu nehmen: neun unserer besonderen Freunde, mit Geschenken beladen und festlich gekleidet. Hoka, der beste Tänzer und Sänger, der größte Dandy von Anaho, einer der hübschesten jungen Männer der ganzen Welt – trotzig, eitel, schauspielerhaft, beweglich wie eine Feder und stark wie ein Stier –, war bei dieser Gelegenheit kaum wiederzuerkennen, er saß bedrückt und schweigsam da, das Gesicht ernst und grau. Es war sonderbar, den Jungen so bewegt zu sehen; noch sonderbarer, in seinem Geschenk etwas ganz Außergewöhnliches wiederzuerkennen, was wir am ersten Tage zu kaufen uns geweigert hatten, und dabei zu wissen, daß unser Freund, festlich gekleidet und offensichtlich tief gerührt über den Abschied, einer von denen war, die uns bei unserer Ankunft belagert und beleidigt hatten. Am sonderbarsten aber war es vielleicht, festzustellen, daß dieser geschnitzte Fächergriff die letzte der Kuriositäten des ersten Tages war, die uns inzwischen restlos von den Besitzern geschenkt worden waren: ihre Haupthandelsartikel, mit deren Hilfe sie uns auszuplündern suchten, solange wir uns fremd gegenüberstanden, und die sie uns aufzwangen ohne Gegenleistung, sobald wir Freunde geworden. Der letzte Besuch wurde nicht lange ausgedehnt. Einer nach dem andern reichte uns die Hand und kletterte in sein Kanu. Während Hoka dem Schiffe sofort den Rücken drehte, so daß wir sein Gesicht nicht wiedersahen, blieb Taipi stehen und blickte uns unter weichen Abschiedsgesten an. Als Kapitän Otis die Flagge senkte, grüßte die ganze Gruppe mit ihren Hüten. Das war der Abschied, die Episode unseres Besuches in Anaho wurde als abgeschlossen betrachtet, und obgleich die »Casco« noch ungefähr vierzig Stunden vor Anker blieb, kehrte keiner an Bord zurück, und ich bin geneigt zu glauben, daß sie jedes Erscheinen am Strande vermieden. Diese Zurückhaltung und Würde ist der feinste Charakterzug der Marquesaner.

Viertes Kapitel


Sitten und Sekten auf den Paumotus

Selbst der oberflächlichste Leser muß einen Wandel der Atmosphäre nach dem Verlassen der Marquesasinseln bemerkt haben. Das mit allerlei Gerätschaften angefüllte Haus, die herumwirtschaftende Hausfrau, die ihre Besitztümer zählt, der ernste ungelehrte Inselpastor, der zähe Kampf ums Leben in der Lagune: alles das sind Anzeichen einer anderen Welt. Ich las in einer Broschüre – den Namen des Verfassers will ich nicht nennen –, daß der Marquesaner ganz besonders dem Paumotuaner gleiche. Ich möchte die beiden Rassen, obgleich sie so nahe beieinander wohnen, als Extreme polynesischer Verschiedenartigkeit bezeichnen. Die Marquesaner sind ohne Zweifel die schönste menschliche Rasse und eine der größten, der Paumotuaner ist durchschnittlich einen guten Zoll kleiner und nicht einmal hübsch. Der Marquesianer ist freigebig, träge, ohne Gefühl für Religion und kindlich milde gegen sich selbst, der Paumotuaner ist habgierig, zäh, unternehmungslustig, religiös kritisch und besitzt Züge eines asketischen Charakters.

Noch vor einigen Jahren waren die Eingeborenen des Archipels verschlagene Wilde. Ihre Inseln möchte man Sireneninseln nennen, nicht nur wegen der Anziehung, die sie auf den vorüberfahrenden Seemann ausüben, sondern auch wegen der Gefahren, die ihn an Land erwarten. Selbst heute noch lauert Unheil auf gewissen abseits liegenden Inseln, und der zivilisierte Paumotuaner fürchtet sich an Land zu gehen und zögert, sich mit seinem rückständigen Bruder einzulassen. Aber, diese Inseln ausgenommen, lebt die Gefahr heute nur in der Erinnerung. Als unsere Generation noch in der Kinderstube war, bildete sie eine lebendige Tatsache. Zwischen 1830 und 1840 war es z.B. sehr gefährlich, sich Hao zu nähern, wo Schiffe geentert und die Besatzungen gefangengenommen wurden. Noch 1856 segelte der Schoner »Sarah Ann« von Papeete ab und wurde nie wieder gesehen. Es waren Frauen und Kinder an Bord, die Frau des Kapitäns, ein Kindermädchen, ein Säugling und die beiden Söhne des Kapitäns Steven, die sich auf der Fahrt zum Festlande befanden, um die Schule zu besuchen. Man vermutete, daß alle in einem Wirbelsturm umgekommen seien. Ein Jahr später sah der Kapitän der »Julia«, als er an der Küste einer Insel, die abwechselnd Bligh, Lagoon und Tematangi genannt wird, bewaffnete Eingeborene, die in mannigfarbige Stoffe gekleidet waren, den Kurs seines Schoners verfolgen. Sofort erhob sich Argwohn, die Mutter der verlorenen Kinder stellte genügend Geld zur Verfügung, und nachdem eine Expedition den Ort verödet vorgefunden hatte und zurückgekehrt war nach Abfeuerung einiger Schüsse, rüstete sie selbst eine zweite aus und begleitete sie. Niemand erschien, um sie willkommen zu heißen oder ihnen Widerstand zu leisten; sie streiften eine Weile zwischen verlassenen Hütten und menschenleeren Büschen umher, bildeten dann zwei Abteilungen und machten sich auf den Weg, um den Pandanusdschungel von einem Ende der Insel zum anderen abzusuchen. Ein Mann allein blieb am Landungsplatz, Teina, ein Häuptling von Anna und Führer der bewaffneten Eingeborenen, die den Hauptteil der Expedition bildeten. Als nun seine Kameraden nach allen Seiten davongegangen waren, um ihre schwierigen Erkundungen anzustellen, senkte sich eine tiefe Stille herab, und diese Stille war das Verderben der Inselbewohner. Der Laut fallender Steine drang ans Ohr Teinas. Er sah sich um, da er glaubte, eine Krabbe wahrzunehmen, und erblickte statt dessen die braune Hand eines Manschen, die sich aus einer Bodenspalte hervorstreckte. Ein Schrei rief die Fahndungsabteilungen zurück und verkündete den unter der Erde steckenden Feiglingen den Untergang. In der Höhle fand man sechzehn Gestalten, die zwischen menschlichen Knochen und einzigartigen und grauenhaften Dingen hockten, darunter war ein Schädel mit goldenem Haar, in dem man einen Überrest der Kapitänsfrau erkennen durfte, dann die Körperhälfte eines europäischen Kindes, an der Sonne getrocknet und auf einen Stab gespießt, ohne Zweifel zum Zweck irgendeiner Zauberei.

Der Paumotuaner wünscht reich zu sein. Er spart, rafft zusammen, vergräbt Geld und fürchtet die Arbeit nicht. Für je einen Dollar verbrachten zwei Eingeborene die ganzen Tagesstunden, um das Kupfer an unserem Schiff zu putzen. Es war sonderbar, sie so unermüdlich und wohlauf im Wasser zu sehen, sie arbeiteten zeitweise mit brennender Pfeife. Der Raucher tauchte manchmal unter, und der Pfeifenkopf blieb an der Oberfläche. Das sonderbarste aber ist die Tatsache, daß sie nächste Nachbarn der unfähigen Marquesaner sind. Aber der Paumotuaner spart, knausert und arbeitet nicht nur, sondern er stiehlt auch, oder, um es genauer auszudrucken, er ist ein Schwindler. Er streitet niemals eine Schuld ab, sondern flüchtet nur vor dem Gläubiger. Er ist immer darauf bedacht, Vorschüsse zu erhalten, und sobald er sie bekommen hat, verschwindet er. Er kennt genau das betreffende Schiff wieder, und wenn es sich einer Insel nähert, macht er sich davon zu einer anderen. Man glaubt seinen Namen zu kennen, aber er hat ihn inzwischen gewechselt. Eine Verfolgung in dieser unendlichen Inselwelt wäre erfolglos. Das Resultat läßt sich in ein paar Worten beschreiben. Tatsächlich hat man in einem Regierungsbericht vorgeschlagen, Schulden dadurch einzutreiben, daß man den Schuldner photographiert, und neulich wurden in Papeete Kredite in der Höhe von sechzehntausend Pfunden, die auf den Paumotus gewährt worden waren, für weniger als vierzig Pfunde verkauft – quatre cent mille francs pour moins de mille francs. Selbst dann wurde der Kauf als waghalsig empfunden, und nur der Mann, der ihn getätigt hatte und besondere Möglichkeiten besaß, hatte gewagt, soviel zu zahlen.

Der Paumotuaner hängt innig an denen, die seines Blutes sind und zu seinem Haushalt gehören. Eine rührende Zuneigung verbindet oft Weib und Gatten. Ihre Kinder beherrschen die Eltern schon zu Lebzeiten vollständig, und wenn sie gestorben sind, werden ihre Knochen und Mumien oft eifersüchtig aufbewahrt und auf den Wanderungen der Familie von Atoll zu Atoll mitgenommen. Man erzählte mir, daß in manchen Häusern auf Fakarava Kindermumien in verschlossenen Seekisten lägen. Nachdem ich das erfahren hatte, schaute ich ein wenig eifersüchtig auf die Kisten, die neben meinem eigenen Bett standen, und auch in jenem Schrank dort konnte vielleicht ein kleines Skelett ruhen.

Die Rasse scheint ziemlich lebenskräftig zu sein. Ich hatte Gelegenheit, die Statistik von fünfzehn Inseln einzusehen, und fand ein Verhältnis von neunundfünfzig Geburten zu siebenundvierzig Todesfällen für das Jahr 1887. Läßt man drei Inseln von diesen fünfzehn aus, so bleibt für die restlichen zwölf das ansehnliche Verhältnis von fünfzig Geburten zu zweiunddreißig Todesfällen. Andauernde Härte der Lebensbedingungen und Fleiß erklären ohne Zweifel den Gegensatz zu den für die Marquesaner gültigen Ziffern. Aber der Paumotuaner entwickelt außerdem eine gewisse Sorgfalt in der Gesundheitspflege und den sanitären Maßregeln. Das öffentliche Gerede ersetzt bei diesen offenherzigen Leuten ein Seuchengesetz: Leute, die zu einer neuen Insel kommen, erkundigen sich sorgfältig, ob alles gesund ist, und die Syphilis wird, wenn sie auftritt, erfolgreich mit medizinischen Kräutern behandelt. Gleich ihren Nachbarn auf Tahiti, von denen sie vielleicht diesen Irrtum übernommen haben, behandeln sie den Aussatz mit verhältnismäßiger Gleichgültigkeit, die Elefantiasis dagegen mit zu großer Furcht. Aber im Gegensatz zu den Tahitianern nimmt ihre Besorgnis die Formen des Selbstschutzes an. Alle, die von dieser qualvollen und entstellenden Krankheit befallen sind, werden an die Grenzen der Dörfer verbannt, man verbietet ihnen die Benutzung der Fußwege und Landstraßen und verurteilt sie, sich zwischen ihrem Hause und dem Kokosnußwäldchen nur zu Wasser zu bewegen, denn selbst die Fußtapfen hält man für ansteckend. Fe’efe’e ist ein Produkt der Sümpfe, eine Folgeerscheinung des Malariafiebers und deshalb nicht heimisch auf den Atollen. Nur auf der Insel Makatea, wo die Lagune bereits zum Sumpf wurde, hat die Seuche einen Herd. Viele leiden daran; sie werden, wenn Mr. Wilmot recht hat, von vielen Bequemlichkeiten der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, und man glaubt, daß sie sich heimlich rächen. Die Exkremente der Kranken werden als höchst giftig angesehen. In den frühen Morgenstunden, so erzählt man, schleichen sich alte und boshafte Personen in das schlafende Dorf und schlagen verstohlen ihr Wasser vor den Türen junger Leute ab. So verbreiten sie die Krankheit, so begeifern und beschmutzen sie gesunde Wohnstätten, den Gegenstand ihres Neides. Ob es sich hier um eine entsetzliche Tatsache oder eine noch abscheulichere Legende handelt, es charakterisiert auf alle Fälle eine bittere Energie, die den Paumotuaner auszeichnet.

Der Archipel ist aufgeteilt zwischen zwei Hauptreligionen: dem Katholizismus und dem Mormonentum. Sie stehen einander stolz gegenüber mit dem falschen Schein der Dauerhaftigkeit, aber sie sind beide nur leere Formen, und ihre Mitgliederzahl schwankt ständig. Der Mormone wohnt andächtig der Messe bei, der Katholik hört andächtig einer mormonischen Predigt zu, und am folgenden Tage hat vielleicht jeder seinen Glauben gewechselt. Ein Mann war fünfzehn Jahre lang eine Säule der römischen Kirche gewesen; als sein Weib starb, bekannte er, es sei eine armselige Religion, die einem Manne nicht sein Weib erhalten könne, und wurde Mormone. Nach einem Gewährsmann ist der Katholizismus gut für Gesunde, aber beim Hereinbrechen von Krankheiten hält man es für klug auszutreten. Als Mormone habe man in fünf von sechs Fällen Aussicht, wieder gesund zu werden, als Katholik nur geringe Hoffnungen, und diese Meinung rührt vielleicht von der häufigen Anwendung der letzten Ölung her.

Wir alle wissen, was Katholiken sind, ganz gleich ob auf den Paumotus oder in der Heimat. Aber der paumotuanische Mormone ist ein Phänomen für sich. Er heiratet nur eine Frau, benutzt die protestantische Bibel, beobachtet protestantische Gottesdienstformen, verbietet den Gebrauch von Alkohol und Tabak, wendet die Taufe an bei Erwachsenen durch Untertauchen und tauft den Rückfälligen nach jeder öffentlichen Sünde von neuem. Ich besprach mich mit Mahinui, den ich in der Geschichte der amerikanischen Mormonen wohlunterrichtet fand, und er erklärte, es bestehe nicht die geringste Beziehung zu ihnen. » Pour moi,« sagte er mit zarter Rücksicht, » les mormons ici un petit Catholiques«. Einige Monate später hatte ich Gelegenheit, mit einem orthodoxen Landsmann zu sprechen, einem alten schottischen Dissidenten, der lange auf Tahiti gesessen hatte, aber noch nach der Heide von Tiree roch. »Warum nennen sie sich Mormonen?« fragte ich. »Mein Lieber, das ist auch eine Frage,« rief er aus, »denn nach allem, was ich von ihrem Glauben höre, kann ich nichts dagegen einwenden, und ihre Lebensführung ist über jeden Tadel erhaben.« Und doch sind sie echte Mormonen einer älteren Richtung, ähnlich den sogenannten Josephiten, den Anhängern von Joseph Smith und Gegnern von Brigham Young.

Man mag also zugeben, daß die Mormonen Mormonen sind. Aber sofort erheben sich neue Zweifel: was sind die Israeliten, und was sind die Kanitus? Vor langer Zeit teilte man die Sekte ein in eigentliche Mormonen und sogenannte Israeliten, aber den Grund habe ich nie erfahren. Vor einigen Jahren kam ein Reise-Missionar namens Williams, der eine ergiebige Kollekte veranstaltete und, als er sich zurückzog, eine neue Spaltung in naher Zukunft veranlaßte. Irgendeine Sonderbarkeit beim Beginn des Gottesdienstes hatte, wie man mir erzählte, Parteigänger und Feinde geschaffen, die Kirche wurde von neuem erschüttert, und eine neue Sekte, die Kanitus, war das Ergebnis der Spaltung. Später haben die Kanitus und Israeliten gleich den Cameronianern und den vereinigten Presbytern gemeinsame Sache gemacht, und die Kirchengeschichte der Paumotus ist augenblicklich ereignislos. Aber bald wird wieder etwas geschehen, und diese Inseln können sich rühmen, das Schottland des Südens zu sein. Zwei Dinge konnte ich nie erfahren: die Natur der Feuerungen des hochwürdigen Mr. Williams wollte mir keiner erzählen, und die Bedeutung des Namens Kanitu konnte mir keiner verraten. Es war weder tahitisch noch marquesanisch und bildete auch keinen Teil jener alten Sprache der Paumotus, die langsam der Vergessenheit anheimfallt. Ein Mann, ein Priester, Gott segne ihn, sagte, es sei die lateinische Bezeichnung für einen jungen Hund. Ich habe seitdem festgestellt, daß es der Name eines Gottes auf Neuguinea ist, und ein kühnerer Geist als ich müßte die Verbindung nachweisen. Hier ist also ein einzigartiger Zustand: eine brandneue Sekte, die durch Volkszustimmung entsteht, und ein unsinniges Wort, das als Bezeichnung erfunden wird.

Die Absicht, etwas Geheimnisvolles zu schaffen, scheint auf der Hand zu liegen, und nach der Ansicht eines sehr klugen Beobachters, Mr. Magee von Mangareva, bildet dies Element des Geheimnisvollen eine Hauptanziehungskraft der mormonischen Kirche. Sie erfreut sich in ihrem Ursprungsland gewissermaßen des Rufes der Freimaurerei, und für den Konvertiten hat sie einen gewissen abenteuerlichen Reiz. Andere Vorzüge kommen sicherlich hinzu. Die fortwährende Wiedertaufe, die fortgesetzt Tauffestlichkeiten nach sich zieht, empfindet man gesellschaftlich und geistig als Annehmlichkeit. Wichtig ist die Tatsache, daß alle Gläubigen ein Amt erhalten, noch wichtiger vielleicht die Strenge der Disziplin. »Das Alkoholverbot«, sagte Mr. Magee, »führt ihnen zahlreiche Mitglieder zu.« Kein Zweifel, daß diese Insulaner gern trinken, und kein Zweifel, daß sie sich von der Trunksucht freihalten. Dem Gelage an einem Festtage kann zum Beispiel eine Woche oder ein Monat strenger Enthaltsamkeit folgen. Mr. Wilmot schreibt dies der paumotuanischen Mäßigkeit und Sparsamkeit zu; es geht aber viel tiefer. Ich habe erwähnt, daß ich an Bord der »Casco« ein Gastmahl veranstaltete, um den Schiffszwieback und die Marmelade hinunterzuspülen, durfte jeder Gast zwischen Rum und Sirupwasser wählen, und aus der Gesamtzahl stimmte nur ein Mann – in herausforderndem Tone und unter schallendem Gelächter – für »Trum«. Das geschah in aller Öffentlichkeit. Ich besaß die Gemeinheit, das Experiment, sooft ich Gelegenheit hatte, innerhalb der vier Wände meines Hauses zu wiederholen, und mindestens drei Leute tranken gierig Rum hinter verschlossenen Türen, während sie ihn beim Festmahl zurückgewiesen hatten. Andere wiederum waren durchaus standhaft. Ich sagte, daß die Tugenden dieser Rasse bürgerlich und puritanisch seien; und wie bürgerlich ist das, wie puritanisch, wie schottisch, wie yankeehaft! Die Versuchung, der Widerstand, die öffentliche heuchlerische Gleichförmigkeit, die Pharisäer, die frommen Betbrüder und die echten, wahrhaft Religiösen! Bei solchen Leuten ist die Volkstümlichkeit einer asketischen Kirche wohl erklärlich. In den strengen Regeln, in der ständigen Überwachung finden die Schwachen eine Stütze, die Starken ein gewisses Vergnügen, und die Lehre von der Wiedertaufe, eine klare Abrechnung und ein neuer Beginn, mag manchen strauchelnden Bekenner trösten.

Es gibt noch eine neue Sekte oder was man, sicher unberechtigt, so nennt: die der Pfeifer. Aber ich bin nicht ganz sicher und vermute immer noch, daß irgendein vielleicht zufälliger und wahrscheinlich umstrittener Zusammenhang mit den anderen besteht. Hier seien wenigstens einige Geschehnisse berichtet aus dem Hause eines israelitischen Geistlichen oder Propheten auf der Insel Anaa, die, ich bin dessen sicher, Duncan von sich gewiesen hätte, während die Pfeifer sie als Nachahmung ihrer eigenen Bräuche begrüßt hätten. Mein Berichterstatter, ein Tahitier und Katholik, bewohnte einen Teil des Hauses; der Prophet und seine Familie lebten in dem anderen. Abend für Abend hielten die Mormonen auf dem einen Ende ihren abendlichen Gesanggottesdienst ab, Abend für Abend lag auf der anderen Seite das Weib des Tahitiers wach und lauschte dem Gesang mit Staunen. Schließlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten, weckte ihren Gatten und fragte ihn, was er höre. »Ich höre mehrere Personen Hymnen singen«, sagte er. »Ja,« erwiderte sie, »aber lausche noch einmal! Hörst du nicht etwas Übernatürliches?« Nachdem seine Aufmerksamkeit auf diese Weise erregt war, vernahm er eine sonderbare summende Stimme, die er trotzdem für schön erklärte, und die die Sänger richtig begleitete. Am nächsten Tage stellte er Nachforschungen an. »Es ist ein Geist,« sagte der Prophet mit voller Einfältigkeit, »der in letzter Zeit an unserem Familiengottesdienst teilzunehmen pflegt.« Scheinbar war das Wesen nicht sichtbar, und wie andere Geister, die in diesen Tagen des Verfalls in der Heimat aufstehen, war es gänzlich ungebildet; zuerst konnte es nur summen, und erst in letzter Zeit hatte es gelernt, seine Rolle bei der Musik richtig zu spielen.

Die Veranstaltungen der Pfeifer tragen einen mehr geschäftlichen Charakter. Ihre Versammlungen werden öffentlich bei unverschlossenen Türen abgehalten, alle sind herzlich eingeladen teilzunehmen; die Gläubigen sitzen in einem Raum und singen Hymnen nach einem Bericht, nach einem anderen singen und pfeifen sie abwechselnd; der Führer der Zauberer – vielleicht darf ich sagen, das Medium – sitzt in der Mitte, eingehüllt in ein Laken, und schweigt. Und bald darauf ertönt genau über seinem Kopf oder manchmal von der Mitte des Daches ein Pfeifen aus der Luft, das Unerfahrene in Staunen versetzt. Das, so scheint es, ist die Sprache der Toten, ihre Ausdeutung wird ununterbrochen von einem der Eingeweihten festgehalten, der, wie man mir erzählte, »so schnell wie ein Telegraphist« schreibt, und schließlich werden die Mitteilungen öffentlich bekanntgegeben. Sie sind von verwegenster Trivialität: ein Schoner wird vielleicht angezeigt, irgendeine lächerliche Nachricht über einen Machbar gegeben, oder wenn der Geist im Falle einer Krankheit zur Konsultation gerufen wurde, wird vielleicht ein Heilmittel empfohlen. Eine von diesen Kuren, das Eintauchen in kochend heißes Wasser, erwies sich vor nicht langer Zeit verhängnisvoll für den Patienten. Die ganze Sache ist äußerst langweilig, äußerst töricht und äußerst europäisch. Sie besitzt nichts von den malerischen Qualitäten ähnlicher Beschwörungen auf Neuseeland und scheint nicht die Spur von Sinn zu besitzen, wie manche Gebräuche der Gilbertinsulaner, die ich beschreiben werde. Doch erzählte man mir, daß viele ernsthafte und kluge Eingeborene eingeschworene Pfeifer seien. »Wie Mahinui?« fragte ich, um einen Maßstab zu haben, und man antwortete mir: »Ja.« Warum sollte ich mich wundern? Gebildetere Leute als mein Sträflingkatechet setzen sich in der Heimat nieder zu ähnlich unnützen und langweiligen Torheiten.

Das Medium ist manchmal eine Frau. Eine Frau war es zum Beispiel, die diese Bräuche an der Nordküste von Taiarapu einführte zur Entrüstung ihrer eigenen Verwandten, wobei besonders ihr Schwager erklärte, sie sei betrunken. Aber was in Tahiti unmöglich war, schien für die Paumotus sehr geeignet, zumal gewisse Frauen dort die natürliche Gabe einzigartiger und nützlicher Kräfte besitzen. Man sagt, es handle sich um ehrbare, gutwillige Frauen, die sich manchmal durch das unheimliche Erbe belastet fühlen. Und in der Tat ist die Unbequemlichkeit, die durch diese Gabe verursacht wird, so groß und der Schutz, den man den Frauen gewährt, so unendlich gering, daß ich mich nur zögernd entschließe, sie als Gabe oder als vererbten Fluch zu bezeichnen. Man kann einer solchen Frau den Kokosnußhain rauben, ihre Kanus stehlen, ihr Haus niederbrennen und ihre Familienmitglieder rücksichtslos niedermetzeln: etwas darf man nicht tun, man darf nicht die Hand auf ihre Schlafmatte legen, oder der Leib des Übeltäters schwillt an, und er kann nur durch die Frau selbst oder ihren Mann geheilt werden. Hier ist der Bericht eines Augenzeugen, der ein geborener Tasmanier war, wohlerzogen, ein Mann mit Vermögen, sicherlich kein Narr. Im Jahre 1886 weilte er in einem Hause auf Makatea, wo zwei Knaben auf den Matten Unfug trieben und, wie ich glaube, hinausgeworfen wurden. Bald nachher begannen ihre Bäuche anzuschwellen, Schmerzen überfielen sie, alle möglichen Inselheilmittel wurden vergeblich angewandt, Reiben vermehrte nur ihre Qualen. Der Herr des Hauses wurde gerufen, gab eine Erklärung ab über die Natur der Heimsuchung und bereitete das Heilmittel vor. Eine Kokosnuß wurde geschält, mit Kräutern gefüllt und unter allen Zeremonien eines Stapellaufes und Beschwörungen in paumotuanischer Sprache dem Meere anvertraut. Von diesem Augenblick an wurden die Schmerzen geringer, die Qualen nahmen ab. Der Leser mag staunen. Ich kann ihm versichern, daß er, wenn er sich viel unter den alten Einwohnern des Archipels bewegt hätte, das eine oder das andere zugeben müßte: entweder waren die Bäuche geschwollen, oder das Zeugnis von Menschen ist überhaupt wertlos.

Ich habe keine dieser begnadeten Damen kennengelernt, aber ich habe selbst eine sonderbare Erfahrung gemacht, denn ich habe, allerdings nur für eine Nacht, die Rolle eines pfeifenden Geistes gespielt. Es hatte den ganzen Tag heftig geweht, aber mit hereinbrechender Nacht war der Wind abgeflaut, und der volle Mond segelte am klaren Himmel. Wir gingen südwärts die Insel entlang auf der Seite der Lagune und wanderten durch langgestreckte Palmenwälder auf schneeweißem Sande dahin. Nirgends Leben, nirgends ein Laut, bis wir auf dem bewaldeten Teil der Insel die Glut eines Feuers wahrnahmen und nicht weil davon in einem dunklen Hause Eingeborene leise sprechen hörten. Ohne Licht zu sitzen, selbst in Gesellschaft und unter Dach, ist für einen Paumotuaner ein äußerst kühnes Unterfangen. Die ganze Szene – das starke Mondlicht und die sonderbaren Schatten auf dem Sand, die umhergestreuten Glutreste, der Laut der leisen Stimmen vom Hause her und das Plätschern der Lagune längs der Küste – veranlaßten in mir, ich weiß nicht wie, abergläubische Vorstellungen. Ich war barfuß, ich bemerkte, daß meine Schritte lautlos waren, und als ich mich dem dunklen Hause näherte und dabei mich sorgfältig im Schatten hielt, begann ich zu pfeifen. Es war irgendein Gassenhauer, ein nicht gerade ernstes Lied. Beim ersten Ton stockte die Unterhaltung, jede Bewegung hörte auf, Schweigen begleitete mich, während ich weiterging, und als ich bei meiner Rückkehr denselben Weg nahm, bemerkte ich, daß die Lampe im Hause brannte, die Lippen aber noch immer stumm waren. Die ganze Nacht hindurch, davon bin ich heute überzeugt, zitterten die armen Kerle und schwiegen. Denn ich hatte in der Tat damals keine Ahnung von der Natur und Größe des Schreckens, den ich einjagte, und mit welch furchtbaren Gesichten die Töne jenes alten Liedes das dunkle Haus erfüllt hatten.

Fünftes Kapitel


Ein paumotuanisches Begräbnis

Nein, ich hatte keine Ahnung von den Ängsten dieser Menschen. Aber ich hatte schon früher einen Wink bekommen, ohne ihn zu verstehen, und der Anlaß war ein Begräbnis.

Ein wenig abseits von der Hauptstraße von Rotoava wohnte in einer niedrigen Laubhütte, die auf einen kleinen eingezäunten Platz hinauslief wie ein Schweinestall auf den Auslauf, ein alter Mann einsam mit seiner bejahrten Frau. Vielleicht waren sie zu alt, um mit den anderen auszuziehen, vielleicht waren sie auch zu arm und hatten keine Besitztümer zu verteidigen. Jedenfalls waren sie daheim geblieben, und so kam es, daß sie zu meinem Fest eingeladen wurden. Ich kann wohl sagen, daß es sich wirklich um einen fast politischen Entschluß handelte in dem Schweinestall, ob sie kommen oder nicht kommen sollten. Und der Gatte schwankte lange zwischen Neugier und Altersschwäche, bis die Neugier siegte und sie kamen, und inmitten dieser letzten Freude berührte der Tod seine Schulter. Einige Tage lang wurde seine Matte unter dem heiteren Himmel und dem kühlen Wind auf der Landstraße des Dorfes ausgebreitet, und man sah ihn dort, nur noch der Schatten eines Menschen, untätig liegen, während sein Weib untätig zu seinen Häupten saß. Sie schienen alle menschlichen Nöte und Fähigkeiten vergessen zu haben, sie sprachen und hörten nicht, sie ließen uns vorübergehen, ohne aufzublicken, die Frau bewegte den Fächer nicht und schien ihrem Mann nicht aufzuwarten, die beiden armen Alten saßen nebeneinander unter dem hohen Baldachin der Palmen wie die in ihre Urelemente aufgelöste menschliche Tragödie, von allem Pathos entblößt, lebhafte Neugier erregend. Und doch verfolgte mich der Gedanke an das Pathetische einer Tatsache: daß noch soviel Jugend und Erwartungsfreude in diesen abgestorbenen Adern gelebt halte, und daß der Wann den ganzen Rest seiner Lebenskraft an eine Vergnügung verschwendet hatte.

Am Morgen des siebzehnten September starb der Dulder, und da die Zeit drängte, wurde er am gleichen Tage um vier Uhr beerdigt. Der Friedhof liegt seewärts hinter dem Regierungsgebäude. Zerbrochene Koralle bedeckt die Oberfläche wie Straßenkies, ein paar Holzkreuze und ein paar unansehnliche, aufgerichtete Steine bezeichnen die Gräber, eine zementierte Mauer, hoch genug, um sich darauf stützen zu können, schließt den Platz ein, und dichtes Gesträuch umgibt ihn mit blassen Blättern. Hier war am Morgen das Grab gegraben, ohne Zweifel von griesgrämigen Totengräbern, beim Rauschen der nahen See und unter dem Geschrei der Meeresvögel. Inzwischen wartete der tote Mann in seinem Hause, und die Witwe und eine andere alte Frau lehnten am Zaun vor der Tür, ohne Worte auf den Lippen, ohne Empfindung in den Augen.

Pünktlich zur festgesetzten Stunde trat die Prozession den Weg an, der Sarg war mit weißen Tüchern bedeckt und wurde von vier Leuten getragen; die Leidtragenden gingen hinterher – nicht viele, denn nicht viele waren in Rotoava geblieben – und nicht viele in Schwarz, denn sie waren arm; die Männer in Strohhüten, weißen Röcken und blauen Hosen oder dem prächtigen, teilweise farbigen Pariu, dem tahitischen Gewande, ähnlich dem schottischen Kilt; die Frauen mit wenigen Ausnahmen in leuchtende Gewänder gekleidet. Ganz im Hintergrunde kam die Witwe, traurig des toten Mannes Matte tragend, ein übermenschlich bejahrtes Geschöpf, irgendeinem » missing link« ähnlich.

Der Tote war Mormone gewesen, aber der mormonische Geistliche war mit den übrigen fortgezogen, um sich auf der benachbarten Insel über Grenzfestsetzungen zu streiten, und ein Laie übernahm sein Amt. Er stand am Kopfende des offenen Grabes in weißem Rock und blauem Pariu, seine tahitische Bibel in der Hand, ein Auge mit einem roten Taschentuch verbunden, und las feierlich jenes Kapitel aus Hiob, das man lesen hörte bei den Gebeinen so vieler Vorfahren, und sandte mit wohllautender Stimme zwei Gebete zum Himmel. Der Wind und die Brandung sangen ihr Lied dazu. Am Friedhofstore nährte eine Mutter in rotem Gewande ihr Kind, das in blaue Tücher gewickelt war. In der Mitte saß die Witwe auf dem Boden und polierte mit einem Stück Koralle eine Tragstange des Sarges; ein wenig später drehte sie dem Grabe den Rücken und spielte mit einem Blatt. Verstand sie das alles? Gott allein weiß es. Der stellvertretende Geistliche machte eine Pause, starrte vor sich hin, nahm dann ehrfurchtsvoll eine Handvoll Koralle und warf sie klirrend auf den Sarg. Staub zu Staub; aber die Staubkörner waren dick wie Kirschen, und der wirkliche Staub, der bald nachfolgen sollte, saß in der Nähe, noch zusammengefügt wie durch ein Wunder zum tragischen Ebenbild eines weiblichen Affen. Soweit war es ein christliches Begräbnis, ob der Tote nun Mormone war oder nicht. Die bekannte Stelle aus Hiob war vorgelesen, die Gebete waren gesprochen, das Grab zugeschaufelt, die Leidtragenden strebten heimwärts. Das Korn der deckenden Erde war etwas gröber, der Schrei der See ein wenig näher, der Glanz des Sonnenlichtes lag ein wenig starker auf der rohen Einfriedigung des Kirchhofes, und die Farben der Gewänder stimmten nicht ganz, aber sonst waren wohlbekannte Formen beobachtet worden.

Von Rechts wegen hätte es anders sein sollen, die Matte hätte mit dem Eigentümer beerdigt werden müssen, aber da die Familie arm war, wurde sie sparsam für frischen Gebrauch aufbewahrt. Die Witwe mußte sich eigentlich über das Grab werfen und die Stimme zur öffentlichen Trauerklage erheben, die Nachbarn einstimmen und die schmale Insel eine Zeitlang von Jammergeschrei widerhallen. Aber die Witwe war alt, vielleicht hatte sie es vergessen, vielleicht niemals verstanden, und sie spielte wie ein Kind mit Blättern an der Bahre. Mein Gast wurde auf alle Fälle unter Verletzung aller Gebräuche beerdigt. Sonderbar der Gedanke, daß seine letzte bewußte Freude die »Casco« und mein Gastmahl waren, sonderbar der Gedanke, daß er doch hingehinkt war, ein altes Kind, um nach neuen guten Dingen auszuschauen. Das Gute, die Ruhe, war ihm zuteil geworden.

Aber obgleich die Witwe vieles vernachlässigt hatte, so gab es doch eine Rolle, die sie nicht gänzlich außer acht lassen durfte. Sie ging fort mit den übrigen Leidtragenden, aber die Matte des toten Mannes war auf dem Grabe geblieben, und ich erfuhr, daß die Frau bei Sonnenuntergang zurückkehren mußte, um dort zu schlafen. Diese Nachtwache ist strengste Vorschrift. Von Sonnenuntergang bis zum Aufgang des Morgensternes muß der Paumotuaner Wache halten über der Asche eines Verwandten. Viele Freunde leisten den Wächtern Gesellschaft, wenn der Tote ein angesehener Mann war; sie werden mit Decken gegen die Unbilden des Wetters gut versorgt, ich glaube, man bringt ihnen Essen, und der Brauch wird zwei Wochen streng durchgeführt. Unsere arme Überlebende, wenn sie überhaupt noch wirklich lebte, besaß wenig Decken, und wenige waren, die mit ihr wachten. In der Nacht, die dem Begräbnis folgte, jagte ein starker Sturm sie vom Wachtplatz fort, tagelang blieb das Wetter unsicher und windig, und ehe sieben Nächte verstrichen waren, hatte sie es aufgegeben und kehrte zum Schlaf unter ihrem niedrigen Dache zurück. Daß sie sich die Mühe machte, zu so kurzem Aufenthalt in ihr einsames Haus zurückzukehren, daß sie, die am Rande des Grabes stand, ein wenig Wind und eine nasse Decke fürchtete, erfüllte mich damals mit Nachdenken. Ich konnte nicht behaupten, daß sie gleichgültig war, sie war mir an Erfahrungen so überlegen, daß meine Kritik kein Urteil wagte, aber ich erfand Entschuldigungen und sagt? mir, daß sie vielleicht wenig zu beklagen, vielleicht viel gelitten und vielleicht nichts begriffen habe. Und doch war es anders! Bei der ganzen Angelegenheit handelte es sich überhaupt nicht um Zärtlichkeit oder Anhänglichkeit, und die hartherzige Rückkehr des alten Weibes zu ihrem Hause war das Zeichen einer ungewöhnlichen Kraft.

Etwas hatte sich ereignet, das mich auf eine Spur brachte. Ich habe gesagt, daß das Begräbnis beinahe wie in der Heimat verlief. Aber als alles vorüber war und wir in rücksichtsvollem Schweigen von der Friedhofspforte den Pfad entlang schritten zum Dorf, wurden wir plötzlich von dem Ausbruch eines ganz verschiedenen Geistes überrumpelt und beinahe in Schrecken versetzt. Zwei Menschen gingen nicht weit Von uns entfernt in dem Zuge: mein Freund M. Donat, Donat-Rimarau, »Donat der Vielhändige«, der stellvertretende Vizeresident und augenblickliche Beherrscher des Archipels, bei weitem der wichtigste Mann im weiten Umkreise, aber im übrigen bekannt als unerschütterlich gutmütig, und eine gewisse hübsche, gut gebaute junge Paumotuanerin, die hübscheste der Insel, aber, wie wir hoffen wollen, nicht die edelste oder höflichste. Plötzlich, bevor noch die Totenstille des Begräbnisses gebrochen war, sprang sie auf den Residenten zu mit vorgestrecktem Finger, schrie ein paar Worte und rannte wieder zurück mit einem Lachen, das nicht natürliche Heiterkeit war. »Was sagte sie zu Ihnen?« fragte ich. »Sie sagte nichts zu mir,« sagte Donat etwas verwirrt, »sie sprach zum Geist des toten Mannes.« Und der Inhalt jenes Ausrufes war dieser: »Sieh dort! Donat ist ein fetter Bissen für dich heute abend!«

»M. Donat nannte es einen Scherz,« schrieb ich damals in mein Tagebuch, »mir schien es eher eine Art Beschwörung zu sein, die aus Furcht entstand, als wolle sie die Aufmerksamkeit des Geistes von sich ablenken. Menschenfresser mögen Wohl kannibalische Gespenster besitzen.« Die Vermutungen eines Reisenden scheinen von vornherein dazu verurteilt, falsch zu sein, aber in diesem Punkte hatte ich durchaus recht. Die Frau hatte mit Grauen dem Begräbnis beigewohnt, auf dem Friedhof, einem Ort des Schreckens. Sie blickte mit Grauen der kommenden Nacht entgegen, da dieses Schreckgespenst, ein neuer Geist, sich auf der Insel herumtrieb, lind die Worte, die sie Donat ins Gesicht geschrien hatte, waren in der Tat eine schreckhafte Verschwörung, um sich feige zu schützen und den andern feige auszuliefern. Etwas kann man zu ihrer Entschuldigung anführen. Ohne Zweifel wählte sie Donat einerseits, weil er ein Mann von großer Gutmütigkeit war, aber andererseits auch, weil er ein Halbblut war. Denn ich glaube, daß alle Eingeborenen weißes Blut als eine Art Talisman gegen die Mächte der Hölle ansehen. Auf keine andere Weise können sie sich die ungestrafte Unerschrockenheit der Europäer erklären.

Sechstes Kapitel


Friedhofgeschichten

Mit meinem abergläubischen Freund, dem Insulaner, verfahre ich, wie ich fürchte, nicht ganz einwandfrei, da ich ihm oft mit meinen eigenen Erzählungen den Weg weise und immer ein ernster und oft erregter Zuhörer bin. Aber der Betrug ist kaum sehr schwerwiegend, da ich ebenso begierig bin zuzuhören wie er zu erzählen, und da mir die Geschichten ebensosehr gefallen wie ihm sein Glaube. Und außerdem ist die Methode durchaus zweckmäßig, denn es ist kaum möglich, das gewaltige Ausmaß des Aberglaubens zu übertreiben, der sein Leben beherrscht und abfärbt auf das Denken. Wenn der Insulaner nicht von Geistern, Göttern und Teufeln zu mir redet, so verstellt er sich und spricht nur mit den Lippen. Bei einer so verschiedenartigen Ideenwelt muß man sich aufeinander einstellen, und ich ziehe es vor, seinem Aberglauben entgegenzukommen, statt von ihm Rücksicht auf meinen Unglauben zu fordern. Auch muß ich mir einer Tatsache immer gewiß sein: ich mag soviel Vorsicht üben, wie ich will, ich werde nie alles hören, denn er ist bereits auf der Hut vor mir, und der Umfang seines Aberglaubens ist grenzenlos.

Ich will nur ein paar Beispiele herausgreifen, hauptsächlich aus meiner eigenen nächsten Umgebung in Upolu während des verflossenen Monats (Oktober 1890). Einer meiner Arbeiter wurde neulich zur Bananenpflanzung geschickt, um dort zu graben. Es ist eine Felsschlucht, in Wäldern vergraben, völlig außer Seh- und Hörweite aller Menschen, und lange vor Dunkelheit war Lafaele wieder zurück beim Küchenhaus mit verwirrten Mienen; er wagte nicht länger allein zu bleiben, er fürchtete sich vor den Geistern im Busch. Es scheint, es sind die Seelen der unbegrabenen Toten, die sich dort herumtreiben, wo sie gefallen sind, und die Gestalten von Waldgetier annehmen, von Schweinen, Vögeln oder Insekten. Der Busch ist voll von ihnen, sie scheinen nichts zu essen, aber trotzdem anscheinend einsame Wanderer zu erschlagen und von Zeit zu Zeit in menschlicher Gestalt die Dörfer zu besuchen und sich unerkannt unter die Einwohner zu mischen. Soviel erfuhr ich ein oder zwei Tage später, als ich mit einem sehr intelligenten jungen Eingeborenen im Busch spazierenging. Es war ein wenig vor zwölf Uhr mittags, ein grauer und stürmischer Tag, und vielleicht hatte ich leichtsinnig geredet. Eine dunkle Wetterwolke barst am Gebirgsabhang, die Bäume ächzten und stöhnten, das welke Laub erhob sich in Wolken vom Boden wie Schmetterlinge, und mein Begleiter stand plötzlich vollkommen still. Er fürchtete sich, wie er sagte, daß die Bäume umfielen, aber sobald ich das Thema des Gesprächs gewechselt hatte, schritt er heiter fürbaß. Einige Tage zuvor kam ein Bote mit einem Brief den Berg hinauf von Apia, ich war im Busch, er mußte meine Rückkehr abwarten und dann verweilen, bis ich die Antwort aufgesetzt hatte. Bevor ich jedoch fertig war, erhob er schrill seine Stimme, voll Schreck vor dem Einbruch der Nacht und dem langen Weg durch den Wald. Das sind einfache Leute. Wie steht es mit den Häuptlingen? Ein großes Auftauchen und Verschwinden von Zeichen und Vorbedeutungen geschah auf unserer Inselgruppe. In einem Fluß wurde das Wasser zu Blut, rote Igel wurden in einem anderen gefangen, ein unbekannter Fisch wurde an die Küste geworfen, der ein geheimnisvolles Wort auf den Schuppen trug. Soweit könnte man glauben, in einer Mönchschronik zu lesen, aber jetzt kommen wir zu einer besonderen Note, die zugleich modern und polynesisch ist. Die Götter von Upolu und Savaii, unseren beiden Hauptinseln, maßen sich vor einiger Zeit im Kricket. Seit jener Zeit befinden sie sich im Kriegszustand. Schlachtenlärm hört man die Küste entlang rollen. Eine Frau sah einen Mann von der hohen See herüberschwimmen und sofort im Busch verschwinden, es war niemand aus der Nachbarschaft, und es war bekannt, daß es einer der Götter war, der zum Kriegsrat eilte. Das Bemerkenswerteste aber von allem: Ein Missionar auf Savaii, der zugleich Medizinmann ist, wurde spät nachts durch Klopfen gestört. Es war nicht die Zeit für ärztliche Behandlungen, aber schließlich weckte er seinen Diener und beauftragte ihn nachzusehen. Der Diener schaute durch ein Fenster und sah eine Menge Personen, alle mit schweren Wunden, zerstückelten Gliedmaßen, gespaltenen Schädeln und blutenden Schußwunden, aber als die Tür geöffnet wurde, waren sie alle verschwunden. Es waren Götter vom Schlachtfeld. Nun haben diese Berichte sicher eine Bedeutung, und es ist nicht schwer, sie auf politisch Unzufriedene zurückzuführen oder in ihnen eine Drohung mit zukünftigen Unruhen zu sehen. So menschlich betrachtet, fand ich sie selbst schwerwiegend genug als Vorzeichen. Aber gerade ihre Bedeutung als Geistererscheinungen wurde in den geheimen Ratsversammlungen meiner Eingeborenenherrscher diskutiert. Ich kann diesen Zwiespalt des polynesischen Geistes am besten durch zwei miteinander verbundene Vorkommnisse schildern. Einst lebte ich in einem Dorf, dessen Namen ich nicht die Absicht habe zu nennen. Der Häuptling und seine Schwester waren sehr kluge Leute, vornehm und redegewandt. Die Schwester war sehr religiös, ging oft zur Kirche und pflegte mir Vorwürfe zu machen, wenn ich fortblieb. Später stellte ich fest, daß sie heimlich einen Haifisch verehrte. Der Häuptling selbst hatte etwas von einem Freidenker, jedenfalls war er ein weitherziger Mann und besaß außerdem europäische Bildung und Kultur. Er war ein lebhaft ironisierender Geist, und ich würde ihm ebensowenig Aberglauben zugetraut haben wie Herbert Spencer. Aber nun höre man das Folgende: Ich hatte durch sichere Anzeichen beobachtet, daß die Leute ihre Toten zuwenig tief auf dem Dorffriedhof bestatteten, und ich stellte das meinem Freunde als der verantwortlichen Autorität vor. »Es ist irgend etwas nicht in Ordnung mit eurem Friedhof,« sagte ich, »ihr müßt darauf achten, sonst kann es sehr böse Folgen haben.« – »Irgend etwas nicht in Ordnung? Was ist das?« fragte er mit einer Erregung, die mich überraschte. »Wenn du eines Abends ungefähr um neun Uhr vorbeigehst, wirst du es selbst bemerken«, sagte ich. Er wich zurück. »Ein Geist!« rief er aus.

Kurzum, im ganzen Gebiet der Südsee hat einer dem anderen nichts vorzuwerfen. Halbblut und Vollblut, fromm oder lasterhaft, klug oder dumm, alle Menschen glauben an Geister, alle verbinden mit ihrem jungen Christentum die Furcht vor den alten Inselgottheiten und einen unauslöschlichen Glauben an sie. So verkleinerten sich in Europa die Götter des Olymps schließlich zu Dorfgespenstern, so stiehlt sich der kirchliche Hochländer unter den Augen der göttlichen freien Kirche fort, um an einer heiligen Quelle ein Opfer niederzulegen.

Ich versuche die ganze Angelegenheit hier zu behandeln wegen einer besonderen Eigenart des paumotuanischen Aberglaubens. Wahr ist, daß mir diese Geschichten berichtet wurden von einem Manne mit genialem Erzählertalent. Versammelt um unsere abendliche Lampe, hörten wir seinen erregenden Worten zu, während die Inselbrandung herüberdröhnte; der Leser in ganz anderen Breiten muß dem schwachen Echo aufmerksam lauschen.

Dieser Strauß sonderbarer Geschichten geht zurück auf das Begräbnis und den selbstsüchtigen Beschwörungsschrei jenes Weibes. Ich war unzufrieden mit dem, was ich vernommen hatte, versteifte mich auf Fragen und fand schließlich diese wertvolle Quelle. Von Sonnenuntergang bis ungefähr vier Uhr früh sitzen die Verwandten auf dem Grabe, und das sind die Stunden der Geisterwanderungen. Zu irgendeiner Zeit der Nacht, später oder früher, hört man ein Geräusch in der Tiefe, das die Befreiung anzeigt; genau um vier Uhr verkündet ein zweites und heftigeres Geräusch den Augenblick der Wiedereinkerkerung, in der Zwischenzeit macht der Geist seine verhängnisvolle Runde. »Hast du jemals einen bösen Geist gesehen?« fragte man einst einen Paumotuaner. »Einmal.« – »In welcher Gestalt?« – »In der Gestalt eines Kranichs.« – »Und woher wußtest du, daß der Kranich ein Geist sei?« fragte man. »Das will ich erzählen«, antwortete er, und dieses ist der Inhalt seines nicht gerade überzeugenden Berichtes: Sein Vater war ungefähr vierzehn Tage tot, die anderen waren der Nachtwache überdrüssig geworden, und als die Sonne unterging, fand er sich beim Grabe allein. Es war noch nicht dunkel, sondern die Stunde der letzten Dämmerung, als er einen schneeweißen Kranich auf der Korallenmauer wahrnahm. Bald darauf kamen mehrere Kraniche, einige weiße und einige schwarze. Dann verschwanden die Kraniche, und er sah an ihrem Platz eine weiße Katze, der sich schweigend eine große Anzahl Katzen aller nur möglichen Farben zugesellte. Dann verschwanden diese auch, und er blieb verwundert zurück.

Dies war eine tröstliche Erscheinung. Man höre aber nun die Geschichte von Rua-a-mariterangi auf der Insel Katiu. Er brauchte etwas Pandanus und ging über die Insel zum Strand der offenen See, wo sie hauptsächlich wächst. Der Tag war still, und Rua war überrascht, im Waldesdickicht krachende Geräusche und darauf den Sturz eines großen Baumes zu hören. Hier mußte jemand ein Kanu bauen, und er trat in den Waldessaum ein, um den zufälligen Nachbar aufzusuchen und mit ihm den Tag zu verbringen. Das Krachen ertönte näherbei, und dann beobachtete er, wie etwas rasch auf ihn zukam unter den Baumwipfeln. Es schwang sich vorwärts, indem es sich mit den Füßen festklammerte wie ein Affe, so daß die Hände für eine Mordtat frei waren. Es wurde von den winzigsten Ästen sicher getragen, es kam unglaublich schnell heran, und bald erkannte Rua, daß es ein durch Alter furchtbar entstellter Leichnam war, dessen Eingeweide heraushingen. Das Gebet ist die Waffe des Christen im Schatten des Todes, und dem Gebet schreibt Rua-amariterangi seine Rettung zu. Kein rein menschliches Mittel hätte ihm helfen können.

Dieser Dämon stammte sicher aus dem Grabe, aber es ist zu beachten, daß er am Tage unterwegs war. Und sowenig das in Einklang zu bringen ist mit den Stunden der Nachtwache und den vielen Hinweisen auf den Aufgang des Morgensterns, so ist es doch keine alleinstehende Ausnahme. Ich habe niemals wieder jemand getroffen, der diesen Geist, der am Tage und in den Bäumen umging, gesehen hätte, aber andere hatten den Sturz des Baumes gehört, der das Zeichen seines Kommens ist. M. Donat war einmal bei der Perlenfischerei auf der unbewohnten Insel Haraiki. Es war ein Tag ohne Windhauch, wie sie im Archipel abwechseln mit stürmischen Brisen. Die Taucher waren in der Mitte der Lagune bei ihrer Beschäftigung, der Koch, ein Junge von zehn Jahren, war bei seinen Töpfen auf dem Felde, so waren alle beschäftigt mit Ausnahme eines einzigen Eingeborenen, der Donat in den Wald begleitete, um Seevogeleier zu suchen. Plötzlich drang aus der Stille das Geräusch eines fallenden Baumes. Donat wollte weitergehen, um die Ursache festzustellen. »Nein!« rief sein Begleiter aus, »das ist kein Baum. Es war etwas nicht in Ordnung. Laßt uns zum Lager zurückkehren.« Am nächsten Sonntag wurden die Taucher beauftragt, jenen ganzen Inselabschnitt gründlich zu durchsuchen, und es stellte sich mit Sicherheit heraus, daß kein Baum umgestürzt war. Etwas später sah M. Donat einen seiner Taucher vor einem ähnlichen Geräusch fliehen, in ebenso echter Angst auf derselben Insel. Aber niemand wollte eine Erklärung abgeben, und erst später, als er Rua traf, lernte er den Grund ihres Schreckens kennen.

Aber ob bei Tage oder bei Nacht: das Ziel der Toten, das sie in ihrer furchtbaren Betriebsamkeit verfolgen, ist immer dasselbe. Auf Samoa hatte mein Gewährsmann keine Vorstellung von der Nahrung der Waldgeister; eine solche Unklarheit herrschte im Geist der Paumotuaner nicht. In diesem dürftigen Archipel müssen Lebende und Tote gleicherweise um ihre Nahrung kämpfen, und während die Lebenden in der Vergangenheit Kannibalen waren, sind es die Geister noch jetzt. Da die Lebenden die Toten aßen, schufen nächtliche Schreckensvorstellungen den entsetzlichen Gedanken, daß die Toten die Lebenden äßen. Zweifellos erschlagen sie Menschen, zweifellos verstümmeln sie sie sogar aus lauter Bosheit. Marquesanische Geister reißen den Reisenden manchmal die Augen aus, aber auch das mag praktischer sein, als es erscheint, denn das Auge ist eine kannibalische Delikatesse. Und sicher ist die Hauptbeschäftigung der Toten, wenigstens auf den östlichsten Inseln, die Nahrungssuche. Als besonderen Leckerbissen für eine Mahlzeit verschrie das Weib bei der Beerdigung Mr. Donat. Es gibt außerdem Geister, die nicht die Körper, sondern besonders die Seelen der Toten rauben. Das geht klar hervor aus einer tahitischen Erzählung. Ein Kind wurde krank, sein Zustand verschlimmerte sich rasch, und schließlich traten Anzeichen des Todes ein. Die Mutter eilte zum Hause eines Zauberers, der in der Nähe wohnte. »Es ist gerade noch Zeit,« sagte er, »ein Geist ist soeben an meiner Tür vorübergelaufen, der die Seele deines Kindes in einem Puraoblatt eingewickelt forttrug, aber ich habe einen stärkeren und schnelleren Geist, der ihn erreichen wird, bevor er Zeit hat, sie zu verzehren.« Eingewickelt in ein Blatt: genau wie andere eßbare Dinge, die leicht verderben.

Oder man vernehme ein Erlebnis von M. Donat auf der Insel Anaa. Es war eine sehr windige Nacht mit heftigen Regengüssen, sein Kind war sehr krank, und der Vater lag wach, obgleich er zu Bett gegangen war, und lauschte auf den Sturm. Plötzlich wurde ein Huhn heftig gegen die Hauswand geschleudert. In der Annahme, er habe vergessen, das Tier mit den übrigen in den Stall zu sperren, stand Donat auf, fand das Tier (einen Hahn) auf der Veranda liegen und setzte es in den Hühnerstall, worauf er die Tür sorgfältig verschloß. Fünfzehn Minuten später geschah das gleiche, nur krähte der Hahn, als er gegen die Wand geschleudert wurde. Wieder brachte Donat das Tier zurück, sah den Hühnerstall gründlich nach und fand ihn vollkommen in Ordnung. Inzwischen blies der Wind sein Licht aus, und er mußte sich heftig erschrocken zur Tür zurücktasten. Noch ein drittes Mal wurde der Hahn gegen die Wand geschleudert, ein drittes Mal brachte Donat das jetzt halbtote Tier in den Hühnerstall zurück, und als er eben wieder im Hause war, stürmte etwas wie ein wütender starker Mann gegen die Tür, und ein Pfeifen so laut wie das einer Lokomotive ertönte rund um das Haus. Der skeptische Leser wird hinter allem den Sturm als Ursache vermuten, aber die Frauen gaben alles verloren und klammerten sich wehklagend an die Betten. Nichts erfolgte, und ich muß annehmen, daß der Wind sich etwas legte, denn gleich darauf erschien ein Häuptling zu Besuch. Es war tapfer von dem Manne, so spät unterwegs zu sein, aber ohne Zweifel trug er eine helle Laterne. Und er war sicher ein kluger Mann, denn sobald er die Einzelheiten der Störungen gehört hatte, war er imstande, ihre Natur zu erklären. »Dein Kind«, sagte er, »muß bestimmt sterben. Das ist der böse Geist unserer Insel, der darauf wartet, die Seelen der soeben Verstorbenen zu verzehren.« Und dann verwunderte er sich über das sonderbare Benehmen des Geistes. Er gehe gewöhnlich nicht, erklärte er, so offen zum Angriff über, sondern sitze schweigend auf dem Dach des Hauses und warte in der Gestalt eines Vogels, während drinnen die Leute den Sterbenden betreuten, den Toten beweinten und nicht an Gefahr dächten. Aber wenn der Tag komme, die Türen geöffnet würden und die Menschen hinausgingen, verrieten Blutspuren an der Wand die Tragödie.

Ich bewundere diese Art der paumotuanischen Legenden. Auf Tahiti sollen die Kannibalengeister Gestalten annehmen, die zwar viel prächtiger, aber viel weniger schrecklich sind. Alle möglichen Menschen haben sie gesehen, Eingeborene und Fremde, nur behaupten die letzteren, es handle sich um Meteore. Mein Gewährsmann war nicht ganz so sicher. Er ritt mit seiner Frau um ungefähr zwei Uhr morgens, beide schliefen fast, und den Pferden erging es nicht besser. Es war eine helle und stille Nacht, und der Weg ging in Windungen über einen Berg, nahe an einem verfallenen Marae, einem alten tahitischen Tempel vorbei. Plötzlich ging eine Erscheinung über sie hinweg in Form von Licht, das Haupt rund und grünlich, der Körper lang und rot, mit einem Brennpunkt von noch grellerem und leuchtenderem Rot ungefähr in der Mitte. Ein pfeifendes Sausen ertönte, als sie vorüberzog, sie kam direkt aus einem Marae und flog direkt auf einen anderen am Abhange des Berges zu. Und das hat seine Bedeutung, wie mein Gewährsmann behauptete. Denn warum sollte ein bloßer Meteor die Altäre verabscheuungswürdiger Götter besuchen? Die Pferde waren, wie ich glaube, ebenso aufgeregt wie die Reiter. Ich selbst jedoch bin durchaus nicht erregt, nicht einmal angenehm. Man lasse mir lieber den Hahn auf dem Dache des Hauses und die Blutspuren morgens an der Wand.

Aber die Toten sind nicht wählerisch in ihrer Nahrung, sie nehmen insbesondere die polynesische Vorliebe für Fisch mit ins Grab und schließen bisweilen Verträge mit den Lebenden über die Fischbeute. Wieder ist Rua-a-mariterangi mein Gewährsmann. Ich fühle, daß es das Gewicht der Tatsachen mindert, aber dafür charakterisiert es um so mehr diesen unverbesserlichen Geisterseher. Er stammt von der jämmerlich armen Insel Taenga, aber seines Vaters Haus war immer gut bestellt. Als Rua heranwuchs, befahl man ihm schließlich, mit seinem glücklichen Vater zum Fischen zu gehen. Sie ruderten in die Lagune hinaus zur Zeit der Abenddämmerung, und zwar zu den abgelegensten Plätzen. Der Knabe kauerte sich im Boot nieder, der Vater begann vergebens die Angelschnur über Bord zu werfen. Man darf annehmen, daß Rua einschlief, und als er aufwachte, sah er die Gestalt eines anderen Wesens neben seinem Vater, und der Vater zog die Fische haufenweise ins Boot. »Wer ist dieser Mann, Vater?« fragte Rua. »Das geht dich nichts an«, sagte der Vater. Und Rua nahm an, daß der Fremde von der Küste zu ihnen herübergeschwommen sei. Viele Nächte fuhren sie in die Lagune hinaus, oft zu den unmöglichsten Plätzen, und immer sah man plötzlich den Fremden an Bord, der ebenso plötzlich verschwand. Jeden Morgen kehrte das Kanu mit Fischen beladen zurück. »Mein Vater ist ein sehr glücklicher Mann«, dachte Rua. Schließlich, an einem schönen Tage, kam zuerst eine Bootpartie und dann eine andere, die man bewirten mußte, und der Vater mit dem Sohn fuhr später in die Lagune hinaus. Bevor das Kanu an seine Stelle kam, war es bereits vier Uhr, und der Morgenstern stand nahe unter dem Horizont. Da erschien der Fremde, von irgendeinem Kummer niedergedrückt, wandte sich um, zeigte zum erstenmal sein Gesicht, das Antlitz eines Mannes, der vor langer Zeit gestorben ist, mit leuchtenden Augen, starrte zum Osten, legte die Fingerspitzen an den Mund wie jemand, der friert, gab einen sonderbaren, fröstelnden Laut von sich, wie ein Pfeifen oder ein Stöhnen, der das Blut erschauern ließ, und da soeben der Morgenstern aus der See aufstieg, war er plötzlich verschwunden. Da verstand Rua, warum es seinem Vater so gut ging, warum seine Fische früh am Tage faulten, und warum stets einige zum Friedhof getragen und auf die Gräber gelegt wurden. Mein Gewährsmann ist dem Aberglauben sicher nicht abgeneigt, aber er ist klug und nimmt ein höheres Interesse an diesen Dingen, das ich wissenschaftlich nennen möchte. Der letzte Punkt erinnerte ihn an eine ähnliche Sitte auf Tahiti, und er fragte Rua, ob die Fische auf dem Grabe gelassen oder nach einer formalen Schenkung wieder mit nach Hause genommen würden. Es scheint, daß der alte Mariterangi beide Methoden ausübte, manchmal bot er seinem Freund aus dem Schattenreich nur etwas an, ein anderes Mal ließ er den Fisch ehrlich auf dem Grabe verfaulen.

Wir haben ohne Zweifel Erzählungen ähnlicher Art, und der polynesische »varua ino« oder »aitu o le vao« ist offenbar ein naher Verwandter des transsylvanischen Vampirs. Hier folgt eine Erzählung, in der die Verwandtschaft in groben Zügen erkennbar ist. Auf dem Atoll Penrhyn, damals noch teilweise von Wilden bewohnt, war ein gewisser Häuptling lange der heilsame Schrecken der Eingeborenen. Er starb und wurde beerdigt, und kaum hatten seine ehemaligen Nachbarn die Annehmlichkeiten der Freiheit gekostet, als der Geist im Dorf erschien. Furcht ergriff alle, eine Ratsversammlung der Anführer und Zauberer wurde veranstaltet, und unter Zustimmung des Missionars Rarotongan, der sich ebenso fürchtete wie die übrigen, und in Gegenwart mehrerer Weißer – mein Freund Mr. Ben Hird war unter ihnen – wurde das Grab geöffnet, tiefer ausgeschachtet, bis das Wasser kam, und der Leichnam wieder eingegraben mit dem Gesicht nach unten. Das Pfählen der Selbstmörder in England, das bis vor kurzem Sitte war, sowie das Köpfen der Vampire im Osten Europas sind eng verwandte Erscheinungen.

Auf Samoa erwecken nur die Geister der Unbeerdigten Furcht. Während des letzten Krieges fielen im Busch viele Menschen, ihre Körper, manchmal ohne Kopf, wurden von eingeborenen Hirten zurückgebracht und beerdigt, aber das war, ohne daß ich den Grund wüßte, nicht hinreichend, und der Geist trieb sich noch am Ort des Todes herum. Als der Friede zurückkehrte, veranstaltete man an vielen Plätzen eine eigenartige Zeremonie, und besonders an den hochgelegenen Schluchten von Lotoanuu, wo lange der Mittelpunkt des Kampfes und die Verluste schwer gewesen waren. Die Frauen aus der Verwandtschaft der Toten trugen Matten oder Decken herbei, unter der Hut von überlebenden Mitkämpfern. Der Sterbeplatz wurde sorgfältig gesucht, die Decke auf dem Boden ausgebreitet, und die Frauen saßen in frommer Furcht und beobachteten sie. Wenn irgendein Lebewesen erschien, wurde es zweimal fortgejagt; beim drittenmal erkannte man in ihm den Geist des Toten, es wurde eingewickelt nach Hause getragen und neben dem Leichnam beerdigt: der Aitu hatte Ruhe. Die Zeremonie wurde ohne Zweifel in frommer Einfältigkeit ausgeübt, die Ruhe der Seele war ihr Ziel, ihr Beweggrund ehrfürchtige Liebe. Der gegenwärtige König will in der Tat nichts von gefährlichen Aitus wissen, er erklärt, die Seelen der Unbestatteten wanderten nur in der Vorhölle umher, da sie den Eingang zum eigentlichen Land der Toten nicht fänden, sie seien unglücklich, aber keineswegs boshaft. Und diese Meinung, streng auf eine Klasse beschränkt, stellt ohne Zweifel die Ansicht der Gebildeten dar. Aber die Flucht meines Lafaele kennzeichnet die ungeheuren Furchtzustände der Ungebildeten.

Dieser Glaube an die geisterscheuchende Kraft der Beerdigungszeremonien erklärt wahrscheinlich eine Tatsache, die sonst sehr erstaunlich wäre: daß nämlich kein Polynesier unsere europäische Furcht vor menschlichen Gebeinen und Mumien irgendwie teilt. Von Anfang an waren sie ihre schönsten Schmuckgegenstände, sie bewahrten sie in Häusern oder Begräbnishöhlen auf, und die Wächter königlicher Gräber wohnten mit ihren Kindern inmitten der Gebeine von Generationen. Auch die Mumie wurde selbst während der Herrichtung wenig gefürchtet. Auf den Marquesas wurde sie in den Küstendörfern von den Familienmitgliedern unter beständiger Salbung und Sonnenbestrahlung hergerichtet; auf den Karolinen, im äußersten Westen, wird sie im Rauch des Familienherdes getrocknet. Außerdem ist die Kopfjägern noch üblich dicht bei meiner Wohnung auf Samoa. Und vor knapp zehn Jahren mußten die Witwen auf den Gilbertinseln das Haupt ihres toten Gatten wieder ausgraben, reinigen, polieren und dann Tag und Nacht mit sich herumtragen. In allen diesen Fällen dürfen wir annehmen, daß der Prozeß des Reinigens oder Trocknens den Aitu völlig vertrieben hat.

Aber der paumotuanische Glaube ist dunkler. Hier wird der Mann regelrecht bestattet und muß bewacht werden. Obgleich er gut bewacht wird, geht der Geist um. In der Tat ist es nicht der Zweck der Nachtwachen, diese Wanderungen zu verhindern, sondern man will durch höfliche Aufmerksamkeit die natürliche Bosheit des Toten besänftigen. Vernachlässigung, so glaubt man, kann ihn erregen und so seine Besuche veranlassen, aber die Alten und Schwachen halten die Gefahren der Nachtwachen oft für gleich groß und bleiben zu Hause. Man beachte, daß es die Angehörigen und nächsten Freunde des Toten sind, die auf diese Weise durch Nachtwachen seinen Zorn besänftigen. Selbst diese Versöhnungswachen hält man für gefährlich, wenn man nicht in Gesellschaft ist, und man wies mir in Rotoava rühmend einen Knaben, der allein am Grabe seines eigenen Vaters gewacht hatte. Weder die verwandtschaftlichen Beziehungen des Toten noch seine im Leben bewiesenen Charaktereigenschaften beeinflussen die Ereignisse. Ein früherer Resident, der auf Fakarava am Sonnenstich starb, war während seines Lebens beliebt, und man erinnerte sich seiner immer noch mit Zuneigung. Nichtsdestoweniger ging sein Geist auf der Insel um und erregte Schrecken, und die Nachbarschaft des Regierungsgebäudes wurde immer noch nach Eintritt der Dunkelheit gemieden. Man kann den trostreichen Glauben so zusammenfassen: alle Menschen werden Vampire, und der Vampir verschont niemand. Und hier stehen wir einem sonderbaren Widerspruch gegenüber, denn die pfeifenden Geister sind anerkanntermaßen Stammesgeister, man erzählte mir, daß sie nur ihren Angehörigen dienen und sie beraten, und daß das Medium stets vom Stamme des sich mitteilenden Geistes sei. So sehen wir also, wie Familienbande einerseits in der Stunde des Todes zerrissen werden und anderseits wohltätig fortbestehen.

Die Kinderseele in der tahitischen Erzählung wurde in Blätter eingehüllt. Die Seelen der soeben Verstorbenen sind der feinste Leckerbissen. Werden sie getötet, so wird das Haus mit Blut befleckt. Ruas toter Fischer war verwest und in ebenso furchtbarer Weise sein Baumdämon. Der Geist ist also Materie, und durch körperliche Anzeichen der Zersetzung unterscheidet er sich vom Lebenden. Diese Ansicht ist weit verbreitet, sie verleiht den häßlichen polynesischen Erzählungen ungeheure Scheußlichkeit und entstellt die schöneren zu unangenehmer Disharmonie. Ich will zwei Beispiele anführen von weit entfernten Örtlichkeiten, das eine aus Tahiti, das andere aus Samoa.

Zunächst Tahiti. Ein Mann besuchte den Gatten seiner Schwester, die vor einiger Zeit gestorben war. Zu Lebzeiten war seine Schwester nach Insulanerart hübsch gekleidet gewesen und hatte immer einen Blumenkranz als Schmuck getragen. Um Mitternacht wachte der Bruder auf und bemerkte, wie ein himmlisches Leuchten im dunklen Hause auf und ab wanderte. Ich vermute, daß die Lampe erloschen war, denn kein Tahitier würde sich ohne Licht niedergelegt haben. Eine Weile lag er verwundert und entzückt da, dann rief er die andern herbei: »Riecht niemand von euch Blumen?« fragte er. »Oh,« sagte sein Schwager, »wir sind schon daran gewöhnt.« Am nächsten Morgen gingen die beiden Männer spazieren, und der Witwer gestand, daß seine tote Frau ständig zu dem Hause käme, und daß er sie sogar gesehen habe. Sie war in Gestalt und Kleidung wie zu Lebzeiten mit Blumen bekränzt, nur bewegte sie sich einige Zoll über dem Boden und schwebte rasch vorwärts. Die Oberfläche des Flusses überflog sie trockenen Fußes. Und jetzt kommt, was ich betonen möchte: sie ließ immer ihre Rückseite sehen, und die beiden Schwager besprachen die Angelegenheit und waren beide der Ansicht, daß sie dadurch den Beginn der Verwesung verbergen wollte.

Nun die samoanische Geschichte. Ich verdanke sie der Freundlichkeit von Dr. F. Otto Sierich, dessen gesammelte Volkssagen ich mit allergrößtem Interesse erwarte. Ein Mann auf Manu’a war mit zwei Frauen verheiratet und hatte keine Kinder. Er ging nach Savaii, heiratete dort eine dritte und war nun glücklicher. Als seine Frau ihre Zeit herankommen sah, erinnerte er sich, daß er auf einer fremden Insel lebe wie ein armer Mann, und wenn sein Kind geboren würde, müsse er sich der fehlenden Geschenke schämen. Vergebens versuchte seine Frau, ihm abzuraten, er kehrte zu seinem Vater in Manu’a zurück, um Hilfe zu erlangen, machte sich in der Nacht mit dem, was er erhalten hatte, wieder auf den Weg und schiffte sich ein. Nun erfuhren seine Weiber seine Ankunft und gerieten in Zorn darüber, daß er sie nicht besucht hatte, überfielen ihn am Strande bei seinem Kanu und erschlugen ihn. Die dritte Frau lag inzwischen schlafend auf Savaii. Ihr Kind war geboren und schlief an ihrer Seite, und sie wurde von dem Geist ihres Mannes geweckt. »Steh auf,« sagte er, »mein Vater liegt krank auf Manu’a, und wir müssen ihn besuchen.« – »Es ist gut,« sagte sie, »nimm das Kind, während ich seine Matte trage.« – »Ich kann das Kind nicht tragen,« sagte der Geist, »ich bin zu kalt von der See.« Als sie an Bord des Kanus waren, spürte die Frau Verwesungsgeruch. »Wie kommt das?« sagte sie. »Was hast du im Kanu, daß ich Verwesungsgeruch wahrnehme?«– »Es ist nichts im Kanu,« sagte der Geist, »es ist der Landwind, der von den Bergen weht, wo ein totes Tier liegt.« Es scheint, daß sie noch während der Nacht Manu’a erreichten – die schnellste Überfahrt seit Menschengedenken –, und als sie in das Riff hineinfuhren, brannten im Dorf die Totenfeuer. Wieder bat sie ihn, das Kind zu tragen, aber jetzt brauchte er sich nicht mehr zu verstellen. »Ich kann das Kind nicht tragen,« sagte er, »denn ich bin tot, und die Feuer, die du siehst, brennen zu meinem Begräbnis.«

Neugierige mögen aus Dr. Sierichs Buch den unerwarteten Schluß der Erzählung erfahren. Das Mitgeteilte genügt für meine Zwecke. Obgleich der Mann erst eben gestorben war, war der Geist bereits verwest, als ob Verwesung das Kennzeichen und Wesen eines Geistes sei. Die Wachen auf den Gräbern der Paumotuaner dehnen sich nicht über zwei Wochen aus, und man erzählte mir, daß man glaube, dieser Zeitpunkt falle zusammen mit der Auflösung des Körpers. Wenn nun der Geist immer gekennzeichnet wird durch den Zerfall, die Gefahren aber offenbar mit dem Prozeß der Auflösung enden, so liegt hier eine kniffliche Frage für den Theoretiker vor. Aber noch nicht genug, die Dame mit den Blumen war schon lange tot, und man glaubte trotzdem, daß der Geist Verwesungsanzeichen trage. Der Resident war vor mehr als vierzehn Tagen beerdigt worden, und sein Vampirgeist sollte immer noch umgehen.

Es wäre langwierig, vom traurigen Zustande der Toten zu erzählen, von den schaurigen mangaianischen Legenden, in denen Höllengötter die Seelen aller Toten verzaubern und vernichten, bis zu den mannigfaltigen Vorhöllen unter der See und in der Luft, wo die Toten Feste feiern, sich müßig umhertreiben oder die Beschäftigungen ihres irdischen Daseins wieder aufnehmen. Eine Geschichte will ich erzählen, denn sie ist einzigartig, wohlbekannt auf Tahiti und besitzt die besondere Eigentümlichkeit, daß sie aus der nachchristlichen Zeit stammt, denn sie datiert tatsächlich erst einige Jahre zurück. Eine Prinzessin des Herrscherhauses starb, sie wurde zur benachbarten Insel Raiatea hinübergebracht, verfiel dort der Herrschaft eines Geistes, der sie verurteilte, den ganzen Tag Kokospalmen zu besteigen und ihm Nüsse zu bringen, wurde einige Zeit später von einem zweiten Geist aus ihrem eigenen Geschlecht in dieser traurigen Knechtschaft gefunden und auf Grund ihrer Klagen wieder nach Tahiti gebracht, wo sie ihren Körper noch bewacht, aber schon von der herannahenden Zersetzung aufgedunsen vorfand. Es ist eine besondere Eigenart der Erzählung, daß die Prinzessin angesichts dieses entehrten Gefäßes bat, man möge sie auch weiterhin zu den Toten rechnen. Aber es scheint schon zu spät gewesen zu sein, ihr Geist wurde durch die würdeloseste Pforte zurückgeführt, und die entsetzte Familie sah, wie der Körper sich bewegte. Die Arbeiten, die offenbar Fegefeuercharakter tragen, der hilfreiche Geist aus der Verwandtschaft und das Entsetzen der Prinzessin beim Anblick ihres entstellten Körpers sind Nuancen, die man beachten muß.

Tatsache ist, daß die Erzählungen nicht notwendigerweise in sich geschlossen sind, und daß sie außerdem für den Fremden durch die Vieldeutigkeit der Sprache verdunkelt werden. Geister, Vampire, Seelen und Götter werden alle untereinandergemischt. Und doch scheint mir die Auffassung richtig zu sein, daß diejenigen Geister, die wir zu den Göttern rechnen würden, mit gewissen Ausnahmen weniger boshaft sind. Dauernd umgehende Geister wohnen auf Samoa und verüben ihre Morde an einsamen Orten, aber die echten Götter von Upolu und Savaii, deren Kriege und Kricketspiele vor einiger Zeit allgemeine Aufregung verursachten, werden nach meinen Erfahrungen nicht gefürchtet, jedenfalls nicht gleich heftig. Der Geist von Anaa, der die Seele verzehrte, ist sicher ein furchtbarer Mitbewohner, aber die hohen Götter schienen selbst auf dem Archipel hilfreich zu sein. Mahinui – von dem unser Sträflingkatechet seinen Namen hatte –, der Geist der See, der wie Proteus von zahlreichen Vasallen umgeben ist, kam den Schiffbrüchigen zu Hilfe und trug sie in Gestalt eines Rochens an Land. Dieselbe Gottheit trug Priester von Insel zu Insel innerhalb des Archipels, und mit seiner Hilfe hat man in diesem Jahrhundert Menschen fliegen sehen. Die Schutzgottheit jeder einzelnen Insel ist ebenfalls gütig und kündet durch die besondere Form einer keilartigen Wolke am Horizont die Ankunft eines Schiffes an.

Wer die Berichte über diese Atolle liest, die so schmal, so eingeengt und so vom Meer umlauert sind, möchte glauben, daß hier allzu viele geisterhafte Bewohner leben. Und doch sind sie noch zahlreicher. In den vielen Brackwasserteichen und Tümpeln sieht man schöne Frauen mit langem, rotem Haar auftauchen und baden, nur tauchen sie für immer wieder unter beim geringsten Laut von Tritten auf den Korallen, denn sie sind scheu wie Mäuse. Man weiß, daß sie ein glückliches und harmloses Volk sind, Bewohner der Unterwelt, und dieselbe Sage lebt auf Tahiti, wo sie ebenfalls rotes Haar tragen. Tetea ist der tahitische Name, Mokurea der paumotuanische.

Erstes Kapitel


Butaritari

In Honolulu hatten wir der »Casco« und Kapitän Otis Lebewohl gesagt, und unsere nächste Abenteuerfahrt geschah unter veränderten Verhältnissen. Plätze für mich, meine Frau, Mr. Osbourne und meinen chinesischen Bedienten, Ah Fu, wurden belegt auf einem winzigen Handelsschoner, dem »Equator« unter Kapitän Dennis Reid, und an einem sonnigen Junitag des Jahres 1889 verließen wir, nach hawaiischer Sitte zum Abschied mit Blumengirlanden geschmückt, den Hafen und fuhren unter günstigem Wind auf Mikronesien zu.

Das ganze Gebiet der Südsee ist eine Schiffswüste, besonders der Teil, den wir jetzt durchqueren sollten. Post gibt es auf diesen Inseln nicht, jede Verbindung ist eine zufällige, man kann zwar Pläne machen, irgendwohin zu reisen, aber es ist sehr die Frage, ob man wirklich hingelangt. Ich hatte zum Beispiel die Hoffnung, die Karolinen zu erreichen und über Manila und die chinesischen Häfen wieder zurückzukehren, es war uns aber bestimmt, in Samoa wieder aufzutauchen und von neuem durch den Anblick der Berge erfrischt zu werden. Seit der Abendglanz auf den Höhen von Oahu verblaßte, waren sechs Monate verstrichen, und wir hatten nicht einen Erdenfleck gesehen, der so hoch gewesen wäre wie ein Bauernhaus. Unsere Straße war die flache See gewesen, unsere Wohnung niedrige Korallen, unsere Nahrung Pökelfleisch und Konserven; ich hatte gelernt, Haifischfleisch als Abwechslung willkommen zu heißen; ein Berg, eine Zwiebel, eine frische Kartoffel oder ein Beefsteak waren längst unserem Gesichtskreise entschwunden, und wir sehnten uns nach ihnen.

Unsere beiden Aufenthaltsplätze, Butaritari und Apemama, liegen nahe am Äquator, Apemama ungefähr dreißig Meilen entfernt. Beide haben ein herrliches Ozeanklima, Tage blendender Sonne und erfrischenden Windes, Nächte voll himmlischer Klarheit. Beide sind etwas größer als Fakarava und messen in der größten Breite vielleicht eine Viertelmeile von Strand zu Strand. Auf beiden wächst eine derbe Art des Taro, ihre Kultur ist die Hauptbeschäftigung der Eingeborenen, und die dazu notwendigen Hügel und Gräben ergeben eine zierlich bewegte Landschaft und erfreuen das Auge. Im übrigen bieten sie ganz das gewöhnliche Aussehen eines Atolls: den niedrigen Horizont, die weit ausgedehnte Lagune, die riedgrasartige Linie der Palmwipfel, die Eintönigkeit und Schmalheit des Landes, die überragende Größe und das Übergewicht der See und des Himmels. Das Leben auf solchen Inseln ist in mancher Beziehung ähnlich dem Leben an Bord eines Schiffes. Das Atoll wird bald wie ein Schiff als Tatsache hingenommen, und die Insulaner werden genau wie eine Schiffsbesatzung bald zum Mittelpunkt des Interesses. Die Inseln sind stark bevölkert, unabhängig, Sitze kleiner Könige, erst neuerdings zivilisiert und wenig besucht. In den letzten zehn Jahren haben sich manche Veränderungen breitgemacht, die Frauen gehen nicht mehr unbekleidet bis zur Heirat, die Witwe schläft nicht mehr nachts mit dem Schädel des verstorbenen Gatten und geht nicht mehr am Tage mit ihm spazieren. Schußwaffen sind eingeführt, und die Schwerter aus Haifischzähnen werden als Kuriositäten verkauft. Vor zehn Jahren waren alle diese Dinge und Sitten noch im Gebrauch; zehn Jahre weiter, und die alte Gesellschaft wird gänzlich verschwunden sein. Wir kamen in einem glücklichen Augenblick an, als diese Gebräuche noch bestanden und in Apemama noch fast unangetastet waren.

Dicht bevölkert und unabhängig – Schlupfwinkel von Menschen, die mit einem gewissermaßen ländlichen Pomp regiert werden – das war der erste und immer wiederkehrende Eindruck von diesen kleinen Inseln. Als wir über die Lagune auf die Stadt von Butaritari zusteuerten, sahen wir einen niedrigen Küstenstrich besät mit braunen Dächern von Häusern; die des Palastes und der Sommerwohnung des Königs waren aus Wellblech und glitzerten hell in der Nähe der Dorfecke; die königlichen Farben flogen im Winde an einer hohen Fahnenstange; direkt vor uns lag auf einem künstlichen Inselchen das Gefängnis wie eine Art Warnungssignal. Selbst bei diesem ersten Anblick aus der Ferne machte der Ort kaum den Eindruck eines Dorfes, was er wirklich ist, sondern eher den einer kleinen ländlichen und doch königlichen Hauptstadt, was er ebenfalls ist.

Die Lagune ist seicht. Da Ebbe war, wateten wir ungefähr eine Viertelmeile in lauwarmem, flachem Wasser und stiegen schließlich in brennender Sonnenhitze an Land. Die Leeseite einer Äquatorinsel ist nachmittags in der Tat ein windstiller Platz; an der Ozeanküste weht der Passatwind böig und kühl; auch weiter draußen auf der Lagune bläst er noch und treibt die Kanus vorwärts, aber das dichte Buschwerk fängt ihn an der Küste völlig ab, und auf den Städten brüten Schlaf, Schweigen und Moskitoschwärme.

Man kann also sagen, daß wir Butaritari gewissermaßen überrumpelten. Nur wenige Einwohner waren noch an der Nordecke, wo wir landeten, im Freien. Als wir vorwärts schritten, trafen wir sehr bald niemand mehr an und schienen eine tote Stadt zu durchforschen. Nur zwischen den Pfosten der offenen Häuser sahen wir die Bevölkerung ausgestreckt zur Mittagsruhe, manchmal eine ganze Familie zusammen unter einem Moskitonetz, dann wieder einen einzelnen Schläfer auf einer Plattform wie einen Toten auf der Bahre.

Die Häuser waren von verschiedener Größe, manche wie Spielzeug, andere wie Kirchen. Einige konnten ein Bataillon aufnehmen, andere waren so klein, daß sie kaum ein Liebespaar beherbergen konnten; nur in einem Kinderzimmer findet man, wenn man die Spielsachen untereinander mengt, so verschiedene Größenverhältnisse. Manche Behausungen waren offene Schuppen, andere wie überdachte Bühnen, wieder andere hatten Wände, in denen kleine Fenster waren. Einige waren auf Pfählen in der Lagune errichtet, der Rest stand durcheinander auf einer grünen Fläche, durch die sich der Weg wie ein Sandstreifen zog, oder auf den Uferbänken eines Wasserstreifens, der wie ein flaches Hafenbecken anmutete. Alle ohne Ausnahme waren aus einem einzigen Baum hergestellt, Palmholz und Palmblätter das Baumaterial, kein Nagel war eingetrieben, kein Hammerschlag erklungen beim Bau, sie wurden zusammengehalten durch Bänder aus Palmfasern.

In der Mitte der Hauptstraße steht die Kirche wie eine Insel, ein hohes, dunkles Gebäude mit vielen Fensterreihen, ein Rahmen von reichem Maßwerk trägt das Dach, und durch die beiden Türen übersieht man weithin die Straße. Die Ausmaße des Gebäudes erschienen, in solcher Umgebung und aus solchem Material hergestellt, großartig, und wir durchschritten das Schiff mit einem Gefühl, wie es Besucher einer Kathedrale befällt. Bankreihen sind auf beiden Seiten. In der Mitte stehen unter einem sonderbaren Thronhimmel zwei Stühle für den König und die Königin, wenn sie ihre Anbetung verrichten wollen; über ihren Häuptern hängt an einem roten Baumwollstrick ein Reifen, offenbar von einem großen Faß, der schief herabbaumelt und mit roten und weißen Wimpeln aus demselben Stoff geschmückt ist.

Das war das erste Anzeichen königlicher Würde, und bald darauf standen wir vor seinem Zentralsitz. Der Palast ist aus eingeführtem Holz nach europäischen Plänen gebaut, das Dach aus Wellblech, der Hof von Mauern umgeben, die Pforte von einer Art Wachthaus gekrönt. Man kann das Gebäude nicht geräumig nennen, ein Arbeiter in den Vereinigten Staaten wohnt manchmal bequemer, aber als wir die Möglichkeit hatten, das Innere zu besichtigen, fanden wir es reich über Inselerwartungen hinaus geschmückt mit Anzeigen und Bildern aus illustrierten Zeitungen. Selbst vor dem Tore stehen Schätze der Krone in aller Öffentlichkeit: eine ziemlich große Glocke, zwei Kanonen und eine einsame Granate. Die Glocke kann man nicht läuten und die Kanone nicht abfeuern, sie sind Sehenswürdigkeiten, Beweise des Reichtums, Stücke königlicher Pracht, die wie Statuen auf einem Platz zur allgemeinen Bewunderung stehen. Ein gerader Wasserstreifen geht wie ein Kanal fast bis zum Palasttor, die Kaimauern sind vorzüglich gebaut aus Korallen; gegenüber der Mündung steht wie eine Art ländlicher Schmuckbau das Gefängnis in die Lagune gleich einem Warnungsturm. Vasallenhäuptlinge, benachbarte Monarchen, kommen mit Tributen herbeigerudert, so könnte man sich vorstellen, sie sehen mit Staunen diese großen öffentlichen Gebäude und stehen entsetzt den Mündungen der schweigenden Kanonen gegenüber. Unmöglich, den Ort zu schauen und sich nicht vorzustellen, er sei für festliche Aufzüge bestimmt. Aber der sorgfältig hergerichtete Schauplatz war damals leer, das königliche Haus verlassen, Türen und Fenster standen offen, das ganze Stadtviertel war in Schweigen versunken. Auf der gegenüberliegenden Kanalbank schlief unter freiem Himmel als einziger sichtbarer Einwohner auf überdachter Bühne ein alter Herr, und drüben auf der Lagune hißte ein Kanu ein gestreiftes Segel, der einzige bewegliche Gegenstand.

Der Kanal hat an der Südseite einen Pier oder Damm mit einer Brustwehr. Weit draußen hört die Brustwehr auf, und der Kai erweitert sich zu einer länglichen Halbinsel in die Lagune hinein, der luftigen Sommerresidenz des Königs. In der Mitte steht ein offenes Haus oder festes Zeltlager, das man hier maniapa nennt oder, wie man das Wort jetzt ausspricht, maniap‘, mindestens vierzigmal sechzig Fuß im Geviert. Das eiserne Dach, das hoch ist, aber sehr tief nach unten reicht, so daß eine Frau sich beim Eintreten bücken muß, ruht außen auf Korallenpfeilern, innen auf einem Holzgerüst. Der Boden besteht aus zerbrochenen Korallen und wird durch die Gerüstpfeiler in Längsabschnitte eingeteilt, das Haus steht weit genug von der Küste, daß die Brise frei hindurchwehen und die Moskitos vertreiben kann; unter den niedrigen Giebelwänden sieht man die Sonne glitzern und die Wellen auf der Lagune tanzen.

Eine ganze Weile hatten wir nur schlafende Menschen angetroffen, und als wir den Pier entlang wanderten und schließlich unter dies leuchtende Dach traten, waren wir überrascht, das Haus von einer Gesellschaft wacher Leute angefüllt zu sehen, ungefähr zwanzig, die den Hof und die Wachtmannschaft von Butaritari bilden. Die Damen des Hofes flochten eifrig Matten, die Wachtleute gähnten und rekelten sich. Ein halbes Dutzend Gewehre lagen auf einem Felsblock, und eine Axt lehnte gegen einen Pfeiler, die Bewaffnung dieser schläfrigen Musketiere. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein geschlossenes kleines Holzhaus mit dünnen Vorhängen, und es zeigte sich bei näherem Zusehen, daß es ein Abort nach europäischem Muster war. Vor diesem Häuschen lag, auf einigen Matten hingestreckt, Tebureimoa, der König; hinter ihm, an der Holzwand des Häuschens, stellten zwei gekreuzte Gewehre die Liktorenbündel dar. Er trug Pyjamas, die im traurigen Widerspruch standen zu seiner Dickleibigkeit, seine Nase war hakenförmig und unmenschlich, sein Körper massig aufgeschwemmt, sein Blick furchtsam und trübe: er schien von Schläfrigkeit übermannt und gleichzeitig wachgehalten durch Befürchtungen: ein Rajah aus dem Pfefferlande, von Opium berauscht und dem Marsch einer holländischen Armee lauschend, sieht vielleicht nicht anders aus, wir lernten uns später besser kennen, und immer hatte ich denselben Eindruck; er schien stets schläfrig, aber doch immer lauernd und sprungbereit, und es besteht kein Zweifel, daß er aus Gewissensbissen oder Furcht seine Zuflucht zu übermäßigen Betäubungsmitteln nahm.

Der Rajah schien an unserem Erscheinen nicht das geringste Interesse zu nehmen, aber die Königin, die in einem purpurnen Gewande neben ihm saß, war zugänglicher, und auch ein Dolmetscher war anwesend, der so aufdringlich war, daß seine Geschwätzigkeit schließlich die Ursache unseres Abschieds wurde. Er hatte uns bei unserer Ankunft begrüßt. »Dies ist der ehrenwerte König, und ich bin sein Dolmetscher«, hatte er mit mehr Würde als Wahrheit gesagt. Denn er nahm keine Stellung ein bei Hofe, schien mit der Inselsprache sehr schlecht vertraut und machte wie wir nur einen Höflichkeitsbesuch. M. Williams war sein Name, er war ein amerikanischer Neger, ein entsprungener Schiffskoch und Barkeeper auf Butaritari, in der Kneipe » The Land we Live in«. Ich habe niemals einen Menschen getroffen, der mit soviel Worten sowenig Wahres sagte. Weder die Verdrießlichkeit des Königs noch meine eigenen Bemühungen, ihn abzuschütteln, machten auf ihn den geringsten Eindruck, und als die Audienz zu Ende war, redete der Schwarze immer noch weiter.

Die Stadt lag noch im Schlummer oder hatte gerade begonnen, sich zu erheben und zu strecken, noch war sie in Hitze und Schweigen gehüllt. Um so lebhafter war der Eindruck, den wir von dem Haus auf der Insel mitnahmen, von dem mikronesischen Saul zwischen seinen Wachen und dem schwatzhaften David, Mr. Williams, der die schläfrigen Stunden mit seinem Gewäsch erfüllte.