Erstes Kapitel


Eileen Aros

Es war ein schöner Morgen Ende Juli, als ich zu Fuß die letzte Strecke Weges nach Aros antrat. Ein Boot hatte mich nachts zuvor in Grisapol abgesetzt; ich hatte mit dem mageren Frühstück des kleinen Gasthofes vorlieb genommen, hatte Sack und Pack zurückgelassen, um es gelegentlich auf dem Seewege abzuholen, und trat nun fröhlichen Herzens den Marsch, quer über die Landzunge an.

Heimisch war ich, der Nachkomme eines reinen Niederlandgeschlechtes, hierzulande nicht. Aber ein Onkel von mir, Gordon Darnaway, hatte nach einer ärmlichen harten Jugend und einigen Jahren zur See sich hier auf den Inseln ein junges Weib genommen; Mary Maclean war ihr Name, die letzte ihres Hauses; und als sie bei der Geburt einer Tochter starb, war Aros, der meerumspülte Hof, in seinen Besitz übergegangen. Mehr als den nackten Lebensunterhalt bot ihm dieser nicht, wie ich wohl wußte. Er war ein Mann, den das Mißgeschick verfolgte; mit dem kleinen Kinde belastet, scheute er sich, von neuem den Kampf mit dem Leben aufzunehmen, und blieb in Aros zurück, ruhelos und dem Schicksal grollend. Jahre der Einsamkeit waren über ihn hinweggegangen, ohne ihm Hilfe oder Zufriedenheit zu bringen. Inzwischen starb unsere Familie im Niederlande langsam aus. Keinem jenes Geschlechtes war sonderlich viel Glück beschieden; mein Vater war vielleicht der Glücklichste von allen: er überlebte nicht nur die meisten, sondern hinterließ auch einen Sohn als Erben seines Namens und ein wenig Geld, um ihn zu stützen. Ich war Student an der Edinburger Universität und lebte leidlich auf eigene Kosten, wenn auch ohne Sippe und Freundschaft, als Kunde von meinem Dasein sich zu meinem Onkel Gordon auf der Roß von Grisapol verlor; und er, für den Blut dicker als Wasser war, schrieb mir noch am selben Tage, als er von mir erfuhr, und lehrte mich, Aros als meine Heimat zu betrachten. So kam es, daß ich meine Ferien in jenen Gegenden, weitab von menschlicher Gesellschaft und Behagen, unter den Klippfischen und dem Moorgeflügel, verlebte; und darum kehrte ich an jenem Julitage, nach beendetem Studium, so leichten Herzens dorthin zurück.

Die Roß, wie wir sie nennen, ist eine Landzunge, weder breit noch hochgelegen, aber so wild, wie Gott sie nur je geschaffen hat, rechts und links von weitem Meer umgeben, in dem wüste Inseln und Riffe den Seemann bedrohen; das Ganze im Osten überragt von einigen sehr hohen Klippen und dem mächtigen Gipfel des Ben Kyaw. »Nebelberg« sollen die Worte auf Gälisch bedeuten, und er trägt seinen Namen mit Recht. Denn jener Bergrücken, der über dreitausend Fuß hoch liegt, fängt alle vom Meere hergetriebenen Wolken auf; ja, häufig schien es mir, als ob er sie selber erzeuge, da Ben Kyaw auch dann noch einen Schleier trug, wenn der ganze Himmel bis zum Meeresspiegel rein und klar war. Auch Wasser spendete der Berg, der infolgedessen bis zu seinem Scheitelpunkt versumpft war. Ich habe es erlebt, daß wir auf der Roß im hellsten Sonnenscheine saßen, während der Regen wie schwarzer Krepp sich auf den Berg niedersenkte. Aber diese Feuchtigkeit ließ ihn mir mitunter nur noch schöner erscheinen; denn wenn die Sonnenstrahlen auf seine Lehne fielen, funkelten die vielen Felsen und Wasserlaufe bis nach dem fünfzehn Meilen entlegenen Aros hin wie Edelsteine.

Der Weg, dem ich folgte, war ein Hirtenpfad. Er barg so viele Krümmungen, daß die Länge meiner Reise sich fast verdoppelte; er führte über rauhes Gestein, das man nur sprungweise überqueren konnte, und über weiche Niederungen, in denen man fast bis zum Knie im Moor versank. Nirgends war eine Spur von Anbau; in den ganzen zehn Meilen von Grisapol bis Aros fand sich kein einziges Haus. Natürlich waren Häuser vorhanden, – zum mindesten deren drei; aber sie lagen rechts und links so weit ab vom Wege, daß kein Fremder sie von dort hätte aufspüren können. Die Roß ist zum großen Teil von Granitblocken bedeckt, von denen einzelne ein zweiräumiges Haus an Größe übertreffen, und die einer neben dem andern ruhen. Farne und dichtes Heidekraut wachsen in den Spalten und dienen den Vipern als Brutstätte. Woher immer der Wind blies, brachte er Seeluft mit sich, salzig wie auf einem Schiff; die Möven waren so zahlreich wie das Moorgeflügel auf der Roß; und überall, wo der Weg ein wenig stieg, blitzte der leuchtende Meeresspiegel zündend auf. Mitten im Landinnern habe ich bei Hochflut an windigen Tagen das Tosen der Brandung, die gegen Aros anläuft, vernommen, laut wie Schlachtgebrüll, und die mächtigen, furchtbaren Stimmen der Wirbel, die wir die ›Tollen Männer‹ nennen.

Aros selbst – Aros Jay habe ich die Einheimischen es nennen hören, und sie sagen, es bedeute »das Haus Gottes« – ist nicht eigentlich ein Teil der Roß und auch keine Insel. Es bildet die südwestliche Ecke des Festlandes, schmiegt sich ihm eng an und ist nur an einer Stelle durch ein kleines Watt, das an seinem schmalsten Übergang keine vierzig Fuß mißt, von der Küste getrennt. Bei Hochflut war es hier klar und still wie in einem Teiche oder Binnenfluß; nur die Pflanzen und Fische waren andere und das Wasser selbst grün statt braun; bei Ebbe jedoch, wenn der Tiefstand erreicht war, konnte man an ein, zwei Tagen im Monat trockenen Fußes von Aros nach dem Festland gehen. Es gab stellenweise gute Weide, wo mein Onkel die Schafe, die ihm zur Nahrung dienten, grasen ließ; vielleicht war das Gras hier besser, weil die kleine Insel höher gelegen war als die Landzunge; ich bin jedoch allzu unwissend, um hierüber zu entscheiden. Das Haus war für die dortigen Verhältnisse gut und hatte zwei Stockwerke. Es blickte mit der Front nach Westen, über die Bucht hinaus; hart in der Nähe befand sich ein Landungssteg für die Boote, und von der Tür aus konnte man die Nebel auf Ben Kyaw brauen sehen.

Überall an der dortigen Küste, besonders aber bei Aros, wandern die großen Granitblöcke, von denen ich gesprochen habe, scharenweise, wie Viehherden an einem Sommertage, ins Meer hinaus. Dort stehen sie und gleichen nichts in der Welt so sehr wie ihren Nachbarn auf dem Lande; nur trennt sie statt der stillen Erde die schluchzende salzige Flut, und statt des Heidekrautes umblühen sie Büschel von Seenelken; an ihrem Sockel aber windet sich statt der giftigen Sandviper der große Seeaal. – An windarmen Tagen kann man stundenlang im Boot zwischen ihnen hin- und herirren, und das Echo folgt einem durch das ganze Labyrinth; bei Flut jedoch stehe der Himmel dem Menschen bei, der jenen Kessel brodeln hört.

An der Südwestspitze von Aros sind diese Blöcke überaus zahlreich und von weit größerem Umfang. Ja, weiter draußen im Meer müssen sie eine gewaltige Wucht erreichen, ist doch die offene See an die zehn Meilen im Umkreis mit ihnen so dicht besät wie ein ländlicher Ort mit Häusern. Einige ragen dreißig Fuß über das Meer empor; andere wieder sind unsichtbar, aber alle sind den Schiffen gefährlich, und an klaren Tagen, wenn der Wind von Westen blies, habe ich, von Aros aus, die großen, schweren weißen Sturzwellen an vierundsechzig solchen begrabenen Riffen branden sehen. Aber in der Nähe der Küste ist die Gefahr am größten, denn hier, am Ende der Landzunge, bildet die wie ein Mühlstrudel rasende Flut einen weiten brodelnden Wassergürtel, – die Roost genannt. Oft bin ich bei totenstiller Ebbe hier draußen gewesen, – und seltsam wahrlich ist der Ort. Die See wirbelt und schäumt und kocht wie ein Hexenkessel mit einem hin und wieder schwatzenden, hüpfenden Geräusch, als spräche die Roost mit sich selber, Wenn aber die Flut wieder zu steigen beginnt, vor allem bei schwerer See, gibt es niemanden, der sich dem Ort auf eine halbe Meile im Boot nahen dürfte, und kein Schiff, das hier steuern und flott bleiben könnte. Man kann das Getöse noch auf sechs Meilen Entfernung hören. Nach der Seeseite zu ist der stärkste Wirbel; hier ist auch die Stelle, wo die mächtigen Sturzwellen, die wir hierzulande die ›Tollen Männer‹ nennen, zusammen ihren Tanz aufführen – einen Totentanz. Es heißt, daß sie mitunter fünfzig Fuß hoch steigen; damit muß aber nur das grüne Wasser gemeint sein, denn die Gischt steigt doppelt so hoch. Ob sie ihren Namen ihren Bewegungen, die rasch und wild und possenhaft sind, oder ihrem Toben verdanken, das bei Flutwechsel ganz Aros erdröhnen läßt, ist mehr, als ich zu sagen vermag.

In Wahrheit ist jener Teil des Inselmeeres bei südwestlichem Wind nicht mehr und nicht weniger als eine Falle. Fände ein Schiff durch die Riffe seinen Weg und hätte es die ›Tollen Männer‹ glücklich überwunden, so müßte es an der Südküste von Aros, in der Bucht von Sandag, wo die vielen traurigen Ereignisse, von denen ich berichten will, unserer Familie zustießen, stranden. Der Gedanke an all diese Gefahren an einem mir seit so langer Zeit vertrauten Orte, heißt mich die jetzt eingeleiteten Arbeiten zur Errichtung von Leuchtstationen an den Küstenvorsprüngen und Bojen längs den Engen unserer eisenumgürteten und ungastlichen Inseln besonders begrüßen.

Das Landvolk kannte manche Märe über Aros, wie ich von meines Onkels Knecht Rorie, einem alten Diener der Macleans, der bei der Heirat ohne weiteres seine Dienste auf ihn übertrug, wußte. Es ging die Sage von einem unglücklichen Seegespenst, das sein Wesen auf eine eigene, unselige Art in den kochenden Wirbeln der Roost trieb. Eine Seejungfrau war einmal am Strande von Sandag einem Dudelsackpfeifer begegnet und hatte ihm dort eine liebe lange Mittsommernacht hindurch vorgesungen, so daß er am anderen Morgen von Wahnsinn befallen aufgefunden wurde und von jenem Tage an bis zu seinem Tode nur eine Rede führen konnte; wie sie ursprünglich auf Gälisch lautete, weiß ich nicht, aber man hat sie übersetzt. »Ach, das süße Singen aus der See.« Von Seehunden, die jene Küste umlagern, weiß man, daß sie Menschen auf menschliche Weise angesprochen haben und großes Unglück voraussagten. Hier war es auch, wo ein gewisser Heiliger auf der Fahrt nach Irland, wo er die Hebrider bekehren wollte, zum ersten Male landete. Und ich meine, er hatte einiges Recht auf seinen Heiligentitel, denn mit Schiffen, wie sie in vergangenen Zeiten üblich waren, eine so stürmische Fahrt vollbringen und an einer so heiklen Küste landen, grenzt wahrlich an das Wunderbare. Ihm oder einigen seiner mönchischen Diener, die dort eine Zelle besaßen, verdankt das Inselchen auch seinen schönen, heiligen Namen: das Haus Gottes.

Unter diesen Altweibergeschichten gab es eine, der ich mehr Glauben zu schenken geneigt war: wie man mir sagte, strandete in jenem Unwetter, das die Schiffe der unbesieglichen Armada an der ganzen Nord- und Westküste Schottlands zerstreute, ein mächtiges Fahrzeug bei Aros und ging vor den Augen vereinzelter Menschen, die sich auf einem der Hügel versammelt hatten, mit Mann und Maus und wehender Flagge unter. Diese Erzählung hatte einige Wahrscheinlichkeit für sich, denn an der Nordküste, zwanzig Meilen von Grisapol, lag ein anderes Schiff derselben Flotte auf dem Meeresboden. Man erzählte die Märe, wie es mir schien, ausführlicher und nachdrücklicher als ihre Mitlegenden, und eine Einzelheit insbesondere trug viel dazu bei, mich von ihrer Wahrheit zu überzeugen: der Name des Schiffes war im Gedächtnis der Leute geblieben und klang echt spanisch in meinen Ohren. Die »Espiritu Santo« war es genannt – ein gewaltiges Schiff von vielen Stockwerken und Kanonen, beladen mit Kostbarkeiten, mit Granden aus Spanien und wilden Soldadoes, die jetzt klaftertief, westlich von Aros in der Bucht von Sandag, von ihren Kriegen und Fahrten bis in alle Ewigkeit ausruhten. Vorbei mit den Saluten für das feste Schiff, »der heilige Geist«, vorbei mit günstigen Winden und glücklichen Abenteuern; nun faulte es tief unter dem Tang, beim Toben der ›Tollen Männer‹, wenn die steigende Flut sich vor der Insel bäumte. Von jeher war mir dies ein seltsamer Gedanke, der noch an Seltsamkeit wuchs, je mehr ich über Spanien erfuhr, von wo aus es die Segel gehißt, in Begleitung einer so stolzen Schar und von König Philipp, dem üppigen Monarchen, ausgesandt. Und nun muß ich berichten, daß die »Espiritu Santo« an jenem Tage auf meinem Wege von Grisapol mir viel im Sinne lag. Ich hatte die wohlwollende Aufmerksamkeit unseres damaligen Rektors der Edinburger Universität, des berühmten Schriftstellers Dr. Robertson, gewonnen und war von ihm mit der Ordnung und Auslese einiger alter Schriften betraut worden; und an einer Stelle fand ich zu meiner größten Überraschung eine Aufzeichnung über dasselbe Schiff, die »Espiritu Santo«, mitsamt dem Namen seines Kapitäns, und wie es mit einem großen Teil des spanischen Schatzes beladen gewesen und auf der Roß von Grisapol gesunken sei. Die genaue Stelle jedoch hatte man von den wilden Stämmen jenes Ortes und jener Zeit trotz aller Nachforschungen des Königs nicht erkunden können. Wenn ich das eine nun zum anderen fügte und König Jamies Goldsuchertätigkeit mit unserer Inseltradition verband, mußte in mir der Glaube erstarken, daß der Ort, den der König vergeblich zu erfragen suchte, kein anderer als die enge Bucht von Sandag auf meines Onkels Gebiet sein konnte; und da ich von jeher einen Hang zur Technik besaß, hatte ich hin und her überlegt, wie jenes gute Schiff, mitsamt seinen Ingots, Unzen und Dublonen zu heben und unser Haus Darnaway zu seinem lang entschwundenen Ansehen und Reichtum zurückzubringen sei.

Es war ein Plan, den ich rasch bereuen sollte. Meinem Denken wurde gar bald eine andere Richtung gegeben, und seitdem ich Zeuge eines seltsamen Gottesurteils geworden bin, hat mein Gewissen den Gedanken an die Schätze der Toten nicht ertragen können. Aber selbst zu jener Zeit muß ich mich von schmutziger Habgier freisprechen. Begehrte ich Reichtum, dann nicht für mich selbst, sondern um einer willen, die meinem Herzen nahestand – für meines Onkels Tochter, Mary Ellen. Sie hatte eine Zeitlang auf dem Festlande die Schule besucht und eine gute Erziehung genossen, ohne die sie armes Kind glücklicher dran gewesen wäre. Denn Aros war für sie nicht der rechte Ort, mit Rorie, dem alten Diener, und ihrem Vater als einzigen Gesellschaftern. Dieser, schlecht und recht auf dem Lande unter den Kameroniern erzogen, ein langjähriger Clyde- und Inselschiffer, der jetzt aus tiefstem Herzen mißvergnügt seine Schafe regierte und eine spärliche Küstenfischerei ums liebe Brot betrieb, war einer der unglücklichsten Männer Schottlands. Erschien mir, der nur ein, zwei Monate blieb, der Aufenthalt dort langwierig, wieviel mehr dann noch ihr, die jahraus, jahrein unter den Schafen und schwirrenden Möwen, bei Tanz und Sang der ›Tollen Männer‹ auf der Roost, ihre Tage in jener Einöde verbrachte.

Zweites Kapitel


Was das Wrack nach Aros brachte

Es war zwischen Flut und Ebbe, als ich endlich Aros erreichte, und es blieb mir nichts übrig, als mich am Ufer aufzustellen und nach Rorie um das Boot zu pfeifen. Ich brauchte das Signal nicht zu wiederholen, schon beim ersten Ton war Mary an der Tür und winkte als Antwort mit dem Taschentuch, während der alte Knecht langbeinig über den Kies zum Landungssteg hinunterschlurfte. Trotz aller Eile brauchte er viel Zeit, bis er herübergerudert war, und ich sah ihn einige Male innehalten, zum Heck gehen und neugierig ins Kielwasser hinabstarren. Als er sich mir näherte, erschien er mir ausgemergelt und gealtert, und es war mir, als wiche er meinen Blicken aus. Der Kahn war durch zwei neue Keile und verschiedene Flicke aus einem seltenen, fremdländischen Holz, dessen Namen ich nicht kannte, ausgebessert.

»Aber Rorie,« sagte ich, als wir die Rückfahrt antraten, »das ist ja kostbares Holz. Wie seid ihr dazu gekommen?«

»Es wär woll schwer zu hobeln,« meinte er widerwillig; und im gleichen Augenblicke ließ er die Ruder fallen und machte abermals einen jener plötzlichen Vorstöße nach dem Heck, die ich auf seiner Herfahrt bemerkt hatte, und starrte, auf meine Schulter gestützt, entsetzt in das Wasser.

»Was ist los?« fragte ich, ziemlich erschrocken.

»Es war woll ein großer Fisch,« sagte der Alte und griff die Ruder wieder auf, und außer einigen seltsamen Blicken und einem vielsagenden Kopfschütteln war nichts mehr aus ihm herauszuholen. Mir selber zum Trotz griff eine gewisse Unruhe auf mich über; ich drehte mich gleichfalls um und beobachtete das Kielwasser. Das Meer war hier im Mittelpunkte der Bucht still und durchsichtig, aber außerordentlich tief. Eine Zeitlang sah ich nichts; schließlich war mir jedoch, als wenn etwas Dunkles – ein großer Fisch, vielleicht auch nur ein Schatten – haarscharf der Spur des gleitenden Kahnes folge. Und dann erinnerte ich mich einer abergläubischen Überlieferung Rories: wie anläßlich einer der vernichtenden Blutfehden zwischen den Clans von Morveen jahrelang ein in jenen Gewässern völlig unbekannter Fisch der dortigen Fähre zu folgen pflegte, bis keiner mehr den Übergang zu machen wagte. »Er wird woll auf den Richtigen lauern,« sagte Rorie.

Mary erwartete mich am Strande und führte mich den Abhang hinauf nach dem Haus von Aros. Draußen und drinnen war vieles anders geworden. Der Garten war mit dem gleichen Holz, das ich am Boote bemerkt hatte, eingezäunt, in der Küche befanden sich einige mit seltenem Brokat bezogene Stühle; Brokatvorhänge verkleideten die Fenster; auf der Anrichte stand eine stumme Uhr; eine Messinglampe hing von der Decke herunter; der Mittagstisch war mit dem feinsten Leinenzeug und Silber gedeckt; und alle diese neuen Kostbarkeiten standen in der alten, mir so wohlbekannten Küche, mit der hochlehnigen Bank und den Hockern und dem alten Wandbett für Rorie, mit den Pfeifen auf dem Kaminsims und den dreieckigen Spucknäpfen, die statt mit Sand mit Muscheln gefüllt waren; mit den nackten Steinwänden und dem kahlen Holzboden und den drei aus Flicken zusammengesetzten Teppichen, die früher ihren einzigen Schmuck bildeten: Armeleuteflickereien, die es in der Stadt nicht gab, aus selbstgewebtem Zeug, schwarzem Sonntagstuch und Öltuchresten, die auf der Ruderbank abgewetzt waren. Der Raum hatte, ebenso wie das Haus, dank seiner Sauberkeit und Wohnlichkeit weit und breit als eine Art Wunder gegolten, und ihn jetzt durch diese unpassenden Ergänzungen entstellt zu finden, erfüllte mich mit Entrüstung, ja mit Zorn. Angesichts der Aufgabe, die ich mir in Aros gestellt hatte, war dieses Gefühl freilich grundlos und ungerecht, trotzdem loderte es im Augenblicke in meinem Herzen auf.

»Mary, Mädchen,« sagte ich, »dies ist der Ort, den ich gelernt hatte als mein Heim zu betrachten, und doch kenne ich ihn nicht. –«

»Es ist mein Heim von Haus aus, nicht von Gewohnheit,« antwortete sie, »der Ort, wo ich geboren bin und wo ich wohl auch sterben werde; und ich mag weder diese Veränderungen, noch die Art, in der sie gekommen sind, noch was sie mit sich brachten. Mir wäre lieber, sie ruhten, so Gott will, auf dem Meeresboden, und die ›Tollen Männer‹ tanzten über sie hinweg.« Mary war stets ernst – das war vielleicht der einzige Zug, den sie mit ihrem Vater gemeinsam hatte – der Ton jedoch, mit dem sie diese Worte sprach, war noch ernster als gewöhnlich. –

»Ja,« sagte ich, »ich fürchtete, sie wären durch ein Schiffsunglück, will sagen, durch den Tod zu Euch gekommen; dennoch übernahm ich, als mein Vater starb, sein Gut ohne Reue.«

»Dein Vater starb einen reinen, graden Tod, sagen die Leute,« war Marys Antwort.

»Wohl wahr,« entgegnete ich, »und ein Wrack ist wie ein Gottesgericht. Wie war sein Name?«

»Sie nannten es die ›Christ-Anna‹«, sagte eine Stimme hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich meinen Onkel auf der Schwelle stehen.

Er war ein sauertöpfischer, galliger kleiner Mann, mit einem langen Gesicht und sehr dunklen Augen, sechsundfünfzig Jahre alt und mit einem Äußeren, das halb an den Schäfer, halb an den Seemann erinnerte. Ich habe ihn niemals lachen hören; er pflegte ausführlich in der Bibel zu lesen und betete viel, nach Art der Kameronier, unter denen er aufgewachsen war. Ja, vielfach gemahnte er mich an einen Hochlandsprediger aus den mörderischen Zeiten vor der Revolution. Allein er schöpfte niemals sonderlichen Trost und, so viel ich weiß, nicht einmal Rat aus seiner Frömmigkeit. Er pflegte seine schwarzen Stunden zu haben, in denen er sich vor der Hölle fürchtete; aber er hatte ein rauhes Leben geführt, auf das er voller Neid zurückblickte, und war nach wie vor ein rauher, kalter, finsterer Mann.

Als er so aus dem Sonnenlicht zur Tür hereintrat, mit seiner Kappe auf dem Kopf und einer Pfeife im Knopfloch baumelnd, schien er mir wie Rorie gealtert und bleicher; die Falten waren tiefer in sein Gesicht gegraben, und das Weiße seiner Augen schimmerte gelblich wie altes Elfenbein oder Totenknochen.

»Ja,« sagte er, mit besonderer Betonung des ersten Wortes, »die ›Christ-Anna‹, ein heiliger Name. – «

Ich bot ihm meine Begrüßung und ein Kompliment auf seine Gesundheit, denn ich fürchtete, er sei vielleicht krank gewesen.

»Ich bin bei Leibe,« erwiderte er ziemlich unwirsch, »jawohl, bei Leibe, und in den Sünden des Leibes, wie du selbst. Essen,« sagte er plötzlich zu Mary und fuhr dann, zu mir gewendet, fort: »Schöne Sachen, teure Sachen, die wir da haben, nicht wahr? Die Uhr da ist gut, aber sie geht nicht, und das Gehänge ist auch gut; lauter gute, feine Sachen, Sachen, für die die Leute den Frieden Gottes hergeben, der höher ist als die Vernunft; Sachen, für derengleichen und für weniger als derengleichen die Leute dem Herrgott ins Antlitz trotzen und baß in der Holle brennen; und darum nennt sie die Schrift, wie ich gelesen habe, verflucht. Mary, Frauenzimmer,« unterbrach er sich mit ziemlicher Schärfe, »warum hast du nicht die beiden Leuchter vorgeholt?«

»Was brauchen wir sie am hellichten Mittag?« war die Gegenfrage.

Aber mein Onkel ließ sich nicht von seinem Gedanken abbringen. »Wir wollen sie benutzen, solange wir noch können,« sagte er, und so mußte das für den armen Inselhof so ungeeignete Gedeck noch um zwei schwere Leuchter aus getriebenem Silber vermehrt werden.

»In der Nacht vom zehnten Februar, so um die zehnte Stunde, ist es an Land gelaufen,« fuhr er zu mir gewendet fort. »Wind war nicht, aber eine starke Dünung, und es war in den Strudel der Roost geraten. Rorie und ich hatten es den ganzen Tag vor dem Wind treiben sehen. Es war kein lenksames Schiff, mein‘ ich, die ›Christ-Anna‹, es wollte sich weder steuern lassen noch gehorchen. Einen argen Tag haben sie mit ihm gehabt. Die Hände kamen nimmer von der Takelung runter und es war grimmig kalt – allzu kalt für Schnee – und sobald sie einen Luftzug bekamen, der ihnen die leere Hoffnung einblies, gings weiter. Mann, Mann, einen saueren Tag hatten sie zu guter Letzt! Fest, festen Herzens mußte der sein, der auf jenen Planken glücklich das Land gewinnen wollte.«

»Und sind alle untergegangen?« rief ich. »Gott steh‘ ihnen bei!«

»Ruhig!« sagte er streng. »An meinem Herde darf keiner für die Toten beten.«

Ich verteidigte meinen Ausruf gegen jede papistische Deutung, und er schien meine Worte mit ungewöhnlichem Entgegenkommen aufzunehmen, wobei er fortfuhr, über das, was anscheinend sein Lieblingsthema geworden war, zu schwatzen.

»Wir fanden es in der Sandager Bucht, Rorie und ich, mitsamt all den Sachen da. Du weißt, die Bucht hat eine tückische Stelle, wenn die Strömung stark auf die ›Tollen Männer‹ geht. Bei Hochflut aber, wenn man die Roost drüben am anderen Ende von Aros hört, läuft eine Gegenströmung stracks in die Bucht hinein. Nun, die Sache hat der ›Christ-Anna‹ den Garaus gemacht. Sie muß heckvorwärts aufgelaufen sein, denn ihr Bug ist oftmals unter Wasser und das Hinterdeck auch bei Hochflut klar; Mann, Mann, der Stoß, mit dem sie aufgelaufen ist! Der Herr schütz‘ uns alle! Ein heilloses Leben, das zur See, – ein kaltes, böses, bitteres Leben. Manch einen Sprung in die Tiefe hab ich selbst getan zu meiner Zeit, aber warum der Herr jenes arge Wasser geschaffen hat, ist mehr als ich je hab begreifen können. Er hat die Täler und die Triften, den guten grünen Garten und das feste, sichere Land geschaffen –

»Und sie preisen und lobsingen dir,
»Die du sie froh gemacht,« –

wie der Psalm im Versmaß sagt. Nicht, daß ich meinen Glauben auf solch Geklingel gründen möchte, aber es ist lieblich und leichter zu behalten.

»Und wer auf fernen Schiffen,
»Dem Meere sich vertraut,

»Des Herren Werk und Wunder
»In seiner Tiefe schaut,«

heißt es.

Nun, es hört sich gar anmutig an, und David hat vielleicht nicht viel vom Meere gewußt. Meiner Seel, wenn’s nicht in der Bibel stände, ich wäre versucht zu glauben, daß nicht der Herr, sondern der Böse selbst das Meer geschaffen hat. Es kommt nichts Gutes aus ihm heraus, die Fische ausgenommen; und David wird wohl an das Bild des Herrn, der auf den Fluten wandelte, gedacht haben. Arge Wunder sind’s gewesen, die Gott der ›Christ-Anna‹ gezeigt. Wunder hab ich gesagt? Gottesgerichte, Gerichte der Finsternis, dort unten, unter den Drachen der Tiefe! Und ihre Seelen – denk an ihre Seelen, Mann, die vielleicht unvorbereitet waren! Das Meer – ein strackser Weg zur Hölle!«

Mir fiel während meines Onkels Rede auf, daß seine Stimme unnatürlich bewegt und sein Benehmen ungewöhnlich erregt waren. So beugte er sich zum Beispiel bei diesen letzten Worten vor, berührte mein Knie mit gespreizten Fingern und schaute mir bleichen Antlitzes ins Gesicht; ich sah, daß in seinen Augenhöhlen Feuer brannte, und daß die Falten um seinen Mund sich spannten und zuckten.

Selbst der Eintritt Rories und der Beginn unserer Mahlzeit vermochten ihn nicht einen Augenblick von seinem Gedankengange abzubringen. Zwar ließ er sich herbei, mir einige Fragen über meine Universitätserfolge zu stellen, aber mir war, als wäre er nur halb mit den Gedanken bei der Sache, und selbst bei seinem extemporierten Tischgebet, das wie gewöhnlich lang und weitschweifig war, konnte ich die Spuren seiner Gedankentätigkeit verfolgen. Er betete, »daß Gott in Gnaden sich vier armer, schwacher, törichter und sündhafter Geschöpfe in ihrer Verlassenheit am Rande der großen, mächtigen Gewässer erbarmen möge.« –

Bald kam es zu einem Gedankenaustausch zwischen ihm und Rorie.

»War es da?« fragte mein Onkel.

»Oh ja!« sagte Rorie.

Ich bemerkte, daß beide gleichsam bei Seite und in einiger Verlegenheit sprachen, und daß Mary selbst errötete und auf ihren Teller niedersah. Teils um meine Eingeweihtheit zu zeigen, teils um die Gesellschaft der Peinlichkeit zu entreißen, teils auch aus Neugierde verfolgte ich das Thema weiter.

»Ihr meint den Fisch?« fragte ich.

»Welchen Fisch?« rief mein Onkel. »Fisch, sagt Er! Fisch! Deine Augen sind geblendet, Mann. Dein Kopf ist von weltlicher Weisheit stumpf! Fisch! Ein Geist ist es!« Er sprach mit großer Heftigkeit, wie im Zorn. Mag sein, daß ich nicht willens war, mich so kurz abweisen zu lassen, denn junge Leute lieben den Widerspruch; zum mindesten erinnere ich mich, ihm eine rasche Gegenantwort erteilt zu haben, die seinen kindischen Aberglauben verwarf.

»Und Er kommt von der Universität,« höhnte mein Onkel Gordon. »Gott weiß, was sie die jungen Leute dort lehren; sicherlich nichts Nützliches! Glaubt Er denn, Mann, daß in der salzigen Wüste da draußen Tag für Tag nichts anderes ist als Seegras, Seegetier und der Sonnenschein? Nein; das Meer ist wie das Land, nur gefährlicher. Gibt es Menschen auf dem Lande, dann auch im Meer – tot mögen sie wohl sein, aber Menschen sind es; und was die Teufel anbetrifft, so gibt es keine wie die Meerteufel. Die Landteufel sind, wenn man’s recht betrachtet, gar nicht so schlimm. Vor langer Zeit, als ich noch ein junger Bursch war, kannt‘ ich einen alten kahlen Geist im Moor von Peewie. Ich habe ihn selbst gesehen, wie er, grau wie Grabgestein, am Erdboden hockte. Und eine garstige Kröte war er, bei meiner Seel‘. Ja, wäre ein Verworfener, einer der in des Herrn Zorne wandelt, vorbeigegangen, mit der Sünde in seinen Eingeweiden, den und seinesgleichen hätte das Geschöpf wohl angesprungen. Aber im tiefen Meer gibt es Teufel, die sich selbst an einen Kommunikanten haften. Ich sage Euch, wäret Ihr mit den armen Burschen auf der ›Christ-Anna‹ untergegangen, Ihr hättet des Meeres Barmherzigkeit kennen gelernt! Hättet Ihr es so lange befahren wie ich, Ihr würdet den Gedanken an das Meer hassen, wie ich es tue. Hättet Ihr Euch der Augen bedient, die Euch der Herrgott gegeben, Ihr wäret der Bosheit jenes falschen, bitteren, kalten, unsteten Geschöpfes und alles dessen, was nach Gottes Ratschluß in ihm lebt, inne geworden: Hummer und Krebse und dergleichen, die von den Toten leben; und mächtige, großmäulige, schnaubende Wale, und die Fische samt all‘ ihresgleichen – kaltblütiges, blindäugiges, unheimliches Gezücht. Oh,« schrie er, »oh über das Grauen – das Grauen des Meeres!«

Wir waren alle ein wenig erschrocken über diesen Ausbruch, und der Sprecher selbst versank nach jenem letzten heiseren Ausruf anscheinend in seine eigenen finsteren Gedanken. Aber Rorie, der nach abergläubischen Märchen gierte, brachte ihn durch eine Frage auf das Thema zurück.

»Ihr habt wohl niemals einen Seeteufel gesehen?« fragte er.

»Nicht ausdrücklich,« erwiderte der andere. »Ich zweifle, ob ein bloßer Mensch einen ausdrücklich sehen und bei Leibe bleiben kann. Ich bin mit einem Burschen gefahren – Sandy Gabart nannten sie ihn; der hatte einen richtig gesehen und ist auch richtig dran gestorben. Wir hatten sieben Tage zuvor den Clyde verlassen – harte Arbeit hatte es gegeben – und waren nordwärts bestimmt mit Sämereien und Waren und allerlei für den Macleod. Dabei waren wir hart an die Cutchullens geraten, hatten eben bei Soa gekreuzt und hatten nun gute Fahrt, die, wie wir glaubten, wohl bis Copnahow anhalten würde. Ich weiß die Nacht noch gut; der Mond steckte in Nebelfetzen; eine starke Brise lag auf dem Wasser, stark, aber nicht stetig, und – was keiner von uns gerne hörte – über unseren Köpfen von den finsteren alten Felsen von Cutchullen her schrie und heulte ein zweiter Wind. Nun, Sandy war vorne bei dem Klüversegel, wir konnten ihn nicht sehen, denn das Großsegel, das sich grade erst aufblähte, lag dazwischen, als er ganz plötzlich aufschrie. Ich renne ums liebe Leben, denn ich dachte, wir wären allzu nahe an Soa herangeraten; aber nein, das war es nicht, es war des armen Sandys Todesschrei oder doch hart daran, denn nach einer halben Stunde war er tot. Alles was er zu sagen wußte, war, daß ein Seeteufel oder Seegeist oder Seegespenst oder dergleichen den Bugspriet hinaufgeklettert wäre und ihm einen einzigen kalten, unheimlichen Blick zugeworfen hätte. Und noch bevor Sandy den Geist aufgab, wußten wir gar wohl, was das Ding hatte besagen wollen, und warum der Wind in den Spitzen der Cutchullens heulte; denn runter kam er. Wind habe ich ihn genannt? Es war der Zornwind Gottes, und die ganze Nacht über kämpften wir wie Männer, die den Verstand verloren haben, und das erste, was wir wußten, war, daß wir in Loch Uskevagh an Land gingen, und in Benbecula krähten die Hähne.«

»Es wird woll ein Meermann gewesen sein,« sagte Rorie. »Ein Meermann!« schrie mein Onkel in maßloser Verachtung. »Altweibergeschwätz! Ein Meermann! Es gibt nichts dergleichen.«

»Aber wie sah denn das Geschöpf aus?« fragte ich.

»Wie es aussah? Gott verhüte, daß wir es erfahren möchten! Es trug eine Art Kopf auf den Schultern – mehr wußte kein Mensch zu sagen.«

Dann erzählte Rorie, den die Kränkung brannte, verschiedene Geschichten von Meermännern, Meerjungfern und Seepferden, die auf den Inseln an Land gestiegen seien und die Besatzungen der Schiffe auf dem Meere angegriffen hätten, und mein Onkel hörte trotz seines Unglaubens mit unruhigem Interesse zu.

»Gut, gut,« sagte er, »es mag ja so gewesen sein; vielleicht habe ich unrecht; aber ich finde kein Wort von Meermännern in der Schrift.«

»Ihr werdet wohl auch kein Wort von Aros Roost dort finden,« warf Rorie ein, und sein Einwand schien zu überzeugen.

Nach dem Essen führte mein Onkel mich hinaus ins Freie nach einem Abhang hinter dem Hause. Es war ein heißer, stiller Nachmittag; kaum daß hin und wieder eine schwache Welle das Meer kräuselte, und kaum ein Laut, außer den vertrauten Stimmen der Schafe und Möwen. Dieser Stille in der Natur war es vielleicht zu verdanken, daß mein Verwandter sich vernünftiger und ruhiger zeigte. Er sprach gleichmäßig und fast heiter von meiner Laufbahn, mit gelegentlichen Hinweisen auf das verlorene Schiff oder die Schätze, die es nach Aros gebracht. Ich meinerseits hörte ihm gleichsam wie im Traume zu, betrachtete aus vollem Herzen die wohlbekannte Szene und trank freudig die Seeluft und den Rauch der Torfstücke, die Mary angezündet hatte.

Wohl eine Stunde war so vergangen, als mein Onkel, der die ganze Zeit über verstohlen den Wasserspiegel der kleinen Bucht beobachtet hatte, sich erhob und mich bat, seinem Beispiele zu folgen. Hier muß ich hinzufügen, daß die starke Flut an der Südwestspitze von Aros eine beunruhigende Wirkung rings auf die ganze Küste ausübt. Im Süden, in der Bucht von Sandag, herrscht zu gewissen Zeiten von Flut und Ebbe eine kräftige Strömung; in der nördlichen Bucht, der Bucht von Aros dagegen, wo das Haus steht, auf die mein Onkel jetzt herniederblickte, waren einzig gegen Schluß der Ebbe gewisse Zeichen sichtbar, – und auch die zu schwach, um aufzufallen. Bei bewegtem Wasser war überhaupt nichts zu sehen; bei Meeresstille jedoch, wie sie häufig herrscht, tauchen auf dem glasigen Wasserspiegel gewisse rätselhafte, wirre Zeichen auf – Seerunen könnte man sie nennen. – Dergleichen ist an tausend Stellen an der Küste zu finden, und manch junger Bursch mag sich, wie ich, die Zeit damit vertrieben haben, daß er sich mühte, aus ihnen irgendwelche Beziehungen zu sich selbst oder zu denen, die ihm teuer waren, herauszulesen. Auf diese Zeichen lenkte mein Onkel jetzt, einen tiefen Widerwillen bekämpfend, meine Aufmerksamkeit.

»Siehst du das Zeichen dort auf dem Wasser?« fragte er, »das neben dem grauen Stein? Ja? Es wird doch kein Buchstabe sein, was meinst du?«

»Natürlich ist es einer,« antwortete ich. »Ich habe es schon oft bemerkt. Es gleicht einem C.«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als hätte ihn meine Antwort bitter enttäuscht, und fügte dann leise hinzu: »Ja, ja. Für die Christ-Anna.«

»Ich habe es früher stets auf mich selbst bezogen, Oheim,« sagte ich, »auf meinen Namen Charles.«

»Du hast es also schon früher gesehen?« fuhr er fort, ohne auf meine Bemerkung zu achten. »So, so. Aber gar geheuer ist es doch nicht. Vielleicht hat es dort schon die liebe lange Zeit bis auf den heutigen Tag gelauert. Mann, ist das ein grausiger Gedanke!« Er brach plötzlich ab. »Du siehst doch wohl kein zweites?« fragte er.

»Doch,« sagte ich. »Ich sehe einen zweiten Buchstaben ganz deutlich, nahe bei der Roß, dort wo der Weg mündet, – ein M.«

»Ein M,« wiederholte er sehr leise. »Und wie deutest du das?« erkundigte er sich.

»Ich glaubte immer, daß es Mary bedeutete, Oheim,« antwortete ich errötend, überzeugt, daß ich an der Schwelle einer entscheidenden Erklärung stände.

Allein jeder von uns verfolgte, des anderen nicht achtend, seine eigenen Gedanken. Mein Onkel schenkte meinen Worten wiederum keine Aufmerksamkeit, sondern ließ schweigend den Kopf hängen, und ich hätte annehmen können, daß er mich überhaupt nicht gehört, wäre seine nächste Rede nicht eine Art Echo der meinigen gewesen.

»Ich würd‘ nichts von dem Geschwätz zu Mary sagen,« bemerkte er und begann weiterzugehen.

Am Rande der Bucht von Aros läuft ein Rasenstreifen, auf dem leicht gehen ist; ihm entlang folgte ich schweigend meinem schweigenden Verwandten. Vielleicht war ich auch ein wenig enttäuscht, eine so gute Gelegenheit für mein Liebesgeständnis versäumt zu haben. Weit stärker jedoch beschäftigte mich die Veränderung, die mit meinem Onkel vorgegangen war. Er war niemals ein gewöhnlicher oder, im engeren Sinne des Wortes, liebenswürdiger Mensch gewesen; aber selbst in seinen schlimmsten Zeiten hatte ich nichts gekannt, was eine solch merkwürdige Veränderung hätte ahnen lassen. Unmöglich konnte man sich der Tatsache verschließen, daß ihn etwas drückte; und als ich im Geiste die verschiedenen Worte an mir vorüberziehen ließ, die sich durch den Buchstaben M ausdrücken ließen, – Misere, Mary, Milde, Mangel, Mißgunst und so weiter – hielt ich mit einer Art Schrecken bei dem Worte Mord inne. Ich war dabei, den häßlichen Klang und die verhängnisvolle Bedeutung des Wortes zu erwägen, als die Richtung unseres Spazierganges uns an einen Punkt brachte, von wo aus sich die Aussicht nach beiden Seiten erschloß, rückwärts nach der Bucht von Aros und dem Gehöft und vorwärts auf die hohe See, in der im Norden eine Reihe verstreuter Inseln lagen, und die sich nach Süden hin blau und offen dem Himmel entbreitete. Hier blieb mein Führer stehen und starrte eine Weile auf die ungeheure Fläche. Dann legte er, sich zu mir wendend, eine Hand auf meinen Arm.

»Du meinst, dort drinnen wäre nichts?« fragte er, mit seiner Pfeife die Richtung andeutend. Und plötzlich rief er laut in einer Art Ekstase: »Ich sage dir, Mann, die Toten sind dort drunten – zahlreich wie die Ratten!«

Er drehte sich schroff um, und wir gingen, ohne ein weiteres Wort, den Weg zurück nach dem Haus von Aros. Ich brannte darauf, mit Mary allein zu sein; aber erst nach dem Abendessen gelang es mir, sie zu sprechen, und dann nur auf kurze Zeit. Ich hielt mich nicht mit Umwegen auf, sondern redete grade heraus von dem, was mir am Herzen lag.

»Mary,« sagte ich, »ich bin nicht ohne Hoffnung nach Aros gekommen. Sollte sie begründet sein, so können wir alle vielleicht fort von hier, an einen anderen Ort, und des täglichen Brotes und einigen Behagens sicher sein; ja, weit mehr als das wird uns vielleicht blühen, das zu versprechen jetzt in mir als Überschwang erscheinen möchte. Doch es gibt eine Hoffnung, die meinem Herzen näher liegt als Geld.« Hier machte ich eine Pause. »Du wirst leicht erraten, was das ist, Mary,« sagte ich. Sie blickte schweigend von mir hinweg. Das war nun gar geringe Ermutigung, aber ich ließ mich nicht irre machen. »Mein Lebtag habe ich die ganze Welt von dir gehalten,« fuhr ich fort; »die Zeit verfliegt, und ich halte nur noch mehr von dir. Im Leben könnt‘ ich nicht dran denken, ohne dich glücklich oder froh zu werden: du bist mein Augapfel.« Noch immer blickte sie hinweg und sprach kein Wort, aber ich meinte ihre Hände zittern zu sehen. »Mary,« rief ich angstvoll, »magst du mich nicht?«

»O, Charlie, Bub, ist es an der Zeit, davon zu sprechen?« sagte sie. »Laß mich noch eine Weile; laß mich, wie ich bin. Das Warten soll dein Schaden nicht sein!«

Aus ihrer Stimme erriet ich, daß sie dem Weinen nahe war, und hatte nur noch den einen Gedanken, sie zu trösten. »Mary Ellen,« sagte ich, »nichts mehr davon; ich bin nicht gekommen, um dich zu betrüben: dein Weg sei mein Weg, und deine Zeit soll meine sein. Du hast mir alles gesagt, was ich zu wissen wünschte. Und jetzt nur noch das eine: was quält dich?«

Sie gestand, daß es ihr Vater sei, wollte aber auf nichts eingehen, sondern schüttelte nur den Kopf und sagte, daß er nicht wohl und nicht er selber sei, und daß es jammerschade wäre. Von dem Wrack wußte sie nichts. »Ich bin nicht dort gewesen,« sagte sie. »Weshalb sollte ich dorthingehen, Charlie, Bub? Die armen Seelen sind längst zur Rechenschaft gezogen, und ich wollte, sie hätten ihr Gut mitgenommen, die Ärmsten.«

Das klang nun freilich nicht sonderlich ermutigend für meine Absicht, ihr von der »Espiritu Santo« zu erzählen, aber ich tat es dennoch, und schon beim ersten Wort stieß sie einen Ruf der Überraschung aus. »Im Monat Mai,« sagte sie, »war einer in Grisapol, ein kleiner, gelber, schwarzer Kerl, sagen die Leute, mit goldenen Ringen an den Fingern und einem Barte, und er hat allenthalben weit und breit nach dem gleichen Schiffe gesucht.«

Es war gegen Ende April gewesen, daß Dr. Robertson mir jene Papiere gegeben hatte, und plötzlich dämmerte mir auf, daß sie für diesen spanischen Geschichtsforscher oder für einen Mann, der sich als solchen ausgab, und der mit vornehmen Empfehlungen versehen sich wegen einer Forschungsexpedition über den Verbleib der großen Armada an den Rektor gewandt hatte, vorbereitet wurden. Wenn ich eins zum andern fügte, glaubte ich, daß der Besuch mit den goldenen Ringen an den Fingern vielleicht mit Dr. Robertsons Geschichtsschreiber aus Madrid identisch war. In dem Falle war es wahrscheinlich, daß er eher für sich selbst als zur Information einer gelehrten Gesellschaft nach dem Schatze suchte. Ich beschloß daher, bei meinen Nachforschungen keine Zeit zu verlieren; lag das Schiff in der Sandager Bucht, wie wohl er und ich vermuteten, so sollte es nicht diesem beringten Abenteurer, sondern Mary und mir und der guten, alten, ehrlichen und freundlichen Familie Darnaway zugute kommen.

Drittes Kapitel


Land und See in der Bucht von Sandag

Ich war am nächsten Morgen früh munter und machte mich, sobald ich einen Bissen gegessen hatte, auf meinen Forschungsgang. Eine innere Stimme sagte mir ganz deutlich, daß ich das Schiff der Armada finden würde; und wenn ich mich auch nicht gänzlich diesen hoffnungsfrohen Gedanken hingab, war ich doch leichten Herzens und wandelte wie auf Luft. Aros ist eine sehr rauhe kleine Insel; ihr Boden ist mit großen Felsblöcken bedeckt und zottig von Farn und Heidekraut. Mein Weg führte mich in fast grader nordsüdlicher Richtung über den höchsten Hügelrücken hinweg, und obwohl die ganze Entfernung noch keine zwei Meilen betrug, brauchte ich dazu doch mehr Zeit und Kraft als zu vier Meilen ebenen Weges. Auf der Anhöhe hielt ich an; sie war nicht sehr hoch – noch keine dreihundert Fuß nach meiner Schätzung –, überragte aber das benachbarte Flachland der Roost um vieles und gewährte eine umfassende Aussicht auf das Meer und die Inseln. Die Sonne, die schon eine ganze Weile aufgegangen war, brannte heiß auf meinen Nacken; die Luft war schwül und gewitterschwer, wenn auch von durchsichtiger Klarheit. Nordwestlich, in weiter Ferne, wo die Inseln am dichtesten lagen, hatte sich ein halb Dutzend kleiner Wolkenfetzen zusammengeballt, und das Haupt Ben Kyaws trug nicht nur einige Nebelschleier, sondern eine feste Nebelhaube. Eine Drohung lag im Wetter. Wohl war das Meer so glatt wie Glas: selbst die Roost glich nur einem weißen Rand am weiten Wasserspiegel und die ›Tollen Männer‹ einer Reihe von Schaumkappen. Aber meinen Augen und Ohren, denen alle diese Orte so vertraut waren, erschien des Meeres Schlummer voller Unruhe. Ein Laut, einem langen Seufzer ähnlich, stieg zu mir empor, und die Roost selbst schien mir in ihrer Ruhe auf Unheil zu sinnen, muß ich doch hinzufügen, daß wir alle, die wir in diesen Gegenden lebten, diesem seltsamen und gefährlichen Geschöpf der Fluten wenn auch nicht prophetisches Wissen, so doch zum mindesten die Gabe warnender Prophezeiung beimaßen.

Ich beschleunigte meinen Schritt und war bald den Aroser Abhang hinunter nach jenem Teil abgestiegen, den wir die Bucht von Sandag nennen. Diese ist im Vergleich zu der Insel selbst ein ziemlich großes Wasser, gegen alles, die vorherrschenden Winde ausgenommen, wohl geschützt, sandig und schal, im Westen von niedrigen Dünen begrenzt und im Osten sich an einige klafterhohe Felsen anschmiegend. Dies war die Seite, wo zu gewissen Zeiten der Flut die von meinem Onkel erwähnte Strömung stark gegen die Bucht trieb; kurz danach jedoch, wenn die Roost zu steigen beginnt, setzt eine noch stärkere, tiefere Gegenströmung ein, und sie ist es auch wohl gewesen, die den Boden hier so tief ausgehöhlt hat. Von der Bucht von Sandag aus ist nichts als ein kleiner Ausschnitt des Horizontes sichtbar und, bei schwerer See, die Sturzwellen, die sich an einem unsichtbaren Riffe brechen.

Schon von der halben Berghöhe herab erkannte ich das Wrack vom vergangenen Februar, eine Brigg von beträchtlicher Tonnage, die mit zerbrochenem Rücken hoch und trocken im östlichen Winkel der Dünen lag. Ich hielt in grader Richtung auf sie zu und hatte bereits den Dünenrand fast erreicht, als mein Blick plötzlich wie gebannt auf eine von Farn und Heidekraut gesäuberte Stelle fiel, auf der sich einer jener niedrigen, länglichen, gräberähnlichen Hügel erhob, die wir von den Friedhöfen her so gut kennen. Ich hielt, wie von einer Kugel getroffen, inne. Man hatte mir nichts von einer Leiche oder einem Begräbnis hier auf der Insel gesagt; Rorie, Mary und mein Onkel hatten alle drei geschwiegen. Von Mary zum mindesten war ich überzeugt, daß sie nichts wußte; dennoch stand hier vor meinen Augen der unumstößliche Beweis einer Tatsache. Hier war ein Grab; und ich mußte mich mit einem Schauder fragen, welche Art von Mensch dort seinen letzten Schlaf hielt und an jener öden, meerumbrausten Ruhestatt des Zeichens des Herrn harrte? Mein Geist gab mir keine Antwort, außer der einen, die ich anzunehmen mich fürchtete. Schiffbruch mußte er unter allen Umständen erlitten haben; vielleicht stammte er wie die ehemaligen Matrosen der Armada aus einem gesegneten Lande jenseits des Meeres; vielleicht war er einer meines Stammes, der mit dem Rauch seiner heimatlichen Hütte vor Augen hier elendiglich verderben mußte. Ich stand eine Weile barhäuptig an seiner Seite und wünschte fast, es hätte in unserer Religion gelegen, für den unglücklichen Fremdling ein Gebet zu sprechen oder nach altem klassischen Brauch sein Mißgeschick äußerlich zu ehren. Ich wußte wohl, daß seine unsterbliche Seele, obgleich sein Gebein dort als ein Teil von Aros ruhte, bis die Posaune des Gerichts ertönte, in weite Fernen entflohen war, um die Wonnen des ewigen Sabbats oder die Qualen der Hölle zu kosten. Dennoch zitterte ich innerlich wie vor Furcht, daß er, während ich an seiner Grabstätte wachte, sich in meiner Nähe an dem Ort seiner Leiden aufhielt.

Gewiß ist, daß ich mit gleichsam überschattetem Gemüt mich von dem Grab hinweg dem kaum weniger melancholischen Schauspiel des Wracks zuwandte. Der Schiffsrumpf lag höher, als die ersten Flutwellen reichten; und dicht vor dem Vordermast oder vor der Stelle, wo er gesessen hatte – denn jetzt, wahrlich, besaß das Schiff keine Masten mehr, da beide bei dem Unglück abgebrochen waren – war er zersplissen; und da der Strand sich scharf neigte, und der Bug viele Fuß tiefer lag als das Heck, klaffte der Riß weit auseinander, so daß man durch das ganze arme Schiff hindurch bis auf die andere Seite sehen konnte. Sein Name war auch schwer lesbar, und ich konnte nicht klar erkennen, ob es nach der norwegischen Stadt Christiania oder nach der guten Christin in dem alten Buch, Christian Weib, Christiana getauft war. Dem Bau nach war es ein ausländisches Schiff, ich konnte seine Nationalität indes nicht feststellen. Ursprünglich war es grün gestrichen gewesen, aber die Farbe war abgeblaßt und verwittert und schälte sich in Streifen ab. Die Trümmer des Hauptmastes lagen zur Hälfte im Sande begraben daneben. Es bot in der Tat einen trostlosen Anblick, und ich sah nicht ohne Bewegung die Tauenden ihm zur Seite baumeln, die in den Händen so mancher lärmender Matrosen gewesen, oder die kleine Springluke, die die Leute bei ihrer Arbeit hinauf- und hinabgeeilt, oder den armen nasenlosen Engel von einer Gallionsfigur, der in so manche Woge hinabgetaucht war.

Ich weiß nicht, ob sie in erster Linie vom Schiff oder von dem Grab ausgingen, aber ich empfand, als ich so mit der einen Hand gegen die zerbeulten Planken gelehnt dastand, plötzlich einige melancholische Skrupel. Die Heimatlosigkeit der Menschen, ja selbst der leblosen Schiffe, die an fremdem Ufer gestrandet sind, fiel mir schwer auf die Seele. Aus dergleichen jammervollen Mißgeschicken Profit zu schlagen, erschien mir als eine unmännliche und schmutzige Handlung, und ich fing an, meine Aufgabe für eine Art Sakrileg zu halten. Als ich mich indes Marys erinnerte, faßte ich wieder Mut. Mein Onkel würde niemals in eine unvorsichtige Heirat willigen und sie, nach meiner festen Überzeugung, nie ohne seine volle Zustimmung heiraten. Es kam mir also zu, für meine Frau zu sorgen, und, mich selbst auslachend, dachte ich daran, wie lang es her sei, daß jene schwimmende Burg, die »Espiritu Santo«, ihr Gerippe in der Bucht von Sandag gelassen, und welche Schwäche es wäre, so lang erloschene Rechte und Schicksalsschläge, die im Laufe der Zeit längst vergessen waren, zu achten.

Ich hatte meine Theorie, nach der ich nach den Überresten suchen wollte. Die Richtung der Strömung wie die Lotmessungen wiesen mich nach der Ostseite der Bucht unter die Felsvorsprünge. War das Schiff wirklich in der Bucht von Sandag gescheitert, und hielten nach all den Jahrhunderten noch einige Trümmer davon zusammen, so mußte ich es dort finden. Das Wasser erreicht, wie gesagt, sehr bald eine große Tiefe und mißt hart an den Uferfelsen bereits mehrere Faden. Wie ich so am Rande spazieren ging, konnte ich weit und breit den sandigen Meeresboden überschauen. Die Sonne leuchtete klar und stetig in seine grünen Tiefen. Die Bucht schien einem ungeheuren durchsichtigen Kristall zu gleichen; nichts verriet das Wasser außer einem leisen Beben im Innern, einem Zittern der Sonnenstrahlen und des Netzwerks von Schatten und einem gelegentlichen matten Plätschern und ersterbendem Glucksen am Uferrand. Die Schatten der Felsen erstreckten sich zu ihren Füßen um einige Längen ins Meer hinaus, so daß mein eigener Schatten, wenn ich mich weiterbewegte und tief über den Rand beugte, mitunter über die halbe Bucht hinausragte. Dieser Schattengürtel war es, den ich vor allem nach der »Espiritu Santo« durchforschte, denn hier war auch die Unterströmung am stärksten. So kühl die ganze Wasserfläche an jenem siedend heißen Tage schien, hier lockte sie am kühlsten und barg in meinen Augen eine geheimnisvolle Anziehungskraft. So sehr ich indes auch spähte, ich vermochte nichts zu entdecken als einige Fische oder einen Klumpen Seetang und verstreutes Gestein, das von oben abgebröckelt war und jetzt am sandigen Meeresboden ruhte. Zweimal schritt ich von einem Ende des Felsgestades bis zum anderen, ohne irgendwo eine Spur des Wracks oder mit einer einzigen Ausnahme auch nur eine Stelle zu finden, wo es möglicherweise hätte sein können. Letztere war eine große Felsterrasse, die sich in einer Tiefe von rund fünf Faden ziemlich hoch vom Sandboden abhob, und die, von oben gesehen, einem Auswuchs der Felsen glich, auf denen ich stand. Das Ganze bildete eine einzige, grottenähnliche Masse von Seetang, deren wahre Beschaffenheit ich nicht erkennen konnte, die jedoch in Größe und Form einem Schiffsrumpf nicht unähnlich war. Hier, zum mindesten, war meine beste Chance. Lag die »Espiritu Santo« nicht dort unter dem Seetang begraben, dann lag sie überhaupt nicht in der Sandager Bucht; ich bereitete mich daher vor, diese Frage ein für allemal zu entscheiden und entweder als reicher Mann nach Aros zurückzukehren oder auf ewig von meinen Träumen kuriert zu sein.

Ich entkleidete mich vollständig und stellte mich zaudernd, mit gefalteten Händen, hart am Rande auf. Die Bucht lag in jener Stunde vollkommen regungslos; weit und breit kein Laut, außer von einer Schar von Tümmlern, die irgendwo außer Sicht hinter der Landzunge ihre Versammlung hielten; dennoch hielt mich eine gewisse Furcht auf der Schwelle meines Abenteuers zurück. Trübselige Meeresgedanken, Bruchstücke von meines Onkels Aberglauben, Bilder von Toten, von Gräbern und zerborstenen alten Schiffen zogen an meinem Innern vorüber. Allein die kräftige Sonne auf meinen Schultern wärmte mich bis ins Herz hinein, und ich beugte mich vornüber und tauchte in die See.

Mit äußerster Anstrengung vermochte ich einen Büschel des Seetangs, der die Terrasse so dicht umwucherte, zu fassen. Dank diesem provisorischen Anker sicherte ich mich vollkommen, indem ich einen ganzen Armvoll des starken, schleimigen Gewächses ergriff. Meine Füße gegen den Rand stemmend, blickte ich mich um. Nach allen Seiten erstreckte sich die ebene Sandfläche, bis zu den Füßen der Felsen hin, wo durch den Wechsel der Fluten ein Gang ausgegraben war, der einem Gartenweg glich. Vor mir lag, so weit ich sehen konnte, nichts als der gleiche sanft-wellige, von der Sonne durchflutete Meeresboden. Allein die Terrasse, an die ich mich klammerte, war mit starken Gewächsen so dicht bestanden wie ein Moorhügel mit Heidekraut, und der Felsen, aus dem sie hervorquollen, war unter der Oberfläche mit einem Vorhang braunen Tangs drapiert. In diesem Labyrinth von Formen, die sich in der Wellenbewegung hin und her schaukelten, waren die Dinge schwer zu unterscheiden; und ich war nach wie vor unsicher, ob meine Füße sich gegen die natürliche Felswand oder gegen die Planken des Schatzschiffes der Armada stemmten, als der gesamte Tangbüschel in meiner Hand nachgab. Im Nu war ich an der Oberfläche, und die Ufer der Bucht und das lichte Wasser schwammen in purpurner Glorie vor meinen Augen. Ich kletterte auf die Felsen zurück und warf die Meerpflanze vor meine Füße zu Boden. Im gleichen Augenblick gab es einen hellen Klang, wie von einer fallenden Münze. Ich bückte mich, und wahrhaftig! – dort lag eine mit Rost bezogene eiserne Schuhschnalle. Der Anblick dieser armen menschlichen Reliquie griff mir ans Herz; aber nicht mit Hoffnung oder Furcht, sondern mit trübseligster Melancholie. Ich nahm sie in die Hand, und der Gedanke an ihren Besitzer tauchte wie die leibhaftige Gegenwart eines lebendigen Menschen vor mir auf. Sein wettergebräuntes Gesicht, seine Seemannshände, seine vom Schreien vor dem Ankerspill heisere Matrosenstimme, ja der Fuß sogar, der einstmals jene Schnalle auf unsicher schwankendem Deck getragen hatte – seine ganze menschliche Körperlichkeit, die einem Geschöpf, wie ich selbst es war, glich, mit Haaren, Blut und sehenden Augen – erschien mir in jener sonnigen Einsamkeit nicht wie ein Gespenst, sondern wie ein Freund, dem ich ein feiges Unrecht angetan. Lag das mächtige Schatzschiff mit seinen Kostbarkeiten, Ketten und Kanonen, so wie es vor Spanien in See gestochen, tatsächlich dort unten? Sein Deck ein Garten für die Meeralgen, seine Kabine ein Brutplatz für Fische, geräuschlos bis auf das dumpf schlagende Wasser, bewegungslos, den schaukelnden Seetang auf seiner Brustwehr ausgenommen; jene alte, volkreiche, schwimmende Burg jetzt ein Riff in der Sandager Bucht? Oder, was mir wahrscheinlicher erschien, war dies nur ein Stückchen Strandgut aus dem Schiffsunglück der fremden Brigg? War diese Schuhschnalle erst vor kurzem gekauft und von einem Manne getragen worden, der aus der Weltgeschichtsperiode stammte, die auch die meine war, der tagtäglich dieselben Neuigkeiten erfahren, der die gleichen Gedanken gedacht, ja der vielleicht im selben Gotteshaus wie ich gebetet hatte? Wie dem auch sein mochte, düstere Gedanken stürmten auf mich ein; die Worte meines Onkels: »Die Toten sind dort unten«, klangen in meinen Ohren, und obgleich ich noch einmal unterzutauchen beschloß, trat ich doch voll heftigen Widerwillens an den Felsrand.

Im gleichen Augenblick ging eine starke Veränderung über das Antlitz der Bucht. Verschwunden war das klare, durchsichtige Innere, das einem mit Glas gedeckten Hause glich, in dem der grüne Meersonnenschein lautlos schlummerte. Eine Brise hatte wohl ihre Oberfläche getrübt, und eine Art finstere Unruhe erfüllte ihren Busen, in dem grelle Lichter und wolkige Schatten durcheinander wirbelten. Selbst durch die unterirdische Terrasse lief ein verschwommenes Beben. Es schien plötzlich eine ernstere Sache geworden zu sein, sich an jenen Ort voll lauernder Gefahren zu wagen; und als ich zum zweiten Male in das Meer hinabsprang, geschah es zitternden Herzens.

Ich verankerte mich wie bei dem ersten Mal, und suchte tastend in dem wiegenden Tang umher. Alles, worauf ich stieß, fühlte sich kalt, weich und gallertartig an. Das Dickicht wimmelte von Krabben und Hummern, die ungeschickt hin und her watschelten, und ich mußte mein Herz gegen die Greuel ihrer Aaswelt stählen. Allseitig fühlte ich die Risse und Adern lebendigen Gesteins; keine Balken, kein Eisen, keinerlei Spuren eines Wracks; hier lag die »Espiritu Santo« nicht. Ich weiß, daß mich statt der Enttäuschung fast ein Gefühl der Erleichterung überkam, und ich wollte schon aufhören, als etwas geschah, das mich zu Tode erschrocken an die Oberfläche schnellen ließ. Ich hatte mich bei meinen Untersuchungen etwas verspätet; mit dem Flutwechsel wurde die Strömung stärker, und die Bucht von Sandag hatte aufgehört, für einen Einzelschwimmer gefahrlos zu sein. Nun, gerade im letzten Augenblick, zog die Strömung plötzlich stark an und überschwemmte das Meergestrüpp wie eine Welle. Ich verlor meinen Halt und wurde auf die Seite geschleudert, und als ich instinktiv nach einem neuen Halt suchte, schlossen sich meine Finger über etwas Hartem und Kaltem. Ich glaube, ich wußte sofort, was es war. Wenigstens ließ ich den Tang augenblicks fahren, schnellte an die Oberfläche und kletterte in der darauf folgenden Sekunde auf die hilfreichen Felsen hinauf, einen menschlichen Beinknochen umklammernd.

Der Mensch ist ein materielles Geschöpf, langsam im Denken und träge in der Erkenntnis der Zusammenhänge. Das Grab, das Wrack der Brigg, die rostige Schuhschnalle waren sicherlich deutliche Anzeichen. Ein Kind hätte ihre traurige Geschichte lesen können; dennoch packte mich das ganze Grauen vor dem Beinhaus des Meeres erst in dem Augenblick, als ich dieses Stück Mensch leibhaftig in Händen hielt. Ich legte den Knochen neben die Schnalle, raffte meine Kleider auf und rannte so, wie ich war, über die Felsen nach dem bewohnten Gestade. Ich konnte mich nicht weit genug von dem Orte entfernen; kein Schatz war groß genug, um mich zurückzulocken. Das Gebein der Ertrunkenen sollte in Zukunft vor mir sicher sein, mochte es nun auf Seetang oder auf gemünztem Golde ruhen. Sobald ich jedoch wieder auf der guten Erde stand und meine Nacktheit vor der Sonne geschützt hatte, kniete ich, mit dem Gesicht dem Wrack zugewandt, nieder und sandte aus vollem Herzen ein langes, leidenschaftliches Gebet für alle armen Seelen auf dem Meere zum Himmel. Eine warmherzige Bitte ist niemals umsonst; sie mag verweigert werden, aber der Bittende wird, meinem Glauben nach, stets entlohnt durch eine gnadenvolle Heimsuchung. Das Grauen, zum mindesten, wurde von mir genommen; ich vermochte wieder mit ruhigem Gemüt jene gewaltige, strahlende Schöpfung Gottes, das Meer, zu betrachten, und als ich heimwärts den rauhen Abhang von Aros erklomm, war mir von meiner Sorge nichts geblieben als der feste Entschluß, mich nie wieder mit dem Raube gestrandeter Schiffe oder mit den Schätzen der Toten einzulassen.

Ich hatte bereits einen guten Teil des Weges zurückgelegt, als ich innehielt, um Atem zu schöpfen und mich umzusehen. Der Anblick, der sich mir bot, war doppelt merkwürdig.

Der Sturm, den ich vorausgesehen hatte, näherte sich mit fast tropischer Schnelligkeit. Der auffallend leuchtende Meeresspiegel hatte den häßlich stumpfen Hauch runzeligen Bleis angenommen. Schon begannen die weißen Wogen am Horizont, ›des Schiffers Töchter‹, vor einer Brise zu fliehen, von der man in Aros noch nichts spürte, und von längs den Krümmungen der Sandager Bucht drang der Anprall schäumender Wellen zu mir herüber. Die Veränderung am Himmel war noch auffallender. Im Südwesten war ein ganzer Kontinent schwerer drohender Wolken aufgestiegen, aus dessen Rissen die Sonne eine Garbe von Lichtstrahlen sandte, während von seinen Rändern her tintenschwarze Wolkenstreifen den noch unbewölkten Himmel durchzogen. Die Gefahr war nicht zu verkennen und rückte immer näher. Noch während ich stand und schaute, wurde die Sonne ausgelöscht. Jeden Augenblick konnte das Unwetter mit aller Macht über Aros losbrechen.

Die Plötzlichkeit dieses Wetterwechsels hielt meinen Blick so fest am Himmel gebannt, daß einige Sekunden vergingen, ehe ich ihn auf die zu meinen Füßen ausgebreitete und im nächsten Augenblick der Sonne beraubte Bucht richtete. Die Anhöhe, auf der ich stand, überschaute seitlich ein kleines Amphitheater niedriger und zur See abfallender Hügel und daran anschließend den halbmondförmigen Strand und die Sandager Bucht in ihrer ganzen Ausdehnung. Auf diese Szene hatte ich so manches Mal hinabgeblickt, ohne jemals einen Menschen wahrzunehmen. Eben erst hatte ich ihrer Einsamkeit den Rücken gekehrt; wer beschreibt daher mein Erstaunen, als ich an jenem verlassenen Ort ein Boot mit einer Reihe von Männern sah? Das Boot war neben den Felsen gelandet. Zwei barhäuptige Burschen in Hemdsärmeln und mit einem Bootshaken bewaffnet, hielten es bei der immer stärker werdenden Strömung mit Mühe und Not am Ankerplatz fest, während etwas weiter weg am Uferrand zwei schwarzgekleidete Männer von anscheinend höherem Range ihre Köpfe über einer Sache zusammensteckten, die ich auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, die mir aber eine Sekunde später klar wurde – sie waren dabei, mit dem Kompaß ihren gegenwärtigen Standort festzustellen. Gerade in diesem Augenblick sah ich den einen eine Papierrolle entbreiten und mit dem Finger darauf zeigen, als vergleiche er einzelne Punkte auf der Landkarte. Währenddessen schritt ein dritter auf und ab, stöberte in den Felsen umher und spähte über den Rand ins Wasser. Während ich sie noch in lähmender Verwunderung anstarrte und mein Geist das mühsam zu erfassen suchte, was meine Augen ihm berichteten, bückte sich dieser dritte plötzlich zu Boden und holte seine Gefährten mit einem so lauten Ruf herbei, daß es bis zu mir herübertönte. Die anderen liefen auf ihn zu, wobei sie in ihrer Eile sogar den Kompaß fallen ließen, und ich konnte den Knochen und die Schuhschnalle unter den außergewöhnlichsten Gesten und Ausrufen der Überraschung von Hand zu Hand wandern sehen. Im gleichen Augenblick hörte ich die Seeleute aus dem Boot herüberrufen und sah sie westwärts auf die Wolkenmasse zeigen, die mit wachsender Geschwindigkeit den Himmel einhüllte. Die anderen schienen zu beraten, allein die Gefahr war zu bedeutend, als daß man ihr hätte trotzen können, und so sprangen sie ins Boot, meine Funde mit sich nehmend, und machten sich mit aller Kraft der Ruder davon.

Ich machte kein Aufsehen von der Angelegenheit, sondern wandte mich um und lief nach Hause. Wer diese Männer auch sein mochten, mein Onkel mußte sofort von ihrer Anwesenheit erfahren. Die Zeiten waren damals noch so, daß ein Einfall der Jakobiten nicht unmöglich erschien; vielleicht war gar Prinz Charlie, von dem ich wußte, daß mein Onkel ihn haßte, einer der drei Führer, die ich auf den Felsen gesehen hatte. Allein während ich von Stein zu Stein sprang und im Laufen die Sache überdachte, erschien mir diese Möglichkeit mehr und mehr unwahrscheinlich. Der Kompaß, die Landkarte, das Interesse, das sie an der Schnalle genommen, und das Benehmen des einen Fremden, der so oft ins Wasser gestarrt hatte, alles schien auf eine ganz andere Erklärung für ihre Gegenwart auf diesem entlegenen, unbekannten Inselchen des westlichen Ozeans hinzudeuten. Der Madrider Historiker, die von Dr. Robertson eingeleiteten Untersuchungen, der bärtige Fremde mit den Ringen, mein eigenes fruchtloses Suchen am gleichen Morgen in den Tiefen der Sandager Bucht reihten sich in meinem Gedächtnis Stück für Stück aneinander, und plötzlich war ich gewiß, daß die Spanier auf der Jagd waren nach dem verschollenen Schatz und dem untergegangenen Schiff der Armada. Nun sind aber die auf entlegenen Inseln wie Aros wohnenden Leute für ihre Sicherheit selbst verantwortlich; in der Nähe ist niemand, der sie beschützen oder ihnen auch nur zu Hilfe eilen könnte, und die Gegenwart einer Bande ausländischer Abenteurer, die arm, habgierig und aller Wahrscheinlichkeit nach auch gesetzlos waren, erfüllte mich mit Befürchtungen für meines Onkels Geld, ja selbst für die Sicherheit seiner Tochter. Ich überlegte mir immer noch, wie wir sie loswerden könnten, als ich außer Atem auf der Aroser Anhöhe ankam. Die ganze Welt lag im Schatten; nur im äußersten Osten an einer Bergspitze des Festlandes hing ein verspäteter Sonnenstrahl wie ein Edelstein. Es hatte zu regnen begonnen, nicht stark, aber in schweren Tropfen; das Meer wurde mit jedem Augenblicke unruhiger, und schon schlang sich ein weißer Gürtel um Aros und die benachbarte Küste von Grisapol. Das Boot hielt immer noch auf die See zu, und jetzt entdeckte ich erst, was mir vorhin auf halber Höhe verborgen geblieben war – einen großen, vielmastigen, stattlichen Schoner, der an der Südspitze von Aros vor Anker lag. Da ich ihn am Morgen, als ich so angelegentlich nach den Wetteraussichten ausgespäht, nicht gesehen hatte, und ein Segel an dieser einsamen Küste eine Seltenheit war, war es klar, daß er vorige Nacht hinter der wüsten Insel Gour vor Anker gegangen sein mußte, womit der unumstößliche Beweis geliefert war, daß seine Bemannung die hiesige Küste nicht kannte: denn jener Ankerplatz ist trotz seines sicheren Aussehens nicht viel mehr als eine Schiffsfalle. Bei einer so unwissenden Schiffsmannschaft an einer so ungastlichen Küste schien es nicht unwahrscheinlich, daß der kommende Sturm auf seinen Flügeln den Tod mit sich bringen würde.

Viertes Kapitel


Der Sturm

Ich fand meinen Onkel unter dem Giebeldache stehend, die Wetterzeichen beobachtend, eine Pfeife zwischen den Fingern.

»Onkel,« sagte ich, »in der Sandager Bucht sind Männer an Land …«

Weiter kam ich nicht; ich vergaß in der Tat nicht nur meine Worte, sondern selbst meine Müdigkeit, so seltsam war die Wirkung auf Onkel Gordon. Er ließ seine Pfeife fallen und lehnte sich mit hängendem Unterkiefer, starren Augen und totenblassem Gesicht an die Hausmauer. Wir müssen einander wohl eine Viertelminute lang schweigend angeblickt haben, ehe er die folgende sonderbare Antwort gab: »Hatte er eine Pelzkappe auf?«

Ich wußte jetzt so gut, wie wenn ich dabei gewesen wäre, daß der Mann, der in Sandag begraben lag, eine Pelzkappe getragen hatte, und daß er lebend an Land gekommen war. Zum ersten und einzigen Male verlor ich die Geduld mit dem Mann, der mein Wohltäter und der Vater des Mädchens war, das ich zu meiner Frau zu machen hoffte.

»Diese waren lebende Menschen,« sagte ich, »vielleicht Jakobiten, vielleicht Franzosen, vielleicht Seeräuber, vielleicht auch Abenteurer, die hierher gekommen sind, um das spanische Schatzschiff zu suchen; was sie aber auch sein mögen, sie sind jedenfalls Eurer Tochter und meiner Kusine gefährlich. Und was Euer eigenes angstgequältes Gewissen betrifft, so kann ich Euch nur sagen, daß der Tote dort, wo Ihr ihn gebettet habt, gut schläft. Ich habe heute morgen an seinem Grabe gestanden; er wird nicht erwachen, bevor die Posaune des Gerichts ertönt.«

Mein Verwandter sah mich während meiner Rede blinzelnd an; dann schlug er eine Weile den Blick zu Boden und zerrte blöde an seinen Fingern: es war klar, daß er der Sprache nicht mächtig war.

»Kommt,« sagte ich. »Ihr müßt an andere denken. Ihr müßt mit mir den Berg hinaufsteigen und Euch das Schiff ansehen.«

Ohne ein Wort oder einen Blick gehorchte er und folgte langsam meinen ungeduldigen Schritten. Alle Spannkraft schien aus seinem Körper gewichen, und statt wie sonst von einem Stein zum anderen zu springen, kletterte er mühsam die Felsen hinauf und hinunter. Es gelang mir auch nicht, ihn durch meine Rufe zur Eile anzuspornen. Ein einziges Mal antwortete er weinerlich und im Tone eines Menschen, der körperliche Schmerzen leidet: »Ja, ja doch, ich komme schon.« Lang ehe wir den Gipfel erreichten, empfand ich nur noch Mitleid mit ihm. War das Verbrechen auch ungeheuerlich gewesen, die Strafe war ihm augenscheinlich angemessen.

Endlich hatten wir die Spitze erreicht und konnten uns umsehen. Alles lag düster und drohend vor unseren Augen; der letzte Sonnenstrahl war verschwunden. Wind blies, wenn auch nicht stark, so doch in kurzen, unruhigen Stößen; der Regen hatte dagegen aufgehört. Trotz der kurzen Zeit, die bis zu meiner Rückkehr vergangen war, hatte die Macht der Wellen ungeheuer zugenommen. Schon schlugen sie hier und dort über den äußeren Riffen zusammen und klagten und stöhnten in den Grotten von Aros. Ich spähte, anfangs vergeblich, nach dem Schoner aus.

»Da ist er,« sagte ich schließlich; indes verursachten Lage und Kurs, die er inzwischen angenommen, mir einiges Kopfzerbrechen. »Sie können doch nicht auf die offene See hinaus wollen,« rief ich.

»Das ist ihre Absicht,« sagte mein Onkel, und es klang etwas wie Freude aus seiner Stimme. Im gleichen Augenblick machte der Schoner eine Drehung, die ihn in eine Richtung brachte, welche jeden Zweifel ausschloß. Die Fremden hatten bei dem drohenden Sturm vor allem daran gedacht, vom Lande abzukommen. Bei diesem Wind jedoch, in diesen von Klippen besäten Gewässern und gegen eine so mächtige Strömung bedeutete ihr Kurs den sicheren Tod.

»Du großer Gott!« rief ich. »Sie sind verloren, alle miteinander.«

»Ja,« entgegnete mein Onkel, »alle – alle sind verloren. Es bleibt ihnen nichts übrig, als Kyle Dona zu gewinnen. Bei dem Tempo aber kämen sie nicht durch, und wenn sie den Bösen selbst zum Steuermann hätten. Eine schöne Nacht für ein Schiffsunglück,« fuhr er fort und berührte meinen Arm mit den Fingerspitzen, »meinst du nicht auch? Schon das zweite dies Jahr! Huh, werden die ›Tollen Männer‹ tanzen!«

Ich sah ihn an, und in diesem Augenblick fing ich an, an seinem Verstande zu zweifeln. Er blickte, wie Sympathie heischend, halb schüchtern, halb freudig, zu mir auf, und alles, was bereits gewesen war, versank angesichts dieser neuen Katastrophe.

»Wenn es nicht schon zu spät wäre,« rief ich voller Entrüstung, »würde ich das Boot nehmen und hinausfahren, um sie zu warnen.«

»Nein, nein,« protestierte er, »du darfst nicht dazwischenkommen, darfst dich nicht in solche Sachen mischen. Es ist Sein Wille.« Hier lüftete er die Mütze. »Und eine schöne Nacht, eine herrliche Nacht hat Er dazu ausersehen.«

Etwas wie Furcht begann sich in mein Herz einzuschleichen. Ich erinnerte ihn daran, daß wir noch nicht gegessen hatten, und schlug vor, nach Hause zu gehen. Aber nein! Um nichts in der Welt war er dazu zu bewegen, seinen Beobachtungsposten zu verlassen.

»Ich muß mir die Sache ansehen, Charlie, Junge,« erklärte er und rief, als der Schoner zum zweiten Male beidrehte: »Schau, die verstehen’s! Mit denen konnt‘ es die Christ-Anna nicht aufnehmen!«

Die Männer an Bord mußten bereits einige, wenn auch noch nicht den zwanzigsten Teil der Gefahren erkannt haben, die ihr todgeweihtes Schiff umgaben. Bei jeder Pause, die der launenhafte Wind machte, mußten sie gewahr werden, wie sehr die Strömung sie zurücktrieb. Je fruchtloser der Kampf, um so straffer zogen sie die Taue. Mit jeder Minute donnerte und schäumte die steigende Flut über neuen, begrabenen Riffen. Wieder und wieder brachen sich die Sturzwellen in dröhnendem Verderben unmittelbar unter dem Schiffsbug, und in den Wogentälern trieb brauner Schlick und triefender Tang. Wahrlich, jetzt galt es, die Gewalt über das Tauwerk zu behalten! Gott weiß es, an Bord jenes Schiffes war keine einzige Hand müßig. Und den Ablauf dieser, für jedes menschlich fühlende Herz so grauenvollen Szene verfolgte mein irregeleiteter Onkel mit gespannter Aufmerksamkeit und wollüstiger Kennermiene. Als ich mich umwandte, um den Berg hinabzugehen, lag er oben flach auf dem Bauch, die ausgestreckten Hände im Heidekraut verkrampft, geistig und körperlich scheinbar um Jahre verjüngt.

In trüber Stimmung langte ich zu Hause an und wurde bei Marys Anblick noch niedergeschlagener. Ich fand sie mit gelassener Miene, die kräftigen Arme entblößt, beim Brotbacken. Schweigend nahm ich einen Haferkuchen von der Anrichte und setzte mich nieder, um zu essen.

»Bist müde, Bub?« fragte sie nach einer Weile.

»Nicht so sehr ermüdet, Mary,« antwortete ich, mich erhebend, »als des Aufschubs und vielleicht auch dieses Ortes müde. Du kennst mich gut genug, um, was ich auch sage, gerecht zu beurteilen. Nun, Mary, des einen darfst du sicher sein: du wärest besser an jedem anderen Ort als hier.«

»Das eine weiß ich jedenfalls,« gab sie zur Antwort, »ich werde dort sein, wo meine Pflicht ist.«

»Du vergißt, daß du auch eine Pflicht gegen dich selber hast,« sagte ich.

»So, so, Bub,« entgegnete sie, heftig den Teig schlagend, »hast du das etwa in der Bibel gelesen?«

»Mary,« sagte ich feierlich, »du darfst mich jetzt nicht auslachen. Gott weiß, daß mir nicht nach Lachen zumute ist. Das Allerbeste wäre, wir könnten deinen Vater mitnehmen, aber, ob mit oder ohne ihn, ich will dich von hier fort wissen, mein Mädchen; um deinet-, meinet – und auch deines Vaters willen möchte ich dich weit, weit von hier fort wissen. Ich bin mit anderen Gedanken hierhergekommen; ich bin hergekommen, wie einer, der nach Hause kommt. Jetzt ist alles anders, und ich habe nur noch den einen Gedanken und die eine Hoffnung – zu fliehen, ja, das ist das Wort, von dieser verfluchten Insel zu fliehen – wie ein Vogel des Vogelstellers Schlinge flieht.«

Sie hatte mittlerweile mit ihrer Arbeit aufgehört. »Und glaubst du wirklich,« sagte sie, »glaubst du wirklich, ich hätte weder Augen noch Ohren? Weißt du denn nicht, daß ich mich fast zu Tode gegrämt habe um diese Kostbarkeiten (wie er sie nennt, Gott verzeih’s ihm) und sie am liebsten in die See würfe? Glaubst du wirklich, ich konnte mit ihm tagaus, tagein zusammenleben, ohne das zu sehen, was du in ein, zwei Stunden gesehen hast? Nein,« sagte sie, »ich weiß, daß Unrecht an ihnen klebt; welches Unrecht weiß ich nicht und will es auch nicht wissen. Ich hab noch nie gehört, daß ein arg Ding durch unnütz Fragen besser geworden wäre. Aber, Bub, du darfst niemals verlangen, daß ich meinen Vater verlasse. Solange noch Atem in ihm ist, werde ich bei ihm sein. Es wird nicht mehr lange sein, Charlie, kann ich dir sagen, nicht mehr lange. Er trägt das Zeichen an der Stirn, und es ist vielleicht besser so, – ja, besser.«

Ich schwieg eine Weile, da ich nicht wußte, was ich sagen sollte, und als ich endlich aufsah, um zu sprechen, kam sie mir zuvor.

»Charlie,« sagte sie, »was für mich recht ist, braucht’s für dich nicht zu sein. Es ist Sünde über dies Haus gekommen und Unglück. Du bist ein Fremder; nimm dein Hab und Gut und geh fort an einen besseren Ort und zu besseren Menschen, und wenn es dich je zurücktreibt, und sei es nach zwanzig Jahren, du wirst mich wartend finden.«

»Mary Ellen,« sagte ich, »ich habe dich gebeten, mein Weib zu sein, und du hast so gut wie dein Jawort gegeben. Und damit gut! Wo du bist, da werde ich auch sein, so wahr ich mich vor meinem Gott zu verantworten habe.«

Bei diesen Worten brach plötzlich ein tobender Wind los, der einen Augenblick später still zu stehen und schaudernd das Haus von Aros zu umkreisen schien. Es war der erste Ausbruch, der Prolog kommenden Sturms, und als wir uns zusammenschreckend umsahen, fanden wir, daß wie bei Abenddämmerung eine Finsternis sich um das Haus gelagert hatte.

»Gott erbarme sich aller armen Menschen auf dem Meere!« sagte Mary. »Meinen Vater werden wir bis morgen früh nicht zu Gesicht bekommen.«

Dann erzählte sie mir, während wir beim Feuer saßen und auf die steigenden Windstöße horchten, wie diese Veränderung mit meinem Onkel gekommen war. Den ganzen Winter über war er düster und unstet gewesen. Immer wenn die Roost stieg, oder, wie Mary sagte, die ›Tollen Männer‹ tanzten, pflegte er bei Nacht stundenlang auf dem vorspringenden Uferfelsen und bei Tage auf der Aroser Höhe auf der Lauer zu liegen, den Kampf der Wellen beobachtend und den Horizont nach einem Segel absuchend. Nachdem am zehnten Februar das Wrack mitsamt den Kostbarkeiten in Sandag ans Land gespült war, war er anfänglich unnatürlich vergnügt gewesen, und seine Aufregung hatte um keinen Grad nachgelassen, nur hatte sich dazu allmählich eine wachsende Melancholie gesellt. Er vernachlässigte seine Arbeit und hielt auch Rorie von der seinen ab. Die beiden pflegten sich stundenlang unter dem Giebeldache vorsichtig, ja mit schuldbewußter Miene zu unterhalten, und wenn sie dann ihrerseits an den einen oder anderen Fragen stellte, wie sie es wohl anfangs getan hatte, war man ihr verwirrt ausgewichen. Seitdem Rorie den Fisch bemerkt hatte, der der Fähre folgte, hatte sein Herr nur ein einziges Mal seinen Fuß auf das Festland gesetzt, und das war in der Zeit des stärksten Flutwechsels gewesen, als er bei Ebbe trocken hinübergehen konnte. Drüben hatte er sich dann verspätet und sich plötzlich durch die wiederkehrende Flut von Aros abgeschnitten gefunden. Mit einem Schrei des Entsetzens hatte er sprungweise die Furt überquert und war fiebernd vor Angst daheim angelangt. Die Furcht vor dem Meere, quälende, nagende Gedanken an das Meer verfolgten ihn auf Schritt und Tritt in seinen Reden und Gebeten, und selbst wenn er schwieg, zeugte sein Ausdruck von ihrer Gegenwart. Zum Essen erschien Rorie allein; kurz darauf jedoch kam mein Onkel, steckte sich eine Flasche unter den Arm und ein Stück Brot in die Tasche und machte sich, diesmal von Rorie gefolgt, auf den Rückweg zu seinem Beobachtungsposten. Ich hörte, daß der Schoner näher an Land zurückgetrieben worden war, daß die Besatzung den Kampf jedoch mit dem Mut und dem Geschick der Verzweiflung fortsetzte, und die Nachricht erfüllte meine Seele mit Dunkelheit.

Kurz nach Sonnenuntergang brach der Sturm mit voller Gewalt los, ein Sturm, wie ich ihn im Sommer und in der Schnelligkeit, mit der er heraufzog, selbst im Winter nie wieder erlebt habe. Mary und ich saßen schweigend da, während das Dach über unserem Kopf in allen Fugen krachte, das Unwetter draußen heulte und die Regentropfen zischend in das prasselnde Feuer fielen. Unsere Gedanken waren weit weg bei den armen Leuten auf dem Schoner oder bei meinem nicht minder unglücklichen Onkel, der obdachlos auf den. Felsenvorsprung auf der Lauer lag. Trotzdem schreckten wir von Zeit zu Zeit zusammen, wenn der Wind sich erhob und gleich einem festen Körper gegen den Giebel schlug oder plötzlich abflaute und sich zurückzog, sodaß das Feuer hell aufflammte und unsere Herzen hoch aufschlugen. Dann wieder packte der Sturm das Dach an allen vier Enden und schüttelte und rüttelte es wie ein zorniger Leviathan, und im nächsten Augenblick glitt er in kalten, matten Wirbeln schaudernd durchs Zimmer an uns vorbei, sodaß das Haar sich auf unsere Köpfen sträubte. Und wieder brach er in einen Chor melancholischer Stimmen aus, säuselte dumpf im Schornstein und umstrich mit sanften, flötengleichem Klageton das Haus.

Es mochte acht Uhr geworden sein, als Rorie erschien und mich geheimnisvoll zur Tür zog. Es schien, daß mein Onkel selbst seinem standhaften Gefährten Furcht eingeflößt hatte, und Rorie bat mich, voller Unruhe über sein phantastisches Gebaren, die Wache mit ihm zu teilen. Ich beeilte mich, seinem Wunsche zu willfahren, um so mehr als Furcht und Grauen und die elektrische Spannung der Nacht mich selber unruhig machten und zum Handeln trieben. Ich hieß Mary guten Mutes sein, da ich ja einen Schutz für ihren Vater bedeutete, hüllte mich fest in einen Plaid und folgte Rorie ins Freie.

Die Nacht war, obwohl Mittsommer dicht hinter uns lag, dunkel wie im Januar. Tastendes Zwielicht wechselte mit der tiefsten Finsternis, ohne daß man die Ursache hierfür aus den sausenden Schrecken des Himmels herauszulesen vermochte. Der Sturm sog einem den Atem aus den Nüstern; das ganze Himmelsgewölbe glich einem einzigen, ungeheuren, donnernden Segel, und wenn eine vorübergehende Stille sich auf Aros niedersenkte, konnten wir die Windstoße von ferne jammern hören. Über dem ganzen Niederland der Roost tobte der Orkan mit gleicher Stärke wie auf hoher See, und Gott allein weiß, mit welcher Wut er das Haupt Ben Kyaws umraste. Regen und Gischt hüllten uns wie nasse Laken ein. Rings um die Insel hämmerte die Brandung mit regelmäßigen, wuchtigen Donnerschlägen gegen Riffe und Strand. Bald laut, bald leise, wie die Klangsymphonie eines Orchesters, schwoll diese stetige Tonflut. Und hoch über allem Wirrwarr erklangen die wechselnden Stimmen der Roost und das abgerissene Gebrüll der ›Tollen Männer‹. In jener Stunde wurde mir blitzschnell klar, woher diese ihren Namen bezogen. Denn ihr Lärmen, das die anderen Geräusche der Nacht überschrie, erschien mir, wenn nicht gar ausgelassen lustig, so doch von unheimlicher, fast menschlicher Jovialität. Wie eine Schar wilder Männer, die ihren Verstand vertrunken und sich der Macht der Rede begeben haben, ihren Wahnsinn stundenlang in die Nacht hinausschreien, so schrien in meinen Ohren und tollten diese tödlichen Wirbel an Aros vorbei.

Arm in Arm erkämpften Rorie und ich uns taumelnd und mit Anstrengung Meter für Meter unseren Weg. Wir glitten auf dem schlüpfrigen Boden aus und fielen stolpernd über Steine. Zerschunden, zerschlagen, bis auf die Haut durchnäßt und außer Atem brauchten wir fast eine halbe Stunde, um die kurze Strecke von dem Aroser Gehöft bis zu dem Felsvorsprung, von dem aus man die Roost übersehen konnte, zurückzulegen. Hier war, wie es schien, der Lieblingsausguck meines Onkels. Dort, wo die Klippe am höchsten und steilsten ragt, bildet ein kleiner brüstungsähnlicher Erdhügel einen Unterschlupf gegen die gemeinen Winde, von wo aus ein Mensch in Ruhe die Brandung und den irren Streit der Wogen beobachten kann. Wie man von einem Fenster aus einen Vorfall auf der Straße verfolgt, so blickt man von diesem Posten herab auf das Steigen und Fallen der ›Tollen Männer‹. Freilich schaut man in einer Nacht wie dieser nur auf eine Welt der Finsternis, in der die Wasser kochen und schäumen, die Wogen mit der Wucht und dem Gepolter einer Explosion aneinander rennen und Türme von Gischt schnell wie Gedanken auf- und niedertauchen. Niemals zuvor hatte ich die ›Tollen Männer‹ in solcher Raserei gesehen. Die Wucht, Höhe und Geschwindigkeit ihrer Sprünge lassen sich nicht schildern. Hoch über unsere Köpfe stiegen ihre weißen Säulen in die Dunkelheit empor, um im nächsten Augenblick gespenstergleich wieder zu verschwinden. Mitunter sah man drei solcher Säulen zugleich in die Höhe streben und versinken; dann wieder packte sie ein Windstoß – und der Gischt schlug schwer wie eine Woge über uns zusammen. Dennoch wirkte das Schauspiel eher aufreizend in seiner Ausgelassenheit als gewaltig und eindrucksvoll. Jedes Denken wurde durch den ohrenzerreißenden Lärm unterbunden; eine fröhliche Leere bemächtigte sich des menschlichen Gehirns, ein Zustand, der an Irrsinn grenzte. Ich selbst ertappte mich dabei, wie ich dem Tanz der ›Tollen Männer‹ gleich einer Melodie auf einem Kirmesinstrument folgte.

Meinen Onkel wurde ich zuerst in jenem flüchtigen Dämmerlicht gewahr, das zeitweilig die pechschwarze Finsternis der Nacht unterbrach, als wir uns noch einige Meter von ihm entfernt befanden. Er stand, den Kopf nach hinten gebogen, die Flasche an den Lippen, aufrecht hinter der Brüstung. Als er die Flasche wegstellte, erkannte er uns und begrüßte uns mit spöttischem Handschwenken.

»Hat er getrunken?« schrie ich Rorie zu.

»Wenns bläst, ist er immer betrunken,« erwiderte Rorie gleichfalls mit erhobener Stimme; trotzdem hatte ich Mühe, ihn zu verstehen.

»War er – denn auch im Februar so?« fragte ich.

Rories »Ja« war mir eine Quelle der Freude. Der Mord war also nicht kaltblütiger Überlegung entsprungen; er war eine Tat des Wahnsinns, ebensowenig zu verurteilen wie zu verzeihen. Mein Onkel war, wenn man will, ein gefährlicher Irrer, nicht grausam und schlecht, wie ich gefürchtet hatte. Aber – welch eine Szene für eine Zecherei! Welch schreckliches, unglaubliches Laster hatte dieser arme Mensch sich ausersehen! Von jeher hatte ich die Trunkenheit für einen wilden, fast furchtbaren Genuß gehalten, mehr teuflisch als menschlich. Und nun gar Trunkenheit hier draußen, in dieser brüllenden Finsternis, auf einer Felsklippe über dieser Hölle von Gewässern, mit einem Kopf, in dem es wirbelte wie in der Roost, mit schwankendem Fuß am Rande des Verderbens, das Ohr gierig nach den Zeichen des Schiffsuntergangs gespannt –: wahrlich, diese Art von Trunkenheit war, wenn überhaupt in irgend einem Menschen glaublich, für meinen Onkel, der fest einem Glauben der Verdammnis anhing und von dunkelsten Befürchtungen gepeinigt war, eine moralische Unmöglichkeit. Und dennoch war es so; als wir die geschützte Stelle erreicht hatten und wieder atmen konnten, sah ich des Mannes Augen mit unheimlichem Glanz die Nacht durchleuchten.

»Ah, Charlie, Mann, es ist großartig!« rief er. »Sieh her!« fuhr er fort und zog mich an den Rand des Abgrunds, von wo der betäubende Lärm und die Wolken von Gischt aufstiegen, »sieh doch, wie sie tanzen, sieh doch. Mann! Ist es nicht die reine Sünde?«

Er sprach das Wort mit sichtbarem Behagen aus, und es war mir, als passe es in die Szene.

»Sie heulen nach dem Schoner,« redete er in seiner dünnen, irren Stimme weiter, die unter dem schützenden Abhang klar vernehmbar war, »und er kommt auch immer näher, jawohl, immer näher, näher und immer näher; und sie wissen es auch; die da unten wissen es ganz genau; sie wissen, daß es mit ihm vorbei ist. Charlie, Bursch, sie sind alle betrunken auf dem Schoner, alle stockbetrunken. Auf der ›Christ-Anna‹ hatten die am Heck auch alle einen Rausch. Niemand kann ohne Schnaps auf dem Meere untergehen. Rede du nur,« fuhr er in plötzlichem Zorne auf, »was verstehst du davon? Ich sage dir, daß es anders nicht möglich ist; sie wagen’s nicht, ohne Schnaps zu ertrinken. Hier,« meinte er, mir die Flasche hinhaltend, »nimm einen Schluck.«

Ich war im Begriff, abzulehnen, als Rorie warnend mich berührte, und wirklich hatte ich mich bereits eines Besseren besonnen. Ich nahm daher die Flasche und tat nicht nur einen kräftigen Zug, sondern verschüttete dabei noch glücklich den größeren Teil ihres Inhalts, Es war reiner Alkohol und benahm mir beim Schlucken fast den Atem. Mein Verwandter merkte den Verlust nicht, sondern bog abermals den Kopf zurück und trank den Rest bis zur Neige. Dann warf er laut lachend die Flasche zu den ›Tollen Männern‹ hinab, die ihren Empfang durch lärmende steile Sprünge zu begrüßen schienen.

»Hier, Kinder,« schrie er, »hier ist euer Teil! Vor Morgengrauen werdet ihr einen fetteren Bissen erhalten!«

Da, während einer plötzlichen Windstille, tönte aus einer Entfernung von noch nicht zweihundert Metern eine klare menschliche Stimme aus der Finsternis zu uns herauf. Im nächsten Augenblick stürmte der Wind brausend über die Felsklippe hin, und die Roost brüllte und sprudelte und tanzte in erneuter Wut. Doch wir hatten den Ton gehört und wußten mit qualvoller Sicherheit, daß jetzt das verlorene Schiff vor seinem Untergange stand und daß das, was wir gehört hatten, der letzte Kommandoruf seines Herrn gewesen war. Vorn über den Rand gebeugt, alle Sinne bis aufs Äußerste gespannt, erwarteten wir dicht aneinander gedrängt das unvermeidliche Ende. Eine lange Zeit, scheinbar eine Ewigkeit, verging, bis der Schoner plötzlich auf einen einzigen kurzen Augenblick vor einem Hintergrund ragenden, leuchtenden Schaumes auftauchte.

Noch sehe ich das gereffte, lose flatternde Großsegel, als der Mastbaum schwer auf das Deck hinstürzte; noch sehe ich die schwarzen Umrisse des Schiffsbugs und meine, auf der Ruderpinne den ausgestreckten Körper eines Mannes unterscheiden zu können. Dennoch zog das ganze Bild mit Blitzesschnelle vorüber; die gleiche Woge, die es uns enthüllte, begrub das Schiff für immer unter sich; der Todesschrei vieler Stimmen stieg zu uns empor und wurde vom Brausen der ›Tollen Männer‹ erstickt. Und damit nahm die Tragödie ihr Ende. Das starke Schiff mitsamt all seinem Gerät, mit so zahlreichen Menschenleben, die anderen sicherlich teuer und zum mindesten den Eigentümern selbst kostbar wie der Himmel waren, war, während in der Kabine vielleicht noch die Lampe brannte, im Nu in den brodelnden Wassern versunken. Wie ein Traum war es entschwunden. Und der Wind fuhr fort zu stürmen und zu heulen, und die gefühllosen Wasser der Roost stiegen und sanken wie zuvor.

Wie lange wir drei dort sprachlos und bewegungslos verharrten, weiß ich nicht, aber es muß eine lange Zeit gewesen sein. Schließlich krochen wir hintereinander, fast mechanisch, zu dem schützenden Abhang zurück. Während ich so, tief unglücklich und nicht völlig Herr meiner Sinne, gegen die Brüstung lehnte, konnte ich meinen Verwandten in veränderter, trüber Stimmung vor sich herschwatzen hören. Einmal wiederholte er mit weinerlicher Eintönigkeit: »Wie sie kämpfen mußten – wie schwer sie kämpfen mußten, die armen Burschen, die armen Burschen!« – Dann wieder jammerte er: »Daß das ganze Zeug hin wäre«, weil das Schiff, statt am Ufer zu stranden, bei den ›Tollen Männern‹ untergegangen war; und in all diese irren Reden hinein spielte ein Name – Christ-Anna – mit schaudernder Ehrfurcht ausgesprochen. Währenddem ließ der Sturm mit merklicher Schnelligkeit nach. Nach einer halben Stunde war der Wind zu einer Brise abgeflaut, und den Wechsel begleitete oder verursachte ein schwerer, kalter, klatschender Regen. Ich muß dann eingeschlafen sein, und als ich völlig durchnäßt, steif und ohne jede Erfrischung erwachte, war der Tag angebrochen, ein grauer, nasser, trostloser Tag. Der Wind blies in matten, unruhigen Stößen, es war Ebbe, die Roost hatte ihren niedrigsten Stand erreicht, und nur die starke Brandung, die rings um Aros gegen die Küste hämmerte, war Zeuge von den Schrecknissen der Nacht.

Fünftes Kapitel


Ein Mann aus dem Meere

Rorie machte sich auf den Heimweg, zu einem warmen Zimmer und Frühstück; mein Onkel dagegen hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Küste von Aros abzusuchen, und ich empfand es als meine Pflicht, ihn überall zu begleiten. Er war jetzt gefügig und ruhig, wenn auch körperlich und geistig von unsicherer Schwäche, und betrieb seine Untersuchungen mit kindischem Eifer. Er kletterte die Felsen weit hinunter und lief am Strande den fliehenden Wellen nach. Jede zerbrochene Planke, jeder Fetzen Taus waren in seinen Augen ein Schatz, den es sich bei Gefahr des Lebens zu sichern galt. Zu sehen, wie er so mit schwankenden Schritten der Brandung nachjagte und sich den Schlingen und Fallen der tangbewachsenen Felsen aussetzte, hielt mich in ständiger Aufregung. Mein Arm war stets bereit, ihn zu stützen, meine Hand hielt ihn beim Rocke fest; ich half ihm, seine armseligen Funde aus dem Bereich der wiederkehrenden Wellen herauszuziehen. Eine Amme, die ein siebenjähriges Kind zu betreuen hat, hätte die gleiche Aufgabe gehabt.

Wenn auch die Reaktion auf den Wahnsinn der verflossenen Nacht ihn schwächte, so erwiesen sich doch die in ihm schwelenden Leidenschaften stark wie die eines gesunden Mannes. Seine Furcht vor dem Meere lebte, wenn auch vorübergehend überwunden, doch in unverminderter Kraft fort. Wäre das Meer ein See lebendigen Feuers gewesen, er hatte nicht ängstlicher vor einer Berührung mit ihm zurückschrecken können, und als er einmal ausglitt und bis zur Wade in einen Wassertümpel hineinfuhr, glich der Schrei, den er aus tiefster Seele ausstieß, einem Todesschrei. Eine Weile danach saß er schwer schnaufend wie ein Hund da, jedoch die Beutegier siegte abermals über seine Furcht; und abermals wankte er in den quirlenden Gischt hinaus; abermals kroch er unter den platzenden Wasserblasen auf den Felsen umher, sein Sinnen und Trachten anscheinend ausschließlich auf Treibholz gerichtet, das im besten Falle noch dazu gedient hätte, ins Feuer geworfen zu werden. Dabei schalt er, trotz seines Entzückens über seine Funde, unablässig über sein Mißgeschick.

»Aros,« sagte er, »ist kein guter Ort für Schiffsunglücke, gar kein guter Ort. Die ganzen Jahre über, in denen ich hier gewohnt habe, ist dies das zweite, und dabei sind die besten Sachen hin, glatt hin!«

»Onkel,« sagte ich, da wir inzwischen ein Stück offenen Strandes erreicht hatten, wo nichts ihn ablenken konnte, »ich sah dich gestern, wie ich dich niemals zu sehen erwartet hatte – du warst betrunken.«

»Nein, nein,« sagte er, »so schlimm war’s nicht. Ich hatte allerdings getrunken. Um die Wahrheit zu sagen, ich kann es nicht ändern. Keiner ist für gewöhnlich so nüchtern wie ich; aber wenn ich den Wind pfeifen höre, werd ich, glaub ich, verrückt.«

»Du bist religiös,« antwortete ich, »und Trinken ist eine Sünde.«

»Ja, wenn’s keine Sünde wäre,« entgegnete er, »würd‘ ich wohl gar nicht danach fragen. Es ist schierer Trotz, siehst du. In dem Meere dort lebt ein gut Stück von der alten Erbsünde; unchristlich bleibt’s, und wenn man’s noch so milde betrachtet. Wenn es nun gar tobt und der Wind schreit – das Meer und der Wind sind so eine Art Vettern, mein ich, – und die ›Tollen Männer‹, die verrückten Burschen, brüllen und lachen, und die armen Seelen so die liebe lange Nacht da draußen in der Öde auf ihren Nußschälchen gegen den Tod ankämpfen – ja dann kommt’s über mich wie Besessenheit. Ich bin ein Teufel, ich weiß es. An die armen Schifferleute denk ich gar nicht; ich bin für das Meer, ich bin wie einer seiner eigensten ›Tollen Männer‹ .«

Ich glaubte, ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen zu können. Ich wandte mich dem Meere zu; die Brandung rollte lustig weiter, Welle für Welle jagte mit fliegender Mähne gegen den Strand, bäumte und bog sich und stürzte über die nächste hinweg auf den zerstampften Sand. Draußen waren die Salzluft, die aufgeschreckten Möwen, das zerstreute Heer der Seestreitrosse, die sich wiehernd begrüßten, während sie sich zum Sturmlauf gegen Aros sammelten; und dicht vor uns schlängelte sich jene Linie über die Sandfläche, über die hinaus sie trotz ihrer großen Zahl und Wut niemals zu dringen vermochten.

»Bis hierher sollst du und nicht weiter,« sagte ich; »hier sollen sich legen deine stolzen Wellen.« Und dann zitierte ich, so feierlich als ich es nur irgend vermochte, eine Strophe, die ich schon oft zuvor dem Chor der Wellen angepaßt hatte:

»Der Herr, der ob den Wolken thront,
»Gebeut dem sündigen All,
»Erhabener als der Wasser Wucht
»Und wilder Wogen Schwall.«

»Ja,« sagte mein Verwandter, »zuletzt wird der Herr triumphieren; daran zweifle ich nicht. Aber hier auf Erden wagen die törichten Menschen ihm ins Gesicht zu trotzen. Es ist nicht klug; ich sage nicht, daß es klug ist; aber es ist Lebenslust, Augenweide, Würze der Freude.«

Ich schwieg hierauf. Wir hatten begonnen, den schmalen Streifen Land zu überschreiten, der zwischen uns und Sandag lag. Ich hielt daher mit den wenigen mir übrig gebliebenen Argumenten zurück, kraft derer ich die bessere Natur dieses Mannes zu rühren hoffte, bis wir auf dem Schauplatz seines Verbrechens angelangt waren. Auch er verfolgte das Thema nicht weiter, sondern ging in festerer Haltung neben mir. Der Appell an seine Vernunft wirkte wie ein Kräftigungsmittel. Ich sah, daß er das Suchen nach wertlosem Plunder über einer tiefen, düsteren und dennoch anregenden Grübelei vergessen hatte. In drei bis vier Minuten hatten wir den Abhang erklommen und befanden uns bereits auf dem Abstieg nach Sandag. Das Wrack war durch die See arg mitgenommen; der Rumpf war herumgeschleudert und weiter ins Meer gezogen worden; vielleicht lag auch das Heck etwas höher, denn die beiden Teile waren jetzt ganz von einander losgerissen. Als wir neben dem Grabe angelangt waren, hielt ich inne, entblößte trotz des heftigen Regens mein Haupt und sprach zu meinem Oheim, ihn fest ins Auge fassend: »Ein Mann wurde durch die Vorsehung Gottes von Todesgefahr errettet; er war arm, er war nackend, er war durchnäßt und müde, er war ein Fremdling. Er hatte alles Recht der Welt auf das Mitleid deines Herzens; vielleicht war er das Salz der Erde, heilig, hilfreich und gut; vielleicht war er von Sünden beladen, ein Mensch, für den der Tod den Anfang der Hollenpein bedeutete. Ich frage dich hier im Angesichte des Himmels: Gordon Darnaway, wo ist der Mann, für den Christus gestorben ist?«

Bei den letzten Worten schrak er merklich zusammen; aber es kam keine Antwort, und sein Gesicht drückte kein anderes Gefühl als unruhige Besorgnis aus.

»Du warst meines Vaters Bruder,« fuhr ich fort; »du hast mich gelehrt, dein Haus als mein Vaterhaus zu betrachten, und wir sind beides sündige Menschen, die vor des Herrn Angesicht in den Sünden und Fährnissen des Lebens wandeln. Durch das Böse, was wir tun, führt Gott uns zum Guten; wir sündigen, ich wage nicht zu sagen durch seine Versuchung, aber ich kann getrost sagen mit seiner Zustimmung, und für jeden, den viehischen Menschen ausgenommen, sind seine Sünden der Anfang der Weisheit. Gott hat dich durch dies Verbrechen gewarnt; er warnt dich auch jetzt noch durch das blutige Grab zu unseren Füßen; und wenn keine Reue, keine Besserung, keine Umkehr zu Ihm folgen sollte, wessen sollen wir uns dann in der Folge versehen, wenn nicht eines denkwürdigen Gerichts?«

Noch während ich diese Worte sprach, glitten meines Onkels Augen von meinem Gesicht hinweg. Sein Aussehen erfuhr eine unbeschreibliche Veränderung: die Gesichtszüge schienen zusammenzuschrumpfen, die Farbe wich aus seinen Wangen, zitternd hob er die eine Hand und wies damit über meine Schulter hinweg in die Ferne, und wieder fiel der vielgenannte Name von seinen Lippen: Die Christ-Anna!

Ich drehte mich um, und wenn ich mich auch nicht im gleichen Maße wie er entsetzte, wozu der Grund bei mir, dem Himmel sei Dank, wegfiel, war ich dennoch erschrocken über den Anblick, der sich mir bot. Die Figur eines Mannes stand aufrecht auf dem Kabinenverschlag des gescheiterten Schiffes, den Rücken zu uns gekehrt. Er schien, die Hand über den Augen, die offene See abzusuchen, und seine Gestalt, die sehr hoch war, hob sich in ihrer ganzen Größe gegen den Horizont ab. Wohl tausendmal habe ich betont, daß ich nicht abergläubisch bin, aber in diesem Augenblick, da mein ganzes Denken auf Tod und Sünde gerichtet war, erfüllte mich die unerklärliche Erscheinung eines Fremden auf dieser meerumschlossenen, einsamen Insel mit einem Erstaunen, das an Schrecken grenzte. Es schien kaum möglich, daß eine Menschenseele bei einem Seegang, wie er gestern Nacht an der Küste von Aros tobte, lebendig das Land erreichen konnte, und das einzige Fahrzeug meilenweit in der Runde war vor unseren Augen bei den ›Tollen Männern‹ untergegangen. Zweifel stürmten auf mich ein, die jede Ungewißheit unerträglich machten; ich trat, um die Frage ein für allemal sofort zu entscheiden, vor und rief die Gestalt an, wie man ein Schiff anruft.

Der Mann drehte sich um, und ich meinte ihn bei unserem Anblick zusammenschrecken zu sehen. Sofort kam mir mein Mut wieder, und ich machte ihm durch Zeichen und Rufe klar, näher zu kommen. Er sprang auch sogleich auf den Strand hinunter und begann, sich uns zögernd und mit vielen Pausen zu nähern. Bei jedem neuen Beweis seiner Unruhe wurde ich selbstsicherer und trat abermals einen Schritt vor, indem ich ihm mit dem Kopf und mit der Hand Mut zuwinkte. Es war klar, daß der Schiffbrüchige nicht sonderlich viel Gutes über die Gastlichkeit unserer Insel gehört hatte, und in jenen Zeiten genoß die Bevölkerung im hohen Norden in der Tat in dieser Hinsicht einen schlechten Ruf.

» Sieh doch,« sagte ich, » der Mann ist ein Schwarzer!« Gerade in diesem Augenblick brach mein Verwandter mit einer Stimme, die kaum wiederzuerkennen war, in einen ununterbrochenen Strom von Flüchen und Gebeten aus. Ich sah ihn an; er war auf die Knie gesunken, sein Gesicht war qualverzerrt. Bei jedem Schritt, den der Schiffbrüchige näher trat, schrillte seine Stimme lauter, verdoppelten sich Beredsamkeit und Inbrunst seiner Sprache. Ich nenne seine Worte Gebete, denn sie waren an Gott gerichtet; sicherlich aber hat nie zuvor eine Kreatur solche himmelschreiende Widersinnigkeiten seinem Schöpfer zugerufen: wahrlich, wenn Gebet Sünde sein kann, dann war es diese wahnsinnige Rede. Ich lief auf ihn zu, packte ihn an den Schultern und zerrte ihn auf die Füße.

»Schweig, Mann,« rief ich, »ehre deinen Gott mit Worten, wenn nicht mit Taten. Hier, auf dem Schauplatz deiner Schuld, sendet Er dir die Möglichkeit zur Sühne. Vorwärts, nimm sie wahr! Geh jenem Geschöpf, das zitternd dein Erbarmen heischt, wie ein Vater entgegen.«

Mit diesen Worten versuchte ich, ihn zu dem Schwarzen hinzudrängen, aber er schlug mich zu Boden, entriß sich meiner Faust, indem er einen Fetzen seiner Jacke in meiner Hand zurückließ, und floh wie ein Hirsch den Aroser Berg hinauf. Ich erhob mich taumelnd, betäubt und verletzt; der Neger war überrascht, vielleicht auch erschrocken auf halbem Wege zwischen mir und dem Wrack stehen geblieben; mein Onkel hatte, in großen Sprüngen von Fels zu Felsen schnellend, bereits einen beträchtlichen Teil des Weges zurückgelegt, und ich sah mich also im Augenblick zwischen Pflicht und Pflicht zerrissen. Ich entschied mich – und ich hoffe zu Gott, daß ich recht getan – zu gunsten des armen Burschen am Strande, war doch sein Unglück zum mindesten nicht von ihm selbst geschaffen und von der Art, daß ich es bestimmt zu lindern vermochte; außerdem hatte ich begonnen, meinen Onkel als einen unheilbaren, hoffnungslosen Wahnsinnigen zu betrachten. Ich schritt daher auf den Schwarzen zu, der mein Kommen mit verschlungenen Armen, wie einer, der auf jedes Schicksal gefaßt ist, erwartete. Bei meinem Herannahen streckte er mir mit großer Gebärde, wie ich sie auf der Kanzel gesehen habe, die Hand entgegen und sagte etwas im Predigerton, von dem ich kein Wort verstand. Ich versuchte, ihn zuerst englisch und dann gälisch anzureden, beides aber vergeblich, und ich sah ein, daß wir uns auf die Sprache des Ausdrucks und der Gesten verlassen mußten. Hierauf bedeutete ich ihm, daß er mir folgen solle, was er bereitwilligst, mit einer ernsten Verneigung gleich einem gefallenen König, tat. Währenddessen war keinerlei Veränderung über sein Gesicht gegangen; während des Wartens hatte er weder Besorgnis, noch jetzt, da er der Furcht behoben war, Erleichterung gezeigt. War er, wie ich annahm, ein Sklave, so konnte ich nicht umhin zu glauben, daß er in seinem Heimatlande von erhabener Stellung gestürzt war, und trotz seiner Erniedrigung rang seine Haltung mir Bewunderung ab. Als wir an dem Grabe vorbeikamen, hielt ich inne und wies mit der Hand und den Augen zum Himmel, als Zeichen meiner ehrfürchtigen Trauer um den Toten, und als Antwort verbeugte er sich tief mit ausgebreiteten Armen. Die Bewegung war befremdlich und wirkte doch wie eine althergebrachte Sitte; wahrscheinlich gehörte sie zum Zeremoniell des Landes, woher er kam. Gleichzeitig wies er auf meinen Onkel, dessen hockende Gestalt wir auf einer Erhöhung über uns sehen konnten, und berührte mit dem Finger seine Stirn, zum Zeichen daß er ihn für verrückt hielt.

Wir gingen den langen Weg am Strande nach Hause, da ich auf dem Abkürzungspfad quer über die Insel meinen Onkel aufzuschrecken fürchtete, und beim Gehen hatte ich Muße, die kleine dramatische Szene, durch die ich meinen Vermutungen Gewißheit zu verschaffen hoffte, in mir ausreifen zu lassen. Ich blieb daher auf einem der Felsen stehen und fing an, vor dem Neger die Handlungen des Mannes nachzuahmen, den ich tags zuvor in Sandag beim Aufnehmen der geographischen Lage belauscht hatte. Er verstand mich sofort, und mir die Komödie aus den Händen nehmend, zeigte er mir, wo das Boot war, wies auf das Meer hinaus, wie um die Lage des Schoners anzugeben, und dann auf das Felsufer hin, wobei er mit fremdländischer aber klar erkennbarer Betonung die Worte »Espiritu Santo« aussprach. Ich hatte also mit meinen Mutmaßungen recht gehabt; die angebliche historische Untersuchung war nur ein Mäntelchen für die Schatzsucherei gewesen; der Mann, der Dr. Robertson hinters Licht geführt hatte, war derselbe, der im Frühjahr in Grisapol aufgetaucht war, und der jetzt mit vielen anderen unter der Roost von Aros begraben lag: dahin hatte ihre Goldgier sie gebracht, dort waren ihre Knochen zu ewigem, unruhigem Schlummer eingegangen. Inzwischen fuhr der Schwarze mit seiner Nachahmung der Szene fort; jetzt blickte er himmelwärts, wie wenn er das Herannahen eines Unwetters beobachtete; dann, in dem Charakter eines Seemannes, winkte er den anderen zu, an Bord zu kommen; im nächsten Augenblick lief er als Offizier am Ufer entlang, um in das Boot zu springen, und wieder bog er sich als eifriger Bootsmann über die Ruder. Die ganze Zeit über jedoch bewahrte er die gleiche feierliche Miene, so daß er mir kein einziges Lächeln entlockte. Schließlich deutete er in einer nicht mit Worten zu beschreibenden Pantomime an, wie er selbst zu dem Wrack hinaufgegangen sei, um es zu untersuchen, und wie seine Kameraden ihn zu seinem Leidwesen und seiner Empörung im Stich gelassen; und zuletzt faltete er noch einmal die Arme über der Brust und neigte den Kopf wie jemand, der sich in sein Schicksal ergeben hat.

Nachdem somit das Geheimnis seiner Gegenwart aufgeklärt war, machte ich ihm durch eine Skizze das Schicksal des Schiffes und aller, die an Bord gewesen waren, klar. Er zeigte weder Überraschung noch Kummer, sondern schien durch ein plötzliches Öffnen und Heben der Hand seine früheren Freunde oder Gebieter (welches sie nun gewesen sein mochten) dem Willen Gottes anzuempfehlen. Eine wachsende Achtung stieg in mir auf, je länger ich ihn beobachtete. Ich sah, daß er starken Geistes und ernsten, gesetzten Charakters war, wie ich sie zum Umgang liebte, und noch ehe wir das Aroser Gehöft erreichten, hatte ich ihm seine unheimliche Farbe, wenn ich sie auch nicht ganz vergessen konnte, gänzlich verziehen.

Mary erzählte ich rückhaltlos das Vorgefallene, wenn auch, wie ich zugeben muß, das Herz mir dabei versagte; aber ich hatte unrecht, an ihrem Gerechtigkeitsgefühl zu zweifeln.

»Du hast recht getan,« sagte sie, »Gottes Wille geschehe.« Und sie machte sich sogleich daran, uns aufzuwarten.

Sobald ich mich gesättigt hatte, bat ich Rorie, den Schiffbrüchigen, der immer noch aß, im Auge zu behalten, und machte mich auf die Suche nach meinem Onkel. Ich sah ihn, noch ehe ich weit gegangen war, auf der selben Stelle auf dem höchsten Gipfel in anscheinend der selben Haltung sitzen. Von jenem Punkte aus breitete, wie gesagt, der größere Teil von Aros und der Roost sich wie eine Landkarte zu seinen Füßen aus. Es war klar, daß er nach allen Richtungen scharfen Ausguck hielt, denn kaum war mein Kopf über dem Rande der ersten Anhöhe aufgetaucht, als er aufsprang und sich umwandte, als wolle er mir entgegentreten. Sofort rief ich ihn an, so gut es ging und in dem gleichen Ton und mit den gleichen Worten, deren ich mich häufig bediente, wenn ich ihn zu Tisch bat. Er antwortete nicht einmal durch eine Bewegung. Ich trat etwas weiter vor und versuchte abermals zu verhandeln, mit dem gleichen Resultat. Als ich mich ihm indes zum zweiten Male näherte, flammte seine irrsinnige Furcht wieder auf, und noch immer schweigend wie das Grab, aber mit unglaublicher Schnelligkeit begann er vor mir den steinigen Bergrücken entlang zu fliehen. Eine Stunde zuvor war er todmüde und ich relativ frisch gewesen. Jetzt aber schöpfte er frische Kraft aus der Glut des Wahnsinns, und jeder Gedanke an Verfolgung wäre umsonst gewesen. Ja, der Versuch allein hätte vielleicht schon genügt, um seine Furcht aufzupeitschen und damit auch das Gefährliche unserer Lage zu verschärfen. Mir blieb daher nichts übrig, als nach Hause zu gehen, und Mary meinen traurigen Bericht zu erstatten.

Sie nahm ihn, wie auch den ersten, mit ruhiger Fassung entgegen und brach, indem sie mich aufforderte, mich hinzulegen und der Ruhe zu pflegen, die ich so dringend nötig hatte, selbst auf, um ihren irregeleiteten Vater zu suchen. In jenen Jahren hätte viel dazu gehört, um mich des Schlafes und des Appetits zu berauben. Ich schlummerte lang und fest, und Mittag war längst vergangen, als ich aufwachte und mich die Treppe hinunter zur Küche begab. Mary, Rorie und der schwarze Schiffbrüchige saßen schweigend um das Feuer herum und ich sah, daß Mary geweint hatte, wie ich bald erfuhr, mit gutem Grund. Erst sie und dann Rorie waren aufgebrochen, um meinen Onkel zu suchen; nacheinander hatten sie ihn oben auf dem Hügel hockend gefunden, und vor beiden war er stumm und eilig geflohen. Rorie hatte vergeblich versucht, ihn einzuholen; der Wahnsinn lieh seinen Sprüngen eine nie geahnte Kraft. Er setzte von Fels zu Fels über die breitesten Abgründe hinweg, jagte wie der Wind über die Hügel, floh die Kreuz und die Quer wie ein gehetzter Hase vor den Hunden; schließlich mußte Rorie es aufgeben, und das letzte, was er von ihm sah, war, wie er wieder wie zuvor auf der Aroser Anhöhe saß. Selbst in der tollsten Jagd, selbst als der schnellfüßige Diener für einen Augenblick sehr nahe daran war, ihn einzufangen, hatte der arme Irre keinen Laut von sich gegeben. Er floh stumm wie ein Tier, und dieses Schweigen hatte seinem Verfolger Entsetzen eingeflößt. Die Lage hatte etwas Herzzerreißendes. Wie war dieser Geisteskranke einzufangen? Wie sollten wir ihn inzwischen ernähren, und was würden wir später mit ihm anfangen? Das waren die drei Schwierigkeiten, die es zu lösen galt.

»Der Schwarze«, sagte ich, »ist die Ursache dieses Anfalls. Vielleicht ist es sogar seine Anwesenheit im Hause, die meinen Onkel auf dem Berge festhält. Wir haben getan, was recht und billig ist; wir haben ihn unter diesem Dache erwärmt und gespeist; jetzt schlage ich vor, daß Rorie ihn mit dem Fischerboot übersetzt und ihn über die Roost nach Grisapol geleitet.«

Mary stimmte diesem Vorschlage von Herzen zu; wir forderten daher den Schwarzen auf, uns zu folgen, und begaben uns alle vier nach dem Landungssteg. Wahrlich, der Himmel hatte sich gegen Gordon Darnaway erklärt; etwas Unerhörtes hatte sich auf Aros ereignet: während des Unwetters hatte sich das Boot losgerissen, war gegen die rauhen Pfähle des Steges gerannt und lag jetzt mit eingebeultem Bug vier Fuß tief im Wasser. Mindestens drei Tage waren nötig, um es wieder flott zu machen. Aber ich ließ mich nicht entmutigen. Ich führte die ganze Gesellschaft bis zu der Stelle, wo das Watt am schmalsten war, schwamm auf die andere Seite und winkte dem Schwarzen, mir zu folgen. Er gab mir durch Zeichen zu verstehen, daß er der Kunst nicht mächtig sei. Die Wahrheit sprach aus seinen Gesten, keinem von uns wäre es eingefallen, sie zu bezweifeln, und als auch diese Hoffnung vernichtet war, mußten wir unverrichteter Sache nach dem Hof zurückkehren. Der Neger schritt ohne Verlegenheit in unserer Mitte.

An jenem Tage konnten wir nur noch einen letzten Versuch unternehmen, uns mit dem unglücklichen Geisteskranken in Verbindung zu setzen. Wieder sahen wir ihn auf seinem Ausguck hocken; wieder floh er uns schweigend. Aber wir ließen zu seiner Pflege wenigstens Nahrung und einen schweren Mantel zurück; der Regen hatte zudem aufgehört, und es versprach, eine milde Nacht zu werden. Wir glaubten, uns jetzt bis zum Morgen ausruhen zu können; Ruhe tat uns vor allem not, damit wir den ungewöhnlichen Anstrengungen gewachsen waren, und da niemand Lust zum Reden verspürte, trennten wir uns zeitig.

Ich lag lange wach und grübelte über einen Feldzugsplan für den morgigen Tag nach. Ich wollte den Schwarzen auf der Sandager Seite aufstellen, von wo aus er meinen Onkel auf das Haus zutreiben sollte. Rorie und ich sollten im Westen und Osten die Kette, so gut es ging, schließen. Je mehr ich die Bodengestaltung der Insel überlegte, desto überzeugter wurde ich, daß es zwar schwer aber möglich war, ihn auf die Niederung an der Sandager Bucht zu treiben; war das erst einmal gelungen, so war ein Entkommen trotz der Kraft seines Wahnsinns kaum zu befürchten. Auf seiner Furcht vor dem Schwarzen baute ich meinen Plan auf, denn ich wußte, daß er, welche Richtung zur Flucht er auch immer wählen mochte, nicht auf den Mann zulaufen würde, den er von den Toten auferstanden glaubte; und so war denn wenigstens eine Richtung des Kompasses gesichert.

Als ich endlich einschlief, war es nur, um nach kurzer Zeit durch einen Traum von Schiffsunglücken, Schwarzen und Abenteuern unter dem Meeresspiegel wieder aufgeschreckt zu werden. Ich war so fieberhaft erschöpft und erregt, daß ich aufstand, die Treppe hinunterging und vor das Haus trat. Drinnen in der Küche schliefen Rorie und der Schwarze; draußen war eine wunderbar klare Sternennacht, die nur hier und da eine verirrte Wolke, Nachzüglerin des Sturmes, trübte. Es war dicht vor der Hochflut, und die ›Tollen Männer‹ schrien und tobten durch die dunkle, windlose Stille. Nie zuvor, selbst nicht als der Sturm am ärgsten raste, hatte ich ihrem Gesang mit dumpferer Beklemmung gelauscht. Jetzt, da alle Winde heimgegangen waren, da die Tiefe sich in ihren Sommerschlaf zurückgewiegt und die Sterne ihr sanftes Licht über Land und Meer ergossen, schrien diese Strudel immer noch nach Aufruhr und Verderben. Ja, schien es doch, als wären sie ein Teil des Bösen in der Welt und von allem Leid des Lebens. Und ihr sinnloses Lärmen war nicht der einzige Laut, der das Schweigen der Nacht durchbrach. In das Tosen der Roost mischte sieh, bald schrill und durchdringend, bald fast ersterbend, der Klang einer menschlichen Stimme. Ich erkannte sie als die meines Onkels; und eine große Furcht vor den Strafen Gottes und vor dem Bösen in der Welt bemächtigte sieh meiner. Ich flüchtete mich in das Dunkel des Hauses wie an eine Freistatt und lag lang grübelnd über diese Mysterien im Bette wach.

Es war spät, als ich zum zweiten Male erwachte, und ich sprang in meine Kleider und eilte in die Küche. Sie war leer; Rorie und der Schwarze waren beide vor längerer Zeit heimlich auf und davon; bei dieser Entdeckung stand mir das Herz still. Auf Rories Treue konnte ich mich verlassen, nicht aber auf seinen Verstand. Hatte er sich so wortlos hinweggestohlen, dann war es nur, um, meinem Onkel zu dienen. Welchen Dienst aber konnte er ihm allein, geschweige denn in Begleitung des Mannes, der für meinen Onkel die Verkörperung seiner Schrecken war, zu leisten hoffen? Selbst wenn es nicht schon zu spät war, um tödliches Unheil zu verhüten, galt es doch keinen Augenblick länger zu zögern. Bei diesem Gedanken war ich schon aus dem Hause heraus; und manchen Lauf entlang den rauhen Hängen von Aros habe ich gemacht, aber keinen, der sich mit dem an jenem verhängnisvollen Morgen vergleichen kann. Keine zwölf Minuten brauchte ich, glaube ich, für den ganzen Anstieg. Mein Onkel war von seinem Ausguck verschwunden. Zwar war der Korb erbrochen und das Fleisch auf dem Rasen verstreut, aber er hatte keinen Bissen davon gegessen, wie es sich später herausstellte. Daneben war rings in weitem Umkreis keine Spur von einem menschlichen Wesen zu entdecken. Der klare Himmel war bereits taghell erleuchtet; schon blühte die Sonne in rötlichem Schimmer auf dem Gipfel Ben Kyaws auf, während die zottigen Hügel von Aros rings unter mir und der Schild des Meeres im durchsichtig grauen Zwielicht der Morgendämmerung dalagen.

»Rorie!« schrie ich; und noch einmal »Rorie!« Meine Stimme erstarb im Schweigen; keine Antwort kam. Hatte man es tatsachlich unternommen, meinen Onkel zu fangen, so war es klar, daß sich die Jäger, statt auf ihre Schnellfüßigkeit in erster Linie auf ihre Geschicklichkeit im Pirschen verließen. Ich lief weiter, wobei ich mich an die höchsten Vorsprünge hielt und nach rechts und links ausspähte, und blieb erst auf dem Sandager Berge stehen. Vor mir lagen das Wrack, der kahle Sandgürtel, die träge schwellenden Wogen und das lang sich hinstreckende Felsgestade; zur Rechten und Linken in wildem Durcheinander Erdhügel, Anhöhen und Schluchten der Insel. Und nirgends ein menschliches Wesen.

Plötzlich erstrahlte die Sonne über Aros, und Schatten und Farben sprangen ins Leben. Keine halbe Minute später brach unter mir, im Westen, unter einer Schafherde eine Panik aus. Ein Schrei ertönte. Ich sah meinen Onkel daherstürmen. Ich sah den Schwarzen in wildem Eifer hinter ihm her jagen, und noch bevor ich alles begriffen hatte, tauchte Rorie auf, der ihm auf Gälisch, wie einem Hunde, der eine Schafherde treibt, Anweisungen zuschrie.

Ich sprang hinzu, um mich dazwischen zu werfen, doch hätte ich besser daran getan, zu bleiben, wo ich war, denn so war ich es, der dem Wahnsinnigen den letzten Ausweg abschnitt. Im Augenblick sah er nichts vor sich als das Grab, das Wrack und die See in der Sandager Bucht. Doch Gott weiß, daß ich alles zum Besten tat. Mein Onkel Gordon erkannte, in welche für ihn furchtbare Richtung die Jagd ihn trieb. Er machte kehrt und bog im Zickzack rechts und links aus. Allein so stark ihn das Fieber in seinen Adern auch stieß, der Schwarze war flinker als er. Mochte er sich noch so sehr drehen und wenden, stets kam er ihm zuvor und hetzte ihn weiter, dem Schauplatz seines Verbrechens zu. Plötzlich schrie der Unglückliche auf, daß die Ufer vielfältig widerhallten; und jetzt riefen sowohl Rorie und ich dem Schwarzen zu, er möge einhalten. Doch alles war vergebens, denn es stand anders geschrieben. Der Verfolger rannte immer weiter, die Jagd stürmte immer noch schreiend an uns vorüber; sie bogen an dem Grabe aus und streiften die Planken des Wracks; blitzschnell hatten sie den Sandgürtel überquert, und noch immer jagte mein Onkel weiter, stracks in die Brandung hinein, und der Schwarze auf Armeslänge hinter ihm her. Rorie und ich blieben beide stehen, denn die Sache war über Menschenkraft hinausgewachsen; hier waren Gottes Ratschlüsse, die sich vor unseren Augen vollzogen. Niemals gab es ein rascheres Ende. An jener steilen Küste brauchte es eines einzigen Sprunges, um sie in die Tiefe zu schnellen; keiner von ihnen konnte schwimmen. Noch einmal mit ersticktem Schrei bäumte der Schwarze sich auf, dann hatte sie die seewärts rasende Strömung gepackt; und sind sie je wieder an die Oberfläche gekommen, was Gott allein weiß, so muß es zehn Minuten später gewesen sein, am äußersten Ende der Roost, wo die Seevögel kreisen und fischen.