Zwanzigstes Kapitel


Silver als Parlamentär

Richtig – zwei Männer standen dicht an der Umpfählung; einer von ihnen schwenkte ein weißes Tuch; der andere – kein Geringerer als Silver selbst– stand ruhig neben ihm.

Es war noch recht früh, und es war der kälteste Morgen, den ich jemals im Freien verbracht habe; eine Kälte, die mir durch Mark und Bein drang. Der Himmel droben war klar und wolkenlos, und die Wipfel der Bäume leuchteten rosig in der Sonne. Aber die Stelle, wo Silver mit seinem Begleiter stand, lag noch ganz im Schatten, und sie wateten knietief in einem dichten weißen Nebel, der während der Nacht vom Sumpf heraufgekrochen war. Die Kälte und dieser Nebel redeten eine deutliche Sprache; sie bewiesen, daß diese Insel ein trübseliger Aufenthalt sein mußte, offenbar ein feuchter, fieberausdünstender, ungesunder Ort.

»Bleibt im Hause, Leute!« sagte der Kapitän. »Es ist zehn gegen eins zu wetten, daß sie eine Hinterlist vorhaben.«

Dann rief er die Piraten an:

»Wer da? Steht, oder wir schießen!«

»Parlamentär!« rief Silver.

Der Kapitän stand im Vorbau, deckte sich aber sorgfältig gegen einen Schuß aus dem Hinterhalt, falls ein solcher etwa beabsichtigt sein sollte. Er wandte sich zu uns und sagte:

»Doktors Wache zum Ausguck! Doktor Livesey, übernehmen Sie bitte die Nordseite; Jim die Ostseite; Gray die Westseite. Alle Musketen geladen! Fix, Leute, fix, Leute, und paßt sorgfältig auf!«

Dann wandte er sich wieder zu den Meuterern und rief:

»Und was wollt ihr mit eurem Parlamentär?«

Dieses Mal antwortete der andere Mann:

»Käpp’n Silver, Herr, möchte an Bord kommen und über die Bedingungen verhandeln!« rief er.

»Käpp’n Silver! Kenn ich nicht! Wer ist das?« rief der Kapitän. Und wir konnten hören, wie er leise vor sich hinsagte:

»Käpp’n, sagt er? I du liebe Güte, das ist schnelle Beförderung!«

Long John antwortete selber:

»Ich, Herr. Diese armen Jungens haben mich zu ihrem Käpp’n gemacht, nachdem Sie, Herr, desertiert waren.« Er legte einen besonderen Ton auf das Wort ›desertiert‹. »Wir sind willens, uns mit Ihnen zu einigen, wenn wir zu vernünftigen Bedingungen kommen können, und ohne Widerwärtigkeiten. Ich verlange weiter nichts als Ihr Wort, Käpp’n Smollett, daß Sie mich heil und gesund aus diesem Pfahlwerk hier wieder herauslassen, und daß ich eine Minute habe, bevor ein Gewehr abgefeuert wird.«

»Mein Mann,« sagte Kapitän Smollett, »ich habe nicht das geringste Verlangen, mit Euch zu reden. Wenn Ihr mit mir zu reden wünscht, so könnt Ihr kommen, und damit fertig. Wenn es irgendeine Verräterei gibt, so wird die auf Eurer Seite sein, und der Herrgott mag ihm gnädig sein.«

»Das genügt, Käpp’n!« rief Long John fröhlich. »Ein Wort von Ihnen genügt. Ich weiß, was ein Gentleman ist, darauf können Sie sich verlassen.«

Wir konnten sehen, daß der Mann mit der weißen Flagge Silver zurückzuhalten versuchte. Das war auch nicht zu verwundern, denn des Kapitäns Antwort war sehr kavaliermäßig gewesen, aber Silver lachte ihn laut aus und klopfte ihm auf den Rücken, wie wenn es lächerlich gewesen wäre, sich irgendwie zu beunruhigen. Dann trat er an die Palisaden heran, schwang seine Krücke herüber und stieg mit großer Kraft und Gewandtheit über den Zaun, auf dessen anderer Seite er wohlbehalten ankam. Ich will gestehen, daß ich von den Vorgängen zu sehr in Anspruch genommen war, um hier als Schildwache auch nur das geringste nützen zu können; ich hatte meine Schießscharte an der Ostwand verlassen und war hinter den Kapitän gekrochen, der sich jetzt auf die Schwelle gesetzt hatte. Er stützte seine Ellenbogen auf die Knie, seinen Kopf auf die Hände und sah auf die Quelle, die aus dem alten eisernen Kessel über den Sand sprudelte, und pfiff vor sich hin die Melodie: »Kommt, Jungens und Deerns!«

Silver hatte eine harte Arbeit, den Abhang hinaufzukommen. Zwischen den dicken Baumstümpfen und in dem losen Sand des steilen Hügels war er mit seiner Krücke so hilflos wie ein steuerloses Schiff. Aber er quälte sich tapfer ab, ohne ein Wort zu sagen, und stand vor dem Kapitän, den er mit großem Anstand grüßte. Er hatte seinen besten Anzug angezogen: ein ungeheuer großer blauer Rock mit unzähligen Messingknöpfen ging ihm bis zu den Knien herunter; ein Dreimaster, der mit schöner Goldspitze besetzt war, saß ihm auf dem Hinterkopf.

»So, da seid Ihr ja, mein Mann,« sagte der Kapitän, indem er aufblickte. »Es ist wohl am besten, wenn Ihr Platz nehmt.«

»Sie wollen mich nicht hereinkommen lassen?« sagte Long John in vorwurfsvollem Tone. »Es ist ganz gewiß ein verdammt kalter Morgen, Herr, so im Freien auf dem Sande zu sitzen!«

»Na, Silver,« sagte der Kapitän, »wenn es Euch genügt hätte, ein ehrlicher Mann zu bleiben, hättet Ihr in Eurer Kombüse sitzen können. Ihr seid selber schuld. Ihr seid entweder mein Schiffskoch – und als solcher wurdet Ihr anständig behandelt, – oder Ihr seid Käpp’n Silver, ein gemeiner Meuterer und Seeräuber, und dann könnt Ihr Euch hängen lassen!«

»Nu, schön, Käpp’n,« antwortete der Schiffskoch, indem er sich auf den Sand setzte, wie ihm befohlen war. »Sie werden mir die Hand reichen müssen, damit ich wieder hoch komme, das ist alles. Ein recht nettes Plätzchen haben Sie ja hier. Ah, da ist ja Jim! Recht schönen guten Morgen, Jim. Doktor, Ihr ergebener Diener. Na, da sitzen ja alle beisammen, wie eine glückliche Familie sozusagen.«

»Wenn Ihr mir etwas zu sagen habt, mein Mann, so ist es besser, Ihr sagt es!« sagte der Kapitän.

»Da haben Sie recht, Käpp’n Smollett!« antwortete Silver. »Pflicht ist Pflicht – ganz gewiß. Na, nun hören Sie mal: da haben Sie gestern abend einen guten Streich gemacht. Ich glaube nicht, daß es ein guter Streich war. Einige von Ihnen sind recht fix mit einer Handspeiche! Und ich will auch nicht leugnen, daß einige von meinen Leuten einen kleinen Schrecken bekamen – vielleicht bekamen sie alle einen; vielleicht bekam ich selber einen Schrecken; vielleicht ist das der Grund, warum ich hier bin, um über Ihre Bedingungen zu sprechen. Aber merken Sie sich das, Kapitän: ich werde das nicht zum zweitenmal tun, zum Donnerwetter nochmal! Wir werden einen Postendienst einrichten müssen und ein bißchen sparsamer mit dem Rum umgehen. Vielleicht denken Sie, wir hätten alle einen kleinen sitzen gehabt. Aber ich sage Ihnen, ich war nüchtern! Ich war bloß hundemüde. Wenn ich eine Sekunde früher aufgewacht wäre, hätte ich Sie dabei abgefaßt. Er war noch nicht tot, als ich zu ihm kam.«

»Nun?« sagte Kapitän Smollett, vollkommen gleichgültig und kalt.

Jedes Wort, das Silver sagte, war für den Kapitän ein Rätsel; aber das hätte seinem Ton kein Mensch anmerken können. Übrigens begann mir eine Ahnung aufzugehen. Ben Gunns letzte Worte kamen mir in den Sinn. Ich begann zu vermuten, daß er den Piraten einen Besuch abgestattet hatte, während sie alle betrunken um ihr Feuer herumlagen, und ich rechnete mir mit Vergnügen aus, daß wir nur noch mit vierzehn Feinden zu tun hatten.

»Na, also die Sache ist so,« sagte Silver: »Wir wollen den Schatz haben, und wir kriegen ihn – das ist für uns die Hauptsache! Sie möchten ebenso gerne Ihr Leben retten, denke ich mir; und das ist für Sie die Hauptsache. Sie haben eine Karte, nicht wahr?«

»Das mag wohl sein,« antwortete der Kapitän.

»Oh, Sie haben eine, das weiß ich! Sie brauchen nicht so kurz angebunden zu sein; das hat nicht den geringsten Zweck, darauf können Sie sich verlassen. Was ich meine, ist dies: wir wollen Ihre Karte haben! Nun, ich habe gegen Sie selber niemals etwas gehabt.«

»Euer Reden hat bei mir gar keinen Zweck, mein Mann,« unterbrach ihn der Kapitän. »Wir wissen ganz genau, was Ihr zu tun beabsichtigt, und wir machen uns nichts daraus; denn jetzt, seht mal, könnt Ihr es nicht tun.«

Und der Kapitän sah ihn dabei ganz ruhig an und stopfte sich eine Pfeife.

»Wenn Abe Gray –« rief Silver laut.

»Still davon!« rief Smollett; »Gray hat mir nichts gesagt, und ich hab‘ ihn nichts gefragt. Und ich will Euch was sagen: ehe ich das täte, wollte ich lieber Euch und ihn und die ganze Insel in die Luft fliegen sehen! Also hierüber wißt Ihr nun Bescheid, mein Mann!«

Dieser kleine Zornausbruch schien Silver etwas abzukühlen. Vorher hatte er sich beleidigt gestellt, aber jetzt nahm er sich zusammen und sagte:

»Das kann ich mir wohl denken. Ich habe nicht darüber zu urteilen, was nach der Meinung solcher Herren wie Sie Schiffsrecht ist oder nicht. Und da ich sehe, daß Sie eine Pfeife rauchen wollen, Käpp’n, so will ich so frei sein, desgleichen zu tun.«

Und er stopfte sich eine Pfeife und zündete sie an. So saßen die beiden Männer eine ganze Weile schweigend da und rauchten; zuweilen sahen sie einander ins Gesicht, zuweilen drückten sie ihren Tabak nieder, zuweilen beugten sie sich vor, um auszuspucken. Es war so gut wie eine Theatervorstellung, ihnen zuzusehen.

»Na also,« fing endlich Silver wieder an, »die Sache ist so: Sie geben uns die Karte, damit wir den Schatz kriegen können, und schießen keine armen Matrosen mehr tot, und schneiden ihnen nicht mehr die Kehle ab, wenn sie schlafen. Also das ist Ihre Leistung, und dafür stellen wir Ihnen folgendes zur Wahl: entweder kommen Sie zu uns an Bord, sobald der Schatz auf dem Schiffe ist, und dann geb ich Ihnen mein Affy-Davi, 5 auf mein Ehrenwort, Sie irgendwo, wo Sie Lust haben, heil und gesund an Land zu setzen, oder wenn Ihnen das nicht paßt, weil einige von meinen Leuten etwas rauh sind und eine alte Rechnung mit Ihnen haben, von wegen früheren Anschnauzens, dann können Sie auch hier bleiben. Wir wollen alle Vorräte mit Ihnen teilen, Mann für Mann; und ich gebe Ihnen mein Affy-Davy wie vorher, das erste Schiff, das ich treffe, anzurufen und hierher zu schicken, um Sie aufzunehmen. Nun, Sie werden zugeben, daß das ein Wort ist. Etwas Besseres können Sie ganz gewiß nicht erwarten! Und ich hoffe« – dabei erhob er seine Stimme –, »daß alle Leute in dem Blockhause hier meine Worte vernehmen; denn was ich einem sage, das gilt für alle!«

Kapitän Smollett stand auf und klopfte seine Pfeife in seine linke Handfläche aus.

»Ist das alles?« fragte er.

»Mein allerletztes Wort, zum Donner!« antwortete John. »Weisen Sie es zurück, so werden Sie von mir nichts mehr zu sehen kriegen, außer Musketenkugeln!«

»Sehr schön!« sagte der Kapitän. »Jetzt sollt Ihr hören, was ich Euch zu sagen habe: wenn ihr einer nach dem andern, einzeln, unbewaffnet hier heraufkommt, so will ich mich verpflichten, euch alle in Eisen zu legen und euch nach England zu bringen, damit ihr vor den Gerichtshof kommt. Wollt ihr das nicht – mein Name ist Alexander Smollett, ich habe hier meines Königs Flagge gehißt, und ich will euch alle zum Teufel schicken. Ihr könnt den Schatz nicht finden. Ihr könnt das Schiff nicht segeln – unter euch ist kein einziger imstande, das Schiff zu führen. Ihr könnt es im Kampf nicht mit uns aufnehmen – den Gray hier konnten fünf von euch nicht halten. Euer Schiff liegt fest, Meister Silver; Ihr liegt an einer Leeküste, und das werdet Ihr bald herausfinden. Hier stehe ich und sage Euch das; und dies sind die letzten guten Worte, die Ihr von mir kriegt. Denn, so wahr ein Gott im Himmel ist, ich will Euch eine Kugel in Euren Wanst jagen, wenn ich Euch noch einmal sehe. Marsch, mein Junge! Hinaus hier, bitte, Hand über Hand, und ein bißchen fix!«

Silvers Gesicht war zum Malen. Vor Wut quollen ihm die Augen aus dem Kopf. Er klopfte seine Pfeife aus und schrie:

»Reichen Sie mir eine Hand, daß ich aufstehen kann!«

»Denke nicht dran,« antwortete der Kapitän.

»Wer will mir aufhelfen?« brüllte er.

Keiner von uns rührte sich.

Die fürchterlichsten Flüche brüllend, kroch Silver über den Sand, bis er an den Vorbau kam und sich an diesem aufrichten konnte. Er stützte sich auf seine Krücke. Dann spie er in die Quelle und rief:

»Da! So denke ich von euch. Bevor eine Stunde vorüber ist, will ich euch in eurem Blockhaus ausräuchern. Lacht nur, zum Donner, lacht nur! Bevor eine Stunde vorüber ist, werden andere Leute lachen! Dann werden die, die tot sind, die Glücklichen sein!«

Und mit einem letzten fürchterlichen Fluch humpelte er davon und schleppte sich durch den Sand den Abhang hinunter. Der Mann mit der weißen Flagge half ihm, nach vier oder fünf vergeblichen Versuchen, über die Palisade hinüber, und einen Augenblick später waren beide zwischen den Bäumen verschwunden.

  1. Affidavit, eidliche Versicherung.

Drittes Kapitel


Der schwarze Fleck

So gegen die Mittagsstunde stand ich vor des Kapteins Türe mit einigen kühlenden Getränken und Medizinflaschen. Er lag noch so ziemlich in derselben Stellung, in der wir ihn verlassen hatten; nur hatte er sich etwas höher hinaufgeschoben. Er schien schwach, zugleich aber auch aufgeregt zu sein.

»Jim,« sagte er zu mir, »du bist hier im Hause der einzige, der was taugt, und du weißt, ich bin immer gut zu dir gewesen. Kein Monat ist vergangen, ohne daß ich dir ein silbernes Vier-Penny-Stück gegeben habe. Und nun sieh mal, Maat, mir geht es verdammt schlecht und ich bin von allen verlassen; und, Jim, du wirst mir ein einziges Nöselchen Rum bringen, nicht wahr, das tust du doch, mein Jungchen?«

»Der Doktor,« fing ich an.

Aber da fluchte er auf den Doktor – mit schwacher Stimme, aber es kam ihm vom Herzen.

»Doktors sind alle Schwätzer,« sagte er; »und der Doktor da – poh, was versteht der von seebefahrenen Menschen? Ich bin an Stellen gewesen, da war’s so heiß wie in der Hölle, und die Kameraden fielen rund um mich herum wie die Fliegen vom Gelben Hans 2 und das Land da schwankte von Erdbeben wie Meereswogen – was weiß so ein Doktor von solchen Ländern? Und ich blieb am Leben, sag‘ ich dir, und das machte der Rum. Der war für mich Essen und Trinken, und wir waren wie Mann und Frau; und wenn ich nicht meinen Rum haben soll, dann bin ich ein armseliges altes Wrack an einer Leeküste – und mein Blut kommt über dich, Jim, und über den Schwätzer da, den Doktor!«

Jetzt kam wieder eine Reihe von Flüchen, und dann fing er noch einmal an zu betteln:

»Sieh doch mal, Jim, wie mir die Finger zittern. Ich kann sie nicht stillhalten – kann’s einfach nicht. Habe an diesem lieben Tag noch keinen Tropfen gehabt. Der Doktor da ist ein Schafskopf, sag‘ ich dir. Wenn ich nicht einen Schluck Rum kriege, dann krieg‘ ich das graue Elend; hab’s schon ein paarmal gehabt. Ich sah den alten Flint in der Ecke da; da hinter dir; sah ihn klar und deutlich; und wenn ich das graue Elend kriege – na, ich habe ein hartes Leben gehabt, und mir wird schlecht bei dem Gedanken. Der Doktor sagte mir ja selber: ein einziges Glas würde mir nichts schaden. Ich will dir eine goldene Guinee für ein Nöselchen geben!«

Er wurde immer aufgeregter, und das machte mich unruhig meines Vaters wegen, mit dem es an diesem Tage sehr schlecht stand und der Ruhe nötig hatte; außerdem hatte ja der Doktor wirklich die Worte gesagt, die der Kaptein mir anführte. Der Bestechungsversuch ärgerte mich allerdings; aber ich sagte:

»Ich brauche Ihr Geld nicht; bezahlen Sie nur, was Sie meinem Vater schuldig sind. Ich will Ihnen ein Glas holen, aber nicht mehr.«

Als ich ihm das Glas Rum brachte, griff er gierig danach und trank es aus; dann sagte er:

»Ah! ah! das tut wohl! mir ist ganz gewiß schon etwas besser. Und nun höre mal, mein Jungchen: sagte der Doktor, wie lange ich hier in dieser alten Klappe liegen müsse?«

»Wenigstens eine Woche.«

»Alle Donner!« schrie der Kaptein. »Eine Woche! Das geht nicht: inzwischen würden sie mir den schwarzen Fleck bringen. Die Schweinehunde sind schon dabei, mir den Wind abzufangen – die Schweinehunde, die nicht sparsam umgehen konnten mit dem, was sie kriegten, und jetzt klauen wollen, was einem andern gehört! Benimmt ein ordentlicher Seemann sich so? Das möchte ich mal hören! Ich bin ein sparsamer Mensch. Ich habe niemals gutes Geld vergeudet, was ich mir verdient hatte; ich habe auch noch nie welches verloren, und ich will auch jetzt wieder dafür sorgen, daß sie sich den Mund wischen können. Vor denen habe ich keine Angst! Ich werde noch ein Segel aufsetzen, mein Jungchen, und sie können mir nachflöten!«

Während er diese Reden hielt, war er mit großer Mühe von seinem Bett aufgestanden; er hielt sich mit einem Griff, daß ich beinahe laut herausgeschrien hätte, an meiner Schulter fest, und ich merkte, daß seine Beine so schwer wie Blei sein mußten, denn er konnte sie kaum bewegen. Seine Worte an sich waren zwar sehr mutig, aber die schwache Stimme, in der er sie aussprach, bildete einen traurigen Gegensatz dazu. Als es ihm gelungen war, sich auf den Bettrand zu setzen, schwieg er einen Augenblick. Dann flüsterte er:

»Der Doktor hat mich alle gemacht, es saust mir in den Ohren. Lege mich auf den Rücken.«

Ich konnte ihm nicht viel helfen; denn ehe ich noch zugriff, war er schon wieder in seine frühere Lage zurückgesunken. Eine Weile lag er still da; endlich sagte er:

»Jim, du sahst heute den Seemann?«

»Den Schwarzen Hund?«

»Jawohl, den Schwarzen Hund! Der ist ein schlechter Kerl; aber die, die ihn angestiftet haben, sind noch schlimmer als er. Nun, wenn ich nicht auf irgendeine Weise von hier wegkommen kann und wenn sie mir den schwarzen Fleck in die Hand drücken, dann merke dir, was ich dir jetzt sage: Sie sind hinter meiner alten Schifferkiste her. Nun nimmst du dir ein Pferd – du kannst doch reiten, nicht wahr? Na also – du setzt dich auf ein Pferd und reitest zu – na, in Gottes Namen! – zu dem ewigen Schwätzer, dem Doktor, und sagst ihm, er solle alle Mann auf Deck pfeifen – Behörden und solches Zeug – und soll sich längsseits vom ›Admiral Benbow‹ legen, und er werde des alten Flint ganze Mannschaft fangen, groß und klein, alles, was noch davon übrig ist. Ich war erster Steuermann, ja, das war ich! Dem alten Flint sein erster Steuermann, und ich bin der einzige, der die Stelle kennt. Er gab es mir in Savannah, als er im Sterben lag, gerade wie ich jetzt, wie du siehst. Aber du mußt das nicht melden, bevor sie mir den schwarzen Fleck in die Hand geben, oder bevor du den Schwarzen Hund wiedersiehst, oder einen einbeinigen Seemann, Jim – diesen vor allen!«

»Aber, was ist der schwarze Fleck, Kaptein?« sagte ich.

»Das ist eine Aufforderung, Maat. Ich will dir’s erklären, wenn sie damit kommen. Aber die Hauptsache ist, daß du dein Wetterauge offen hältst, Jim, und verlaß dich drauf, ich will mit dir teilen, Jim, halb und halb, auf meine Ehre!«

Er phantasierte noch eine kleine Weile, und seine Stimme wurde immer schwächer. Dann gab ich ihm seine Medizin; er schluckte sie hinunter wie ein Kind und bemerkte dazu:

»Wenn jemals ein Seemann Medizin nötig hatte, dann bin ich das.«

Schließlich verfiel er in einen schweren, ohnmachtähnlichen Schlaf, und ich ließ ihn allein.

Was ich getan haben würde, wenn alles gut gegangen wäre, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich würde ich die ganze Geschichte dem Doktor erzählt haben; denn ich hatte eine Todesangst, es könnte dem Kaptein leid tun, mir seine vertraulichen Eröffnungen gemacht zu haben, und er würde mich totschlagen. Es kam aber so, daß mein armer Vater an diesem selben Abend ganz plötzlich starb, und da hatte ich keine Gedanken für etwas anderes. Unsere natürliche Trauer, die Beileidsbesuche der Nachbarn, die Anordnungen für das Begräbnis und dabei die ganze Arbeit in der Wirtschaft, die nebenbei besorgt werden mußte – dies alles gab mir so viel zu tun, daß ich kaum Zeit hatte, an den Kaptein zu denken, geschweige denn Angst vor ihm zu haben.

Am nächsten Morgen kam er die Treppen herunter und nahm seine Mahlzeiten wie gewöhnlich ein; er aß allerdings wenig, und ich fürchte, er trank noch mehr Rum als für gewöhnlich; denn er ging einfach selber in den Zapfraum und bediente sich da, und knurrte dabei und blies durch die Nase, und keiner von uns wagte ihm in den Weg zu kommen.

Am Abend vor dem Begräbnis war er wie gewöhnlich betrunken, und es war fürchterlich, ihn in unserem Trauerhause sein scheußliches altes Schifferlied brüllen zu hören; aber so schwach er auch war, wir hatten alle eine Todesangst vor ihm, und der Doktor war bei einem Schwerkranken, der viele Meilen entfernt wohnte und zu dem man ihn plötzlich gerufen hatte; deshalb kam er nach meines Vaters Tod nicht ins Haus.

Wie ich bereits sagte, war der Kaptein schwach; ja, er schien sogar immer schwächer zu werden, statt wieder zu Kräften zu kommen. Er kletterte die Treppe hinauf und wieder herunter und ging aus der Schenkstube in den Zapfraum und wieder zurück; und manchmal steckte er seine Nase aus der Türe und schnüffelte in die Seeluft hinein, und dabei hielt er sich an den Wänden fest, um sich zu stützen, und keuchte laut und schnell, wie wenn er einen steilen Berg hinanginge. Niemals redete er mich an, und ich bin der Meinung, er hatte seine Mitteilungen so gut wie vergessen; aber er brauste noch leichter auf als gewöhnlich und war in Anbetracht seiner körperlichen Schwäche heftiger denn je. Er hatte eine beunruhigende Manier, wenn er betrunken war, seinen kurzen Säbel zu ziehen und die blanke Waffe vor sich auf den Tisch zu legen. Trotz alledem aber kümmerte er sich weniger als sonst um die Leute und war allem Anschein nach mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Einmal stimmte er zu unserer großen Überraschung eine ganz neue Melodie an, ein altmodisches Liebeslied, das er wahrscheinlich in seinen Jugendjahren gekannt hatte, bevor er zur See gegangen war.

So gingen die Dinge ihren Gang. Aber am Tage nach dem Begräbnis, gegen drei Uhr an einem bitterkalten, nebligen Nachmittag, stand ich einen Augenblick vor der Tür, voll von traurigen Gedanken an meinen Vater. Da sah ich einen Mann langsam auf der Straße näher kommen. Er war offenbar blind, denn er tastete mit einem Stock vor sich her und trug einen breiten grünen Schirm über Augen und Nase; sein Rücken war gekrümmt, entweder vom Alter oder von Schwäche, und er trug einen großen, alten, zerlumpten Schiffermantel mit einer Kapuze. Nie in meinem Leben hatte ich eine so fürchterlich aussehende Gestalt erblickt. Dicht vor unserem Gasthof blieb er stehen und sagte in einem eigentümlich singenden Ton, wie wenn er in die Luft hineinspräche:

»Will ein freundlicher Mensch so gut sein, einem armen Blinden Bescheid zu sagen, der das kostbare Augenlicht in tapferer Verteidigung seines Vaterlandes England verloren hat – Gott schütze König Georg! – und würde er ihm Bescheid sagen, in welcher Gegend des Landes er wohl in diesem Augenblick sein mag?«

»Ihr seid beim ›Admiral Benbow‹ an der Blackhillbucht, mein guter Mann,« sagte ich.

»Ich höre eine Stimme,« sagte der Blinde, »eine junge Stimme. Wollt Ihr mir Eure Hand geben, mein gütiger junger Freund, und mich hineinführen?«

Ich streckte meine Hand aus, und dieses greuliche blinde Geschöpf mit der sanften Stimme packte sie und hielt sie wie in einem Schraubstock. Ich bekam einen solchen Schreck, daß ich meine Hand losreißen wollte; aber der Blinde zog mich mit einer einzigen Armbewegung dicht an sich heran und sagte:

»Nun, mein Junge, bringe mich zum Kaptein.«

»Herr!« rief ich; »auf mein Wort, das wage ich nicht.«

»Oh!« sagte er spöttisch, »wenn’s weiter nichts ist! Führe mich sofort hinein, sonst breche ich dir deinen Arm!«

Und bei diesen Worten gab er mir einen Druck, daß ich laut aufschrie.

»Herr, ich wage es um Euretwillen nicht. Der Kaptein ist nicht mehr, wie er früher war. Er sitzt mit gezogenem Säbel an seinem Tisch. Ein anderer Herr –« »Ach was, marsch!« unterbrach er mich. Ich hatte niemals eine so grausame, kalte, unangenehme Stimme gehört wie die dieses Blinden. Sie machte mir noch mehr Angst als der Schmerz von seinem Handdruck; darum gehorchte ich ihm sofort und ging mit ihm in die Tür hinein und nach der Schenkstube, wo unser alter Freibeuter saß, der vom Rum halb benebelt war. Der Blinde hielt sich dicht an mich, ohne seine eiserne Faust von mir abzulassen, und sagte:

»Führe mich dicht an ihn heran, und wenn ich gerade vor ihm stehe, dann sage: ›Hier ist ein Freund von Euch‹. Wenn du das nicht tust, dann tu ich was anderes!«

Und damit gab er mir wieder einen Druck, daß ich dachte, ich würde ohnmächtig. Ich hatte eine so fürchterliche Angst vor dem blinden Bettler, daß ich an meine Angst vor dem Kaptein gar nicht dachte, und als ich die Tür zur Schenkstube aufmachte, rief ich mit zitternder Stimme die Worte, die der Blinde mir befohlen hatte.

Der arme Kaptein blickte auf, und auf den ersten Blick verschwand der Rumdunst aus seinem Kopf, und er war vollständig nüchtern. In seinem Gesichtsausdruck lag nicht so sehr Furcht als tödliche Krankheit. Er machte eine Bewegung, wie wenn er aufstehen wollte; aber ich glaube, er hatte nicht mehr Kraft genug in seinem Leibe.

»Na, Bill, bleibe nur ruhig sitzen,« sagte der Bettler. »Wenn ich auch nicht sehen kann, so kann ich dafür hören, wenn einer einen Finger rührt. Geschäft ist Geschäft. Strecke deine linke Hand aus! Junge, nimm seine linke Hand am Gelenk und bringe sie an meine rechte heran!«

Wir gehorchten ihm beide auf den Buchstaben, und ich sah, wie er mit der Hand, die den Stock hielt, etwas in des Kapteins Hand legte, die sich sofort schloß.

»Na, das ist also abgemacht!« sagte der Blinde; und mit diesen Worten ließ er mich plötzlich los und lief mit unglaublicher Sicherheit aus der Schenkstube heraus und auf die Straße. Ich stand regungslos da und hörte, wie das Auftappen seines Stockes sich allmählich in der Ferne verlor.

Es dauerte eine ziemliche Zeit, bis der Kaptein und ich wieder zur Besinnung kamen; schließlich ließ ich sein Handgelenk los, das ich immer noch gehalten hatte, und er öffnete seine Faust beinahe in demselben Augenblick und warf einen scharfen Blick in die hohle Hand und rief:

»Um zehn, noch sechs Stunden. Dann wollen wir sie noch anführen!«

Er sprang auf. Aber in demselben Augenblick taumelte er, fuhr mit der Hand an seine Kehle, schwankte einen Augenblick hin und her und fiel dann, indem er einen sonderbaren Ton ausstieß, seiner ganzen Länge nach auf den Fußboden.

Ich lief sofort zu ihm und rief nach meiner Mutter. Aber unsere Eile hatte keinen Zweck mehr. Der Kaptein hatte einen neuen Schlaganfall bekommen und war tot.

Es ist merkwürdig: ich hatte gewiß diesen Mann niemals geliebt, wenn er auch in der letzten Zeit mir leid getan hatte; aber sobald ich sah, daß er tot war, brach ich in eine Flut von Tränen aus. Dies war der zweite Todesfall, den ich erlebte, und der Kummer um den ersten war noch frisch in meinem Herzen.

  1. Yellow Jack – das gelbe Fieber.

Einundzwanzigstes Kapitel


Der Angriff

Sobald Silver verschwand, wandte der Kapitän, der ihn scharf beobachtet hatte, sich dem Inneren des Hauses zu und fand keinen einzigen von uns außer Gray auf seinem Posten.

Es war das erstemal, daß wir ihn wirklich zornig sahen.

»Auf eure Posten!« brüllte er. Und dann, als wir alle an unsere Plätze zurückschlichen, sagte er:

»Gray, ich will Euren Namen ins Logbuch eintragen; Ihr seid zu Eurer Pflicht und Schuldigkeit gestanden wie ein echter Seemann. Herr Trelawney, ich wundere mich über Sie! Doktor, ich glaubte, Sie hätten des Königs Rock getragen! Wenn Sie auf diese Weise bei Fontenay Ihren Dienst versahen, Herr, so wären Sie besser in Ihrem Bett geblieben!«

Wir von des Doktors Wache standen alle wieder an unseren Schießscharten; die übrigen luden eifrig die überzähligen Musketen, und jeder hatte, wie man sich denken kann, einen roten Kopf und einen Floh im Ohr, wie man zu sagen pflegt.

Der Kapitän sah eine Weile schweigend zu. Dann nahm er das Wort und sagte:

»Jungens! Ich habe dem Silver eine Breitseite gegeben. Ich schoß absichtlich mit Brandkugeln, und bevor eine Stunde rum ist, werden sie zu entern versuchen, wie er ganz richtig gesagt hat. An Zahl sind sie uns überlegen, das brauche ich euch nicht zu sagen; aber wir fechten in Deckung, und vor einer Minute würde ich noch gesagt haben: wir fechten mit Mannszucht. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, daß wir sie verdreschen können, wenn ihr nur wollt!«

Hierauf machte er die Runde und sah, daß alles zum Gefecht klar war.

Auf den beiden schmalen Seiten des Hauses, nach Osten und nach Westen zu, waren nur zwei Schießscharten, auf der Südseite, die den Vorbau hatte, waren ebenfalls zwei; auf der Nordseite aber waren fünf. Wir sieben Mann verfügten über rund zwanzig Musketen; das Brennholz war zu vier Haufen aufgeschichtet, die sozusagen Tische bildeten – einen vor der Mitte jeder Wand, und auf jedem dieser Tische lagen vier geladene Musketen nebst einiger Reservemunition in Reichweite der Verteidiger. In der Mitte jedes Tisches lagen die Stutzsäbel bereit.

»Löscht das Feuer aus!« sagte der Kapitän; »die Kälte hat aufgehört, und wir dürfen keinen Rauch in die Augen bekommen.«

Herr Trelawney trug mit eigenen Händen den eisernen Feuerbehälter hinaus, und die glühenden Kohlen wurden draußen in dem Sande ausgelöscht.

»Hawkins hat noch nicht gefrühstückt. Nimm dir etwas, Hawkins, aber geh sofort auf deinen Posten zurück und iß es dort,« sagte Kapitän Smollett. »Nun, ein bißchen fix, Jim! Du wirst es nötig haben, bevor du fertig bist. Hunter, gebt jedem ein Glas Branntwein!«

Während das Getränk verteilt wurde, machte der Kapitän sich seinen Verteidigungsplan zurecht.

»Sie, Doktor, werden die Tür übernehmen,« sagte er. »Geben Sie sich ja keine Blöße, sondern halten Sie sich drinnen und feuern Sie durch den Vorbau. Hunter, Ihr übernehmt die Ostseite; Joyce, Ihr kommt hierhin nach Westen, mein Mann. Herr Trelawney, Sie sind der beste Schütze; Sie und Gray werden die lange Nordseite übernehmen, mit den fünf Schießscharten; auf dieser Seite ist die Gefahr. Wenn sie an uns herankommen könnten und durch unsere eigenen Schießscharten auf uns feuerten, dann sähe die Sache dreckig für uns aus. Hawkins, du und ich, wir kommen als Schützen nicht sehr in Betracht, wir werden die abgeschossenen Musketen laden und überall zur Hand gehen, wo es nötig ist.«

Die Kälte hatte aufgehört, wie der Kapitän gesagt hatte. Sobald die Sonne über den Gipfel der Waldbäume hinübergeklettert war, strahlte sie mit aller Macht auf die Lichtung und schluckte im Nu die Nebeldünste ein. Bald war der Sand glühend heiß, und das Harz im Holz des Blockhauses begann zu schmelzen. Jacken und Röcke wurden abgeworfen, die Hemden am Halse geöffnet und die Ärmel bis an die Achseln aufgestreift. Und jeder stand an seinem Posten, fieberhaft glühend von der Hitze und von der Erwartung.

Eine Stunde verging.

»Hol‘ sie der Teufel!« sagte der Kapitän. »Dies ist so langweilig wie in den Doldrums. 6 Gray, pfeift mal nach einem Wind!«

Aber gerade in diesem Augenblick kam das erste Anzeichen des Angriffes.

»Verzeihen Sie, Herr,« sagte Joyce, »wenn ich irgendeinen sehe, soll ich dann feuern?«

»Das sagte ich Euch ja!« rief der Kapitän.

»Danke Ihnen, Herr,« antwortete Joyce mit derselben ruhigen Höflichkeit.

Eine Zeitlang erfolgte nichts; aber die Bemerkung hatte uns alle aufgemuntert; wir strengten unsere Augen an und spitzten die Ohren – die Schützen hielten ihre Musketen schußfertig in der Hand, der Kapitän stand mit sehr fest geschlossenen Lippen und gerunzelter Stirn mitten im Blockhaus.

So vergingen einige Sekunden. Da legte Joyce plötzlich seine Muskete an und feuerte. Der Knall war noch nicht verklungen, so antwortete schon von draußen eine rollende Salve; Schuß folgte auf Schuß, wie Wildgänse in ihrem Fluge, von allen vier Seiten der Palisaden. Mehrere Kugeln trafen das Blockhaus, aber keine einzige drang durch die Wände; und als der Rauch sich wieder verzogen hatte, sah die Umpfählung mit dem Walde ringsum so ruhig und leer aus wie zuvor. Kein Busch bewegte sich, kein Aufblitzen eines Musketenlaufes verriet die Anwesenheit unserer Feinde.

»Habt Ihr Euren Mann getroffen?« fragte der Kapitän.

»Nein, Herr,« antwortete Joyce, »ich glaube nicht.«

»Wenigstens gut, daß Ihr die Wahrheit sagt,« murmelte Kapitän Smollett. »Lade sein Gewehr, Hawkins! Wie viele waren nach Ihrer Meinung auf Ihrer Seite, Doktor?«

»Das kann ich ganz genau sagen,« sagte Doktor Livesey. »Auf dieser Seite wurden drei Schüsse abgefeuert. Ich sah es dreimal aufblitzen – zwei Blitze waren dicht beieinander, der dritte war da nach Westen zu.«

»Drei,« sagte der Kapitän. »Und wie viele auf Ihrer Seite, Herr Trelawney?«

Aber diese Frage war nicht so leicht zu beantworten. Auf der Nordseite waren viele Schüsse gefallen. – Nach des Squires Berechnung sieben, nach Grays Meinung acht oder neun. Von Westen und Osten war nur je ein einziger Schuß gefallen. Hieraus ging klar hervor, daß der Angriff von der Nordseite kommen würde und daß wir auf den drei anderen Seiten nur durch einen Scheinangriff beschäftigt werden sollten. Aber Kapitän Smollett änderte trotzdem nichts an seinen Anordnungen. Er meinte: wenn es den Meuterern gelänge, über die Lichtung zu kommen, würden sie jede unbesetzte Schießscharte benutzen, um uns wie Ratten in unserer eigenen Festung niederzuschießen.

Übrigens hatten wir nicht mehr viel Zeit, darüber nachzudenken. Plötzlich brach mit einem lauten Hurra ein kleines Häuflein der Piraten aus dem Walde an der Nordseite hervor und lief stracks auf die Palisaden los. In demselben Augenblick wurde vom Walde aus das Feuer wieder eröffnet; eine Büchsenkugel pfiff durch die Eingangstür und zerschmetterte des Doktors Muskete.

Die Angreifer kletterten mit affenartiger Behendigkeit über den Zaun. Der Squire und Gray feuerten jeder mehrere Male; drei von den Meuterern fielen: einer auf der Lichtung, zwei stürzten von dem Zaun nach der Außenseite herab. Aber von diesen war der eine offenbar nicht ernstlich verwundet; denn er war im Nu wieder auf den Füßen und verschwand sofort unter den Bäumen.

Zwei hatten in den Sand gebissen, einer war geflohen, vieren war es geglückt, in unsere Verteidigungswerke einzudringen, während aus ihrer Deckung im Walde sieben oder acht Piraten, von denen augenscheinlich jeder mit mehreren Musketen versehen war, ein lebhaftes, jedoch unwirksames Feuer gegen das Blockhaus unterhielten.

Die vier, die über den Zaun gekommen waren, rannten mit Geschrei auf das Haus los, und die Leute unter den Bäumen erwiderten das Geschrei, um ihre Kameraden zu ermutigen. Mehrere Schüsse wurden abgefeuert, aber unsere Schützen waren zu hastig und hatten wahrscheinlich niemanden getroffen. Im Nu waren die vier Piraten den Hügel hinaufgerannt und fielen über uns her.

An der mittelsten Schießscharte erschien der Kopf des Bootsmanns Hiob Anderson.

»Auf siel Auf sie, alle Mann!« brüllte er mit Donnerstimme.

In demselben Augenblick packte ein anderer Pirat Hunters Muskete an der Mündung, riß sie ihm aus der Hand, zog sie durch die Schießscharte heraus und streckte mit einem Kolbenschlag den armen Burschen zu Boden. Unterdessen war ein dritter Pirat um das Haus herumgelaufen, erschien plötzlich an der Eingangstür und fiel mit seinem kurzen Säbel über den Doktor her.

Unsere Lage hatte sich völlig verändert. Einen Augenblick vorher feuerten wir aus Deckung auf einen Feind, der unseren Schüssen bloßgestellt war; jetzt aber lagen wir ohne Deckung und konnten keinen Schlag erwidern.

Das Blockhaus war voll von Pulverdampf, und diesem Umstand verdankten wir unsere verhältnismäßige Sicherheit. Geschrei und Getümmel, Aufblitzen und Knall von Pistolenschüssen und ein lautes Stöhnen klangen mir in die Ohren.

»Auf, Jungens, auf! packt sie draußen an! Nehmt die Säbel!« rief der Kapitän.

Ich ergriff einen Stutzsäbel von dem Haufen und bekam dabei von einem anderen, der gleichzeitig nach einer Waffe griff, einen Schnitt über die Fingerknöchel, den ich aber kaum fühlte. Ich sprang aus der Türe in den hellen Sonnenschein hinaus; irgendeiner lief dicht hinter mir – ich wußte nicht, wer. Gerade vor mir verfolgte der Doktor seinen Angreifer den Berg hinunter; gerade als ich hinsah, schlug er ihm die Parade durch und der Mann stürzte mit einer großen klaffenden Wunde über das ganze Gesicht zu Boden und streckte alle viere von sich.

»Ums Haus herum, Jungens! Ums Haus herum!« schrie der Kapitän, und ich bemerkte trotz dem Getümmel, daß seine Stimme einen merkwürdigen Klang hatte.

Mechanisch gehorchte ich, wandte mich nach Osten und lief mit geschwungenem Säbel um die Ecke des Hauses herum. Im nächsten Augenblick sah ich mich Anderson gegenüber. Er brüllte laut auf, und seine Klinge, die er über dem Kopf schwang, blitzte in der Sonne. Ich hatte keine Zeit, mich zu fürchten; da aber der Schlag nicht sofort fiel, sprang ich im Nu zur Seite, glitt in dem losen Sand aus und rollte den Abhang hinunter.

Als ich aus der Tür gesprungen war, kletterten die anderen Meuterer bereits auf die Palisaden hinauf, um uns den Garaus zu machen. Einer von ihnen, ein Bursche mit einer roten Nachtmütze auf dem Kopf, der seinen Stutzsäbel zwischen den Zähnen hielt, war sogar schon oben und hatte das eine Bein auf der Innenseite. Nun, alles ging so ungeheuer schnell, daß alles sich noch in derselben Stellung befand, als ich wieder auf meinen Füßen war: der Kerl mit der roten Nachtmütze war immer erst halb über den Zaun hinüber, und ein anderer streckte gerade seinen Kopf über die Palisaden. Indessen in diesem Nu war der Kampf schon vorüber, und der Sieg war unser.

Gray, der mir auf dem Fuße gefolgt war, hatte den großen Bootsmann niedergeschlagen, bevor dieser Zeit hatte, seine Klinge wieder hoch zu bringen. Ein anderer Pirat war an einer Schießscharte erschossen worden, als er gerade in das Blockhaus hineinfeuerte; er lag im Todeskampf, die rauchende Pistole noch in der Hand. Einen dritten hatte der Doktor, wie ich gesehen hatte, mit einem Hiebe niedergestreckt. Von den vieren, die über die Palisaden geklettert waren, blieb nur ein einziger übrig, und dieser, der seinen Säbel verloren hatte, kletterte jetzt in Todesangst wieder über die Pfähle.

»Schießt! Schießt aus dem Haus heraus!« rief der Doktor. »Und ihr, Jungens, zurück in die Deckung!«

Aber seine Worte wurden nicht beachtet; es wurde kein Schuß gefeuert, und der letzte Angreifer entrann und verschwand mit den übrigen im Walde. Binnen drei Sekunden blieben von den Angreifern nur die fünf Gefallenen zurück – vier auf der Innenseite, einer auf der Außenseite der Palisade.

Der Doktor, Gray und ich rannten im vollen Lauf nach dem Blockhaus, um Deckung zu suchen. Die Überlebenden mußten bald wieder unter den Bäumen sein, wo sie ihre Musketen zurückgelassen hatten, und das Feuer konnte jeden Augenblick wieder eröffnet werden.

Der Rauch hatte sich inzwischen aus dem Blockhaus einigermaßen verzogen, und wir sahen auf den ersten Blick, welchen Preis wir für den Sieg bezahlt hatten. Hunter lag betäubt neben seiner Schießscharte; Joyce lag an der seinigen – er war durch den Kopf geschossen und rührte sich nicht mehr. In der Mitte des Raumes stützte der Squire den Kapitän; einer war so bleich wie der andere.

»Der Kapitän ist verwundet,« sagte Herr Trelawney.

»Sind sie davon?« fragte Smollett.

»Alle, die es konnten – das können Sie glauben,« antwortete der Doktor; »aber fünf von ihnen werden niemals wiederkommen.«

»Fünf!« rief der Kapitän. »Na, das ist besser! Fünf gegen drei – so bleiben wir vier gegen neun. Das ist für uns ein besseres Verhältnis als im Anfang. Damals waren wir sieben gegen neunzehn – oder glaubten wenigstens, daß das Verhältnis so stehe, und das war für unsere Rechnung ebenso schlimm.«

Übrigens waren die Meuterer bald nur noch acht an der Zahl; denn der Mann, den Herr Trelawney bei der Kanone auf Deck des Schoners niedergeschossen hatte, starb an demselben Abend an seiner Wunde. Aber dies war natürlich der Partei im Blockhaus damals noch nicht bekannt, sondern stellte sich erst später heraus.

  1. Doldrums wird ein Teil des Ozeans nahe dem Äquator genannt, wo häufig Windstillen, Böen und schwache (schlabernde), unstete Winde vorkommen.

Zweiundzwanzigstes Kapitel


Der Beginn meines Seeabenteuers

Die Meuterer kamen nicht wieder – es fiel nicht einmal mehr ein Schuß aus dem Walde. Sie hatten »ihre Ration für den Tag bekommen«, wie der Kapitän sich ausdrückte. So hatten wir Ruhe in unserem Blockhaus und konnten nach den Verwundeten sehen und etwas zum Essen zurechtmachen. Der Squire und ich kochten draußen im Freien – trotz der Gefahr; und selbst draußen wußten wir vor Entsetzen über das laute Stöhnen der Patienten, die der Doktor unter den Händen hatte, kaum, was wir taten.

Von den acht Männern, die im Gefecht gefallen waren, atmeten nur noch drei: der eine Pirat, der an der Schießscharte verwundet worden war, Hunter und Kapitän Smollett; und von diesen waren die beiden ersten so gut wie tot. Der Meuterer starb unter des Doktors Messer, und Hunter kam trotz allen unseren Bemühungen auf dieser Welt nicht mehr zum Bewußtsein. Er lag noch den ganzen Tag und röchelte schwer, wie damals zu Hause im »Admiral Benbow« der alte Seeräuber, als er seinen Schlaganfall bekam. Hunters Brustkorb war von dem Kolbenschlag eingedrückt worden, und bei dem Sturz hatte er einen Schädelbruch erlitten, und die folgende Nacht ging er, ohne noch ein Zeichen zu geben oder ein Wort zu sprechen, zu seinem Schöpfer ein.

Die Wunden des Kapitäns waren allerdings schwer, aber nicht lebensgefährlich. Es war kein edler Teil tödlich verletzt. Andersons Kugel – denn Hiob hatte zuerst auf ihn geschossen – hatte das Schulterblatt zerschmettert und die Lunge gestreift, aber nicht gefährlich; der zweite Schuß hatte nur einige Muskeln in der Wade zerrissen. Der Doktor sagte, er werde bestimmt mit dem Leben davonkommen, aber er dürfe noch wochenlang weder gehen noch seinen Arm bewegen; ja, wenn möglich, solle er kein Wort sprechen.

Mein eigener Schmiß über die Fingerknöchel war bloß ein Flohstich. Doktor Livesey klebte ein Pflaster darüber und zupfte mich noch obendrein an den Ohren.

Nach dem Essen setzten der Squire und der Doktor sich zum Kapitän, um mit ihm zu beratschlagen. Als sie sich ausgesprochen hatten, war es kurz nach zwölf Uhr. Da griff der Doktor nach Hut und Pistolen, schnallte einen Säbel um, steckte die Karte in seine Tasche und schulterte eine Muskete. Dann kletterte er an der Nordseite über die Palisade und ging mit schnellen Schritten in den Wald.

Gray und ich saßen am anderen Ende des Blockhauses beisammen, um unsere Offiziere nicht in ihrem Gespräch zu stören. Als nun der Doktor in dieser Ausrüstung verschwand, nahm Gray seine Pfeife aus dem Mund und vergaß vor Erstaunen, sie wieder hineinzustecken.

»Hol‘ mich dieser und jener!« rief er; »ist Doktor Livesey verrückt geworden?«

»Wohl kaum,« sagte ich. »Er wäre von uns wohl der letzte, dem das passieren würde, denke ich.«

»Na, Schiffsmaat! Vielleicht ist er nicht verrückt; aber wenn er es nicht ist, merk‘ auf meine Worte, so bin ich es!«

»Denke mir,« antwortete ich, »der Doktor hat seine Idee; und wenn ich mich nicht irre, ist er jetzt ausgegangen, um Ben Gunn zu treffen.«

Wie sich später herausstellte, hatte ich recht. Aber im Hause war eine Hitze zum Ersticken, und der kleine Sandfleck innerhalb der Einzäunung glühte von der Mittagssonne. Infolgedessen bekam ich einen anderen Gedanken in den Kopf, und damit hatte ich durchaus nicht so recht. Ich begann nämlich den Doktor zu beneiden, der im kühlen Schatten des Waldes unter dem Gesang der Vögel und in dem würzigen Harzduft der Fichten spazieren ginge, während ich hier in der Hitze geröstet würde. Und meine Kleider blieben an dem heißen Harz hängen, und rings um mich herum war so viel Blut, und so viele arme Leichen lagen überall herum, daß ich einen Ekel vor dem Platz bekam.

Während ich das Blockhaus aufwusch und dann die Eßgeräte reinigte, wurden dieser Ekel und dieser Neid immer stärker in mir. Da ich gerade bei einem Sack mit Zwiebäcken stand und niemand auf mich achtete, so tat ich den ersten Schritt zu meiner Flucht und füllte beide Taschen meiner Jacke mit Zwieback.

Meinetwegen mag man sagen, daß ich ein Narr war, und ganz gewiß stand ich im Begriff, eine törichte und mehr als tollkühne Handlung zu begehen; aber ich war entschlossen, dabei alle Vorsicht anzuwenden, die mir zu Gebote stände. Sollte mir irgend etwas zustoßen, so würden diese Zwiebäcke mich zum mindesten bis zum nächsten Abend vor Hunger bewahren.

Sodann nahm ich mir ein paar Pistolen, und da ich bereits ein Pulverhorn und Kugeln hatte, so fühlte ich mich mit Waffen wohl versehen.

Der Plan, den ich in meinem Kopfe hatte, war an und für sich nicht schlecht. Ich wollte nach der sandigen Landzunge hinuntergehen, die den Ankerplatz nach Osten gegen die offene See abschließt, wollte den weißen Felsen aufsuchen, den ich am Abend vorher bemerkt hatte, und mich vergewissern, ob Ben Gunn an dieser Stelle sein Boot versteckt hatte oder nicht. Das war wohl der Mühe wert, wie ich auch jetzt noch glaube.

Da ich aber sicher war, daß man mir nicht erlauben würde, das Pfahlwerk zu verlassen, so bestand mein Plan zunächst nur darin, mich auf französisch zu empfehlen und hinauszuschlüpfen, wenn niemand auf mich achtgäbe; und das war so unrecht von mir, daß meine ganze Handlungsweise dadurch schlecht wurde. Aber ich war nur ein Knabe und hatte es mir nun einmal in den Kopf gesetzt.

Nun, es fügte sich so, daß ich eine wundervolle Gelegenheit fand. Der Squire und Gray waren damit beschäftigt, den Kapitän zu verbinden. Die Küste war klar – ich kletterte über die Pfähle und sprang in den dichtesten Wald hinein, und bevor meine Abwesenheit bemerkt wurde, befand ich mich außer Rufweite meiner Kameraden.

Dies war meine zweite Torheit, und die war viel schlimmer als die erste; denn es blieben nur zwei gesunde Menschen zur Bewachung des Hauses zurück; aber wie die erste Dummheit, als ich mit den Meuterern an Land gefahren war, half auch diese zweite dazu, uns alle zu retten.

Ich lief stracks nach der Ostküste der Insel; denn ich hatte mich entschlossen, auf der Seeseite der Landzunge am Strande entlang zu gehen, um jede Möglichkeit zu vermeiden, daß ich vom Ankerplatz her bemerkt werden könnte.

Es war schon spät am Nachmittag, aber immer noch warm und sonnig. Während ich durch den Hochwald ging, konnte ich in der Ferne vor mir nicht nur das unausgesetzte Donnern der Brandung hören, sondern ein gewisses Rauschen und Rascheln der Zweige zeigte an, daß die Seebrise stärker als gewöhnlich rauschte.

Bald verspürte ich einen kalten Luftzug, und ein paar Schritte weiter hin kam ich an den offenen Rand des Waldes und sah die See blau und in der Sonne glänzend vor mir liegen, und die Brandung schleuderte ihren Schaum über den Strand.

Ich habe rund um die ganze Schatzinsel herum niemals die See ganz ruhig gesehen. Die Sonne konnte am Himmel glühen, die Luft ganz regungslos sein, die Oberfläche des Meeres glatt und blau – und trotzdem rollten diese großen Wogen unaufhörlich an der ganzen Küste entlang, und ich glaube, es gibt auf der ganzen Insel kaum eine Stelle, wo einer das Tosen der Brandung nicht hören könnte.

Ich ging frohen Mutes an der Brandung entlang, bis ich glaubte, weit genug nach Süden gekommen zu sein, da ging ich in ein dichtes Gebüsch in Deckung und kroch vorsichtig bis zur Höhe der Landzunge hinauf.

Hinter mir lag die offene See, vor mir der Ankergrund. Die Seebrise hatte bereits aufgehört, wie wenn sie durch ihre außergewöhnliche Heftigkeit sich um so schneller ausgeblasen hätte; ihr war ein leichter, veränderlicher Wind von Süden und Südosten her gefolgt, der große Nebelschwaden vor sich her trieb, und der Ankergrund auf der Leeseite der Skelettinsel lag still und bleigrau da wie an dem Tage, als wir zuerst eingefahren waren. Die Hispaniola spiegelte sich auf der glatten Fläche von der Wasserlinie bis zur Mastspitze, an der der Jolly Roger schlaff herabhing.

An der Linksseite des Schiffes lag eine von den Gigs, auf deren Heckbank Silver saß – ihn konnte ich stets erkennen –, während ein paar von den Piraten sich über das Bollwerk des Schiffes lehnten; einer von ihnen trug eine rote Mütze; es war derselbe Schurke, den ich ein paar Stunden vorher rittlings auf den Palisaden hatte sitzen sehen. Offenbar sprachen sie miteinander und lachten, doch konnte ich in der Entfernung, die mehr als eine Meile betrug, natürlich kein Wort von ihrem Gespräch hören. Plötzlich begann ein entsetzliches, unirdisches Kreischen; ich bekam einen fürchterlichen Schreck, doch fiel mir gleich darauf ein, daß es Silvers Papagei, Käpp’n Flint, sein müßte; ich glaubte sogar den Vogel an seinem bunten Gefieder zu erkennen, wie er auf dem Handgelenk seines Herrn saß.

Bald darauf stieß die Gig ab und ruderte nach dem Strande zu, und der Mann mit der roten Mütze und sein Kamerad gingen die Kajütstreppe hinunter.

Gerade zur selben Zeit war die Sonne hinter dem »Fernrohr« untergegangen, und da gleich darauf der Nebel sich zusammenballte, begann es schon dunkel zu werden. Ich sah, daß ich keine Zeit verlieren durfte, wenn ich das Boot noch an diesem Abend finden wollte.

Die weiße Klippe, die ich deutlich durch das Gebüsch sehen konnte, war noch ungefähr eine achtel Meile weiter draußen auf der Landzunge, und ich brauchte ziemlich lange Zeit, an sie heranzukommen, da ich mich durch die Gebüsche schleichen und oft genug auf allen vieren kriechen mußte.

Es war beinahe finstere Nacht, als meine Hände den rauhen Fels berührten. Unmittelbar unter demselben befand sich eine ganz kleine grüne Rasenmulde, deren Ränder von etwa knietiefem Unterholz bedeckt waren, das an dieser Stelle sehr reichlich wuchs, und mitten in der Mulde sah ich richtig ein kleines Zelt aus Ziegenfellen, ähnlich wie die Zelte, mit denen die Zigeuner in England herumziehen.

Ich sprang in die Mulde hinab, hob die Seitenwand des Zeltes hoch und sah Ben Gunns Boot – eine richtige Hausarbeit: ein plumper Rahmen von zähem Holz, der mit Ziegenfellen überzogen war; die Haare waren nach außen gekehrt. Das Ding war winzig klein, selbst für einen Knaben wie mich, und ich konnte mir kaum vorstellen, daß es einen ausgewachsenen Mann hätte tragen können. Es hatte eine einzige Ruderbank in der Mitte, eine Art Sperrholz im Bug und als Fortbewegungsmittel ein Doppelruder.

Ich hatte damals noch kein Korbboot gesehen, wie die alten Britannier sie machten; seitdem habe ich eins gesehen und kann von Ben Gunns Boot keine bessere Vorstellung geben, als indem ich sage, daß es aussah wie das erste und unbeholfenste Korbboot, das ein Mensch geschaffen hat. Aber den Hauptvorzug eines solchen Korbbootes oder Korakels besah es allerdings: es war außerordentlich leicht und tragbar.

Da ich nun das Boot gefunden hatte, so möchte man vielleicht denken, ich wäre jetzt lange genug von meinem Posten fortgeblieben. Aber mittlerweile war ich auf eine andere Idee gekommen, die mir so ungeheuer verlockend schien, daß ich glaube, ich würde sie ausgeführt haben, selbst wenn Kapitän Smollett es mir ausdrücklich verboten hätte: ich wollte im Schutze der Dunkelheit mit meinem Korakel an die Hispaniola heranfahren, ihr Ankertau durchschneiden, und sie auf den Strand gehen lassen, wo sie Lust hatte. Ich war fest überzeugt, daß die Meuterer, nachdem sie am Morgen ihre blutigen Schläge erhalten hatten, keinen sehnlicheren Wunsch hatten, als Anker zu lichten und in See zu stechen. Und dies zu verhindern, schien mir eine großartige Heldentat zu sein. Da ich jetzt gesehen hatte, daß ihre Wache auf dem Schiff kein Boot zur Verfügung hatte, so glaubte ich, es sei kein großes Wagnis, ihnen diesen Streich zu spielen.

So setzte ich mich denn nieder, um die völlige Finsternis abzuwarten, und aß mich tüchtig an meinen Zwiebäcken satt. Es war eine Nacht, wie ich sie mir unter tausend Nächten für mein Vorhaben nicht besser geeignet hätte denken können. Der Nebel hatte jetzt den ganzen Himmel überzogen. Als der letzte Schimmer des Tages verschwand, senkte völlige Finsternis sich auf die Schatzinsel herab. Und als ich schließlich das Korakel auf meine Schulter nahm und mich aus der kleinen Mulde heraustastete, wo ich meine Abendmahlzeit verzehrt hatte, waren auf dem ganzen Ankergrunde nur zwei Punkte sichtbar.

Der eine war das große Feuer am Strande, an welchem die von uns geschlagenen Piraten lagen und ein wildes Zechgelage hielten. Der andere, ein winziges Lichtfünkchen in der schwarzen Finsternis, zeigte die Lage des verankerten Schiffes an. Die Hispaniola hatte sich in der Ebbströmung gedreht, so daß ihr Bug jetzt mir zugekehrt war; das einzige Licht an Bord brannte in der Kajüte, und was ich sah, war nur ein Widerschein des hellen Lichtes, das aus der Sternluke herausfunkelte.

Die Ebbe hatte schon seit geraumer Zeit eingesetzt und ich mußte über einen breiten Streifen sumpfigen Sandes waten, in dem ich mehrere Male bis über die Knöchel einsank, bevor ich das Wasser erreichte. Ich watete noch ein kleines Stück in die See hinaus, und es gelang mir mit einer gewissen Kraftanstrengung, mein Korakel so auf das Wasser zu setzen, daß es auf seinem Kiel schwamm.

Dreizehntes Kapitel


Der Anfang meines Landabenteuers

Als ich am nächsten Morgen auf Deck kam, sah die Insel ganz anders aus. Obwohl es jetzt vollkommen windstill war, hatten wir doch während der Nacht eine gute Strecke zurückgelegt; jetzt lagen wir in der Kalmte ungefähr eine halbe Meile südöstlich von der flachen Ostküste. Graugrüne Wälder bedeckten einen großen Teil des Bodens. Diese gleichmäßige Färbung war allerdings durch Streifen gelben Sandes in dem niedrigen Teil der Insel unterbrochen, sowie durch viele große Bäume, dem Anschein nach Nadelholz, die über die Wälder emporragten – manche einzeln, manche in kleinen Gruppen; aber die allgemeine Färbung war eintönig und trübe. Über den Wäldern erhoben die Berge sich als nackte Felsen. Diese waren alle von seltsamer Form, und das »Fernrohr«, das um drei- oder vierhundert Fuß über die anderen emporragte, war zugleich auch in bezug auf die Gestalt am sonderbarsten; denn der Berg fiel beinahe auf allen Seiten steil ab und war an der Spitze plötzlich scharf abgebrochen, wie ein Sockel für ein Denkmal.

Die Hispaniola schwankte in der Dünung des Ozeans. Das Steuerruder schlug hin und her, und das ganze Schiff stöhnte und ächzte. Ich mußte mich fest an das Bollwerk anklammern, und mir wurde schwarz vor den Augen; denn obgleich ich unterwegs leidlich seefest war, so konnte ich mich doch niemals daran gewöhnen, so auf einer Stelle stillzuliegen und wie eine Flasche herumgerollt zu werden; besonders morgens auf nüchternen Magen fühlte ich mich immer übel.

Vielleicht war es dieses Unwohlsein – vielleicht war es auch der Anblick der Insel mit ihren grauen, trübseligen Wäldern und den wilden Felsenbergen, und der Brandung, die schäumend sich an der steilen Küste brach und deren Donnern ich hörte. Obgleich die Sonne hell und warm schien, und die Strandvögel rings um uns herum fischten und schrien, und obgleich man hätte meinen sollen, jeder wäre gern an Land gegangen, nachdem er so lange auf See gewesen war – so sank mir doch das Herz in die Stiefel, wie man zu sagen pflegt; und bei dem ersten Blick haßte ich den bloßen Gedanken an diese Schatzinsel.

Wir hatten eine harte Morgenarbeit vor uns; denn da es vollkommen windstill war, so mußten die Boote ausgesetzt und bemannt werden, um das Schiff drei oder vier Meilen weit um die Ecke der Insel herumzuschleppen, bis wir in dem engen Sund hinter der Skelettinsel waren. Ich ging als Freiwilliger in eins der Boote, wo ich natürlich nichts zu tun hatte. Die Hitze war fürchterlich drückend, und die Leute schimpften mächtig bei ihrer Arbeit. Anderson hatte den Befehl über mein Boot, und schimpfte so laut wie die schlimmsten, anstatt seine Leute in Zucht zu halten.

»Na,« sagte er mit einem Fluch: »es ist ja nicht für ewig!«

Ich hielt dies für ein sehr schlimmes Zeichen; denn bis zu diesem Tage hatten die Leute eifrig und willig ihre Arbeit getan; aber der bloße Anblick der Insel hatte die Mannszucht gelockert.

Während der ganzen Fahrt stand Long John neben dem Mann am Steuerruder auf dem Schiff und gab die Richtung an. Er kannte das Fahrwasser wie seine Handfläche; und obgleich der Mann, der die Tiefen lotete, überall mehr Wasser fand, als auf der Karte angegeben war, brauchte John sich niemals auch nur einen Augenblick zu besinnen.

»Die Ebbe bringt einen starten Strom,« sagte er, »und diese Fahrtrinne hier ist sozusagen mit dem Spaten ausgegraben.«

Wir machten genau an der Stelle halt, wo auf der Karte der Anker eingezeichnet war, ungefähr eine Drittelmeile von beiden Küsten entfernt, von der der Hauptinsel auf der einen Seite, von der der Skelettinsel auf der anderen. Der Boden war reiner Sand. Als unser Anker in das Wasser plumpste, erhoben sich Wolken von Vögeln flatternd und kreischend über die Wälder; aber in weniger als einer Minute waren sie wieder auf ihren Bäumen, und alles war wieder still.

Der Ort war auf allen Seiten von Land umschlossen und lag in Wäldern vergraben, deren Bäume bis unmittelbar an die Hochwassermarke herankamen; der Strand war beinahe ganz flach, und die Berggipfel standen in der Ferne wie ein Amphitheater, einer hier, einer dort. Zwei kleine Flüsse, oder besser gesagt zwei Sümpfe, ergossen sich in diesen Teich, wie man das Gewässer nennen konnte; und das Laubwerk an diesem Teil des Strandes hatte eine Art von giftgrüner Farbe. Vom Schiff aus konnten wir weder vom Hause noch von dem Palisadenwerke etwas sehen; denn beide lagen vollständig in den Bäumen verborgen; hätten wir nicht die Karte in unserer Kajüte gehabt, so hätten wir glauben können, wir seien die ersten, die jemals an dieser Stelle ankerten, seitdem die Insel aus dem Meere aufgetaucht war.

Kein Lüftchen regte sich und kein Laut war zu hören, außer dem Donnern der Brandung, die in der Entfernung einer halben Meile gegen den Strand und die Klippen anschlug. Ein eigentümlicher Geruch hing über dem Ankerplatz – wie von vermodernden Blättern und faulem Holz. Ich bemerkte, wie der Doktor fortwährend schnüffelte wie einer, der ein faules Ei riecht.

»Vom Schatzsuchen verstehe ich nichts,« sagte er, »aber ich will meine Perücke darauf wetten, daß hier Fieber ist!«

Wenn die Haltung der Leute in den Booten schon beunruhigend gewesen war, so wurde sie tatsächlich bedrohlich, als sie wieder an Bord gekommen waren. Sie lagen auf dem Deck herum und schimpften untereinander. Der geringste Befehl wurde mit düsteren Blicken entgegengenommen und wurde widerwillig und nachlässig ausgeführt. Selbst die ehrlichen Leute mußten davon angesteckt sein; denn keiner an Bord machte es besser als die anderen. Es war klar und deutlich, daß Meuterei wie eine Gewitterwolke über uns in der Luft hing.

Aber nicht nur wir von der Kajütenpartei bemerkten die Gefahr. Long John war eifrig an der Arbeit, ging von einer Gruppe zur anderen, gab überall guten Rat; kein Mensch hätte ein besseres Beispiel geben können. Er überbot sich selber an Bereitwilligkeit und Höflichkeit; für alle hatte er ein freundliches Lächeln. Wenn ein Befehl gegeben wurde, war augenblicklich John auf seiner Krücke da, mit dem freudigsten »Jawoll, Herr!« von der Welt; und wenn nichts anderes zu tun war, stimmte er ein Lied nach dem anderen an, wie wenn er auf diese Weise das Mißvergnügen der anderen verbergen wollte.

Von allen trüben Vorzeichen dieses trüben Nachmittags erschien diese offenbare Ängstlichkeit des langen John als das schlimmste.

Wir hielten in der Kajüte Kriegsrat.

»Herr Trelawney,« sagte der Kapitän, »wenn ich noch einen Befehl riskiere, wird die ganze Mannschaft über uns herfallen. Sie sehen selber, wie es steht. Ich bekomme eine grobe Antwort, nicht wahr? Nun, wenn ich darauf ein Wort sage, kommt es im Nu zum Schlagen; tu ich das nicht, so wird Silver begreifen, daß ich eine bestimmte Absicht dabei habe, und dann sind wir ebensoweit. Wir haben jetzt einen einzigen Menschen, auf den wir uns verlassen können.«

»Und wer ist das?« fragte der Squire.

»Silver, Herr Trelawney!« antwortete der Kapitän; »er ist so ängstlich wie Sie und ist darauf bedacht, daß alles seinen ruhigen Gang geht. Die augenblickliche Stimmung der Leute ist nur eine kleine Verdrießlichkeit; die wird er ihnen bald ausreden, wenn er nur eine Möglichkeit dazu hat, und darum schlage ich vor, daß wir ihm diese Möglichkeit gewähren. Lassen Sie uns der Mannschaft erlauben, heute nachmittag an Land zu gehen. Wenn sie alle gehen, nun, dann können wir das Schiff verteidigen. Wenn keiner von ihnen gehen will, dann wehren wir uns in der Kajüte, und Gott möge das Recht beschützen! Wenn aber einige gehen – glauben Sie meinen Worten –, so wird Silver sie so sanft wie Lämmer an Bord zurückbringen.«

Es wurde beschlossen, diesen Rat zu befolgen; alle sicheren Leute bekamen geladene Pistolen; Hunter, Joyce und Redruth wurden ins Vertrauen gezogen. Sie nahmen die Nachricht mit geringerer Überraschung und mit größerem Mut auf, als wir erwartet hatten. Dann ging der Kapitän auf Deck und hielt eine Ansprache an die Mannschaft:

»Jungens!« sagte er; »wir haben einen heißen Tag gehabt und sind alle müde und nicht in Stimmung. Eine kleine Fahrt an Land wird keinem was schaden; die Boote sind noch zu Wasser; ihr könnt die Gigs nehmen, und wer von euch Luft hat, kann für den Nachmittag an Land gehen. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang werde ich eine Kanone abfeuern.«

Ich glaube, die dummen Tröpfe müssen geglaubt haben, sie würden sich die Schienbeine an Schätzen zerstoßen, sobald sie an Land kämen; denn ihre verdrießliche Laune war im Nu verschwunden, und sie brachten ein Hurra aus, das von den Bergen in der Ferne widerhallte, so daß die Vögel wieder aufflogen und um den Ankerplatz herumflatterten.

Der Kapitän war zu klug, um ihnen im Wege zu stehen. Er verschwand sofort in der Kajüte und überließ es Silver, alle Anordnungen für den Ausflug zu treffen; und ich glaube, es war gut, daß er das tat. Wäre er auf Deck geblieben, so hätte er nicht länger so tun können, wie wenn er die Lage der Dinge nicht begriffe. Das war so klar wie der Tag. Silver war der Kapitän, und eine verdammt rebellische Mannschaft hatte er unter sich! Die ehrlichen Leute – und es stellte sich, wie ich sehen sollte, bald heraus, daß solche an Bord waren – müssen sehr dumm gewesen sein. Oder vielleicht lag die Sache so, daß alle Leute von dem Beispiel der Rädelsführer angesteckt waren – einige mehr, andere weniger; ein paar aber, die im Grunde gute Leute waren, konnten nicht weiter gebracht werden. Solche Leute können wohl verdrießlich sein, weil ihnen die Arbeit nicht paßt, es ist aber doch eine ganz andere Sache, ein Schiff mit Gewalt zu nehmen und eine ganze Anzahl unschuldiger Menschen zu ermorden.

Endlich war die Gesellschaft zum Aufbruch bereit. Sechs Leute wollten an Bord bleiben, und die anderen dreizehn, unter ihnen Silver, gingen in die Boote.

Und in diesem Augenblick hatte ich den ersten von den eigentlich verrückten Einfällen, die so viel dazu beitrugen, unser Leben zu retten. Wenn sechs Leute von Silver zurückgelassen wurden, so war es klar, daß die anderen dreizehn nicht das Schiff mit Gewalt angreifen konnten; und da nur sechs zurückblieben, so war ebenfalls klar, daß die Kajütenpartei für den Augenblick einer Hilfe nicht bedurfte.

So kam ich auf den Gedanken, mit an Land zu gehen. Im Nu hatte ich mich an der Schiffswand heruntergelassen und im Vorderteil des nächsten Bootes zusammengekauert, und beinahe in demselben Augenblick stieß dieses ab.

Nein, niemand achtete auf mich, nur der Mann, der zunächst am Bug ruderte, sagte zu mir:

»Bist du das, Jim? Ducke deinen Kopf unter!«

Aber Silver blickte vom anderen Boot scharf herüber und rief, ob ich drin sei; und von diesem Augenblick an begann es mir leid zu tun, daß ich mich auf das Abenteuer eingelassen hatte.

Die Mannschaften der beiden Boote ruderten um die Wette, wer zuerst an Land sei; aber das Boot, worin ich war, war dem anderen etwas voraus, und da es zugleich auch leichter und besser bemannt war, so gewann ich einen weiten Vorsprung. Es war schon zwischen ein paar Bäumen am Strande auf den Sand gelaufen, und ich hatte einen Ast ergriffen und mir einen Schwung gegeben, der mich in das nächste Dickicht brachte, als Silver mit seinen Leuten noch mindestens um hundert Schritte vom Ufer entfernt war.

»Jim! Jim!« hörte ich ihn rufen.

Aber man kann sich wohl denken, daß ich auf sein Geschrei nicht achtete; springend und mich duckend und durch die Büsche brechend lief ich immer geradeaus, immer meiner Nase nach, bis ich nicht mehr konnte.

Vierzehntes Kapitel


Der erste Schlag

Ich war so voller Freude, dem langen John entwischt zu sein, daß ich mit einem gewissen Behagen mich auf dieser merkwürdigen Insel umsah.

Ich war zuerst über eine sumpfige Wiese gekommen, die von Binsen, Weiden und seltsamen, ausländischen Sumpfgewächsen eingefaßt war; und ich befand mich jetzt auf dem Saum eines welligen Sandstriches, der sich ungefähr eine Meile weit hinzog; auf diesem Sande wuchsen ein paar Fichten und zahlreiche, knorrige Bäume, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Eichen hatten, aber von blassem Laube waren wie Weiden. Jenseits dieses offenen Landes erhob sich einer der Berge mit zwei zackigen Felsspitzen, die in der Sonne strahlten.

Ich fühlte zum erstenmal in meinem Leben den Genuß einer Entdeckungsreise. Die Insel war unbewohnt; meine Schiffskameraden hatte ich hinter mir gelassen, und rings um mich herum waren nur Tiere und Vögel. Ich streifte nach allen Seiten durch die Bäume. Hier und da wuchsen blühende Pflanzen, die mir unbekannt waren; hier und da sah ich Schlangen, und eine von diesen erhob ihren Kopf von einem Felsblock und zischte mich an; sie machte dabei ein Geräusch, das ungefähr wie das Schnurren eines Kreisels klang. Ich hatte damals noch keine Ahnung, daß es eine gefährliche Giftschlange war, nämlich eine Klapperschlange.

Dann kam ich in ein weites Dickicht dieser eichenartigen Bäume; wie ich später hörte, nennt man sie Lebens- oder immergrüne Eichen. Sie wuchsen auf dem Sande wie Brombeeren; ihre Zweige waren ineinander verflochten und das Laub bildete ein dichtes Dach. Dieses Dickicht erstreckte sich von der Höhe eines der Sandhügel herab, und die Büsche wurden allmählich immer größer, bis sie den Rand einer breiten, mit Rohr bewachsenen Fenne erreichten, durch die der eine der von mir erwähnten kleinen Flüsse nach der Ankerstelle floß. Die Marschfenne dampfte in der heißen Sonne, und die Umrisse des Fernrohrs erschienen hinter einem zitternden Dunstschleier.

Plötzlich begann in den Binsen sich etwas zu regen; eine wilde Ente flog quäkend auf; eine andere folgte ihr; und bald hing über der ganzen Oberfläche der Fenne eine dichte Wolke von Vögeln, die schreiend in der Luft ihre Kreise zogen. Ich nahm sofort an, daß einige von meinen Schiffskameraden sich dem Rande der Fenne näherten. Ich hatte mich auch nicht geirrt; denn bald hörte ich in der Ferne die leisen Töne einer menschlichen Stimme, die allmählich lauter wurde und näher kam.

Ich geriet in große Furcht und kroch unter den nächsten Eichbusch in Deckung, legte mich auf den Boden, hielt mich so still wie eine Maus und lauschte.

Eine andere Stimme antwortete; dann sprach wieder die erste Stimme, die ich jetzt als die des langen John erkannte, und sprach eine ganze Weile, nur ab und zu durch eine kurze Zwischenbemerkung des anderen unterbrochen. Aus dem Klang der Stimmen konnte ich schließen, daß sie über ernste Dinge verhandelten; sie schienen sogar beinahe zornig zu sein; indessen konnte ich etwas Bestimmtes nicht unterscheiden.

Schließlich kam es mir vor, wie wenn die Sprechenden eine Pause machten; vielleicht hatten sie sich sogar auf den Boden gesetzt; denn sie kamen nicht nur nicht mehr näher, sondern auch die Vögel wurden allmählich ruhiger und ließen sich wieder auf die sumpfige Wiese nieder.

Und jetzt begann ich zu fühlen, daß ich meine Aufgabe vernachlässigte; denn da ich nun einmal so waghalsig gewesen war, mit diesen verzweifelten Burschen an Land zu gehen, so mußte ich zum mindesten herauszubekommen versuchen, welche Anschläge sie hatten. Es war also ganz einfach meine Pflicht, mich so nahe wie möglich an sie heranzumachen, und zu diesem Zwecke konnte das Gestrüpp mir gut als Hinterhalt dienen.

Die Richtung, in der die Sprechenden sich befanden, konnte ich ziemlich genau abschätzen, nicht nur nach dem Klang ihrer Stimmen, sondern auch nach dem Betragen der paar Vögel, die immer noch voller Unruhe über den Häuptern der Eindringlinge hin und her flogen.

Auf allen vieren kriechend, näherte ich mich ihnen langsam, aber unablässig; schließlich hob ich den Kopf, spähte durch eine Öffnung im Laub und sah deutlich in eine kleine, grünbewachsene Mulde neben der Fenne hinunter. Hier standen einige Bäume dicht beieinander und unter ihnen waren Long John Silver und einer von der Mannschaft in einem eifrigen Gespräch begriffen. Der Sonnenschein fiel prall auf sie. Silver hatte seinen Hut neben sich auf den Erdboden geworfen, und sein breites, glattrasiertes, blondes Gesicht, das in der Hitze von Schweiß glänzte, sah dem anderen mit einem bittenden Ausdruck in die Augen.

»Maat!« hörte ich ihn sagen; »es ist ja nur, weil du in meinen Augen wie echter Goldstaub bist – wie Goldstaub, sag‘ ich dir! Wenn mir nicht so viel an dir läge, glaubst du denn, ich hätte mir die Mühe genommen, dich zu warnen? Es ist nun mal so weit – dabei kannst du nichts machen und kannst nichts daran ändern; ich spreche ja bloß zu dir, weil ich deinen Hals retten will – und wenn einer von den Wilden unter uns etwas davon wüßte, wo wäre ich da – ja, sage mir: wo wäre ich da?«

»Silver,« sagte der andere – und ich bemerkte, daß er nicht nur rot im Gesicht war, sondern auch so heiser wie eine Krähe sprach, und daß seine Stimme zitterte – »Silver,« sagte er, »du bist ein alter Mann, und du bist ein ehrlicher Kerl oder giltst wenigstens dafür; und außerdem hast du auch Geld, was eine Masse armer Matrosen nicht haben; und du bist mutig, oder ich müßte mich sehr irren. Und willst du mir sagen, du hättest dich verführen lassen von diesen jämmerlichen Kerlen? Du doch nicht! So wahr Gott mich sieht, lieber wollte ich meine Hand verlieren! Wenn ich gegen meine Pflicht und Schuldigkeit handle –«

Und in diesem Augenblicke wurde er plötzlich von einem Lärm unterbrochen. Ich hatte einen von den ehrlichen Leuten gefunden – nun, hier, in diesem selben Augenblick, kam etwas Neues von einem anderen! In der Ferne, jenseits der Mastfenne, erhob sich plötzlich ein lauter Schrei wie von einem zornigen Mann, und dann gleich darauf ein anderer Schrei; und dann ein einziges gräßliches, langgezogenes Kreischen. Die Felswände des Fernrohrs warfen den Widerhall ein dutzendmal zurück; der ganze Schwarm der Sumpfvögel erhob sich wieder mit einem gleichzeitigen Flügelschlagen in solcher Menge, daß der Himmel verfinstert wurde; und jener Todesschrei war längst verklungen, als endlich wieder Schweigen herrschte, und nur das Rascheln der wieder in das Rohr schlüpfenden Vögel und das Rauschen der fernen Brandung ließ sich in der Nachmittagshitze hören.

Tom war bei dem Schrei aufgesprungen wie ein Pferd, das die Sporen fühlt; aber Silver hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Er blieb ruhig stehen, sich leicht auf seine Krücke lehnend, und beobachtete seinen Kameraden wie eine zum Sprung bereite Schlange. Da streckte der Matrose die Hand aus und sagte:

»John!«

»Hände weg!« rief Silver laut und sprang dabei einen Schritt zurück, so schnell und sicher wie ein geübter Akrobat.

»Hände weg – meinetwegen, John Silver!« sagte der andere. »Nur ein schwarzes Gewissen kann dir Angst vor mir machen. Aber um Gottes willen – sage mir: was war das?«

»Das?« erwiderte Silver; er lächelte dabei, aber mit einem ganz besonders listigen Ausdruck; seine Augen sahen in dem großen Gesicht so klein wie Nadelköpfe aus, aber sie funkelten wie Glasscherben. »Das? Oh, ich nehme an, das wird Alan sein.«

Da fuhr der arme Tom auf wie ein Held und rief:

»Alan! Dann möge seine arme Seele Ruhe haben, wie ein braver Seemann sie verdient! und du, John Silver – lange bist du mein Maat gewesen, aber mein Maat bist du nicht mehr. Wenn ich sterben soll wie ein Hund, so will ich für meine Pflicht sterben. Ihr habt Alan ermordet, nicht wahr? Schlag‘ auch mich tot, wenn du kannst! Tu’s nur!«

Mit diesen Worten drehte der brave Bursche dem Koch den Rücken zu und ging nach dem Strand hinunter. Aber er sollte nicht weit kommen.

Mit einem wilden Schrei griff John nach einem Baumast, riß die Krücke aus seiner Achselhöhle heraus und wirbelte das furchtbare Wurfgeschoß durch die Luft. Es traf den armen Tom mit der Spitze mitten auf den Rücken zwischen die Schulterblätter. Seine Hände flogen in die Luft, er stöhnte kurz auf und fiel auf sein Gesicht.

Ob er schwer oder leicht verletzt war, hat nie ein Mensch sagen können. Nach dem Klang zu urteilen, wurde wahrscheinlich sein Rückgrat sofort gebrochen. Jedenfalls hatte er keine Zeit, zur Besinnung zu kommen. Schnell wie ein Affe, auch ohne seine Krücke, war Silver im nächsten Augenblick über ihm und hatte zweimal sein Messer bis ans Heft in den wehrlosen Leib gestoßen. Ich konnte von meinem Versteck aus ihn laut keuchen hören, während er zustieß.

Ich weiß nicht so recht, was eigentlich eine Ohnmacht ist; aber das weiß ich: für den nächsten kurzen Augenblick schwand die ganze Welt um mich herum wie in einem wirbelnden Nebel: Silver und die Vögel und der hohe Fernrohrberg gingen vor meinen Augen um und um, kopfüber, kopfunter, und in meinen Ohren war es, wie wenn unzählige Glocken klingelten und ferne Stimmen riefen.

Als ich wieder zu mir kam, hatte das Scheusal sich aufgerafft und stand aufrecht, die Krücke unter dem Arm und den Hut auf dem Kopf. Unmittelbar vor ihm lag Tom bewegungslos auf dem Grase; aber der Mörder kümmerte sich um ihn nicht im geringsten, sondern reinigte sein blutiges Messer, indem er es mit einem Grasbüschel abwischte.

Sonst war alles unverändert; die Sonne schien noch immer erbarmungslos heiß auf die dampfende Mastfenne und auf den hohen Gipfel des Berges, und ich konnte kaum glauben, daß hier unmittelbar vor meinen Augen wirklich ein Mord geschehen war, daß ein Menschenleben grausam zum Ende gebracht worden war.

Aber jetzt steckte John die Hand in die Tasche, zog eine Bootsmannpfeife heraus und blies darauf verschiedene Signale, die weit durch die heiße Luft klangen. Ich konnte natürlich nicht sagen, was das Signal bedeutete; aber es erweckte augenblicklich alle meine Ängste von neuem. Es würden noch mehr herankommen; ich konnte entdeckt werden. Zwei von den ehrlichen Leuten hatten sie bereits erschlagen; konnte nach Tom und Alan ich nicht als nächster an der Reihe sein?

Ich machte mich sofort aus den Ranken los und begann so schnell und so leise wie nur möglich nach dem lichtern Teil des Waldes zurückzukriechen. Während ich dies tat, hörte ich, wie zwischen dem alten Seeräuber und seinen Kameraden Rufe gewechselt wurden, und diese gefahrvollen Klänge liehen mir Flügel.

Sobald ich aus dem Dickicht heraus war, lief ich so schnell, wie ich noch niemals in meinem Leben gelaufen war. In welche Richtung ich lief, darum bekümmerte ich mich wenig, solange ich mich nur von den Mördern entfernte; während ich lief, wurde meine Angst immer größer, bis sie schließlich beinah zu einer Art von Wahnsinn stieg.

Konnte ein Mensch so rettungslos verloren sein wie ich? Wie durfte ich es wagen, nach dem Abfeuern des Kanonenschusses zu den Booten hinunterzugehen, unter diese Teufel, deren Hände noch von dem Blute ihrer Opfer rauchten? Würde nicht der erste, der mich sähe, mir den Hals umdrehen wie einem Krammetsvogel? Würde nicht meine Abwesenheit an und für sich schon ihnen ein Beweis sein, daß ich mich fürchtete, also irgend etwas wissen müßte?

Ich dachte: es ist alles aus! Leb wohl, Hispaniola! Lebt wohl, Squire, Doktor und Kapitän! Ich hatte keine anderen Aussichten mehr, als entweder zu verhungern oder von den Händen der Meuterer zu sterben.

Während alle diese Gedanken mir durch den Kopf gingen, lief ich, wie gesagt, immer weiter. So war ich, ohne zu wissen wie, dicht an den Fuß des niedrigen Berges mit den beiden Gipfeln gekommen und damit in einen Teil der Insel, wo die Lebenseichen weiter auseinanderstanden und an Wuchs und Größe mehr wie Waldbäume aussahen. Zwischen ihnen wuchsen einzelne Fichten, die vielleicht fünfzig Fuß, vielleicht sogar siebzig hoch sein mochten. Auch die Luft war frischer als unten bei den Sumpfwiesen.

Und hier ließ ein neuer Schreck mich plötzlich still stehen, und das Herz klopfte mir.

Fünfzehntes Kapitel


Der Inselmann

Von dem Abhang des Berges, der hier steil und felsig war, löste sich ein Kiesel und fiel rasselnd und mehrere Male aufschlagend durch die Bäume.

Ich wandte triebmäßig meine Augen nach dieser Richtung und sah eine Gestalt, die mit großer Schnelligkeit hinter den Stamm einer Fichte sprang. Was es war – ein Bär oder ein Mensch oder ein Affe, das konnte ich durchaus nicht sagen. Es schien mir etwas Dunkles und Zottiges zu sein; mehr wußte ich nicht. Aber der Schreck vor dieser neuen Erscheinung war so groß, daß ich stehenblieb.

Ich war jetzt, so schien es, von beiden Seiten abgeschnitten; hinter mir die Mörder, vor mir dieses huschende, unbestimmte Wesen. Und auf der Stelle begann ich die mir bekannten Gefahren den mir unbekannten vorzuziehen. Sogar Silver schien im Vergleich mit diesem Geschöpf der Wälder weniger schrecklich zu sein, und ich drehte mich auf dem Absatz um, warf einen schnellen Blick über meine Schulter zurück und begann in der Richtung auf die Boote zurückzulaufen.

Sofort erschien die Gestalt wieder, machte einen weiten Bogen und begann, mir den Weg abzuschneiden. Ich war sehr müde; aber wäre ich auch ganz frisch gewesen, so sah ich doch bald, daß es ein vergebliches Unterfangen für mich war, es an Schnelligkeit mit einem solchen Gegner aufzunehmen. Von Baum zu Baum huschte das Geschöpf mit der Schnelligkeit eines Hirsches; es lief wie ein Mensch auf zwei Beinen, aber ganz anders als irgendein Mensch, den ich je gesehen hatte, denn es bückte sich dabei beinahe zur Erde; aber ein Mensch war es; daran konnte ich nicht länger zweifeln.

Mir fielen die Geschichten ein, die ich von Menschenfressern gehört hatte. Ich wollte um Hilfe schreien. Aber die bloße Tatsache, daß es ein Mensch war, wenn auch ein Wilder, hatte mich etwas beruhigt, und im gleichen Verhältnis begann meine Furcht vor Silver wieder aufzuleben.

Ich stand daher still und sah mich um, ob nicht irgendwelche Rettung möglich sei; und als ich darüber nachdachte, fiel mir plötzlich ein, daß ich ja eine Pistole bei mir hatte. Sobald ich wußte, daß ich nicht wehrlos war, glühte in meinem Herzen auch wieder Mut auf. Ich beschloß, es mit diesem Inselmenschen aufzunehmen, und ging schnell auf ihn los.

Er hatte sich inzwischen wieder hinter einem Baumstamm versteckt; aber er mußte mich genau beobachtet haben; denn sobald ich mich in seiner Richtung bewegte, erschien er wieder und ging mir einen Schritt entgegen. Dann zögerte er, sprang zurück und ging wieder vorwärts. Und schließlich warf er sich zu meiner Verwunderung und Verwirrung auf die Knie und streckte mir flehend seine gefalteten Hände entgegen.

Infolgedessen blieb ich wieder stehen und fragte: »Wer seid Ihr?«

»Ben Gunn,« antwortete er, und seine Stimme klang heiser und ungeschickt, wie wenn in einem verrosteten Schloß ein Schlüssel herumgedreht wird. »Ich bin der arme Ben Gunn, ja; und ich habe seit drei Jahren mit keinem Christenmenschen gesprochen.«

Ich konnte jetzt sehen, daß er ein Weißer war wie ich selbst, und seine Gesichtszüge waren sogar hübsch von Natur. Aber seine Haut war an allen bloßen Stellen von der Sonne verbrannt; sogar seine Lippen waren schwarz, und seine blauen Augen sahen ganz sonderbar in diesem dunklen Gesicht aus. So zerlumpt, wie er war, hatte ich noch keinen Bettler in der Wirklichkeit oder im Traume gesehen. Er war mit Fetzen von alten Schiffssegeln und Matrosenröcken bekleidet, und dieses außerordentliche Flickwerk wurde durch alle nur denkbaren Befestigungsmittel zusammengehalten: Messingknöpfe, Bindfadenenden und dünne Zweige. Am den Leib trug er einen alten Ledergürtel mit einem Messingschloß, und dies war das einzige Solide an seiner ganzen Ausrüstung.

»Drei Jahre!« rief ich; »habt Ihr Schiffbruch erlitten?«

»Nein, Maat,« sagte er – »maruniert!«

Ich hatte das Wort gehört und wußte, daß es eine furchtbare Strafe bedeutete, die von den Freibeutern ziemlich häufig angewandt wurde: der Missetäter wird mit etwas Pulver und Schrot an irgendeiner einsamen, öden Insel ausgesetzt.

»Vor drei Jahren wurde ich maruniert,« fuhr er fort, »und habe seitdem von Ziegen und Beeren und Austern gelebt. Wo ein Mann ist, sage ich, da kann einer auch leben. Aber, Maat, mein Herz sehnt sich nach christlichem Essen! Hast du nicht zufällig ein Stück Käse bei dir? Nein? Ach, manche lange Nacht habe ich von Käse geträumt – besonders von geröstetem –, und dann wachte ich wieder auf und war hier auf dieser Insel!«

»Wenn ich wieder an Bord kommen kann,« sagte ich, »sollst du Käse haben, pfundweise, soviel dein Herz begehrt!«

Während dieser ganzen Zeit hatte er den Stoff meiner Jacke befühlt, meine Hände gestreichelt, nach meinen Stiefeln gesehen und überhaupt ein kindisches Vergnügen an der Gegenwart eines Mitmenschen gezeigt. Aber bei meinen letzten Worten wurde er anscheinend mißtrauisch; er machte ein schlaues Gesicht und fragte:

»Du sagtest: wenn du wieder an Bord kommen kannst? Nun, wer kann dich denn daran hindern?«

»Du nicht, das weiß ich wohl!« war meine Antwort.

»Da hast du recht!« rief er; »nun, wie heißest du denn eigentlich, Maat?«

»Jim.«

»Jim – Jim!« wiederholte er; mein Name gefiel ihm augenscheinlich. »Na, Jim, nun hör‘ mal: ich habe wüst gelebt; du würdest dich schämen, wenn ich dir davon erzählte. Zum Beispiel – wenn du mich so ansiehst, so würdest du wohl nicht denken, daß ich eine fromme Mutter gehabt habe?«

»Hm, allerdings – eigentlich nicht,« antwortete ich.

»Na ja. Aber ich hatte eine – sogar eine ganz besonders fromme Mutter. Und ich war ein höflicher, frommer Junge und konnte meinen Katechismus herunterrasseln – so schnell, daß kein Wort vom andern zu unterscheiden war. So weit bin ich nun heruntergekommen, Jim, und ich fing an mit Murmelspielen auf dem Kirchhof! Damit fing es an, aber es blieb nicht dabei; und meine Mutter sagte es mir voraus – prophezeite, wie alles kommen würde – jawoll, das tat sie! Aber die Vorsehung, die hat mich auf diese Insel hier gebracht. Ich habe es mir alles durchgedacht, auf dieser einsamen Insel hier, und ich bin nun wieder fromm geworden. Rum trinken – damit fängst du mich nicht mehr. Bloß einen Fingerhut voll, auf gut Glück, natürlich – den will ich haben, sobald ich die erste Gelegenheit habe. Ich werde gewiß ein guter Mensch sein, und ich sehe auch den guten Weg vor mir. Und, Jim,« – dabei sah er sich um und senkte seine Stimme zu einem ganz leisen Flüstern – »ich bin reich!«

Ich war jetzt überzeugt, daß der arme Bursche in seiner Einsamkeit verrückt geworden wäre, und dies Gefühl muß wohl auf meinem Gesicht zu lesen gewesen sein; denn er wiederholte ganz aufgeregt seine Behauptung:

»Reich! reich – sage ich dir. Und ich will dir was sagen: ich will einen Mann aus dir machen, Jim. Oh, Jim! Du wirst deinen Stern dafür segnen, daß du der erste warst, der mich gefunden!«

Plötzlich aber kam ein Schatten über sein Gesicht; er packte meine Hand mit einem festen Griff und hielt mir drohend den Zeigefinger vor die Augen und fragte:

»Nun, Jim – jetzt sage mir die Wahrheit; das ist doch nicht Flints Schiff?«

Da hatte ich eine glückliche Eingebung. Ich begann zu glauben, daß ich einen Verbündeten gefunden hätte, und antwortete ihm ohne Zögern:

»Es ist nicht Flints Schiff, und Flint ist tot; aber ich will dir die Wahrheit sagen, wie du es von mir verlangst: es sind einige von Flints Leuten an Bord, und das ist schlimm für uns andere!«

»Doch nicht ein Mann – mit einem – Bein?«

»Silver?« fragte ich.

»Richtig – Silver! Das war sein Name.«

»Er ist der Koch, und außerdem der Rädelsführer.«

Er hielt mich immer noch beim Handgelenk fest; und als ich diese Worte gesagt hatte, drehte er mir beinahe den Arm um und sagte:

»Wenn Long John dich geschickt hat, bin ich so gut wie geliefert – das weiß ich. Aber was meinst du wohl, was ich mit dir machen werde?«

Ich hatte mich im Nu entschlossen und erzählte ihm, anstatt seine Frage zu beantworten, die ganze Geschichte unserer Reise und die schwierige Lage, in der wir uns befänden. Er hörte mich mit gespannter Aufmerksamkeit an, und als ich fertig war, tätschelte er mir die Backe und sagte:

»Du bist ein guter Junge, Jim! Und ihr seid alle in der Klemme, nicht wahr? Na, setzt nur euer Vertrauen auf Ben Gunn – Ben Gunn ist der Mann, dies zu machen. Nun sage mal: Würdest du es für wahrscheinlich halten, daß Euer Squire sich anständig bezeigen würde, wenn er Hilfe bekäme, da er doch in der Klemme ist, wie du bemerkst?«

Ich sagte ihm, der Squire sei der anständigste und freigebigste Mann von der Welt.

»Ei ja, aber siehst du,« antwortete Ben Gunn, »ich meinte damit nicht, daß er mich zum Torwächter machen und mir eine Livree geben sollte und so weiter; daran liegt mir nichts, Jim. Was ich meine, ist dies: Würde er wohl von dem Gelde, das jetzt schon so gut wie mein ist, mir was abgeben – sagen wir: vielleicht eintausend Pfund Sterling?«

»Ich bin überzeugt, das wird er tun. Es war überhaupt schon bestimmt, daß alle Leute einen Anteil bekommen sollten.«

»Und freie Überfahrt nach Hause?« fügte er hinzu, indem er ein ganz besonders pfiffiges Gesicht machte.

»Oh!« rief ich; »der Squire ist ein Gentleman. Außerdem – wenn wir die andern loswerden, brauchen wir dich ja, damit wir das Schiff nach Hause bringen können.«

»Richtig – dazu hättet ihr mich nötig!«

Und er schien sich sehr erleichtert zu fühlen. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:

»Nun, Jim, ich will dir was sagen. So viel will ich dir sagen, und nicht mehr: Ich war auf Flints Schiff, als er den Schatz vergrub; er und sechs Mann – sechs starke Seeleute. Sie waren nahezu eine Woche an Land, und wir lagen die ganze Zeit vor Anker, das alte ›Walroß‹. Eines schönen Tages geht das Signal hoch, und da kommt Flint, ganz allein in einem kleinen Boot, und um den Kopf ein blaues Tuch gebunden. Die Sonne ging gerade auf, und totenblaß sah er aus, Käpp’n Flint. Aber, er war da, verstehst du – und alle sechs waren tot – tot und begraben. Wie er’s gemacht hatte, das konnte keiner bei uns an Bord herausbringen. Er hatte gefochten und gemordet und plötzlich zugeschlagen wahrscheinlich – er allein gegen sechs. Billy Bones war der Steuermann; Long John, der war Schiemann; sie fragten ihn, wo der Schatz wäre. ›Oh‹, rief er, ›ihr könnt ja an Land gehen, wenn ihr Lust habt, und könnt da bleiben,‹ sagte er; ›aber das Schiff, das segelt gleich wieder aus, um mehr zu holen, beim Donner nochmal!‹ Ja, das sagte er.

»Na, vor drei Jahren war ich auf einem anderen Schiff, und wir kriegten diese Insel in Sicht. ›Jungens,‹ sag‘ ich, ›da ist Flints Schatz! Laßt uns landen und ihn suchen!‹ Dem Käpp’n gefiel das nicht; aber meine Meßmaate waren alle miteinander dafür, und wir landeten. Zwölf Tage lang suchten sie darnach, und jeden Tag schimpften sie fürchterlich auf mich, bis eines schönen Morgens alle miteinander wieder an Bord gingen. ›Du, Benjamin Gunn,‹ sagen sie, ›kriegst eine Muskete,‹ sagen sie, ›und einen Spaten und eine Hacke. Du kannst hier bleiben und für dich alleine Flints Geld finden!‹ sagen sie.

»Na, Jim – drei Jahre bin ich hier gewesen, und von dem Tage an bis heute habe ich keinen Mundvoll christliches Essen gehabt. Aber trotz alledem – sieh mich mal an. Sehe ich aus wie ein gewöhnlicher Matrose? Nein, sagst du. Und ich war es auch nicht, sage ich.«

Und bei diesen Worten zwinkerte er mir zu und drückte mir das Handgelenk zusammen. Dann fuhr er fort:

»Sage bloß diese Worte zu deinem Squire, Jim: ›er war es auch nicht‹ – das sind genau die Worte, die du sagen mußt. ›Drei Jahre war er der Herr auf dieser Insel, bei Tag und Nacht, in Regen und Sonnenschein; und manchmal dachte er vielleicht an ein Gebet (sagst du) und manchmal dachte er vielleicht an seine alte Mutter (sagst du), ob sie wohl noch am Leben wäre; aber der größte Teil von Gunns Zeit (so mußt du sagen) – der größte Teil von seiner Zeit ging auf was anderes drauf‹. Und dann gibst du ihm einen kleinen Wink, wie ich jetzt dir.«

Und dabei zwinkerte er mir wieder sehr vertraulich zu.

»Und dann,« fuhr er fort, »dann kommt die Hauptsache; dann sagst du dies: ›Gunn ist ein guter Mensch – so mußt du sagen –, und er hat viel mehr Zuvertrauen – viel mehr, vergiß nicht, das zu sagen! – zu einem Gentleman, der als Gentleman geboren ist, als zu diesen Glücks-Gentlemen, wie er selber einer gewesen ist.«

»Höre,« sagte ich, »ich verstehe kein Wort von dem, was du da gesagt hast. Aber das ist ja auch ganz einerlei – denn wie soll ich an Bord kommen?«

»Hm – da liegt der Hund begraben; da hast du recht. Aber na, ich habe da ein Boot, das ich mit meinen eigenen zwei Händen mir gemacht habe, ich habe es unter der weißen Klippe. Wenn es zum Allerschlimmsten kommt, könnten wir es damit versuchen, sobald es dunkel geworden ist. Oho!« rief er plötzlich: »Was ist das?«

Denn gerade in diesem Augenblick, obgleich bis zum Sonnenuntergang noch mindestens eine Stunde war, donnerte ein Kanonenschuß, der alle Echos der Insel erweckte.

»Das Gefecht hat begonnen!« rief ich. »Komm mit!«

Und ich begann nach dem Ankerplatz hinunterzulaufen; alle meine Ängste waren vergessen. Dicht an meiner Seite trabte leichtfüßig der ausgesetzte Matrose in seinem Ziegenfell.

»Links! Links!« sagte er; »halte dich links, Maat Jim. Fix unter die Bäume! Da schoß ich meine erste Ziege. Sie kommen jetzt nicht mehr hier herunter; sitzen alle oben auf den Bergen, aus Angst vor Benjamin Gunn. Ah! und da ist der Friedhof! siehst du die Grabhügel? Hierher kam ich ab und zu und betete, wenn ich dachte, es könnte wohl wieder ein Sonntag sein. Es ist ja eigentlich keine Kirche, aber es kam mir doch feierlicher vor; und dann, nicht wahr? – Ben Gunn hatte es ja ein bißchen knapp; keinen Paster, nicht mal eine Bibel und eine Flagge, verstehst du!«

So plapperte er immerzu, während ich rannte, so schnell ich konnte; natürlich bekam er keine Antworten, aber er erwartete auch keine.

Dem Kanonenschuß folgte nach einem ziemlich langen Zeitraum eine Salve Kleingewehrfeuer.

Wieder gab es eine Pause, und dann sah ich, eine Viertelmeile von mir entfernt, die englische Flagge über einem Walde hoch in der Luft flattern.

Sechzehntes Kapitel


Der Doktor setzt die Erzählung fort: Wie das Schiff aufgegeben wurde

Es war ungefähr halb zwei Uhr – drei Glasen, wie die Schiffer sagen –, als die beiden Boote von der Hispaniola an Land fuhren. Der Kapitän, der Squire und ich besprachen den Stand der Dinge in der Kajüte. Wäre nur eine Mütze voll Wind dagewesen, so wären wir über die sechs Meuterer hergefallen, die man bei uns an Bord gelassen hatte, hätten die Kabel gekappt und wären in See gegangen. Aber es fehlte uns gänzlich an Wind, und um unsere Hilflosigkeit noch zu vermehren, kam Hunter in die Kajüte herunter und brachte die Nachricht, Jim Hawkins sei heimlich in eins der Boote geschlüpft und mit den übrigen an Land gefahren.

Wir zweifelten keinen Augenblick an Jim Hawkins; aber wir waren wegen seiner Sicherheit besorgt. Bei der Gemütsverfassung, in der die Leute sich befanden, war es ziemlich wahrscheinlich, daß wir den Jungen niemals wiedersehen würden. Wir liefen auf Deck. Das Pech war in den Fugen geschmolzen und warf Blasen; der faulige Geruch in der Luft machte mir übel; wenn es jemals irgendwo nach Fieber und Ruhr gerochen hatte, so war es auf diesem schrecklichen Ankerplatz. Die sechs Schurken saßen auf dem Vorderdeck unter einem Segel und schimpften; am Land sahen wir die Gigs festmachen; dicht an der Stelle, wo der Fluß mündet. In jedem Boot saß ein Mann; der eine pfiff den »Lillabullero«.

Dieses tatenlose Warten fiel auf die Nerven, und es wurde beschlossen, daß Hunter und ich in der Jolle an Land gehen sollten, um Kundschaft einzuziehen.

Die Boote der Meuterer waren weiter abwärts nach rechts zu gelandet; aber Hunter und ich ruderten scharf geradeaus in der Richtung auf die Stelle, wo nach der Karte das Pfahlschanzwerk sich befinden mußte. Die beiden Matrosen, die als Wachen an den Booten zurückgeblieben waren, schienen verdutzt zu sein, als wir plötzlich auftauchten; das Lillabulleropfeifen hörte auf, und ich konnte sehen, wie die beiden sich darüber stritten, was sie tun sollten. Wären sie zu Silver gegangen, um ihm Meldung zu machen, so wäre vielleicht alles ganz anders gekommen; aber sie hatten vermutlich ihre Befehle und beschlossen daher, ruhig sitzenzubleiben und sich wieder mit Lillabullero zu unterhalten.

Das Ufer machte einen kleinen Vorsprung, und ich steuerte so, daß ich diesen zwischen uns und die beiden Leute brachte; wir waren noch nicht gelandet, da hatten wir schon die Gigs aus dem Gesicht verloren. Ich sprang an Land und rannte so schnell, wie ich es bei der Hitze wagen konnte; der Kühlung wegen hatte ich mir ein großes seidenes Taschentuch unter meinen Hut gelegt; ein paar gespannte Pistolen hielt ich vorsichtshalber schußfertig. Ich hatte kaum hundert Schritte gemacht, da traf ich auf das Pfahlwerk.

Dieses war folgendermaßen beschaffen: Eine Süßwasserquelle entsprang dicht hinter dem Gipfel eines kleinen Hügels. Auf diesem Hügel hatten die Piraten ein starkes Blockhaus erbaut, das auch die Quelle mit einschloß; es war so groß, daß es im Notfall ungefähr vierzig Mann fassen konnte, und war auf allen Seiten mit Schießscharten für Musketen versehen. Rund um das Blockhaus herum hatten sie einen großen Platz von Bäumen klar gemacht und dann die Befestigung durch ein sechs Fuß hohes Pfahlwerk ohne eine Tür oder sonstige Öffnung vervollständigt; es war zu stark, um es ohne Zeitverlust und Arbeit zu zerstören, und zugleich standen die Pfähle zu weit auseinander, um etwaigen Belagerern Deckung zu gewähren. Die Leute im Blockhaus hatten sie vor ihren Gewehren; sie standen ruhig in Deckung und schossen die anderen wie Rebhühner ab. Alles was sie brauchten, war gutes Wachehalten und Proviant; denn wenn sie nicht vollständig überrumpelt wurden, konnten sie ihre Festung gegen ein Regiment verteidigen.

Besonders erfreulich war mir die Quelle. Denn wenn auch die Kajüte der Hispaniola ein leicht zu verteidigender Posten war, da wir über reichliche Waffen und Munition verfügten, genug zu essen und ausgezeichnete Weine hatten, so war doch eins übersehen worden: wir hatten kein Wasser.

Gerade als ich hierüber nachdachte, gellte über die ganze Insel hin der Todesschrei eines Menschen. Für mich war dies nichts Neues – ich habe unter Seiner Königlichen Hoheit dem Herzog von Cumberland gedient und bin selber bei Fontenay verwundet worden – aber als ich diesen Schrei hörte, da stand mir das Herz still. »Jim Hawkins ist hin!« war mein erster Gedanke.

Es ist etwas wert, ein alter Soldat gewesen zu sein; aber es ist noch mehr wert, ein Arzt zu sein. Da ist keine Zeit, lange zu fackeln. Und so war ich sofort entschlossen, lief, ohne eine Sekunde zu verlieren, wieder an den Strand hinunter und sprang in die Jolle.

Zum Glück war Hunter ein guter Ruderer. Das Boot flog nur so durch das Wasser und lag gleich darauf neben der Hispaniola, und im Nu war ich auf Deck des Schoners.

Natürlich waren alle ganz erschüttert. Der Squire hatte sich hingesetzt, so weiß wie ein Bettlaken; er dachte an das Ungemach, das er über uns gebracht hatte, die gute Seele! Und einem von den sechs Leuten auf dem Vorderdeck war wohl nicht viel besser zumute.

»Da ist einer,« sagte Kapitän Smollett, indem er mit einem Kopfnicken uns den Mann bezeichnete, »dem so etwas noch neu ist. Er fiel beinahe in Ohnmacht, Doktor, als er den Schrei hörte. Wir brauchen den Mann nur noch mal anzutippen und er kommt zu uns herüber.«

Ich setzte dem Kapitän meinen Plan auseinander, und wir verabredeten alle Einzelheiten der Ausführung.

Den alten Redruth stellten wir in dem schmalen Gang zwischen der Kajüte und dem Vorderdeck auf und gaben ihm drei oder vier geladene Musketen, sowie zu seinem Schutz eine Matratze. Hunter brachte das Boot unter die Heckpforte, und Joyce und ich machten uns sofort an die Arbeit, es mit Pulversäckchen, Musketen, Pökelfleischtonnen, Zwiebacksäcken, einem Fäßchen Kognak und meinem unschätzbaren Medizinkasten zu beladen.

Mittlerweile blieben der Squire und der Kapitän auf Deck, und der letztere rief den Schaluppmeister an, der den Befehl über die anderen Meuterer hatte.

»Hört mal, Hands,« sagte er, »wir sind hier zwei, jeder mit einem Paar Pistolen. Wenn irgendeiner von euch Sechsen ein Signal gibt, gleichgültig welches – der ist ein toter Mann!«

Sie bekamen keinen kleinen Schreck; nachdem sie sich einen Augenblick beraten hatten, sprangen sie alle miteinander die Leiter in den vorderen Schiffsraum hinunter; ohne Zweifel glaubten sie, sie könnten uns auf diesem Wege in den Rücken kommen. Als sie aber sahen, daß Redruth in dem schmalen Gang auf sie wartete, kehrten sie sofort um, und gleich darauf tauchte wieder ein Kopf aus der Luke auf.

»Kopf weg, du Hund!« schrie der Kapitän.

Der Kopf duckte sofort wieder unter, und wir hörten eine ganze Zeitlang nichts mehr von diesen sechs nicht eben tapferen Matrosen.

Inzwischen hatten wir unsere Sachen kunterbunt in die Jolle hineingeworfen und das Boot so schwer beladen, wie wir es wagen durften. Joyce und ich stiegen durch die Sternpfortluke ins Boot und ruderten wieder, so schnell wir konnten, nach dem Strande.

Diese zweite Fahrt brachte die beiden Wachtposten in den Gigs in große Aufregung. Der Lillabullero verstummte wieder; und kurz bevor wir an der kleinen Landzunge sie außer Sicht verloren, sprang einer von ihnen an Land und verschwand. Ich dachte einen Augenblick daran, meinen Plan zu ändern und ihre Boote zu zerstören; aber ich fürchtete, Silver und die anderen könnten ganz in der Nähe sein, und so könnten wir alles verlieren, weil wir zu viel versuchten.

Bald waren wir wieder an derselben Stelle gelandet und begannen das Blockhaus zu verproviantieren. Den ersten Gang machten wir alle drei, schwer beladen. Wir warfen unsere Sachen einfach über das Pfahlwerk hinüber und ließen Joyce zu ihrer Bewachung zurück; das war allerdings ein einziger Mann, aber er hatte ein halbes Dutzend geladene Musketen. Hunter und ich gingen nach der Jolle zurück und bepackten uns wieder wie vorher. So arbeiteten wir ohne Ruhepause und ohne uns nur ein einziges Mal zu verschnaufen, bis die ganze Ladung hinübergebracht war. Hierauf bezogen die beiden Diener ihren Posten im Blockhaus; ich aber ruderte mit aller Macht nach der Hispaniola hinüber.

Daß wir es wagten, noch eine zweite Bootsladung hinüberzuschaffen, mag kühner erscheinen, als es in Wirklichkeit war. Die Meuterer waren uns natürlich an Zahl weit überlegen, aber wir hatten den Vorteil der Bewaffnung. Kein einziger von den Leuten am Lande hatte eine Muskete, und wir waren überzeugt, daß wir mindestens ein halbes Dutzend von ihnen außer Gefecht setzen könnten, bevor sie in Pistolenschußweite kämen.

Der Squire erwartete mich an der Sternluke; alle seine Schwäche war verflogen. Er fing das Tau auf, das ich ihm zuwarf, und machte es fest, und dann beluden wir das Boot so schnell, wie wenn es um unser Leben ginge. Gepökeltes Schweinefleisch, Pulver und Schiffszwieback war die Ladung; außerdem nahmen wir nur je eine Muskete und je einen Stutzsäbel für den Squire und mich und Redruth und den Kapitän mit. Die übrigen Waffen und den Rest des Pulvers warfen wir über Bord in dritthalb Faden tiefes Wasser; wir konnten den blanken Stahl auf dem reinen Sandboden tief unter uns in der Sonne schimmern sehen.

Inzwischen hatte die Ebbe eingesetzt, und das Schiff drehte sich an seinem Anker herum. In der Richtung auf die beiden Gigs hörten wir ein schwaches Rufen, und obgleich uns dies die Beruhigung gab, daß Joyce und Hunter in Sicherheit waren – denn sie befanden sich ein gutes Stück weiter nach Osten zu –, so war es doch für uns eine dringende Aufforderung, uns aufzumachen.

Redruth zog sich von seinem Posten im Verbindungsgang zurück und sprang in das Boot, das wir hierauf an die Gilling heranbrachten, damit Kapitän Smollett bequemer einsteigen könnte. Bevor er aber dies tat, rief er:

»Nun, Leute – hört ihr mich?«

Vom Vorderschiff kam keine Antwort.

»Ich meine dich, Abraham Gray!«

Immer noch keine Antwort.

»Gray,« rief Smollett noch lauter, »ich verlasse jetzt das Schiff, und ich befehle Euch, Eurem Kapitän zu folgen. Ich weiß, Ihr seid im Grunde ein braver Mann, und ich bin auch überzeugt, kein einziger von euch allen ist in Wirklichkeit so schlecht, wie er sich stellt. Ich halte meine Uhr hier in der Hand; ich gebe Euch dreißig Sekunden Zeit, zu mir zu kommen!«

Einen Augenblick war alles still.

»Kommt, mein braver Junge!« fuhr der Kapitän fort; »besinnt Euch nicht so lange! Ich riskiere mit jeder Sekunde mein Leben und das dieser guten Herren hier.«

Plötzlich hörten wir ein Gebalge, einen Lärm von Faustschlägen, und heraus sprang Abraham Gray mit einem Messerschnitt auf der Wange und lief zum Kapitän herüber, wie ein Hund, dem sein Herr gepfiffen hat, und sagte:

»Ich halte zu Ihnen, Herr!«

Im nächsten Augenblick waren er und der Kapitän zu uns ins Boot gesprungen; wir stießen ab und fuhren davon.

Vom Schiff waren wir also herunter; aber wir waren noch nicht an Land und erst recht nicht in unserem Pfahlwerk.

Siebzehntes Kapitel


Fortsetzung der Erzählung des Doktors: Die letzte Fahrt der Jolle

Diese fünfte Überfahrt war ganz verschieden von allen anderen. Erstens war unsere kleine Nußschale von einem Boot weit über ihre Tragkraft beladen. Fünf erwachsene Männer waren überhaupt schon mehr, als die Jolle eigentlich tragen konnte, zumal da drei von ihnen – Trelawney, Redruth und der Kapitän – mehr als sechs Fuß hoch waren. Hierzu kam noch das Pulver, das Schweinefleisch und die Zwiebacksäcke. Das Wasser ging bis ans Dollbord und schwappte verschiedene Male über, wenn auch nicht viel hineinlief; aber meine Hose und meine Rockschöße waren klitschnaß, bevor wir hundert Yards zurückgelegt hatten.

Der Kapitän ließ uns so sitzen, daß das Boot besser im Gleichgewicht war. Trotzdem wagten wir kaum zu atmen.

Außerdem wurde der Ebbstrom jetzt stärker. Eine kräftige Strömung ging nach Westen durch das Wasserbecken und dann südwärts nach dem engen Sund zu, durch den wir am Morgen eingefahren waren. Für unser überladenes Fahrzeug waren sogar die leichten Kräuselwellen eine Gefahr; das schlimmste aber war, daß wir aus unserem richtigen Kurs kamen und über unsere eigentliche Landungsstelle hinaus abgetrieben wurden. Wenn wir uns von der Strömung mitnehmen ließen, mußten wir dicht neben den Gigs landen, wo jeden Augenblick die Piraten erscheinen konnten.

»Ich kann nicht auf das Pfahlwerk zuhalten, Kapitän!« sagte ich zu Smollett. Ich steuerte, während er und Redruth, die noch frisch bei Kräften waren, die Riemen führten. »Der Ebbstrom treibt uns fortwährend ab. Könnten Sie vielleicht etwas stärker rudern?«

»Nicht ohne daß uns das Boot voll läuft,« sagte er.

»Sie müssen dicht heranhalten, Doktor, wenn Sie so gut sein wollen – immer dicht heran, bis Sie sehen, daß wir der Strömung Herr werden.«

Ich versuchte es und fand bald, daß der Ebbstrom uns nach Westen riß, wenn ich nicht genau nach Osten steuerte; das war aber im rechten Winkel in der Richtung, in der wir fahren mußten.

»Auf diese Weise kommen wir nie und nimmer an Land,« sagte ich.

»Wenn es der einzige mögliche Kurs ist, Doktor, so müssen wir ihn eben steuern,« antwortete der Kapitän. »Wir müssen gegen den Strom halten. Sehen Sie, – wenn wir einmal leewärts von dem Landungsplatz kommen, dann ist es schwer zu sagen, an welcher Stelle wir an den Strand kommen; ganz abgesehen von der Möglichkeit, daß die Gigs uns über den Hals kommen. Wenn wir aber einfach weiterfahren, muß die Strömung allmählich schwächer werden, und dann können wir dicht am Strande wieder zurückfahren.«

»Der Strom ist schon weniger, Herr,« sagte der Matrose Gray, der vorne am Bug saß; »Sie können hier ein bißchen mehr freien Weg geben.«

»Danke Euch, mein Mann,« sagte ich ganz ruhig, wie wenn gar nichts vorgefallen wäre; denn wir waren stillschweigend alle darüber einig, ihn wie unseresgleichen zu behandeln.

Plötzlich stieß der Kapitän einen Ruf aus, und es kam mir vor, wie wenn seine Stimme etwas verändert wäre.

»Die Kanone!« sagte er.

»Ich habe daran gedacht,« sagte ich; denn ich war überzeugt, daß er an ein Bombardement des Pfahlwerks dachte. »Sie können die Kanone unmöglich an Land schaffen; und selbst wenn ihnen das gelänge, könnten sie sie doch nicht durch den Wald schleppen.«

»Sehen Sie sich um, Doktor!« antwortete der Kapitän.

Wir hatten den langen Neunpfünder ganz und gar vergessen und sahen jetzt auf einmal zu unserem Entsetzen, daß die fünf Halunken eifrig beschäftigt waren, der Kanone die Jacke auszuziehen, wie man die starke Segelleinwand nennt, mit der sie während der Fahrt zugedeckt ist. Und es war nicht nur das; sondern in demselben Augenblick fiel mir ein, daß wir die Vollkugeln und das Pulver für die Kanone zurückgelassen hatten; ein einziger Streich mit der Axt mußte die Munition in den Besitz der fünf Bösewichte bringen.

»Israel war Flints Kanonier!« sagte Gray mit eigener Stimme.

Aller Gefahr zum Trotz lenkten wir das Boot schnurstracks auf den Landungsplatz zu. Wir waren mittlerweile so weit aus der Strömung herausgekommen, daß das Boot selbst trotz unserem naturgemäß sehr langsamen Rudern genug Steuerfahrt hatte, und ich konnte gerade auf das Ziel loshalten. Aber das schlimmste dabei war, daß wir bei dem jetzigen Kurse der Hispaniola unsere Breitseite anstatt unseres Sterns zudrehten, so daß wir also ein Ziel wie ein Scheunentor darboten.

Ich konnte nicht nur hören, sondern auch sehen, wie der Schuft mit dem versoffenen Branntweinsgesicht, Israel Hands, eine Vollkugel auf das Deck warf.

»Wer ist der beste Schütze?« fragte der Kapitän.

»Herr Trelawney, ohne allen Zweifel,« sagte ich.

»Herr Trelawney, wollen Sie mir bitte einen von diesen Leuten wegputzen? Wenn möglich Hands!« sagte der Kapitän. Trelawney war kalt wie Stahl; er sah nach dem Zündkraut seines Gewehrs.

»Aber sachte mit der Flinte, Herr!« rief der Kapitän; »sonst läuft uns das Boot voll. Alle sitzen ganz ruhig, während er zielt!«

Der Squire erhob seine Muskete; das Rudern hörte auf, und wir beugten uns nach der anderen Seite hinüber, um das Gleichgewicht herzustellen. Dies alles wurde so genau gemacht, daß kein Tropfen Wasser ins Boot kam.

Die Meuterer hatten unterdessen die Kanone auf ihrem Pfosten herumgedreht; Hands, der mit dem Wischer bei der Mündung stand, war infolgedessen am wenigsten gedeckt. Aber wir hatten kein Glück; denn gerade in dem Augenblick, als Trelawney feuerte, bückte Hands sich; die Kugel pfiff über ihn hinweg, und es fiel einer von den anderen vier.

Auf den Schrei, den er ausstieß, antworteten nicht nur seine Kameraden an Bord, sondern auch zahlreiche Stimmen vom Strande; und als ich nach jener Richtung lugte, sah ich, wie die Piraten truppweise zwischen den Bäumen hervorkamen und in ihre Boote sprangen.

»Jetzt kommen die Gigs, Kapitän!« rief ich.

»Dann nur einfach geradeaus!« schrie der Kapitän. »Es darf uns jetzt nicht mehr darauf ankommen, ob wir Wasser ins Boot bekommen. Wenn wir es nicht an Land bringen können, ist alles aus!«

»Nur eine von den Gigs wird bemannt,« sagte ich zum Kapitän; »die Mannschaft des anderen Bootes geht wahrscheinlich den Strand entlang, um uns abzuschneiden.«

»Das wird ihnen Schweiß kosten, Doktor,« antwortete der Kapitän. »Sie wissen, wie schlecht zu Fuß Hans Maat zu Lande ist. Nein, die machen uns hier keine Sorgen; wohl aber die Vollkugel der Kanone. Zimmerkegelspiel! Mylady Kammerjungfer könnte nicht vorbeischießen. Sagen Sie uns, Squire, sobald Sie die Lunte sehen; wir werden dann rückwärts rojen.«

Mittlerweile waren wir für ein so schwer beladenes Boot ziemlich schnell vorwärts gekommen, und es war dabei nur wenig Wasser ins Boot gelaufen. Wir waren jetzt dicht an unserem Ziel; dreißig oder vierzig Ruderschläge mußten uns an Land bringen; denn die Ebbe hatte bereits einen schmalen Sandstreifen unterhalb der Bäume freigelegt. Der Ebbstrom, der uns in so unangenehmer Weise aufgehalten hatte, glich jetzt den Schaden für uns wieder aus, indem er unsere Verfolger aufhielt. Die einzige Gefahr drohte uns von dem Geschütz.

»Wenn ich es wagen dürfte,« sagte der Kapitän, »würde ich einen Augenblick halten und noch einen wegputzen.«

Aber es war klar, daß die Meuterer sich durch nichts aufhalten lassen wollten. Sie hatten sich nach ihrem gefallenen Kameraden nicht einmal umgesehen, obgleich er nicht tot war; denn ich sah, wie er von der Kanone wegzukriechen versuchte.

»Fertig!« rief der Squire.

»Halt!« rief der Kapitän, schnell wie ein Echo.

Und er und Redruth setzten mit aller Wucht die Riemen rückwärts ein, und der Stern des Bootes kam unter Wasser. In demselben Augenblick kam der Knall der Kanone. Dies war der erste Schuß, den Jim hörte; denn der Knall von dem Musketenschuß des Squires hatte ihn nicht erreicht. Wie die Kugel flog, konnte keiner von uns genau sagen; aber ich denke mir, sie muß über unsere Köpfe weg geflogen sein, und der Luftdruck, den sie verursachte, mag wohl zu unserem Mißgeschick beigetragen haben.

Jedenfalls sank das Boot, den Stern voran, in drei Fuß tiefes Wasser; der Kapitän und ich blieben einander gegenüber auf unseren Füßen stehen. Die andern drei kamen mit dem ganzen Körper ins Wasser und schnauften und sprudelten, als sie wieder auftauchten.

Dies hatte nicht viel zu bedeuten. Kein Leben war verloren gegangen, und wir konnten in Sicherheit an den Strand waten. Aber alle unsere Vorräte lagen im Wasser, und, was noch schlimmer war, von den fünf Musketen waren nur noch zwei brauchbar. Die meinige hatte ich, sozusagen triebmäßig, über den Kopf gehalten. Der Kapitän hatte seine Büchse an einem Riemen über der Schulter getragen, und zwar als ein kluger Mann mit dem Schloß nach oben. Die anderen drei Musketen waren völlig naß geworden, als das Boot versank.

Unsere Sorgen wurden noch dadurch vermehrt, daß wir bereits Stimmen im Walde am Strande näher kommen hörten; es bestand daher nicht allein die Gefahr, daß wir in unserem halb wehrlosen Zustande von dem Pfahlwerk abgeschnitten wurden, sondern wir mußten auch befürchten, daß Hunter und Joyce vielleicht nicht so kaltblütig sein würden, standzuhalten, wenn sie von einem halben Dutzend Piraten angegriffen würden. Hunter war allerdings zuverlässig – das wußten wir; mit Joyce aber war es zweifelhaft: er war ein freundlicher, höflicher Mann – ein guter Bedienter, der zuverlässig einen Rock sauber ausbürstete, aber nicht eigentlich ein Kriegsmann.

Mit allen diesen Befürchtungen im Herzen, wateten wir so schnell, wie wir konnten, an Land; die arme Jolle und die größte Hälfte unseres ganzen Mundvorrates und Pulvers ließen wir hinter uns.

Achtzehntes Kapitel


Fortsetzung der Erzählung des Doktors: Der Ausgang des Gefechtes am ersten Tage

Wir liefen so schnell wie möglich durch das schmale Stück Wald, das uns vom Pfahlwerk trennte, und bei jedem Schritt, den wir machten, klangen die Stimmen der Meuterer näher. Bald konnten wir ihre eiligen Schritte hören und das Knacken der Zweige, wenn sie durch ein Gebüsch brachen.

Ich begann zu merken, daß wir ein ernstliches Gefecht haben würden, sah nach dem Zündkraut meiner Muskete und sagte:

»Kapitän! Trelawney ist ein sicherer Schütze. Geben Sie ihm Ihr Gewehr; sein eigenes ist unbrauchbar.«

Sie tauschten ihre Gewehre aus, und Trelawney, der sich die ganze Zeit über sehr ruhig und kaltblütig benommen hatte, blieb einen Augenblick stehen, um nachzusehen, ob das Gewehr vollkommen in Ordnung sei. Da ich bemerkte, daß Gray unbewaffnet war, gab ich ihm meinen Stutzsäbel. Es tat uns allen vom Herzen gut, zu sehen, wie er in die Hand spuckte, seine Augenbrauen zusammenzog und die Klinge durch die Luft pfeifen ließ. Wir sahen an jeder Muskel seines Körpers klar und deutlich, daß unser neuer Waffengefährte sein Salz wert war.

Vierzig Schritte weiter kamen wir an den Waldsaum und sahen das Pfahlwerk gerade vor uns liegen. Wir erreichten die Umzäunung ungefähr an der Mitte der Südseite, und fast in demselben Augenblick erschienen sieben Meuterer – an ihrer Spitze der Bootsmann, Hiob Anderson – in vollem Lauf an der Südwestecke.

Sie prallten zurück, wie wenn unsere Anwesenheit sie überraschte; und bevor sie zur Besinnung kamen, hatten nicht nur der Squire und ich, sondern auch Hunter und Joyce im Blockhause, Zeit genug, um zu feuern. Die vier Schüsse kamen nicht als Salve, sondern plackerten etwas; aber sie erfüllten ihren Zweck: einer von den Feinden stürzte zu Boden, und die übrigen kehrten sofort um und verschwanden unter den Bäumen.

Nachdem wir wieder geladen hatten, gingen wir an der Außenseite der Palisade entlang, um nach dem gefallenen Feinde zu sehen. Er war mausetot – durchs Herz geschossen.

Wir frohlockten über unseren guten Erfolg; da krachte gerade in demselben Augenblick ein Pistolenschuß aus dem Gebüsch, eine Kugel pfiff dicht an meinem Ohr vorüber, und der arme Redruth taumelte und fiel der Länge nach zu Boden. Der Squire sowohl wie ich erwiderten den Schuß; da wir aber kein Ziel sahen, so vergeudeten wir wahrscheinlich nur unser Pulver. Hierauf luden wir wieder unsere Gewehre und wandten unsere Aufmerksamkeit dem armen Tom zu.

Der Kapitän und Gray waren schon dabei, ihn zu untersuchen, und ich sah mit einem halben Blick, daß alles vorüber war.

Ich glaube, die Schnelligkeit, womit wir den Pistolenschuß erwidert hatten, hatte die Meuterer abermals auseinandergejagt; denn sie ließen uns ohne weitere Belästigung den braven alten Förster über die Palisade heben; sodann trugen wir den stöhnenden Mann, der viel Blut verlor, ins Blockhaus.

Der arme alte Bursche! Er hatte vom ersten Beginn unserer Schwierigkeiten bis zu diesem Augenblick, da wir ihn im Blockhaus zum Sterben niederlegten, kein Wort von Überraschung, Klage, Furcht oder auch nur Zustimmung geäußert. Wie ein Trojaner hatte er seinen Posten hinter der Matratze in dem schmalen Gang behauptet; er hatte jeden Befehl schweigend, hartnäckig und genau ausgeführt; er war zwanzig Jahre älter als der älteste von uns; und nun mußte dieser brummige, aber treue und nützliche alte Diener für uns sterben.

Der Squire fiel neben ihm auf die Knie nieder und küßte seine Hand und weinte dabei wie ein Kind.

»Muß ich gehen, Herr Doktor?« fragte Tom.

»Tom, mein Mann,« sagte ich, »Ihr geht heim.«

»Ich wollte, ich hätte ihnen mit meiner Flinte erst einen aufbrennen können!« antwortete er.

»Tom,« sagte der Squire, »sagt mir, daß Ihr mir vergebt – wollt Ihr das tun?«

»Wäre das respektvoll, Squire?« war seine Antwort. »Indessen – so sei es, Amen!«

Nach einem kurzen Schweigen sagte er, nach seiner Meinung solle wohl einer von uns ein Gebet lesen.

»Es ist mal der Brauch so, Herr,« sagte er, wie wenn er um Entschuldigung zu bitten hätte. Nicht lange darauf verschied er, ohne noch ein Wort zu sprechen.

Unterdessen hatte der Kapitän, dessen Taschen, wie mir bereits aufgefallen war, merkwürdig bepackt waren, eine große Menge verschiedener Gegenstände hervorgeholt – die britische Flagge, eine Bibel, ein Knäuel ziemlich dicken Bindfaden, Tinte, Federn, das Logbuch und mehrere Pfundpakete Tabak. Er hatte innerhalb der Einzäunung einen ziemlich langen Fichtenstamm gefunden, dessen Zweige bereits abgehackt waren; diesen richtete er mit Hunters Hilfe an der Ecke des Blockhauses auf, wo die Baumstämme im rechten Winkel aufeinanderstießen. Dann kletterte er auf das Dach und zog mit eigener Hand die englischen Farben auf.

Diese Handlungen schienen sein Herz sehr zu erleichtern. Er betrat wieder das Blockhaus und begann unsere Vorräte aufzuzeichnen, wie wenn es sonst nichts auf der Welt gäbe. Bei alledem hatte er sich auch um Tom gekümmert, und sobald alles vorüber war, trat er mit einer zweiten Flagge heran und breitete diese ehrfurchtsvoll über die Leiche aus. Dann schüttelte er dem Squire die Hand und sagte:

»Nehmen Sie sich’s nicht zu sehr zu Herzen, Herr Trelawney! Ihm ist wohl; um einen Mann, der für seine Pflicht, für seinen Kapitän und seinen Herrn gestorben ist, brauchen wir keine Sorge zu haben, daß er nicht in den Himmel kommt. Das ist vielleicht nach der Glaubenslehre nicht richtig, aber es ist Tatsache.«

Hierauf zog er mich beiseite und sagte:

»Doktor Livesey, in wieviel Wochen erwarten Sie und der Squire die Ankunft des zweiten Schiffes, das uns nachgesandt werden sollte?«

Ich sagte ihm, es handle sich dabei nicht um Wochen, sondern um Monate; erst wenn wir gegen Ende August nicht zurück wären, sollte Blandly das zweite Schiff schicken, um nach uns zu suchen; aber weder früher noch später.

»Sie können sich’s also selber ausrechnen,« sagte ich.

»Hm, ja,« antwortete der Kapitän und kratzte sich den Kopf, »und wenn ich noch so sehr auf die Güte der Vorsehung rechne, Doktor, möchte ich sagen, wir sind in einer ziemlich ekligen Klemme!«

»Wieso?«

»Es ist jammerschade, Doktor, daß wir die zweite Bootsladung verloren haben,« antwortete der Kapitän. »Mit unserem Pulver und Blei werden wir reichen. Aber die Rationen sind knapp, sehr knapp – so knapp, Doktor Livesey, daß es vielleicht ebensogut ist, diesen Esser weniger zu haben.« Und mit diesen Worten zeigte er auf den Leichnam unter der Flagge.

Gerade in diesem Augenblick flog sausend eine Vollkugel hoch über das Dach des Blockhauses hinweg und schlug weit hinter uns in den Wald ein.

»Oho!« rief der Kapitän; »pulvert nur los! Ihr habt jetzt schon wenig genug Pulver, meine Jungens.«

Der zweite Schuß war besser gezielt: die Kugel schlug innerhalb der Palisade ein und warf eine Sandwolke auf, richtete aber sonst keinen Schaden an.

»Kapitän,« sagte der Squire, »das Haus ist vom Schiff aus vollständig unsichtbar, es muß die Flagge sein, wonach sie zielen. Wäre es nicht weiser, sie einzuziehen?«

»Meine Flagge streichen!« rief der Kapitän. »Nein, Herr – das tu ich nicht!«

Und ich glaube, wir alle waren seiner Meinung, sobald er diese Worte gesprochen hatte. Denn es war nicht nur eine Äußerung kräftigen Seemannsmutes, sondern es war auch politisch klug; denn die Flagge zeigte unseren Feinden, daß wir ihre Kanonade verachteten.

Den ganzen Abend donnerten sie mit ihrer Kanone. Eine Vollkugel nach der anderen flog über uns hinweg oder war zu kurz gezielt oder wirbelte in der Umzäunung den Sand auf; sie mußten aber so hoch im Bogen schießen, daß die Kugel sich unschädlich in den weichen Sand einbohrte. Wir brauchten kein Abprallen der Kugel zu fürchten; eine schlug allerdings durch das Dach des Blockhauses und fuhr durch den Fußboden wieder heraus, aber wir gewöhnten uns bald an den Spaß und kümmerten uns so wenig darum, wie wenn Kricket gespielt würde.

»Ein Gutes hat das alles,« bemerkte der Kapitän: »Der Wald zwischen uns und dem Strande ist wahrscheinlich vom Feinde nicht besetzt. Die Ebbe ist mittlerweile ein gutes Stück zurückgegangen, wahrscheinlich liegen unsere Vorräte jetzt nicht mehr im Wasser. Freiwillige vor, um das Pökelfleisch zu holen!«

Gray und Hunter waren die ersten, die vortraten. Gut bewaffnet schlichen sie sich aus dem Pfahlwerk heraus; aber ihr Unternehmen erwies sich als unausführbar. Die Meuterer waren kühner, als wir geglaubt hatten, oder sie hatten mehr Vertrauen zu Israels Schießkunst. Denn vier oder fünf von ihnen waren emsig beschäftigt, unsere Vorräte wegzuschleppen und wateten mit ihnen bis zu einer der Gigs, die ganz in der Nähe lag und ab und zu mit einem Ruderschlag sich gegen die Strömung hielt. Silver saß hinten und führte das Kommando, und jeder einzelne von ihnen war jetzt mit einer Muskete versehen, die sie aus irgendeinem geheimen Magazin genommen haben mußten.

Der Kapitän setzte sich an sein Logbuch und begann seine Eintragungen folgendermaßen:

»Alexander Smollett, Schiffer; David Livesey, Schiffsarzt; Abraham Gray, Zimmermannsmaat; John Trelawney, Eigentümer; John Hunter und Richard Joyce, Diener des Eigentümers, keine Seeleute. Dies sind alle, die von der Schiffsgesellschaft treu geblieben sind. Sie kamen mit Vorräten für zehn Tage bei knappen Rationen heute an Land und zogen auf dem Blockhaus der Schatzinsel die englische Flagge auf. Thomas Redruth, Diener des Eigentümers, Förster, von den Meuterern erschossen; James Hawkins, Kajütsjunge –«

In demselben Augenblick dachte ich bei mir selber, wie es wohl dem armen Jim Hawkins gegangen ist.

Da wurde auf der Landseite des Blockhauses gerufen.

»Einer ruft uns an,« sagte Hunter, der die Wache hatte.

»Doktor! Squire! Kapitän! Hallo, Hunter, seid Ihr das?« rief es draußen.

Und ich lief an die Tür und kam gerade noch zur rechten Zeit, um Jim Hawkins heil und gesund über die Palisaden klettern zu sehen.