Neuntes Kapitel

Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat Basil Hallward ins Zimmer.

»Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian,« sagte er in ernstem Tone. »Ich war gestern abend da, und man sagte mir, du seist in der Oper. Natürlich wußte ich, daß das nicht sein konnte. Aber ich wollte, du hättest ein Wort hinterlassen, wohin du wirklich gegangen warst. Ich verbrachte eine schreckliche Nacht und fürchtete halb, der einen Tragödie könnte eine zweite gefolgt sein. Du hättest mir telegraphieren sollen, sowie du es erfuhrst. Ich las es ganz zufällig in einer späten Ausgabe des Globe, den ich im Klub in die Hand bekam. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich, dich nicht zu finden. Ich kann dir nicht sagen, wie bitter weh mir das Ganze tut. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber wo warst du? Warst du hingegangen, ihre Mutter zu sehen? Einen Augenblick dachte ich daran, dich dort aufzusuchen. In der Zeitung stand die Adresse. Irgendwo in Euston Road, nicht wahr? Aber ich fürchtete, in einen Schmerz einzudringen, dem ich nicht helfen konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand muß sie sein? Und dazu ihr einziges Kind! Was sagte sie zu dem allem?«

»Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?« fragte Dorian Gray, der aus einem entzückenden bauchigen venezianischen Glas, das mit Goldperlen verziert war, von einem blaßgelben Wein kleine Schlucke nahm und äußerst indigniert aussah. »Ich war in der Oper. Du hättest auch kommen sollen. Ich lernte Lady Gwendolen, Harrys Schwester, kennen. Wir waren bei ihr in der Loge. Sie ist ein reizendes Geschöpf; und die Patti sang himmlisch. Sprich nicht über gräßliche Sachen! Wenn man über eine Sache nicht spricht, ist sie nie gewesen. Nur der Ausdruck, sagt Harry, gibt den Dingen Wirklichkeit. Hinzufügen möchte ich, daß sie nicht das einzige Kind der Mutter war. Es ist noch ein Sohn da, ein famoser Bursche, glaube ich. Aber er ist nicht beim Theater – Matrose oder so was Ähnliches. Und jetzt erzähle von dir etwas. Was machst du?«

»Du warst in der Oper?« sagte Hallward. Er sprach sehr leise, sein Ton war schmerzhaft gepreßt. »Du gingst in die Oper, während Sibyl Vane in einem schmutzigen Hause auf dem Totenbette liegt? Du kannst zu mir von andern reizenden Frauen sprechen und von dem himmlischen Gesang der Patti, ehe das Mädchen, das du geliebt hast, noch der Ruhe des Grabes übergeben ist, in dem sie schlafen soll? Mensch, Mensch, was für Schrecknisse warten auf ihren kleinen weißen Körper!«

»Hör auf, Basil, ich will das nicht hören!« rief Dorian aufspringend. »Du mußt nicht von geschehnen Dingen mit mir reden. Was geschehen ist, ist geschehen. Was vorbei ist, ist vorbei. Laß das Vergangne!«

»Du nennst gestern die Vergangenheit?«

»Was hat der Verlauf der Zeit damit zu tun? Nur oberflächliches Volk braucht Jahre, um eine Empfindung loszuwerden. Ein Mensch, der Herr über sich selbst ist, kann einem Schmerz so leicht ein Ende machen, wie er einen Genuß finden kann. Ich habe keine Lust, meinen Empfindungen preisgegeben zu sein. Ich will sie nutzen, sie genießen und sie beherrschen.«

»Dorian, das ist gräßlich! Es hat dich etwas völlig gewandelt. Du siehst genau so aus wie der wundervolle Jüngling, der Tag für Tag in mein Atelier kam, um mir für sein Bild zu sitzen. Aber damals warst du einfach, natürlich und liebevoll. Du warst das unverdorbenste Menschenkind in der ganzen Welt. Ich weiß nicht, was jetzt über dich gekommen ist. Du sprichst, als ob du kein Herz und kein Erbarmen in der Brust hättest. Das ist alles Harrys Einfluß, ich sehe es.«

Der Jüngling errötete, trat ans Fenster und blickte einige Augenblicke auf den grünen, blitzenden, von der Sonne übergossenen Garten. »Ich verdanke Harry sehr viel,« antwortete er schließlich, »mehr als dir. Du warst es, der mir die Eitelkeit beigebracht hat.«

»Ich bin gestraft dafür, Dorian – oder werde eines Tages dafür gestraft werden.«

»Ich weiß nicht, was du meinst, Basil!« rief er aus und drehte sich um. »Ich weiß nicht, was du willst. Was willst du?«

»Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt habe,« sagte der Künstler traurig.

»Basil,« antwortete der Jüngling, trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Gestern, als ich erfuhr, daß Sibyl Vane sich getötet habe…«

»Sich getötet! Großer Gott! Ist das sicher?« schrie Hallward auf und blickte ihn entsetzt an.

»Mein lieber Basil! Du nimmst doch nicht an, daß es ein gemeiner Zufall war? Natürlich hat sie sich selbst getötet.« Der Altere barg das Gesicht in den Händen. »Wie furchtbar,« flüsterte er, und ein Schauder durchlief ihn.

»Nein,« sagte Dorian Gray, »es ist nichts Furchtbares daran. Es ist eine der großen romantischen Tragödien unserer Zeit. In der Regel führen Leute vom Theater das trivialste Leben. Sie sind gute Ehemänner oder treue Gattinnen oder sonst etwas Langweiliges. Du weißt, was ich meine – Philistertugend und dergleichen. Wie anders war Sibyl! Sie lebte ihre schönste Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am letzten Abend, an dem sie spielte – an dem Abend, wo du sie sahst-, spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit kennen gelernt hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit kennen lernte, starb sie, wie Julia gestorben ist. Sie floh wieder ins Land der Kunst. Etwas von Märtyrertum umschwebt sie. Ihr Tod hat die ganze pathetische Nutzlosigkeit des Märtyrertums, all seine verschwendete Schönheit. Aber wie gesagt, du darfst nicht glauben, ich hätte nicht gelitten. Wenn du gestern in einem bestimmten Augenblick gekommen wärest – vielleicht um halb sechs Uhr oder dreiviertel sechs –, hättest du mich in Tränen gefunden. Selbst Harry, der hier war, der mir die Nachricht tatsächlich gebracht hat, hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich litt unsäglich. Dann verflog es. Ich kann eine Empfindung nicht wiederholen. Niemand kann es, außer den Sentimentalen. Und du bist sehr ungerecht, Basil. Du kommst hierher, mich zu trösten. Das ist sehr lieb von dir. Du findest mich getröstet und wirst wütend. Ist das dein Mitgefühl? Du erinnerst mich an eine Geschichte, die Harry mir von einem Philantropen erzählte, der zwanzig Jahre seines Lebens sich bemühte, einen Mißstand zu heben oder die Abänderung eines ungerechten Gesetzes zu erwirken – ich weiß nicht mehr genau. Schließlich hatte er Erfolg, und nichts kann größer sein als seine Enttäuschung. Er hatte ganz und gar nichts mehr zu tun, starb fast vor Langerweile und wurde ein vollendeter Menschenfeind. Und überdies, lieber alter Basil, wenn du mich wirklich trösten willst, lehre mich lieber vergessen, was geschehen ist, oder es von dem rechten künstlerischen Standpunkt aus betrachten. War es nicht Gautier, der gern von der ›consolation des arts‹ geschrieben hat? Ich erinnere mich, in deinem Atelier fand ich einmal ein kleines Buch in Pergamenteinband und stieß auf das entzückende Wort. Nun, wie der junge Mann bin ich nicht, von dem du mir erzähltest, als wir zusammen in Marlow waren, der zu sagen pflegte, gelber Atlas könne einen in allen Unglücksfällen des Lebens trösten. Ich liebe schöne Dinge, die man berühren und zur Hand nehmen kann. Alter Brokat, grüne Bronze, Lackarbeiten, geschnitztes Elfenbein, ein erlesenes Interieur, verschwenderische Üppigkeit, von dem allem ist viel zu holen, Aber die künstlerische Seelenverfassung, die sie schaffen oder jedenfalls offenbaren, gilt mir noch mehr. Zuschauer seines eigenen Lebens werden, wie Harry sagt, heißt dem Leiden des Lebens entrinnen. Ich weiß, du bist überrascht, daß ich so zu dir spreche. Du hast nicht wahrgenommen, wie ich mich entwickelt habe. Ich war ein Knabe, als du mich kennen lerntest. Ich bin ein Mann geworden. Ich habe neue Leidenschaften, neue Gedanken, neue Ideen. Ich bin ein anderer, aber du darfst mich darum nicht weniger lieben. Ich bin verwandelt, aber du mußt immer mein Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr gern. Aber ich weiß, daß du besser bist als er. Du bist nicht stärker du fürchtest das Leben zu sehr– aber du bist besser. Und wie glücklich sind wir doch miteinander gewesen! Verlaß mich nicht, Basil, und streite nicht mit mir. Ich bin, was ich bin. Da ist nichts weiter zu sagen.«

Der Maler war seltsam bewegt. Der Jüngling war ihm unendlich wert, und seine Erscheinung war der große Wendepunkt in seiner Kunst gewesen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm noch ferner Vorwürfe zu machen. Schließlich war seine Gleichgültigkeit wahrscheinlich nur eine vorübergehende Stimmung. Es war so viel in ihm, was gut, so viel, was edel war.

»Gut, Dorian,« sagte er endlich mit traurigem Lächeln, »ich werde von heute an nichts mehr von der traurigen Sache zu dir sagen. Ich hoffe nur, dein Name wird nicht in Verbindung mit ihr genannt. Die Leichenschau wird diesen Nachmittag stattfinden. Bist du geladen?«

Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme Empfindung prägte sich bei dem Wort »Leichenschau“ in seinen Mienen aus. Alles der Art hatte so etwas Rohes und Gemeines an sich. »Sie wissen nicht, wie ich heiße,« antwortete er.

»Aber sie wußte es doch?«

»Sie kannte nur meinen Vornamen, und ich bin sicher, daß sie den niemandem gegenüber aussprach. Sie sagte mir einmal, alle seien sehr neugierig, zu wissen, wer ich sei, und sie sage allen unweigerlich, ich heiße Prinz Wunderhold. Das war lieb von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl machen, Basil. Ich möchte gern etwas mehr von ihr haben als ein paar Küsse und ein paar schmerzvolle pathetische Worte.«

»Ich will versuchen, etwas zu machen, wenn du es haben willst. Aber du mußt zu mir kommen und mir selbst wieder sitzen. Ich kann ohne dich nicht weiterkommen.«

»Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Es ist unmöglich!« rief er aus und trat zurück.

Der Maler starrte ihn an. »Lieber Junge, was für Unsinn redest du!« rief er. »Willst du damit sagen, das Bild, das ich von dir gemalt habe, gefalle dir nicht? Wo ist es? Warum hast du den Schirm davorgestellt? Laß mich es sehn! Es ist die beste Arbeit, die je aus meinen Händen kam. Nimm den Schirm weg, Dorian! Es ist eine Schande, daß dein Diener mein Werk derart versteckt. Ich merkte gleich, als ich hereinkam, daß das Zimmer anders aussah.«

»Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du glaubst doch nicht, daß ich es ihm überlasse, wie es in meinem Zimmer aussieht? Er ordnet manchmal meine Blumen, aber weiter nichts. Nein; ich tat es selbst. Das Bild hatte zuviel Licht.«

»Zuviel Licht! Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen prachtvollen Platz. Ich möchte es sehen.« Und Hallward näherte sich der Zimmerecke.

Ein Ruf des Schreckens kam von den Lippen Dorian Grays, und er stürzte sich zwischen den Maler und den Wandschirm. »Basil,« sagte er und sah sehr blaß aus, »du darfst es nicht ansehn. Ich wünsche es nicht!«

»Mein eigenes Bild nicht ansehn! Du scherzest. Warum sollte ich es nicht sehen?« rief Hallward und lachte.

»Wenn du den Versuch machst, es anzusehn, Basil, gebe ich dir mein Ehrenwort, daß ich nie wieder, solange ich lebe, ein Wort mit dir spreche. Ich scherze nicht. Ich gebe keinerlei Erklärung, und du wirst nicht danach fragen. Aber vergiß nicht, wenn du diesen Schirm berührst, ist alles zwischen uns vorbei!«

Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Donau Gray in heftigstem Staunen an. Er hatte ihn nie vorher so gesehen. Der Jüngling war tatsächlich blaß vor Wut. Seine Hände waren geballt, und seine Pupillen sahen aus wie Räder aus blauem Feuer. Er zitterte am ganzen Leib.

»Dorian!«

»Sprich nicht!«

»Aber was ist los? Natürlich sehe ich es nicht an, wenn du es nicht haben willst,« sagte er kalt, drehte sich auf dem Absatz herum und ging ans Fenster hinüber. »Aber wahrhaftig, es klingt wie Wahnsinn, daß ich mein eigenes Werk nicht sehn soll, besonders, wo ich es im Herbst in Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher neu firnissen und es daher eines Tages sehen müssen. Warum also nicht heute?«

»Es ausstellen! Du willst es ausstellen?« rief Dorian Gray, und ein seltsames Gefühl der Angst überkam ihn. Sein Geheimnis sollte der Welt gezeigt werden? Die Menschen sollten das Geheimnis seines Lebens begaffen dürfen? Das war unmöglich. Da mußte etwas – er wußte nicht was – sofort geschehen.

»Ja; ich denke nicht, daß du etwas dagegen hast. Georges Petit ist dabei, meine besten Bilder für eine Sonderausstellung in der Rue de Seze zusammenzustellen, die in der ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. Das Bild wird nur einen Monat fort sein. Ich sollte meinen, du könntest es leicht so lange entbehren. In Wahrheit wirst du sicher gar nicht in der Stadt sein. Und wenn du es immer hinter einem Schirm versteckst, kannst du dir nicht viel daraus machen.«

Dorian Gray fuhr mit der Hand über die Stirn, es standen Schweißtropfen darauf. Er spürte, daß er am Rande einer furchtbaren Gefahr war. »Vor einem Monat sagtest du mir, du wolltest es nie ausstellen. Warum bist du anderer Meinung geworden? Ihr Menschen, die ihr solch Wesen aus der Konsequenz macht, habt genau soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied ist, daß eure Launen keinen Sinn haben. Du kannst nicht vergessen haben, daß du mir sehr feierlich versichert hast, nichts in der Welt sollte dich dazu bringen, es auf eine Ausstellung zu schicken. Du sagtest Harry genau dasselbe.« Er hielt plötzlich inne, und seine Augen glänzten auf. Er erinnerte sich, wie Lord Henry halb im Ernst, halb scherzhaft einmal zu ihm gesagt hatte: ›Willst du eine seltsame Viertelstunde haben, so laß dir von Basil sagen, warum er dein Bild nicht ausstellen will. Er sagte mir den Grund, und es war eine Offenbarung für mich.‹ Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. Er wollte den Versuch machen und ihn fragen.

»Basil,« sagte er, trat dicht an ihn heran und sah ihm gerade ins Gesicht, »jeder von uns hat ein Geheimnis. Laß mich deines wissen, und sich sage dir meines. Was war der Grund, warum du es von dir wiesest, mein Bild auszustellen?«

Den Maler überlief ein Frösteln. »Dorian, wenn ich dir das sagte, hättest du mich vielleicht nicht mehr so lieb wie jetzt und lachtest sicher über mich. Ich könnte beides nicht ertragen. Wenn du wünschst, daß ich dein Bildnis nicht wieder sehn soll, will ich mich zufrieden geben. Ich kann immer noch dich ansehn. Wenn du das beste Werk, das ich je gemacht habe, vor der Welt verstecken willst, soll es mir recht sein. Deine Freundschaft gilt mir mehr als alle Berühmtheit.«

»Nein, Basil, du mußt es mir sagen,« drängte Dorian Gray. »Ich denke, ich habe ein Recht, es zu wissen.« Sein Angstgefühl war gewichen und Neugier an die Stelle getreten. Er war entschlossen, hinter Basil Hallwards Geheimnis zu kommen.

»Setzen wir uns, Dorian,« sagte der Maler, der verwirrt aussah. »Setzen wir uns. Und nun beantworte mir eine Frage. Hast du an dem Bild etwas Seltsames bemerkt? – Etwas, was dir wahrscheinlich zuerst nicht auffiel, was sich dir aber plötzlich offenbarte?«

»Basil!« rief der Jüngling, umklammerte die Armlehnen seines Stuhles mit zitternden Händen und starrte ihn mit wilden, entsetzten Augen an.

»Ich sehe, du hast es bemerkt. Sprich nicht! Warte, bis du gehört hast, was ich zu sagen habe. Dorian, von dem Moment an, wo ich dich kennen lernte, übte deine Erscheinung den außerordentlichsten Einfluß auf mich aus. Du herrschtest über mich, über meine Seele, mein Hirn und all meine Kraft. Du wurdest für mich die sichtbare Verkörperung des unsichtbaren Ideals, das wir Künstler nicht los werden wie einen köstlichen Traum. Ich betete dich an. Ich wurde eifersüchtig auf jeden, mit dem du sprachst. Ich wollte dich ganz für mich haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir zusammen war. Wenn du von mir fort warst, lebtest du noch immer in meiner Kunst und warst da … Natürlich ließ ich dich davon nie etwas ahnen – es wäre unmöglich gewesen. Du hättest es nicht verstanden, ich verstand es kaum selbst. Ich wußte nur, daß ich der Vollkommenheit von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, und daß die Welt sich meinen Augen wundervoll erschlossen hatte – zu wundervoll vielleicht, denn in so wahnsinniger Anbetung liegt Gefahr – die Gefahr, daß sie aufhört, und die Gefahr, daß sie bleibt… Wochen und Wochen vergingen, und ich verlor mich mehr und mehr in dir. Dann kam eine neue Wendung. Ich hatte dich als Paris in funkelnder Rüstung gemalt und als Adonis im Jagdgewand mit blitzendem Jagdspieß. Mit schweren Lotosblumen bekränzt hast du am Bug der Barke Hadrians gesessen und auf das grüne, trübe Wasser des Nils gesehn. Du hast dich über den stillen Teich einer Waldlandschaft Griechenlands gebeugt und in dem schweigenden Silber des Wassers das Wunder deines eigenen Bildes erblickt. Und es war alles gewesen, wie die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entfernt. Eines Tages – eines verhängnisvollen Tages, denke ich manchmal, beschloß ich, ein wundervolles Bild von dir, wie du wirklich bist, zu malen, nicht in der Tracht vergangener Zeiten, sondern in deinen eignen Kleidern und deiner eignen Zeit. Ob es der Realismus der Aufgabe oder das bloße Wunder deiner eigenen Erscheinung war, die sich so unmittelbar ohne Dunst und Schleier vor mich hinstellte, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, als ich daran arbeitete, schien jede Schicht Farbe, die ich auftrug, mein Geheimnis zu enthüllen. Ich bekam Angst, andere könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb, herausfinden. Ich empfand, Dorian, daß ich zuviel gesagt hatte, daß ich zuviel von mir selbst hineingelegt hatte. Damals entschloß ich mich, das Bild nie ausstellen zu lassen. Du schienst etwas betroffen; aber damals gewahrtest du nicht alles, was es für mich bedeutete. Harry, dem ich davon sprach, lachte mich aus. Aber das beirrte mich nicht. Als das Bild vollendet war und ich allein vor ihm saß, fühlte ich, daß ich recht hatte… Nun, nach ein paar Tagen verließ es mein Atelier, und sowie ich den unerträglichen Zauber seiner Gegenwart los war, schien mir, ich sei töricht gewesen, daß ich irgend etwas darin hatte finden wollen, außer daß du sehr schön bist und daß ich gut malen kann. Selbst jetzt kann ich mich des Gefühls nicht gut erwehren, daß es ein Irrtum ist, zu glauben, die Glut, die man im Schaffen verspürt, zeige sich je leibhaftig in dem Werke, das man geschaffen hat. Die Kunst ist immer abstrakter, als wir glauben. Form und Farbe sagen uns etwas von Form und Farbe – weiter nichts. Mir will oft scheinen, die Kunst verbirgt den Künstler weit mehr, als sie ihn offenbart. Und als mir daher von Paris aus dieser Vorschlag gemacht wurde, beschloß ich, dein Porträt solle das Hauptstück meiner Ausstellung werden. Es fiel mir nie ein, du könntest die Erlaubnis versagen. Ich sehe jetzt, daß du recht hast. Das Bild darf nicht gezeigt werden. Du darfst mir nicht zürnen, Dorian, um deswillen, was ich dir gesagt habe. Ich ,habe es einmal zu Harry gesagt und wiederhole es: Du bist dazu geschaffen, angebetet zu werden.« Dorian Gray holte tief Atem.

Die Farbe kehrte in seine Wangen zurück, und ein Lächeln spielte um seine Lippen. Die Gefahr war vorüber; für diesmal war er gerettet Aber er konnte sich nicht enthalten, unendliches Mitleid mit dem Maler zu empfinden, der ihm eben dieses seltsame Bekenntnis abgelegt hatte, und er sann darüber nach, ob er selber je von der Persönlichkeit eines Freundes so beherrscht werden könnte. Lord Henry hatte den Reiz, sehr gefährlich zu sein. Aber das war alles. Er war zu gescheit und zu zynisch, um wirklich geliebt zu werden. Würde es je einen Menschen geben, den er so seltsam abgöttisch verehrte? War das eins von den Dingen, die das Leben für ihn in Bereitschaft hielt?

»Es ist mir überaus erstaunlich, Dorian,« sagte Hallward, »daß du das dem Bild angesehn haben sollst. Sahst du es wirklich?«

»Ich sah etwas an ihm,« antwortete er, »etwas, das mir sehr seltsam vorkam.«

»Und nun hast du doch nichts mehr dagegen, daß ich das Bild ansehe?«

Dorian schüttelte den Kopf. »Du mußt es nicht von mir verlangen, Basil. Es wäre mir nicht möglich, dich vor dem Bilde stehn zu sehen.«

»Aber doch ein andermal?« »Niemals.«

»Nun, vielleicht hast du recht. Und nun leb wohl, Dorian. Du bist die einzige Person in meinem Leben gewesen, die wirklichen Einfluß auf meine Kunst hatte. Alles Gute, was ich vollbracht habe, danke ich dir. Ah! du weißt nicht, was es mich gekostet hat, dir all das zu sagen, was ich gesagt habe.«

»Mein lieber Basil,« sagte Dorian, »was hast du mir gesagt? Nichts weiter, als daß du fühlst, du bewunderst mich zu sehr. Das ist nicht eben sehr schmeichelhaft.«

»Es sollte keine Schmeichelei sein – es war ein Bekenntnis. Jetzt, da ich es abgelegt habe, ist es mir, als hätte ich etwas verloren. Vielleicht sollte man nie seiner Anbetung in Worten Ausdruck geben.«

»Es war ein Bekenntnis und eine Enttäuschung.«

»Ja, aber was erwartetest du, Dorian? Du sahst doch nichts anderes an dem Bilde, oder? Es war nichts anderes an ihm zu sehn?«

»Nein; es war nichts anderes zu sehen. Warum fragst du? Aber du solltest nicht von Anbetung sprechen. Das ist Torheit. Du und ich sind Freunde, Basil, und wir wollen es immer bleiben.«

»Du hast Harry zum Freund,« sagte der Maler traurig.

»Oh, Harry,« sagte der junge Mann und lachte hell auf. »Harry verbringt seine Tage damit, Dinge zu sagen, die unglaublich sind, und seine Nächte, Dinge zu tun, die unwahrscheinlich sind. Gerade die Art Leben, wie ich es führen möchte. Aber doch, glaube ich, würde ich nicht zu Harry gehn, wenn mich etwas bekümmerte. Ich ginge eher zu dir, Basil.«

»Du wirst mir wieder sitzen?« »Unmöglich! «

»Du vernichtest mein Dasein als Künstler mit deiner Weigerung, Dorian. Niemand ist je zwei Idealen im Leben begegnet. Wenige haben eines getroffen.«

»Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir nie wieder sitzen. Es ist etwas Verhängnisvolles um das Bildnis eines Menschen. Es hat sein eigenes Leben in sich. Ich werde zu dir kommen und Tee mit dir trinken – das wird ebenso schön sein.«

»Für dich schöner, fürchte ich,« sagte der Maler in schmerzlichem Ton. »Und nun leb wohl. Ich bin traurig, daß du mich das Bild nicht noch einmal sehn lassen willst. Aber ich kann’s nicht ändern. Ich verstehe völlig, was für eine Empfindung du dabei hast.«

Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte Dorian Gray. Armer Basil! wie wenig er den wahren Grund ahnte! Und wie seltsam es war, daß es ihm fast wie durch Zufall gelungen war, anstatt sein eigenes Geheimnis zu verraten, dem Freunde das seine zu entreißen! Wie viel erklärte ihm dieses seltsame Bekenntnis! Die absurden Eifersuchtsanwandlungen des Malers, seine wilde Hingebung, seine ausschweifenden Bewunderungshymnen, die Stimmungen seltsamer Schweigsamkeit – das alles verstand er jetzt, und er wurde traurig. Es schien ihm etwas Tragisches um eine Freundschaft zu sein, die so von der Romantik gefärbt war. Er seufzte und klingelte. Das Bild mußte unter allen Umständen versteckt werden. Er konnte sich nicht noch einmal einer solchen Gefahr der Entdeckung aussetzen. Es war Wahnsinn von ihm gewesen, das Bild auch nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu lassen, in das jeder seiner Freunde kommen konnte.

Zehntes Kapitel

Als sein Bedienter eintrat, blickte er ihm fest ins Auge und überlegte sich, ob es ihm wohl eingefallen sei, hinter den Schirm zu blicken. Der Mann stand da, ohne sich zu rühren, und wartete auf seine Befehle. Dorian zündete sich eine Zigarette an, schlenderte durchs Zimmer zum Spiegel und blickte hinein. Er konnte Viktors Gesicht völlig deutlich darin sehn. Es war wie eine ruhige Maske der Unterwürfigkeit. Da war nichts zu befürchten, da nicht. Aber er hielt es für das Beste, auf der Hut zu sein.

In sehr leisem Ton sagte er ihm, er solle die Wirtschafterin hereinrufen und dann zu dem Rahmenmacher gehn und ihn bitten, er möchte zwei seiner Leute gleich herüberschicken. Ihm schien, daß die Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, nach dem Wandschirm blickten. Oder bildete er sich das nur ein? Nach wenigen Augenblicken kam Frau Leaf in ihrem schwarzen Seidenkleid und mit altmodischen Zwirnhandschuhen an ihren verrunzelten Händen in das Bücherzimmer. Er verlangte den Schlüssel zum Schulzimmer von ihr.

»Das alte Schulzimmer, Herr Dorian?« rief sie aus. »Aber nein, das ist voller Staub. Ich muß es auskehren und in Ordnung bringen lassen, ehe Sie hinein können. Es ist nicht in dem Zustand, daß Sie es jetzt sehen können, gnädiger Herr, wahrhaftig nicht.«

»Es braucht nicht in Ordnung gebracht zu werden, Frau Leaf, ich brauche nur den Schlüssel.«

»Aber gnädiger Herr, Sie werden voller Spinnweben werden, wenn Sie hineingehn, es ist seit beinahe fünf Jahren nicht aufgemacht worden, seit Seine Gnaden gestorben sind.«

Er zuckte, als sein Großvater erwähnt wurde. Haß stieg in ihm auf, wenn er an ihn dachte. »Das macht nichts,« antwortete er. »Ich will das Zimmer nur sehn, weiter nichts. Gehen Sie mir den Schlüssel!«

»Hier ist er schon, gnädiger Herr,« sagte die alte Dame die mit zitterig unsichern Händen in ihrem Schlüsselbund gesucht hatte. »Hier ist der Schlüssel, er wird im Augenblick los sein. Aber Sie wollen sich doch nicht da drohen aufhalten, gnädiger Herr? Sie haben’s hier so behaglich.«

»Nein, nein,« rief er ungeduldig. »Danke, Frau Leaf. Ich brauche weiter nichts.«

Sie verweilte noch einige Augenblicke und wollte über irgendeine Angelegenheit der Haushaltung ins Schwatzen kommen. Fr seufzte und sagte, sie solle alles machen, wie sie’s fürs Beste hielte. Mit strahlendem Lächeln ging sie hinaus.

Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel in die Tasche und sah sich im Zimmer um. Sein Auge fiel auf eine große Decke aus purpurnem Atlas, die schwer mit Gold gestickt war. Es war ein prachtvolles Stück venezianischer Arbeit vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein Großvater in einem Kloster in der Nähe Bolognas gefunden hatte. Ja, die konnte er brauchen, um das Schrecknis damit zu verhüllen. Sie hatte vielleicht oft als Bahrtuch gedient. Jetzt sollte sie etwas bedecken, das eine Fäulnis eigener Art an sich hatte, eine schlimmere noch als die Fäulnis des Todes – etwas, das Ungeheuerliches gebären sollte und doch nie sterben würde. Was der Wurm für den Leichnam ist, das sollten seine Sünden dem gemalten Bildnis auf der Leinwand werden. Sie würden seine Schönheit Stück für Stück zerstören und seine Anmut zerfressen. Sie würden es besudeln und es so schänden. Und doch würde es weiter leben. Er würde immer lebendig sein.

Ihn schauderte, und einen Moment tat es ihm leid, daß er Basil nicht den wahren Grund gesagt hatte, warum er das Bild verstecken wollte. Basil hätte ihm geholfen, Lord Henrys Einfluß und den noch giftigeren Einflüssen, die aus seiner eigenen Natur kamen, zu widerstehn. Die Liebe, die Basil zu ihm hegte – denn es war wirkliche Liebe – hatte nichts zu tun mit der bloßen physischen Bewunderung der Schönheit, die aus den Sinnen entspringt und die stirbt, wenn die Sinne erschlaffen. Es war eine Liebe, wie Michelangelo sie gekannt hatte und Montaigne und Winckelmann und der große Shakespeare. Ja, Basil hätte ihn retten können. Aber es war jetzt zu spät. Die Vergangenheit konnte immer zunichte gemacht werden. Reue, Leugnen oder Vergessen konnten das bewerkstelligen. Aber die Zukunft war unabwendbar. Es gab Leidenschaften in ihm, die ihren furchtbaren Weg aus ihm heraus finden würden, Träume, die den Schatten des Bösen, das in ihnen war, zur Wirklichkeit machen würden.

Er nahm die große Decke aus Purpur und Gold, die auf dem Sofa lag, und ging mit ihr hinter den Schirm. War das Gesicht auf der Leinwand schnöder, als es vorher war? Ihm schien, daß es sich nicht verändert habe; und doch war sein Widerwille dagegen stärker geworden. Goldenes Haar, blaue Augen und rosige Lippen – das war alles da. Nur der Ausdruck hatte sich verändert. Der war grauenhaft in seiner Grausamkeit. Im Vergleich zu dem Tadel und Vorwurf, den er in ihm erblickte, wie oberflächlich waren da Basils Vorhaltungen wegen Sibyl Vane gewesen! Wie oberflächlich und wie unbedeutend! Seine eigene Seele sah aus der Leinwand auf ihn und rief ihn vors Gericht. Ein qualvoller Ausdruck legte sich auf sein Gesicht, und er warf das üppige Bahrtuch über das Bild. Während er damit beschäftigt war, klopfte es an die Tür. Er kam hinter dem Schirm vor, als der Diener eintrat.

»Die Männer sind da, Monsieur.«

Er hatte das Gefühl, er müsse den Mann jetzt los werden.

Er durfte nicht wissen, wohin das Bild käme. Er hatte etwas Schlaues an sich und hatte nachdenkliche, verräterische Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch und warf ein paar Zeilen an Lord Henry aufs Papier, worin er bat, ihm etwas zu lesen zu schicken, und ihn erinnerte, daß sie sich um viertel neun heute abend treffen wollten.

»Warten Sie auf Antwort,« sagte er, indem er ihm den Brief gab, »und lassen Sie die Männer herein.«

Nach zwei oder drei Minuten klopfte es wieder, und Herr Hubbard in Person, der berühmte Rahmenmacher aus South Audley Street, trat mit einem etwas struppig aussehenden Gesellen ein. Herr Hubbard war ein blühender, rotbärtiger kleiner Mann, dessen Bewunderung für die Kunst durch den eingewurzelten Geldmangel der meisten Künstler, die mit ihm zu tun hatten, gemildert wurde. In der Regel verließ er nie seine Werkstatt: er wartete, bis die Leute zu ihm kamen. Aber zugunsten Grays machte er immer eine Ausnahme. Es war an Dorian etwas, was jeden entzückte. Es war ein Genuß, ihn nur zu sehn.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Gray?« fragte er und rieb seine fetten, sommersprossigen Hände. »Ich dachte, ich wollte mir die Ehre geben, persönlich herüberzukommen. Auf einer Versteigerung erwischt. Altflorentiner Arbeit. Stammt, glaube ich, aus Fonthill. Wundervoll für eine religiöse Sache geeignet, Herr Gray.«

»Ich bedaure, daß Sie sich selbst die Mühe gemacht haben, Herr Hubbard. Ich werde natürlich gelegentlich vorsprechen und den Rahmen ansehn – obwohl ich zur Zeit an religiöser Kunst nicht viel Interesse nehme –, aber heute möchte ich nur ein Bild ins Dachgeschoß bringen lassen. Es ist recht schwer, darum kam ich auf den Gedanken, Sie zu bitten, mir ein paar Arbeiter zu leihen.«

»Nicht die geringste Mühe, Herr Gray. Freut mich, Ihnen dienen zu können. Wo ist das Kunstwerk, Herr Gray?«

»Hier,« erwiderte Dorian und schob den Schirm zurück. »Können Sie es mit der Decke und allem hinaufbringen, so wie es ist? Ich möchte nicht, daß es die Treppen hinauf zerkratzt wird.«

»Das wird keine Schwierigkeiten machen,« sagte der muntere Rahmenmacher und fing mit Hilfe seines Gesellen an, das Bild aus den langen Messingketten, an denen es aufgehängt war, loszumachen. »Und nun, wo soll’s hinkommen, Herr Gray?«

»Ich werde Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn Sie so freundlich sein wollen, mir nachzugehn. Oder vielleicht ist es besser, wenn Sie vorausgehn. Ich fürchte, es wird ganz unterm Dach sein. Wir wollen die Vordertreppe hinaufgehn, weil sie breiter ist.«

Er hielt die Tür für sie offen, und sie gingen mit dem Bild in den Vorraum und fingen an, hinaufzusteigen. Die reichen Zieraten des Rahmens hatten das Gemälde überaus umfangreich gemacht, und hie und da, trotz der unterwürfigen Proteste Herrn Hubbards, der die lebhafte Abneigung des echten Handwerkers gegen jede nützliche Arbeit eines feinen Herrn hatte, legte Dorian mit Hand an, um ihnen zu helfen.

»Eine ordentliche Last, Herr Gray,« schnaufte der kleine Mann, als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten. Und er wischte sich die glänzende Stirn.

»Es wird wohl ziemlich schwer sein,« murmelte Dorian, während er die Tür zu dem Zimmer aufschloß, das ihm das seltsame Geheimnis seines Lebens aufbewahren und seine Seele vor den Augen der Menschen verbergen sollte.

Er hatte den Raum seit mehr als vier Jahren nicht betreten – in der Tat nicht, seit er ihn zuerst in seiner Kindheit als Spielzimmer und dann, als er etwas älter geworden war, als Schulzimmer benutzt hatte. Es war ein großes, schönes Zimmer, das der letzte Lord Kelso ausdrücklich zur Benutzung für den kleinen Enkel, den er wegen seiner außerordentlichen Ähnlichkeit mit seiner Mutter und auch aus andern Gründen immer gehaßt und möglichst in Entfernung gehalten, hatte bauen lassen. Das Zimmer schien Dorian wenig verändert. Da war der mächtige italienische cassone mit seinen phantastisch bemalten Füllungen und den matt und schmutzig gewordenen vergoldeten Ornamenten, in dem er sich so oft als Knabe versteckt hatte. Da war der Bücherschrank aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voller Eselsohren. An der Wand hing noch derselbe zerfetzte flämische Wandteppich, auf dem fast verblichen ein König und eine Königin in einem Garten Schach spielten, während Falkeniere im Zug vorbeiritten und Vögel, denen die Kappe über den Augen saß, in den eisenbehandschuhten Händen trugen. Wie gut er sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner vereinsamten Kinderzeit kam ihm zurück, als er um sich sah. Er gedachte der unbefleckten Reinheit seines Knabenlebens, und es schien ihm entsetzlich, daß hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen werden sollte. Wie wenig hatte er in jenen Tagen, die dahin waren, von alledem geahnt, was auf ihn warten sollte!

Aber es gab im ganzen Hause keinen andern Ort, der vor Späheraugen so sicher war. Er hatte den Schlüssel, und niemand sonst konnte hineinkommen. Hinter seinem purpurnen Bahrtuch konnte das Gesicht, das auf die Leinwand gemalt war, bestialisch, aufgedunsen und lasterhaft werden. Was tat es? Niemand konnte es sehn. Er selber wollte es nicht sehn. Warum sollte er die häßliche Verderbnis seiner Seele verfolgen? Er behielt seine Jugend das war genug. Und überdies, konnte nicht schließlich sein Wesen geläutert werden? Es war kein Grund, warum die Zukunft so schändlich werden sollte. Die Liebe konnte kommen und ihn rein machen und ihn vor den Sünden beschirmen, die sich im Geist und im Fleisch schon zu regen schienen – vor den seltsamen, unbekannten Sünden, deren Geheimnis ihnen eben den Reiz und die Verführung gaben. Vielleicht verschwand eines Tages der grausame Ausdruck von den sensitiven Scharlachlippen, und dann konnte er der Welt das Meisterwerk Basil Hallwards zeigen.

Nein; das war unmöglich. Stunde um Stunde und Woche um Woche sollte das Antlitz auf der Leinwand älter werden. Es konnte der Häßlichkeit der Sünde entrinnen, aber die Häßlichkeit des Alters wartete darauf. Die Wangen werden hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße werden sich um die glanzlosen Augen sammeln und sie gräßlich machen. Das Haar wird seinen Glanz verlieren, der Mund wird klaffen oder einsinken, wird dumm oder gemein aussehn, wie alter Leute Mund aussieht. Der Hals wird faltig sein, die Hand kalt und voll blauer Adern, der Rücken gekrümmt, alles, wie es bei seinem Großvater war, der in seiner Knabenzeit so hart gegen ihn gewesen war. Das Bild mußte verborgen werden, es war nichts dagegen zu machen.

»Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein,« sagte er müde und wandte sich nach den Leuten. »Es tut mir leid, daß ich Sie so lange aufhielt. Ich dachte über etwas nach.«

»Immer angenehm, sich ausruhen zu können, Herr Gray,« antwortete der Rahmenmacher, der noch immer tief Atem holte. »Wo sollen wir es anbringen?«

»Oh, irgendwo. Hierher: da wird es gut stehn. Ich will es nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es nur gegen die Wand! Danke!«

»Darf man das Kunstwerk ansehn, Herr Gray?«

Dorian erschrak. »Es hat kein Interesse für Sie, Herr Hubbard,« sagte er und behielt den Mann im Auge. Er war imstande, sich auf ihn zu stürzen und ihn zu Boden zu werfen, wenn er es wagte, den schimmernden Vorhang zu heben, der das Geheimnis seines Lebens bedeckte. »Ich will Sie nicht länger bemühen. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit, daß Sie herübergekommen sind.«

»Nicht im geringsten, Herr Gray, nicht im geringsten. Stets zu allen Diensten für Sie bereit.« Und Herr Hubbard stampfte die Treppe hinunter, gefolgt von seinem Gesellen, der sich noch einmal nach Dorian umsah. Ein Ausdruck scheuer Bewunderung lag auf seinem gewöhnlichen, unschönen Gesicht. Er hatte nie einen Menschen gesehn, der so wunderschön war.

Als der Schall ihrer Fußtritte verhallt war, verschloß Dorian die Tür und steckte den Schlüssel in die Tasche. Er fühlte sich gerettet. Niemand sollte je das Grauenhafte erblicken, kein Auge als seines sollte je seine Schande sehen.

Als er in das Bücherzimmer trat, bemerkte er, daß es eben fünf Uhr vorbei und der Tee bereits gebracht worden war. Auf einem Tischchen von dunklem, wohlriechendem Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war – die Frau seines Vormunds hatte es ihm geschenkt, die es sich zum Beruf gemacht hatte, leidend zu sein, und den vorigen Winter in Kairo verbracht hatte –, lag ein Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch mit gelbem, etwas eingerissenem Umschlag und ziemlich verschmutzten Kanten. Ein Exemplar der dritten Ausgabe der St. James Gazette war auf das Teebrett gelegt worden. Es war klar, Viktor war zurückgekehrt. Ob er wohl die Männer im Vestibül getroffen hatte, als sie im Begriff waren, das Haus zu verlassen, und ob er aus ihnen herausgeholt hatte, was sie gemacht hatten? Er würde sicher das Bild vermissen, hatte es ohne Zweifel bereits vermißt, während er den Teetisch zurechtgemacht hatte. Der Schirm war noch nicht wieder an seine Stelle gesetzt worden, und der leere Platz an der Wand war auffallend. Vielleicht ertappte er ihn eines Nachts, wie er sich hinaufschlich und den Versuch machte, die Tür aufzusprengen. Es war furchtbar, einen Spion bei sich im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten gehört, an denen ihr ganzes Leben lang von einem Bedienten Erpressung verübt wurde, der einen Brief gelesen oder ein Gespräch mit angehört oder eine Karte mit einer Adresse aufgelesen oder unter einem Kissen eine verwelkte Blume oder ein kleines Stückchen zerdrückter Spitze gefunden hatte.

Er seufzte; dann goß er sich den Tee ein und öffnete Lord Henrys Briefchen. Es enthielt nur die paar Worte: beifolgend erhalte er das Abendblatt und ein Buch, das ihn vielleicht interessiere, und er erwartete ihn um viertel neun im Klub. Er öffnete langsam die St. James und überflog sie. Ein roter Bleistiftstrich auf der fünften Seite fiel ihm auf. Der Strich wies auf die folgende Notiz hin:

»Leichenschau an einer Schauspielerin. Eine gerichtliche Untersuchung wurde heute morgen in der Bell Tavern, Hozton Road, von Herrn Dauby, dem Bezirksleichenbeschauer, über den Leichnam Sibyl Vanes, einer jungen Schauspielerin, die seit kurzem am Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. Der Spruch lautete auf Tod durch Unglücksfall. Viel Teilnahme fand die Mutter der Verblichenen, die während ihrer Aussage und der des Dr. Birrell, der die Obduktion der Toten vorgenommen hatte, ihrem Schmerz ergreifenden Ausdruck gab.«

Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt und stand auf, um die Papierstücke wegzuwerfen. Wie häßlich das alles war! Und wie furchtbar wirklich die Häßlichkeit alles machte. Er war etwas ärgerlich über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt hatte. Und ohne Frage war es dumm von ihm, daß er ihn rot angestrichen hatte. Viktor hätte ihn lesen können. Der Mann konnte mehr als genug Englisch dazu.

Vielleicht hatte er ihn gelesen und angefangen, etwas zu vermuten. Aber doch, was lag denn daran? Was hatte Dorian Gray mit Sibyl Vanes Tod zu tun? Es war nichts zu befürchten. Dorian Gray hatte sie nicht getötet.

Sein Blick fiel auf das gelbe Buch, das Lord Henry ihm geschickt hatte. Er war neugierig darauf. Er ging zu dem perlfarbenen achteckigen Tischchen, das ihm immer wie die Arbeit seltsamer ägyptischer Bienen vorgekommen war, die ihre Waben aus Silber bauen könnten, nahm das Buch, warf sich in einen Lehnstuhl und fing an zu lesen. Nach ein paar Minuten ließ es ihn nicht mehr los. Es war das seltsamste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, in köstlichem Gewande und unter sanfter Flötenmusik zögen in stummem Zuge die Sünden der Welt an ihm vorbei. Dinge, von denen er unklar geträumt hatte, wurden ihm eins nach dem andern enthüllt.

Es war ein Roman ohne eigentliche Handlung, der sich nur um einen einzigen Charakter drehte. Es war in der Tat lediglich eine psychologische Studie von einem jungen Pariser, der sein Leben damit verbrachte, den Versuch zu machen, im neunzehnten Jahrhundert all die Leidenschaften und Denkungsarten zu verwirklichen, die jedwedem früheren Jahrhundert außer seinem eigenen angehört hatten, und in sich selbst die mannigfachen seelischen Zustände, durch die der Weltengeist je irgend hindurchgegangen war, gewissermaßen zu summieren, indem er jene Entsagungen, die die Menschen töricht Tugend genannt haben, um ihrer bloßen Künstlichkeit willen nicht mehr und nicht weniger liebte als die Auflehnungen der Natur, die weise Menschen immer noch Sünde nennen. Der Stil, in dem das Buch geschrieben war, war der seltsame preziöse Stil, der zugleich lebendig und dunkel ist, voller Argot und Archaismen, technischer Ausdrücke und ausgesuchter Paraphrasen, wie er die Arbeiten einiger sehr feiner Künstler aus der französischen Symbolistenschule charakterisiert. Es waren Metaphern darin, die so abenteuerlich gestaltet, aber auch so wunderbar fein in den Farbentönen waren wie Orchideen. Das Leben der Sinne war mit der Terminologie der mystischen Philosophie geschildert. Man wußte manchmal kaum, ob man die vergeistigten Ekstasen eines mittelalterlichen Heiligen oder die krankhaften Bekenntnisse eines modernen Sünders las. Es war ein Buch voller Gift. Der schwere Duft des Weihrauchs schien auf den Seiten wie festzusitzen und das Hirn zu verwirren. Der bloße Rhythmus der Sätze, die ausgesuchte Eintönigkeit ihrer Musik, so sehr sie auch voll schwieriger Refrains und künstlich wiederholter Taktfolgen waren, erzeugte in dem Geist des Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel flog, eine Art Fiebertraum, in dem er nicht merkte, daß der Tag zur Neige ging und Schatten hereinkrochen.

Wolkenlos, von einem einzigen Stern durchstochen, glimmte ein kupfern grüner Himmel durch die Scheiben. Er las bei seinem blassen Licht weiter, bis er nicht mehr sehen konnte. Dann, nachdem sein Diener ihn mehrmals erinnert hatte, wie spät es sei, stand er auf, ging in das anstoßende Zimmer, legte das Buch auf das Florentiner Tischchen, das immer neben seinem Bett stand, und fing an, sich umzuziehn.

Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er Lord Henry mit sehr verdrossenem Gesicht allein im Nebenzimmer sitzen fand.

»Es tut mir so leid, Harry,« rief er, aber es ist in Wahrheit ganz deine eigene Schuld. Das Buch, das du mir geschickt hast, hat mich so bezaubert, daß ich tatsächlich nicht wußte, wie spät es ist.«

»Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt,« erwiderte Lord Henry und erhob sich.

»Ich sagte nicht, daß es mir gefällt, Harry. Ich sagte, es bezauberte mich. Das ist ein großer Unterschied.«

»Ah, das hast du herausgefunden?« sagte Lord Henry. Und sie gingen zusammen ins Speisezimmer.

Drittes Kapitel

Um halb ein Uhr am nächsten Tag schlenderte Lord Henry Wotton von Curzon Street nach The Albany hinüber, um seinen Onkel Lord Fermor, einen lustigen, aber etwas rauhen alten Junggesellen, zu besuchen, den die Außenwelt selbstsüchtig nannte, weil sie keinen besonderen Nutzen von ihm zog, der aber von der Gesellschaft freigebig genannt wurde, weil er den Menschen, die ihn amüsierten, gut zu essen gab. Sein Vater war britischer Botschafter in Madrid gewesen, als Isabella jung war und man an Prim noch nicht dachte, hatte sich aber in einem Augenblick ärgerlicher Laune aus dem diplomatischen Dienst zurückgezogen, weil man ihm nicht die Botschaft in Paris angeboten hatte, einen Posten, auf den er seiner Meinung nach auf Grund seiner Geburt, seiner Trägheit, des guten Englisch seiner Depeschen und seiner zügellosen Vergnügungslust Anspruch hatte. Der Sohn, der der Sekretär seines Vaters gewesen war, war zugleich mit seinem Chef zurückgetreten, was man damals ziemlich närrisch fand, und als der Titel einige Monate später auf ihn überging, hatte er sich dem ernsthaften Studium der großen aristokratischen Kunst gewidmet, absolut nichts zu tun. Er hatte zwei große Stadthäuser, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung zu leben, da es bequemer war, und nahm meistens seine Mahlzeiten im Klub ein. Er widmete der Verwaltung seiner Bergwerke in den Midlandgrafschaften einige Aufmerksamkeit und entschuldigte diesen Schandfleck industrieller Betätigung gewöhnlich damit, daß er sagte, der Besitz von Kohle habe den einen Vorteil, einen Gentleman instand zu setzen, sich den Luxus zu leisten, auf seinem eigenen Herde Holz zu brennen. In der Politik war er Tory, ausgenommen wenn die Tones am Ruder waren, denn während dieser Zeit schimpfte er auf sie und nannte sie geradeheraus ein Pack von Radikalen. Er war ein Held seinem Bedienten gegenüber, der ihn terrorisierte, und ein Schrecken für die meisten seiner Verwandten, die er seinerseits terrorisierte. Nur England hatte ihn hervorbringen können, und er pflegte immer zu sagen, England komme auf den Hund. Seine Prinzipien waren altmodisch, aber seine Vorurteile waren nicht übel.

Als Lord Henry eintrat, saß sein Onkel in einer gewöhnlichen Jagdjoppe da, rauchte seine Manila und las brummend in den Times. »Na, Harry,« sagte der alte Herr »was bringt dich so früh heraus? Ich dachte, ihr Stutzer steht nie vor zwei Uhr auf und seid nicht vor fünf Uhr sichtbar.«

»Reiner Familiensinn, ich versichere dich, Onkel Georg. Ich möchte etwas aus dir herausbringen.«

»Vermutlich Geld,« sagte Lord Fermor und verzog das Gesicht. »Nun, so setz dich und erzähle mir alles. Die jungen Leute von heutzutage meinen, Geld sei alles.«

»Ja,« erwiderte Lord Henry und befestigte seine Knopflochblume, »und wenn sie älter werden, wissen sie es. Aber ich brauche kein Geld. Nur Menschen, die ihre Rechnungen bezahlen, brauchen Geld, und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital eines Zweitgeborenen, und man lebt famos mit seiner Hilfe. Außerdem gehe ich immer zu Dartmoors Kaufleuten, und daher kommt es, daß sie mich in Ruhe lassen. Was ich brauche, ist Belehrung; keine nützliche Belehrung natürlich, nutzlose.«

»Nun, Harry, ich kann dir alles sagen, was in einem englischen Blaubuch steht, obwohl diese Kerle heutzutage eine Menge Unsinn schreiben. Als ich im diplomatischen Dienst stand, war es besser bestellt. Aber ich höre, sie stellen ihre Leute jetzt auf Grund von Prüfungen an. Was kann man davon erwarten? Prüfungen, Wertgeschätzter, sind reiner Humbug von Anfang bis zu Ende. Wenn einer ein Gentleman ist, weiß er völlig genug, und wenn er kein Gentleman ist, ist alles, was er weiß, von Übel für ihn.«

»Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu tun, Onkel Georg,« sagte Lord Henry in seinem müden Ton.

»Herr Dorian Gray? Wer ist das?« fragte Lord Fermor und zog seine buschigen weißen Augenbrauen zusammen.

»Um das zu erfahren, bin ich hergekommen, Onkel Georg. Oder besser gesagt, ich weiß, wer er ist. Er ist der Enkel des letzten Lord Kelso. Seine Mutter war eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich habe den Wunsch, daß du mir etwas von seiner Mutter erzählst. Was für eine Bewandtnis hatte es mit ihr? Wen heiratete sie? Du hast in deiner Zeit fast alle Menschen gekannt, und du wirst sie wohl auch gekannt haben. Ich habe für Herrn Gray zur Zeit sehr viel Interesse. Ich habe ihn jetzt eben kennen gelernt.«

»Kelsos Enkel!« wiederholte der alte Herr, »Kelsos Enkel! .. . Natürlich. .. Ich kannte seine Mutter sehr genau. Ich glaube, ich war bei ihrer Taufe. Sie war ein außergewöhnlich schönes Mädchen, Margaret Devereux, und machte alle Männer fast toll, als sie mit einem jungen Habenichts durchbrannte, einer vollkommenen Null, Wertgeschätzter, einem Fähnrich in einem Musketierregiment oder so was Ähnliches. Natürlich. Ich erinnere mich an die ganze Geschichte, als wäre sie gestern gewesen. Der arme Kerl wurde ein paar Monate nach der Hochzeit in einem Duell in Spaa getötet. Es war eine häßliche Sache dabei. Man erzählte, Kelso habe einen schurkischen Abenteurer, so einen Viechkerl aus Belgien, angeworben, um seinen Schwiegersohn öffentlich zu beleidigen, habe ihn bezahlt, Wertgeschätzter, damit er es tue, bezahlt, und der Bursche spießte seinen Mann auf wie eine Taube. Die Sache wurde vertuscht, aber Kelso aß eine Zeitlang sein Kotelett allein im Klub. Ich hörte, er habe seine Tochter zu sich zurückgeholt, und sie habe nie mehr ein Wort mit ihm gesprochen. O ja, es war eine schlimme Geschichte. Das Mädchen starb auch, starb binnen einem Jahr. So, sie hinterließ einen Sohn; wirklich? Das hatte ich vergessen. Was für ein Junge ist er? Wenn er seiner Mutter gleicht, muß er ein hübscher Bengel sein.«

»Er ist sehr hübsch,« bestätigte Lord Henry.

»Ich hoffe, er kommt in die rechten Hände,« fuhr der alte Mann fort. »Eine Menge Geld wartet auf ihn, wenn Kelso recht an ihm handelte. Seine Mutter hatte auch Geld. Die ganze Besitzung Selby fiel ihr zu von seiten ihres Großvaters. Ihr Großvater haßte Kelso, hielt ihn für einen gemeinen Hund. Das war er auch. Kam einmal nach Madrid, als ich da war. Wahrhaftig, ich schämte mich des Kerls. Die Königin fragte mich öfter, wer der englische Edelmann sei, der sich mit den Kutschern um den Fuhrlohn zankte. Eine ganze Geschichte haben sie daraus gemacht. Ich traute mich vier Wochen nicht an den Hof. Ich hoffe, er hat seinen Enkel besser als die Droschkenkutscher behandelt.«

»Ich weiß nichts davon,« erwiderte Lord Henry. »Ich denke mir, der Junge wird einmal wohlhabend sein. Er ist noch nicht großjährig. Selby gehört ihm, das weiß ich. Er sprach mir davon. Und… seine Mutter war sehr schön?«

»Margaret Devereux war eins der entzückendsten Menschenkinder, die ich je sah, Harry. Was in aller Welt sie dazu gebracht hat, so zu handeln, wie sie tat, habe ich nie verstehen können. Sie hätte, wen sie wollte, heiraten können. Carlington war verrückt nach ihr. Allerdings war sie eine Romantische. Alle Frauen der Familie waren es. Die Männer waren eine traurige Bande, aber, bei Gott! die Weiber waren entzückend! Carlington rutschte auf den Knien vor ihr. Hat er mir selbst erzählt. Sie lachte ihn aus, dabei gab es damals in London kein Mädchen, das nicht auf ihn aus gewesen wäre. Nebenbei, Harry, weil wir schon über törichte Heiraten sprechen: was ist das für ein Blödsinn, den mir dein Vater von Dartmoor erzählt, er wolle eine Amerikanerin heiraten? Sind englische Mädchen ihm nicht gut genug, hä?«

»Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel Georg.«

»Ich werde die englischen Frauen gegen die ganze Welt verteidigen, Harry,« sagte Lord Fermor und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Man wettet auf die Amerikanerinnen.« »Sie halten sich nicht, hab ich gehört.«

»Eine lange Verlobung erschöpft sie, aber in einer Steeplechase sind sie prächtig. Sie nehmen alles im Flug. Ich glaube nicht, daß Dartmoor Aussichten hat.«

»Was sind ihre Angehörigen?« grollte der alte Herr. »Hat sie überhaupt welche?«

Lord Henry schüttelte den Kopf. »Amerikanische Mädchen sind so geschickt im Verbergen ihrer Eltern, wie englische Frauen im Verbergen ihrer Vergangenheit,« sagte er und erhob sich zum Gehen.

»Sie sind vermutlich Schweinefleischpacker?

»Ich hoffe es, Onkel Georg, um Dartmoors willen. Man hat mir gesagt, daß das Schweinefleischpacken in Amerika nach der Politik die einträglichste Beschäftigung ist.«

»Ist sie hübsch?«

»Sie tritt auf, als ob sie schön wäre. Das tun die meisten Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihrer Anziehungskraft. «

»Warum bleiben diese Amerikanerinnen nicht bei sich zu Hause? Sie erzählen uns immer, es sei das Paradies für Frauen.«

»Das ist es. Das ist der Grund, warum sie wie Eva so gierig danach sind, herauszukommen,« sagte Lord Henry. »Adieu! Onkel Georg! Ich komme zu spät zum Frühstück, wenn ich länger bleibe. Danke sehr für die Belehrung, die du mir gabst! Es ist mir immer recht, von meinen neuen Freunden alles und von meinen alten nichts zu wissen.«

»Wo wirst du frühstücken, Harry?«

»Bei Tante Agatha. Ich habe mich und Herrn Gray bei ihr eingeladen. Er ist ihr neuester Protegé.«

»Hm! sage deiner Tante Agatha, Harry, sie solle mich mit ihren Wohltätigkeitsaufrufen in Ruhe lassen. Die habe ich satt. Wahrhaftig, die gute Frau meint, ich hätte nichts Besseres zu tun, als für ihre albernen Liebhabereien Schecks zu schreiben.«

»Schon recht, Onkel Georg, ich will es ihr sagen, aber es wird zwecklos sein. Wohltätige haben allen Sinn für Menschlichkeit verloren. Daran erkennt man sie.«

Der alte Herr brummte zustimmend und läutete seinem Diener. Lord Henry ging durch den niedrigen Säulengang nach Burlington Street und wandte seine Schritte in der Richtung nach Berkeley Square.

Das war also die Geschichte der Eltern Dorian Grays. So roh die Form war, in der sie ihm berichtet worden, hatte sie ihn doch erregt und ihm den Eindruck eines seltsamen, fast modernen Romans gemacht. Eine schöne Frau, die alles um eine wahnsinnige Leidenschaft wagt. Ein paar wilde Wochen des Glücks, kurz abgeschnitten durch ein scheußliches, verräterisches Verbrechen. Monate sprachloser Verzweiflung und dann ein Kind, das in Schmerzen geboren wurde. Die Mutter vom Tode weggenommen, der Knabe in Einsamkeit und der Tyrannei eines lieblosen alten Mannes überlassen. Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er gab dem jungen Menschen Relief, machte ihn vollkommener als zuvor. Hinter allem Erlesenen in der Welt lag etwas Tragisches, Welten hatten kreisen müssen, damit das unscheinbarste Blümchen aufblühen konnte… Und wie entzückend war er gestern abend gewesen, als er mit erschreckten Augen, die Lippen in scheuer Luft geöffnet, ihm im Klub gegenüber saß und die roten Schirme der Kerzen das erwachende Wunder seines Gesichts noch rosiger färbten. Zu ihm sprechen war, wie wenn man auf einer köstlichen Geige spielte. Er entsprach jedem Strich und jeder zitternden Bewegung des Bogens… Es war doch etwas schrecklich Unterjochendes in der Ausübung eines Einflusses. Keine andre Betätigung war ihr zu vergleichen. Seine Seele in eine anmutige Gestalt zu projizieren und sie dort einen Augenblick verweilen zu lassen; seine eigenen Geistestendenzen im Echo zu hören, vermehrt um all die Musik der Leidenschaft und Jugend; sein Temperament in ein andres hineinzuleiten, als ob es ein feines Fluidum oder ein seltsamer Duft wäre: darin lag eine wahrhafte Freude – vielleicht die befriedigendste Freude, die uns in einer Zeit geblieben, die so beschränkt und gemein war wie unsre, die in ihren Genüssen so grob fleischlich und in ihren Zielen so grob gewöhnlich war… Auch war er ein wunderbarer Typus, dieser Jüngling, den er durch so seltsamen Zufall in Basils Atelier kennen gelernt hatte, oder konnte wenigstens zu einem wundervollen Typus gemodelt werden. Grazie war ihm verliehen und die weiße Reinheit der Knabenunschuld, und Schönheit, wie sie alte griechische Marmorwerke bewahrten. Es gab nichts, was sich nicht aus ihm machen ließ. Er konnte zu einem Titanen oder zu einem Spielzeug gemacht werden. Was war es für ein Jammer, daß solche Schönheit zum Verwelken bestimmt war!.. Und Basil? Wie interessant er, psychologisch betrachtet, doch war! Die neue Art in der Kunst, die neue Weise, das Leben anzusehn, so seltsam erweckt durch das bloße sichtbare Dasein eines Menschen, der von alledem nichts wußte; der stille Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft wohnte und ungesehen im freien Felde wandelte, zeigte sich plötzlich, dryadengleich und ohne Scheu, weil in der Seele dessen, der auf der Suche nach ihm war, die wundervolle Vision erwacht war, der allein wundervolle Dinge offenbart werden. Die bloßen Formen und Abbilder von Dingen wurden gleichsam geläutert und erlangten eine Art symbolischer Bedeutung, als ob sie selber Abbilder einer andern und vollendetem Form wären, deren Schatten sie zur Wirklichkeit machten: wie seltsam das alles war! Er erinnerte sich an Ähnliches in der Geschichte. War es nicht Plato, der Künstler in der Welt des Denkens, der es zuerst untersucht hatte? War es nicht Buonarroti, der es in die farbigen Marmorstücke einer Sonettenfolge gemeißelt hatte? Aber in unserm Jahrhundert war es seltsam… Ja, er wollte den Versuch machen, für Dorian Gray zu sein, was, ohne es zu wissen, der Jüngling dem Maler war, der das wundervolle Porträt geschaffen hatte. Er wollte suchen, in ihm Herr zu sein – hatte es in Wahrheit bereits halb und halb erreicht. Er wollte diesen wundervollen Geist zu seinem eigenen machen. Es war etwas unwiderstehlich Anziehendes in diesem Kind der Liebe und des Todes.

Plötzlich blieb er stehen und blickte an den Häusern empor. Er merkte, daß er schon vor einer Weile am Hause seiner Tante vorübergegangen war, und kehrte still lächelnd wieder um. Als er in die etwas düstere Halle eintrat, sagte ihm der Diener, man habe bereits mit dem Frühstück begonnen. Er gab einem Lakaien Hut und Stock und ging ins Speisezimmer.

»Spät, wie gewöhnlich,« rief seine Tante und schüttelte den Kopf.

Er erfand geschickt eine Entschuldigung, setzte sich auf den leeren Stuhl neben ihr und blickte sich um, um zu sehen wer da war. Dorian, der am Ende der Tafel saß, grüßte ihn schüchtern, und ein freudiges Erröten trat auf seine Wangen. Gegenüber saß die Herzogin von Harley, eine bewunderungswürdig gutmütige und gut gelaunte Dame, die jeder gern hatte, der sie kannte, und die in den umfangreichen Maßen gebaut war, die man bei Frauen, die nicht Herzoginnen sind, Beleibtheit nennt. Neben ihr, zu ihrer Rechten, saß Sir Thomas Burdon, ein radikales Parlamentsmitglied, das im öffentlichen Leben seinem Leader und im Privatleben den besten Köchen folgte, und in Gemäßheit einer weisen und wohlbekannten Regel mit den Tones speiste und mit den Liberalen dachte. Den Platz zu ihrer Linken nahm Herr Erskine of Treadley ein, ein alter scharmanter und gebildeter Herr, der jedoch die schlechte Gewohnheit des Schweigens angenommen hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärt hatte, mit allem, was er zu sagen hatte, vor seinem dreißigsten Lebensjahr fertig geworden war. Seine eigene Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen seiner Tante, eine vollkommene Heilige unter Frauen, aber so schrecklich angezogen, daß sie einem wie ein geschmacklos gebundenes Gebetbuch vorkam. Zum Glück für ihn hatte sie an der andern Seite Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit im besten Alter, der so kahl war wie die Mitteilung eines Ministers im Unterhaus, und mit dem sie sich in dem tiefernsten Tone unterhielt, der, wie Lord Henry einmal selbst bemerkt hatte, der eine unverzeihliche Fehler ist, in den alle wahrhaft guten Menschen verfallen, und den keiner unter ihnen ganz vermeiden kann.

»Wir sprechen über den armen Dartmoor, Lord Henry,« rief die Herzogin und nickte ihm vergnügt über den Tisch weg zu. »Glauben Sie, daß er wirklich dieses reizende junge Mädchen heiraten wird?«

»Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich in den Kopf gesetzt, um ihn anzuhalten.«

»Wie schrecklich!« rief Lady Agatha. »Wirklich, es sollte sich jemand ins Mittel legen.«

»Ich erfahre aus vorzüglicher Quelle, ihr Vater habe ein amerikanisches Kurzwarengeschäft,« sagte Sir Thomas Burdon mit stolzem Blick.

»Mein Onkel hat bereits behauptet, er habe eine Schweinefleischpackerei, Sir Thomas.«

»Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?« fragte die Herzogin und erhob staunend ihre großen Hände.

»Amerikanische Romane,« antwortete Lord Henry. Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht.

»Hören Sie nicht auf ihn, Liebste,« flüsterte Lady Agatha. »Er meint nie im Ernst, was er sagt.«

»Als Amerika entdeckt wurde,« hub der radikale Abgeordnete an und ließ etliche langweilige Tatsachen los. Wie alle Menschen, die ein Thema erschöpfen wollen, erschöpfte er seine Zuhörer.

Die Herzogin seufzte und übte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. »Wollte Gott, es wäre überhaupt nie entdeckt worden!« rief sie aus. »Wahrhaftig, unsre jungen Mädchen haben keine Aussichten heutzutage. Es ist empörend!«

»Wenn man’s recht betrachtet, ist Amerika vielleicht gar nicht entdeckt worden,« sagte Herr Erskine in orakelhaftem Ton; »ich würde vorziehen zu sagen: man ist dahinter gekommen.«

»Aber ich habe Exemplare der Einwohnerinnen gesehen,« antwortete die Herzogin zerstreut. »Ich muß gestehen, die meisten von ihnen sind überaus hübsch. Und zudem ziehen sie sich gut an. Sie lassen alle ihre Kleider in Paris machen. Ich wollte, ich könnte mir das auch leisten.«

»Man sagt, wenn gute Amerikaner sterben, gehen sie nach Paris,« kicherte Sir Thomas, der einen großen Schrank voll abgelegter Witze besaß.

»Wirklich? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?« fragte die Herzogin.

»Sie gehen nach Amerika,« murmelte Lord Henry.

Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Ihr Neffe hat ein Vorurteil gegen dieses große Land,« sagte er zu Lady Agatha. »Ich habe ganz Amerika bereist, in Salonwagen, die die Direktionen mir stellten. Man ist dort in diesen Dingen äußerst entgegenkommend. Ich versichere Sie, es ist ein Bildungselement, das Land kennen zu lernen.«

»Aber müssen wir wirklich nach Chicago reisen, um gebildet zu werden?« fragte Herr Erskine in klagendem Ton. »Ich bin nicht aufgelegt zu der Reise.«

Sir Thomas schob seine Hand durch die Luft. »Herr Erskine hat die Welt in seinen Bücherschränken. Wir Männer der Praxis möchten die Dinge sehen, nicht über sie lesen. Die Amerikaner sind ein überaus interessantes Volk. Sie sind ganz und gar vernünftig. Ich glaube, das ist ihr Kennzeichen. Jawohl, Herr Erskine, ein ganz und völlig vernünftiges Volk. Ich versichere Sie, es gibt keinen Unsinn bei den Amerikanern.«

»Wie gräßlich!« rief Lord Henry. »Ich kann brutale Gewalt aushalten, aber brutale Vernunft ist ganz unerträglich. Es ist unbillig, sie anzuwenden. Es heißt, den Intellekt unterdrücken.«

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte Sir Thomas und wurde etwas rot.

»Ich verstehe, Lord Henry,« sagte Herr Erskine lächelnd.

»Paradoxa sind in ihrer Art ganz gut. . .,« versetzte Sir Thomas.

»War das paradox?« fragte Herr Erskine. »Ich hielt es nicht dafür. Vielleicht. Nun, der Weg zur Wahrheit führt über Paradoxien. Um die Wahrheit zu prüfen, muß man sie seiltanzen lassen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir über sie urteilen.«

»Mein Gott!« sagte Lady Agatha, »wie diskutiert ihr Männer! Wahrhaftig, ich bringe nie heraus, wovon ihr sprecht. O Harry, ich bin ganz böse mit dir! Warum versuchst du, Herrn Gray zu überreden, nicht mehr ins Eastend zu gehn? Ich versichere dich, er wäre dort ganz unschätzbar. Die Leute wären entzückt über sein Spiel.«

»Ich habe den Wunsch, daß er für mich spielt,« rief Lord Henry lächelnd und blickte ans Ende des Tisches, von wo er einen strahlenden Blick zur Antwort erhielt.

»Aber die Menschen in Whitechapel sind so unglücklich,« fuhr Lady Agatha fort.

»Ich kann mit allem Mitgefühl haben, nur nicht mit Leiden,« sagte Lord Henry und zuckte mit den Schultern. »Da kann ich nicht mitfühlen. Es ist zu häßlich, zu schauderhaft, zu quälend. Es liegt etwas schrecklich Krankhaftes in dem Mitgefühl unsrer Zeit mit dem Elend. Man sollte mit der Farbigkeit, der Schönheit, der Freude des Lebens mitfühlen. Je weniger über den Jammer des Lebens gesagt wird, um so besser.«

»Jedoch das Eastend ist eine sehr wichtige Frage,« bemerkte Sir Thomas und schüttelte ernsthaft den Kopf.

»Ganz richtig,« antwortete der junge Lord. »Es ist das Problem der Sklaverei, und wir machen den Versuch, es dadurch zu lösen, daß wir die Sklaven amüsieren.«

Der Politiker warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Welche Änderung schlagen Sie denn also vor?« fragte er.

Lord Henry lachte. »Ich habe nicht den Wunsch, irgend etwas in England zu ändern, außer dem Wetter,« war seine Antwort. »Ich ergebe mich in philosophischer Beschaulichkeit und bin zufrieden damit. Indessen, da das neunzehnte Jahrhundert durch übermäßigen Verbrauch von Mitgefühl Bankrott gemacht hat, möchte ich vorschlagen, wir wenden uns an die Wissenschaft, damit sie uns aufrichtet. Der Nutzen der Empfindungen ist, daß sie uns in die Irre führen, und der Nutzen der Wissenschaft ist, daß sie nicht empfindsam ist.«

»Aber wir haben eine so ernste Verantwortung,« wagte Frau Vandeleur schüchtern einzuwerfen.

»Furchtbar ernst,« stimmte Lady Agatha bei.

Lord Henry blickte zu Herrn Erskine hinüber.

»Die Menschheit nimmt sich selbst zu ernst. Das ist die Erbsünde der Welt. Wenn der Höhlenmensch sich aufs Lachen verstanden hätte, wäre die Geschichte andre Wege gegangen.«

»Sie sind fürwahr sehr tröstlich,« zwitscherte die Herzogin. »Ich habe immer ein Schuldgefühl verspürt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich interessiere mich nicht im mindesten für Eastend. In Zukunft werde ich ihr ohne Erröten in die Augen sehen können.«

»Erröten steht den Damen sehr gut,« bemerkte Lord Henry. »Nur wenn man jung ist,« antwortete sie. »Wenn eine alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlimmes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wollte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!«

Er dachte einen Augenblick nach. »Können Sie sich an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in jungen Tagen begangen haben, Frau Herzogin?« fragte er und blickte sie über den Tisch hin an.

»Oh, an sehr viele, fürchte ich!« rief sie aus.

»Dann begehen Sie sie noch einmal,« sagte er ernsthaft. »Um seine Jugend wiederzuerlangen, braucht man bloß seine Torheiten zu wiederholen.«

»Eine reizende Theorie!« rief sie. »Ich muß sie in die Praxis umsetzen.«

»Eine gefährliche Theorie!« kam es zwischen den zusammengepreßten Lippen Sir Thomas‘ hervor. Lady Agatha schüttelte den Kopf, konnte aber nichts dagegen tun, daß das Gespräch sie amüsierte. Herr Erskine hörte zu.

»Ja,« fuhr Lord Henry fort, »das ist eins der großen Geheimnisse des Lebens. Heutzutage sterben die meisten Menschen an einer Art schleichendem Menschenverstand und kommen, wenn es zu spät ist, dahinter, daß die einzigen Dinge, die einer nie bereut, seine Fehler sind.«

Ein Lachen erhob sich am Tisch.

Nun spielte er mit dem Gedanken, wie es ihm beliebte; warf ihn in die Luft und wandelte ihn um; ließ ihn verschwinden und fing ihn wieder auf; ließ ihn phantastisch funkeln und beflügelte ihn mit Paradoxien. Das Lob der Narrheit erhob sich, als er fortfuhr, zu einer Philosophie, und die Philosophie selbst wurde jung, und zum Klang der tollen Musik der Lust bekleidet, mochte es einen bedünken, mit ihrem eingefleckten Gewande und einem Efeukranz im Haar – tanzte sie wie eine Bacchantin über die Hänge des Lebens und neckte den trägen Silen, weil er nüchtern blieb. Die Tatsachen flohen vor ihr wie erschreckte Tiere des Waldes. Ihre weißen Füße traten die mächtige Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurnen Blasen wogend an ihren nackten Beinen hochstieg oder in rotem Schaum über die schwarzen, tropfenden, bauchigen Seiten des Fasses herablief. Es war eine glänzende Improvisation. Er spürte, daß die Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das Bewußtsein, daß unter seinen Zuhörern einer war, dessen Naturell er bezaubern wollte, schien seinen Witz funkelnd zu machen und seiner Phantasie Farbe zu geben. Er war glänzend, phantasievoll, unwiderstehlich. Er entzückte seine Zuhörer aus sich selber, und lachend folgten sie seinen verführerischen Tönen. Dorian Gray verwandte den Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter einem Banne da; ein Lächeln nach dem andern glitt über sein Gesicht, und schweres Staunen stieg in seine umdunkelten Augen.

Endlich trat in der Livree des Jahrhunderts die Wirklichkeit ins Gemach, und zwar in Gestalt eines Bedienten, der der Herzogin meldete, daß ihr Wagen vorgefahren war. Sie rang die Hände in affektierter Verzweiflung.

»Wie schade!« rief sie. »Ich muß meinen Mann im Klub abholen und mit ihm in so eine alberne Versammlung bei Willies gehn, wo er den Vorsitz führt. Wenn ich zu spät komme, wird er gewiß wütend, und wenn ich diesen Hut aufhabe, vertrage ich keine Szene. Er ist zu diffizil. Ein starkes Wort – und er ist ruiniert. Nein, ich muß gehn, liebe Agatha. Adieu, Lord Henry! Sie sind sehr amüsant und schrecklich unmoralisch. Wahrhaftig, ich weiß nicht, was ich zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen einmal bei uns zu Abend essen. Vielleicht Dienstag? Sind Sie am Dienstag frei?«

»Für Sie würde ich jeden sitzen lassen, Frau Herzogin,« sagte Lord Henry mit einer Verbeugung.

»Ah! das ist sehr hübsch und sehr abscheulich von Ihnen,« rief sie; »so kommen Sie also, bitte,« und sie rauschte hinaus, gefolgt von Lady Agatha und den andern Damen.

Als Lord Henry sich wieder gesetzt hatte, näherte sich ihm Herr Erskine, setzte sich neben ihn und legte die Hand auf seinen Arm.

»Sie reden wie ein Buch,« sagte er, »warum schreiben Sie keins?«

»Ich lese so gern Bücher, daß ich mir nichts daraus mache, welche zu schreiben, Herr Erskine. Gewiß, einen Roman würde ich gern schreiben, der so schön und so unwirklich wie ein persischer Teppich sein müßte. Aber es gibt in England kein literarisches Publikum, außer für Zeitungen, Fibeln und Nachschlagewerke. Von allen Menschen der Welt haben die Engländer den geringsten Sinn für die Schönheit der Literatur.«

»Ich fürchte, Sie haben recht,« antwortete Herr Erskine. »Ich hatte auch einmal literarischen Ehrgeiz, aber ich habe ihn seit langem aufgegeben. Und nun, lieber junger Freund

– wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen –, darf ich fragen, ob Sie wirklich alles im Ernst meinten, was Sie beim Frühstück zu uns sprachen?«

»Ich weiß gar nicht mehr, was ich sagte,« lächelte Lord Henry. »War es alles sehr böse?«

»Sehr böse, allerdings! Ich halte Sie für überaus gefährlich,

und wenn unsrer guten Herzogin etwas zustößt, werden wir alle Sie in erster Linie dafür verantwortlich machen. Aber ich unterhielte mich gern mit Ihnen über das Leben. Die Generation, in die ich hineingeboren bin, war sehr trist. Kommen Sie einmal, wenn Sie genug von London haben, zu mir nach Treadley, und erklären Sie mir Ihre Philosophie der Lust bei einem vorzüglichen Burgunder, den zu besitzen ich mich freue.«

»Das wird mir großes Vergnügen machen. Ein Besuch in Treadley ist ein großer Vorzug. Es hat einen vollendeten Wirt und eine vollendete Bibliothek.«

»Die mit Ihnen komplett sein wird,« antwortete der alte Herr mit artiger Verbeugung.

»Und jetzt muß ich mich von Ihrer trefflichen Tante verabschieden. Ich muß in den Athenäum-Klub gehn. Es ist die Stunde, wo wir da schlafen.«

»Sie alle, Herr Erskine?«

»Vierzig, in vierzig Lehnstühlen. Wir üben uns für eine Académie Anglaise. »

»Lord Henry lachte und stand auf. »Ich gehe in den Park rief er.

Als er hinaustrat, berührte ihn Dorian Gray am Arm. »Ich möchte mit Ihnen gehn,« sagte er leise.

»Aber ich dachte, Sie hätten Basil Hallward versprochen, zu ihm zu kommen,« erwiderte Lord Henry.

»Ich möchte lieber mit Ihnen gehn; ja, ich fühle, ich muß mit Ihnen gehn. Erlauben Sie es mir? Und versprechen Sie mir, die ganze Zeit zu mir zu sprechen? Niemand spricht so wundervoll wie Sie.«

»Ach! ich habe für heute gerade genug geredet,« sagte Lord Henry lächelnd. »Alles, was ich jetzt wünsche, ist, das Leben zu beschauen. Wenn Sie wollen, so kommen Sie mit und beschauen Sie es mit mir.«

Anhang

Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.

Die Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verstecken ist die Aufgabe der Kunst.

Der Kritiker ist der, der seinen Eindruck von schönen Dingen in eine neue Form oder ein neues Material übertragen kann. Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine Art Selbstbiographie.

Wer häßlichen Sinn in schönen Dingen findet, ist verderbt, ohne Anmut zu haben. Das ist ein Fehler.

Wer schönen Sinn in schönen Dingen findet, gehört zum Reiche der Kultur. Für ihn ist Hoffnung.

Die sind die Auserwählten, denen schöne Dinge einzig Schönheit bedeuten.

So etwas wie ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind gut geschrieben oder schlecht geschrieben, weiter nichts.

Das Mißfallen des neunzehnten Jahrhunderts am Realismus ist die Wut Kalibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht.

Das Mißfallen des neunzehnten Jahrhunderts an der Romantik ist die Wut Kalibans, der sein eigenes Gesicht nicht im Spiegel sieht.

Das moralische Leben des Menschen bildet einen Teil des Stoffgebiets des Künstlers, aber die Moralität der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mittels.

Kein Künstler will etwas beweisen. Selbst Wahrheiten können bewiesen werden.

Kein Künstler bat ethische Sympathien. Eine ethische Sympathie bei einem Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.

Kein Künstler ist je dekadent. Der Künstler kann alles ausdrücken.

Denken und Sprechen sind für den Künstler Mittel einer Kunst.

Laster und Tugend sind für den Künstler Material einer Kunst.

Vom Standpunkt der Form ist das Urbild aller Künste die Kunst des Musikers. Vom Standpunkt des Gefühls ist das Handwerk des Schauspielers das Urbild.

Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol. Wer unter die Oberfläche geht, tut es auf eigene Gefahr.

Wer das Symbol deutet, tut es auf eigene Gefahr.

Den Beschauer und nicht das Leben spiegelt die Kunst in Wahrheit.

Meinungsverschiedenheit über ein Kunstwerk zeigt, daß das Werk neu, vielfältig und bedeutend ist.

Wenn die Kritiker uneins sind, ist der Künstler einig mit sich selbst.

Wir können einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches gemacht hat, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung dafür, daß einer etwas Nutzloses gemacht hat, ist, daß man es sehr bewundert.

Alle Kunst ist völlig nutzlos.
          Oscar Wilde

Unter der Bezeichnung Vorwort zu Dorian Gray hat Wilde nach Veröffentlichung des Buches diese Sätze zusammengestellt, die er auch sonst oft gesagt hat oder seine Gestalten sagen ließ.

Viertes Kapitel

Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian Gray zurückgelehnt in einem üppigen Lehnstuhl in dem kleinen Bibliothekzimmer im Hause Lord Henrys in Mayfair. Es war in seiner Art ein entzückendes Zimmer mit seiner hohen, getäfelten Wandverkleidung aus olivenfarbenem Eichenholz, mit seiner mattgelben Decke und dem Fries mit Stuckverzierungen und dem ziegelmehlfarbenen Filzteppich, auf dem seidene, langbefranste persische Decken herumlagen. Auf einem zierlichen Tischchen aus Satinholz stand eine Statuette von Clodion, und daneben lag ein Exemplar der ‚Cent Nouvelles‘ das Clovis Eve für Margarete von Vabis gebunden hatte und in das vergoldete Gänseblümchen geprägt waren, die diese Königin als ihr Wahrzeichen erwählt hatte. Ein paar große blaue Porzellankrüge und Papageientulpen standen auf dem Kaminsims, und durch die kleinen, mit Blei eingefaßten Scheiben der Fenster floß das aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertags.

Lord Henry war noch nicht gekommen. Er verspätete sich immer aus Prinzip, da es sein Prinzip war, daß Pünktlichkeit einem die Zeit stiehlt. So sah der Junge Mann recht verdrießlich drein, wie er lässig eine reich illustrierte Ausgabe der Manon Lescaut durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden hatte. Das regelmäßige, eintönige Ticken der Louis-Quatorze-Uhr quälte ihn. Ein- oder zweimal dachte er daran fortzugehn. Endlich hörte er einen Schritt draußen, und die Tür öffnete sich. »Wie spät du kommst, Harry!« sagte er mit leisem Vorwurf.

»Ich fürchte, es ist nicht Harry, Herr Gray,« antwortete eine scharfe Stimme.

Er blickte sich schnell um und sprang auf die Füße.

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich dachte…« »Sie dachten, es sei mein Mann. Es ist nur seine Frau. Sie müssen gestatten, daß ich mich selbst vorstelle. Ich kenne Sie ganz gut von Ihren Photographien her. Ich glaube, mein Mann hat siebzehn.«

»Doch nicht siebzehn, Lady Henry.«

»Nun denn also achtzehn. Und ich sah Sie gestern abend mit ihm in der Oper.« Sie lachte nervös, während sie sprach, und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine absonderliche Frau, die fast immer in jemanden verliebt war und die, da ihr Gefühl nie erwidert wurde, sich alle ihre Illusionen bewahrt hatte. Sie versuchte, malerisch auszusehn. Es gelang ihr aber nur, unordentlich gekleidet zu sein. Sie hieß Viktoria und hatte eine krankhafte Neigung, in die Kirche zu gehn:

»Das war im ›Lohengrin›, Lady Henry, nicht wahr?«

»Ja, es war im herrlichen ›Lohengrin›. Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. Das ist ein großer Vorteil; meinen Sie nicht auch, Herr Gray?«

Dasselbe nervöse, kurz abgebrochene Lachen kam von ihren dünnen Lippen, und ihre Finger fingen an, mit einem langen Schildpattpapiermesser zu spielen.

Dorian lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich meine es nicht, Lady Henry. Ich spreche nie während der Musik – wenigstens nicht während guter Musik. Wenn man schlechte Musik hört, hat man die Pflicht, sie im Gespräch zu ertränken.«

»Oh! das ist einer von Harrys Sätzen, nicht wahr, Herr Gray? Ich höre Harrys Sätze immer aus dem Munde seiner Freunde. Es ist die einzige Art, auf die ich sie erfahre. Aber Sie dürfen nicht denken, daß ich gute Musik nicht liebe. Ich verehre sie, aber ich habe Angst davor. Sie macht mich zu romantisch. Ich habe Pianisten geradezu angebetet – manchmal zwei zu gleicher Zeit, behauptet Harry. Ich weiß nicht, was das mit ihnen ist. Vielleicht kommt es daher, daß sie Ausländer sind. Sie sind es alle, nicht wahr? Selbst die, die in England geboren sind, werden nach einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Das ist so klug von ihnen und für die Kunst so schmeichelhaft. Das macht sie kosmopolitisch, nicht wahr? Sie sind nie bei einer meiner Gesellschaften gewesen, nicht wahr, Herr Gray? Sie müssen kommen. Orchideen kann ich mir nicht leisten, aber für Ausländer ist mir nichts zu teuer. Sie machen ein Haus so malerisch. Aber hier ist Harry! – Harry, ich kam, um nach dir zu sehn, ich wollte dich etwas fragen – ich weiß nicht mehr was –, und ich fand Herrn Gray hier. Wir haben so reizend über Musik geplaudert. Wir denken ganz gleich darüber. Nein, ich glaube, wir denken ganz verschieden darüber. Aber er ist sehr scharmant gewesen. Ich freue mich so sehr, daß ich ihn gesehn habe.«

»Das ist recht, meine Liebe, ganz recht,« sagte Lord Henry, zog seine dunklen, sichelförmigen Brauen hoch und blickte die beiden mit vergnügtem Lächeln an. »Es tut mir so leid, daß ich mich verspätet habe, Dorian. Ich sah mich in Wardour Street nach einem Stück alten Brokat um und mußte stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen die Menschen den Preis von allen Dingen und den Wert von keinem.«

»Ich fürchte, ich muß gehn,« rief Lady Henry und brach ein unangenehmes Schweigen mit ihrem albernen unmotivierten Lachen. »Ich habe versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Herr Gray! Adieu, Harry! Du ißt nicht zu Hause, nicht wahr? Ich auch nicht. Vielleicht sehe ich dich bei Lady Thornbury.«

»Sehr wahrscheinlich, meine Liebe,« sagte Lord Henry und schloß die Tür hinter ihr, als sie, anzusehn wie ein Paradiesvogel, der die ganze Nacht im Regen gewesen, wie auf der Flucht das Zimmer verlassen hatte. Sie hinterließ einen leichten Duft von Jasminparfüm. Lord Harry steckte eine Zigarette an und machte sich’s auf dem Sofa bequem.

»Heirate nie eine Frau mit strohfarbenem Haar, Dorian,« sagte er nach einigen Zügen.

»Warum nicht, Harry?«

»Weil sie so sentimental sind.«

»Aber ich liebe sentimentale Menschen.«

»Heirate überhaupt nie, Dorian. Männer heiraten, weil sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.«

»Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Ich bin zu sehr verliebt. Das ist eins deiner Aphorismen. Ich setze es in Praxis um, wie alles, was du sagst.«

»In wen bist du verliebt?« fragte Lord Henry nach einer Pause.

»In eine Schauspielerin,« sagte Dorian Gray errötend.

Lord Henry zuckte die Achseln. »Das ist ein recht gewöhnliches Debüt.«

»Das sagtest du nicht, wenn du sie sähest, Harry.« »Wer ist es?«

»Sie heißt Sibyl Vane.«

»Habe nie von ihr gehört.«

»Niemand kennt sie. Aber die Menschen werden eines Tages von ihr hören. Sie ist ein Genie!«

»Mein lieber Junge, kein Weib ist ein Genie. Die Weiber sind das dekorative Geschlecht. Sie haben nie etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend. Die Weiber verkörpern den Triumph der Materie über den Geist, so wie die Männer den Triumph des Geistes über die Moral vorstellen.«

»Harry, wie kannst du!«

»Lieber Dorian, das ist sehr wahr. Ich bin gerade mit einer Analyse der Weiber beschäftigt, daher muß ich es wissen.

Der Gegenstand ist nicht so verworren, wie ich dachte. Ich finde, es gibt schließlich nur zwei Arten von Frauen, die schlichten und die geschminkten. Die schlichten sind sehr nützlich. Wenn du in den Ruf der Ehrbarkeit kommen willst, mußt du nur mit einer von ihnen zu Abend essen gehn. Die andern Frauen sind sehr reizend. Einen Fehler jedoch begehen sie: sie gebrauchen Farbe in der Absicht, jung auszusehn. Unsre Großmütter gebrauchten Farbe, um glänzend zu plaudern. Rouge und Esprit gingen gewöhnlich zusammen. Das ist jetzt alles vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehn kann als ihre Tochter, ist sie völlig zufriedengestellt. Was die Unterhaltung angeht, so gibt es nur fünf Frauen in London, mit denen es sich zu reden lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft unmöglich. Indessen, erzähle mir von deinem Genie! Seit wann kennst du sie?«

»Ach, Harry, deine Worte entsetzen mich!«

»Kümmere dich nicht darum. Seit wann kennst du sie?« »Seit ungefähr drei Wochen.«

»Und wie kamst du mit ihr zusammen?«

»Ich will es dir erzählen, Harry; aber du darfst es nicht leichthin nehmen. Schließlich wäre es nie dazu gekommen, wenn ich dich nicht gefunden hätte. Du fülltest mich mit einem wilden Verlangen, alles im Leben kennen zu lernen. Viele Tage, nachdem ich dich kennen gelernt hatte, schien etwas in meinen Adern zu pochen. Wenn ich im Park spazierte oder nach Piccadilly schlenderte, schaute ich jeden an, der mir begegnete, und wollte mit wilder Neugier herausbekommen, was für ein Leben sie alle führten. Einige von ihnen zogen mich an, andere füllten mich mit Schauder. Es lag ein verführerisches Gift in der Luft. Meine Sinne dürsteten nach Erlebnissen… Nun, eines Abends gegen sieben Uhr beschloß ich auszugehn, auf die Suche nach einem Abenteuer. Ich empfand, unser graues, ungeheures London mit seinen vielen Hunderttausenden, seinen schmutzigen Sündern und seinen glänzenden Sünden, wie du dich einmal ausdrücktest, müsse etwas für mich in Bereitschaft halten. Ich träumte von tausend Dingen. Schon die bloße Gefahr machte mir Genuß. Ich erinnerte mich an die Worte, die du an dem wundervollen Abend zu mir sprachst, als wir zuerst zusammen speisten, von dem Suchen nach der Schönheit, die das wahre Geheimnis des Lebens ist. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich ging los und wanderte in den Osten, wo ich bald in einem Gewirr von rußigen Gassen und schwarzen Plätzen, die kein Fleckchen Grün hatten, meinen Weg verlor. Gegen halb acht Uhr kam ich an einem komischen kleinen Theater mit großen flackernden Gasflammen und grellen Ankündigungen vorbei. Ein scheußlicher Jude, der das absonderlichste Wams trug, das ich in meinem Leben gesehen habe, stand am Eingang und rauchte eine stinkende Zigarre. Er hatte fettige Ringellöckchen, und ein riesiger Diamant blitzte auf seiner schmutzigen Hemdenbrust. »Bilett gefällig, Herr Baron?« fragte er, als er mich sah, und nahm mit einer Miene großartiger Unterwürfigkeit den Hut ab. Es war so erlesen scheußlich. Du wirst mich natürlich auslachen, aber ich trat tatsächlich ein und zahlte zwanzig Mark für die Proszeniumsloge. Noch heute weiß ich nicht, warum ich das tat; und doch, wenn es nicht geschehen wäre – liebster Harry, wenn es nicht geschehen wäre, würde mir das größte Ereignis meines Lebens entgangen sein. Ich sehe, du lachst. Es ist abscheulich von dir!«

»Ich lache nicht, Dorian; wenigstens lache ich nicht über dich. Aber du solltest es nicht das größte Ereignis deines Lebens nennen. Es wäre eher das erste Ereignis deines Lebens zu nennen. Du wirst immer geliebt werden, und du wirst immer in die Liebe verliebt sein. Eine grande passion ist das Vorrecht der Menschen, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige Nutzen der Faulenzerklasse eines Landes. Sei nicht zaghaft! Köstliche Dinge warten auf dich. Das ist nur der Anfang.«

»Hältst du meine Natur für so oberflächlich?« rief Dorian zornig.

»Nein, ich halte sie für so tief.« »Wie verstehst du das?«

»Mein lieber Sohn, die Menschen, die nur einmal im Leben lieben, sind in Wahrheit die Oberflächlichen. Was sie ihre Treue nennen, nenne ich entweder die Trägheit der Gewohnheit oder ihren Mangel an Phantasie. Treue ist für das Gefühls- und Triebleben, was die Konsequenz für das geistige Leben ist – weiter nichts als ein Eingeständnis der Schwäche. Treue! Ich muß mich einmal daran machen, sie zu analysieren. Es liegt Besitzgier in ihr. Wie viele Dinge würden wir wegwerfen, wenn wir nicht fürchteten, andre würden sie aufheben. Aber ich will dich nicht unterbrechen. Erzähle weiter!«

»Also, ich saß in einer schauderhaften kleinen verhängten Loge und hatte den gemeinen Vorhang direkt vor den Augen. Ich blickte hinter der Gardine vor und sah mich im Hause um. Es war alles lächerlich ausgeputzt, lauter Kupidos und Füllhörner, wie auf einem Hochzeitskuchen schlimmster Sorte. Die Galerie und der Stehplatz waren ziemlich voll, aber die beiden Reihen schmutziger Sperrsitze waren ganz leer, und kaum ein Mensch war auf dem Platz, den sie vermutlich den ersten Rang nannten. Frauen liefen mit Orangen und Ingwerbier herum, und schrecklich viele Haselnüsse wurden aufgeknackt.«

»Es muß genau wie in der Blütezeit des englischen Dramas gewesen sein.«

»Genau so, glaube ich, und sehr deprimierend. Ich hatte angefangen, mir zu überlegen, was in aller Welt ich tun sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel. Was glaubst du, das sie spielten, Harry?«

»Ich sollte meinen: ›Der arme Kretin oder Blödsinn und Unschuld‹. Unsre Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe, Dorian, um so stärker fühle ich, daß alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik les grand-peres ont toujours tort.«

»Das Stück, das da gespielt wurde, war gut genug für uns, Harry. Es war ›Romeo und Julia‹. Ich muß gestehn, ich war bei dem Gedanken, Shakespeare in so einem elenden Loche spielen zu sehen, ziemlich niedergeschlagen. Und doch war ich in gewisser Weise interessiert. Jedenfalls beschloß ich, den ersten Akt abzuwarten. Es spielte ein schreckliches Orchester, das ein junger Hebräer leitete. Er saß an einem schetterigen Klavier, das mich beinahe vertrieben hätte; aber endlich ging der Vorhang auf, und das Stück begann. Romeo war ein vierschrötiger älterer Herr mit geschwärzten Brauen, einer heisern Komödiantenstimme und einer Gestalt wie ein Bierfaß. Mercutio war fast ebenso schlimm. Er wurde vom Komiker gespielt, der neue Stellen von sich aus improvisiert hatte und mit der Galerie auf bestem Fuße stand. Sie waren beide so grotesk wie die Dekoration, und die sah aus, als käme sie aus einer Jahrmarktsbude. Aber Julia! Harry, stell dir ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit kleinem blumenhaften Gesicht, schmalem griechischen Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen wie blaue Brunnen der Glut, mit Lippen, die wie Rosenblätter waren. Ich habe nie etwas Schöneres im Leben gesehn. Du sagtest einmal zu mir, Pathos lasse dich ungerührt, aber Schönheit, reine Schönheit an sich könne deine Augen mit Tränen füllen. Ich sage dir, Harry, ich konnte dieses Mädchen vor dem Tränenschleier, der mein Auge verdunkelte, kaum sehen. Und ihre Stimme – ich habe nie eine solche Stimme gehört. Sie war zuerst sehr leise, mit tiefen, vollen Tönen, die einem jeder für sich ins Ohr zu fallen schienen. Dann wurde sie ein wenig lauter und klang wie eine Flöte oder eine entfernte Hoboe. In der Gartenszene hatte sie all die zitternde Inbrunst, die man hört, wenn die Nachtigallen vor Morgengrauen singen. Es gab im weitern Augenblicke, wo die Stimme die glühende Wildheit der Geige hatte. Du weißt, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Deine Stimme und die Stimme Sibyl Vanes, die beiden werde ich niemals vergessen. Wenn ich die Augen schließe, höre ich sie, und jede von ihnen sagt etwas andres. Ich weiß nicht, welcher ich folgen soll. Warum sollte ich sie nicht lieben? Harry, ich liebe sie! Sie ist mir alles im Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten Imogen. Ich habe sie im Dunkel eines italienischen Grabgewölbes gesehn, wie sie das Gift von den Lippen ihres Geliebten küßte und starb. Ich habe gesehen, wie sie durch die Ardennen wanderte, als hübscher Knabe verkleidet, in kurzen Hosen und im Wams und mit kecker Mütze. Sie ist wahnsinnig gewesen und ist vor einen schuldvollen König getreten und gab ihm Raute zu tragen und bittere Kräuter zu kosten. Sie ist unschuldig gewesen, und die schwarzen Hände der Eifersucht würgten ihren zarten Hals. Ich sah sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht. Gewöhnliche Frauen erwecken einem nie die Phantasie. Sie bleiben in ihrem Jahrhundert. Kein Zauber verklärt sie und gibt ihnen neue Gestalt. Man erkennt ihren Geist so leicht wie ihre Hüte. Man findet sie immer heraus. Nichts Geheimes ist in ihnen. Sie reiten morgens in den Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie haben ihr stereotypes Lächeln und ihr Benehmen nach der Mode. Sie liegen völlig auf der Hand. Aber eine Schauspielerin! Wie anders ist es mit einer Schauspielerin! Harry! Warum sagtest du mir nicht, daß nichts wert ist, geliebt zu werden, als eine Schauspielerin?«

»Weil ich ihrer so viele geliebt habe, Dorian.«

»Oh! gewiß gräßliche Personen mit gefärbtem Haar und geschminkten Gesichtern.«

»Mach nur gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter nicht schlecht. Es liegt manchmal etwas überaus Reizvolles in ihnen.«

»Ich wollte, ich hätte dir nicht von Sibyl Vane gesprochen.« »Du mußtest mir davon sprechen, Dorian. Dein ganzes Leben lang wirst du mir alles sagen, was du tust.«

»Ja, Harry, ich glaube, das ist wahr. Ich muß dir alles sagen. Du hast einen seltsamen Einfluß auf mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, käme ich zu dir und beichtete es. Du verstündest mich.«

»Menschen wie du – die kecken Sonnenstrahlen des Lebens

– begehen keine Verbrechen, Dorian. Aber trotzdem verbindlichsten Dank für das Kompliment. Und nun sage mir

– gib mir Feuer, sei so gut; danke schön! – in was für einem Verhältnis stehst du jetzt zu Sibyl Vane?«

Dorian Gray sprang errötend und mit blitzenden Augen auf. »Harry! Sibyl Vane ist mir heilig!«

»Nur heilige Dinge verlohnt es sich anzurühren, Dorian,« sagte Lord Henry, und ein seltsamer Anflug von Pathos war in seine Stimme gekommen. »Aber warum willst du böse sein? Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören. Wenn man verliebt ist, betrügt man immer anfangs sich selbst und am Ende die andern. Das nennt die Welt einen Liebesroman. Du hast sie doch jedenfalls kennen gelernt, denke ich?«

»Natürlich kenne ich sie. Als ich am ersten Abend im Theater war, kam der gräßliche alte Jude nach der Vorstellung an meine Loge und bot mir an, er wolle mich hinter die Kulissen führen und mich ihr vorstellen. Ich war wütend und sagte zu ihm, Julia sei seit ein paar hundert Jahren tot und ihr Leichnam sei in einem marmornen Grab in Verona bestattet. Nach seinem bestürzten Blick zu schließen hatte er den Eindruck, ich hätte zu viel Champagner getrunken oder etwas der Art.«

»Durchaus zu begreifen.«

»Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schriebe. Ich antwortete, daß ich nicht einmal eine läse. Er schien darüber furchtbar enttäuscht und vertraute mir an, alle Theaterkritiker hätten sich gegen ihn verschworen, und sie wären einer wie der andre zu kaufen.«

»Es sollte mich nicht wundern, wenn er damit ganz recht hätte. Aber anderseits, nach ihrem Äußern zu urteilen, können die meisten von ihnen nicht sehr teuer sein.«

»Immerhin schien er zu glauben, sie gingen über seine Verhältnisse,« lachte Dorian. »Mittlerweile waren aber die Lichter im Theater ausgedreht worden, und ich mußte gehn. Er bat mich, ein paar Zigarren zu versuchen, die er mir lebhaft empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend war ich natürlich wieder da. Als er mich sah, verbeugte er sich tief vor mir und versicherte mich, ich sei ein edelmütiger Gönner der Kunst. Er war ein sehr abstoßender Kerl, obwohl er eine ungewöhnliche Leidenschaft für Shakespeare hatte. Er erzählte mir einmal mit stolzer Miene, seine fünf Bankrotte verdanke er ausschließlich ›dem Barden‹, wie er ihn hartnäckig nannte. Er schien das für eine Ehre zu halten.«

»Es ist eine Ehre, lieber Dorian – eine große Ehre. Die meisten Leute werden bankrott, weil sie zuviel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich durch Poesie zugrunde gerichtet zu haben, ist ein auszeichnender Vorzug. Aber wann sprachst du zum erstenmal mit Fräulein Sibyl Vane?«

»Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. Ich mußte zu ihr gehn. Ich hatte ihr einige Blumen zugeworfen, und sie hatte mich angesehn, wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war hartnäckig. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu nehmen, und so willigte ich ein. Es war seltsam, daß ich sie nicht kennen lernen wollte, nicht?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Lieber Harry, warum?«

»Ich sage es dir ein andermal. Jetzt möchte ich von dem Mädchen hören.«

»Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und so freundlich. Sie ist noch fast wie ein Kind. Sie machte in reizendem Staunen große Augen, als ich ihr sagte, was ich von ihrer Darstellung hielt, und sie schien von ihrem Können gar nichts zu wissen. Ich glaube, wir waren beide recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür des staubigen Ankleidezimmers und hielt große Reden über uns beide, während wir einander wie zwei Kinder ansahen. Er bestand darauf, mich ›Herr Baron‹ zu nennen, und so mußte ich Sibyl sagen, daß ich nichts der Art sei. Sie sagte ganz schlicht zu mir: ›Sie sehen mehr wie ein Prinz aus. Ich muß Sie Prinz Wunderhold nennen‹.«

»Auf mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht sich aufs Schmeicheln.«

»Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur so wie eine Gestalt in einem Stück. Sie weiß nichts vom Leben. Sie lebt bei ihrer Mutter, die eine verblühte ältliche Frau ist. Am ersten Abend spielte sie in einer Art türkischem Morgenrock die Lady Capulet, und sie sieht aus, als ob sie bessere Tage gesehen hätte.«

»Ich kenne dieses Aussehen; es ist mir peinlich,« sagte Lord Henry mit unterdrückter Stimme und spielte mit seinen Ringen.

»Der Jude wollte mir ihre Geschichte erzählen, aber ich sagte, sie interessiere mich nicht.«

»Da hattest du recht. Andrer Leute Tragödien haben immer etwas unsäglich Gemeines.«

»Ich kümmere mich um nichts als um Sibyl. Was bedeutet es mir, woher sie stammt? Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihren kleinen Füßen ist sie ganz und gar ein himmlisches Geschöpf. Jeden Abend meines Lebens gehe ich hin und sehe sie spielen, und jeden Abend ist sie wunderbarer.«

»Das ist vermutlich der Grund, warum du nie mehr mit mir zusammen ißt. Ich dachte mir, daß da ein absonderlicher Roman im Gange sei. Es ist so, aber nicht ganz, was ich erwartet habe.«

»Lieber Harry, jeden Tag sind wir beim Frühstück oder Nachtessen zusammen, und ich bin ein paarmal mit dir in der Oper gewesen,« sagte Dorian und schaute ihn mit seinen blauen Augen erstaunt an.

»Du kommst immer schrecklich spät.«

»Aber ich muß Sibyl spielen sehn,« rief er, »und wenn es nur einen Akt lang ist. Ich hungere nach ihrer Gegenwart; und wenn ich an die herrliche Seele denke, die in diesem kleinen Elfenbeinleib verborgen ist, erfaßt mich Ehrfurcht.«

»Heute abend kannst du mit mir essen, Dorian, nicht wahr?«

Er schüttelte den Kopf. »Heute abend ist sie Imogen,« antwortete er, »und morgen wird sie Julia sein.«

»Wann ist sie Sibyl Vane?« »Nie.«

»Ich gratuliere.«

»Wie gräßlich du bist! Sie ist all die großen Frauengestalten der Welt in einer. Sie ist mehr als ein Individuum. Du lachst, aber ich sage dir, sie hat Genie. Ich liebe sie, und ich muß es erreichen, daß sie mich auch liebt. Du kennst alle Geheimnisse des Lebens, du mußt mir sagen, wie ich Sibyl Vane so entzücken kann, daß sie mich liebt! Ich muß Romeo eifersüchtig machen. Die toten Liebhaber der Welt sollen unsre lachenden Stimmen hören und sich grämen. Unsre strahlende Glut soll ihrem Staub Leben geben, soll ihre Asche zum Schmerz erwecken. O Gott, Harry, ich bete sie an!«

Er ging im Zimmer auf und ab, während er sprach. Fieberhafte rote Flecke brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt.

Lord Henry beobachtete ihn mit stillem Wohlgefallen. Wie anders war er jetzt als der schüchterne, ängstliche Knabe, den er in Basil Hallwards Atelier getroffen hatte! Seine Natur hatte sie wie eine Blume entfaltet und trug Blüten von flammendem Scharlach. Die Seele war aus ihrem Versteck gekrochen, und die Wollust war ihr auf ihrem Wege begegnet.

»Und was hast du nun vor?« fragte Lord Henry schließlich.

»Ich habe den Wunsch, daß du und Basil mich eines Abends begleitet und sie spielen seht. Ich fürchte mich nicht im geringsten davor. Ihr müßt sicher ihr Genie erkennen. Dann müssen wir sie den Händen des Juden entreißen. Sie ist für drei Jahre an ihn gebunden – wenigstens für zwei Jahre und acht Monate, von heute an gerechnet. Natürlich werde ich ihm etwas zahlen müssen. Wenn all das erledigt ist, suche ich mir ein Theater im Westend und werde sie da erst richtig zum erstenmal auftreten lassen. Sie wird die Welt so toll machen wie mich.«

»Das wird wohl unmöglich sein, lieber Junge.«

»Doch, das wird sie. Sie hat nicht nur Kunst, vollendeten Kunstinstinkt in sich, sondern sie hat auch Persönlichkeit; und du hast mir oft gesagt, daß die Persönlichkeiten, nicht die Prinzipien die Welt regieren.«

»Nun schön, an welchem Abend wollen wir hingehn?«

»Warte mal. Heute ist Dienstag. Setzen wir morgen fest. Morgen spielt sie die Julia.«

»Schön! Morgen um acht Uhr im Bristol. Ich werde Basil bestellen.«

»Bitte, Harry, nicht acht Uhr. Halb sieben Uhr. Wir müssen da sein, ehe der Vorhang aufgeht. Du mußt sie im ersten Akt sehen, wenn sie Romeo begegnet.«

»Halb sieben Uhr! Was das für eine Stunde ist! Das ist gerade so, als gäbe man ein Philisterabendbrot oder läse einen englischen Roman. Vor sieben Uhr geht es nicht. Kein Gentleman ißt vor sieben. Siehst du Basil in der Zwischenzeit? Oder soll ich ihm schreiben?«

»Der liebe Basil! Ich habe mich seit einer Woche nicht bei ihm sehen lassen. Das ist recht häßlich von mir, denn er hat mir mein Bild in einem überaus herrlichen Rahmen, den er selbst entworfen hat, geschickt, und obwohl ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich zugeben, daß ich glücklich darüber bin. Vielleicht ist es besser, du schreibst ihm. Ich mag ihn nicht allein sehn. Er sagt Dinge, die mich ärgern. Er gibt mir gute Ratschläge.«

Lord Henry lächelte. »Die Menschen lieben es sehr, wegzugehen, was sie selbst am nötigsten hätten. Das nenne ich den Gipfel der Großherzigkeit.«

»Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir ein ganz klein bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kennen gelernt habe, bin ich dahinter gekommen.

»Basil, lieber Junge, legt alle Grazie, die er hat, in sein Werk hinein. Daraus ergibt sich, daß ihm fürs Leben nichts übrig geblieben ist als seine Vorurteile, seine Prinzipien und sein gesunder Menschenverstand. Die einzigen persönlich anziehenden Künstler, die ich je kennen gelernt habe, waren schlechte Künstler. Gute Künstler existieren lediglich in ihren Werken und sind darum im Leben völlig uninteressant. Ein großer Dichter, ein wahrhaft großer Poet ist das unpoetischste aller Menschenkinder. Aber Dichter untergeordneter Art sind ganz bezaubernd. Je schlechter ihre Reime sind, um so malerischer sehn sie aus. Schon die Tatsache, eine mittelmäßige Sonettensammlung herausgegeben zu haben, macht einen Mann ganz unwiderstehlich. Er lebt die Poesie, die er nicht schreiben kann. Die andern schreiben die Poesie, die sie nicht zu verwirklichen wagen.«

»Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry,« sagte Dorian Gray, der von einer großen Flasche, die auf dem Tische stand, inzwischen den goldenen Knopf gehoben und sich das Taschentuch mit Parfüm besprengt hatte. »Es muß wohl so sein, wenn du es sagst. Und jetzt gehe ich. Imogen wartet auf mich. Vergiß nicht morgen! Adieu!«

Als er das Zimmer verlassen hatte, schlossen sich die schweren Augenlider Lord Henrys, und er fing an nachzudenken. Gewiß hatten ihn wenig Menschen je so interessiert wie Dorian Gray, und doch verursachte die wie Leidenschaft des Jünglings für eine andre Person ihm nicht den leichtesten Schmerz oder Arger oder Eifersucht. Die Sache gefiel ihm. Der junge Mann wurde dadurch noch interessanter. Er war immer für die Methoden der Naturwissenschaft eingenommen gewesen, aber der gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm kleinlich und unbedeutend vorgekommen. Und so hatte er damit angefangen, sich selbst zu vivisezieren, und war schließlich dazu gekommen, andre zu vivisezieren. Das Menschenleben – das schien ihm das einzige Ding, das zu erforschen sich verlohnte. Im Vergleich zu ihm war alles andre unbedeutend. Allerdings, wenn man das Leben in dem seltsamen Tiegel des Schmerzes und der Lust beobachtete, konnte man keine Glasmaske über seinem Gesicht tragen und konnte sich vor den Schwefeldämpfen nicht wahren, die einem das Hirn verwirrten und die Phantasie mit wilden Ausgeburten und verzerrten Träumen in Aufruhr brachten. Es gab so feine Gifte, daß, wer ihre Eigenschaften kennen lernen wollte, selbst von ihnen krank werden mußte. Es gab so seltsame Krankheiten, daß man sie durchmachen mußte, um ihr Wesen zu verstehn. Aber was empfing man auch für einen Lohn! Wie wundervoll verwandelte sich einem die ganze Welt! Die seltsame strenge Logik der Leidenschaft und das farbige Empfindungs- und Triebleben des Geistes aufzuzeichnen – zu beobachten, wo sie zusammenkamen und wo sie auseinandergingen, an welchem Punkte sie in Eintracht waren und wo sie sich befehdeten –, das war ein Genuß! Was tats, was er einen kostete? Für ein Sinnenerlebnis konnte man nie zu hohen Preis zahlen.

Er war sich bewußt – und der Gedanke ließ seine braunen Achataugen freudig aufglänzen –, daß es durch gewisse Worte, die er gesprochen hatte, musikalische Worte in melodischem Tonfall, dahin gekommen war, daß die Seele Dorian Grays sich diesem weißen Mädchen zugewandt hatte und sich in Verehrung vor ihr beugte. In weitem Maße war der Jüngling sein Geschöpf. Er hatte ihn vor der Zeit reif gemacht. Das war etwas. Gewöhnliche Menschen warteten, bis das Leben ihnen sein Geheimnis enthüllte, aber den wenigen, den Erlesenen wurden die Mysterien des Lebens enthüllt, ehe der Schleier weggezogen war. Manchmal war das die Wirkung der Kunst, und hauptsächlich der Kunstgattung der Literatur, die unmittelbar die Leiden schaffen und den Geist behandelt. Aber hie und da trat dafür eine komplizierte Persönlichkeit ein und übte das Amt der Kunst, war fürwahr in ihrer Weise ein richtiges Kunstwerk, denn das Leben hatte seine vollendeten Meisterwerke, gerade wie die Dichtung oder die Plastik oder die Malerei sie hat. Jawohl, der Jüngling war vor der Zeit reif. Er sammelte seine Ernte, während noch Frühling war. Der Puls und die Leidenschaft der Jugend waren in ihm, und er fing an, bewußt zu werden. Es war ein Entzücken, ihn zu beobachten. Mit seinem schönen Antlitz und seiner schönen Seele war er ein erstaunliches Stück Leben. Es kam nichts darauf an, wie all das endete. Er war wie eine der zierlichen Gestalten auf einer gestickten Tapete oder in einem Spiel, deren Freuden einem fremd zu sein scheinen, aber deren Schmerzen den Schönheitssinn erschüttern und deren Wunden wie rote Rosen sind.

Seele und Körper, Körper und Seele – wie voller Geheimnis war das alles! Es war Animalisches in der Seele, und der Körper hatte seine spirituellen Momente. Die Sinne konnten geläutert werden, und der Geist konnte versinken. Wer konnte sagen, wo der fleischliche Trieb aufhörte und der psychische anfing? Wie seicht waren die willkürlichen Definitionen der gewöhnlichen Psychologen! Und wie schwer war es doch, zwischen den Aufstellungen der verschiedenen Schulen eine Entscheidung zu treffen! War die Seele ein Schatten, der im Haus der Sünde saß? Oder war der Körper in Wahrheit in der Seele, wie Giordano Bruno gemeint hatte? Die Trennung des Geistes und der Materie war ein Geheimnis, und die Vereinigung des Geistes mit der Materie war wiederum ein Geheimnis.

Er fing an, darüber zu sinnen, ob wir wohl je die Psychologie zu einer so absoluten Wissenschaft machen könnten, daß jedes kleine Triebrad des Lebens uns seinen Sinn offenbarte. Wie es heute darum stand, mißverstanden wir uns selbst immer und verstanden nur selten andre. Die Erfahrung hatte keine ethische Bedeutung. Sie war nichts als der Name, den die Menschen ihren Irrwegen gaben. Die Moralisten hatten sie in der Regel als eine Art Warnung betrachtet, hatten für sie eine gewisse ethische Wirksamkeit für die Charakterbildung beansprucht, hatten sie als ein Mittel gepriesen, das uns lehrte, welche Wege wir einschlagen und was wir vermeiden sollten. Aber es lag keine bewegende Kraft in der Erfahrung. Sie war so wenig eine aktive Ursache wie das Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit dartat, war, daß unsere Zukunft die nämliche sein würde wie unsere Vergangenheit, und daß wir die Sünde, die wir einmal und damals mit Abscheu getan hatten, viele Male tun würden, und dann mit Freuden.

Es stand ihm fest, daß die experimentelle Methode die einzige sei, durch die man zu irgendeiner wissenschaftlichen Analyse der Leidenschaften gelangen könnte; und sicher war Dorian Gray ein Objekt, das wie für ihn geschaffen war und reiche und wertvolle Resultate erwarten ließ. Seine plötzliche wilde Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische Tatsache von nicht geringem Interesse. Kein Zweifel, die Neugier hatte viel damit zu tun, Neugier und das Verlangen nach neuen Erlebnissen; aber es war keine einfache, sondern eher eine komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein sinnlichen Trieb des Knaben-Jünglings darin lag, war durch das Eingreifen der Phantasie umgeformt worden, zu etwas gewandelt, das dem Jüngling selbst frei von Sinnlichkeit schien und gerade darum umso gefährlicher war. Die Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns selbst täuschen, beherrschten uns gerade am heftigsten. Unsere schwächsten Motive waren die, deren Natur uns bewußt war. Es kam oft vor, daß, wenn wir an andern zu experimentieren gedachten, wir in Wahrheit an uns selbst experimentierten.

Während Lord Henry noch dasaß und diesen Dingen nachsann, klopfte es an die Tür; ein Bedienter trat ein und erinnerte ihn, daß es Zeit war, sich zu Tisch umzukleiden. Er stand auf und blickte auf die Straße hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster der Häuser auf der andern Seite in rotglühendes Gold getaucht. Die Scheiben glühten wie erhitzte Metallplatten. Der Himmel über ihm war wie eine verwelkte Rose. Es gemahnte ihn an das ganze feuerfarbene Leben seines Freundes, und die Frage kam ihm: Wie würde das alles enden?

Als er etwa um halb ein Uhr nachts nach Hause kam, fand er auf dem Tisch des Vorraums ein Telegramm liegen. Er öffnete es und sah, daß es von Dorian Gray kam. Sein Inhalt war, daß sich Dorian mit Sibyl Vane verlobt hatte.

Fünftes Kapitel

»Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!« flüsterte das Mädchen und begrub ihr Gesicht im Schoß der verblühten, müde aussehenden Frau, die mit dem Rücken gegen das grelle Licht, das hereindrang, in dem einzigen Lehnstuhl saß, den das armselige Wohnzimmer aufzuweisen hatte. »Ich bin so glücklich!« wiederholte sie, »auch du sollst glücklich sein!«

Frau Vane zuckte etwas zurück und legte ihre dünnen Hände, die weiß wie Wismut waren, auf den Kopf ihrer Tochter. »Glücklich!« sprach sie ihr nach; »ich bin nur glücklich, Sibyl, wenn ich dich spielen sehe. Du mußt an nichts andres als an deine Rollen denken. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen, und wir sind ihm Geld schuldig.«

Das Mädchen sah auf und verzog den Mund. »Geld, Mutter?« rief sie, »was liegt am Geld? Liebe ist mehr als Geld.«

»Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben, damit wir unsere Schulden bezahlen und James ordentlich einkleiden können. Du darfst das nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind eine sehr große Summe. Herr Isaacs ist sehr entgegenkommend gewesen.«

»Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, wie er zu mir spricht.« sagte das Mädchen, das aufstand und ans Fenster trat.

»Ich weiß nicht, was wir ohne ihn machen sollten,« antwortete die Alte in ihrem jämmerlichen Tone.

Sibyl Vane warf den Kopf zurück und lachte. »Wir brauchen ihn nicht länger, Mutter. Prinz Wunderhold sorgt jetzt für unser Leben.« Dann hielt sie inne. Das Blut schoß ihr in die Wangen und färbte sie dunkelrot. Schneller Atem teilte ihre blühenden Lippen. Sie zitterten. Ein Glutwind der Leidenschaft brauste über sie hin und erschütterte die glatten Falten ihres Gewandes. »Ich liebe ihn,« sagte sie einfach.

»Närrisches Kind! Närrisches Kind!« waren die papageienhaften Worte, die zur Antwort herüberkamen. Dabei gingen die gekrümmten Finger, an denen falsche Steine glänzten, ängstlich beschwörend hin und her, so daß die Worte eine komische Wirkung taten.

Das Mädchen lachte wieder. Der Jubel eines gefangenen Vogels lag in ihrer Stimme. Ihre Augen fingen die Melodie auf und gaben sie strahlend wieder; dann schlossen sie sich einen Augenblick, als wollten sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten, war der Hauch eines Traumes über sie hinweggegangen.

Aus dünnen Lippen sprach Weisheit zu ihr von dem zerrissenen Stuhl aus, verwies auf die Klugheit und sagte Stellen aus dem Buch der Feigheit, das vom gesunden Menschenverstand verfaßt ist. Sie hörte nicht hin. Sie war frei in ihrem Kerker der Leidenschaft. Ihr Prinz, Prinz Wunderhold, war bei ihr. Sie hatte das Gedächtnis aufgerufen, ihn herzuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf die Suche nach ihm geschickt, und die hatte ihn zurückgebracht. Sein Kuß brannte wieder auf ihren Lippen. Ihre Lider waren wieder erwärmt vom Hauch seines Mundes.

Dann änderte die Weisheit ihr Verfahren und sprach vom Auskundschaften und Erforschen. Dieser junge Mann war vielleicht reich. Wenn dem so war, mußte man an die Heirat denken. An die Muschel ihres Ohres schlugen die Wellen weltlicher Schlauheit. Die Pfeile der Verschlagenheit flogen an ihr vorbei. Sie sah, wie die dünnen Lippen sich bewegten, und lächelte.

Auf einmal empfand sie das Bedürfnis zu sprechen. Das wortreiche Schweigen verwirrte sie. »Mutter, Mutter,« rief sie, »warum liebt er mich so sehr? Ich weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er so ist, wie die Liebe selbst.«

»Ich dächte, du könntest ein paar Küsse für mich übrig behalten,« sagte der Bursche mit gutmütigem Brummen.

»Ach! du machst dir ja gar nichts aus Küssen, Jim,« rief das Mädchen. »Du bist ein schrecklicher alter Bär.« Und sie lief durch die Stube zu ihm hin und umschlang ihn.

James Vane blickte seiner Schwester zärtlich ins Gesicht. »Ich wollte dich bitten, mit mir spazieren zu gehn, Sibyl. Ich glaube nicht, daß ich dieses gräßliche London je wiedersehe. Ich bin sicher, ich werde nie Verlangen danach tragen.«

»Mein Sohn, sprich nicht so schreckliche Dinge,« sagte Frau Vane, nahm seufzend ein geschmacklos ausstaffiertes Theaterkostüm zur Hand und fing an, es auszuflicken. Sie war ein wenig enttäuscht, daß er sich der Gruppe nicht angeschlossen hatte; es hätte die malerische Wirkung der Szene erhöht.

»Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.«

»Du peinigst mich, mein Sohn. Ich hoffe, du wirst als reicher Mann aus Australien zurückkehren. Ich glaube, es gibt in den Kolonien keine eigentliche Gesellschaft, nichts, was ich Gesellschaft nenne; daher mußt du, wenn du dein Glück gemacht hast, zurückkommen und dich in London zur Geltung bringen.«

»Gesellschaft,« murrte der junge Mensch. »Ich will davon nichts wissen. Ich möchte nur ein bißchen Geld verdienen, um dich und Sibyl von der Bühne zu nehmen. Ich hasse das Theater.«

»Oh, Jim!« sagte Sibyl lachend, »das ist unfreundlich von dir! Aber willst du wirklich mit mir spazieren gehn? Das ist reizend! Ich fürchtete, du wolltest dich von deinen Freunden verabschieden, etwa von Tom Hardy, der dir diese häßliche Pfeife geschenkt hat, oder von Ned Langton, der sich über dich lustig macht, weil du sie rauchst. Es ist sehr lieb von dir, daß ich deinen letzten Nachmittag haben soll. Wohin gehn wir? Komm, wir wollen in den Park gehn. «

»Ich bin zu schäbig angezogen,« antwortete er und runzelte die Stirn. »Nur elegante Leute gehn in den Park.«

»Unsinn, Jim,« flüsterte sie und streichelte seinen Ärmel.

Er zögerte einen Augenblick. »Nun also, gut,« sagte er schließlich, »aber brauch nicht zu lange zum Anziehen.«

Sie tanzte aus der Tür. Man hörte sie singen, als sie die Treppe hinaufging. Ihre kleinen Füße trippelten oben über der Decke.

Er ging zwei- oder dreimal in der Stube auf und ab. Dann wandte er sich zu der stillen Gestalt im Lehnstuhl.

»Mutter, sind meine Sachen in Ordnung?« fragte er.

»Alles bereit, James,« antwortete sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Seit einigen Monaten fühlte sie sich unbehaglich, wenn sie mit ihrem rauhen, finstern Sohn allein war. Ihre oberflächliche Natur mit ihrem verborgenen Geheimnis wurde verwirrt, wenn ihre Augen sich trafen. Sie wußte nicht recht, ob er irgend etwas argwöhnte. Das Schweigen – denn er machte keine weitere Bemerkung – wurde ihr unerträglich. Sie fing an zu klagen. Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade wie sie dadurch angreifen, daß sie sich unvermutet ergeben. »Ich hoffe, du wirst von deinem Seefahrerleben befriedigt sein, James,« sagte sie. »Du mußt bedenken, daß es deine eigene Wahl ist. Du hättest in ein Anwaltsbüro eintreten können. Anwälte sind ein sehr geachteter Stand und speisen auf dem Lande oft mit den feinsten Herrschaften.«

»Ich hasse Büros, und ich hasse Schreiber,« erwiderte er. »Aber du hast ganz recht; ich habe mein Leben selbst gewählt. Alles, was ich sage, ist: Behüte Sibyl! Laß ihr nichts zustoßen! Mutter, du mußt sie behüten!«

»James, du sprichst in Wahrheit sehr seltsam. Natürlich behüte ich Sibyl.«

»Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater und geht hinter die Kulissen, um mit ihr zu sprechen. Ist das richtig? Was ist’s damit?«

»Du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst, James. In unserm Beruf sind wir gewöhnt, sehr viele wohltuende Aufmerksamkeiten zu empfangen. Auch ich habe zu meiner Zeit sehr viel Buketten erhalten. Das war noch eine Zeit, wo man von der Schauspielkunst etwas verstand. Was Sibyl angeht, so weiß ich zur Zeit nicht, ob es ein ernsthaftes Verhältnis ist oder nicht. Aber daran ist kein Zweifel: der fragliche junge Mann ist ein vollkommener Gentleman. Er ist immer sehr höflich zu mir. Außerdem sieht er aus, als ob er reich wäre, und die Blumen, die er schickt, sind sehr schön.«

»Aber du weißt nicht, wie er heißt,« sagte der junge Mensch in rauhem Ton.

»Nein,« antwortete seine Mutter und sah gelassen drein. »Er hat seinen wirklichen Namen noch nicht enthüllt. Ich meine, das ist ganz romantisch von ihm. Wahrscheinlich ist er ein Mitglied der Aristokratie.«

James Vane biß sich auf die Lippen. »Hüte Sibyl, Mutter,« rief er, »hüte sie!«

»Mein Sohn, du kränkst mich sehr. Sibyl ist immer unter meiner besondern Obhut. Natürlich, wenn dieser Herr reich ist, liegt kein Grund für sie vor, einer Verbindung mit ihm auszuweichen. Ich glaube bestimmt, er gehört zur Aristokratie. Er hat ganz das Auftreten danach, muß ich sagen. Es könnte eine sehr glänzende Heirat für Sibyl werden. Sie wären ein reizendes Paar. Er ist wirklich hervorragend schön; es fällt jedem auf.«

Der junge Mensch brummte etwas in sich hinein und trommelte mit seinen schweren Fingern auf der Fensterscheibe. Eben hatte er sich umgewandt, etwas zu sagen, als die Tür sich öffnete und Sibyl zurückkam.

»Wie ernst ihr beide seid!« rief sie. »Was ist euch?«

»Nichts,« antwortete er. »Ich denke, man muß manchmal ernst sein. Adieu, Mutter; um fünf Uhr will ich essen. Es ist alles gepackt außer meinen Hemden; du brauchst dich um nichts zu kümmern.«

»Adieu, mein Sohn,« antwortete sie mit einem gemachten, hoheitsvollen Neigen des Kopfes.

Sie war über den Ton, den er ihr gegenüber angeschlagen hatte, äußerst gekränkt, und es war etwas in seinem Blick gewesen, was ihr Angst eingeflößt hatte.

»Küsse mich, Mutter!« sagte das Mädchen. Ihre blumenhaften Lippen berührten die welke Wange und erwärmten sie.

»Mein Kind! Mein Kind!« rief Frau Vane und blickte zur Decke empor, wo sie eine nicht vorhandene Galerie Zuschauer suchte.

»Komm, Sibyl,« sagte ihr Bruder ungeduldig. Er haßte das affektierte Wesen seiner Mutter.

Sie traten in den flackernden, windverwehten Sonnenschein hinaus und gingen langsam durch die trostlose Euston Road. Die Vorübergehenden blickten erstaunt auf den finstern, plumpen jungen Menschen, der in groben, schlecht sitzenden Kleidern in Gesellschaft eines so lieblichen, fein aussehenden Mädchens war. Er sah aus wie ein Gärtnerbursche, der mit einer Rose geht. Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den prüfenden Blick irgendeines Fremden bemerkte. Er hatte die Abneigung gegen das Angestarrtwerden, die Männer von Geist spät im Leben bekommen und die Dutzendmenschen nie verlieren. Sibyl dagegen merkte gar nichts von der ,Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf ihren lachenden Lippen. Sie dachte an Prinz Wunderhold; und damit sie um so mehr an ihn denken konnte, sprach sie nicht von ihm, sondern schwatzte über das Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, über das Gold, das er sicher finden würde, über die wundervolle reiche Erbin, der er gegen die verruchten Buschklepper im roten Kamisol das Leben retten würde. Denn er würde kein Matrose oder Superkargo oder was er sonst noch zunächst werden wollte, bleiben. O nein! Das Dasein eines Matrosen war schrecklich. Er solle sich vorstellen, in einem gräßlichen Schiff eingepfercht zu sein, und die ,Wellen krümmten sich brüllend hoch, um einzudringen, und ein finsterer Wind blase die Masten um und zerreiße die Segel in lange, sausende Bänder! Er werde das Schiff in Melbourne verlassen, sich vom Kapitän verabschieden und sofort nach den Goldfeldern reisen. Ehe noch eine Woche vorbei sei, werde er auf einen großen Klumpen reinen Goldes stoßen, auf den größten Klumpen, der je gefunden wurde, und werde ihn in einem Wagen, der von sechs berittenen Schutzleuten bewacht würde, zur Küste bringen. Die Buschklepper griffen sie dreimal an und würden in furchtbarem Kampfe zurückgeschlagen. Oder nein! Er ginge überhaupt nicht zu den Goldfeldern. Das sei ein schrecklicher Ort, wo die Menschen sich betränken und einander im ,Wirtshaus erschössen und eine gemeine Sprache redeten. Er werde ein friedlicher Schafzüchter werden, und eines Abends, wenn er heimritte, sähe er die schöne Erbin, die von einem Räuber auf einem schwarzen Pferd entführt werde, und er jage ihm nach und rette sie. Natürlich werde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und sie heirateten einander und kehrten heim und lebten in einem großen Palast in London. Jawohl, auf ihn warteten herrliche Dinge. Aber er müßte sehr brav sein und dürfte die Geduld nicht verlieren und sein Geld nicht verschwenden. Sie sei nur ein Jahr älter als er, aber sie verstehe so viel mehr vom Leben. Er müsse ihr auch mit jeder Post schreiben, und jede Nacht, wenn er schlafen gehe, zu Gott beten. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Sie werde auch für ihn beten, und in ein paar Jahren werde er reich und glücklich zurückkommen. Der Bursche hörte ihr düster zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz weh, daß er die Heimat verlassen sollte.

Aber es war nicht das allein, was ihn bedrückte und verstimmte. So unerfahren er auch war, hatte er doch ein starkes Gefühl für die Gefahr, in der Sibyl war. Dieser junge Stutzer, der eine Liebschaft mit ihr haben wollte, konnte es nicht gut mit ihr meinen. Er war ein Herr aus der Gesellschaft, und er haßte ihn darum, haßte ihn mit dem seltsamen Rasseninstinkt, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte und der darum nur um so stärker in ihm war. Er kannte auch die Oberflächlichkeit und Eitelkeit des ,Wesens seiner Mutter und sah darin unendliche Gefahren für Sibyl und ihr Glück. Kinder fangen damit an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, halten sie Gericht über sie; manchmal verzeihen sie ihnen.

Seine Mutter! Es lag ihm etwas im Sinn, was er sie fragen müsse, etwas, worüber er in vielen Monaten des Schweigens gebrütet hatte. Ein zufälliges ,Wort, das ihm im Theater zu Ohren gekommen war, ein gerauntes Hohnwort, das er eines Abends hörte, als er an der Tür zur Bühne wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken in ihm erweckt. Bei der Erinnerung daran war ihm, als ob er einen Peitschenschlag ins Gesicht bekommen hätte. Seine Brauen zogen sich zu einer keilförmigen Furche zusammen, und in krampfhafter Qual biß er sich auf die Lippen.

»Du hörst kein Wort von dem, was ich sage, Jim,« rief Sibyl, »und ich schmiede die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag doch etwas!«

»Was möchtest du, das ich sage?«

»Oh, daß du immer brav sein willst und uns nicht vergessen wirst,« antwortete sie und lächelte ihn an.

Er zuckte die Achseln. »Es wäre eher möglich, daß du mich vergißt, als daß ich dich vergesse, Sibyl.«

Sie errötete. »,Was meinst du damit, Jim?« fragte sie.

»Ich höre, du hast einen neuen Freund. Wer ist es? ,Warum sprachst du mir nicht von ihm? Er meint es nicht gut mit dir.«

»Hör auf, Jim!« rief sie aus. »Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich liebe ihn.«

»Wie, und du weißt nicht einmal seinen Namen?« antwortete der Bursche. »Wer ist es? Ich habe ein Recht, es zu wissen!«

»Er heißt Prinz Wunderhold. Gefällt dir der Name nicht? O du dummer Bube! du solltest ihn nie vergessen. Wenn du ihn nur einmal sähest, würdest du merken, daß er der wundervollste Mensch in der Welt ist. Eines Tages wirst du ihn kennen lernen, wenn du von Australien zurückkehrst. Er wird dir so sehr gefallen. Allen Menschen gefällt er, und ich . . . ich liebe ihn. Ich wollte, du könntest heute abend ins Theater kommen. Er wird da sein, und ich werde die Julia spielen! Oh, wie werde ich sie spielen! Denk dir, Jim, lieben und die Julia spielen! Und er hört zu! Zu seiner Wonne spielen! Ich fürchte, ich werde die Mitspieler erschrecken, erschrecken oder hinreißen. Wenn man liebt, geht man über sich selbst hinaus. Der arme gräßliche Herr Isaacs wird seinen Kumpanen am Schenktisch zurufen:

Ein Genie, ein Genie! Er hat mich wie ein Dogma verkündigt; heute abend wird er mich als Offenbarung preisen. Ich fühle es. Und es gehört alles ihm, ihm allein, dem Prinzen ,Wunderhold, meinem herrlichen Geliebten, der mein Gott ist! Ich aber bin arm neben ihm. Arm? ,Was tut das? Wenn die Armut durch die Tür hereinschleicht, fliegt die Liebe durchs Fenster herein, und die Liebe schlägt die Not tot. Sonst hieß es wohl anders im Sprichwort: Not sei der Liebe Tod, meinten sie. Aber die Sprichwörter müssen umgearbeitet werden. Sie sind im ,Winter gemacht worden, und jetzt ist es Sommer; für mich wohl Frühling, ein rechter Blütentanz im blauen Himmel.«

»Er ist ein Herr aus der feinen Gesellschaft«, sagte der Bursche finster.

»Ein Prinz!« rief sie, und es klang, als ob sie sänge; »was willst du mehr?«

»Er will dich zu seiner Sklavin machen.«

»Ich schaudere bei dem Gedanken, frei zu sein.« »Ich rate dir, sei auf der Hut vor ihm!«

»Ihn sehen heißt ihn anbeten, ihn kennen heißt ihm vertrauen.«

»Sibyl, deine Liebe ist wahnsinnig!«

Sie lachte und nahm seinen Arm. »Du lieber alter Jim, du redest, als wärst du hundert Jahre alt. Eines Tages wird die Liebe auch über dich kommen. Dann weißt du, was sie ist. Blick nicht so mürrisch drein. Du solltest doch froh sein bei dem Gedanken, daß du, obwohl du fortgehst, mich glücklicher zurückläßt, als ich je war. Das Leben ist hart für uns gewesen, schrecklich hart und schwer. Aber es wird jetzt anders werden. Du gehst in eine neue Welt, und eine neue ,Welt ist zu mir gekommen. – Hier sind zwei Stühle frei, wir wollen uns hinsetzen und die geputzten Menschen an uns vorbeigehen lassen.«

Sie setzten sich unter viele andre Menschen, die dasaßen und ausschauten. Die Tulpenbeete am ,Wegrand flammten wie stürmisches Feuerläuten. Ein weißer Staub wie eine zitternde Wolke von Veilchenpuder hing in der lechzenden Luft. Die leuchtend farbigen Sonnenschirme tanzten und tauchten unter wie Riesenschmetterlinge.

Sie brachte ihren Bruder dazu, von sich selbst zu sprechen, von seinen Hoffnungen, seinen Aussichten. Er sprach langsam und gequält. Sie setzten ihre ,Worte beide langsam und vorsichtig, wie Spieler ihre Züge. Sibyl fühlte sich bedrückt; sie konnte ihre Freude nicht mitteilen. Ein schwaches Lächeln, das diesen finstern Mund umspielte, war die ganze Erwiderung, die sie erlangen konnte. Nach einer Weile verstummte sie. Plötzlich gewahrte sie den Glanz goldenen Haares und lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei Damen vorüber.

Sie sprang auf. »Da ist er!« rief sie. »Wer?« fragte Jim Vane.

»Prinz Wunderhold« antwortete sie und blickte dem Wagen nach.

Er sprang auf und griff heftig nach ihrem Arm. »Zeig ihn mir! Welcher ist es? Deute nach ihm, ich muß ihn sehen!« rief er; aber in diesem Augenblick kam das Viergespann des Herzogs von Berwick dazwischen, und als der Raum wieder frei war, war der Wagen nicht mehr im Park zu sehen.

»Er ist weg,« flüsterte Sibyl traurig. »Ich wollte, du hättest ihn gesehen.«

»Das wollte ich auch, denn so wahr ein Gott im Himmel ist, wenn er dir je ein Leid zufügt, bringe ich ihn um!«

Sie sah ihn entsetzt an. Er wiederholte die ,Worte; sie schnitten durch die Luft wie ein Dolch. Die Leute in der Nähe fingen an aufmerksam zu werden. Eine Dame, die neben ihnen stand, kicherte.

»Komm fort, Jim, komm,« flüsterte sie. Er folgte ihr mit verbissener Miene, als sie durch die Menschenmenge ging. Er war froh, daß er das gesagt hatte.

Als sie die Achillesstatue erreicht hatten, wendete sie sich um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu Lachen wurde. Sie schüttelte den Kopf über ihn. »Du bist närrisch, Jim, völlig närrisch; ein galliger Bursche, weiter nichts. ,Wie kannst du so schreckliche Sachen sagen! Du weißt nicht, was du zusammen redest. Du bist einfach eifersüchtig und unfreundlich. Ach! ich wollte, über dich käme die Liebe. Die Liebe macht die Menschen gut, und was du sagst, war böse.«

»Ich bin sechzehn Jahre alt,« antwortete er, »und ich weiß, was ich tue. An Mutter hast du keine Stütze. Sie versteht es nicht, dich zu behüten. Ich wollte jetzt, ich ginge überhaupt nicht nach Australien. Ich habe große Lust, die ganze Sache aufzugeben. Ich täte es, wenn mein Kontrakt nicht unterzeichnet wäre.«

»Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim! Du bist wie einer der Helden aus den albernen Melodramen, in denen Mutter so gerne spielte. Ich will nicht mit dir in Streit kommen. Ich habe ihn gesehn, und ihn zu sehen ist vollkommenes Glück. ,Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, du wirst dich nie an einem vergreifen, den ich liebe, nicht wahr?«

»Solange du ihn liebst, wohl nicht,« war die finstere Antwort.

»Ich liebe ihn immer!« rief sie. »Und er dich?«

»Immer, auch!«

»Er täte recht daran.«

Sie fuhr zurück. Dann lachte sie und legte die Hand auf seinen Arm. Er war ja noch ein Knabe.

Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie in die Nähe ihrer armseligen Wohnung in Euston Road brachte. Es war nach fünf Uhr, und Sibyl mußte sich, bevor sie auftrat, ein paar Stunden hinlegen. Jim bestand darauf, daß sie es tat. Er sagte, er wolle sich lieber von ihr verabschieden, wenn die Mutter nicht dabei sei. Sie würde sicher eine Szene aufführen, und er verabscheue Szenen aller Art.

In Sibyls eigenem Zimmer verabschiedeten sie sich. Eifersucht war im Herzen des jungen Menschen und ein wilder, mörderischer Haß auf den Fremden, der, wie er meinte, zwischen sie getreten war. Als aber ihre Arme sich um seinen Hals legten und ihre Finger durch sein Haar strichen, wurde er ruhiger und küßte sie mit echter Zärtlichkeit. Es standen Tränen in seinen Augen, als er die Treppe hinabging.

Seine Mutter wartete unten auf ihn. Sie murrte über seine Unpünktlichkeit, als er eintrat. Er gab keine Antwort, sondern setzte sich an sein kärgliches Essen. Die Fliegen schwirrten um den Tisch und krochen über das fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und das Lärmen der Droschken hörte er die eintönige Stimme, die ihm jede Minute wegnahm, die ihm noch blieb.

Nach einer ,Weile schob er den Teller zurück und stützte den Kopf in die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht hatte, es zu wissen. Man hätte es ihm früher sagen sollen, wenn es so war, wie er argwöhnte. Von Angst gepeinigt, beobachtete ihn die Mutter. Die ,Worte fielen ihr mechanisch vom Munde. Ein zerfetztes Spitzentaschentuch zerdrückte sie in der Hand. Als die Uhr sechs schlug, stand er auf und ging zur Tür. Dann wandte er sich um und sah sie an. Ihre Augen trafen sich. In ihren sah er ein wildes Flehen um Erbarmen. Das machte ihn wütend.

»Mutter, ich muß dick etwas fragen,« sagte er. Ihre Augen irrten unbestimmt im Zimmer umher. Sie gab keine Antwort. »Sag mir die Wahrheit! Ich habe ein Recht, es zu wissen! Warst du mit meinem Vater verheiratet?«

Sie seufzte tief auf. Es war ein Seufzer der Erleichterung. Der furchtbare Augenblick, der Augenblick, den sie Tag und Nacht seit Wochen und Monaten gefürchtet hatte, war endlich gekommen, und doch fühlte sie keine Furcht. In der Tat, gewissermaßen war das eine Enttäuschung für sie. Die grobe Deutlichkeit der Frage verlangte eine Antwort ohne Umschweife. Die Situation war nicht allmählich gesteigert worden. Es war roh. Es kam ihr vor wie eine schlechte Deklamation.

»Nein,« antwortete sie, und war verwundert über die harte Einfachheit des Lebens.

»Mein Vater war also ein Schurke!« rief der Bursche und ballte die Faust.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß er nicht frei war. Wir liebten uns sehr. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein Gentleman. Es ist wahr, er hatte hohe Verbindungen.«

Ein Fluch kam aus seinem Munde. »Ich kümmere mich nicht um mich,« rief er, »aber laß Sibyl nicht . . . Ist es ein Gentleman oder nicht, der in sie verliebt ist oder so sagt? Mit hohen Verbindungen, denk ich.«

Einen Augenblick kam ein gräßliches Gefühl der Demütigung über die Frau. Sie ließ den Kopf sinken. Mit zitternden Händen wischte sie sich die Augen. »Sibyl hat eine Mutter,« sprach sie leise; »ich hatte keine.«

Der junge Mensch war gerührt. Er trat auf sie zu, beugte sich nieder und küßte sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich mit der Frage nach meinem Vater gequält habe,« sagte er, »aber ich konnte nicht anders. Ich muß jetzt gehen. Leb wohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind zu behüten hast, und glaube mir, wenn dieser Mann meiner Schwester ein Leid zufügt, finde ich heraus, wer er ist, spüre ihn auf und bringe ihn um wie einen Hund. Das schwör ich dir!«

Die wahnsinnige Übertreibung der Drohung, die leidenschaftlichen Gesten, die sie begleiteten, die tollen melodramatischen Worte machten ihr das Leben wieder behaglicher. Sie war mit dieser Atmosphäre vertraut. Sie atmete freier, und zum erstenmal seit vielen Monaten bewunderte sie ihren Sohn wahrhaft. Sie hätte die Szene gern auf derselben Höhe der Empfindsamkeit fortgeführt, aber er brach kurz ab. Koffer mußten hinuntergeschafft und Tücher mußten besorgt werden. Der Knecht des Logierhauses ging geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde verhandelt. Der Moment wurde mit gewöhnlichen Einzelheiten zerzettelt. Wiederum mit einem Gefühl der Enttäuschung stand sie am Fenster und ließ das zerfetzte Spitzentuch in der Luft flattern, als ihr Sohn abfuhr. Es war ihr, als sei eine große Gelegenheit verpaßt worden. Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, wie verödet ihr Leben künftig sein werde, jetzt, wo sie nur noch ein Kind zu behüten habe. Sie hatte sich diesen Satz gemerkt, er hatte ihr gefallen. Von der Drohung sagte sie nichts. Sie war lebhaft und dramatisch gesprochen gewesen. Sie hatte das Gefühl, sie würden alle eines Tages darüber lachen.

Sechstes Kapitel

»Du hast wohl das Neueste schon gehört, Basil?« sagte Lord Henry an diesem Abend, als Hallward in ein kleines reserviertes Zimmer des Restaurants Bristol trat, wo für drei Personen gedeckt war.

»Nein, Harry,« antwortete der Künstler, während er dem Kellner Hut und Überrock gab. »Was ist es? Nichts Politisches hoffentlich? Dafür interessiere ich mich nicht. Es gibt im ganzen Unterhaus kaum einen Menschen, den zu malen sich verlohnte; obwohl ich zugebe, daß eine kleine Übertünchung manchem unter ihnen, der sich rangieren möchte, nichts schaden könnte.«

»Dorian Gray hat sich verlobt,« sagte Lord Henry und beobachtete ihn, während er sprach.

Hallward fuhr zurück und runzelte dann die Stirn. »Dorian verlobt!« rief er. »Unmöglich!«

»Es ist völlig wahr.« »Mit wem?«

»Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.«

»Ich kann es nicht glauben. Dorian ist viel zu vernünftig.«

»Dorian ist viel zu gescheit, nicht hie und da Torheiten zu begehen, lieber Basil.«

»Die Ehe gehört kaum zu den Dingen, die man hier und da begehen kann, Harry.«

»Außer in Amerika,« erwiderte Lord Henry langsam. »Aber ich sagte nicht, daß er verheiratet sei. Ich sagte, daß er verlobt ist. Das ist ein großer Unterschied.«

»Aber denk an Dorians Geburt, seine Stellung, seinen Reichtum. Es wäre Unsinn, wenn er so tief unter seinem Stande heiraten wollte.«

»Wenn du willst, daß er dieses Mädchen heiratet, so sag ihm das, Basil. Dann tut er es sicher. Wenn ein Mann etwas ausgesucht Dummes tut, geschieht es immer aus den edelsten Motiven.«

»Ich hoffe, daß es ein gutes Mädchen ist. Ich möchte nicht haben, daß Dorian an ein gemeines Geschöpf gefesselt ist, das ihn herunterziehn und seinen Geist verderben würde.«

»Oh, sie ist mehr als gut – sie ist schön,« sagte Lord Henry, der an einem Glas Wermut mit Pomeranzen nippte. »Dorian sagt, sie sei schön; und auf diesem Gebiet irrt er sich nicht oft. Dein Porträt von ihm hat sein Urteil über die persönliche Erscheinung anderer Menschen beschleunigt. Es hat diese vorzügliche Wirkung getan, neben andern. Wir sollen sie heute abend sehen, wenn der Junge die Abmachung nicht vergißt.«

»Sprichst du im Ernst?«

»Völlig im Ernst, Basil. Es wäre schlimm, wenn ich denken müßte, ich sollte je ernsthafter sprechen als in diesem Augenblick.«

»Aber billigst du die Sache, Harry?« fragte der Maler, der im Zimmer hin und her ging und sich auf die Lippen biß. »Es ist nicht möglich, daß du sie billigst. Es ist irgendeine törichte Verblendung.«

»Ich billige oder mißbillige nie mehr etwas. Das ist eine ganz verkehrte Stellungnahme zum Leben. Wir sind nicht in die Welt gesetzt worden, um unsere moralischen Vorurteile zu ventilieren. Ich nehme nie Notiz von dem, was gewöhnliche Menschen sagen, und ich mische mich nie in das ein, was reizende Menschen tun. Wenn eine Persönlichkeit mir anziehend ist, so ist mir jede Art, in der diese Person sich zum Ausdruck bringt, erfreulich. Dorian Gray verliebt sich in ein schönes Mädchen, das die Julia spielt, und hält um sie an. Warum nicht? Wenn er Messalina heiratete, wäre er um nichts weniger interessant. Du weißt, ich bin keiner, der für die Ehe in die Schranken tritt. Die eigentliche Schattenseite der Ehe ist, daß sie einen selbstlos macht. Und selbstlose Menschen sind farblos. Es fehlt ihnen an Individualität. Jedoch, es gibt gewisse Naturen, die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten ihren Egoismus und fügen ihm viele andere Ichs hinzu. Sie sind gezwungen, mehr als ein einziges Leben zu haben. Sie erlangen eine höhere Organisation, und hoch organisiert zu sein, ist, sollte ich meinen, der Zweck des menschlichen Daseins. Überdies ist jede Erfahrung von Wert, und mag man gegen die Ehe sagen, was man will, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe, Dorian Gray wird dieses Mädchen zu seiner Frau machen, sie sechs Monate lang leidenschaftlich anbeten und dann plötzlich von einer andern angezogen werden. Es wäre prächtig, das zu beobachten.«

»Du glaubst kein einziges Wort von dem allem, Harry; du weißt das. Wenn Dorian Grays Leben zerstört würde, wäre niemand trauriger als du. Du bist viel besser, als du vorgibst.

Lord Henry lachte. »Der Grund, warum wir alle so gern gut von andern denken, ist, daß wir alle für uns selbst Angst haben. Die Grundlage des Optimismus ist reine Furcht. Wir halten uns für edelmütig, weil wir unserm Nächsten diese Tugenden borgen, die geeignet sind, uns Nutzen zu bringen. Wir rühmen den Bankier, damit wir unser Konto überschreiten können, und finden im Straßenräuber gute Eigenschaften in der Hoffnung, er werde unsere Taschen verschonen. Ich glaube alles, was ich gesagt habe. Ich habe die größte Verachtung vor dem Optimismus. Was das zerstörte Leben angeht, so ist kein Leben zerstört, dessen Wachstum nicht gehemmt wird. Willst du einen Menschen vernichten, so brauchst du ihn nur zu bessern. Was die Ehe angeht, so wäre sie natürlich eine Dummheit, aber es gibt andere und interessantere Bande zwischen Mann und Frau. Die werde ich sicher begünstigen. Sie haben den Reiz, in der Mode zu sein. – Doch hier ist Dorian selbst. Er kann dir mehr berichten als ich.«

»Lieber Harry, lieber Basil, ihr müßt mir beide gratulieren!« sagte der Jüngling, nahm seine elegante Pelerine ab und schüttelte den Freunden die Hand. »Ich bin nie so glücklich gewesen. Natürlich kommt es plötzlich, wie alles wahrhaft Schöne im Leben. Und doch kommt es mir so vor, als sei ich mein Leben lang nur danach auf der Suche gewesen.« Er war rot vor Erregung und Freude und sah über die Maßen schön aus.

»Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian,« sagte Hallward; »aber ich verzeihe dir nicht ganz, daß du mir nichts von deiner Verlobung mitgeteilt hast. Du hast es Harry mitgeteilt.«

»Und ich verzeihe dir nicht, daß du zu spät zum Essen kommst,« fiel Lord Henry ein, der seine Hand auf die Schulter des Jünglings legte und lächelte, während er sprach. »Komm, setzen wir uns und versuchen, was der neue Chef hier kann, und dann erzählst du uns, wie das alles gekommen ist.«

»Da ist wahrhaftig nicht viel zu erzählen,« rief Dorian, als sie sich an den kleinen runden Tisch gesetzt hatten. »Es war einfach so. Als ich gestern abend von dir weggegangen war, Harry, zog ich mich um, speiste in dem kleinen italienischen Restaurant in Rupert Street, das ich durch dich kennen gelernt habe, und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die Rosalinde. Natürlich waren die Dekorationen schrecklich und der Orlando zum Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen sollen. Als sie in ihren Knabenkleidern hereinkam, war sie einfach wundervoll. Sie trug eine moosfarbene Samtjacke mit zimtbraunen Ärmeln, kurze braune Hosen, die kreuzweise überm Knie gebunden waren, ein reizendes grünes Mützchen mit einer Habichtsfeder, die von einem funkelnden Stein festgehalten wurde, und einen mit stumpfem Rot gefütterten Kapuzenmantel. Sie war mir nie köstlicher erschienen. Sie hatte ganz die zarte Grazie des Tanagrafigürchens, das du in deinem Atelier hast, Basil. Ihr dichtes Haar hing um ihr Gesicht wie dunkles Laub um eine blasse Rose. Ihr Spiel – nun, ihr werdet sie heute abend sehn. Sie ist einfach eine geborene Künstlerin. Ich saß in der schmutzigen Loge wie festgebannt. Ich vergaß, daß ich in London und im neunzehnten Jahrhundert lebe. Ich war mit meiner Liebsten weit weg in einem Walde, den nie jemand gesehn hatte. Als die Vorstellung zu Ende war, ging ich nach hinten und sprach mit ihr. Als wir so zusammen saßen, kam plötzlich in ihre Augen ein Ausdruck, den ich nie vorher gesehn hatte. Meine Lippen suchten sie. Wir küßten einander. Ich kann euch nicht schildern, was ich in dem Augenblick gefühlt habe. Mir schien, als mein Leben sei zusammengedrückt in einen einzigen Punkt rosafarbener Freude. Sie zitterte am ganzen Leib; sie bebte wie eine weiße Narzisse. Dann warf sie sich auf die Knie und küßte meine Hand. Ich weiß, ich sollte euch das nicht alles erzählen, aber ich kann nicht anders. Natürlich ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat nicht einmal ihrer Mutter davon gesprochen. Ich weiß nicht, was meine Vormünder dazu sagen werden. Lord Radley wird sicher wütend werden. Ich mache mir nichts daraus. In weniger als einem Jahr bin ich volljährig und kann dann tun, was ich will. Ich hatte recht, Basil, nicht wahr, meine Geliebte aus der Poesie zu holen und mein Weib in Shakespeares Stücken zu finden? Lippen, die Shakespeare sprechen gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis ins Ohr geflüstert. Die Arme Rosalindens haben mich umfaßt, und Julia hat mich auf den Mund geküßt.«

»Ja, Dorian, ich glaube, du hattest recht,« sagte Hallward langsam.

»Hast du sie heute gesehen?« fragte Lord Henry.

Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Ich verließ sie in den Ardennen, ich werde sie in einem Garten Veronas wiederfinden.«

Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner.

»Bei welcher Gelegenheit sprachst du das Wort Heirat aus, Dorian? Und was erwiderte sie? Vielleicht weißt du gar nichts mehr davon.«

»Lieber Henry, ich behandelte die Sache nicht als geschäftliche Verhandlung, und ich machte keinerlei formellen Antrag. Ich sagte ihr, daß ich sie liebe, und sie sagte, sie verdiene nicht, mein Weib zu sein. Verdiene nicht! Wahrlich, die ganze Welt gilt mir nichts, verglichen mit ihr!«

»Die Weiber sind bewundernswert praktisch,« sagte Lord Henry wie vor sich hin – »viel praktischer als wir. In Situationen dieser Art vergessen wir oft, die Heirat zu erwähnen, und sie erinnern uns immer daran.«

Hallward legte ihm die Hand auf den Arm. »Nicht, Harry; du kränkst Dorian. Er ist nicht wie andre Männer. Er wird nie jemanden ins Elend bringen. Dazu ist seine Natur zu edel.«

Lord Henry blickte über den Tisch. »Dorian fühlt sich nie von mir gekränkt,« antwortete er. »Ich stellte die Frage aus dem triftigsten Grund, den es geben kann, aus dem einzigen Grund fürwahr, der einen entschuldigt, daß man überhaupt eine Frage stellt – nämlich aus Neugier. Ich habe eine Theorie, die lautet, daß es immer die Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und nicht wir den Frauen. Außer natürlich im Leben des Mittelstands. Aber der Mittelstand ist eben nicht auf der Höhe der Zeit.«

Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist ganz unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Es ist unmöglich, dir gram zu sein. Wenn du Sibyl Vane siehst, wirst du fühlen, daß der Mann, der ihr ein Leid zufügen kann, eine Bestie sein müßte, eine herzlose Bestie. Ich kann nicht verstehn, wie ein Mensch es über sich bringen kann, das Wesen, das er liebt, in Schande zu bringen. Ich liebe Sibyl Vane. Ich möchte sie auf eine goldene Säule stellen, auf daß ich sehe, wie die Welt das Weib anbetet, das mein ist. Was ist Heirat? Ein unwiderrufliches Gelübde. Du spottest darum über die Heirat. Oh, spotte nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen. Ihr Vertrauen macht mich fromm und treu, ihr Glaube macht mich gut. Wenn ich bei ihr bin, wende ich mich von allem, was du mich gelehrt hast, ab. Ich werde anders als der Mensch, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und wenn mich Sibyl Vane bloß mit der Hand berührt, vergesse ich all deine schlechten, bezaubernden, vergifteten, entzückenden Theorien.«

»Und die wären…?« fragte Lord Henry und nahm etwas Salat auf seinen Teller.

»Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien über die Liebe, deine Theorien über die Lust. Tatsächlich all deine Theorien, Harry.«

»Außer der Lust verdient kein Ding, eine Theorie zu haben,« erwiderte er mit seiner leisen, melodischen Stimme. »Aber ich fürchte, ich kann meine Theorie nicht für mich reklamieren. Sie gehört der Natur, nicht mir. Lust ist das Siegel der Natur, ihr Zeichen der Zustimmung. Wenn wir glücklich sind, sind wir immer gut, aber wenn wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich.«

»Ah! Aber was nennst du gut?« rief Basil Hallward.

»Ja,« stimmte Dorian bei, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte Lord Henry über den schweren Strauß purpurner Schwertlilien hinweg, der in der Mitte des Tisches stand, an, »was nennst du gut, Harry?«

»Gut sein heißt in Harmonie mit sich selbst sein,« erwiderte er, indem er mit seinen blassen, schmalen Fingern den dünnen Stiel seines Glases umfaßte. »Mißklang herrscht, wo man gezwungen wird, in Harmonie mit andern zu sein. Das eigene Leben das ist es, worauf es ankommt. Was das Leben der Nächsten angeht, kann man, wenn man ein Affe oder ein Pfaffe sein will, sich mit seinen moralischen Ansichten darüber wichtig machen, aber es geht einen nichts an. Überdies hat der Individualismus in Wahrheit das höhere Ziel. Die moderne Moral besteht darin, den Maßstab ihres Zeitalters zu akzeptieren. Ich bin der Meinung, daß es für jeden einigermaßen kulturfähigen Menschen eine Form der gröbsten Unmoral ist, den Maßstab seiner Zeit zu akzeptieren.«

»Aber wenn man bloß für sich selbst lebt, Harry, zahlt man sicher einen furchtbaren Preis dafür!« meinte der Maler.

»Jawohl, man überfordert uns heutzutage in allem. Ich denke mir, die wahre Tragödie der Armen ist, daß sie sich nichts leisten können als Selbstverleugnung. Schöne Sünden sind wie schöne Dinge das Vorrecht der Reichen.«

»Man hat auf andre Weise zu zahlen als mit Geld.« »Auf welche Weise, Basil?«

»Oh, ich sollte meinen, mit Gewissensbissen, mit Schmerzen … nun, eben mit dem Bewußtsein der Erniedrigung.«

Lord Henry zuckte die Achseln. »Lieber Freund, die mittelalterliche Kunst ist entzückend, aber die Empfindungen des Mittelalters sind nicht mehr Mode. Man kann sie natürlich für Romane brauchen. Aber die einzigen Dinge, die man in Romanen brauchen kann, sind eben die Dinge, um die man sich in Wahrheit nicht mehr kümmert. Glaub mir, kein zivilisierter Mensch bereut je einen Genuß, und kein unzivilisierter weiß je, was ein Genuß ist.«

»Ich weiß, was Genuß ist,« rief Dorian Gray. »Es ist ein Genuß, einen Menschen anzubeten.«

»Das ist jedenfalls besser, als angebetet zu werden,« antwortete er und spielte dabei mit den Früchten, die er auf seinen Teller gelegt hatte. »Angebetet zu werden ist von Schaden. Die Weiber behandeln uns genau so, wie die Menschheit ihre Götter behandelt. Sie liegen vor uns auf den Knien und quälen uns immer, wir sollen etwas für sie tun.«

»Ich möchte sagen, alles, worum sie uns bitten, haben sie uns erst gegeben,« sagte der Jüngling leise und ernst. »Sie erzeugen die Liebe in unserm Innern. Sie haben ein Recht, sie zurückzuverlangen.«

»Das ist völlig wahr, Dorian,« rief Hallward.

»Nichts ist jemals völlig wahr,« sagte Lord Henry.

»Dies ist es,« unterbrach Dorian. »Du mußt zugeben, daß die Frauen den Männern das Gold des Lebens schenken.«

»Möglich,« seufzte er, »aber unweigerlich verlangen sie es in kleiner Münze zurück. Das ist das Elend. Die Frauen, drückte es ein witziger Franzose einmal aus, flößen uns das Verlangen ein, Meisterwerke zu schaffen, und hindern uns dann immer, sie auszuführen.«

»Harry, du bist schrecklich! Ich weiß nicht, warum ich dich so gern habe.«

»Du wirst mich immer gern haben, Dorian,« erwiderte er. »Wollt ihr Kaffee haben, Kinder? Kellner, bringen Sie Kaffee und fine-champagne und Zigaretten. Nein, bemühen Sie sich nicht, keine Zigaretten; ich habe selbst welche. Basil, ich kann nicht zugeben, daß du Zigarren rauchst. Du mußt eine Zigarette nehmen. Eine Zigarette ist der vollendete Typus eines vollendeten Genusses. Er ist köstlich, und er läßt einen unbefriedigt. Was kann man mehr verlangen? Ja, Dorian, du wirst mich immer lieb haben. Ich stelle dir alle Sünden dar, die zu begehen du nie den Mut hast.«

»Was redest du für Unsinn, Harry!« rief der Jüngling und zündete an einem feueratmenden Drachen aus Silber, den der Kellner auf den Tisch gestellt hatte, seine Zigarette an. »Wir wollen ins Theater gehn. Wenn Sibyl auf die Bühne kommt, bekommst du ein neues Lebensideal. Sie wird dir etwas darstellen, was du nie kennen gelernt hast.«

»Ich habe alles kennen gelernt,« sagte Lord Henry, und in seinen Augen lag ein müder Ausdruck, »aber ich bin immer bereit, mich neu erregen zu lassen. Ich fürchte jedoch, daß ich für mein Teil nichts finde, was das zuwege bringt. Indessen, vielleicht bringt dein wundervolles Mädchen mich zur Ergriffenheit. Ich liebe das Theater. Es ist so sehr viel wirklicher als das Leben. Wir wollen gehn. Dorian, du kannst zu mir einsteigen. Es tut mir so leid, Basil, aber im Brougham ist nur Platz für zwei. Du mußt uns in einer Droschke folgen.«

Sie standen auf, zogen ihre Überröcke an und schlürften den Kaffee stehend. Der Maler war schweigsam und gedrückt. Es lag etwas Düsteres über ihm. Er konnte diese Heirat nicht billigen, aber doch schien sie ihm besser als vieles andre, was hätte geschehn können. Nach ein paar Minuten gingen sie zusammen die Treppe hinunter. Er fuhr allein, wie verabredet worden war, und sah auf die blitzenden Lichter des kleinen Broughams, der vorausfuhr. Ein seltsames Gefühl des Unwiederbringlichen überkam ihn. Er fühlte, Dorian Gray würde nie wieder das für ihn sein, was er früher gewesen war. Das Leben war zwischen sie getreten .. . Seine Augen umdunkelten sich, und die hell erleuchteten Straßen, die von Menschen wimmelten, verschwammen vor ihnen. Als die Droschke am Theater vorfuhr, war es ihm, als sei er viele Jahre älter geworden.

Siebentes Kapitel

Aus dem oder jenem Grunde war das Haus an diesem Abend gepfropft voll, und der fette jüdische Direktor, den sie am Tore trafen, strahlte übers ganze Gesicht mit einem öligen, hin und her zuckenden Lächeln. Er geleitete sie mit einer Art prahlerischer Unterwürfigkeit bis zu ihrer Loge, bewegte die fetten, juwelenglänzenden Hände eifrig hin und her und sprach in seinen höchsten Tönen. Dorian Gray empfand mehr als je Widerwillen gegen ihn. Er hatte ein Gefühl, als sei er gekommen, Miranda zu besuchen, und sei von Kaliban in Empfang genommen worden. Lord Henry anderseits gefiel er beinahe. Wenigstens erklärte er, er gefalle ihm, bestand darauf, ihm die Hand zu schütteln, und versicherte ihn, er sei stolz darauf, einen Mann kennen zu lernen, der ein wahrhaftes Genie entdeckt habe und über einem Dichter bankrott geworden sei. Hallward amüsierte sich damit, die Gestalten auf dem Stehplatz zu betrachten. Es war eine drückende Hitze, und der riesige Sonnenbrenner flammte wie eine ungeheure Dabhe mit Blättern aus gelbem Feuer. Die jungen Leute auf der Galerie hatten ihre Röcke und Westen ausgezogen und über die Brüstung gehängt. Sie riefen einander über den Zuschauerraum weg zu und regalierten die aufgeputzten Mädchen, die neben ihnen saßen, mit Orangen. Ein paar Weiber auf dem Stehplatz lachten. Ihre Stimmen waren schrecklich schrill und mißtönend. Vom Schanktische her hörte man Pfropfen knallen.

»An einem solchen Ort soll einer seine Göttin finden!« sagte Lord Henry.

»Ja!« antwortete Dorian Gray. »Hier habe ich sie gefunden, und sie ist göttlicher als alles Lebendige, das ich kenne. Wenn sie spricht, wirst du alles vcrgessen. Die gemeinen,

rohen Menschen mit ihren plumpen Gesichtern und brutalen Bewegungen werden ganz anders, wenn sie auf der Bühne ist. Sie sitzen stumm da und blicken auf sie. Sie jachen und weinen, wie sie es begehrt. Sie stimmt sie, wie man eine Geige stimmt. Sie vergeistigt sie, und man fühlt, daß sie vom selben Fleisch und Blut sind, wie man selbst.«

»Vom selben Fleisch und Blut, wie man selbst? Oh, ich hoffe nicht,« rief Lord Henry, der die Insassen der Galerie durch sein Opernglas studierte.

»Kümmere dich nicht um ihn, Dorian,« sagte der Maler. »Ich verstehe, was du meinst, und ich glaube an das Mädchen. Ein Mensch, den du liebst, muß wunderbar sein, und jedes Mädchen, das die Wirkung ausübt, die du schilderst, muß erlesen und edel sein. Seine Zeitgenossen vergeistigen – das zu tun, lohnt der Mühe. Wenn dieses Mädchen Menschen, die ohne Seele gelebt haben, beseelen kann, wenn sie in Menschen, deren Leben schmutzig und häßlich gewesen ist, den Sinn für Schönheit erwecken kann, wenn sie sie aus ihrer Selbstsucht herausziehen kann und ihnen Trincn um Schmerzen entpressen kann, die nicht ihre eigenen sind, dann verdient sie deine Verehrung, dann verdient sie die Verehrung der Welt. Diese Ehe ist ganz das Rechte. Ich dachte erst nicht so, aber ich sehe es jetzt ein. Die Götter haben Sibyl Vane für dich geschaffen. Ohne sie wärst du nicht vollständig gewesen.«

»Danke, Basil,« antwortete Dorian Gray und drückte ihm die Hand. »Ich wußte, du würdest mich vcrstehn. Harry ist so zynisch, er erschreckt mich. – Da haben wir das Orchester. Es ist fürchterlich, aber es dauert nur etwa fünf Minuten. Dann geht der Vorhang auf, und du siehst das Mädchen, dem ich all mein Leben geben will, dem ich alles gegeben habe, was gut in mir ist.«

Eine Viertelstunde nachher betrat unter einem Sturm des Beifalls Sibyl Vane die Bühne. Ja, sie sah allerdings entzückend aus – eines der schönsten Menschenkinder, dachte Lord Henry, die er je gesehen. Ihre scheue Lieblichkeit und ihre erstaunten Augen konnten einen an ein junges Reh gemahnen. Ein schwaches Erröten, wie das Bild einer Rose in einem silbernen Spiegel, stieg in ihre Wangen, als sie das überfüllte, begeisterte Haus sah. Sie trat ein paar Schritte zurück, und ihre Lippen schienen zu zittern. Basil Hall-ward sprang auf und klatschte in die Hände. Regungslos, wie ein Mensch, der tief vom Traum umfangen ist, saß Dorian Gray da und sah auf sie. Lord Henry brachte das Glas nicht von den Augen und rief leise: »Reizend! Reizend!«

Die Szene war der Saal in Capulets Hause, und Romeo war in seinem Pilgergewand mit Mercutio und seinen andern Freunden eingetreten. Die Musik spielte jämmerlich genug ein paar Takte, und dann fing der Tanz an. In der Schar der plumpen, schäbig gekleideten Schauspieler bewegte sich Sibyl Vane wie ein Wesen aus einer schöneren Welt. Ihr Körper neigte sich beim Tanzen wie eine Pflanze im Wasser. Die Linie ihres Halses war wie die einer weißen Lilie. Ihre Hände schienen aus kühlem Elfenbein geschaffen.

Aber sie machte einen seltsam abwesenden Eindruck. Sie zeigte keinerlei Freude, als ihr Auge auf Romeo ruhte. Die wenigen Worte, die sie zu sprechen hatte:

Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden
Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß;
Der Heil’gen Rechte darf Berührung dulden,
Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß

– mit dem kurzen Dialog, der folgt, sagte sie in einem völlig gemachten Tone. Die Stimme war wundervoll, aber der Ton war gänzlich verfehlt. Er traf die Farbe nicht. Er nahm dem Vers alles Leben. Er machte die Sprache der Leidenschaft unwahr.

Dorian Gray erblaßte, als er zuhörte. Er war wie vor den Kopf gestoßen und voller Angst. Seine Freunde wagten kein Wort zu ihm zu sagen. Es schien ihr schlechtweg jedes Talent zu fehlen. Sie waren schrecklich enttäuscht.

Indessen wußten sie, der wahre Prüfstein für jede Julia war die Balkonszene des zweiten Aktes. Darauf warteten sie. Wenn sie die verfehlte, war nichts an ihr.

Sie sah reizend aus, als sie im Mondlicht heraustrat. Das war nicht zu leugnen. Aber ihr theatralisches Spiel war unerträglich und wurde im Verlauf der Szene immer schlimmer. Ihre Gesten wurden immer gemachter, und es war fast zum Lachen. Sie sprach alles, was sie zu sagen hatte, mit übertriebenem Pathos. Die schöne Stelle

Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,
Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen

Um das, was du vorhin mich sagen hörtest wurde mit der qualvollen Genauigkeit eines Schulmädchens deklamiert, dem ein Sprachlehrer den schönen Vortrag beigebracht hat. Als sie sich über den Balkon bog und zu den wundervollen Versen kam

Obwohl ich dein mich freue,
Freu ich mich nicht des Bundes dieser Nacht:
Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,
Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei,
Noch eh man sagen kann: Es blitzt. – Schlaf süß!
Die Liebesknospe mag der Sommerhauch,
Bis wir uns wiedersehn, zur Blum‘ entfalten

sprach sie die Worte, als ob sie keinen Sinn für sie hätten.

Es war nicht Befangenheit. Sie schien durchaus nicht befangen, sondern völlig ruhig. Es war einfach schlechte Kunst, es war ein völliges Fiasko.

Selbst die gewöhnlichen, ungebildeten Zuhörer auf der Galerie und dem Stehplatz verloren ihr Interesse an dem Stück. Sie wurden unruhig und fingen an, laut zu sprechen und zu pfeifen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrund des ersten Ranges stand, stampfte wütend mit dem Fuß auf und fluchte. Einzig und allein unbewegt war das Mädchen selbst.

Als der zweite Akt vorüber war, wurde heftig gezischt und Lord Henry stand auf und zog seinen Überrock an.

»Sie ist sehr schön,« sagte er, »aber sie ist keine Schauspielerin. Wir wollen gehen.«

»Ich will das Stück zu Ende hören,« antwortete der Jüngling mit harter, bitterer Stimme. »Es tut mir furchtbar leid, daß du durch meine Schuld einen Abend vergeudet hast, Harry. Ihr müßt beide entschuldigen.«

»Lieber Dorian, ich sollte meinen, Fräulein Vane muß krank sein,« versetzte Hallward. »Wir wollen an einem andern Abend wiederkommen.«

»Ich wollte, sie wäre krank,« erwiderte er. »Aber mir scheint, daß sie lediglich kalt und gefühllos ist. Sie ist völlig umgewandelt. Gestern abend war sie eine große Künstlerin. Heute ist sie nichts als eine gewöhnliche schlechte Schauspielerin.«

»Sprich nicht so über jemanden, den du liebst, Dorian. Liebe ist etwas Wunderbareres als Kunst.«

»Beide sind nichts als Formen der Nachahmung,« bemerkte Lord Henry. »Aber gehen wir. Dorian, du darfst hier nicht länger bleiben. Es ist nicht gut für die Moral eines Menschen, schlecht spielen zu sehen. Außerdem, denke ich, wirst du nicht wollen, daß deine Frau auftritt. Was liegt also daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt? Sie ist ganz bezaubernd, und wenn sie so wenig vom Leben weiß wie von der Kunst, wird sie ein künstliches Erlebnis sein. Es gibt nur zwei Arten Menschen, die wahrhaft anziehend sind. Menschen, die ganz und gar alles wissen, und Menschen, die ganz und gar nichts wissen. Mein Himmel, lieber Junge, blick nicht so tragisch drein! Das Geheimnis, wie man jung bleibt, besteht darin, nie eine Erregung zu haben, die nicht zuträglich ist. Komm mit Basil und mir in den Klub. Wir wollen Zigaretten rauchen und auf die Schönheit Sibyl Vanes anstoßen. Sie ist schön. Was willst du mehr?«

»Verlaß mich, Harry!« rief der Jüngling. »Ich will allein sein. Basil, geh! Ah! könnt ihr nicht sehn, daß mir das Herz bricht?« Heiße Tränen traten ihm in die Augen. Seine Lippen bebten, er suchte den Hintergrund der Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in den Händen.

»Wir wollen gehen, Basil,« sagte Lord Henry mit seltsamer Zärtlichkeit in der Stimme; und die beiden jungen Leute gingen zusammen hinaus.

Ein paar Augenblicke später wurde die Rampe wieder hell, und der Vorhang hob sich zum dritten Akt. Dorian Gray setzte sich wieder. Er sah blaß und abwesend und gleichgültig aus. Das Stück zog sich in die Länge und schien nicht enden zu wollen. Die Hälfte der Zuhörer ging mit ihren schweren Stiefeln stampfend und lachend hinaus. Es war ein furchtbarer Durchfall. Der letzte Akt wurde fast vor leeren Bänken gespielt. Der Vorhang fiel unter Kichern und etlichem unzufriedenen Grunzen.

Sowie es vorbei war, eilte Dorian Gray hinter die Kulissen ins Ankleidezimmer. Das Mädchen stand allein da, ein sieghafter Ausdruck lag auf ihren Zügen. Ihre Augen leuchteten in sonderbarem Feuer. Es war wie ein Glanz um sie. Ihre halb offenen Lippen lächelten wie über ein Geheimnis, das nur sie wußte.

Als er eintrat, blickte sie ihn an, und ein Ausdruck unendlichen Glückes kam über sie. »Wie schlecht ich heute spielte, Dorian!« rief sie.

»Entsetzlich!« antwortete er und blickte sie in höchstem Staunen an – »entsetzlich! Es war fürchterlich. Bist du krank? Du hast keine Vorstellung, wie es war. Du hast keine Vorstellung, was ich durchgemacht habe.«

Das Mädchen lächelte. »Dorian,« antwortete sie und zog seinen Namen melodisch in die Länge, als wäre er ihr süßer als Honig der roten Blüte ihres Mundes – »Dorian, du hättest es verstehen sollen. Aber jetzt verstehst du, nicht wahr?«

»Was verstehe ich?« fragte er heftig.

»Warum ich heute abend so schlecht spielte. Warum ich immer schlecht spielen werde. Warum ich nie wieder gut spielen werde.«

Er zuckte die Achseln. »Du bist krank, vermutlich. Wenn du krank bist, solltest du nicht auftreten. Du machst dich lächerlich. Meine Freunde langweilten sich gräßlich. Ich auch.«

Sie schien nicht auf ihn zu hören. Sie war wie von Glück verklärt. Eine Ekstase der Freude erfüllte sie.

»Dorian, Dorian,« rief sie, »eh ich dich kannte, war Spielen die einzige Wirklichkeit meines Lebens. Nur auf der Bühne lebte ich. Ich hielt alles für wahr. An einem Abend war ich Rosalinde und Porzia am andern. Das Glück der Beatrice war mein Glück, und das Leid der Cordelia war auch das meine. Ich glaubte an alles. Das gemeine Volk, das mit mir zusammen spielte, schien mir göttlich zu sein. Die gemalten Kulissen waren meine Welt. Ich kannte nichts als Schatten, und ich nahm sie für wirklich. Da kamst du – oh, mein schöner Geliebter! – und erlöstest meine Seele aus dem Kerker. Du lehrtest mich, was wirkliche Wirklichkeit ist. Heute sah ich zum erstenmal die Hohlheit, die Erbärmlichkeit, die Albernheit des öden, verlogenen Flitters, zwischen dem ich immer gespielt hatte. Heute wurde es mir zum erstenmal bewußt, daß der Romeo gräßlich und alt und geschminkt ist, daß das Mondlicht im Garten falsch ist, daß die Szenerie gemein ist und daß die Worte, die ich zu sprechen habe, unwirklich sind, nicht meine Worte, nicht was es mich zu sagen drängt. Du hast mir etwas Höheres gebracht, etwas, wovon alle Kunst nur ein Abglanz ist. Du hast mich dazu gebracht, daß ich verstehe, was die Liebe in Wirklichkeit ist. Mein Geliebter! Mein Geliebter! Prinz Wunderhold! Prinz meines Lebens! Ich mag die Schatten nicht mehr. Du bist mir mehr, als alle Kunst je sein kann. Was habe ich mit den Puppen eines Spieles zu schaffen? Als ich heute abend auftrat, konnte ich nicht verstehen, wie es kam, daß alles wie fort war. Ich hatte gedacht, ich würde wundervoll sein. Ich merkte, daß ich nichts mehr konnte. Plötzlich schwante es meiner Seele, was alles dies bedeutete. Das war ein köstliches Verstehen. Ich hörte sie zischen und lächelte. Was konnten sie von einer Liebe wie der unsern wissen. Nimm mich mit dir, Dorian – nimm mich, wo wir allein sein können! Ich hasse das Theater. Ich könnte eine Leidenschaft spielen, die ich nicht fühle; aber ich kann nicht ein Empfinden spielen, das mich brennt wie Feuer. Oh, Dorian, Dorian, verstehst du jetzt, was es bedeutet? Selbst wenn ich es zuwege brächte, es wäre Entweihung für mich, die Liebe zu spielen. Du hast mich gelehrt, das zu erkennen.«

Er warf sich auf das Sofa und wandte das Gesicht weg. »Du hast meine Liebe getötet,« murmelte er.

Sie blickte ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort. Sie ging zu ihm und streichelte mit ihren kleinen Fingern sein Haar. Sie kniete nieder und drückte seine Hände an ihre Lippen. Er zog sie weg, und ein Schaudern überlief ihn.

Dann sprang er auf und näherte sich der Tür. »Ja,« rief er, »du hast meine Liebe getötet! Du hattest meine Phantasie entfesselt. Jetzt fesselst du nicht einmal meine Neugier. Du bringst einfach keine Wirkung hervor. Ich liebte dich, weil du wie ein Wunder warst, weil du Genie und Geist hattest, weil du die Träume großer Dichter verwirklichtest und den Schatten der Kunst Körper und Gestalt gabst. Du hast das alles weggeworfen. Du bist seicht und stumpf. Mein Gott! was für ein Wahnsinn war es, dich zu lieben! Was für ein Narr bin ich gewesen! Du bist mir jetzt nichts. Ich will dich nie wiedersehn. Ich will nie an dich denken. Ich will nie deinen Namen nennen. Du weißt nicht, was du einmal für mich warst. Ja gewiß, einmal… Oh, ich ertrage es nicht, daran zu denken! Ich wollte, ich hätte dich nie gesehn! Du hast das Gedicht meines Lebens vernichtet. Wie wenig mußt du von der Liebe wissen, wenn du sagst, sie löscht deine Kunst aus! Ohne deine Kunst bist du nichts. Ich hätte dich berühmt, von Glanz umstrahlt, herrlich gemacht. Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest meinen Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin dritten Ranges mit einer hübschen Larve.«

Das Mädchen war totenblaß geworden und zitterte. Sie rang die Hände, und die Stimme schien ihr in der Kehle stecken zu bleiben. »Du sprichst nicht im Ernst, Dorian!« flüsterte sie. »Du verstellst dich!«

»Verstellen! Das überlasse ich dir. Du verstehst dich so gut auf diese Kunst,« antwortete er in bitterstem Tone.

Sie erhob sich und trat mit einem jammervollen Ausdruck der Qual im Gesicht auf ihn zu. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und blickte ihm in die Augen. Er stieß sie zurück. »Rühr mich nicht an!« schrie er.

Ein leises Stöhnen entrang sich ihr, und sie warf sich ihm zu Füßen und lag da wie eine zertretene Blume. »Dorian, Dorian, verlaß mich nicht!« flüsterte sie. »Es tut mir so leid, daß ich nicht gut gespielt habe. Ich dachte immer an dich. Aber ich will es versuchen – wahrhaftig, ich will es versuchen. So plötzlich kam das über mich, meine Liebe zu dir. Ich glaube, ich hätte nie darum gewußt, wenn du mich nicht geküßt hättest – wenn wir uns nicht geküßt hätten. Küsse mich, Geliebter! Geh nicht von mir! Ich könnte es nicht aushalten. Oh, geh nicht von mir! Mein Bruder… nein, nichts davon. Er sprach nicht im Ernst. Er scherzte … Aber du, oh! Kannst du mir das von heute abend nicht verzeihen? Ich will so sehr arbeiten und besser zu werden suchen. Sei nicht grausam zu mir, weil ich dich mehr liebe als alles in der Welt. Schließlich, ich habe dir ein einziges Mal nicht gefallen. Aber du hast schon recht, Dorian. Ich hätte mehr von einer Künstlerin in mir haben sollen. Es war närrisch von mir; und doch konnte ich nicht anders. Oh, verlaß mich nicht, verlaß mich nicht!« Krampfhaftes Schluchzen erstickte ihre Stimme. Sie duckte sich wie ein wundes Tier zu Boden, und Dorian Gray sah mit seinen schönen Augen auf sie herunter, und seine scharf geschnittenen Lippen kräuselten sich in höchster Verachtung. Die Gefühle und Erregungen der Menschen, die man nicht mehr liebt, haben immer etwas Lächerliches an sich. Sibyl Vane schien ihm bis zum Komischen melodramatisch zu sein. Ihre Tränen und Seufzer ermüdeten ihn.

»Ich gehe,« sagte er schließlich mit seiner hellen, ruhigen Stimme. »Ich möchte nicht unfreundlich sein, aber ich kann dich nicht mehr sehen. Du hast mich enttäuscht.«

Sie weinte still weiter und gab keine Antwort, sondern kroch näher. Ihre kleinen Hände streckten sich in die Luft und schienen ihn zu suchen. Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer. In wenigen Augenblicken hatte er das Theater hinter sich.

Wohin er ging, wußte er kaum. Er erinnerte sich, daß er durch schlecht erleuchtete Gassen gegangen, an elenden, in Schwarz getauchten Torwegen und verdächtig aussehenden Häusern vorbeigekommen war. Weiber mit heisern Stimmen und grellem Gelächter hatten ihn angerufen. Betrunkene waren fluchend und mit sich selbst redend wie gräßliche Affen an ihm vorbeigetaumelt. Er hatte unglaublich verwahrloste Kinder auf der Schwelle beisammen hocken sehen und hatte aus düstern Höfen Kreischen und Fluchen gehört.

Als der Morgen graute, befand er sich in der Nähe von Covent Garden. Die Dunkelheit hob sich hinweg, der Himmel färbte sich mit mattem Feuer und wölbte sich zu einer vollendeten Perle. Große Wagen voll nickender Lilien rasselten langsam durch die leere Straße. Die Luft war schwer vom Duft der Blumen, und ihre Schönheit schien seinem Schmerz Linderung zu bringen. Er ging in die Markthalle hinein und sah zu, wie die Männer ihre Wagen ausluden. Ein Fuhrmann in weißem Kittel bot ihm einige Kirschen an. Er dankte ihm, wunderte sich, warum er kein Geld dafür annehmen wollte, und begann sie, ohne recht dabei zu sein, zu essen. Sie waren um Mitternacht gepflückt worden, und die Kühle des Mondes wohnte in ihnen. Burschen, die Körbe mit rotgestreiften Tulpen und gelben und roten Rosen trugen, zogen in langer Reihe an ihm vorbei und wanden sich durch die riesigen, graugrünen Gemüsehaufen durch. In der Vorhalle mit ihren grauen, von der Sonne gebleichten Säulen wartete eine Schar Mädchen, untätig, mit beschmutzten Rocksäumen und ohne Hut, bis die Versteigerung vorüber war. Andere drängten sich um die unaufhörlich auf und zu gehenden Türen des Kaffeehauses an der Piazza. Die schweren Lastpferde strauchelten und stampften auf den holperigen Steinen und schüttelten ihr Geschirr und ihre Glocken. Etliche Fuhrleute lagen schlafend auf einem Haufen Säcke. Mit regenbogenfarbenem Hals und rosigen Füßen liefen die Tauben herum und pickten die Körner auf.

Nach einer Weile rief er eine Droschke an und fuhr nach Hause. Ein paar Augenblicke zögerte er auf der Schwelle und blickte über den schweigsam daliegenden Platz und auf die Häuser mit den festverschlossenen Fenstern und den grellen Gardinen. Der Himmel war jetzt ein reiner Opal, und die Dächer der Häuser glänzten ihm wie Silber entgegen. Aus einem Schornstein ihm gegenüber ringelte sich dünner Rauch in die Höhe. Er kräuselte sich wie ein violettes Band durch die perlmutterfarbene Luft.

In der großen, vergoldeten venezianischen Laterne, die aus der Barke eines Dogen stammte und die von der Decke des großen eichengetäfelten Vorraums herabhing, brannten noch drei flackernde Gasflaschen: dünne blaue Flammenblüten schienen sie, von weißem Feuer umsäumt. Er drehte sie aus, warf Hut und Mantel auf den Tisch und ging durch das Bücherzimmer auf die Tür seines Schlafzimmers zu. Das war ein großes, achteckiges Gemach im Erdgeschoß, das er in seinem neuerwachten Gefühl für Üppigkeit vor kurzem sich selbst eingerichtet und mit einigen alten Renaissanceteppichen behangen hatte, die in einer nicht mehr benutzten Dachkammer in Selby gelagert hatten und jetzt zum Vorschein gekommen waren. Als er nach der Klinke griff, fiel sein Auge auf das Porträt, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Er trat betreten zurück. Dann ging er in sein Schlafzimmer. Er sah nachdenklich aus, als ob ihm etwas im Kopfe herumginge. Er nahm die Blume aus seinem Knopfloch und schien dann zu zögern. Schließlich ging er zurück, trat vor das Bild und schaute es prüfend an. In dem schwachen, verhaltenen Licht, das durch die hellgelben Seidenvorhänge drang, erschien ihm das Gesicht etwas anders als sonst. Es war ein anderer Ausdruck. Man hätte sagen mögen, um den Mund liege ein Zug von Grausamkeit. Es war seltsam.

Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang hoch. Der helle Tag flutete in das Zimmer und fegte die gespenstischen Schatten in düstere Ecken, wo sie zitternd liegen blieben. Aber der seltsame Ausdruck, den er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien dableiben zu wollen, schien sogar noch verstärkt zu sein. Das vibrierende, strahlende Sonnenlicht zeigte ihm die Linien der Grausamkeit um den Mund so deutlich, als ob er, nachdem er etwas Furchtbares getan, in den Spiegel gesehen hätte.

Er fuhr zusammen; dann nahm er einen ovalen Spiegel vom Tisch, den elfenbeinerne Liebesgötter umrahmten – eins der vielen Geschenke, die Lord Henry ihm gemacht hatte – und blickte eilig in seine glänzenden Tiefen. Keine Linie der Art verzerrte seine roten Lippen. Was bedeutete das?

Er rieb sich die Augen und trat ganz nahe an das Bild, um es noch einmal genau zu betrachten. Es waren keine Spuren irgendeiner Anderung zu bemerken, wenn er das Technische des Bildes ins Auge faßte, und doch war kein Zweifel daran, daß der ganze Ausdruck anders geworden war. Es war keine bloße Einbildung von ihm. Die Sache war schrecklich deutlich.

Er warf sich in einen Stuhl und fing an nachzudenken. Plötzlich fielen ihm wie ein Blitz die Worte ein, die er am Tage, wo das Bild fertig geworden war, in Basil Hallwards Atelier gesagt hatte. Ja, er erinnerte sich genau. Er hatte den wahnsinnigen Wunsch geäußert, er selbst möchte jung bleiben und das Bild alt werden; seine eigene Schönheit sollte nie befleckt werden und das Gesicht auf der Leinwand die Last seiner Leidenschaften und seiner Sünden tragen; das gemalte Bild sollte von den Linien des Leidens und des Denkens verrunzelt werden, und er selbst wollte allen zarten Schmelz und alle Anmut seiner Jugend bewahren, deren er sich eben damals bewußt geworden war. Sein Wunsch war doch nicht in Erfüllung gegangen? Solche Dinge waren unmöglich. Es schien ungeheuerlich, auch nur daran zu denken. Und doch, da stand das Bild vor ihm und hatte den Zug der Grausamkeit um den Mund.

Grausamkeit! War er grausam gewesen? Es war die Schuld des Mädchens, nicht seine. Er hatte von ihr als einer großen Künstlerin geträumt, hatte ihr seine Liebe geschenkt, weil er sie groß geglaubt hatte. Dann hatte sie ihn enttäuscht. Sie war seicht und erbärmlich gewesen. Und doch kam ein Gefühl unendlichen Bedauerns über ihn, wenn er daran dachte, wie sie zu seinen Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt hatte. Er erinnerte sich, mit welcher Gefühllosigkeit er auf sie geblickt hatte. Warum war er so geschaffen worden? Warum war ihm so eine Seele gegeben worden? Aber er hatte auch gelitten. Während der drei schrecklichen Stunden, die das Stück gedauert hatte, hatte er Jahrhunderte des Schmerzes gelebt, unendliche Zeiten der Qualen. Sein Leben war so viel wert wie ihres. Sie hatte ihn für einen Augenblick vernichtet, wenn er sie für immer verwundet hatte. Überdies wären Frauen besser geeignet, Leiden zu ertragen, als Männer. Sie lebten in ihren Empfindungen, sie dächten nur an ihre Empfindungen. Wenn sie einen Geliebten hätten, so sei es nur, um einen Menschen zu haben, mit dem sie Szenen aufführen könnten. Lord Henry hatte ihm das gesagt, und Lord Henry wußte, was an den Frauen war. Warum sollte er sich wegen Sibyl Vane beunruhigen? Sie war ihm jetzt nichts mehr.

Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg das Geheimnis seines Lebens und erzählte seine Geschichte. Es hatte ihn gelehrt, seine eigene Schönheit zu lieben. Sollte es ihn lehren, sich vor seiner eigenen Seele zu ekeln? Konnte er es je wieder ansehn?

Nein; es war nur eine Täuschung, die die gestörten Sinne gewoben hatten. Die furchtbare Nacht, die er hinter sich hatte, hatte Gespenster zurückgelassen. Plötzlich war auf sein Hirn der kleine rote Fleck gekommen, der die Menschen wahnsinnig macht. Das Bild hatte sich nicht verändert. Es war Verrücktheit, es zu glauben.

Aber es sah nach ihm hin mit seinem schönen, entstellten Gesicht und seinem grausamen Lächeln. Sein leuchtendes Haar glänzte im Schein der Frühsonne. Seine blauen Augen blickten in die seinigen. Ein Gefühl unendlichen Mitleids, nicht mit sich selbst, sondern mit seinem gemalten Abbild überkam ihn. Es hatte sich schon verändert und würde sich noch mehr verändern. Sein Gold würde zu welkem Grau werden, seine roten und weißen Rosen würden sterben. Für jede Sünde, die er beginge, würde ein Mal seine Schönheit beflecken und verderben. Aber er wollte nicht sündigen. Das Bild, ob verändert oder unverändert, sollte ihm das sichtbare Wahrzeichen des Gewissens sein. Er wollte der Versuchung widerstehen. Er wollte Lord Henry nicht mehr sehn – wollte jedenfalls nicht mehr auf die feinen vergifteten Theorien hören, die in Basil Hallwards Garten zuerst in ihm die Leidenschaft für Dinge, die nicht möglich sind, erregt hatten. Er wollte zu Sibyl Vane zurückgehen, ihre Fehler verbessern, sie heiraten und versuchen, sie wieder zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte mehr als er gelitten haben. Armes Kind! Er war selbstsüchtig und grausam gegen sie gewesen. Der Zauber, den sie auf ihn ausgeübt hatte, würde zurückkehren. Sie wollten glücklich beisammen sein. Sein Leben mit ihr sollte schön und rein sein.

Er stand vom Stuhl auf und schob einen großen Wandschirm vor das Porträt. Es schauderte ihn, als er darauf blickte. »Wie furchtbar!« murmelte er. Dann ging er an die Balkontür und öffnete sie. Als er in das Gras hinaustrat, holte er tief Atem. Die frische Morgenluft schien all seine düstern Leidenschaften zu verjagen. Er dachte nur an Sibyl. Ein schwacher Schimmer seiner Liebe kam wieder zu ihm. Er wiederholte ihren Namen immer und immer wieder. Die Vögel, die in dem taugetränkten Garten sangen, schienen den Blumen von ihr zu erzählen.

Fünfzehntes Kapitel

Um halb neun Uhr am selben Abend wurde Dorian Gray in gewählter Toilette, einen großen Strauß Parmaveilchen im Knopfloch tragend, von den Dienern in den Salon Lady Narboroughs geleitet. Er hatte wahnsinnige Kopfschmerzen und war furchtbar abgespannt; aber sein Benehmen, als er sich über die Hand seiner Gastgeberin beugte, war so leicht und graziös wie immer. Vielleicht sieht man nie so ruhig aus, als wenn man eine Rolle zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der an diesem Abend Dorian Gray sah, geglaubt, daß er eine Tragödie durchgemacht hatte, die so schauderhaft war wie irgendeine unserer Zeit. Diese feingeformten Finger, meinte man, hätten nie ein Messer zur Sünde führen, diese lächelnden Lippen nie Gott und den Himmel verwünschen können. Er selbst mußte sich über die Ruhe seiner Haltung verwundern und verspürte einen Augenblick lang in voller Stärke den furchtbaren Genuß eines Doppellebens.

Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough ziemlich eilig zusammengeladen hatte. Die Lady war eine sehr gescheite Frau mit – wie Lord Henry es auszudrücken liebte – sehr ansehnlichen Resten einer wirklich bedeutenden Häßlichkeit. Sie war einem unserer langweiligsten Botschafter eine treffliche Frau gewesen und widmete sich, nachdem sie ihren Mann, wie sichs gehörte, in einem Marmormausoleum beigesetzt hatte, zu dem sie selbst den Entwurf gezeichnet, und nachdem sie ihre Töchter an reiche, etwas ältliche Herren verheiratet hatte, den Genüssen französischer Romane, französischer Küche und, wenn sie ihn auftreiben konnte, französischen Esprits.

Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte ihm immer, sie sei überaus froh, ihn nicht in jüngeren Jahren kennen gelernt zu haben. »Ich weiß, mein Lieber, ich hätte mich wahnsinnig in Sie verliebt,« sagte sie dann, »und hätte um ihretwillen die größten Dummheiten gemacht. Es ist ein großes Glück, daß man damals von Ihnen noch nichts wußte. In unserer Zeit waren die Dummheiten so rar, daß ich nicht einmal eine harmlose Liebschaft hatte. Indessen war das ganz Narboroughs Schuld. Er war schrecklich kurzsichtig, und es macht kein Vergnügen, einen Ehemann zu betrügen, der nie etwas sieht.«

Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig. Die Sache war die, wie sie Dorian hinter einem ziemlich schäbigen Fächer erklärte, daß eine ihrer verheirateten Töchter ganz plötzlich zu Besuch gekommen war und, um das Unglück voll zu machen, auch noch ihren Mann mitgebracht hatte.

»Ich finde, es ist sehr unfreundlich von ihr, mein Lieber,« flüsterte sie. »Natürlich besuche ich sie jeden Sommer, wenn ich von Homburg komme; aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal frische Luft haben, und außerdem wirke ich tatsächlich belebend auf sie. Sie glauben nicht, was für ein Dasein die da draußen führen. Es ist reines, unverfälschtes Landleben. Sie stehn früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und gehn früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. Es hat in der Gegend seit den Tagen der Königin Elisabeth keinen Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen sie alle nach dem Essen ein. Sie sollen neben keinem von beiden sitzen. Sie sollen bei mir sitzen und mich amüsieren.«

Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und sah sich um. Ja, es war sicher eine langweilige Gesellschaft. Zwei von den Anwesenden hatte er nie vorher gesehn, und die andern waren Ernest Harrowden, eine der Mittelmäßigkeiten mittleren Alters, die in Londoner Klubs so häufig sind, die keine Feinde haben, aber die keiner ihrer Freunde ausstehn kann; Lady Roxton, eine überladene Dame mit einer Habichtsnase im Alter von siebenundvierzig Jahren, die ewig den Versuch machte, sich zu kompromittieren, aber so absonderlich unschön war, daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals jemand etwas zu ihren Ungunsten glaubte; Frau Erlynne, eine zudringliche Null mit entzückendem Lispeln und venezianisch-rotem Haar; Lady Alice Chapman, die Tochter der Gastgeberin, eine schlecht angezogene, unbedeutende Person mit einem der charakteristisch englischen Gesichter, die man, wenn man sie einmal gesehn hat, nie im Gedächtnis behält; und ihr Mann, ein rotwangiges Menschenkind mit weißem Backenbart, der, wie so viele seiner Art, der Meinung war, ungehörige Jovialität könne mit einem völligen Mangel an Gedanken versöhnen.

Es tat Dorian fast leid, daß er gekommen war, bis Lady Narborough auf die große vergoldete Bronzeuhr sah, die sich, geschmacklos mit allerlei Schnickschnack verziert, auf dem mit lila Stoff drapierten Kaminsims spreizte, und ausrief: »Wie schlecht von Henry Wotton, so spät zu kommen! Ich sandte heute morgen aufs Geratewohl zu ihm, und er versprach aufs Wort, mich nicht im Stich zu lassen.«

Es war tröstlich, daß Harry kommen sollte, und als die Tür sich öffnete und Dorian seine leise musikalische Stimme hörte, die irgendeine unwahre Entschuldigung reizend vorbrachte, hörte er auf, verdrießlich zu sein.

Aber bei Tisch konnte er nicht das geringste essen. Eine Platte nach der andern wurde gereicht, ohne daß er etwas anrührte. Lady Narborough schalt ihn fortwährend aus, meinte, das sei eine Beleidigung für den armen Adolphe, der das Menü speziell für ihn erfunden habe, und hie und da blickte Lord Henry zu ihm hinüber und wunderte sich über sein Schweigen und sein zerstreutes Wesen. Von Zeit zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit Champagner. Er trank gierig, und sein Durst schien zu wachsen.

»Dorian,« sagte Lord Henry schließlich, als das Chaudfroid herumgereicht wurde, »was ist heute abend mit dir los? Du bist sehr verstimmt.«

»Ich vermute, er ist verliebt,« rief Lady Narborough, »und er hat Angst, mir das zu erzählen, weil er fürchtet, ich könnte eifersüchtig werden. Und da hat er recht.«

»Teure Lady Narborough,« sagte Dorian lächelnd, »ich bin seit einer vollen Woche nicht verliebt gewesen – bei Gott nicht, seit Madame de Ferrol nicht mehr in der Stadt ist.«

»Wie ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!« rief die alte Dame aus. »Ich kann es wahrhaftig nicht verstehn.«

»Das kommt einfach daher, daß sie Sie an Ihre erste Mädchenzeit erinnert, Lady Narborough,« sagte Lord Henry. »Sie ist das einzige Glied zwischen uns und ihren kurzen Röcken.«

»Sie erinnert mich nicht im mindesten an meine kurzen Röcke, Lord Henry. Aber ich entsinne mich sehr wohl der Zeit, da ich sie vor dreißig Jahren in Wien getroffen habe und wie dekolletiert sie damals war.«

»Sie ist noch dekolletiert,« antwortete er und nahm eine Olive in seine langen Finger, »und wenn sie sehr elegant angezogen ist, sieht sie wie die Luxusausgabe eines schlechten französischen Romans aus. Sie ist wahrhaftig wundervoll und voller Überraschungen. Ihr Talent zur ehelichen Liebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann starb, wurde ihr Haar ganz goldblond vor Kummer.«

»Wie kannst du nur so etwas sagen, Harry!« rief Dorian.

»Das ist eine sehr romantische Erklärung,« lachte die Gastgeberin. ,«Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie wollen doch nicht sagen, Ferrol sei der vierte?«

»Gewiß, Lady Narborough.«

»Ich glaube kein Wort davon.«

»Nun, fragen Sie Herrn Gray. Er ist einer ihrer intimsten Freunde.«

»Ist das wahr, Herr Gray?«

»Sie versichert es mir,« sagte Dorian. »Ich fragte sie, ob sie wie Margarete von Navarra ihre Herzen einbalsamiert und an ihren Gürtel gehängt habe. Sie sagte mir: nein, weil keiner von ihnen überhaupt ein Herz gehabt habe.« »Vier Männer! Auf mein Wort, das ist trop de zèle.« »Trop d’audace, sagte ich ihr,« erwiderte Dorian. »Oh! Sie erkühnt sich jedes Dings, mein Lieber. Und was für eine Art Mensch ist Ferrol? Ich kenne ihn nicht.« »Die Männer sehr schöner Frauen gehören der Verbrecherklasse an,« sagte Lord Henry und schlürfte seinen Wein. Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. »Lord Henry, ich bin nicht im geringsten überrascht, daß die Welt Sie für überaus ruchlos hält.«

»Aber welche Welt tut das?« fragte Lord Henry und zog die Brauen hoch. »Es kann nur die kommende Welt sein. Diese Welt und ich stehn auf brillantem Fuß miteinander.«

»Jeder Mensch, den ich kenne, sagt, Sie seien sehr ruchlos,« rief die alte Dame kopfschüttelnd.

Lord Henry sah ein paar Augenblicke ernsthaft aus. »Es ist ganz abscheulich,« sagte er schließlich, »heutzutage gehn die Leute herum und sagen hinter dem Rücken eines Menschen Dinge, die ganz und gar wahr sind.«

»Ist er nicht unverbesserlich?« rief Dorian und beugte sich vor.

»Ich hoffe,« sagte die Gastgeberin lachend. »Aber wahrhaftig, wenn Sie alle Madame de Ferrol so lächerlich anbeten, muß ich auch wieder heiraten, um in Mode zu kommen.«

»Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough,« fiel Lord Henry ein. »Sie waren viel zu glücklich. Wenn eine Frau wieder heiratet, tut sie es, weil sie ihren ersten Mann verabscheute. Wenn ein Mann wieder heiratet, tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen versuchen ihr Glück; Männer setzen ihres aufs Spiel.«

»Narborough war nicht vollkommen,« rief die alte Dame. »Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, Verehrteste,« war die Erwiderung. »Frauen lieben uns wegen unserer Fehler. Wenn wir deren genug haben, verzeihen sie uns alles, selbst unsern Geist. Sie werden mich nie wieder einladen, fürchte ich, nachdem ich das gesagt habe; aber es ist wahr.«

»Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen euch nicht wegen eurer Fehler liebten, wo wäret ihr alle? Kein einziger von euch würde je eine Frau bekommen. Ihr wäret eine Garnitur unglücklicher Junggesellen. Indessen, das würde nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben alle verheirateten Männer wie Junggesellen und alle Junggesellen wie verheiratete Männer.«

»Fin de siecle,« murmelte Lord Henry.

»Fin du globe,« antwortete die Gastgeberin.

»Ich wollte, es wäre fin du globe,« sagte Dorian seufzend; »das Leben ist eine große Enttäuschung.«

»Ah, mein Lieber,« rief Lady Narborough und zog ihre Handschuhe an, »sagen Sie mir nicht, daß Sie das Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist sehr ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre es gewesen; aber Sie sind dazu geschaffen, gut zu sein, Sie sehn so gut aus. Ich muß Ihnen eine hübsche Frau suchen. Lord Henry, meinen Sie nicht, Herr Gray sollte heiraten?«

»Ich sage ihm das immer, Lady Narborough,« sagte Lord Henry mit einer Verbeugung.

»Nun, da müssen wir uns nach einer passenden Gefährtin für ihn umsehn. Ich werde den Adelskalender heute nacht sorgsam durchgehn und eine Liste aller in Betracht kommenden jungen Damen aufstellen.«

»Mit ihrem Alter, Lady Narborough?« fragte Dorian.

»Natürlich, mit ihrem Alter, leicht redigiert. Aber es darf nichts übereilt werden. Ich will, daß es das wird, was die Morningpost eine passende Partie nennt, und will, daß Sie beide glücklich werden.«

»Was die Menschen über glückliche Ehen für Unsinn reden!« rief Lord Henry aus. »Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich sein, solange er sie nicht liebt.«

»Ah! was sind Sie für ein Zyniker!« rief die alte Dame, schob ihren Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. »Sie müssen bald wieder zu mir kommen und bei mir essen. Sie regen wirklich wundervoll den Appetit an, viel besser als alles, was mir der Arzt verschreibt. Sie müssen mir sagen, welche Menschen Sie gern hier treffen würden. Es soll eine entzückende Gesellschaft werden.«

»Ich mag Männer, die eine Zukunft haben, und Frauen, die eine Vergangenheit haben,« antwortete er.

Sie lachte und erhob sich. »Ach verzeihen Sie, liebe Lady Ruxton, ich sah nicht, daß Sie mit Ihrer Zigarette noch nicht fertig sind.«

»Tut nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel, ich muß es in Zukunft einschränken.«

»Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton,« sagte Lord Henry. »Mäßigung ist eine verhängnisvolle Sache. Genug ist nicht besser als ein Mittagessen. Mehr als genug ist so gut wie eine Festmahl.«

Lady Ruxton sah ihn neugierig an. »Sie müssen einmal eines Nachmittags zu mir kommen und mir das erklären, Lord Henry. Die Theorie scheint sehr erquicklich.« Und damit rauschte sie aus dem Zimmer.

»Nun, bitte, bleibt nicht zu lange bei eurer Politik und euren Skandalen,« rief Lady Narborough von der Tür aus. »Wenn ihr das tut, zanken wir ganz sicher mit euch, wenn ihr nach oben kommt.«

Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich auf und ging von einem Ende der Tafel ans andere. Dorian Gray wechselte den Platz und setzte sich neben Lord Henry. Herr Chapman fing an, mit lauter Stimme von der parlamentarischen Lage zu reden. Er wieherte laut über seine Widersacher. Das Wort Doktrinär – ein Wort des Schreckens für den englischen Geist – tauchte von Zeit zu Zeit zwischen seinen Lachexplosionen auf. Er sprach die Anfangssilben der Worte in der Hitze der Rede gern doppelt aus, und diese Art Stabreim diente als Redeschmuck. Er hißte die britische Flagge auf der Zinne des Gedankens auf. Die eingewurzelte Dummheit der Nation – gesunden englischen Menschenverstand nannte sie der Biedere – stellte sich als das eigentliche Fundament der Gesellschaft heraus.

Lord Henry lächelte, drehte sich um und sah auf Dorian.

»Ist dir jetzt besser, mein Lieber?« fragte er. »Du schienst bei Tisch recht unwohl?«

»Mir ist ganz wohl, Harry. Ich bin müde, weiter nichts.«

»Du warst gestern abend entzückend. Die kleine Herzogin hat dich ganz ins Herz geschlossen. Sie sagt mir, sie wird nach Selby kommen.«

»Sie hat versprochen, am Zwanzigsten zu kommen.« »Wird Monmouth auch da sein?«

»O gewiß, Harry.«

»Er langweilt mich schrecklich, fast ebensosehr, wie er sie langweilt. Sie ist sehr gescheit, zu gescheit für eine Frau. Es fehlt ihr der unerklärliche Reiz der Schwäche. Die tönernen Füße sind es, die das Gold der Bildsäule wertvoll machen. Ihre Füße sind reizend, aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn du willst. Sie sind im Feuer gewesen, und was das Feuer nicht zerstört, das härtet es. Sie hat viel erlebt.«

»Seit wann ist sie verheiratet?« fragte Dorian.

»Eine Ewigkeit, behauptet sie. Nach dem Pairskalender müssen es, glaube ich, zehn Jahre sein; aber zehn Jahre mit Monmouth müssen eine Ewigkeit gewesen sein, wenn man die Zeit noch dazu rechnet. Wer wird sonst da sein?«

»Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, unsere Wirtin, Geoffrey Clouston, die übliche Garnitur. Ich habe auch Lord Grotian aufgefordert.«

»Ich mag ihn gern,« sagte Lord Henry. »Viele Leute können ihn nicht leiden, aber ich mag ihn. Er ist manchmal übertrieben gut angezogen, aber er macht das dadurch gut, daß er immer übertrieben gebildet ist. Ein sehr moderner Typus.« »Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Vielleicht muß er mit seinem Vater nach Monte Carlo gehn.«

»Ah! Dieser furchtbare Familiensinn ist ein Mißstand! Sieh zu, daß er kommt! Nebenbei, du liefst gestern sehr früh weg. Was tatest du nachher? Gingst du gleich nach Hause?«

Dorian sah ihn schnell an und runzelte die Stirn. »Nein, Harry,« sagte er endlich, »ich kam erst gegen drei Uhr nach Hause.«

»Gingst du noch in den Klub?«

»Ja,« antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. »Nein, wollte ich sagen. Ich ging nicht in den Klub. Ich ging in den Straßen umher. Ich weiß nicht mehr, was ich tat … Wie du einen ausforschest, Harry! Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will immer vergessen, was ich getan habe. Ich kam um halb drei Uhr nach Hause, wenn du die genaue Zeit wissen willst. Ich hatte meinen Hausschlüssel vergessen, und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du vielleicht ein bestätigendes Zeugnis wünschest, kannst du ihn fragen.«

Lord Henry zuckte die Achseln. »Mein Lieber, als ob ich mich darum kümmerte! Gehn wir in den Salon hinauf. Keinen Sherry, danke, Herr Chapman. Dir ist etwas zugestoßen, Dorian. Sag mir, was es ist! Du bist heute abend nicht du selbst.«

»Sei nicht böse, Harry, ich bin reizbar und schlechter Laune. Morgen komme ich zu dir, oder übermorgen. Entschuldige mich bei Lady Narborough. Ich gehe nicht mehr hinauf, ich muß nach Hause.«

»Schon gut, Dorian. Ich glaube schon, daß du morgen zum Tee kommst. Die Herzogin wird da sein.«

»Ich will versuchen, da zu sein, Harry,« sagte er und verließ das Zimmer. Als er nach Hause fuhr, war er sich bewußt, daß das Angstgefühl, von dem er geglaubt hatte, er habe es hinter sich gebracht, wiedergekommen war. Lord Henrys zufällige Frage hatte ihn einen Augenblick aus der Fassung gebracht und nervös gemacht, und er brauchte seine Nerven noch. Gefährliche Dinge mußten vernichtet werden. Er zuckte zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu berühren, war ihm widerwärtig.

Aber es mußte geschehn, das sah er ein. Als er die Tür seines Zimmers geschlossen hatte, öffnete er den Geheimschrank, in dem er Basil Hallwards Mantel und Tasche verborgen hatte. Es brannte ein starkes Feuer. Er legte noch ein Scheit darauf. Der Geruch der versengten Kleider und des brennenden Leders war schrecklich. Er brauchte drei Viertelstunden, bis alles verbrannt war. Als er fertig war, fühlte er sich schwach und unwohl. Er zündete in einer Kupferkanne ein paar algerische Räucherkerzchen an und badete dann seine Hände und seine Stirn in einem kalten, nach Moschus duftenden Essig.

Plötzlich fuhr er auf. Seine Augen wurden seltsam glänzend, und er nagte nervös an seiner Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern stand ein großer florentinischer Schrank, der aus Ebenholz gearbeitet und mit Elfenbein und Lapislazuli ausgelegt war. Er sah darauf hin, als ob er etwas wäre, was anziehen und Furcht machen kann, als ob er enthielte, wonach ihn verlangte, und was er doch fast verabscheute. Sein Atem ging schneller. Eine wilde Gier kam über ihn. Er zündete eine Zigarette an und warf sie dann weg. Seine Lider senkten sich, bis die langen Wimpern fast seine Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach dem Schrank. Endlich stand er auf vom Sofa, auf dem er gelegen hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf und rührte an eine verborgene Feder. Ein dreieckiges Geheimfach schob sich langsam heraus. Seine Finger bewegten sich instinktiv danach hin, langten hinein und umschlossen etwas. Es war eine kleine chinesische Büchse, eine Lackarbeit in Schwarz und Goldstaub, die sehr schön gearbeitet war, die Seiten hatten ein Muster von gekrümmten Wogen, und die seidenen Schnüre waren mit runden Kristallen behangen und endeten in Quasten aus ineinander geflochtenen Metallfäden. Er öffnete sie. Innen war eine grüne Paste mit wachsartigem Glanz, der Geruch seltsam schwer und durchdringend.

Er zögerte ein paar Augenblicke, mit einem seltsam unbeweglichen Lächeln auf den Lippen. Dann richtete er sich fröstelnd auf, obwohl es im Zimmer entsetzlich heiß war, und sah nach der Uhr. Es war zwanzig Minuten vor zwölf. Er legte die Büchse zurück, schloß die Türen des Schranks und ging in sein Schlafzimmer.

Als die Mitternacht eherne Schläge in die Nacht schickte, schlich sich Dorian Gray in ordinären Kleidern und ein Tuch um den Hals geschlungen leise aus dem Hause. In Bond Street traf er eine Droschke mit einem kräftigen Pferd. Er rief sie an und nannte dem Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu weit,« brummte er.

»Hier ist ein Goldstück,« sagte Dorian. »Sie sollen noch einmal soviel bekommen, wenn Sie schnell fahren.« »Gut, Herr,« antwortete der Mann, »Sie werden in einer Stunde da sein,« und nachdem sein Fahrgast eingestiegen war, drehte er um und fuhr in der Richtung nach der Themse.

Sechzehntes Kapitel

Ein kalter Regen begann zu fallen, und das trübe Licht der Laternen sah in dem tropfenden Nebel unheimlich aus. Die Wirtshäuser wurden eben geschlossen, und schattenhafte Gruppen von Männern und Frauen drängten sich um die Türen. Aus manchen Kneipen erscholl gräßliches Gelächter. In andern lärmten und schrien Betrunkene.

Dorian Gray hatte sich in den Wagen zurückgelehnt, den Hut tief in die Stirn gezogen, und blickte achtlos auf den Schmutz und Auswurf der Großstadt. Ab und zu wiederholte er sich die Worte, die Lord Henry am ersten Tag, wo sie sich kennen gelernt, gesprochen hatte: »Die Seele vermittelst der Sinne und die Sinne vermittelst der Seele zu heilen.« Ja, das war das Geheimnis. Er hatte es oft versucht und wollte es jetzt wieder versuchen. Es gab Opiumhöhlen, in denen man Vergessenheit kaufen konnte, Höhlen des Grauens, wo das Gedächtnis alter Sünden durch den Wahnsinn neuer getilgt werden konnte.

Der Mond hing niedrig am Himmel wie eine gelbe Schale. Von Zeit zu Zeit streckte eine große ungestake Wolke einen langen Arm aus und verbarg ihn. Die Laternen wurden spärlicher und die Straßen enger und düsterer. Einmal fuhr der Kutscher falsch und mußte ein paar hundert Meter zurückfahren. Das Pferd dampfte, während es durch die Pfützen trabte. Die Seitenfenster des Wagens waren vom Nebel wie mit grauem Flanell beschlagen.

»Die Seele vermittelst der Sinne und die Sinne vermittelst der Seele zu heilen!« Wie die Worte ihm in den Ohren klangen! Seine Seele jedenfalls war krank zum Tode. Ist es wahr, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges Blut war vergossen worden. Womit konnte das gesühnt werden? Dafür gab es keine Sühne; aber wenn Vergebung unmöglich war, war doch Vergessen möglich, und er war entschlossen zu vergessen, das Ding niederzutreten und auszutilgen wie eine Schlange, die einen gestochen hat. Was für ein Recht hatte denn Basil gehabt, so zu ihm zu sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn zum Richter über andere gemacht? Er hatte Dinge gesagt, die furchtbar, entsetzlich, unerträglich waren.

Weiter und weiter suchte die Droschke ihren Weg und fuhr, wie es schien, mit jedem Schritt langsamer. Er schob das Schiebefenster zurück und rief hinter ihm dem Kutscher zu, er solle schneller fahren. Der gräßliche Opiumhunger nagte an ihm. Die Kehle brannte ihm, und seine zarten Hände zupften nervös aneinander. Er schlug mit dem Spazierstock wie toll auf das Pferd ein. Der Kutscher lachte und schlug mit der Peitsche zu. Er lachte auch, und der Kutscher wurde still.

Der Weg schien nicht enden zu wollen, und die Straßen waren wie ein schwarzes, wirres Spinngewebe. Die Eintönigkeit wurde unerträglich, und als der Nebel dicker wurde, überfiel ihn Angst.

Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorbei. Der Nebel war hier durchsichtiger, und er konnte die seltsamen flaschenförmigen Ziegelöfen mit ihren orangefarbenen, fächerartigen Feuerzungen sehen. Ein Hund bellte, als sie vorüberkamen, und weit entfernt im Dunkeln schrie eine Möwe. Das Pferd stolperte, wurde scheu und rannte im Galopp weiter.

Nach einiger Zeit verließen sie den lehmigen Weg und rasselten wieder über holpriges Straßenpflaster. Die meisten Fenster waren dunkel, aber hie und da sah man phantastische Schatten wie Silhouetten hinter einem erleuchteten Vorhang. Er sah neugierig darauf hin. Sie bewegten sich wie große Marionetten und gestikulierten wie lebende Wesen. Etwas wie Haß gegen sie überkam ihn. Eine dumpfe Wut war in seinem Herzen. Als sie um eine Ecke bogen, schrie ein Weib aus einer offenen Tür ihnen etwas zu, und zwei Männer liefen ein paar hundert Schritt hinter dem Wagen her. Der Kutscher schlug mit der Peitsche nach ihnen.

Man hat gesagt, die Leidenschaft drehe einem die Gedanken im Kreise herum. Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen Dorian Grays immer und immer wieder die feingestellten Worte von der Seele und den Sinnen, bis er in ihnen sozusagen den vollen Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung des Intellekts Leidenschaften gerechtfertigt hatte, die auch ohne solche Rechtfertigung seiner Natur beherrscht hätten. Von Zelle zu Zelle in seinem Hirn kroch dieser eine Gedanke; und die wilde Sucht zu leben, das schrecklichste von allen Gelüsten der Menschen, stachelte jede Fiber und jeden zuckenden Nerv furchtbar gewaltsam empor. Die Häßlichkeit, die ihm einst verhaßt gewesen war, weil sie die Dinge wirklich machte, wurde ihm jetzt aus eben dem Grunde lieb. Häßlichkeit war die einzige Wirklichkeit. Das rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die gemeine Gewalttätigkeit liederlichen Lebens, die Verworfenheit sogar des Diebes und des Abschaums der Menschheit waren in der intensiven Tatsächlichkeit des Eindrucks, den sie machten, lebendiger als all die graziösen Formen der Kunst, die Traumschatten der Poesie. Das war es, was er zum Vergessen brauchte. In drei Tagen wollte er befreit sein.

Plötzlich hielt der Kutscher am Ende einer dunkeln Gasse mit einem Ruck an. Über die niedern Dächer und die zackigen Schornsteinmassen der Häuser ragten die schwarzen Masten von Schiffen. Weiße Nebelfetzen hingen wie gespenstische Segel über den Schiffsplätzen. »Hier irgendwo, nicht?« fragte der Mann mit heiserer Stimme durch das Schiebefenster.

Dorian fuhr auf und sah sich um. »Es ist gut,« antwortete er, stieg hastig aus, gab dem Kutscher die Extrabelohnung, die er ihm versprochen hatte, und ging schnell in der Richtung des Kais weiter. Hie und da blitzte eine Laterne am Heck eines mächtigen Kauffahrteischiffs. Das Licht zitterte und zersplitterte in den Pfützen. Ein roter Schimmer kam von einem weit draußen verankerten Dampfer, der Kohlen lud. Das schlüpfrige Pflaster sah wie ein naßglänzender Gummimantel aus.

Er eilte nach links weiter und sah sich hie und da um, ob ihm niemand folgte. Nach etwa sechs bis acht Minuten erreichte er ein kleines, niedriges Haus, das zwischen zwei schmutzigen Fabriken stand. In einem der Dachfenster stand eine Lampe. Er blieb stehn und klopfte. Es klang wie ein verabredetes Zeichen.

Nach einer Weile hörte er Schritte im Flur und das Klirren der Türkette, die losgemacht wurde. Die Tür ging leise auf, und er ging hinein, ohne zu der kleinen, elenden Gestalt, die sich, als er vorbeiging, in den Schatten drückte, ein Wort zu sagen. Am Ende des Flurs hing ein zerfetzter grüner Vorhang, der in dem starken Wind, der von der Straße mit hereingekommen war, hin und her flatterte. Er schob ihn zur Seite und betrat einen langen, niedrigen Raum, der aussah, als wär er einmal ein Tanzsaal niedrigster Sorte gewesen. Grelle, flackernde Gasflammen, die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln, die ihnen gegenüber hingen, stumpf und verzerrt wurden, brannten an den Wänden. Verschmierte Scheinwerfer aus geripptem Blech waren hinter ihnen angebracht, um die zitternde Lichtkreise schwebten. Der Boden war mit ockerfarbenem Sägemehl bestreut, das von den Tritten hie und da zu Kot geworden war und auf dem sich von vergossenen Getränken dunkle, kreisrunde Flecken zeigten. Ein paar Malaien hockten an einem kleinen Kohlenofen, spielten mit beinernen Würfeln und zeigten beim Sprechen ihre weißen Zähne. In einer Ecke saß ein Matrose, den Kopf auf den Armen über den Tisch gebeugt, und an der grell bemalten Schenke, die eine ganze Seite des Saals einnahm, standen zwei verkommene Weiber, die einen alten Mann verhöhnten, der mit einem Ausdruck des Ekels im Gesicht die Ärmel seines Rockes bürstete. »Er denkt, er hat Läuse gekriegt,« lachte eine von ihnen, als Dorian vorbeiging. Der Mann sah sie ängstlich an und begann zu wimmern.

Am Ende des Saals war eine kleine Treppe, die zu einem verhängten Zimmer führte. Als Dorian die drei gebrechlichen Stufen hinaufging, kam ihm der schwere Duft des Opiums entgegen. Er holte tief Atem, und seine Nüstern zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte ein junger Mann mit glattem blonden Haar, der sich über eine Lampe beugte, um eine lange, dünne Pfeife anzuzünden, zu ihm auf und nickte zögernd.

»Du hier, Adrian?« sagte Dorian halblaut.

»Wo sollte ich sonst sein?« antwortete jener, ohne sich stören zu lassen. »Kein Mensch spricht jetzt mehr mit mir.«

»Ich dachte, du hättest England verlassen.«

»Darlington wird nichts tun; mein Bruder hat den Wechsel schließlich bezahlt. George spricht auch nicht mehr mit mir. . . Mir eins,« sagte er seufzend, »solange man das hier hat, braucht man keine Freunde. Ich glaube, ich habe zu viel Freunde gehabt.«

Dorian zuckte und betrachtete sich die grotesken Gestalten, die in so phantastischen Stellungen auf den zerrissenen Matratzen lagen. Die gekrümmten Glieder, die starren, glanzlosen Augen, der offene Mund ließen ihn nicht los. Er wußte, in was für seltsamen Himmeln sie litten, und was für düstere Höllen sie das Geheimnis eines neuen Genusses lehrten. Sie waren besser daran als er. Er saß im Denken gefangen. Das Gedächtnis fraß wie eine schreckliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit glaubte er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu sehn. Aber er fühlte, er konnte nicht bleiben. Die Gegenwart Adrian Singletons störte ihn. Er mußte irgendwo sein, wo ihn niemand kannte. Er mußte sich selbst entfliehen.

»Ich gehe in das andere Haus,« sagte er nach einer Pause. »Am Kai?«

»Ja.«

»Die Wildkatze wird sicher da sein. Sie wollen sie hier nicht mehr haben.«

Dorian zuckte die Achseln. »Ich habe die Weiber, die einen lieben, satt. Weiber, die einen hassen, sind viel interessanter. Überdies ist dort der Stoff besser.«

»Genau derselbe.«

»Ich ziehe ihn vor. Komm, wir trinken etwas. Ich muß etwas trinken.«

»Ich brauche nichts,« murmelte der junge Mann. »Tut nichts.«

Adrian Singleton stand müde auf und folgte Dorian zur Schenke. Ein Mischling in zerrissenem Turban und schäbigem Mantel grinste zur Begrüßung, als er eine Flasche Schnaps und zwei Gläser vor sie hinstellte. Die Weiber machten sich heran und fingen zu schwatzen an. Dorian wandte ihnen den Rücken und sagte leise etwas zu Adrian Singleton.

Ein gekrümmtes Lächeln gleich einem malaiischen Dolch verzerrte die Züge des einen Weibes. »Wir sind heute sehr stolz,« lachte sie höhnisch.

»Um Gottes willen, sprich nicht zu mir!« schrie Dorian und stampfte mit dem Fuß auf. »Was willst du? Geld? Hier hast du’s. Rede mich nie wieder an!«

Zwei rote Funken blitzten einen Augenblick in den stumpfen Augen des Weibes, dann verlöschten sie und ließen sie trüb und glasig. Sie schüttelte den Kopf und sammelte mit gierigen Fingern die Münzen, die er auf den Schenktisch gelegt hatte. Ihre Begleiterin sah mit neidischen Blicken zu.

»Es hat keinen Zweck,« seufzte Adrian Singleton. »Ich will nirgends anders hin. Was macht es aus? Ich fühle mich hier sehr wohl.«

»Du schreibst mir, wenn du etwas brauchst, ja?« sagte Dorian nach einer Pause.

»Vielleicht.«

»Dann gute Nacht.«

»Gute Nacht,« antwortete der junge Mann, ging die Stufen hinauf und wischte sich dabei mit dem Taschentuch den Mund ab.

Dorian ging mit einem Ausdruck der Qual im Gesicht zur Tür. Als er den Vorhang zur Seite schob, kam von den geschminkten Lippen des Weibes, das sein Geld genommen hatte, ein gräßliches Lachen. »Da geht der Seelenverkäufer!« rief sie mit heiserer, glucksender Stimme.

»Verflucht!« antwortete er, »du sollst mich nicht so nennen!«

Sie schnippte mit den Fingern. »Was, Prinz Wunderhold soll ich dich nennen, das gefiele dir?« schrie sie ihm nach.

Der schlaftrunkene Matrose sprang auf, als sie das sagte, und blickte wild um sich. Der Klang der Haustür, die zufiel, traf sein Ohr. Er stürzte hinaus.

Dorian Gray ging mit schnellen Schritten durch den Sprühregen den Kai entlang. Sein Zusammentreffen mit Adrian Singleton hatte ihn seltsam bewegt, und er sann darüber nach, ob die Vernichtung dieses jungen Lebens wirklich ihm zuzuschreiben sei, wie Basil Hallward mit so schmählich beleidigenden Worten zu ihm gesagt hatte. Er biß sich auf die Lippen, und in seine Augen kam für ein paar Augenblicke ein Ausdruck der Trauer. Aber schließlich, was ging es ihn an? Das Leben war zu kurz, als daß man die Fehler eines andern auf seine Schultern laden konnte. Jeder lebte sein eigenes Leben und zahlte seinen eigenen Preis dafür. Der einzige Jammer war, daß man für eine Schuld so oft zahlen mußte. Man mußte immer und immer wieder zahlen. Dem Menschen gegenüber schloß das Schicksal seine Rechnung nie ab.

Es gibt Augenblicke, sagen die Psychologen, wo der wilde Trieb zur Sünde oder zu dem, was die Welt Sünde nennt, eine Natur so beherrscht, daß jede Fiber des Körpers, jede Zelle des Gehirns mit furchtbaren Trieben wie getränkt zu sein scheint. Männer und Frauen verlieren in solchen Augenblicken ihren freien Willen. Sie gehn blind ihrem schrecklichen Ende entgegen, als ob sie Automaten wären. Sie haben keine Wahl mehr, und das Gewissen ist entweder getötet oder, wenn es noch lebt, dann nur, um der Auflehnung ihren Zauber und dem Frevel seinen Reiz zu geben. Denn alle Sünden – die Theologen werden nicht müde, es uns immer wieder einzuschärfen – entspringen dem Ungehorsam. Als jener hohe Geist, jenes Frühlicht alles Bösen, aus dem Himmel stürzte, geschah es, weil er ein Rebell war.

Gefühllos und verhärtet, aufs Böse wie konzentriert, mit verdunkeltem Geist und einer Seele, die nach Auflehnung dürstete, eilte Dorian Gray weiter und ging immer schneller; aber als er rasch in einen Torweg einbog, durch den er oft gegangen war, um seinen Weg zu dem berüchtigten Hause, dem er zustrebte, abzukürzen, fühlte er sich plötzlich von hinten ergriffen, und ehe er Zeit hatte, sich zu wehren, wurde er gegen die Mauer geschleudert und fühlte eine rohe Hand an seiner Kehle.

Er rang wild um sein Leben, und in furchtbarer Anstrengung gelang es ihm, die Finger, die ihn umklammerten, wegzuzerren. Einen Augenblick später hörte er das Knacken eines Revolvers und sah das Glänzen eines blanken Laufs, der direkt nach seinem Kopfe gerichtet war, und die dunkle Gestalt eines untersetzten Mannes.

»Was wollen Sie?« keuchte er.

»Halt dich still!« sagte der Mann. »Wenn du dich rührst, schieß ich.«

»Sie sind toll! Was habe ich mit Ihnen zu tun?«

»Du hast das Leben Sibyl Vanes vernichtet,« war die Antwort, »und Sibyl Vane war meine Schwester. Sie hat sich getötet. Ich weiß es, du bist an ihrem Tode schuld! Ich habe geschworen, dich dafür zu töten. Seit Jahren suche ich dich. Ich hatte keinen Anhaltspunkt, keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben können, waren tot. Ich wußte nichts von dir als den Kosenamen, den sie dir gab. Mach deinen Frieden mit Gott, denn heute nacht sollst du sterben!«

Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Angst. »Ich habe sie nie gekannt,« stammelte er. »Ich habe nie von ihr gehört. Sie sind toll!«

»Du tätest besser, deine Sünden zu bekennen, denn so wahr ich James Vane heiße: du mußt sterben!« Es war ein entsetzlicher Augenblick. Dorian wußte nicht, was er sagen oder tun sollte. »Auf die Knie!« tobte der Mann. »Ich gebe dir eine Minute, um deinen Frieden mit Gott zu machen – mehr nicht! Ich gehe heute nacht nach Indien an Bord und muß erst tun, was nötig ist. Eine Minute, mehr nicht!«

Dorians Arme fielen herunter. Er war vor Angst wie gelähmt und wußte nicht, was er tun sollte. Plötzlich zuckte eine wilde Hoffnung in seinem Hirn auf. »Halt!« rief er. »Wie lange ist es her, daß Ihre Schwester starb? Schnell, sagen Sie es!«

»Achtzehn Jahre,« sagte der Mann. »Warum fragst du? Was kommt’s darauf an?«

»Achtzehn Jahre,« lachte Dorian Gray, und seine Stimme klang triumphierend. »Achtzehn Jahre! Bringen Sie mich zur Laterne und sehn Sie mein Gesicht an!«

James Vane zögerte einen Augenblick. Er verstand nicht, was das heißen sollte. Dann packte er Dorian Gray und zog ihn aus dem Torweg hervor.

Das Licht, das im Sturm wehte, war undeutlich und flackernd, aber es genügte doch, um James Vane den furchtbaren Irrtum zu zeigen, in dem er befangen gewesen schien, denn das Gesicht des Mannes, den er hatte töten wollen, zeigte all den knabenhaften Flaum, all die unbefleckte Reinheit der Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling von zwanzig Jahren, vielleicht erst so alt, wie seine Schwester gewesen war, als sie vor vielen Jahren dahingegangen war. Es lag auf der Hand, das war nicht der Mann, der ihr Leben zerstört hatte.

Er ließ sein Opfer los und taumelte zurück. »Mein Gott! mein Gott!« rief er, »und ich hätte Sie beinahe getötet!«

Dorian Gray holte tief Atem. »Sie waren nahe daran, ein furchtbares Verbrechen zu begehen, Mann,« sagte er und sah ihm streng in die Augen. »Lassen Sie sich das eine Warnung sein, die Rache nicht in die eigene Hand zu nehmen.«

»Verzeihen Sie, Herr!« murmelte James Vane. »Ich täuschte mich. Ein zufälliges Wort, das ich in der verfluchten Kneipe hörte, brachte mich auf die falsche Spur.«

»Es wäre besser, Sie gingen nach Hause und legten die Pistole fort, oder Sie könnten in schlimme Händel kommen,« sagte Dorian Gray, drehte sich um und ging langsam die Straße hinunter.

James Vane war voller Entsetzen stehengeblieben. Er zitterte am ganzen Körper. Nach einer kleinen Weile bewegte sich ein schwarzer Schatten, der an der nassen Wand entlang gekrochen war, gegen das Licht vor und kam mit leisen Schritten näher herangeschlichen. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter und sah sich erschreckt um. Es war die eine der Frauen, die an der Schenke getrunken hatten.

»Warum hast du ihn nicht getötet?« zischte sie und brachte ihr verfallenes Gesicht ganz nahe an seines. »Ich wußte, daß du ihm folgtest, als du von Dalys Haus fortstürztest. Du Narr! Du hättest ihn töten sollen. Er hat eine Menge Geld und ist der Schlechteste der Schlechten.«

»Er ist nicht der Mann, den ich suche,« antwortete er, »und ich suche nicht das Geld eines Menschen, ich suche sein Leben. Der Mann, dessen Leben ich suche, muß jetzt fast vierzig sein. Der da war fast noch ein Knabe. Ich danke Gott, daß sein Blut nicht an meinen Händen klebt.«

Das Weib lachte bitter auf. »Fast noch ein Knabe!« rief sie höhnisch. »Mann, wahrhaftig, es sind fast achtzehn Jahre, seit Prinz Wunderhold mich zu dem gemacht hat, was ich bin.«

»Du lügst!« schrie James Vane.

Sie hob die Hand zum Himmel. »Bei Gott, ich sage die Wahrheit!« rief sie.

»Bei Gott?«

»Du kannst mich stumm machen, wenn es nicht so ist. Er ist der Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er hätte für ein hübsches Gesicht dem Teufel seine Seele verkauft. Es sind fast achtzehn Jahre, daß ich ihn kennen gelernt habe. Er hat sich nicht viel verändert seitdem. Um so mehr ich,« fügte sie mit traurigem Blick hinzu.

»Das schwörst du?«

»Ich schwöre es!« kam es wie ein heiseres Echo aus ihrem häßlichen Munde. »Aber verrate mich ihm nicht,« greinte sie, »ich habe Angst vor ihm. Gib mir ein bißchen Geld, daß ich schlafen gehn kann.«

Er machte sich fluchend los und rannte zur Straßenecke; aber Dorian Gray war verschwunden. Als er zurückblickte, war auch das Weib nicht mehr da.